Avantgarde avant la lettre: Strategien literarischer Popularisierung im Werk von Otto Julius Bierbaum [1 ed.] 9783205215462, 9783205215448


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German Pages [281] Year 2022

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Avantgarde avant la lettre: Strategien literarischer Popularisierung im Werk von Otto Julius Bierbaum [1 ed.]
 9783205215462, 9783205215448

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Birgit Ziener

Avantgarde avant la lettre Strategien literarischer Popularisierung im Werk von Otto Julius Bierbaum

Birgit Ziener

Avantgarde avant la lettre Strategien literarischer Popularisierung im Werk von Otto Julius Bierbaum

Böhlau Verlag wien köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; d ­ etaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: /  / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Umgeschlaggestaltung von Emil Rudolf Weiß für Otto Julius Bierbaums Annamargareth, Insel-Verlag, 1902 Korrektorat  : Rainer Landvogt, Hanau Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21546-2

Inhalt 1

Literatur der »Übergangszeiten«: Bierbaums ästhetische Neuerungsversuche um 1900. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Zwischen Bohème und Auftragsarbeit: Otto Julius Bierbaum.. . . .  25 1.2 Zwischen Literatur und Alltag: Das Populäre in Bierbaums Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29 2

Romantik und populäre Geschlechterbilder um 1900: Pankrazius Graunzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.1 Graunzer und das Geschlecht der Populärwissenschaften . 2.2 Frauenfeindlichkeit und Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Herr Pankrazius Graunzer versucht, hinter sich selber herzugehen« – Elemente des Schelmenromans . . . . . . . 2.4 Die Figur des Pan.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Fluch der Attraktion: Stilpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Stilpes Lehrjahre und die Aneignung von Hoch- als Populärkultur . 3.1.1 Das Spiel mit dem Leser und seinem Schul- und Alltagswissen . . . 3.1.2 Die Literatur als Erzieherin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Das Bordell als Erzieherin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Stilpes Cénacle und außerordentliche Orientierungsversuche: Sehnsuchtsort Bohème. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 »Keiner begreift, daß wir die Bühne der Zukunft gründen wollen!« – Stilpe wird Literatur zur Ware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 »[O]riginell, geistreich sumpfen« – Das Kommentieren als Verflachung und die Poetik des Kleinmachens  : die Froschperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Alkohol im Spiel: Gehaltvolle Literatur und Stilpes künstlerisches Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kulturkritik im Massenmedium: Prinz Kuckuck . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Prinz Kuckucks Geschmackserfahrungen als Wollüstling – zum Widerspruch von ästhetischer Erfahrung und Leben . . . . . . . . .

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Inhalt

4.2 »… wo auch der Stein der Weisen in unheimlich geformten Retorten und natürlich unter Beistand des Bösen gebacken wird« – Subtexte und Prinz Kuckucks Zeitdiagnose . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Militarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Rassenhygiene und Blutlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Völkischer, rassistischer und christlicher Antisemitismus . . . . . . 4.3 Kulturkritik als Kolportage(roman) – Bierbaums Scheitern eines populären Programms ästhetischer Erziehung . . . . . . . . . . . . 5

202 202 205 209 211 220

Das Triviale als ästhetisches Experiment: Bierbaum als Erfolgsautor und eine neue Ästhetik des Populären um 1900 . . . . . . . . . . . .

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Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur von Otto Julius Bierbaum. . . Briefe Otto Julius Bierbaums . . . . . . . . . Quellen und Rezensionen. . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zu Otto Julius Bierbaum. . Weitere zitierte Literatur . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . .

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1 Literatur der »Übergangszeiten«: Bierbaums ästhetische Neuerungsversuche um 1900

»Das Volk muss der Kunst gewonnen werden  !«1, proklamiert Otto Julius Bierbaum im Vorwort seines 1897 erscheinenden Kalenderbuches Der Bunte Vogel die Aufgabe aktueller Kunstproduktionen. Die Forderung tritt für eine neue, gesellschaftlich relevante Position der Kunst ein, weil das Volk, also die Massen, sich um die Jahrhundertwende scheinbar von ihr abgewendet haben. Bierbaums Bemühungen um eine größere Publikumsresonanz literarischer und künstlerischer Produktionen fallen in eine Zeit, die geprägt ist von zwei widerstrebenden ästhetischen Tendenzen. Auf der einen Seite suchen viele Künstler um 1900 neue künstlerische Ausdrucksformen, die sich der Erhabenheit und dem besonderen Genusserlebnis der Kunst verpflichten  : Kunst solle als ein Gesamtkunstwerk konzipiert und gefördert werden, wie es Richard Wagner in den Aufführungsanweisungen seiner Opernwerke entwickelt und wie es Friedrich Nietzsches Idee eines »gesteigerten Lebens«2 beschreibt. Die Kunst wird gefeiert in besonderen Schmuckausgaben von Büchern und während würdevoller Leseabende oder Jahres- und Ruhmesfeste für geladene Gäste in Künstlerkreisen. Die künstlerische Wahrnehmung wie die künstlerische Betätigung – so die Idee eines ästhetischen Lebensideals des Fin de Siècle  – sollten sich der profanen Gegebenheiten des Alltags entheben. Der literarische oder künstlerische Genuss ermögliche in der Abgeschiedenheit das erhabene Erlebnis einer exklusiven Kunsterfahrung. Selektive Einladungspolitiken, wie sie Stefan George oder die Kosmiker in München praktizierten3, sind ein Zeugnis dieser ästhetischen Absonderungsstrategie wie 1 Bierbaum, Otto Julius  : Vorwort. In  : ders.: Der Bunte Vogel von 1897. Ein Kalenderbuch von Otto Julius Bierbaum. Mit vielen Zeichnungen von Félix Vallotton und E. R. Weiß. Berlin 1896, S. 22. 2 McCarthy, John A.: Die Nietzsche-Rezeption in der Literatur 1890 – 1918. In  : Mix, York-Gothart (Hg.)  : Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus 1890 – 1918. München 2000 (Hansers Sozialgeschichte der Literatur  ; 7), S. 192 – 206, hier S. 200. 3 Stefan Georges Lyrikband Das Jahr der Seele (1897) stilisiert die Treffen des Kreises zu »Abenden innerer Geselligkeit«. Die Kosmiker um Alfred Schuler, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl verfolgten eine weniger restriktive Einladungspolitik, verstanden sich selbst aber auch als geistige Elite. Ab 1910 kommt der Begriff »Geheimes Deutschland« in Umlauf, der bald synonym für den George-Kreis verwandt wird und der als Begriff schon auf die Aneignung dieses Bohèmekreises durch nationalsozialistische und völkische Ideen verweist. Vgl. Kantorowitz, Ernst  : Das Geheime

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Literatur der »Übergangszeiten«

auch der gesellschaftliche Rückzug in private Salonzirkel, die Gründung künstlerischer oder literarischer Geheimbünde oder die Bildung von Künstlerkolonien, wie sie beispielsweise in dem 1889 gegründeten Worpsweder Arbeitskreis, dem 1899 ins Leben gerufenen Darmstädter Lebens- und Arbeitszusammenhang von Künstlern auf der Mathildenhöhe oder in der lebensreformerisch motivierten Besiedlung des Monte Verità durch Künstler und Künstlerinnen im gleichen Jahr manifest werden. Die Ausgangslagen in den genannten Künstlerkolonien waren sehr verschieden  : Der Künstlerkreis auf der Mathildenhöhe war auf Werkschaupräsentation und auf Jahresausstellungen hin konzipiert, nicht ohne ökonomisches Kalkül einer Standortpolitik für die industriell schwach aufgestellte Stadt Darmstadt und stand unter dem Einfluss seines Finanziers, des mäzenatisch agierenden Großherzogs Ernst Ludwig Karl Albrecht Wilhelm von Hessen und bei Rhein  ; der in Worpswede agierende Freundeskreis und die große Ausstrahlungskraft ausübende Ansiedlung am Monte Verità werden nicht nur als künstlerischer Arbeitszusammenhang, sondern auch als utopischer Lebensentwurf virulent und vorbildlich. Gemeinsam bleibt den künstlerischen Organisationsbestrebungen aber, dass sie sich nach innen organisieren und ausdifferenzieren.4 Gegenläufige Bemühungen sehen in dieser Exklusivität jedoch auch die Gefahr einer gesellschaftlichen Mystifizierung künstlerischen Bestrebens und in der Emphase der sozialen Absonderung ein Lächerlichmachen ästhetischer Produktionen. Als »Extrakabinett der lyrischen Wachsfigurenbude« beschreibt Bierbaum den George-Kreis herablassend in den 1900 von ihm unter dem Pseudonym Martin Möbius herausgegebenen Steckbriefen erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur. Viele Künstler sind darum zur gleichen Zeit bemüht, dieser eskapistischen, der gesellschaftlichen und sozialen Konflikte enthobenen Kunstposition zu entrinnen. Ihre Bemühungen um eine moderne Kunstauffassung wenden sich gegen die naturalistischen Ideale genauso wie die ästhetizistischen Kunstströmungen. Sie suchen nach neuen ästhetischen und technischen Formen, die der Kunst zu einer größeren Öffentlichkeit Deutschland. Vorlesung, gehalten bei Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933. In  : George-Jahrbuch 3 (2000/2001), H. 3, S. 156 – 175  ; sowie Fuchs, Ernst  : Sturm und Drang in München um die Jahrhundertwende. Mit 58 zeitgenössischen Bildern und Karikaturen. München 1936. 4 Eine umfassende Überblicksdarstellung über die Vielzahl der um die Jahrhundertwende sich entwickelnden europäischen Künstlerkolonien mit ortsgebundenen Kurzeinführungen sowie eine international vergleichende Typologisierung bietet Pese, Claus  : Künstlerkolonien in Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. 15. November 2001 bis 17. Februar 2002. Nürnberg 2002.

Literatur der »Übergangszeiten« 

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verhelfen sollen. Ästhetische und verlegerische Experimente werden im Buchwesen, im Theater, in der Oper und im Zeitschriftenwesen unternommen. Der im klassisch-bürgerlichen Sinn bildende und belehrende künstlerische Aufklärungsgedanke wird von beiden Strömungen zurückgedrängt und ersetzt durch die Frage nach dem Erleben und der Rezeption der Kunst. Steht auf der einen Seite der genießerische, zwanglose Aspekt der Kunst, fragt die Kunst auf der anderen Seite, in welcher Form sie zur Unterhaltung und zur Zerstreuung beitragen kann. »Übergangszeiten«5 nennt Bierbaum selbst die Zeit der Jahrhundertwende. Er setzt sich für die ästhetischen Neuerungsversuche der Modernen mit gleichem Interesse ein, wie er die klassischen Erzählweisen romantischer und realistischer Dichter wie Theodor Fontane, Gottfried Keller oder Christian Dietrich Grabbe würdigt.6 In einer Rezension von Richard Muthers Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhundert (1893/94) plädiert Bierbaum für eine größere Aufmerksamkeit auf die neuen künstlerischen Entwicklungen, für die auch Muther sich einsetzt  : Nicht denjenigen, deren Tätigkeit darin bestand, die künstlerischen Bedürfnisse der Zeit – wenn auch noch so geschickt – aus dem Vorrate fertiger, überlieferter Formen zu decken, sondern den Pfadfindern, die vorwärts gingen und Neues schufen, hat unser Kultus zu gelten […] Das ist das Prinzip der Freiheit, des Individualismus, was Muther hier aufstellt, und das ist auch das Prinzip der Moderne.7

Der experimentelle Umgang mit künstlerischen Formen und die explodierende Vielfältigkeit verschiedener Kunstformen und Kunstmedien wird begleitet durch den rasanten Anstieg der Anzahl von Tageszeitungen, Illustriertenzeitungen und Familienblättern, die als konkurrierende Unternehmungen ebenfalls 5 Bierbaum, Otto Julius  : Ein Kathederwunder. In  : Die Kritik 1 (1894), H. 1 S. 36 – 30, hier S. 40. 6 Um das Erbe eines klassischen Schriftstellers konkurrieren die beiden Strömungen der Modernen in besonderem Maße. Sowohl die Vertreter eines neuen Ästhetizismus um Stefan George als auch Vertreter einer populären Ausrichtung der Kunst setzen sich in die Tradition und bemühen sich um Neuausgaben der Werke Goethes. Bierbaum popularisiert Goethe in dem von ihm auf Auftrag der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung ab 1907 herausgegebenen Goethe-Kalender, George widmet sich 1901 der Pflege der Lyrik Goethes in seiner Reihe Deutsche Dichtung, die mit formästhetischen Defiziten gegen bestehende Ausgaben begründet wird  : »Wir verwahren uns dagegen dass diese sammlung unsrer dichter eine bestehende verdrängen soll. Hat ja die obere masse ihre geschmacklosen prachtausgaben . die untere masse ihre nicht schlechteren notausgaben.« (George, Stefan  : Gesamt-Vorrede zu Deutsche Dichtung. In  : Deutsche Dichtung. Hg. v. Stefan George und Karl Wolfskehl. Bd. 2  : Goethe. Stuttgart 1991, S. 5.) 7 Bierbaum, Otto Julius  : Richard Muther’s Geschichte der Malerei im 19.  Jahrhundert. In  : Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit 4 (1893), H. 3/4, S. 1142 – 1157, hier S. 1148.

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den Kunstmarkt tangieren.8 »Von den giftigen Dämpfen des Isismus«9 schreibt Bierbaum in Ein Kathederwunder und verurteilt eine voreilige Stilzuordnung der Modernen. Die Angst, die Aufbruchstimmung und den offenen, experimentellen und suchenden Charakter der neuen Literaturformen zu schnell zu unterbinden, indem man den Modernen die Zuordnung zu einer neuen Stilrichtung aufbürdet, prägt die kulturhistorischen Aufsätze Bierbaums über die Kunst der Bohème der Jahrhundertwende. Eint doch alle neuen Kunstrichtungen in ihren unterschiedlichen ästhetischen Ausprägungen, dass sie antibürgerlich und antiakademisch sind. Neuere literatur- und kunstwissenschaftliche Untersuchungen haben im Hinblick auf den Kunstbegriff und die Kunstproduktionen um 1900 den Aspekt vielseitiger und widerstrebender Kunstexperimente betont, so dass das Fin de Siècle nicht mehr nur unter dem einseitigen Erkenntnisinteresse einer ästhetischen Abgrenzung als Kulturepoche interpretiert wird. Wurde die Diversität der Kunstströmungen in der Epoche der Jahrhundertwende versinnbildlicht in der Vielzahl der von Bierbaum kritisierten künstlerischen »Ismen« (Naturalismus, Symbolismus, Impressionismus, Romantizismus, Ästhetizismus, aber auch Okkultismus, Spiritualismus, Sensualismus), fokussierte sich die Forschung auf die innere Ausdifferenzierung und wachsende Ungleichzeitigkeit verschiedener künstlerischer Schulen und Ästhetiken. An dem Verdikt der literarischen und künstlerischen ästhetischen Abgrenzung hielt sie in der Analyse literarischer Produktionen um 1900 jedoch lange fest.10 Zu formästhetischen und werkbiographischen Untersuchungen des Ästhetizismus treten erst in der neueren For  8 Vgl. Barth, Dieter  : Zeitschriften, Buchmarkt und Verlagswesen. In  : Glaser, Horst Albert (Hg.)  : Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd.  7  : Vom Nachmärz zur Gründerzeit  : Realismus 1848 – 1880. Hamburg 1992, S. 70 – 88.   9 Bierbaum, Otto Julius  : Ein Kathederwunder. In  : Die Kritik 1 (1894), H. 1, S. 40. 10 Einen solchen Überblick zum literarischen Jugendstil gibt der grundlegende, 1977 erschienene Sammelband Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, herausgegeben wird er von Roger Bauer, Eckhard Heftrich, Helmut Koopmann, Wolfdietrich Rasch, Willibald Sauerländer und J. Adolf Schmoll gen Eisenwarth. Er folgt der Interpretation der Epoche unter dem Blickwinkel von Introspektion und Zweckfreiheit der Kunst. Die Ästhetik des Fin de Siècle und des L’art pour l’art wird vordergründig bestimmt durch die Überhöhung der Form und des zentralen Begriffs der Schönheit. Zur Diskussion der Grenze zwischen Moderne und Avantgarde fächert der ebenfalls paradigmatische, 30 Jahre später erscheinende, umfassende Sammelband Literarische Moderne anschaulich Problemfelder und Definitionsdefizite auf. Die Abgrenzung von Ästhetizismus und Avantgarde arbeitet Annette Simonis explizit in ihrem Beitrag aus (vgl. dies.: Ästhetizismus und Avantgarde. Genese, wirkungsgeschichtlicher und systematischer Zusammenhang. In  : Becker, Sabine / Kiesel, Helmuth [Hg.]  : Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin  ; New York 2007, S. 291 – 316).

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schung verstärkt Analysen soziokultureller Strukturen11 und Interferenzen sowie Untersuchungen über Gruppenbildungsprozesse, die jeweils in ihrer eigenen Dynamik und ästhetischen Formsuche interpretiert werden. Abgebildet wird dies zumeist in zu stehenden Namen geronnenen Untersuchungsgegenständen wie dem bereits erwähnten George-Kreis oder dem Kosmikerkreis in München12, dem Friedrichshagener Dichterkreis13, der Künstlerkolonie Mathildenhöhe14, dem Dachauer Künstlerkreis15, Schreiberhau16, Monte Verità17 in Ascona, Hel11 Vgl. zum Beispiel Faber, Richard / Holste, Christine (Hg.)  : Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Sozio­ logie moderner Intellektuellenassoziation. Würzburg 2000 und Hermand, Jost  : Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club. Köln  ; Weimar  ; Wien 1998. Für die europäische Dimension der Künstlerverbindungen  : Pese, Claus  : Künstlerkolonien in Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Nürnberg 2001  ; Andratschke, Thomas  : Mythos Heimat. Worpswede und die europäischen Künstlerkolonien. Dresden 2016. 12 Zum Überblick der gegeneinander gekehrten religionsphilosophischen Grundannahmen des Kosmiker-Kreises um Alfred Schuler, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl und des George-Kreises vgl. die detaillierte Analyse der Bachhofen- und Nietzsche-Rezeption beider Kreise in Dörr, Georg  : Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung bei den Kosmikern, Stefan George, Walter Benjamin und in der Frankfurter Schule. 2. verbesserte Auflage [E-Book]. Würzburg 2019. 13 Eine umfassende, gruppensozialgeschichtlich differenzierte Darstellung findet sich bei Cepl-Kaufmann, Gertrude / Kauffeldt, Rolf  : Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende  : der Friedrichshagener Dichterkreis. München 1994. 14 Vgl. Gutbrod, Philipp  : »Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst  !« Die Entstehung und Entwicklung der Künstlerkolonie Darmstadt 1899 – 1914. Eine Einführung. In  : Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hg.)  : »Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt  !« Die Künstlerkolonie Darmstadt auf der Mathildenhöhe. Internationale Fachtagung veranstaltet vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen, der Wissenschaftsstadt Darmstadt und dem Deutschen Nationalkomitee von ICOMOS e.V. Wiesbaden 2017, S. 32 – 42. 15 Das Künstlerdorf Dachau war zu Anfang geprägt von den privaten Malschulen, die vor allem Adolf Hölzel initiierte und die es den vom akademischen Ausbildungsbetrieb ausgeschlossenen Frauen ermöglichte, Malerei zu studieren und sich als Künstlerin auszubilden. Eine Künstlerkolonie mit etwa 30 Künstlerhäusern entstand um 1900. Vgl. Nauderer, Ursula Katharina  : Künstlerleben im alten Dachau. In  : Boser, Elisabeth (Hg.)  : FreiLichtMalerei. Der Künstlerort Dachau um 1870 – 1914. Dachau 2001, S. 29 – 40. 16 In umgekehrter Reihenfolge zum Monte Verità war der Ort Schreiberhau im Riesengebirge im 19. Jahrhundert zuerst touristisch erschlossen worden und daraufhin folgte die sukzessive Ansiedlung von Künstlern und Künstlerinnen. Dass sich die Brüder Carl und Gerhart Hauptmann 1891 zur Arbeit hier niederließen, bildete den Ausgangspunkt für die Künstlerkolonie Schreiberhau. Vgl. Leistner, Gerhard  : Zwischen Naturmystik und Nationalmythos. Schreiberhau im Riesengebirge als Sonderfall europäischer Künstlerkolonien. In  : Pese, Claus (Hg.)  : Künstlerkolonien in Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Nürnberg 2001, S. 157 – 169. 17 Eine kurze Zusammenfassung der individualistisch ausgestalteten Abgrenzungsphantasie des Monte Verità, wo sich in Vegetarismus und Körperkult eine lebensreformerische Avantgarde iso-

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lerau18 oder Worpswede19. Literarische Zeugnisse der Protagonisten dieser selbst gewählten Arbeits- und Lebenszusammenschlüsse tragen selbst dazu bei, die Orte zu mystifizieren und zu geschlossenen Identitätsräumen zu idealisieren.20 In Wirklichkeit existieren vielgestaltige Austauschbeziehungen und Überschneidungen der Künstlergemeinschaften, viele Schriftsteller und Künstler wirken an unterschiedlichen Orten und die Literatur wird zu einer Vermittlerin der expelierte, gibt Tripold, Thomas  : Kulminationsort Monte Verità. In  : ders.: Die Kontinuität romantischer Ideen. Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte. Bielefeld 2014, S. 241 – 254. 18 Die Gartenstadt Hellerau gründete sich als eine frühe deutsche Gartenstadt 1909 aufgrund der Ansiedlung und des Neubaus einer Fabrikanlage des Tischlermeisters Karl Schmidt, der »Bau-Möbelfabrik – Fabrik für kunstgewerbliche Gegenstände in Dresden«, die seit 1910 unter dem Namen »Deutsche Werkstätten Hellerau« firmierte. Einen knappen Überblick zu den literarischen, verlegerischen, musikalischen und künstlerischen Bestrebungen in Hellerau gibt Sarfert, Hans-Jürgen  : Hellerau als »sehr lebhafte südländische Kolonie«. In  : Lindner, Ralph / Lühr, Hans-Peter (Hg.)  : Gartenstadt Hellerau. Die Geschichte ihrer Bauten. Mit Fotografien von Margret Hoppe. Dresden 2008, S. 106 – 117 und Sarfert, Hans-Jürgen  : Hellerau. Die Gartenstadt und Künstlerkolonie. Dresden 1999 (Kleine Sächsische Bibliothek, Band 3). Zur Baugeschichte vgl. Schinker, Nils M.: Die Gartenstadt Hellerau 1909 – 1945. Stadtbaukunst. Kleinwohnungsbau. Sozial- und Bodenreform. Dresden 2013. 19 Thomas Andratschke macht sich für die typologische Unterscheidung von Pese / Negendanck / Hamann stark, die die europäischen Künstlerkolonien als Sozialphänomen wie folgt auffächern  : in den »Gasthaustyp« mit großer Frequenz wechselnder Künstler und Künstlerinnen, den »Kolo­ nistentyp« mit einer dauerhaften Ansiedlung von Künstlern und den »Landhaustyp«, der ein zentrales Werks- oder Wohngebäude oder eine zentrale Künstlerfigur aufweist. Worpswede gilt Andratschke als Kolonistentyp. Vgl. Andratschke, Thomas  : Worpswede und die europäischen Künstlerkolonien. Ein Prototyp in der internationalen Bewegung. In  : ders. (Hg.)  : Mythos Heimat. Worpswede und die europäischen Künstlerkolonien. Dresden 2016, S. 14 – 45. Zur Typeneinteilung siehe Pese, Claus / Negendanck, Ruth / Hamann, Matthias  : Künstlerkolonien in Europa  : Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Ein Beitrag zur Erweiterung eines Kulturbegriffs. In  : Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (2004), S. 85 – 102. 20 Es entstehen viele literarische Selbstzeugnisse und Erinnerungen von Schriftstellern und Verlegern. Oft stellen sie nicht nur ein Zeichen der eigenen Mystifizierung, sondern auch der nachgelagerten literarischen Identitätsfindung dar. Zum Beispiel Blei, Franz  : Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930  ; Ringelnatz, Joachim  : Mein Leben bis zum Kriege. Berlin 1931  ; Holm, Korfiz  : ich – kleingeschrieben. Heitere Erlebnisse eines Verlegers. München 1932  ; Weigand, Wilhelm  : Welt und Weg. Aus meinem Leben. Bonn 1940. Andere autobiographische Texte wiederum sind Ergebnis einer Auftragsarbeit wie das Worpswede-Buch von Rainer Maria Rilke für den Verlag Velhagen & Klasing 1903. Aufschlussreich sind auch die nach 1945 verfassten Erinnerungen und Selbstzeugnisse, die viel mehr von sehnsüchtiger Faszination, Glorifizierung und Epigonentum geprägt sind als von literarischer Kontextualisierung und Selbstkritik. Vgl. u. a. Salin, Edgar  : Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis. München  ; Düsseldorf 1948  ; Berck, Marga  : Die goldene Wolke. Eine verklungene Bremer Melodie. Bremen 1954 oder Geiger, Hannsludwig  : Es war um die Jahrhundertwende. Gestalten im Banne des Buches  : Albert Langen – Georg Müller. München 1953.

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rimentellen Ästhetiken und Lebensformen. Hinzu treten literaturwissenschaftliche Untersuchungen von städtekulturellen Soziotopen und städtespezifisch geprägten Tropen und Legenden moderner Urbanität. Aus einer diagnostizierten, herrschenden Konkurrenz der Metropolen der Jahrhundertwende erwachsen in Verbindung mit literarischen Gruppenbildungen Geburtsmythen der Moderne um 1900  : die Wiener Moderne, die Münchner Moderne, die Prager und die Berliner Moderne.21 Orte experimentellen Lebens wiederum werden in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Retrospektive gern an die Peripherie oder ins Ländliche verwiesen  : die Enklave Ascona22 mit ihrem Nudismus wirkt in kunsthistorischen Untersuchungen exzentrisch-avantgardistisch aufgeladen wie die Ausflüge und Nacktstudien der Brücke-Künstler23 in Moritzburg. Friedrichshagen und Schlachtensee bilden die Berliner Enklaven mit ihren »utopischen Gesellschaftsentwürfen […] unterschiedlichster Herkunft von anarchistischer bis zu psychoanalytischer Grundlegung«.24 Das der Erzählung von der vital-lebendigen Charakterisierung der »Modernen« entgegengesetzte bürgerlich-künstlerische Zeiturteil einer »nervösen Schwäche« der Dekadenz25 findet sich ebenfalls an der Peripherie  : dem Kurort Davos26 und seinen Sanatorien. Klaus von Beyme folgt in seiner breit angelegten politischen Analyse der Avantgarden diesem Schema der Gegenüberstellung Stadt–Land, wenn er den notwendigen Übergang von einer 21 Unter der Prämisse der metropolengebundenen Typisierung des Modernebegriffs steht die kritische vergleichende Studie von Sprengel, Peter / Streim, Gregor  : Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater und Publizistik. Mit einem Beitrag von Barbara Noth. Wien  ; Köln  ; Weimar 1998 (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur  ; 45). 22 Vgl. Voßwinkel, Ulrike  : Freie Liebe und Anarchie  : Schwabing – Monte Verità. Entwürfe gegen das etablierte Leben. München 2009. 23 Vgl. den Eintrag »Badende« in Dalbajewa, Birgit / Bischoff, Ulrich  : Die Brücke in Dresden 1905 –  1911. Köln 2002. Der Katalog enthält einen Aufsatz von Peter Bürger, der auf der Trennschärfe des Begriffs Avantgarde besteht und diese anhand der Künstlervereinigung Brücke anschaulich macht. Die Brücke ist entgegen der Definition des Avantgardebegriffs nicht darauf ausgerichtet, einen umstürzlerischen Prozess anzustoßen, der eine gesellschaftliche Kultur revolutionieren will. (Bürger, Peter  : Die Brücke – eine avantgardistische Bewegung  ? In  : Dalbajewa, Birgit / Bischoff, Ulrich  : Die Brücke in Dresden 1905 – 1911. Köln 2002, S. 46 – 51). 24 Bernhardt, Rüdiger  : Literatur in Künstlerkolonien. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Pese, Claus (Hg.)  : Künstlerkolonien in Europas. Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Nürnberg 2001, S. 195 – 219, hier S. 200. 25 Eine präzise und literaturkritische Arbeit zum Epochenbegriff der Dekadenz findet sich in Pross, Caroline  : Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen 2013. 26 Eine kulturwissenschaftliche Studie von Ulrike Moser widmet sich in zentralen Kapiteln den literarischen Bearbeitungen und der gesellschaftlichen Bedeutung des Schweizer Kurortes  : Moser, Ulrike  : Schwindsucht. Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte. Berlin 2018.

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theoretischen Emanzipation künstlerischer Verfahren vom akademischen Traditionalismus und sittlich-moralischen bürgerlichen Vorstellungen in eine Erfahrung neuer Lebensformen und gesellschaftlicher Beziehungen festhält. Aus dem Wunsch nach einer neuen Identitätsfindung der modernen Künstler entstünden zwei künstlerische Lebens- und Arbeitsformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts  : »1. Der Rückzug in ländliche Künstlerkommunen. 2. Die Suche von Gruppen­ iden­titäten in einer städtischen Boheme.«27 Die Bezeichnung als »Moderne«, die in führenden konservativen Zeitschriften in Abgrenzung zu den realistischen und naturalistischen klassischen Autoren in den 1880er Jahren diffamierend gebraucht wird, übernehmen viele der Künstler und Schriftsteller, die sich poetisch in der Nachfolge des Naturalismus verorten. Als positive Selbstbezeichnung unterstreicht sie den gesellschaftlichen Umbruch, den ihre Vertreter herbeiführen wollen. Die »Modernen« oder »Jungen« grenzen sich ab von tradierten Kunstformen durch den Wunsch, neuen ästhetischen Ansätzen zu folgen. Eine wichtige Kunstzeitschrift nennt sich programmatisch Jugend. Sie wird 1896 von Georg Hirth in München gegründet und widmet sich einer umfangreichen »Geschmacksumbildung«28 der Massen. Die Zeitschrift vertritt eine moderne Kunstkritik, die mit zum Teil satirischen Mitteln auch Kultur- und somit Gesellschaftskritik betreibt. In vielen literatur- und kulturwissenschaftlichen Analysen wird jedoch den reformerischen Tendenzen des Fin de Siècle mehr Aufmerksamkeit zuteil als den Experimenten mit ästhetischen Formen, wenn die Herbeiführung gesellschaftlicher Umbruchsprozesse untersucht werden soll.29 So erscheinen die Jahre um die Jahrhundertwende retrospektiv abgrenzbar von den kulturpolitisch höher bewerteten »Aufbruchsjahren« der Avantgarden, die erst nach dem Ersten Weltkrieg europaweit einsetzen. Jutta Hülsewig-Johnen sieht vor allem den niedrigen Grad formaler Abstraktion als Grund für das nachlassende Interesse an der Epoche und die zeitlich nachgelagerte, später einsetzende Neubewertung des Fin de Siècle  : Doch in vielfacher Hinsicht manifestierte sich im Aufbruch der Moderne die Subjektivierung der Kunst gemäß eines radikal veränderten Selbstverständnisses der Künstler 27 Beyme, Klaus von  : Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905 – 1955. München 2005, S. 63. 28 Koreska-Hartmann, Linda  : Jugendstil – Stil der »Jugend«. Auf den Spuren eines alten, neuen Stilund Lebensgefühls. München 1969, S. 27. 29 Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der gesellschaftlichen Relevanz der Lebensreformbewegung stellt der Doppelband dar  : Buchholz, Kai u. a. (Hg.)  : Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bd. Darmstadt 2001.

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nicht allein in der Autonomisierung der malerischen Mittel und der Befreiung von Farbe und Form aus den akademischen Darstellungskonventionen, sondern ebenso in der formal traditionelleren Verbildlichung der neuen Ideen und Vorstellungen. Mit der Begutachtung der Moderne unter formalästhetischen Vorzeichen geriet im 20. Jahrhundert der Symbolismus mit seinen illustren, teils opulenten, teils sinistren Bilderzählungen jedoch schon bald wieder aus dem Blick. In der Folge bleibt eine europaweite Kunstbewegung der Frühmoderne für fast ein Jahrhundert weitgehend unbeachtet, die von den Zeitgenossen zunächst als revolutionär und avantgardistisch empfunden worden war, sodann den Inbegriff des modernen Kunstschaffens darstellte, alsbald zu höchster Beliebtheit und breitester Anerkennung aufstieg, bevor sie mit dem Fortschreiten der genannten Avantgardebewegungen und dem Siegeszug der Abstraktion als unmodern und rückwärtsgewandt zum Endpunkt einer mit dem vergangenen Jahrhundert überwundenen Dekadenz erklärt wurde.30

Doch ist es nicht nur ein formalästhetischer Einwand, der die Abgrenzung ­einer politisch und ästhetisch innovativen Avantgarde von einer dekadent und rückwärtsgewandten gezeichneten Moderne der Jahrhundertwende stärker betont, als die Übergangsphänomene und ästhetischen Transformationsfiguren in den Blick zu nehmen. Der Historiker Peter Paret versteht dieses Phänomen als einen kulturpolitisch geführten Machtkampf, der ausgelöst wird durch die Infragestellung der traditionellen Kunstinstitutionen und kaiserlich-staatlichen Kunstakademien durch die »Jungen«. Die Bemühungen um neue Künstlervereinigungen, die selbstständiger und unter geringer staatlicher Beobachtung und so formästhetisch ungebundener arbeiten, führen in vielen Städten in den 1890er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg zu Gründungen von »Künstlerabspaltungen«, den Secessionen. Die erste deutsche Secessionsgründung fand in München 1892 unter großem öffentlichen Interesse statt, finanziell ermöglicht wurde die Vereinsgründung unter anderem durch den Verleger Georg Hirth. Es folgten als große Künstlervereinigungen die Wiener Secession 1897 und ein Jahr darauf die Berliner Secession  : Der Widerstand, der der Avantgarde von denen entgegengebracht wurde, die für die staatliche Förderung zuständig waren und die die wichtigsten Ausstellungen des Landes kontrollierten, machte bereits die Gründung der Secession zu einem politischen 30 Hülsewig-Johnen, Jutta  : Von Mythen und Menschen. Die Symbolistische Moderne in Deutschland. In  : dies. / Mund, Henrike  : Schönheit und Geheimnis. Der deutsche Symbolismus. Die andere Moderne. Bielefeld 2013, S. 8 – 18, hier S. 10 f.

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Akt. […] Die Secession als Werkzeug eines gefährlichen kosmopolitischen Modernismus gehörte bald zu den mit besonderer Vorliebe beschworenen Schreckgespenstern der radikalen Rechten, die die einfache Unterscheidung zwischen traditioneller und moderner Kunst in eine Konfrontation von gesunden und zersetzenden Ideologien verwandelte. […] Wenn meine These richtig ist, daß die Secession nicht nur als Vereinigung von Bildhauern und Malern Aufmerksamkeit verdient, sondern auch wegen der politischen Aspekte und Implikationen ihrer Existenz, dann mag es seltsam erscheinen, daß noch nicht mehr darüber geschrieben worden ist.31

In der deutschen Literaturwissenschaft der 1970er Jahre wird erstmals ein wichtiger Einwand in der politisch-ästhetischen Bewertung der Epoche des Fin de Siècle durch die Untersuchungen von Gert Mattenklott32 und Jost Hermand33 erhoben, die durch weitere Arbeiten unter anderem von Peter Paret34, Georg Bol­lenbeck35 und Stefan Breuer36 vertieft und erweitert werden. Untersucht wird der Einfluss protofaschistischer, völkischer und lebensreformerischer Gedanken auf die Literatur der Jahrhundertwende, weil bis dahin eine politische Bewertung der lebensphilosophischen Ansätze der »Modernen« nicht stattgefunden hatte. Zur gleichen Zeit wächst das wissenschaftliche Interesse an ihren reformerisch-progressiven politischen Intentionen. Die Trennung der Kunstepochen der Jugendstil-­Bewegungen des Fin de Siècle, die verstärkt unter dem Aspekt einer ästhetischen Rückzugsbewegung interpretiert wurden, von den um gesellschaftliche Wirksamkeit ringenden Avantgarden nach dem Ersten Weltkrieg bleibt dabei jedoch unberührt, sie wird sogar verstärkt. Doch die Herausarbeitung der politischen Implikationen der poetischen Unternehmungen des Fin de Siècle – sowohl der kulturkonservativen, präfaschistischen als auch der emanzipativen Tendenzen – weckt auch ein erneutes wissen31 Paret, Peter  : Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland. Frankfurt / M.; Berlin  ; Wien 1983, S. 9 – 11. 32 Mattenklott, Gert  : Jugendstil. In  : Glaser, Horst Albert (Hg.)  : Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 8  : Jahrhundertwende  : Vom Naturalismus zum Expressionismus 1880 – 1918. Reinbek 1982, S. 260 – 276. 33 Hermand, Jost  : Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende. Frankfurt / M. 1972. Siehe auch ders.: Avantgarde und Regression. 200 Jahre deutsche Kunst. Leipzig 1995. 34 Paret, Peter  : Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland. Frankfurt / M. 1983. 35 Bollenbeck, Georg  : Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880 – 1945. Frankfurt / M. 1999. 36 Breuer, Stefan  : Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995.

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schaftliches Interesse, das in der Folge zu weiteren neuen Untersuchungen bisher noch nicht erforschter Phänomene führt, wie zum Beispiel der Analyse der buchgestalterischen Neuerungen37, den Untersuchungen zur Mediengeschichte, zur Oralität des Cabarets und literarischer Vortragskulturen in Künstlerkneipen38 bis hin zu buchhändlerischen, mediengeschichtlichen und verlagshistorischen Einzeluntersuchungen.39 Ein Forschungsdesiderat stellen die konkreten politischen Organisierungsversuche von Künstlern und Schriftstellerinnen und die Bemühungen um gewerkschaftliche Selbstorganisierung und Kartellbewegungen dar.40 Zu einer grundlegenden Neubewertung der Epochengrenze zwischen Fin de Siècle und den historischen Avantgarden kommt es in der jüngeren Vergangenheit. Die Herausarbeitung von ästhetischen und kulturkritischen Querverbindungen zwischen beiden Epochen gelingt jedoch nicht in spezifischen Einzeluntersuchungen zur Kunst der Jahrhundertwende, vielmehr wächst durch eine Neuverortung des Begriffs Avantgarde41 das Interesse an der historisch vorgelagerten Epoche des Jugendstils und der Décadence. Wird die avantgardistische 37 Die deutsche Buchkunstbewegung entwickelt sich parallel zur Kunstgewerbebewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert und wird von deren Diskussionen ebenso beeinflusst, wie beide Formentwicklungen sich auf englische Vorbilder (John Ruskin, William Morris) beziehen. Explizite Untersuchungen zur experimentellen oder avantgardistischen Buchgestaltung von Übergangsfiguren wie Harry Graf Kessler, Henry van de Velde, Peter Behrens, Heinrich Vogeler, Julius Meier-Graefe oder Otto Julius Bierbaum gibt es wenige, exemplarisch widmet sich Brinks der politisch-ästhetischen Kontextualisierung der Buch- und Druckgestaltung im frühen Insel-Verlag. Vgl.: Brinks, John Dieter (Hg.)  : Vom Ornament zur Linie. Der frühe Insel-Verlag 1899 bis 1924. Ein Beitrag zur Buchästhetik im frühen 20. Jahrhundert. Assenheim 2000. Zu Interferenzen der Buchkunst- und Kunstgewerbebewegung vgl. Kühnel, Anita  : So wussten wir alles aus erster Hand. Transfer der künstlerischen Moderne. In  : dies. / Lailach, Michael / Weber, Jutta (Hg.)  : Avantgarde  ! Die Welt von gestern. Deutschland und die Moderne 1890 – 1914 – Wort in Freiheit. Rebellion der Avantgarde 1909 – 1918. Dortmund 2014, S. 65 – 108. 38 Vgl. u. a. den Aufsatzband von Grage, Joachim / Schröder, Stephan Michael (Hg.)  : Milieus, Akteure, Medien. Zur Vielfalt literarischer Praktiken um 1900. Würzburg 2013 und Gfrereis, Heike / Kinder, Anna / Richter, Sandra (Hg.)  : #LiteraturBewegt. Lachen. Kabarett. Marbach 2019. 39 Kuhbandner, Birgit  : Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft  ; 17). 40 Als Interessenvertretung freier Schriftsteller gründete sich der Deutsche Schriftstellerverband 1887 in Dresden und die Deutsche Schriftstellergenossenschaft 1891 in Berlin mit der Mitgliederzeitschrift Das Recht der Feder. 41 Vgl. Asholt, Wolfgang  : Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld. Berlin  ; Boston 2014 und Kühnel, Anita / Lailach, Michael / Weber, Jutta (Hg.)  : Avantgarde  ! Die Welt von gestern. Deutschland und die Moderne 1890– 1914 – Wort in Freiheit. Rebellion der Avantgarde 1909 – 1918. Dortmund 2014.

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Moderne in anderen Gattungen wie der Malerei und der Musik zum Teil um die Epoche des Jugendstils erweitert, so findet die Ausweitung des Avantgarde-Begriffs in der Literatur auf die frühere Epoche des literarischen Fin de Siècle nur in Ausnahmen und zögerlich statt und es steht eine genauere Analyse dieser Zeit unter dem Aspekt avantgardistischer Literaturproduktion noch aus. Gerade im Hinblick auf die Einflussnahmen der im Fin de Siècle gegründeten Zeitschriften und ihrer transnationalen und lokalen kulturellen Vermittlungsfunktion erweitern neuere literaturwissenschaftliche Untersuchungen den Modernebegriff der Jahrhundertwende.42 Das gilt ebenso für das erstarkte wissenschaftliche Interesse an den technischen Erfindungen, wie sie maßgebend auf den Weltausstellungen präsentiert werden43, an den medizinischen, hygienischen Neuerungen und städtebaulichen Experimenten und ihrer Einflussnahme auf die literarischen und künstlerischen Produktionen. Neue Drucktechniken, typo­ graphische Erfindungen und neue kunstgewerbliche Bestrebungen verweisen ebenso auf die Umbruchsepoche der Jahrhundertwende wie die Umgestaltung von traditionellen Geschäfts- und Gewerbemodellen im Kunst- und Zeitungswesen, die Bemühungen um die Einführung von künstlerischen Genossenschaftsmodellen und Gewerkschaftszusammenschlüssen und das Eruieren neuer Distributionsformen für künstlerische und literarische Produkte. Die Frage nach der Produktionsästhetik, wie sie Peter Bürger in seinem programmatischen Text Theorie der Avantgarde 1974 stellt, führt zwar zu einer umfassenden 42 Vgl. zum Beispiel den Sammelband zum Einfluss und zur Vermittlungsrolle der Wiener Zeitschrift Die Zeit, für die Otto Julius Bierbaum auch tätig war  : Merhautová, Lucie / Ifkovits, Kurt (Hg.)  : Die Wiener Wochenschrift Die Zeit (1894 – 1904) und die zentraleuropäische Moderne. Studien – Dokumente. Prag  ; Essen  ; Wien 2013. Eine lokale Untersuchung zur Moderne, der Ästhetik des Jugendstils und ihrer engen Verzahnung mit der Industriegeschichte findet sich beispielsweise in  : Badisches Landesmuseum (Hg.)  : Jugendstil am Oberrhein. Kunst und Leben ohne Grenzen. Sonderausstellung des Badischen Landesmuseums Karlsruhe. 14.4. – 9.8.2009. Karlsruhe 2009. 43 Eine anschauliche und materialreiche politische Globalgeschichte der Moderne erzählt der Kunsttheoretiker Beat Wyss anhand der Pariser Weltausstellung 1889  : »Im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts fand sie [die Globalisierung  ; BZ] ihren Höhepunkt. In dieser Zeit entwickelte sich auch das Bedürfnis, die ganze Welt für die Massen darstellbar und erlebbar zu machen. Wenn wir unter Globalisierung den weltweit unmittelbaren und gleichzeitigen Austausch von Information und Kommunikation verstehen, so waren die Weltausstellungen der erste Versuch, die Welt als homogenen Ort der Erfahrung für ein Massenpublikum lesbar zu machen.« Zur selben Zeit einer Ästhetik der Weltausstellungen, so Wyss’ These, die mittels einer europäischen Hypostase der Industrie die kolonialen Gewaltverhältnisse verschleiere, verkehre das »Kunstsystem der Moderne« diese Herrschaftsverhältnisse und die Weltordnung  : »Hier missionierten die Kolonialisierten die Kolonisten.« (Wyss, Beat  : Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889. Berlin 2010, S. 34 und S. 225).

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theoretischen Auseinandersetzung über den Funktionswandel von Literatur und die Wirkmächtigkeit von Kunst sowie die Angemessenheit ästhetischer Formen in der Manifestation künstlerisch-politischer Positionen. Doch erst in neueren Untersuchungen widmet man sich kritisch dem historischen Ausgangspunkt seiner Überlegungen, dass »[i]m Ästhetizismus [des ausgehenden 19. Jahrhunderts  ; BZ] […] die gesellschaftliche Folgenlosigkeit der Kunst manifest« wird44. Anhand einer textnahen Untersuchung der drei großen Romane, die Otto Julius Bierbaum im Zeitraum von 1895 bis 1908 veröffentlicht, soll in der vorliegenden Arbeit nicht der Aspekt ästhetischer Hermetik und Geschlossenheit literarischer Produktionen des Jugendstils vertieft, sondern das Augenmerk auf eine Verkehrung dieses Verhältnisses von Literatur und literarischer Öffentlichkeit gelegt werden. Nicht die selbst gewählte Abgeschlossenheit der ästhetischen Gebilde kann als die ästhetische Neuerung der von Bierbaum vertretenen literarischen Strömung des Fin de Siècle gelten, sondern gerade das Produktivmachen einer Sonderstellung der Literatur, die aufgrund vieler konkurrierender Medien – wie der Zeitungs- und Kolportageromane, der Wirtshäuserunterhaltungsbetriebe, der »Gaukler, Tierbändiger, Monstrositätenarrangeure, Wunder­ heiler, Hausierer«45, der Zirkusaufführungen und erster kinematographischer 44 Bürger, Peter  : Theorie der Avantgarde. Frankfurt / M. 1974, S. 69. Eine Neubestimmung des literarischen Avantgarde-Begriffs unter dem Blickwinkel des Schwellenjahres 1910 unternimmt der Sammelband von Planes, Dolors Sabaté / Fejioo, Jaime (Hg.)  : Apropos Avantgarde  : neue Einblicke nach einhundert Jahren. Berlin 2012. Das Jahr 1914 als epochales Umbruchsjahr nimmt ein Ausstellungskatalog der Staatlichen Museen zu Berlin in den Blick, der sich dem historischen Phänomen der Avantgarden in einer epochenübergreifenden Konzeption nähert und der einen wichtigen Beitrag zur ästhetischen und kulturellen Ausweitung des Begriffs darstellt  : Kühnel, Anita / Lailach, Michael / Weber, Jutta (Hg.)  : Avantgarde  ! Die Welt von gestern  : Deutschland und die Moderne 1890 – 1914  – Worte in Freiheit  : Rebellion der Avantgarde 1909 – 1918. Berlin 2014. Bis in die Anfänge der französischen Revue- und Kunst-Zeitschriften verfolgt auch Alexander Emanuelys Überblicksdarstellung die Avantgarden zurück (Emanuely, Alexander  : Avantgarde I. Von den anarchistischen Anfängen bis Dada oder wider eine begriffliche Bestimmung. Stuttgart 2015). Umfassend informiert der Sammelband von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, der die historischen Avantgarden in ihren internationalen Ausdifferenzierungen und Verbindungen analysiert und sie ebenfalls bis in die Moderne verlängert (Asholt, Wolfgang / Fähnders, Walter [Hg.]  : Der Blick vom Wolkenkratzer  : Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung. Amsterdam 2000 [Avant-Garde critical studies  ; 14]). Ein bislang kunsthistorisch nicht in den historischen Avantgarden verortetes Medium nimmt eine Frankfurter Ausstellung 2016 in den Blick  : den Comic (vgl. Braun, Alexander / Hollein, Max [Hg.]  : Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde. Ostfildern 2016). 45 Maderthaner, Wolfgang / Musner, Lutz  : Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. Frankfurt / M.; New York 1999, S. 113.

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Projektionen auf Jahrmärkten – ihre gesellschaftlich etablierte Position als Instrument bürgerlicher oder schichtübergreifend städtischer Erbauungs- und Verständigungsprozesse zu verlieren droht. »Wunschmaschine Massen­kultur«46 nennen Maderthaner und Musner die populären Unterhaltungsmedien der Jahrhundertwende und betonen den Fluchtpunkt der Imagination, die aus dem städtischen Wohnelend und den Zumutungen des Arbeitsalltags hinausführt, und dass die Literatur auch dieser Funktion gerecht werden wolle. Das literarische Abseits wird von Bierbaum nicht ästhetisch überhöht, sondern soll ästhetisch überwunden werden, um eine literarisch interessierte Öffentlichkeit wiederzugewinnen. Dieses Verfahren literarischer Popularisierung verfolgt zweierlei Zwecke  : Zunächst sind Bierbaums verlegerische und ästhetische Unternehmungen auf das Ziel gerichtet, einem Statusverlust der Literatur zu begegnen, wie ihn auch Peter Bürger für die Zeit des auslaufenden Naturalismus in den 1890er Jahren konstatiert. Häufig betont Bierbaum in seinen Schriften den Bekanntheitsgrad von weit verbreiteten Familienblättern, Illustriertenzeitungen und Zeitungsromanen, von denen sich eine ernste Kunstproduktion unterscheidet, die ein künstlerisches Bildungserlebnis ebenso herbeiführen will, wie sie auch zur Unterhaltung beitragen soll. Bierbaums Unterfangen einer ernsten Unterhaltungskultur nutzt neue Literaturformen wie auch manieristisch wirkende alte Versformen und in Vergessenheit geratene Erzählstile. Auf produktionstechnischer Ebene belebt er alte buchbinderische und drucktechnische Verfahren, um, an diese anknüpfend, mit neuen Buchausgaben experimentieren zu können. Er sucht nach alten Druckstöcken und Lettern, widmet sich traditionellen japanischen Papierschöpfverfahren und arbeitet mit der »reich mit Schriftenmaterial assortierte[n] Drugulinische[n] Offizin in Leipzig«47 zusammen, um das gängige typographische Erscheinungsbild der Bücher, die oft in einer Linotype-Fraktur gesetzt sind, zu überwinden. Die klassischen, alten Versformen und Produktionsverfahren werden wiederbelebt und mit neuen Techniken und ästhetischen Forderungen verbunden. So unternimmt Bierbaum die literarische Belebung der traditionellen, populären Form der Anthologie, des Reiseberichts, des Lieder- und Kinderbuchs und des Hausbuchs oder Jahreskalenders, einer um die Jahrhundertwende äußerst beliebten Zeitschriften-Beigabe, die jedoch zumeist biedere Spruchweisheiten und billige Kunstdrucke für ein Massenpublikum bereithielt. Für die von Mi46 Maderthaner, Wolfgang / Musner, Lutz  : Die Anarchie der Vorstadt, S. 111. 47 Holeczek, Bernhard  : Otto Julius Bierbaum im künstlerischen Leben der Jahrhundertwende. Studien zur literarischen Situation des Jugendstils. Berlin 1973, S. 102.

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chael Georg Conrad gegründete Gesellschaft für modernes Leben48 in München gestaltet und redigiert Bierbaum zunächst für einen begrenzten Rezipientenkreis den Modernen Musen-Almanach auf die Jahre 1893 und 1894. Später gibt er zwei Jahre in Folge eine Jahresanthologie Der Bunte Vogel mit eigenen Texten heraus  : »Der innere Grund der Kalenderform«, schreibt Bierbaum in ironischer Abgrenzung vom Ästhetizismus George’scher Prägung, »ist der Wunsch, nicht gar so feierlich und doch als Kunst, meinetwegen als Kleinkunst, genommen zu werden.«49 Einige Jahre darauf greift er ein weiteres Mal die alte Form des Haus- oder Kalenderbuchs auf, indem er von 1907 bis zu seinem Tod 1910 für die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung den Goethe-Kalender herausgibt. Diese Amalgamierung aus bekannten Medien und Techniken und modernen ästhetischen und experimentellen Schreibweisen verfolgt aber auch das Interesse, Kunst wieder alltäglich werden zu lassen, sie als eine Form künstlerischen Ausdrucks lebendig erscheinen zu lassen, ohne die Lebensrealitäten und Lesegepflogenheiten vieler Leser zu missachten. Die Idee eines analog zum Kunstgewerbe entworfenen Bierbaum’schen Verfahrens des Literaturgewerbes ist weder selbstreferentiell, wie es der von ihm mitbegründeten Zeitschrift Die Insel zum Beispiel vorgeworfen wurde – sie sei eine literarische »Verschwendung« und artistischer »Unfug«50 –, noch sind die Lektüreformate nur auf den publizistischen und pekuniären Erfolg hin entworfen. Als avantgardistische Experimente könnten Bierbaums literarische Unternehmungen gelten, hebt man den selbstreflexiven Charakter und das intertextuelle Spiel hervor, das die Texte Bierbaums charakterisiert. Doch Bierbaum verbindet auf eine spezifische Weise populäre Erzählformen und beliebte literarische Genres mit seinem ästhetischen Bildungsprogramm. Johannes Pankau hält paradigmatisch einen Typus des Literaten der Jahrhundertwende fest, der treffend passt auf Bierbaums Strategie der Popularisierung auf dem Literaturmarkt  : »Ein Typ des Literaten betritt in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die Szene, der sich aus den Höhen der anspruchsvollen Literatur in die Niederungen des Unterhaltungsbetriebes begibt.«51 48 Am 18.12.1890 gründen Karl Bleibtreu und Georg Michael Conrad die Gesellschaft für modernes Leben als Vereinigung Münchner Naturalisten. Zur Geschichte des öffentlichen Wirkens des Kreises vgl. Bauer, Michael  : »Die Gesellschaft für modernes Leben«. Programm und Vereinspolitik. In  : ders.: Oskar Panizza. Ein literarisches Portrait. München  ; Wien 1984, S. 116 – 123. 49 Bierbaum, Otto Julius  : Vorwort. In  : ders.: Der Bunte Vogel von achtzehnhundertundsiebenundneuzig. Ein Kalenderbuch von Otto Julius Bierbaum. Mit Zeichnungen von Felix Vallotton und E. R. Weiß. Berlin 1896, S. 9 – 26, hier S. 21. 50 Jacobowski, Ludwig  : Die Insel. In  : Die Gesellschaft 16 (1900), Bd. 3, S. 64 – 65. 51 Pankau, Johannes G.: Unterhaltungskultur um 1900  : Film, Cabaret, Varieté. In  : ders. (Hg.)  : Fin de

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Wie erfolgreich dieser Versuch ist, das literarische Kunstwerk in ein massen­ taugliches Unterhaltungsprogramm literarischer Bildung zu transformieren und auf diese Weise Kunst wieder zu einer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit zu verhelfen, soll anhand von Bierbaums literarischem Werk herausgearbeitet werden. Wenn Bierbaum allgemein als Grenzgänger der literarischen Moderne gilt, erfüllt er, wie Walter Fähnders umreißt, »durch seine Orientierung auf das Publikum hin«52 die Bedingung eines avantgardistischen Künstlers  ; er gilt aber zugleich als versierter Vertreter des Jugendstils, so ist sein Œuvre ebenso deutlich Ausdruck der Bemühung, Kunst wieder einen Platz im öffentlichen und kulturellen Selbstverständnis zu geben  : »Der Sezessionsstil war ein durchaus groß angelegter Versuch, sich der Öffentlichkeit zu bemächtigen und ins Stadtbild einzugreifen«53, und trotzdem wurde das Scheitern einer solchen ästhetischen Umwälzung schon bald diagnostiziert. Der Kunsthistoriker Otto Grautoff erkennt bereits 1902 das riskante ästhetische Changieren zwischen einer ästhetisch populären Stilform und einem nur zu Werbezwecken angewandten Kunstgriff, der keine ästhetische Autonomie beansprucht und bloß als Schmuckwerk oder Marke Aufsehen erregt  : So bedeutend der Einfluss der Jugend auf das deutsche Kunstleben aber auch ist, von einem »Jugendstil« lässt sich kaum reden  ; es ist ein hohler Begriff, bei dem sich schwerlich etwas denken lässt. Und doch werden heute Möbel, Kaffeetassen, Stickereien, Leuchter, Briefpapier und Gott weiss was im Jugendstil von dem kaufenden Publikum verlangt  ?54

Siècle. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2013, S. 89 – 106, hier S. 95. 52 Fähnders, Walter  : Projekt Avantgarde. Avantgardebegriff und avantgardistischer Künstler, Manifeste und avantgardistische Arbeit. Bielefeld 2019 (Moderne-Studien  ; 23), S. 5. 53 Metzger, Rainer  : München. Die große Zeit um 1900. Kunst, Leben und Kultur 1890 – 1920. Wien 2008, S. 151. 54 Grautoff, Otto  : Die Entwicklung der modernen Buchkunst in Deutschland. Leipzig 1902, S. 38. Die starke Einflussnahme der neuen Formenfindungen des Jugendstils auf eine neue Ästhetik maschinell hergestellter Gebrauchswaren wird von Grauthoff als »hohle« Werbekampagne kritisiert, doch verweist sein Ärger über das wahllose Bedürfnis nach Jugendstilformen bereits auf die Kunstgewerbebewegung, die sich gegen die »Hausgreuel« der historistischen Dekore früherer Haushaltsgegenstände und Schmuckwaren richtete und einen neuen ästhetischen Bewertungsmaßstab befürwortete, der von der Funktion der Gegenstände geleitet ist  : »Der Markt wurde überschwemmt mit Objekten der billigsten Sorte in historisierenden ornamental überladenen Gestaltungen, die zwar durchaus dem – noch nicht anders ausgebildeten – Massengeschmack entsprachen, die aber nur das scheinhafte Versprechen von Kostbarkeit und Luxus anzubieten hatten. Ansonsten waren sie fern jeglicher sinnvoller Verwendungsmöglichkeit.« (Beil, Ralf [Hg.]  : Künstlerkolonie Mathildenhöhe Darmstadt 1899 – 1914. Das Buch zum Museum. 3. veränderte A. Darmstadt 2007, S. 13).

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Die Verbreitung und Etablierung des Jugendstils gelingt in der Werbung und im Kunstgewerbe effektiver, als sich eine Kunstbewegung als neue ästhetische Formenbewegung durchsetzen kann. »Das Jugendstilpostulat der gegenseitigen Durchdringung von Kunst und Leben«, so Jürgen Mathes, »überträgt Bierbaum von der angewandten Kunst auf die Lyrik«55. Bierbaums Idee einer neuen Literatur, »die keine moralische, sondern eine ästhetische Anstalt«56 sein soll, knüpft auf der einen Seite an ein bildungsbürgerliches Ideal an, das an der erzieherischen, aufklärerischen Funktion von Kunst festhält. Auf der anderen Seite interessiert sich Bierbaum in seiner ästhetischen Formensuche gerade für die technischen Errungenschaften und neuen Medien städtischer Öffentlichkeiten, die zwar ganz kunstlos, aber auf ein Massenpublikum umso anziehender wirken. Erst in der Phase der Konsolidierung der verschiedenen neuen Medien (Photographie, Kino, Varieté) und erst durch die wechselseitige Profilierung der künstlerischen Betriebe und Amüsierstätten kommt es nach dem Ersten Weltkrieg zu der Unterteilung in und der Verfestigung der Trennung von Hoch- und Massenkultur. Versucht das Theater um die Jahrhundertwende attraktiv zu werden für ein Massenpublikum, wendet es sich Experimenten mit der Bühnenanordnung, der Raumausstattung und vor allem dem Repertoire zu. Die Wagner’sche Auffassung des Bühnenkunstwerks als umfassendes Geschmackserlebnis bildet nur eine wichtige ästhetische Neuerung unter den zahllosen Versuchen, eine neue Form des »intimen Theaters« (August Strindberg), des »lyrischen Theaters« (Bierbaum und Ernst von Wolzogen), der Sezessionsbühnen und Freien Bühnen, der Varietébühnen und der Kabarettaufführungen zu entwickeln57, so dass »Thea­ ter als Scharnier zwischen den Medien- und Unterhaltungslandschaften des 19. und der des 20. Jahrhunderts fungierte.«58 Viele der Ansätze verdanken sich der Inspiration durch niedere Amüsierbetriebe wie die Wachsfigurenkabinette, den Tingeltangel der Arbeiterwirtshäuser und den Zirkus. »Für die künstlerische Moderne wegweisend«, so formuliert es Pankau, »sind vor allem die Überlappungen 55 Mathes, Jürgen  : Einleitung. In  : Ders. (Hg.)  : Theorie des literarischen Jugendstils. Stuttgart 1984, S. 5 – 40, hier S. 40. 56 Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede. In  : Deutsche Chansons. Hg. v. Walter Heymel. Berlin  ; Leipzig 1900, S. V–XVI, hier S. XV. 57 Eine Übersicht und politische Einordnung populärer Bühnen- und Varieté-Experimente bietet Sprengel, Peter  : »Genehmigt für Schall und Rauch mit Ausnahme des Gestrichenen« – Ein Kabarett auf dem Weg zum Theater und die preußische Zensur. In  : ders. (Hg.)  : Schall und Rauch  : Erlaubtes und Verbotenes. Spieltexte des ersten Max-Reinhardt-Kabaretts (Berlin 1901 / 02). Berlin 1991, S. 7 – 45. 58 Becker, Tobias  : Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880 – 1930. München 2014 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London  ; 74), S. 2.

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des ›Hochliterarischen‹ mit den Sphären der Unterhaltungskultur. Diese ›Vermischungen‹ ergaben sich aus sehr unterschiedlichen Intentionen und Wirkungsabsichten«59. Umberto Eco hält das Potential fest, das diese Formenexperimente zwischen Hoch- und Massenkultur beinhalten. Wenn die literarische Rezeption nicht nur eine Zerstreuung, sondern auch kritische Auseinandersetzung und Aneignung bedeutet, wird der Rezipient selbst zum Produzenten oder wenigstens Teilhaber der Kunst  : »Und es gibt low-brow-Produkte, dazu bestimmt, von einem riesigen Publikum gelesen zu werden, die eine beträchtliche strukturelle Originalität aufweisen und die Grenzen des Zirkels von Produktion und Konsumtion, in den sie eingebettet sind, zu sprengen vermögen.«60 Nach dem Ersten Weltkrieg setzen sich die Theaterexperimente um eine neue Bühnenform fort, aber sie werden in ihrem Ansatz und ihrer Rezeptionsform in den zwanziger Jahren wieder einer Hochkultur eingemeindet. Das konkurrierende Medium der Lichtbildvorträge und der späteren Lichtspielhäuser geht den umgekehrten Weg. Waren die Aufführungen zu Beginn mit einem wenn auch voyeuristischen Bildungsgestus ausgestattet, um ein Massenpublikum mit Natur­dokumentationen, technischen Dokumentationen, Bibelstoffen und Historiendramen zu unterhalten und aufzuklären61, entwickeln sich die Lichtspielhäuser während der 1920er Jahre zu Orten einer prosperierenden Unterhaltungsindustrie, die Massenware produziert.62 Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts stehen sich literarische Experimente und Formen der Unterhaltungskultur noch nah. Mit Strategien der Popularisierung der Künste bzw. andersherum Strategien der Politisierung der Öffentlichkeit unternehmen Künstler wie Otto Julius Bierbaum den Versuch, einen medienwirksamen und publikumsorientierten Status der Kunst wiederzuerlangen und dem bereits literarisierten Bildungsbürgertum eine neue Schicht an Lesern und Abonnenten hinzuzugewinnen, um gleichzeitig ein neues Verständnis von Kunst zu verbreiten, das sich im Alltag wiederfindet und ihn verändern kann. Bierbaums Romanfigur Stilpe, ein Journalist und Varietédirektor, proklamiert 1897 59 Pankau, Johannes G.: Unterhaltungskultur um 1900, S. 91. 60 Eco, Umberto  : Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt /  M. 1986, S. 53. 61 Vgl. zur Entwicklung des frühen Kinos  : Kreimeier, Klaus  : Programmierung und Steuerung. In  : ders.: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos, Wien 2011, S. 46 – 50. 62 Zur Unterhaltungsindustrie, der geänderten Wahrnehmung und Ästhetik des Kinos und der für diese Fortentwicklung des Kinos nach dem Ersten Weltkrieg grundlegenden Rolle der UFA vgl.: Kreimeier, Klaus  : Das demokratische Warenhaus. UFA-Filme 1920 – 1922. In  : ders.: Die UFAStory. Geschichte eines Filmkonzerns. München 1995, S. 100 – 114.

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ein ästhetisches Vorhaben, das zum geflügelten Wort gerinnt  : »Im Rausche die Welt mit den Worten aus den Angeln heben.« (S155) Die Romane von Bierbaum können als Zeugnis eines Selbstverständigungsprozesses der Literatur gegenüber ihren eigenen Produktionsbedingungen gelesen werden. Im Zentrum steht die Frage, wie und unter welcher Voraussetzung »die Avantgardisten der Jahrhundertwende«63 ein Modell der öffentlichen Legitimierung der Kunst entwickeln. Kunst und Literatur arbeiteten mit Mitteln der Polarisierung und stellen so schon im Fin de Siècle ein öffentlich wirksames Kulturschaffen dar, wie es kurz darauf in den historischen Avantgarden explizit wird.

1.1 Zwischen Bohème und Auftragsarbeit: Otto Julius Bierbaum Otto Julius Bierbaum ist als Schriftsteller heute weitgehend in Vergessenheit geraten.64 Als Zeitschriftengründer, Förderer und Neuerer der Buchgestaltung und als literarischer Gründer der deutschen Kabarettbühne wird er vor allem in der Kunst- und Theatergeschichte erinnert, doch stellen literaturwissenschaftliche Einzelinterpretationen vor allem seiner drei großen Romane Pankrazius Graunzer (1895), Stilpe (1897) und Prinz Kuckuck (1907 / 08) eine große Ausnahme dar. Seine literarischen Veröffentlichungen sind bis heute wenig rezipiert, dabei war Bierbaum zu Lebzeiten sehr bekannt. Die auf den deutschen Jugendstil und die Buchgestaltung maßgeblichen Einfluss ausübenden Zeitschriften Pan und Die Insel sind beide von ihm mitbegründet worden, im Zusammenhang der Stil- und Gründungsgeschichte beider Periodika überdauert sein Name  – und »weniger seiner belletristischen Tätigkeiten wegen«.65 Eine knappe, dafür anschauliche Übersicht der Forschungsliteratur zu Otto Julius Bierbaum ist in Ute von Pilars Dissertation zu Bierbaums Bohème- und Studentenfiguren aus dem Jahr 1995 zu finden. Die Tendenz der literaturwissenschaftlichen Bewertung des Bierbaum’schen Werks seit seinem Tod bringt sie auf den Punkt  : »Während die ältere Forschung versucht, Bierbaum aufzuwerten, herrscht in der neueren Forschung 63 Lubos, Arno  : Otto Julius Bierbaum. In  : Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 13 (1968), S. 284 – 312, hier S. 299. 64 Anlässlich seines 150. Geburtstags fand 2015 in Frankfurt / M. eine Tagung statt, die ihn als Modernisierer der Literatur würdigt und wieder ins Zentrum literaturwissenschaftlichen Interesses rückt  : Weyand, Björn / Zegwitz, Bernd (Hg.)  : Otto Julius Bierbaum. Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne. Berlin 2018. 65 Schönemann, Martin  : Rokoko um 1900. Beispiele von Historisierung in Literatur, Musiktheater und Buchkunst. Bremen 2004, S. 115.

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Einigkeit darüber, daß ihm künstlerische Grenzen gesetzt waren, die sprachlich, inhaltlich und erzählstrukturell evident werden.«66 In ihrem Forschungsüberblick vergisst Pilar nicht, die 1961 erschienene Dissertation von Klaus Peter Muschol zu erwähnen, die sich zwar auf die Analyse des dramatischen Werks von Bierbaum beschränkt, aber doch dem wichtigen Aspekt der ästhetischen Theorie und des Bildungsgedankens Beachtung schenkt. Zugleich lenkt sie auch ihre Aufmerksamkeit auf den popularisierenden Impuls in Bierbaums Arbeiten. Muschol gibt wiederum einen sehr guten Überblick über die Rezeption der Werke Bierbaums zu Lebzeiten des Schriftstellers, insbesondere durch zahlreiche Erwähnungen von Rezensionen und Besprechungen sowie Wertungen von Zeitgenossen und späteren Rezipienten Bierbaums. Wichtige Forschungsergebnisse bietet William H. Wilkenings Untersuchung der Arbeitsverhältnisse Bierbaums und seiner Verlagsbeziehungen.67 Eine Analyse seiner einflussreichen Arbeiten als Zeitschriftengründer und Beiträger zu einer Modernisierung der Buchkunst und Typographie unternimmt die Arbeit von Bernhard Maria Holeczek.68 Bierbaums herausgeberische Tätigkeiten, seine Mitwirkung an der Gründung der Insel-Zeitschrift (1899 – 1901) und die poetischen Auseinandersetzungen, die in diesem Zusammenhang geführt werden, schlüsselt die Arbeit von Kurt Ifkovits69 sehr detailliert auf. Bierbaums großer publizistischer Erfolg zu Lebzeiten verdankt sich neben seinen Romanen vor allem seiner Lyriksammlung Irrgarten der Liebe (1900) und seiner Übersetzung von Carlo Collodis Kindergeschichte Le avventure di Pinocchio (1883). Zu beiden Werken fehlen eingehende literaturwissenschaftliche Untersuchungen, auch wenn Otto Julius Bierbaum und sein Werk Zäpfel Kerns Abenteuer (1905) in der deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte des Pinocchio eine tragende Rolle spielen.70 Unter dem Fokus von Technisierung und Mobilität werden zumindest sein Romane Eine empfindsame Reise im Automobil (1903) und die um weitere Texte zur maschinellen Fortbewegung ergänzte und gekürzte, zweite Ausgabe des Romans unter dem Titel Mit der Kraft. Auto­ 66 Pilar, Ute von  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums. Mainz 1995, S. 127. 67 Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his Publishers. Göppingen 1975. 68 Holeczek, Bernhard Maria  : Otto Julius Bierbaum im künstlerischen Leben der Jahrhundertwende. Studien zur literarischen Situation des Jugendstils. Berlin 1973. 69 Ifkovits, Kurt  : Die Insel. Eine Zeitschrift der Jahrhundertwende. Phil. Diss. Wien 1996. 70 Vgl. das kurze Kapitel von Richter, Dieter  : Pinocchio alias Zäpfel Kern. Otto Julius Bierbaum und die Verwandlung des Burattino in den Kasper. In  : ders.: Carlo Collodi und sein Pinocchio. Ein weitgereister Holzbengel und seine toskanische Geschichte. Berlin 2004, S. 88 – 96.

Zwischen Bohème und Auftragsarbeit: Otto Julius Bierbaum 

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mobilia (1906) motivisch rezipiert, aber weder text- noch sozialkritisch analysiert.71 Alle literaturwissenschaftlichen Untersuchungen der Werke Bierbaums sind geprägt von einer Würdigung seines theoretischen, ästhetischen Anspruchs in seinen kunstästhetischen Aufsätzen, seinen programmatischen Vorworten zu den Zeitschriftenprojekten und Überbrettl-Textsammlungen wie auch in den von ihm herausgegebenen Modernen Musen-Almanachen auf die Jahre 1893 und 1894 und in den erst ab 1905 und in der Folge publizierten Goethe-Kalendern. Diese Würdigung steht in deutlichem Kontrast zu dem oft gehörten abwertenden Urteil über den trivialen Dichtungsstil, der Bierbaums literarisches Schaffen prägt. Vor allem Bierbaums Romane, aber auch viele seiner Erzählungen widmen sich sozialen Themen und schildern neben der Bohèmeszene auch soziale Milieus des Kleinbürgertums in den wachsenden Großstädten. Dennoch wird Bierbaum in der Literatur- oder Kulturwissenschaft selten als Zeitkritiker, Dokumentarist oder literarischer Seismograph einer Umbruchsepoche gewürdigt. Eine Ausnahme bildet Dushan Stankovich, dessen umfangreiche Werkmonographie einen sehr guten Überblick über Bierbaums poetische Vielseitigkeit gibt und, wenn auch kurze, Interpretationsansätze für fast jedes seiner literarischen Werke bietet. »In Ansätzen« findet Stankovich in Bierbaums Theaterunternehmungen eine formulierte »Gesellschaftskritik«72, auch wenn er über die literarischen Werke urteilt, dass sie »der literarischen Tradition zu sehr verpflichtet«73 seien, als dass sie »sich deutlich von der Trivialliteratur«74 absetzen könnten. Den Grund sieht Stankovich in Bierbaums »mangelnder Formgestaltung« und seinem Unvermögen, die »Form der Parodie«75 poetisch einzusetzen. Der Aufsatz von Arne Lubos stellt die einzige literaturwissenschaftliche Analyse vor, die, wenn auch verkürzt, Bierbaums Texte explizit im Hinblick auf seine politische Intention hin liest  : Wenngleich Bierbaum kein politischer Schriftsteller war, mußten ihn als Kritiker der ›allgemeinen Zeiterscheinungen‹ auch die politischen Verhältnisse der Nation bewegen. Seine Äußerungen sind zwar zumeist indifferent, weil in der üblichen Art der

71 Vgl. Bickenbach, Matthias / Stolzke, Michael  : Die Geschwindigkeitsfabrik. Eine fragmentarische Kulturgeschichte des Autounfalls. Berlin 2014. 72 Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum – eine Werkmonographie. Bern  ; Frankfurt / M. 1971, S. 162. 73 Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum, S. 144. 74 Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum, S. 144. 75 Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum, S. 144.

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Reportage sich widersprechende Meinungen vorgetragen werden, aber die generelle Abneigung gegen den Wilhelminischen Staat ist offensichtlich.76

Im Hinblick auf poetische Neuerungen oder neue ästhetische Erzählformen wird Bierbaums Werk aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bislang fast gar nicht untersucht. In ihren Arbeiten zu modernen Poetik-Konzeptionen77 bzw. zur Roko­korezeption der Jahrhundertwende78 widmen Sandra Pott und M ­ artin Schönemann den ästhetischen Verfahren Bierbaums zumindest je ein aufschlussreich und textnah argumentierendes Kapitel. Bierbaums Changieren innerhalb verschiedener trivialer Erzählformen ist ausschlaggebend für das geringe literaturwissenschaftliche Interesse, das seine Texte hervorrufen. Viele seiner Werke knüpfen intertextuell an vorfindliche Alltagskultur an, sie beziehen sich auf Trivialliteratur von Erfolgsautoren und -autorinnen der Familienblätter und profitieren zum Zeitpunkt ihres Erscheinens von deren Popularität. Die Lesegewohnheiten eines breiten Lesepublikums werden so in Bierbaums Texten aufgenommen und weiterentwickelt. Insbesondere den Romanen ist strukturell ein ironisches Verfahren eingebettet, das das literarische Prinzip dieser Selbstpopularisierung selbst thematisiert. Zu seinen Lebzeiten ist diese »triviale« Schreibweise der literarischen Aufmerksamkeit für Bierbaums Werk förderlich. Bierbaum bedient sich, wie die folgenden textnahen Lektüren zu zeigen versuchen, eines poetischen Verfahrens, wie es Nietzsche anhand der »doppelten Optik«79 an Wagners Opern darstellte, um einen ästhetischen Genuss mit einer Form der leichten Unterhaltung zu kombinieren, die in der Verbindung eine neue Form der Literatur als erzieherische Massenunterhaltung begründen will. Der Wunsch nach der Popularisierung der Literatur stand jedoch Bierbaums literaturwissenschaftlicher Kanonisierung bisher entgegen, so dass mit Erwin Koppen festzuhalten bleibt  : »die deutsche Germanistik schweigt sich seit Jahrzehnten über ihn aus.«80 76 Lubos, Arne  : Otto Julius Bierbaum. In  : Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 13 (1968), S. 284 – 312. 77 Pott, Sandra  : Im Ausgang des Naturalismus  : Ende der Lyrik oder bloß ein Vermittlungsproblem  ? Protestkultur der »Charaktere« und Otto Julius Bierbaum »Ein Gespräch«. In  : dies.: Poetiken. Poe­ tologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin  ; New York, S. 277 – 291. 78 Schönemann, Martin  : Otto Julius Bierbaum. In  : ders.: Rokoko um 1900. Beispiele von Historisierung in Literatur, Musiktheater und Buchkunst. Bremen 2004, S 115 – 126. 79 Nietzsche, Friedrich  : Aphorismus 825. In  : ders.: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe (Studien und Fragmente) (Abth. 2, Bd. 7  : Nachgelassene Werke). Leipzig 1901. Vgl. auch FN 218. 80 Koppen, Erwin  : Otto Julius Bierbaum. Ein deutscher homme de lettres an der Schwelle zur Mo-

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1.2 Zwischen Literatur und Alltag: Das Populäre in Bierbaums Ein Gespräch Spätestens als Bierbaum 1897 nach Pankrazius Graunzer seinen zweiten größeren Roman Stilpe in Leipzig bei Schuster & Loeffler veröffentlicht, ist er als mittlerweile 32-Jähriger ein auch international bekannter Literaturproduzent, Übersetzer und Zeitschriftenherausgeber. In Berlin ist er zwei Jahre zuvor gemeinsam mit dem Kunstkritiker Julius Meier-Graefe als Redakteur an der Gründung der Zeitschrift Pan beteiligt, einem zentralen Publikationsorgan einer von Künstlern und Kunstinteressierten gegründeten gleichnamigen Genossenschaft. Das Ziel ist es, »eine große Zeitschrift für schöpferische Kunst« für neue literarische Strömungen am kunstliterarischen Markt zu etablieren, die sich als Gegenentwurf zu den »von merkantilen Interessen beherrschten Anzeigenblättern«81 versteht. Die Veröffentlichungsliste der Zeitschrift umspannt sowohl altbekannte Autoren wie Theodor Fontane, Naturalisten wie Johannes Schlaf und Arno Holz, impressionistische Schriftsteller wie Detlev von Liliencron und Max Halbe, Künstler wie Henry van de Velde als auch weniger bekannte und junge norwegische, französische, belgische und dänische Dichter, Künstler und Künstlerinnen wie Arne Garborg82 und Félix Vallotton83 oder junge deutsche Künstler wie Hans derne. In  : Klussmann, Paul Gerhard / Berger, Willy Richard / Dohm, Burkhard  : Das Wagnis der Moderne. Festschrift für Marianne Kesting. Frankfurt / M. u. a. 1993, S. 215 – 231, hier S. 216. 81 Rausch, Mechthild  : Von Danzig ins Weltall. Paul Scheerbarts Anfangsjahre (1863 – 1895). Mit einer Auswahl Paul Scheerbarts Lokalreportagen für den Danziger Courier (1890). München 1997, S. 177. 82 Garborgs Gedicht Die Tanzgilde wird von Otto Julius Bierbaum in der ersten Ausgabe des Pan, April / Mai 1895, zum ersten Mal ins Deutsche übertragen  ; bekannt wird der Norweger in Deutschland vor allem durch seinen 1903 auf Deutsch veröffentlichten Roman Müde Seelen, der von Marie Herzfeld übersetzt wird. Umfassend bewertet die Rezeption skandinavischer Dichter und skandinavischer Kunst in der Zeitschrift Pan die Dissertation von Anne Schulten  : Eros des Nordens. Rezeption und Vermittlung skandinavischer Kunst im Kontext der Zeitschrift Pan, 1895 – 1900. Frankfurt / M.; Berlin  ; Bern  ; Brüssel  ; New York  ; Oxford  ; Wien 2009. 83 Félix Vallotton gehörte der Künstlergruppe Nabis an. Seine Holzschnitte und Zeichnungen illus­ trieren mehrere Veröffentlichungen Bierbaums. So ist er beteiligt an der Buchausstattung von Die Schlangendame (1896), Stilpe (1897) und dem ersten der beiden erschienenen Jahrbücher Der Bunte Vogel (1896). Er gestaltet den Buchtitel des Erzählbands Kaktus und andere Künstlergeschichten (1898), der bei Schuster & Loeffler erscheint. Zuvor findet der Entwurf bereits in der Buchgestaltung der 3. Auflage des Pankrazius Graunzer (1896) bei Schuster & Loeffler Verwendung (vgl. Gerkens, Dorothee  : Für Gaffer und Genießer. Félix Vallottons Gebrauchsgrafik. In  : Krämer, Felix /  Gaßner, Hubertus [Hg.]  : Félix Vallotton. Idylle am Abgrund. Grafik. Hamburg 2008, S.  84 – 96, hier S. 95).

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Baluschek84 und Otto Eckmann85. Der modernen Literatur und Kunst soll – in Abgrenzung von der elitären Programmatik der von Stefan George gegründeten und von Carl August Klein seit 1892 herausgegebenen Blätter für die Kunst – mit der Zeitschrift ein Medium zur Verfügung gestellt werden, das als Gesamtkunstwerk erscheint, dabei kulturelle Debatten in der Öffentlichkeit anstößt und neue Kunst- und Literaturströmungen verbreitet. Aus dem Briefwechsel zwischen Karl Wolfskehl und Stefan George geht jedoch hervor, in welch naher Konkurrenz sich das Zeitschriftenprojekt zu den Blättern befand  : »Des Neuen wüsste ich nicht allzu viel. ›Pan‹ ist ein geschlossener Kreis, wie der den die Blätter f d K bilden, seine Zeitschrift wird nicht buchhändlerisch vertrieben, wie die Bll f d k etc etc – dies sagt genug.«86 Die Zusammenarbeit zwischen Julius Meier-Greafe und Otto Julius Bierbaum als verantwortliche Redakteure auf der einen und einer Reihe von kulturkonservativen Herausgebern auf der anderen Seite, zu denen unter anderem Wilhelm Bode, Hans Eberhard Freiherr v. Bodenhausen und Caesar Flaischlen gehören, hat jedoch nur über die ersten drei Heftausgaben des Pan Bestand. Es sind verschiedene Anekdoten überliefert, warum schon nach dem zweiten Heft im September 1895 die Tätigkeit der beiden Redakteure endgültig beendet wird und man sie ihres Amtes als Genossenschaftsvorstandsmitglieder und Zeitschriftenherausgeber enthebt. Vor allem Differenzen in der inhaltlich-politischen Ausrichtung scheinen maßgeblich zu dem Entschluss beigetragen zu haben. So haben Meier-Graefe und Bierbaum stark auf den internationalen Charakter der Zeitschrift Einfluss genommen, sei es durch Übersetzungen oder die Beteiligung von Beitragenden aus Frankreich, Dänemark und den Niederlanden, sei es durch Niederlassungen »in allen wichtigen Hauptstädten Europas […] selbstverständlich in Paris, wo Henri Albert die Geschäfte leitete, aber auch in München, Brüssel, Anvers, Helsingfors, Christiania, Stockholm und Florenz«87. Dem entgegen steht die Idee, einem Organ genuin deutscher künstlerischer Bestrebungen den 84 Hans Baluschek schließt das Akademie-Studium 1894 ab und ist zur Zeit der Veröffentlichung des Pan Mitglied der Berliner Secession. Berühmt wird Baluschek erst während des Ersten Weltkriegs durch seine Illustrationen zu Gerdt von Bassewitz’ Peterchens Mondfahrt (1915). 85 Otto Eckmann zeichnet unter anderem für den Pan und die Jugend. 1886 gestaltet er das Signet für den Samuel Fischer Verlag. 86 34. Brief Karl Wolfskehl an Stefan George vom 31.7.1894. In  : »Von Menschen und Mächten«. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892 – 1933. Hg. v. Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan-George-Stiftung. München 2015, S. 63. 87 Rennhofer, Maria  : Kunstzeitschriften der Jahrhundertwende in Deutschland und Österreich 1895 – 1914. Wien  ; München 1987, S. 37.

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Weg zu bereiten, für die sich weite Teile der konservativen Herausgeberschaft aussprechen.88 Der Pan steht zudem von Beginn an unter dem Druck, als »künstlerische[ ] Publikation, die sich nicht nach den Wünschen des grossen Publikums richtet«89, einerseits künstlerisch avanciert, gleichzeitig aber auch kommerziell erfolgreich zu sein. Tatsächlich war er von der Popularität der Familienblätter, wie der auflagenstarken und seit Jahrzehnten den Zeitschriftenmarkt dominierenden Gartenlaube90, oder populärwissenschaftlicher Illustriertenzeitschriften, wie Velhagen & Klasings Monatshefte, meilenweit entfernt. Die literarischen Produktionen dieser Zeit standen, glaubt man einzelnen Pamphleten und Aufrufen der 1890er Jahre, allgemein in Verdacht, sich bloß in Adeptentum und Imitation zu verlieren. Hermann Bahr diagnostiziert 1894 in seinem Aufsatz Symbolisten die Gefahr, dass die moderne, literarisch-schöpferische Produktion, die droht nurmehr eine Technik, eine Form- und Kunstfertigkeit zu sein, nicht mehr schöpferisch wirkt, sondern sich ins Gegenteil wendet, um »bloß ein ausgedachtes, kaltes Nervenzupfen um die Wette [zu] werden, das schwächt und lähmt.«91 Max Nordaus einflussreiche Abhandlung Entartung (1892/93)92 untersucht die moderne Kunst unter dem Einfluss des kriminologisch-pathologischen Biologismus Cesare Lombrosos nach degenerativen Tendenzen. Die Angst 88 Einen Überblick über die Verwerfungen und die weitere Fortführung der Zeitschrift unter der kulturkonservativen Redaktionsleitung von Bode, Bodenhausen, Flaischlen, Lichtwark und anderen sowie über die Einstellung der Zeitschrift und ihre Wiederbelebung im Jahr 1910 durch Paul Cassirer gibt Germanese, Donatella  : Pan (1910 – 1915)  : Schriftsteller im Kontext einer Zeitschrift. Würzburg 2000. Eine Einbettung des Richtungskonflikts beim Pan in die nationalen Bestrebungen in der Kulturpolitik des wilhelminischen Kaiserreichs unternimmt der Aufsatz Katrin Wehry  : »Wir haben den Feind im Land«. Nationalismus in der deutschen Kulturszene um 1900. In  : Kühnel, Anita / Lailach, Michael / Weber, Jutta (Hg.)  : Avantgarde  ! Die Welt von gestern  : Deutschland und die Moderne 1890 – 1914 – Worte in Freiheit  : Rebellion der Avantgarde 1909 – 1918. Berlin. Staatliche Museen zu Berlin 2014, S. 142 – 157. 89 Pan 1 (1895), H. 1 (April–Mai), Umschlagseite. 90 Zur Entwicklung populärer Erzähl- und Leserlenkstrategien innerhalb eines Zeitschriftenformats siehe die hervorragende Untersuchung von Stockinger, Claudia  : An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt Die Gartenlaube. Göttingen 2018. 91 Bahr, Hermann  : Symbolisten. In  : ders.: Studien zur Kritik der Moderne. Frankfurt / M. 1984, S. 26 – 32, hier S. 31. 92 Über die Wirkung von Max Nordaus Buch schreibt Arthur Holitscher, der seit 1896 wie Bierbaum ein Beiträger des Simplicissimus in München ist  : »›Entartung‹ tauchte auf, das Buch Nordaus, der eigentlich Südfeld hieß und Budapester war. Die Parole der Entartung der modernen Kunst wurde eifrig wiederholt von Leuten, die von der gesunden klassischen und der normalen der verflossenen Epigonen-Periode gar keine oder doch nur oberflächlichste Kenntnis hatten.« (Holitscher, Arthur  : Lebensgeschichte eines Rebellen. Meine Erinnerungen. Berlin 1924, S. 92.)

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vor einer Schwächung oder gar Zersetzung des ›modernen Menschen‹ durch die Literatur der Modernen folgt nicht nur einem vitalistischem Diskurs, der geprägt ist von den Ergebnissen der biologischen, neuroanatomischen, psychopathologischen und forensischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts und durch Volksbildung und Populärwissenschaften weite Verbreitung findet  ; sie kündet auch von der Angst vor einer Revolutionierung literarischer Sprachnormen und vor einem Bruch mit den ästhetisch-akademischen Stilformen. Dabei erkundet Literatur – solange sie zu dieser Zeit tatsächlich einen Prozess des Funktionswandels durchläuft – neue Tätigkeitsfelder und Veröffentlichungsformen. Dem in der Ankündigung der ersten Heftausgabe des Pan erwähnten Widerspruch zwischen dem Wunsch der Herausgeber nach Erneuerung einer ästhetischen Kultur bei gleichzeitiger Literaturferne der Massen, das heißt bei dem Wust an literarischem Schund in den weit verbreiteten Familienblättern, geht Bierbaum in seinem Gedicht Ein Gespräch auf den Grund, das im zweiten Heft des Pan im Juni 1895 abgedruckt wird  : Der Frage nach dem literarischen Erfolg des in einer nicht allzu großen Auflage von insgesamt 1600 Exemplaren93 erscheinenden Pan schließt sich nach Bierbaum die nach der gesellschaftlichen Relevanz von Literatur an. Das Gedicht Ein Gespräch ist dialogisch aufgebaut und die Stimmen auf zwei Figuren verteilt, die abstrakt nur ›Der Eine‹ und ›Der Andere‹ genannt werden. Am Ende des Dialogs tritt noch eine dritte Stimme hinzu  : Erhardt. Die Überraschung des ›Einen‹, dass der ›Andere‹ freiwillig in einem Lyrikband liest und für das Buch auch noch bezahlt hat, ist »Anlaß genug, um über den künstlerischen und sozialen Stellenwert von Lyrik zu diskutieren«.94 Wenn im Fortgang des Gesprächs das Skatspiel als »eine zukömmlichere Gehirngymnastik«95 der Lektüre von Gedichten vorgezogen wird, dann steht die Lyrik in der Kritik, belanglos und uninteressant zu sein und als Freizeitbeschäftigung sogar eine mühsame Zeitverschwendung ohne Unterhaltungsgewinn. Den aktuellen poetischen Produktionen wird von dem ›Einen‹ Dilettantismus vorgeworfen und »das Gedichtemachen, das Novellenbauen«96 wird von ihm als un93 Der Pan erscheint in 1500 Exemplaren in einer sogenannten allgemeinen Ausgabe, 70 nummerierte Exemplare werden zusätzlich in einer Luxusausgabe auf starkem kaiserlich-japanischem Papier geliefert und schließlich 30 Exemplare pro Heft als Künstlerausgabe produziert, die laut Verlagsangaben auf altjapanischem Bütten gedruckt wurden. Die Künstler- und Luxusausgaben waren den Mitgliedern der Pan-Genossenschaft vorbehalten. 94 Pott, Sandra  : Im Ausgang des Naturalismus, S. 284. 95 Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch. In  : Pan (1895), H. 2, S. 102. 96 Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch, S. 102.

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künstlerisch abgelehnt. Im Verlauf des Gesprächs zwischen dem ›Einen‹ und dem ›Anderen‹ – die schon nominell als zwei nicht voneinander getrennt denkbare Figuren markiert sind – wird die moderne Lyrik schließlich damit konfrontiert, eine der Gegenwart abgewandte Ausdrucksform zu sein. Alles Belle­tristische, wirft der ›Eine‹ dem ›Anderen‹ vor, ist »Geschleck […] Zwecklos. Überflüssig«97 und darüber hinaus gänzlich »unmannhaft«. Der ›Andere‹, der im Gespräch mit »Hans Detlev« angesprochen wird, ist derjenige, der zu Beginn der Konversation in einem Lyrikband blättert. Er erörtert, dass das vernichtende Urteil über die Lyrik auch damit zusammenhängt, dass es an Vermittlern von Literatur fehlt. Er fordert eine Bildung, die es möglich macht, Literatur wieder als Kunst zu begegnen. Der Name des ›Anderen‹, Hans Detlev, gibt einen versteckten Hinweis auf den literarischen Diskurs, in den sich Bierbaum mit seinem Text einschreiben will. Er zitiert in seinem Gespräch – ohne dies kenntlich zu machen, aber doch in dem Wissen, dass das Gedicht allgemein bekannt ist – den von Detlev von Liliencron 1888 in der Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlichten Brief An meinen Freund, den Dichter. In Bezugnahme auf dieses ältere Gedicht setzt Bierbaum eine poetische Diskussion fort, die bereits sieben Jahre zuvor der impressionistische Lyriker Liliencron aufgeworfen hatte. Auch er fragte nach der gesellschaftlichen Position des Dichters und der gesellschaftlichen Relevanz von Literatur. In Liliencrons Gedicht kommt die Figur Alfred in einem Brief an den »Mondscheindichter«98 Hans zu dem Schluss, dass jede berufliche Stellung, sei es der »Kammerdiener«, seien es »Bauern, Krämer, Wagenbauer, Staatsminister, Sattler, Wirte«99, höher angesehen sei als der Beruf des Dichters. Alfred rät dem Dichter Hans, dass er – solange er nicht finanziell aufs Dichten angewiesen sei – seine Lyrik für sich behalten und nur im Stillen poetisch dilettieren solle. Um sich nicht über seine gesellschaftliche Irrelevanz zu ärgern, solle Hans besser Alfred auf dem Land besuchen, dort »Buttermilch« mit ihm trinken und »wunderbare[ ] Biere« und »Techtelmechtelchen«100 genießen. Wenn Detlev von Liliencron der Klage über den Positionsverlust der Kunst in dem Gedicht mit einem bäuerlich-erdigen Pragmatismus begegnet, nimmt seine Kritik eine artifizielle, zur Kunstform geronnene Lyrik aufs Korn, die bloß epigonal und nicht alltagskompatibel sei.  97 Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch, S. 101.  98 Liliencron, Detlev v.: An meinen Freund. In  : Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst 4 (1888), 2. HJ (Oktober), S. 804 – 807, hier S. 807.  99 Liliencron, Detlev v.: An meinen Freund, S. 805. 100 Liliencron, Detlev v.: An meinen Freund, S. 807.

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Literatur der »Übergangszeiten«

In Bierbaums Gespräch wiederum verteidigt der ›Andere‹ – Hans Detlev – die Kunst. Im Namen Hans Detlev verschmelzen bei Bierbaum der bei Liliencron noch ins Leben zurückgerufene fiktive L’art-pour-l’art-Dichter Hans und die süffisante Lebenslust des Dichters Detlev von Liliencron zu einer neuen literarischen Figur. Bierbaum stimmt Liliencron in seiner Zeitdiagnose vom Verlust gesellschaftlicher Wirksamkeit literarischer Produktionen zu, aber er löst die ästhetische Entfremdung in eine andere Richtung auf als Liliencron  : Der Eine  : Ach was, der Eine reimt ’n bischen richtiger als der Andere, der Eine erzählt ’n bischen amüsanter, als der Andere, und schliesslich  : weil eben die Sache im Grunde nicht so exorbitant schwierig ist, machen sichs die Leute selber aus einer Art Schamgefühl schwerer und erfinden neue Richtungen und allerlei merkwürdige neue Forderungen, bis sie schliesslich Sachen schreiben, die kein Mensch mehr versteht. Der Andere  : Du bist auf dem Wege, mein Guter, du bist auf dem Wege  ! Wirklich, du hast so was wie Witterung  ! Was du da sagst, das nennen »die Leute« die Flucht vor dem Banalen und épater le bourgeois. Die Hauptsache ist’s freilich nicht. Aber immerhin  : Du spürst also, dass da künstlerisch was gewollt wird, nicht wahr  ? Und du spürst auch was wie einen Effekt, nur, dass dir der noch nicht so recht eingeht …  ? Der Eine  : Ach was  : reife Sachen will ich, klare Sachen, Sachen mit Hand und Fuss, Sachen bei denen ich weiss  : wie und wo und warum. Der Andere  : Und  : wo du das nicht weisst, nicht gleich erkennst, schliesst du hurtig, dass der Dichter daran Schuld ist  ? Vielleicht wäre es bescheidener, du schlössest anders. Vielleicht wäre es richtiger … Erinnerst du dich noch, wie die ersten Freilichtbilder aufkamen  ? Wie du dich bei ihrem Anblick an die Stirn schlugst und riefst  : Bin ich nun blind vor der Natur, oder sind diese Maler verrückt  ? Du warst nicht ganz abgeneigt, dich eher für das Letztere zu entscheiden. Und heute  ? Wehe dem, der dir mit »Sauce« kommt  ! Du würdest dem unglückseligen Pinselmann auf die Schulter klopfen und ihm sagen  : »Freundchen machen Sie die Augen auf  ! Es giebt Farben in der Natur  ! Verschaffen Sie sich davon was auf die Palette  !«101

Bierbaum legt nahe, dass die Ablehnung der modernen Lyrik auf einer fehlenden Einübung der Lektüre beruht. Der Fehler sei nicht bei den jungen Dichtern zu suchen, sondern in den tradierten Lesegewohnheiten. Die moderne Lyrik bricht mit den selbstverständlich gewordenen und natürlich erscheinenden Sinnzusammenhängen, was sie verstörend und artifiziell erscheinen lässt. Ist der Malerei des Impressionismus zu Beginn mit derselben Skepsis begegnet worden, wie sie der ›Eine‹ 101 Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch, S. 102.

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der modernen Lyrik entgegenbringt, so setzt erst durch ästhetische Erziehung der Sehgewohnheiten ein Umdenken ein, das zu einem veränderten künstlerischen Geschmacksurteil führt. Der ästhetische Genuss der Lebendigkeit und Natürlichkeit der Pleinairmalerei überformt die alten Sehgewohnheiten und lässt die dunklere und satte Farbgebung der Historienmalerei als »Sauce« erscheinen. Mit der Frage »Du spürst also, dass da künstlerisch was gewollt wird […]  ?« zielt Bierbaum auf die Aufgabe der Bildung des ästhetischen Geschmacks, die der modernen Lyrik obliegt. Es gilt in der »Übergangszeit« also neue Lektüregewohnheiten anzustoßen und einzuüben, um die Dichtung der Modernen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die tradierten Lesegewohnheiten sind das eine Hindernis einer modernen Lyrik. Als zweites Hindernis steht das Bedürfnis nach Ablenkung und Unterhaltung im Alltag der Aufmerksamkeit für eine neue Literatur entgegen, weil diese als für den Alltag untauglich erscheint. Wie in einem Witz endet das Gespräch mit dem Auftritt der Figur Erhardt. Der ›Eine‹ ist seiner literarästhetischen Diskussion bereits müde geworden und übergibt an die neue Stimme Erhardt. Er denkt, dass Erhardt ihn als Literaturfreund verteidigen kann, weil er unter seinem Arm ein Buch mit Goldschnitt erkennt. Doch entpuppt sich sein goldenes Buch als ein neues Skatblatt, das Erhardt mit dem ›Einen‹ und dem ›Anderen‹, Hans Detlev, ausprobieren möchte, indem er sie auffordert  : »Wollen wir  ?«102 Auch Bierbaums gesellschaftliche Öffentlichkeit scheint sich – wie schon Liliencrons »skatdurchtobte[s] liebe[s] Vaterland«103 – der Ablenkung durchs Spiel, die »Familienblätter«, den »Fliegende[n] Blätter-Kalender oder sensationelle[  ] Broschüre[n]«104 und die Amüsiergewerbe in der Kneipe eher zuwenden zu wollen, als den geschmackserzieherischen Fähigkeiten der Literatur zu vertrauen. Doch gemäß Bierbaums Idee einer neuen Literatur soll beides verbunden werden, das Banale mit dem Bildnerischen, das Populäre mit dem Hohen der Kunst. Gelingen könnte die Rückeroberung einer gesellschaftliche Position nicht durch das Erziehen zur, sondern durch den Konsum von Literatur, also durch das Wiedergewinnen eines »literarischen Genusses«105, wie der ›Andere‹ weiß  : »Der Andere  : […] Um Gottes willen keine Literaten und keine Literaturschwätzer heranziehen  ! Nein  : nur geneigt und fähig machen zum literarischen Genuss. Das ist es, was fehlt.«106 102 103 104 105 106

Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch, S. 105. Liliencron, Detlev v.: An meinen Freund, S. 805. Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch, S. 105. Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch, S. 101. Bierbaum, Otto Julius  : Ein Gespräch, S. 105.

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In seinen drei großen Romanen Pankrazius Graunzer, Stilpe und Prinz Kuckuck bildet Bierbaum verschiedene Typen eines modernen Dichters ab. Es sind ausschließlich männliche Protagonisten, die titelgebend im Zentrum stehen. Sie alle glauben zu wissen, was »literarischer Genuss« bedeutet, und betätigen sich mehr oder weniger professionell als Schriftsteller. Das Verhältnis zur Literatur ist bei ihnen dennoch ungewöhnlich funktional. Ähnlich wie der ›Eine‹, der ›Andere‹ und Erhardt sich lieber im Skatspiel vergnügen und das Gedicht Ein Gespräch mit der Aufforderung zum Spiel endet, suchen die drei Helden Graunzer, Stilpe und Prinz Kuckuck das alltägliche Vergnügen in der literarischen Betätigung und betten das Dichten in ihren Lebensalltag ein. Sie haben unterschiedliche finanzielle Voraussetzungen – Graunzer und Prinz Kuckuck gehören zu der begüterten Generation der Erben, Stilpe ist auf seine literarische und journalistische Tätigkeit finanziell angewiesen –, dennoch ähneln sich die Figuren in ihrer Rezeptionshaltung gegenüber Literatur und Kunst. Im Gegensatz zu dem ›Einen‹ aus Bierbaums Gespräch stehen sie den Produktionen der modernen Dichter aufgeschlossen gegenüber und stürzen sich mit Eifer in die kulturellen und ästhetischen Debatten und experimentellen verlegerischen Unternehmungen, die den literarischen Markt Ende des 19.  Jahrhunderts bestimmen. Graunzer betätigt sich als Kunstkritiker und literarischer Dilettant, Prinz Kuckuck wirkt als Ästhet und Kunstmäzen und Stilpe ist als Bohèmien eine avantgardistische Figur, die als Schriftsteller, Journalist, Zeitschriftengründer und Theaterdirektor agiert. Der Nutzen der Literatur gestaltet sich für die Protagonisten vielfältig  : Graunzer kompensiert mit seiner Dichtung seine unerwiderte Liebe, Stilpe schlägt paradoxerweise als Bohèmien kulturelles und betriebliches Kapital aus der Literatur, Prinz Kuckuck genügt Literatur zum vergnüglich-verschwenderischen Zeitvertreib und die Kunst dient dem reinen Lustgewinn, sie wirkt eskapistisch. Die Zweckfreiheit der Kunst erweist sich dabei als letzte Ausflucht der Protagonisten vor ihrer eigenen oft banalen Haltung gegenüber der Welt und vor den ihnen durch ihre Umwelt auferlegten Verantwortungen. Bierbaum kann dabei in den drei Romanen als Beobachter der Epoche des Dilettantismus gelten  : Alle Figuren erfahren ihr künstlerisches Scheitern. Bierbaum stellt in seinen Romanfiguren ein ästhetisches Geflecht an Beziehungen und Verweisen dar, die über das künstlerische Scheitern der einzelnen Figuren hinausgehen. Die nachstehenden Kapitel unternehmen den Versuch, ein ästhetisches Verfahren von Otto Julius Bierbaum näher zu fassen, das zur Popularisierung der Kunst beitragen soll. Der Forderung, die bereits um die Jahrhundertwende als allgemeine Maxime formuliert wird, dass Literatur ins Leben wirken soll, bemächtigt sich Bierbaum, indem er sie verkehrt zu einer Verleben-

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digung der Literatur. Sind also die in den folgenden Abschnitten näher untersuchten Figuren Graunzer, Stilpe und Prinz Kuckuck literarisch wirksam in den Romanen, dienen sie Bierbaum als Anschauungsobjekte und Vorbildfiguren für eine literarische Öffentlichkeit, die um die Jahrhundertwende neben ihm viele Schriftsteller und Künstler wiederherzustellen versuchen. Die chronologische Interpretation der Romane legt ein ästhetisches Spiel offen, das Bierbaum mit seinen Figuren betreibt. Dem Vorwurf, Bierbaums literarisches Schaffen sei geprägt von trivialen Schreibweisen und biederer Anakreontik, soll nicht widersprochen werden, stattdessen geht es darum, das zugrunde liegende ästhetische Verfahren zu rekonstruieren. Bierbaum entwirft vor allem mit seiner Figur Stilpe ein Spiel von Maskeraden, das eine lebendige Poetik vorstellt. Seine literarischen Figuren werden in ihrer Autobiographie so umfassend ausgearbeitet, dass sie wiederholt in unterschiedlichen Romanen auftreten, und – ähnlich wie es Balzac in La Comédie humaine (1829 – 1850) inszenierte – zu Figuren moralischer Integrität geformt werden, die Bierbaums gesellschaftlich-kulturelle Gegenwart kritisch kommentieren. Die Romane werden erweitert durch anderen Textgattungen, die literarische Anleihen bei populären Erzählformen der romantischen Liebeslyrik, des Schlüsselromans, des literarischen Kalenders oder des Kolportageromans vornehmen. Bierbaum bedient sich in seiner Poetik erfolgreich erprobter Stilformen und reflektiert sie ironisch. Der Literatur samt den literarischen Figuren wird von Bierbaum die Funktion einer Bühne der dauernden Kommentierung aktueller literarischer, gesellschaftlicher und politischer Geschehnisse übertragen, in der ästhetischen Absicht, eine neue literarische Öffentlichkeit aus der Fiktion zu entwerfen.

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2 Romantik und populäre Geschlechterbilder um 1900: Pankrazius Graunzer

Bierbaum veröffentlicht 1896 seinen ersten Roman im Berliner Verlag des Vereins für Deutsches Schriftthum. Es ist ein Briefroman, der schon im Titel unzeitgenössisch-pittoresk einen alt-barocken Erzählstil imitiert, der an Hans Jakob Christoffel von Grimmelhausens Der abenteuerliche Simplicissimus erinnert. Der vollständige Titel des Romans lautet  : Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer, der Schönen Wissenschaften Doktor, nebst einem Anhang wie schließlich alles ausgelaufen. Vor dem Erscheinen von Pankrazius Graunzer publizierte Bierbaum bereits mehrere Werke in unterschiedlichen literarischen Gattungen  : zwei Lyrikbände (Erlebte Gedichte, 1893, und Nemt, Frouwe, disen Kranz, 1894), einen Erzählband (Studentenbeichten, 1893), ein Libretto (Lobetanz. Ein Singspiel, 1895) und zusätzlich zwei kunsthistorische Werkeinführungen (Fritz von Uhde und Stuck, beide 1893) sowie einen Katalog anlässlich mehrerer Münchener Kunstausstellungen (Aus beiden Lagern, 1893). Die Ausgaben werden in insgesamt fünf verschiedenen Verlagen veröffentlicht (Abb. 1). Die beiden Gedichtbände erscheinen bei Gustav Schuhr in Berlin. Lobetanz ist die erste Buchveröffentlichung der Genossenschaft Pan, die ebenfalls in Berlin ihren Sitz hat. Die beiden Kunstabhandlungen über Uhde und Stuck erscheinen im Verlag von Dr. E. Albert & Co. in München, wo auch Bierbaums kurze Abhandlung Fünfundzwanzig Jahre Münchner Hoftheater-Geschichte im Jahr 1892 veröffentlicht wird. Ebenfalls in München, nur im Verlag Rupprecht, wird der Erzählband Studentenbeichten veröffentlicht. Bei Karl Schüler in München erscheint der Kunstkatalog Aus beiden Lagern. Die Verlagsverflechtungen lassen nicht nur auf ein um die Jahrhundertwende fulminant anwachsendes und sich ausdifferenzierendes Verlagswesen im Kaiserreich schließen, sie geben auch Aufschluss über die finanziell-ökonomischen Umwälzungen im Literaturbetrieb. Bierbaum, und das stellt keinen Sonderfall dar, ist  – obwohl er sonst politisch sein Leben lang nicht aktiv wird  – bemüht um eine rechtliche Selbstorganisierung der Schriftsteller und Künstler  : Am 1. August 1902 erschien in der Zeitschrift Die Feder in Berlin ein Aufruf, unterschrieben von Otto Julius Bierbaum, Carl Busse, Richard Dehmel, Gustav Falke, Hugo

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1  Anzeige von Bierbaums Werken in unterschiedlichen Verlagen in Aus beiden Lagern (1893).

von Hofmannsthal, Arno Holz und Detlev von Liliencron, mit der Aufforderung, sich einem von den Unterzeichneten gegründeten ›Cartell‹ anzuschließen. Das neue Urheberschaftsgesetz gebe die Möglichkeit, sich gegen die Ausbeutung durch Verlage zu wehren.107

Ganz ähnlich versucht Richard Strauss schon vier Jahre zuvor gemeinsam mit Hans Sommer und Friedrich Rösch eine Organisation von Musikern ins Leben zu rufen gegen die Übermacht der Musikverlage, deren Rechte wiederum eine Gesetzesnovelle festigen sollte. Ein Brief des Komponisten Ludwig Thuille aus dem Jahr 1898 zeugt davon. Er erwähnt auch einen ungerechten Umgang des Verlegers A. Deneke mit Otto Julius Bierbaum. Es ist zu vermuten, dass es um sein Autorenhonorar für das Singstück Lobetanz geht  : Wie stehts mit der Autorengenossenschaft  ? Es gibt ja viele Kämpfe auszufechten. […] Übrigens scheint das Urheberrecht in kommender Reichstagssaison nicht dranzukom107 Martens, Wolfgang  : Lyrik kommerziell. Das Kartell lyrischer Autoren 1902 – 1933. München 1975, S. 13.

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men. […] Wenn Du Deneke siehst, so schlage ihm seinen Birnenschädel ein. Wir haben unsäglich viel Ärger mit diesem Ausbund von Dummheit und Verstocktheit. Gegen Bierbaum hat er sich geradezu unglaublich gemein und niederträchtig benommen. Prost Neujahr  ! Dein alter Ludwig.108

Bierbaum ist gleichzeitig als Schriftsteller selbst beteiligt an der Gründung der Verlagsgenossenschaft Pan und viele Verlagsgründer betätigen sich wiederum auch als Schriftsteller und Beiträger in verschiedenen Zeitschriften und Veröffentlichungsorganen. Pankrazius Graunzer erscheint im Verlag des Vereins für Deutsches Schriftthum. Gegründet wird dieser Verlag 1894 von dem Buchhändler Hugo Storm in Berlin, der 1898 nach dem finanziellen Ruin des Verlags zunächst aus Berlin flieht und seitdem als Schriftsteller unter dem Pseudonym Heinrich Conrad109 firmiert und als Editor erotischer Schriftenreihen und der zusammen mit Hanns Heinz Ewers110 herausgegebenen Serie Rara. Eine Biblio­thek des Absonderlichen publizistisch aktiv ist. Seine Beweggründe zur Vereinsgründung schildert er in einem Brief an Richard Dehmel  : Der junge Verlag solle begabten Schriftstellern die Möglichkeit bieten, völlig unabhängig und unbeeinflusst von den hergebrachten Ueberlieferungen in künstlerischen Dingen ihren eigenen Weg sich zu suchen, sowie auch, frei von ängstlicher Rücksichtnahme auf die Prüderie des Familienblatt-Publikums der Ausgestaltung und Verwirklichung ihrer künstlerischen Absichten sich hinzugeben.111

Der Autor und Sozialist Karl Schneidt gibt wiederum in Hugo Storms Verein die Zeitschrift Die Kritik. Boulevardblatt mit libertären Tendenzen heraus. Zur gleichen 108 Ludwig Thuille an Richard Strauss am 23.12.1898. In  : Richard Strauss  – Ludwig Thuille. Ein Briefwechsel. Hg. v. Franz Trenner. Tutzing 1980 (Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft  ; 4), S. 149. 109 Es gibt bislang wenig wissenschaftliche Forschung zur Biographie, zum Werk oder den verlegerischen Tätigkeiten von Hugo Storm alias Heinrich Conrad. Ein Schriftenverzeichnis wurde 2019 erstellt von Jäschke, Franz  : Der große Unbekannte Heinrich Conrad (1865 – 1919). Redakteur, Autor, Übersetzer, Verleger. Schriftenverzeichnis. Mit den Briefen an C.G. von Maassen. Norderstedt 2019. 110 Zur Neubewertung des Gesamtwerks vgl. den Sammelband von Barry Murnane und Rainer Godel, der sich ebenfalls dem Phänomen von literarischen Popularisierungstendenzen um 1900 widmet (Murnane, Barry / Godel, Rainer [Hg.]  : Zwischen Popularisierung und Ästhetisierung. Hanns Heinz Ewers und die Moderne. Bielefeld 2014). 111 Brief an Richard Dehmel, 12.7.1894. Zitiert nach Kuhbandner, Birgit  : Unternehmen zwischen Markt und Moderne. Verleger und die zeitgenössische deutschsprachige Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2008 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft  ; Bd. 20), S. 308, Anm. 663.

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Zeit, in der Graunzer auf den Markt kommt, wird im Verein der passende, deshalb gleichnamige Verlag gründet  : der Kritik Verlag. Bierbaum veröffentlicht in der ersten Nummer des Boulevardblattes seinen Aufsatz Ein Kathederwunder, der um ein verstärktes öffentliches Interesse für die Kunst der Modernen wirbt. Die Existenz eines Experimentierfelds der neuen literarischen Formen und Sprachen der Modernen wird erleichtert durch die Selbstständigkeit kleiner Verlagsneugründungen, aber auch durch direktes finanzielles Engagement Einzelner und die Erschließung neuer Ressourcen aus der dauerhaften Beteiligung zahlender Vereins- bzw. Genossenschaftsmitglieder. Die finanzielle Absicherung durch die Zusage von Abonnements macht das neue Verlagsgenossenschaftswesen für viele am literarischen Markt Partizipierende attraktiv. Hinzu kommt die Möglichkeit, sich durch aufwendigere Vorzugsausgaben, kostspielige Buchdruck- und hochwertige Buchbindeverfahren mit Büttenpapieren sowie Beigabe von Originalzeichnungen und Drucken dem etablierten und gewinnorientierten Kunstmarkt zuzuwenden und dem drohenden Statusverlust der Literatur als Medium eines bürgerlichen Selbstverständnisses ökonomisch entgegenzuwirken. Die gestalterisch und ästhetisch gewonnenen Freiheiten vieler Literaturproduzenten führen um 1900 für viele in die Zwangslage, sich selbst ökonomisch vermarkten oder im Auftrag schriftstellerisch tätig sein zu müssen. Viele Werke und Beiträge entstehen als Auftragsarbeiten, sind publizistisch ereignisgebunden und erscheinen nicht selten zunächst in Tageszeitungen und Zeitschriften und werden so erstvergütet, bevor sie als Buch herausgebracht werden. Viele Autoren unternehmen Verlagsgründungen oder andere Gründungen von Zeitschriften, Buchhandlungen, Varietébühnen, Theatern, Festveranstaltungen, von zum Teil nur sehr kurzer Dauer. So entsteht – ausgerechnet in der Zeit des Jugendstils, der der künstlerischen Autonomie einen großen Stellenwert einräumt – der Berufsschriftsteller als Massenphänomen. Verlagsleiter wie Albert Langen, der 1893 die Neugründung seines Buch-und-­ Kunst-Verlags im Anzeigenteil des Börsenblatts für den Deutschen ­Buchhandel ankündigt (Abb. 2), zahlen zumindest zu Beginn ihrer verlegerischen Unternehmertätigkeit außerordentlich hohe Honorare und gewähren beachtliche Vorschüsse. Langen gelingt es dadurch, international bekannte Autoren an sich zu binden, »neben Björnsen und Hamsun Namen wie Georg Brandes, Paul Hervieu, Jens P. Jacobsen, Jakob Wassermann und Frank Wedekind«112. Der Münchner Verleger wird nach dem Vorbild des erfolgreichen französischen satirischen Kunstblatts Gil Blas illustré drei Jahre später den Simplicissimus gründen, ein 112 Abret, Helga / Keel, Aldo  : Im Zeichen des Simplicissimus. Briefwechsel Albert Langen – Dagny Björnson 1895 – 1908. München 1987, S. 36.

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2  Anzeige von Albert Langen zur Neugründung seines Verlages im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel am 6. Dezember 1893.

deutschsprachiges Satiremagazin, für das auch Bierbaum vom ersten Jahrgang bis zu seinem Tod 1910 arbeitet. Die erste Ausgabe wird, um einen guten Einstand auf dem umkämpften Zeitschriftenmarkt zu erhalten, in einer Auflagenhöhe von 300.000 Exemplaren am 1.  April 1896 »gratis als Probe-Nummer«113 ausgeliefert. Georg Brandes’ Übersetzungen sind zuvor im Berliner Verlag von Samuel Fischer erschienen, der bereits 1886 gegründet wird. Auch Bierbaum ist kurzzeitig für Fischer tätig, während er als Redakteur bei der Freien Bühne angestellt ist. Er arbeitet 1893 für vier Monate für die Zeitschrift, benennt sie um in Die neue Rundschau und führt mit Oscar Bies Artikelreihe Zwischen den Künsten eine erste öffentliche ästhetische Diskussion über moderne Kunst, die von Individualität geprägt ist und nicht von einem stilkonformen Regelkatalog114. Einen anderen großen Verlag für Bierbaum stellt zuvor Schuster & Loeffler dar (Abb. 3 – 4). Basis seiner Gründung ist 1895 der Ankauf der Rechte an Werken 113 Abret, Helga / Keel, Aldo  : Im Zeichen des Simplicissimus, S. 38. 114 Vgl. Goeller, Margot  : Hüter der Kultur. Bildungsbürgerlichkeit in den Kulturzeitschriften »Deutsche Rundschau« und »Neue Rundschau« (1890 – 1914). Frankfurt / M. 2010, S. 92.

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3  Anzeige von Bierbaums W ­ erken im Verlag Schuster & Loeffler, auf der Umschlagrückseite von J. MeierGraefe: Der Prinz (1897).

Detlev von Liliencrons. Neben weiteren modernen Schriftstellern hat der Verlag mit Richard Dehmel und Otto Julius Bierbaum zwei prominente Autoren der modernen Lyrik in seinem Verlagsprogramm. Die Vorschusszahlungen, die Albert Langen in den Gründungsjahren vornimmt, sind als Strategie eines unternehmerischen Kulturverlages ein Novum. Die hohen Gehälter stellen aber nicht nur für die Schriftsteller einen Anreiz dar  ; sie erheben die literarische Erstveröffentlichung oder Erstübersetzung auch zu einem Spekulationsobjekt am Literaturmarkt. Die Ökonomisierung der Literatursphäre belegen die vielen wieder eingestellten Zeitschriften- und Verlagsunternehmungen, die vielen Kündigungen und schnellen Wechsel von Redaktionsmitgliedern sowie Umbenennungen der Zeitschriften. Bierbaums Theatergründung Trianon, die im Zusammenhang mit seinem Stilpe-Roman noch näher analysiert wird (Kap. 3.3), mag zwar wie eine Inszenierung oder eine Parodie auf die Mode literarischer Spekulationen wirken und doch stellt sie in der künstlerischen Welt der in Berlin um 1901 noch recht jungen deutschen Varietébühne wie in Bierbaums Karriere als Figur des öffentlichen Theaterlebens einen bitteren Misserfolg dar.115 115 Zur Bedeutung der Gründung des Trianon-Theaters für Bierbaums Werk und seine Singspiele vgl.

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4  Anzeige von Bierbaums Werken im Verlag Schuster & Loeffler, auf der Umschlag­rückseite von O. J. Bierbaum: Kaktus (1900).

Die Vielzahl der Verlagsbeteiligungen bei Bierbaum gibt aber auch einen Hinweis auf die prekäre finanzielle Situation der Schriftsteller um die Jahrhundertwende. Otto Julius Bierbaum arbeitet bereits lange Zeit als Korrespondent und Herausgeber namhafter Zeitschriften und seine erfolgreichste Veröffentlichung – der Gedichtband Irrgarten der Liebe (1900) – hat als erweiterter Band unter dem Titel Der neubestellte Irrgarten der Liebe (1906) die Auflagenhöhe von 40.000 Exemplaren erreicht, als er am 19. Dezember 1907 seinem Verleger Georg Müller schreibt  : Die Hauptsache ist, dass Sie mich materiell immer genügend und mit der gewöhnlichen freundschaftlichen Pünktlichkeit tantiemieren. Sonst muß ich nebenher kleines

Hettche, Walter  : Rokoko unter den Stadtbahnbögen. Otto Julius Bierbaums Singspiele zwischen Tradition und Moderne. In  : Weyand, Björn / Zegowitz, Bernd (Hg.)  : Otto Julius Bierbaum – Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne. Berlin 2018, S. 167 – 186. Der Name von Bierbaums lyrischem Theater »Trianon« hat im Théâtre Le Trianon auf dem Montmartre sein Vorbild.

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Zeug schreiben, und das hält mich unverhältnismäßig ab. Schon die Sachen für den ›Morgen‹, zu denen ich verpflichtet bin, hemmen mich.116

Für die Berliner Zeitschrift Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur schreibt Bierbaum in den ersten zwei Jahren ihres Erscheinens 1907 und 1908 regelmäßig kulturpolitische Aufsätze wie beispielsweise den Offenen Brief an Herrn Maurice Barrès117 und München118 sowie kurze Erzählungen. Ebenso erscheint in der von Werner Sombart unter Mitarbeit von Richard Strauss, Georg Brandes, Richard Muther und Hugo von Hofmannsthal herausgegebenen Zeitschrift ein Vorabdruck des Dritten Teils von Prinz Kuckuck unter dem Titel Selma mit dem Brustpanzer. Dass Bierbaum äußert, er sei zu den Sachen im Morgen »verpflichtet«, lässt auf einen begrenzten Zuliefervertrag für die Zeitschrift schließen. Birgit Kuhbandner weist anhand des Briefwechsels mit dem Verleger Georg Müller nach, dass Bierbaum auch 1907 als längst erfolgreicher Autor auf finanzielle Unterstützung angewiesen ist  : Auch in der Korrespondenz zwischen Otto Julius Bierbaum und Georg Müller finden sich häufige Bitten des Autors um Darlehen und Bürgschaften. Im Jahr 1909 forderte der Autor den Verleger dazu auf, ihm 600 Mark durch die Ausstellung einer Wechsel zu beschaffen – ein Prozedere, das Autor und Verleger wohl zwei Jahre zuvor schon einmal durchgeführt hatten. […] Die materielle Förderung und Unterstützung der Autoren vollzog sich schließlich neben der Vorschusspraxis und der Gewährung von Darlehen auch durch die Aussetzung verschiedener – meist nicht rückzahlbarer und nicht oder nur vage bzw. nicht verpflichtend zweckgebundener – Sonderzuwendungen, mit denen sich die Verleger mäzenatisch betätigten.119

116 Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his Publishers. Göppingen 1975, S. 215 – 218. 117 Bierbaum, Otto Julius  : Offener Brief an Herrn Maurice Barrès. Mitglied der französischen Akademie und der französischen Deputiertenkammer. In  : Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 1 (1907), Nr. 4, S. 117 – 123. 118 Bierbaum  ; Otto Julius  : München. In  : Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 1 (1907), Nr. 23, S. 723 – 727. 119 Kuhbandner, Birgit  : Unternehmen zwischen Markt und Moderne, S. 262 ff. Georg Müller gründet 1903 seinen eigenen Verlag und arbeitet zunächst mit Ernst Piper zusammen. Piper gründet unter finanzieller Beteiligung von Georg Müller 1904 wiederum ebenfalls einen eigenen Verlag und löst sich 1906 von seinem Verlegerkollegen. Neben vielen Dokumenten zum Verhältnis von O. J. Bierbaum und Georg Müller bietet ein Sammelband der edition monacensia eine kurze Über-

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5  Titelblatt von Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt (1895).

Die Verlage springen gewissermaßen in eine Lücke, die durch den Wegfall e­ ines funktionierenden Abhängigkeitsgefüges aus Mäzenatentum und bürgerlich-­ künstlerischer Akademieöffentlichkeit entstanden ist. Die Unabhängigkeit von den Formvorgaben und Malprogrammen der akademischen Schulen, die durch die Sezessionsbewegungen erstritten werden kann, erfordert gleichzeitig neue Finanzierungsmöglichkeiten für die Künstler. Die häufig raschen Einstellungen einzelner Zeitschriftentitel – Die Insel überdauert drei, der Pan immerhin fünf Jahrgänge – spiegeln das latente Verlustgeschäft einer nicht nur kulturellen, sondern auch ökonomischen Unternehmung von neu gegründeten Zeitungen oder Verlagen wider. Viele Zeitschriften gelangen über die Planungsphase nicht hinaus, wie auch Bierbaums Idee zur Zeitschrift Embryo.120 In seiner Posse Der

sicht über Verlagsgründungen um Georg Müller. Vgl.: Freeden, Eva von / Schmitz, Rainer  : Sein Dämon war das Buch. Der Münchner Verleger Georg Müller. München 2003, S. 216 – 217. 120 Vgl. zu den von Bierbaum gemeinsam mit Franz Blei angestellten Überlegungen zu einer eigenen Zeitschriftengründung  : Ifkovits, Kurt  : Vom Prinz Kuckuck zum Prinz Hypolit. Die Zeitschrift »Die Insel« zwischen Rudolf Alexander Schröders »zielbewußter Bourgeoisie« und Franz Bleis »zweckloser Kunst«. In  : Brinks, John Dieter (Hg.)  : Vom Ornament zur Linie. Der frühe

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6  Titelblatt von Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte (1887). 7  Titelblatt von Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart (1904). 8  Titelblatt von Westermanns Monatshefte – Illustrierte Zeitschrift fürs deutsche Haus (1919).

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Kultur-Kaiser (1907) spitzt Bierbaum mit einem Seitenhieb auf Stefan George im Morgen die neue gesellschaftliche Position des Künstlers zu  : Es ist schon das beste, Künstlern jeder Art keinerlei Titel, sondern nur recht oft Aufträge zu geben. Mögen sie sich dann selbst in eine möglichst hohe Rangklasse ihrer Klasse versetzen, indem sie diese Aufträge so ausführen, dass Werke daraus entstehen, angesichts derer der Kenner den höchsten Titel verleihen kann, den es in der Kunst gibt  : Meister.121

Die Vielzahl der neu gegründeten ästhetischen und kulturpolitischen Zeitschriften konkurriert jedoch nicht nur untereinander, sofern sie sich nicht wie Georges Blätter für die Kunst auf eine elitär-exklusive Leserschaft beschränken, sondern treffen auf einen um 1900 bereits vollständig ausdifferenzierten großen deutschsprachigen Zeitungsmarkt, der bestimmt ist durch eine Überzahl an Familien- und Freizeitblättern großer Verlage. In seinem Werk setzt sich Bierbaum von Anfang an ins Verhältnis zu diesen populären Medien. Maßgeblich bestimmt werden die Lesegewohnheiten breiter Schichten der Bevölkerung durch ein kaisertreues und konservatives Unterhaltungsblatt, Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt (Abb. 5), die im Leipziger Verlag Ernst Keil erscheint und in ihrem 22. Jahrgang im Jahr 1875 eine Auflagenhöhe von 382.000 Exemplaren erreicht. Hinzu kommen viele weitere erfolgreiche Illustriertenblätter wie zum Beispiel Westermanns illustrirte deutsche Monats-Hefte für das gesammte geistige Leben der Gegenwart (Abb. 6 – 8), die seit 1856 als Abonnementzeitschrift in Braunschweig im Westermann Verlag erscheinen, oder die ebenfalls in Leipzig erscheinenden Velhagen & Klasings Monatshefte (Abb. 9 – 10) im gleichnamigen Verlag  : Vor der Reichsgründung waren es die Zeitschriften, und von diesen die Familienblätter, die den Durchbruch zum modernen Massenmedium erkennen ließen. Dabei drückt sich der Aufstieg nicht nur in der Zahl der verschiedenen Zeitschriften, sondern in der erstaunlichen Auflagenhöhe aus. Erfolgreichstes Familienblatt war die seit Herbst 1853 erscheinende gartenlaube, die 1861 die Auflagenhöhe von 100.000 Exemplaren erreichte, 1867 schon 210.000 und 1875 mit 382.000 Exemplaren – und einem

Insel-Verlag 1899 bis 1924 – Ein Beitrag zur Buchästhetik im frühen 20. Jahrhundert. Assenheim 2000, S. 75 – 92. 121 Bierbaum, Otto Julius  : Der Kultur-Kaiser. Imaginäre Zeitungsausschnitte aus imaginärer Zeit. Imaginiert von Otto Julius Bierbaum. In  : Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 1 (1907), Nr. 23, S. 448 – 450, hier S. 448.

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9  Titelblatt von O. J. Bierbaum: Stuck, im Verlag Velhagen & Klasing (1899). 10  Kunstgeschichtliche Einführungen mit Abbildungen in Velhagen & Klasings Monatsheften (1907 / 08).

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11  Ankündigung von Pankrazius Graunzer als »keine leichte Familienblattlektüre« in: Die Kritik. Wochenschau es öffentlichen Lebens (1894).

Vielfachen an Lesern, nach Schätzungen drei bis vier Millionen – die höchste Wochenauflage der Welt verzeichnete. […] In der Zeit des Kaiserreiches nahm die periodische Literatur noch einmal deutlich zu, und zwar in einem Maße, dass sich schließlich so viele Zeitungen und Zeitschriften wie nie zuvor oder nachher um die Gunst der Leser bemühten.122

Diese Unterhaltungsblätter sind etabliert und in ihrer Leserschaft schichtunspezifisch populär. Sie stehen trotz ihres populärwissenschaftlichen Anspruchs vor allem aufgrund ihrer umfangreichen Abteilungen reproduzierter Kunstgraphiken und allgemein verständlicher Kunsteinführungen in Konkurrenz zu den modernen Literaturverlagen und ihren Zeitschriften.

122 Schwarz, Angela  : Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (circa 1870 – 1914). Stuttgart 1999, S. 80. Der rasche Anstieg der Auflagenhöhe verdankt sich vor allem dem Erfolgsroman Goldelse von E. Marlitt, der ab 1866 in Fortsetzung in der Zeitschrift abgedruckt wird.

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12  Einband von O. J. Bierbaum: ­Pankrazius Graunzer (1896).

Als Bierbaums Roman Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer 1896 erscheint (Abb.  11 – 12), ist die Kritik sich nicht so recht einig, ob der Briefroman überhaupt zu den Modernen gezählt werden könne oder ob er aufgrund einer romantisch-historisierenden Grundstimmung doch lieber der leichten Kost einer populären Gattung der Heimatromane123, die den Familienblättern oft als Fortsetzungslektüre beigelegt waren, 123 Zur Entwicklung des Heimatromans und der spezifischen Ausprägung von Global-Village-Geschichten, die als Fiktion gegen die »Zumutungen der Moderne«, wie Stockinger formuliert, entworfen werden, siehe Stockinger, Claudia  : An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 266 ff. »Heimat ist nicht je schon vorhanden«, charakterisiert sie die Popularisierung des Genres in vielen Fortsetzungsromanen der Gartenlaube, »sondern wird erzeugt  : durch ein überregional wirksames emotionales Band, das über die gemeinsame Sprache eine konsensuelle bürgerlich-patriarchale Weltordnung stiftete.« (Stockinger, Claudia  : An den Ursprüngen populärer Serialität, S.  270). Peter Rosegger etabliert in der 1876 von ihm selbst gegründeten Familienzeitschrift Heimgarten in Anlehnung an das Vorbild der Gartenlaube ein weiteres Verbreitungsmedium der Heimat- und Dorfliteratur, das sich in erster Linie an eine städtische Leserschaft richtete. Vgl. Wegener, Michael  : Die Heimat und die Dichtkunst. In  : Schmidt-Henkel, Gerhard / Enders, Horst / Knilli, Friedrich / Maier, Wolfgang (Hg.)  : Trivialliteratur. Aufsätze. Berlin 1964, S. 53 – 74, hier S. 55.

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zuzuordnen sei. Der historisch-manieristisch anmutende Stil des Titels, der sich in der Kapitelgestaltung fortsetzt, und die verschlungenen Erzählmanöver des Romans vorwegnimmt, wirkt wie eine Reminiszenz an die Werke des Romantikers Jean Paul. In seiner Rezension erwähnt Paul Szczepanski124 in Velhagen & Klasings Monatsheften, wie wenig populär Jean Paul zur Zeit der Jahrhundertwende sei, nun aber durch die Adaptionen in Bierbaums aktuellem Roman wieder an ein größeres Publikum herangeführt werden könne. Mag dies für den Rezeptionshorizont der Familienblätter gelten, da sich literarische Adaptionen und Anspielungen auf den Romantiker bei vielen modernen Literaten des Fin de Siècle finden125, zeigen die Besprechung von Bierbaums Roman in einem Familienblatt und der gemeinsame Bezugspunkt Jean Paul doch eine große Nähe zwischen den Popularisierungstendenzen in den Massenzeitungen und Bierbaums literarischen Arbeiten. Bierbaums Roman greift – wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird – weitere literarische Vorlagen der Romantik auf und positioniert sich so nicht nur innerhalb einer Diskussion der Romantikrezeption der Jahrhundertwende, sondern Pankrazius Graunzer reflektiert das romantische Gesellschafts- und Geschlechterbild, das die vorherrschenden Unterhaltungsblätter prägt. Bierbaum unternimmt mit seinem Roman einen frühen literarischen Versuch, ein Panorama gesellschaftlicher Sitten- und Geschlechtervorstellungen der Kaiserzeit abzubilden. In seiner ironischen Haltung bedient sich Pankrazius Graunzer zusätzlich der Elemente des Schelmenromans, die an das historische Vorbild von Grimmelshausens Simplicissimus anknüpfen und ebenfalls näher untersucht werden (Kap. 2.3).

124 Paul Szczepanski  : Neues vom Büchertisch. In  : Velhagen  & Klasings Monatshefte 10 (1895/96), H. 11, S. 588 – 590. 125 Zur Wiederbelebung des Werks Jean Pauls trägt auch die von Stefan George besorgte Neuausgabe einzelner Gedichte bei. Die Lyrik Jean Pauls bildet den ersten Band des gartens der deutschen verskunst, der 1900 erscheint. Die ebenfalls immens erfolgreiche Liedersammlung von Bierbaum erscheint unter dem Titel Irrgarten der Liebe im selben Jahr. Dieser Titel könnte von Bierbaum auch in der Absicht eines parodistischen Seitenhiebs auf seinen »Lieblingsgegner« und dessen geplante Gedichtsammlung gewählt worden sein. In der Forschungsliteratur findet sich darauf jedoch kein Hinweis.

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2.1 Graunzer und das Geschlecht der Populärwissenschaften Die Grundkonstellation des Romans lebt von der literarischen Versuchsanordnung eines bekannten Motivs126  : Die Romanfigur Pankrazius Graunzer erfährt zur Testamentseröffnung ihrer Tante, dass sie einen Landsitz erbt und dort in Zukunft als Gutsverwalter leben könnte. An das Erbe wird jedoch der testamentarische Wunsch geknüpft, Graunzer möge heiraten. Pankraz ist Doktor der Philosophie, »hartgesottener Heide« (G14)127 und Stadtmensch. Er durchläuft einen um das Jahr 1895 prototypischen Erziehungsweg durch die staatlichen Institutionen von Knabeninstitut, Gymnasium und Universität. Zu Beginn des Romans wartet er – im fortgeschrittenen Alter von vierzig Jahren – auf eine Anstellung im öffentlichen Dienst als Bibliotheksbeamter  : ein »ziemlich gewöhnlicher Bursche« (G7), wie die Erzählerfigur kommentiert. Nachdem er vom Testament seiner Tante Ulrike erfahren hat, begibt er sich aufs Land, um seine neue Lebensaufgabe auf dem alten »Kiebitzhof« (G21) wahrzunehmen. Das Testament verfügt zwar nicht, dass der bekennende »Weiberfeind« Graunzer heiraten muss, Tante Ulrike legt ihm als zukünftigem alleinstehenden Gutsbesitzer eine Heirat jedoch nahe, da er, der »Ökonom mit dem Federhalter« (G17), als Bauer ohne Aussicht auf Erfolg ist. Das Verhältnis zu den Angestellten des Gutshofs ist distanziert und Graunzer gerät, nach kurzer Zeit auf dem Land, in einen Identitätskonflikt. Er konstatiert die fehlenden Emanzipationsbestrebungen der bäuerlichen »Leute auf Kiebitzhof« (G21), denen er vorsteht, da sie das »patriarchalische Verhältnis« als natürliche Gesellschaftsordnung nicht hinterfragen, und ergeht sich in »sozialpolitischen Ideen« (G21). Doch auch er selbst sieht sich in der Gegenüberstellung seiner Tä126 Eine ähnliche Ausgangssituation eines an den Romanverlauf beeinflussende Bedingungen geknüpften Testaments findet sich bei Jean Paul  : Flegeljahre (1804), Adalbert Stifter  : Die Narrenburg (1842), Luise Otto  : Die Erben von Schloss Ehrenfels (1860). Ernst von Wolzogens Roman Ecce ego. Erst komme ich (1895) handelt auch von einem Herrn, der aus ökonomischen Gründen auf die Idee kommt, sich eine reiche Frau zu suchen. Franziska von Reventlows Der Geldkomplex (1916) pervertiert diese Erzählkonstellation, indem nicht das Erbe an Bedingungen geknüpft ist, sondern die finanzielle Not das zu erwartende Erbe unabdingbar für eine gesellschaftliche Reputation der Protagonistin erscheinen lässt. 127 Bierbaum, Otto Julius  : Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer, der schönen Wissenschaften Doktor, nebst einem Anhange wie schließlich alles ausgelaufen. In  : ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Bd. 2. Hg. v. Michael Georg Conrad und Hans Brandenburg. München 1921, S. 1 – 230. Der Roman wird fortlaufend im Text mit der Sigle »G« und Seitenzahl in Klammern zitiert. Nach der Veröffentlichung des Romans in der Gesamtausgabe ist keine weitere Neuauflage erfolgt, so dass der Roman in gedruckter Form bis heute nur in einer Ausgabe in Frakturschrift vorliegt.

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tigkeit als Beamter in der Stadt und des Lebens als Gutshofbesitzer auf dem Land in einem Identitätskonflikt, den er aufheben will. Er identifiziert das Land mit tatkräftiger und schöpferischer Tätigkeit und das städtische Leben erscheint dem entgegengesetzt vergeistigt  : »Halb noch Stadt- und Bibliotheksmensch, halb aber auch schon Landmensch, Freiluftmensch. Viel weniger Grübler und Kritiker als bisher, aber doch nicht ganz Zugreifer, Schaffer – Bauer.« (G21) Das distanzierte Verhältnis, das Graunzer zu sich hat, wird ironisch gewendet, indem sich Graunzer selbst als Figur zum Objekt und zum »psychologischen Modell« (G30) macht, das romantauglich sein könnte  : »40 Jahre alt und noch immer eine solche schwabbelige Seele. Ich kann mich auf dem Jahrmarkt sehen lassen oder unerschrocken Romanschreibern als psychologisches Modell stehen. Unerquicklich.« (G30) Der Roman bietet so nicht nur mit dem Motiv eines an die Erfüllung einer gestellten Aufgabe geknüpften Erbes die erzählerische Ausgangsbasis für einen Abenteuerroman, sondern es geht Bierbaum um eine poetische Versuchsanordnung zur psychischen Durchleuchtung eines männlichen Typus am Ende des 19.  Jahrhunderts. Diese Konstruktion wird im weiteren Fortgang des Romans, der Graunzers Suche nach einer geeigneten Frau schildert, erweitert um eine Versuchsanordnung der Geschlechterbilder, wie sie in populären biologischen Vererbungslehren und psychologischen Untersuchungen der Zeit propagiert werden und wie sie die Fortsetzungsromane der Familienblätter für eine breite Leserschaft formen. Die Dimension der psychisch-mentalen Interpretation von Körperbau und Physiognomien und das verbundene biologistisch-deterministische Menschenbild werden bereits in der Vorstellung des Protagonisten im »Kurzen Vorbericht über Herrn Pankrazius Graunzers Leibes- und Seelenzustände sowie einiges aus seinem früheren Leben« konterkariert. Graunzers »Doppelnasigkeit« (G4) lässt sich von links und rechts nicht eindeutig fassen im populärwissenschaftlichen Diskurs der Physiognomik, wie er durch die Schriften des Psychologen und Kulturethnologen Wilhelm Wundt maßgeblich geprägt wird. Wundts Lehre fußt auf feststehenden psychischen Normvorstellungen, die an körperliche Merkmale geknüpft werden. Sein Ideal der für die psychologische Verfassung eines Menschen erkenntnisreichen Vermessung des menschlichen Körpers trägt erfolgreich zu einer Ausbildung von Typologien männlicher und weiblicher Charaktereigenschaften bei. Die Schriften von Wilhelm Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie, 1873/74) werden in den 1890er Jahren ebenso euphorisch im Zuge der populärwissenschaftlichen Verbreitung naturkundlicher Studien und neuer psychologischer Erkenntnisse rezipiert wie die kriminologischen Studien von

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Cesare Lombroso, die Verbrecherphysiognomien128 zu kartographieren versuchen und in der Nachfolge auch ein physiognomisches Programm für »weibliche Nervenleiden« vorstellen. Im Jahr 1887 erscheint elf Jahre nach der Veröffentlichung der italienischen Originalausgabe die erste deutsche Übersetzung von Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung und 1894 erscheint Lombrosos und Guglielmo Ferreros Schrift Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes. Die Erzählerfigur in Bierbaums Roman überträgt diese populäre Pseudowis­ senschaft zunächst auf die männliche Figur Pankrazius Graunzer und wirbt um das zustimmende Verständnis des fiktiven Lesers129. Sie besitzt »die übliche Misch­nase wendo-germanischen Typs« (G3), die Nase weist  – von der einen Seite betrachtet – ein »kurzes, gedrungenes Nasenbild« (G3) auf, das auf »männliche Energie, Kurzangebundenheit, Bestimmtheit« (G3) schließen lässt, von der anderen, linken Seite sieht die Nase gänzlich anders aus  : Sie werden nicht zögern, zu erklären, daß diese Nase direkt länger ist als jene, daß ihre Richtungstendenz entschieden aufwärts geht, daß sie etwas Stuppsiges, etwas Trällerndes hat, möcht ich sagen, und daß sie auf einen weichmütigen Besitzer schließen läßt, der ganz und gar nicht mürrisch, absolut nicht kurzangebunden und keineswegs sehr bestimmten oder störrischen Charakters ist. Diese Nase deutet vielmehr auf eine passive, nachgiebige, wohllebige, friedliche, etwas schwankende Seele hin, man könnte sie einem Melancholiker oder einem Humoristen zusprechen, und man kann sich in Ansehung ihrer des greulichen Verdachts nicht entschlagen  : Der Mann reimt  ! (G4)

In der Anspielung auf ein populäres Vorwissen des Lesers, der seine Aufmerksamkeit der psychischen Verlängerung physiologischer Merkmale schenken mag, gelingt Bierbaum nicht nur eine intime Erzählsituation, in der der Leser unmittelbar die ambivalente Vorstellung des Protagonisten teilen soll, sondern er wirbt auch um Verständnis für die Besonderheit des vorgestellten Graunzer. In Massenauflagen gedruckte Fortsetzungsromane der Schriftstellerin Eugenie 128 Die Verbrecherphysiognomien greift Bierbaum als Vorlage auf für seine 1900 erscheinende Schrift Steckbriefe erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur. Der Band wird unter dem Pseudonym Martin Möbius herausgegeben, was an einen deutschen Vertreter der Phrenologie erinnert, den Neurologen und Psychiater Paul Julius Möbius. 129 Vgl. zum Konzept und zur textinternen Anrufungsinstanz des fiktiven Lesers und zur kategorialen Abgrenzung vom impliziten Leser  : Iser, Wolfgang  : Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972.

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Marlitt130 wie Goldelse (1866, Abb. 13), Das Geheimnis der alten Mamsell (1867), Die zweite Frau (1874) oder Im Hause des Commerzienrathes (1876), die regelmäßig vorab in der Gartenlaube abgedruckt werden, basieren auf einem gleich argumentierenden Prinzip der Plausibilierung der Figuren durch physiognomische Determinationen und Charakterzuschreibungen. »Die Deutungen und Bewertungen äußerer Erscheinungsbilder sind das literarische Grundverfahren E. John-Marlitts zur Charakterisierung der verschiedenen Protagonisten«131, analysiert Achim Barsch und unterstreicht ein Erzählverfahren, das sich Bierbaum bei der sehr erfolgreichen Schriftstellerin ausleiht  : »Dem Leser werden die gleichen physiognomischen Kenntnisse zugeschrieben, wie sie auch der Erzähler als selbstverständlich ansetzt.«132 Standardisierte Erzähltechniken und »Mythen von schlichtester Allgemeinheit«133, wie sie von Marlitt vorbildlich und erfolgreich eingeführt sind, werden in Bierbaums Vorrede adaptiert und parodiert. Die typische vertraute Anrede des Lesers durch den Erzähler (»Sie werden nicht zögern […]«), der so bereits in der Vorrede vorgibt, sich mit dem habituellen Empfinden des Lesers zu vereinen, entlehnt Bierbaum ebenfalls der Gartenlaube. Die Zueignung der ersten Ausgabe der Gartenlaube vom 1. Januar 1853 eröffnet programmatisch  :

130 E. Marlitt war ein von der Schriftstellerin gewähltes Pseudonym, das sich von ihrer Heimatstadt ableitete (Meine Arnstädter Litteratur). Es half ihr zu Beginn ihrer Karriere als Erfolgsautorin, ihre weibliche Identität erfolgreich zu verbergen. Auch die Redaktion der Gartenlaube weist 1866 E. Marlitt als männlichen, von den Redaktionsräumen in Leipzig »entfernt lebenden Verfasser« aus. Vgl. Stockinger, Claudia  : An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt Die Gartenlaube. Göttingen 2018, S. 160. Als sie 1887 stirbt, wird die Schriftstellerin durch die Redaktion sowohl als »Schöpferin so vieler holdvoller Mädchengestalten« als zugleich auch als »unsere erfolgreichste und treueste Mitarbeiterin von Allen« gewürdigt  ; ihr Geschlecht scheint ihrem Erfolg nicht mehr entgegenzustehen und dieser wird zugleich »eingemeindet« (vgl.: E. Marlitt †. In  : Gartenlaube [1887], H. 27, S. 250). 131 Barsch, Achim  : Massenmediale Unterhaltungsliteratur und soziale Wirklichkeitskonstruktion  : Zum Menschenbild in der Gartenlaube am Beispiel der Romane von E. Marlitt. In  : Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von menschlicher Natur (1850 – 1914). Hg. v. Achim Barsch und Peter M. Hejl. Frankfurt / M. 2000, S. 376 – 422, hier S. 406. 132 Barsch, Achim  : Massenmediale Unterhaltungsliteratur und soziale Wirklichkeitskonstruktion  : Zum Menschenbild in der Gartenlaube am Beispiel der Romane von E. Marlitt. In  : Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von menschlicher Natur (1850 – 1914). Hg. v. Achim Barsch und Peter M. Hejl. Frankfurt / M. 2000, S. 376 – 422, hier S. 399. 133 Eco, Umberto  : Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt / M. 1986, S. 43.

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13  Einband von E. Marlitt: Goldelse (1895).

[…] Zu den vielen Geschenken, die Euch der heilige Christ bescheert hat, kommen auch wir mit einer Gabe – mit einem neuen Blättchen  ! […] Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und die Familie, ein Buch für Groß und Klein, für jeden, dem ein warmes Herz in den Rippen pocht, der noch Lust hat am Guten und Edlen  ! […] Fern ab aller raisonnirenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions- und anderen Sachen, wollen wir Euch in wahrhaft guten Erzählungen einführen in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaft und vergangener Zeiten. Dann wollen wir hinauswandern an der Hand eines kundigen Führers in die Werkstätten des menschlichen Wissens, in die freie Natur, zu den Sternen des Himmels, zu den Blumen des Gartens, in die Wälder und in die Eingeweide der Erde, und dann sollt ihr hören von den schönen Geheimnissen der Natur, von dem künstlichen Bau des Menschen und seiner Organe, von allem, was da lebt und schwebt und kreucht und schleicht, was ihr täglich seht und doch nicht kennt.134

134 Keil, Ernst  : An unsere Freunde und Leser. In  : Die Gartenlaube. Familien-Blatt 1 (1853), H.  1, 1.1.1853, S. 1.

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Die Mischung aus populärwissenschaftlichen kurzen Abhandlungen über Naturwissenschaften, beispielsweise Biologie, sowie völkerkundlichen Erörterungen, Kurzberichten über aktuelle Kulturtendenzen und Literatur ist typisch für die kaleidoskopische Ausrichtung der Gartenlaube. Den popularisierenden kulturgeschichtlichen Stil und die ergänzende Bezug nehmende Aneinanderreihung Fakten referierender und fiktionaler Beiträge nimmt sich Bierbaum in Pankrazius Graunzer leitmotivisch zum Vorbild seiner Erzählweise. Graunzer streut regelmäßig kleine Abschweifungen und seine Erkenntnisse über das Bahnreisen, das Landleben, die Kunst Münchens, das Korpswesen, die Kulturpolitik im Kaiserreich und das Theater ein. So pauschal und stereotyp das Familienblatt aufklären und zugleich unterhalten will, so nebensächlich und banal erscheinen auch Gutsbesitzer Graunzers kulturkritische Weisheiten. Seine Erörterungen und Ansichten über Frauen und die Ehe lassen sich in dieses Konglomerat aus Halbwissen und stereotypen Urteilen einfügen, indem sie, gleich dem rezeptionsorientierten Verfahren der Gartenlaube, »sich am Horizont seiner Leser« zu orientieren scheinen und »an deren Erlebnisse und Erfahrungen anknüpf[en]«.135 Bedient sich Bierbaum der trivialen Erzähl- und Erkenntnismodi der populären Familienblätter wie der Gartenlaube, so bricht er ironisch mit den allzu banalen Vorgaben und Gesellschaftsbildern. Nachdem die Erzählerfigur Graunzer in seiner Physiognomie umfassend vorgestellt und herablassend lächerlich charakterisiert hat (»Pankrazius’ Mund dürfte eher ein Maul geheißen werden«, G5), schließt die Vorrede, indem sich der Erzähler von Romanhelden, wie sie die Bestsellerautorin Eugenie Marlitt vorstellt, explizit lossagt  : Und noch eins  : Machen sie sich auf keinen Roman gefaßt. Ich habe es schon angedeutet  : Dieser Pankrazius ist kein Held. Weder ein altmodischer in Kanonenstiefel mit Säbel und Pistole noch ein neumodischer in Lackstiefeln mit dem Seziermesser und nach Wundts Psychologie. Er ist auch kein Schwerenöter und es verfährt ihm nichts, was ein Anrecht darauf hätte, unter »Vermischtes« in die Zeitung eingerückt zu werden. Wenn ich es recht bedenke, ist er ein ziemlich gewöhnlicher Bursche. Um Gottes willen  : laufen Sie nur nicht gleich davon  ! Bedenken Sie dies  : er mag die Weiber nicht. Dieser eine Punkt erhebt ihn über den Durchschnitt seines Geschlechtes. Sehen wir zu  : wohin. (G8)

Graunzer wird von Bierbaum in Kontrast gesetzt zu den typischen alten Helden der Unterhaltungsromane, zu den modischen neuen Helden der Genieforschung 135 Stockinger, Claudia  : An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 44.

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und pseudowissenschaftlicher Physiognomiestudien sowie zu den Skandalnachrichten der Tageszeitungen. Dennoch sind die Geschlechterbilder, die diese Medien prägen, im Roman präsent, sie werden aber von Bierbaum auf ihren sozial-historischen Status hin untersucht und aufgrund ihrer stereotypen Anlage karikiert. Die Frauenfiguren in Marlitts Zeitungsromanen ähneln sich sehr. Die meisten Geschichten erzählen von ihren Anstrengungen, durch eine Hochzeit sozial aufzusteigen. Sie stellen also keinen selbstständigen emanzipativen Frauencharakter vor, sondern reproduzieren eine Rollenaufteilung der Geschlechter, die den gesellschaftlichen Status des Mannes über den der Frau stellt. Gunhild Kübler nennt diese Erzählstrategie eines weiblichen sozialen Aufstiegs das »Aschenbrödelmotiv«136. Das Motiv wird in Marlitts Romanen anhand der Verbindung eines bürgerlichen Mädchens und eines adligen Mannes entwickelt. Die Geschichte wird getragen von dem bürgerlichen Traum des gesellschaftlichen Prestigegewinns durch die Verbindung zum Adel, der im ausgehenden 19.  Jahrhundert seine gesellschaftlich privilegierte Rolle verliert. Die Gesellschaftsschicht des Adels verliert an sozialem Status und an Legitimationsgrundlage137, sie gerät durch Skandale138 und Medienberichte immer wieder in den Ruf, korrupt und ramponiert zu sein, was sie für die bürgerliche Mittelschicht erreichbarer werden lässt. Bierbaum entwirft im Gegenzug zu dem gesellschaftlichen Klischeebild ein Bild des ebenfalls abgehalfterten bürgerlichen Stands, der in der Figur Graunzer und durch das Erbe zumindest im Besitzstand mit dem Adel konkurriert. Das klassische Heilsversprechen der Marlitt’schen Trivialromane wird dabei in Bierbaums Roman ebenfalls verkehrt. So ist es beispielsweise das adelige Fräulein Klothilde von Zurwenken, das Graunzer in den Adelsstand heben könnte. Doch der Akademiker und Junker Graunzer weiß, wie wenig aristokratische Unterfütterung sein Landsitz hat und was die Verbindung für Klothildes Ahnenreihe und ihr adeliges Blut bedeutet  : »Ich bin ja die Verdünnung in Person« (G114), 136 Kübler, Gunhild  : Die soziale Aufsteigerin. Wandlungen einer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung im deutschen Roman 1870 – 1900. Bonn 1982, S. 11. 137 Zum Statusverlust des Adels vgl. Bollenbeck, Georg  : Die kulturelle Hegemonie des Bildungsbürgertums. In  : ders.: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880 – 1945, S. 84 – 98. 138 Vgl. zur Repräsentationsfunktion der Medien um 1900 in Verbindung mit einer Skandalpresse um den Adel Kohlrausch, Martin  : Monarchische Repräsentation in der entstehenden Mediengesellschaft  : Das deutsche und das englische Beispiel. In  : Andres, Jan / Geisthövel, Alexa / Schwengelbeck, Matthias (Hg.)  : Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit. Frankfurt / M.; New York 2005 (Historische Politikforschung  ; 5), S. 93 – 122.

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warnt die Figur, um sich zugleich dem selbstbewussten Heiratsantrag ihrerseits entziehen zu können. Bierbaum entwirft seinen Graunzer also im direkten Widerspruch zu dem Figurenmuster der Gartenlaube-Familienromane Marlitts, wenngleich eine allgemeine Adelskritik auch »zu den wiederkehrenden Themen des bürgerlichen Familienblatts«139 zählte. Dennoch finden sich bei dem »weiberfeindlichen« Dichter Graunzer Anleihen an das populäre Menschenbild, wie es »prodarwinistisch«140 in den Familienblättern erscheint und vorgeprägt wird. Der Roman stellt stereotype Leitbilder des weiblichen Geschlechts vor, die denen der Familienblätter ähneln, und entdeckt sie dem Leser zugleich als perspektivisch motivierte Frauenbilder einer gesellschaftlich produzierten Misogynie. Die Weiberfeindschaft Graunzers wird im Lauf des Romans brüchig werden, bis die misogyne Figur ein glücklich verheirateter Ehemann und Vater von sechs Mädchen wird. Doch bevor Bierbaum seine Figur diesen langwierigen Aufklärungsprozess durchlaufen lässt, liegt seinen frauenfeindlichen Idealen ein festes Gerüst aus pseudowissenschaftlichen Grundsätzen zugrunde  : »Axiom  : Das Weib ist ein jammervoller Notbehelf der Natur, die vom Werdewahnsinn besessen ist und im Delirium […] Lach auch am Weib vorüber  ! Es ist nichts  !« (G28 f.) In Arthur Schopenhauers erkenntniskritischer Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), deren Positionen um die Jahrhundertwende und dank Richard Wagners Vereinnahmung zum wissenschaftlichen Terminologiekanon vieler kulturkritischer Zeitschriften und lebensphilosophischer Abhandlungen gerinnen, findet sich die Definition eines Axioms  : »Ein Satz von unmittelbarer Gewissheit ist ein Axiom. Nur die Grundsätze der Logik und die aus der Anschauung a priori geschöpften der Mathematik, endlich auch das Gesetz der Kausalität, haben unmittelbare Gewissheit.«141 Mit dem Begriff »Notbehelf« rekurriert Bierbaum auf einen um die Jahrhundertwende verbreiteten biologisch-evolutionären Naturdiskurs. Der Begriff wird in vielen populärwissenschaftlichen Werken zur Naturgeschichte für defizitäre, abnorme Naturerscheinungen verwendet, zum Beispiel findet er sich in Wilhelm Bölsches Das Liebesleben in der Natur (1900). Als erkenntnistheoretische Umschreibung für den menschlichen Geist findet sich »Notbehelf« aber auch bei Schopenhauer selbst wieder. Ein zweiter kulturkritischer Referenzpunkt zeigt 139 Stockinger, Claudia  : An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 93. 140 Stockinger, Claudia  : An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 350. 141 Schopenhauer, Arthur  : Die Welt als Wille und Vorstellung. Textkritisch bearbeitet und hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen. Bd. 2. Frankfurt / M.; Leipzig 1996, S. 156.

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sich in Graunzers Selbstversicherung seines Frauenhasses in der Beschreibung des weiblichen »Werdewahnsinns«. Das Wort ist ein Neologismus Bierbaums, der an popularisierte Aneignungen von Friedrich Nietzsches Sprachpathos (»Übermensch«, »Wille zur Wahrheit«) und Cesare Lombrosos psychoforensische Kriminalistik (»moralischer Schwachsinn«) durch Paul Julius Möbius (»physiologischer Schwachsinn des Weibes«, »Leistung der Gehirnrinde«) oder Julius Langbehn (»Gesammtmensch«, »Stammesgeist«) angelehnt ist und sie ins Lächerliche zieht. Ohne die Wegbereiter einer modernen Misogynie – Schopenhauer und Nietzsche  – explizit nennen zu müssen, treten sie anschaulich für den Leser in Graunzers Weltwahrnehmung und Ideologie in Erscheinung. So ist Graunzers abfällige Haltung Frauen gegenüber geprägt durch eine damals weit verbreitete Vorstellung von einer Geschlechterhierarchie, die zum Beispiel in Paul Julius Möbius’ Kampfschrift Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900) neurowissenschaftlich bewiesen werden sollte. Die biologisch-geistige Versehrtheit der Frau  – so argumentieren vielen Schmähschriften, die als Reaktion auf die Frauenemanzipationen entstehen  – würde ihre notwendige Unterordnung unter den Mann und ihre Kulturfremdheit begründen. Im Roman Pankrazius Graunzer nennt der Gymnasiallehrer und frühere Korpsbruder Peter Kahle, an den insgesamt 22 Briefe von Graunzer gerichtet sind, den Gutsbesitzer einen »Misogyn aus Naturwissenschaft« (G40). Auch in vielen Romanen der Modernen, so in Dramen von Gerhart Hauptmann142, Frank Wedekind143, Arthur Schnitzler144 oder Hugo von Hofmannsthal145 treten »weibliche Figuren als kollektive Wunschbilder«146 auf. Zwei Frauentypen werden dabei häufiger literarisch verarbeitet  : Die mythische, dämonische Femme fatale ist eine verführerische weibliche Figur, die erotisch und wollüstig aufgeladen ist und den Mann in der Regel zu Fall bringt. Sowohl in der literarischen als auch in der künstlerischen Verarbeitung gehören Frauentypen wie Salomé, Eva, die Sirenen aus Ovids Metamorphosen, die Hetären, die Nymphen 142 143 144 145

Vgl. Hauptmann, Gerhart  : Und Pippa tanzt  ! Ein Glashüttenmärchen in vier Akten. Berlin 1906. Vgl. Wedekind, Frank  : Lulu. Tragödie in fünf Aufzügen. München  ; Leipzig 1913. Schnitzler, Arthur  : Reigen. Wien 1903. Hofmannsthal, Hugo v.: Elektra. Tragödie in einem Aufzug frei nach Sophokles. Berlin 1904. Zur Freudrezeption Hofmannsthals und der »bühnenreifen Inszenierung des männlichen Angstbilds der Kastrationsdrohung« in Elektra vgl. Brittnacher, Hans Richard  : Archaisches und christliches Opfer. In  : ders.: Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle. Köln  ; Weimar  ; Wien 2001, S. 131 – 160, hier S. 135. 146 Taeger, Annemarie  : Die Kunst, Medusa zu töten. Zum Bild der Frau in der Literatur der Jahrhundertwende. Bielefeld 1987, S. 9.

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und Erinnyen zum Bildprogramm des Fin de Siècle. Kompensiert wird diese Figur durch einen weiteren weiblichen Mythos  : den der unschuldigen und sanften, jungfräulichen, bald lebensunfähigen Femme fragile. Sie ist genau das Gegenteil der männerverschlingenden Femme fatale und ergänzt diese Männerphantasie als komplementäre Kehrseite. Weitere Frauenfiguren wie die burschikose oder androgyne Frau und das süße Mädel gruppieren sich um das Paar von Femme fatale–Femme fragile und ergänzen das Repertoire moderner weiblicher literarischer Rollenmodelle um die Jahrhundertwende.147 Bierbaum sind diese stereotypen Frauenfiguren gegenwärtig und er unternimmt mit seinem Graunzer den Versuch, diesen Festschreibungen eine andere Facette zu geben. Der Roman übt Kritik an gängigen Geschlechterbildern, indem er weibliche Lebensentwürfe um 1900 vorstellt, sie auf ihren emanzipatorischen Gehalt hin prüft und die Institution der Ehe kritisiert. Dies soll anhand der vorgestellten Frauentypen im Folgenden untersucht werden.

2.2 Frauenfeindlichkeit und Ehe Graunzer folgt in der selbst postulierten Weiberfeindlichkeit zunächst dem in Annemarie Taegers Studie Die Kunst, Medusa zu töten in der Literatur der Jahrhundertwende herausgearbeiteten und »zum Ideal erhobene[n] männliche[n] Prinzip der heroischen Einsamkeit«148. Er zieht sich auf seinen geerbten Landsitz zurück, vereint das Ideal eines kultivierten Stadtmenschen mit dem Landwesen, verurteilt dabei den »unorganischen Parvenücharakter« Berlins, »diese[r] Stadt des großschnauzigen Talmitums und des schnellfertigen Absprechens« (G22). Graunzer schreibt bereits als Quartaner einen Aufsatz zum »Lobe des Land­ lebens« (G24), so dass er die Gegenüberstellung von Natur und Unverfälschtheit des Landlebens einerseits und Nervosität des städtischen Lebens andererseits schon als schulischen Topos stereotyp verinnerlicht. Graunzer ist zufrieden in seiner Einsamkeit und seiner »erfüllten Landwirtschaftsperspektive« (G25), es fehlt nur noch an »Eigentumsperspektive in die Zukunft« (G26). Der Junker beschließt, trotz seiner konsequenten Ablehnung der Frau, auf Brautschau zu gehen. Seine Eheschließung soll dem Zweck der Erzeugung von Nachkommen 147 Vgl. die Doppelbewegung einer Feminisierung der Literatur der Moderne um 1900 und zugleich einer Festschreibung weiblicher Rollencharaktere in der Analyse von Helduser, Urte  : Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln  ; Weimar  ; Wien 2005. 148 Nitzschke, Bernd  : Männerängste, Männerwünsche. München 1984, S. 27.

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dienen, denn die Institution der Ehe ist in seinen Augen »nunmal keine lyrische Angelegenheit« (G39). Der Entschluss geht einher mit einer psychischen Veränderung Graunzers, er scheint in seinem Geschlechtscharakter zu verweiblichen, denn er »verselt«. Die ersten Selbstzweifel Graunzers an seiner eigenen Frauenfeindlichkeit werden dem Leser ebenfalls nahegelegt, indem eine wichtige Figur zitiert wird, die um die Jahrhundertwende einen äußerst populären Bezugspunkt in Bezug auf Geschlechterfragen und das Widerspruchsverhältnis von Ehe und Liebe darstellt  : Es ist keine Frage, daß ein Etwas in uns rumort, das auf den Umsturz der bestehenden Verhältnisse hintreibt, und das wir in Ermangelung eines bestimmteren Ausdrucks, Sehnsucht nennen […] Es muss etwas faul sein im Staate Graunzer, sonst hätten wir diese bedenkliche Unruhe nicht in unserm Innern  ! (Oha  ! im Gehirnzentrum.) (G31)

Der Identitätsverlust Graunzers wird mit dem intertextuellen Verweis auf Shakespeares Hamlet ironisch überzogen. Der langsame Umsturz des misogynen Weltbildes Graunzers, der im Vergleich zu Dänemark als Witz erscheint, wird begleitet von der Anerkennung eines romantischen Gefühls  : Graunzers Sehnsucht erscheint zugleich als projektive Phantasie, die sich gegen das verhärtete Geschlechterweltbild stellt. Werden beide Frauenfiguren, die Femme fragile und die Femme fatale, entlang der Trennungslinie des Nietzsche’schen Lebenskonzepts des Dionysischen und des Apollinischen entworfen, so spaltet sich in Bierbaums Roman nicht ein überhöhtes Frauenideal in zwei Wunschbilder, sondern die Figur Graunzer löst sich auf in einen analytisch-klaren weiberhassenden Junker und den Dichter Graunzer, der ins Schwärmen gerät und zu »verseln« beginnt. Die Figur Pankrazius Graunzer spielt nicht nur mit Shakespeares Hamlet, sie nimmt eine weitere fiktionale Figur in sich auf, die einem belesenen breiten Publikum 1896 durchaus geläufig ist. Bereits im Namen Pankrazius wird sie gegenwärtig. In der romantischen Erzählung Pankraz, der Schmoller149 gestaltete Gott149 Die Erzählung erscheint als Auftaktnovelle in dem zweiteiligen Novellenband Die Leute von Seldwyla, dessen ersten Band Gottfried Keller 1856 herausgibt. In der kurzen biographischen Notiz Im Spiegel erwähnt Otto Julius Bierbaum 1907 – inzwischen selbst schon eine Person des öffentlichen Lebens – welchen Eindruck es auf ihn als jungen Schriftsteller gemacht hätte, Keller in der »Blauen Fahne« in Zürich selbst kennenzulernen. Gottfried Keller stirbt 1890 in Zürich. Im Text Vita autoris, den Bierbaum 1905 dem Erzählband Das höllische Automobil und andere Erzählungen voranstellt, stellt er die Vorbildwirkung des Realisten ebenfalls heraus  : »Für die größten unter den modernen Dichtern gelten ihm Dostojewski, Nietzsche und Gottfried Keller. Th.Th. Heine ist

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fried Keller vierzig Jahre zuvor innerhalb seines Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla ebenfalls einen misogynen literarischen Charakter, der am Kamin von Mutter und Schwester als heimgekehrter Regimentssoldat seine Abenteuer kundtut. Beide Frauen, müde von den vielen Ausführungen, schlummern während seiner Erzählung ein, so dass in der zitierten Novelle nunmehr allein der fiktive Leser Zeuge wird von zwei Begegnungen des weiberhassenden Keller’schen Pankraz mit dem weiblichen Geschlecht. Befähigt die Lektüre von Shakespeare dabei den Gefreiten Pankraz in Kellers Erzählung überhaupt erst zu Liebe und Schwärmerei, so verkehrt sich dieses Verhältnis für Bierbaums Graunzer  : Erst durch das schwärmerische Gefühl wird Graunzer zum Dichter  : »Die sogenannte Liebe ist wirklich ein gut Narkotikum. Unter Umständen, wie man sieht, vertreibt sie sogar die Wanzen, und rufet die Musen, die Musen herbei.« (G91) Die Erfahrung der Shakespearelektüre ermöglicht es dem Pankraz Keller’scher Prägung noch, einen sentimentalen Emanzipationsweg zu beschreiten. Diese im weitesten Sinne erzieherische Aufgabe scheint der Kunst um die Jahrhundertwende jedoch nicht mehr gegeben zu sein. In Bierbaums Roman beschreitet Pankrazius Graunzer zwar auch einen Entwicklungsweg, der sich für ihn im Sinne einer Geschlechter­ emanzipation aufklärerisch auswirkt, doch hat die Literatur an diesem Erkenntnisprozess keinen Anteil mehr. Vielmehr werden die vorgestellten Lebensentwürfe verschiedener weiblicher Figuren und seine praktischen Erfahrungen im Umgang mit den vorgestellten Idealen eines weiblichen Lebensentwurfs für seinen gesellschaftlichen Entwicklungs- und Integrationsprozess prägend sein. Wenn Pankraz bei Keller seinen Beinamen, der »Schmoller«, deswegen erhält, weil er »von vornherein mit allem Weibervolk« »schmollte und grollte« und es »keines offenkundigen Blickes« würdigte150, so ist der Bierbaum’sche Protagonist Graunzer nicht nur im Namen onomatopoetisch dem Schmoller nachgebildet, ihm ist die Misogynie offen und demonstrativ als Attribut im Nebentitel beigefügt, wenn es heißt  : Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer. Der Romantitel zitiert abermals den etwas antiquiert-biedermeierlichen Ton der Keller’schen Novelle  : Sind doch die »Leutchen« in Pankraz, der Schmoller »höchlich verwundert über seine Meinungen und Taten«151.

ihm lieber als Max Klinger.« (Bierbaum, Otto Julius  : Vita autoris. In  : Ders.: Mit der Kraft. Automobilia. Berlin 1906, S. 337 – 344, hier S. 342). 150 Keller, Gottfried  : Die Leute von Seldwyla. Berlin (Ost)  ; Weimar 1976, S. 37. 151 Keller, Gottfried  : Die Leute von Seldwyla, S. 72.

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Auf fünf Frauentypen trifft Graunzer während seiner »Freiersfahrt«, die mit einer Heiratsanzeige in Berlin beginnt und mehrere Kutsch- und Zugfahrten durch die Provinzen des wilhelminischen Kaiserreichs nach sich zieht. Schon Graunzers Entschluss, eine Annonce aufzugeben, wäre auf einen breiten Widerstand in der konservativen, aber auch sozialdemokratischen Öffentlichkeit gestoßen. Angesichts der sich verbreitenden Mode einer »Geldehe«152 prangerte August Bebel schon 1879 den moralischen Verfall einer Heiratsannoncenkultur an  : Man werfe nur einen Blick in die zahlreichen Heiratsannoncen der größeren bürgerlichen Zeitungen, und man findet oft Ehegesuche, die nur einer total verlotterten Gesinnung entsprungen sein können. Die Straßendirne, die aus bitterer Not ihr Gewerbe betreibt, ist zuweilen ein Ausbund von Anstand und Tugend gegen diese Ehesucher.153

Graunzer macht auf seiner »Brautschau« Station in Dresden, Altenburg und Nürnberg, um schließlich in der Nähe des Ammersees die passende Frau zu finden. Die Stufenklimax der Frauenfiguren erinnert an eine rhetorische Figur erotischer Erfahrung, die seit der Antike die quinque lineae (visus, allocutio, tactus, basium, coitus) beschreibt.154 Bierbaum bettet seinen Roman durch die Anordnung der Erzählung in die Tradition der galanten Literatur und höfischen Minne ein, auch wenn die Stufen in der Durchführung bei Graunzer eine moderne Umarbeitung erfahren. Als Initiationserlebnis für Graunzers grundlegenden Frauenhass ist eine Begegnung mit Ida zu bewerten. Diese Frauenfigur ist dem erotischen Erziehungsweg vorgelagert  : Als Obertertianer verliebt sich Graunzer in seine Mitschülerin, doch heiratet sie ihn nicht. Ida ist »jetzt verehelichte Kunze« (G27) und Graunzers Begehren kehrt sich in eine Vernichtungsphantasie gegen das moralisch in unerreichbare Ferne gerückte Objekt. Nur indem Graunzer die Abweisung durch seinen Weiberhass ersetzt, gelingt es ihm, die kindliche Verlusterfahrung zu verdrängen. Bierbaum gestaltet seine Figuren zu schematisch-plakativ, als dass Graunzer wirklich in einem psychischen Widerspruch gezeigt wird. Andere lite­rarische Bearbeitungen männlicher und weiblicher Subjektverunsicherungen sind zur glei152 Bebel, August  : Die Frau und der Sozialismus (1879). 9. A. Berlin 1946, S. 142. 153 Bebel, August  : Die Frau und der Sozialismus, S. 145. 154 Die mittelalterliche Stufenleiter erotischer Annäherung besteht in den Schritten des sexuellen Begehrens durch das Sehen (visus), durch das Gespräch (allocutio), durch die zufällige Berührung (tactus), durch den Kuss (basium) und den Beischlaf (coitus). Vgl. Schlaffer, Heinz  : Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971, S. 77.

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chen Zeit sehr erfolgreich, wie beispielsweise Frau Marie Grubbe (1876) und Niels Lyhne (1880) des dänischen Schriftstellers Jens Peter Jacobsen oder Effi Briest von Theodor Fontane, die im gleichen Jahr wie Bierbaums Graunzer erscheint. Dennoch setzt die Erzählerfigur bei Bierbaum in ihrer ironisch-distanzierten Haltung das Verfahren literarischer psychologischer Analyse mit modernen technischen Erfindungen wie der »spektakuläre[n] Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895«155 gleich und widmet sich dem Unterfangen, zugleich als Psychologe zu agieren. Die Aufgabe moderner Poetik, die psychischen Konstitutionsbedingungen eines Individuums zu hinterfragen, wird wie eine neue technische Sensation vorgestellt  : »Wenn die Ärzte soweit sind, dass sie den Magen beleuchten können, dann sollten wir Psychologen (wie stolz das klingt  !) doch gefälligst so weit sein und die Seele beleuchten können. Also leuchten wir  !« (G31) Sigmund Freuds und Josef Breuers Auseinandersetzung mit der Psychologie Paul Julius Möbius’ führt schon ein Jahr vor Erscheinen des Pankrazius Graunzer 1895 zu der gemeinsamen Veröffentlichung von Studien über Hysterie. Das Interesse an psychologischen Studien ist allgemein so stark, dass viele pseudowissenschaftliche Ratgeber und Untersuchungen auf den Markt kommen. Bierbaum verschränkt das verstärkte öffentliche Interesse an Tendenzen einer phrenologischen Anthropologie mit der allgemein wachsenden medialen Aufmerksamkeit für psychologische Phänomene und ihre Analyse  : Graunzers Seele wird materiell zu einem »Ding« erklärt, das sich dem Zugang populärer, pseudowissenschaftlicher Erkenntnis aber nur oberflächlich öffnet  : mit »vielen Runzeln« und »viel Staub« (G31). Die Distanznahme lässt Graunzer als komische Figur erscheinen. Der Humor dient der Kompensation sexuell unerfüllter Begehren, so dass Graunzer in Anspielung auf Schopenhauer an seinem Grundsatz festhält  : »Lach auch am Weib vorüber  !« Über die Verbindungen des Witzes zur Psyche des Menschen und seine entlastenden Funktionen durch Verdrängung und Kompensation forscht Sigmund Freud ebenfalls und veröffentlicht seine Studie unter dem Titel Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 1905. Die kaleidoskopisch vorgestellten Frauenfiguren, denen Graunzer in der Bewäl­tigung seiner Erotomanie begegnet, werden im Folgenden skizziert. Die 155 Sehr anschaulich werden die parallelen Entwicklungen in technischen und künstlerischen Bereichen Ende des 19. Jahrhundert dargestellt in Schulze, Sabine / Banz, Claudia / Beiersdorf, Leonie  : Jugendstil. Die große Utopie. Hamburg 2015 (insbesondere das Kapitel »Der Blick ins Innere« [S. 36 – 57]). Der Katalog erschien in Begleitung einer Ausstellung anlässlich der Neueinrichtung der Sammlung Jugendstil im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.

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erste Stufe, visus, setzt ein, als Graunzer eine Antwort auf seine Heiratsannonce in der liberal-konservativen »Vossischen Zeitung« (G43) erhält, die ihn neugierig macht. Der Brief ist nicht wie die anderen parfümiert und er reproduziert keine Liebesfloskeln  ; das Schreiben ist selbstbewusst und formuliert lakonisch eigene Heiratsambitionen. Als Treffpunkt schlägt die Frau mit den Initialen »K.K.« (G46) ein Restaurant in der Berliner Friedrichstraße vor. Dort wird »echtes« Bier gebraut, für Graunzer eine vortreffliche Lokalwahl  : »nicht Josty, nicht Kranzler, sondern Pschorr, kein Zuckerbäcker, kein Kaffee, sondern Bier, und zwar echtes. Das lässt auf eine gewisse sichere und kräftige Art des Entschließens und des Geschmacks schließen« (G47). Das Treffen mit Katharina Kolbe ist die erste Station von Graunzers Brautschau, sie ist das Bild einer emanzipierten Frau aus der Großstadt. Sie entspricht, zumindest dem Brief nach, genau seinen Vorstellungen und hat durch ihre Antwort auch, dem klassischen Modell erotischer Annäherung folgend, sein Interesse geweckt. Sie teilt Graunzers pragmatisch-rationale Ansichten von einer »natürlichen Ehe, nämlich d[er] Ehe ohne Goldpapieremballage« (G39), die bloß ein »physiologischer Kontrakt« (G52) ist. Auch sie zeigt Interesse an Graunzer und mustert ihn »wie einen Kutscher, den sie mieten wollte« (G50). Graunzer hat Respekt vor dem »Frauenzimmer« (G53). Ihn entsetzt jedoch ihr arrogant-kalter Habitus  : Herrgott, Himmel und Paradies  : diese Spezies hätte nicht mal ich für möglich gehalten. Ein Rattenkönig von Hundsnasigkeit, Berechnung, Oberflächlichkeit, Eingebildetheit und – gelinde gesagt – Dummheit und Roheit, und so ’was renommiert mit dem Worte, das Leben und Aufwärtsentwicklung bedeutet  : modern  ! (G53 f.)

Den zweiten, völlig entgegengesetzten Frauentypus lernt Graunzer in Dresden kennen. »Schmidts Mariechen« (G75) wohnt dort bei ihren Eltern und verkörpert für Graunzer den Traum des deutschen Spießbürgers, die »›gute Stube‹ in des Wortsinns furchtbarster Fülle« (G77). Der kühl-berechnende Charakter von Katharina Kolbe wird abgelöst durch die lähmenden Phrasen der »gesprochene[n] Häkeldecken« (G82) Mariechens. Graunzer flieht rasch vor der Marionette weiblicher Sittsamkeit  : [F]reß mich die Pest  : es ist unausstehlich  ! Ich hätte das Mädchen zuweilen anbrüllen mögen  : Natur, zum Donnerwetter, Natur  ! Wozu hast du deinen schön gebauten, gesunden, lebendigen Leib, wenn du hier sitzt wie ein gedrechselter Ölgötz, mit ein bißchen Ziehmechanismus zwischen den Beinen (G82).

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Den dritten prototypischen Frauentypus der Jahrhundertwende stellt der Roman in dem adeligen Fräulein Klothilde von Zurwenken vor. Dem Fräulein begegnet Graunzer auf dem Gut Praxhausen nahe Altenburg. Klothilde malt im neoromantischen Stil, ihre Gemälde zeigen Motive wie »Ritterdame mit einem Falken« (G122). Graunzer vermisst in dem weltabgewandten und aufgesetzten Pinseldilettantismus jede Natürlichkeit und er attestiert der Junkerin »Essig statt Blut in den Adern« (G123). Die identitätsversichernde Funktion historistischer Malerei für den Adelsstand wird in Graunzer aufgegriffen  : »Das gute Dresdner Gänschen mit ihren Häkelgreulichkeiten«, so konstatiert der Junker, »und dieses federnarme Wappenpfauweibchen mit seinen Pinselgreueln, das ist im Grunde dieselbe unvornehme Spezies moderner Weiblichkeit […].« (G122) Bierbaum spielt mit den »Häkelgreulichkeiten« auf die kunstgewerbliche Diskussion um die sogenannten »Hausgreuel«156 an, Schmuck- oder Haushaltgegenstände, die ihre eigentliche Verwendung hinter Zierrat verstecken oder ein anderes Material wie Elfenbein oder Porzellan imitieren. Die Geschmacksbildungsbestrebungen in der Kunstgewerbebewegung werteten diese Surrogate als Erzeugnisse der Kunstindustrie, die weder qualitativ hochwertig noch funktional waren. Doch entgegen dem Streben der Modernen nach einer »Ästhetik des praktischen Lebens«157 sahen viele bürgerliche Haushalte in den Gebrauchsgegenständen nicht Kitsch, sondern vornehme Häuslichkeit vermittelt. Es ist bezeichnend, dass Graunzer die kleinbürgerliche Frau neben die adlige stellt, waren sie doch in der Ausrichtung ihres Kunstgeschmacks ähnlich konservativ-rückständig. Dass sie zusammen »eine unvornehme Spezies« darstellen, unterstreicht den kulturellen Machtverlust des Adels um 1900. In der vierten Frauenfigur ist ein positiver weiblicher Lebensentwurf vorgestellt  : Die Witwe Matthei, »eine geborene Frankebeil« (G146), besucht Graunzer in Nürnberg. In seinen Augen hat sie etwas »Dürerisches an sich, was Unzeitgemäßes« (G140), ihm gefällt das »ausgeglichene, ruhige, bewußte Wesen« (G141). Um die Frau als ebenbürtig an seiner Seite anzuerkennen, muss Graunzer sie als geschlechtslos betrachten und nennt sie »ein[en] tüchtige[n] Kerl« (G143). Im Entschluss, ihr einen Heiratsantrag zu machen, hält er fest  : »Frankebeil verdient es, daß man sie mit einem Männernamen ehrt.« (G143) Sie »baedekerte ein biss156 Vgl. zum Beispiel Avenarius, Ferdinand  : Hausgreuel. In  : Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen – Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben 22 (1908), 2. Novemberheft, S. 209 – 213. 157 Gleichen-Russwurm, Alexander  : Sieg der Freude. Eine Ästhetik des praktischen Lebens. Stuttgart 1909.

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chen zu viel« (G147) über die Nürnberger Kulturgeschichte, was daraus resultiert, dass er selbst vorgibt, etwas zu sein, das er nicht ist. Er stellt sich als Kunsthistoriker vor und simuliert ebenso eine andere Kulturidentität wie die von der Kunstgewerbebewegung kritisierten »Billigprodukte von hoher Täuschungsqualität«158 der Surrogatindustrie. Der Anspruch auf Lebendigkeit und Authentizität bricht zusammen, als Graunzer auf einem Ausflug nach »Mogeldorf« (G146), einem Ort, der den Betrug schon im Namen trägt, um ihre Hand anhält. Die Witwe weist ihn entschieden und mit Humor zurück  : »Sie haben wunderliche Einfälle, sie sollten Operettentexte schreiben« (G149). Selbstbewusst begründet sie ihre Ablehnung  : »Ich möchte ganz gern einfach für eine normale Frau gehalten werden und nicht für was konstruiertes.« (G151) Die Szene spielt auf einem Aussichtsturm, den Graunzer und die Witwe gemeinsam besteigen. Kurz zuvor wägt Graunzer ab, ob er sich nicht besser gleich in die Tiefe stürzen solle aus Schamgefühl über seine eigene Gefühlsäußerung. Die Szene erinnert an eine weitere romantische Vorlage, E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Nathanael unterliegt im Sandmann seiner Selbstsucht, die ihm spiegelbildlich in seinem Frauenideal gegenübertritt, und stürzt sich im Wahn von einem Aussichtsturm. Die Witwe Matthei ist der biedere und gleichzeitig natürliche, emanzipierte Frauentypus, den Graunzer in harmonischer Ergänzung seiner Männlichkeit unterzuordnen ersehnt. Die Verbindung bleibt ihm versagt, weil die Witwe erkennt, dass die Geschlechterbeziehung in Graunzers Vorstellung nicht gleichberechtigt ist. Er würde sie nicht als emanzipierte, »normale« Frau neben sich dulden. Sein Wunschbild einer »richtige[n] deutsche[n] Frau« (G137) wird in seinem Kern als männliche und misogyne Phantasie entlarvt, die nichts mit der Lebendigkeit des Lebensentwurfs der Witwe Matthei verbindet. Die Sehnsucht Graunzers nach einer Lebendigkeit und Natürlichkeit des weiblichen Geschlechts stellt sich selbst als ein konstruiertes männliches Idealbild heraus. Um sich von dieser enttäuschten Liebe abzulenken und das Unterfangen einer Ehe noch in die Tat umsetzen zu können, unternimmt Graunzer schließlich den Versuch einer lyrischen Aneignung von Welt. Das Dichten und die Literatur ersetzen ihm das höhere Ziel eines Glücksversprechens in der Liebe. Die Phantasie ergreift die führende Rolle im Roman und es erscheint – wiederum ganz romantisch – eine nächste weibliche Zwischenfigur in einer eingeschobenen Erzählung, 158 Gabler, Wolfram  : Surrogate. Material-und Technikimitation des 19.  Jahrhunderts. Thiekötter, An­­ge­lika / Siepmann, Eckhard (Hg.)  : Packeis und Pressglas. Von der Kunstgewerbebewegung zum deutschen Werkbund. Gießen 1987 (Werkbund-Archiv  ; 16), S. 115 – 126, hier S. 116.

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die nicht aus Bierbaums oder Graunzers Feder, sondern vom »gräßlichen Scheerbart« (G173) stammt, den Graunzer »nicht umhin kann, für einen Dichter zu halten, obwohl von seinen Phantasien nicht allein die Milch, sondern auch die deutsche Kritik sauer wird« (G173). Paul Scheerbart ist Schriftsteller und Beiträger der Zeitschrift Pan zu der Zeit, als Bierbaum und Julius Meier-Graefe als Redakteure für die Kulturzeitschrift arbeiten. Er »feierte ihre Gründung im Adels- und Salonblatt als kulturelles Jahrhundertereignis«159. Einem größeren Publikum wird er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans nicht bekannt gewesen sein, aber er zählt ebenfalls wie Bierbaum zu den Modernen. Die Figur Loscha, die in Bierbaums Roman auftritt, ist »die stille Priesterin« (G175) aus dem gleichnamigen Kapitel von Scheerbarts erst zwei Jahre später, 1898, erscheinendem Werk Na Prost  ! Phantastischer Königsroman. Paul Scheerbart selbst tritt in dem Graunzer zugeschickten Gedicht »Loscha« als eingeschobene, angerufene Erzählinstanz auf und der Autor wird fiktionalisiert. Die Figur Graunzer wird im selben Augenblick verlebendigt, denn sie verschmilzt mit der Autoreninstanz Bierbaum, der das Gedicht »Loscha« von dem Phantasten Scheerbart zugeschickt wird.160 Die Illusion von einer multiplen Romanautorschaft adoptiert ein romantisches Erzählverfahren, das in vielen poetischen Experimenten um die Jahrhundertwende wiederbelebt wird. Bierbaum nimmt 1909 an einem dieser Experimente teil, als der Berliner Verleger Konrad W. Mecklenburg unterschiedliche Autoren versammelt, kapitelweise einen gemeinsamen Roman der Zwölf (1909) zu verfassen. Thomas Mann lehnt das Angebot dankend ab, »der Scherz wird gelingen«.161 159 Rausch, Mechthild  : Von Danzig ins Weltall. Paul Scheerbarts Anfangsjahre (1863 – 1895). Mit einer Auswahl aus Paul Scheerbarts Lokalreportagen für den Danziger Courier (1890). München 1997, S. 177. 160 Paul Scheerbart bildet diese Figur der Malerin Anna Costenable nach, schreibt Mechthild Rausch, »[e]r feierte sie als seine geheime Wahrheitspriesterin«. Das selbstreferentielle Zitatspiel mit biographischen Andeutungen und Schlüsselfiguren setzt Bierbaum in seinem Werk fort. Paul Scheerbarts Erzählung Loscha geht später ein in den von ihm 1898 veröffentlichten Roman Na Prost  ! Phantastischer Königsroman. Dort wird das Kapitel im Untertitel eine »Resignationsphantasie« genannt. Wie genau der Text den Weg in Bierbaums Roman gefunden hat, ist nicht erforscht. Bierbaum muss den Untertitel des bis dahin unveröffentlichten Kapitels aber schon gekannt haben, denn bei ihm »resigniert« (G178) das »milchgläserne Mädchen« (G178) in Graunzers Augen auf ihrem Turm weiter fort. 161 Zitiert nach Estermann, Alfred  : »Gemeinschaftliches Arbeiten« – ein »mißliches Ding  ?« Über den »Roman der Zwölf« und andere Koproduktionen. In  : ders. (Hg.)  : Der Roman der Zwölf. Von Hermann Bahr, Otto Julius Bierbaum, Otto Ernst, Herbert Eulenberg, Hanns Heinz Ewers, Gustav Falke, Georg Hirschfeld, Felix Hollaender, Gustav Meyrink, Gabriele Reuter, Olga Wohlbrück, Ernst von Wolzogen. Ein literarischer Scherz aus dem Jahre 1909. Frankfurt / M.; Leipzig 1992, S. 9 – 33, hier S. 12.

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In Pankrazius Graunzer entschlüsselt die Loscha-Erzählung als ­romantischer Einschub auf einer Metaebene den widersprüchlichen Kern des ­Liebesbegehrens Graunzers und offenbart in romantischer Weise poetische Erkenntnis. Für Graunzer wandelt sich die ernüchternde Episode auf dem Aussichtsturm in Scheerbarts Phantasie in eine der Natur enthobene Szenerie von kristalliner Allmachtsarchitektur aus Milchglas, in der Loscha über zwei den Glaspalast umschlingende Wasserflüsse herrscht  : das »blutrote Wasser« (G175), das »wildschäumend« (G178) die sehnsüchtigen und erotischen Wünsche der Menschen verkörpert, und das weite »dunkelgrüne Meer« (G175), das die Wogen des Vergessens und des Todes mit sich trägt. Loschas Reich ist diesen widerstreitenden Wasserkräften enthoben und wirkt elysisch erfüllt durch den Klang der »Posaunen von Märchenengel[n]« (G176). Ihre Welt durchdringt sie mit Hilfe synästhetischer Erfahrungen, für Loscha spielen Farben und Töne, ästhetische Kategorien, eine tragende Erkenntnisrolle. Der phantastischen Frauenfigur ist der Glanz der »silberne[n] Sonne« zugeordnet wie das Kristalline und Durchscheinende der »Dachterassen der Milchglaspaläste« (G176). Ein fremder junger Mann, der »Schwärmer« (G176) Longulano, wirbt sehnsüchtig um Loscha und bittet sie, ihn zu heiraten. Sie lehnt – wie zuvor die Witwe Matthei – sein Begehren ab und verweist auf die Vergänglichkeit seiner Schwärmerei und die Gleichgültigkeit seines Glücksstrebens. Als nihilistische Figur der Auflösung seines Begehrens bildet Loscha eine paradoxe Allegorie  : Sie ist einerseits »die stille Priesterin« der Erkenntnis und der Liebe, andererseits weist sie Longulanos Heiratsantrag und seinen Wunsch nach Liebe und Vereinigung ab. Die beiden Wasserströme, die Loscha umgeben – der rote der Begierde und der grüne des Vergessens –, sind motivisch an Schopenhauers Philosophie des Widerstreits von Eros und Thanathos angelehnt. Die romantische Phantasie Scheerbarts entschleunigt in der Lichtgestalt Loschas den Heroismus des begehrenden Longulano, der den Inbegriff eines Tatmenschen vorstellt, wie er für die Nietzscherezeption in der Kunst und der Literatur des Fin de Siècle in mythischer Überhöhung virulent wird. Ist die Figur des Tatmenschen für Bierbaums Werk nicht stilprägend, so ist die lebensmythische Figur der Überwindung des Widerstreits von Eros und Thanatos in der Aneignung des Nietzsche’schen Modells des Übermenschen in vielen Werken um 1900 präsent, beispielsweise bei Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann oder in der Philosophie von Lebensreformern wie Fidus, Ferdinand Avenarius und Gustav Wyneken.162 162 Zur Nietzsche-Begeisterung um die Jahrhundertwende vgl. Schneider, Manfred  : Zarathustra-­ Sätze. Zarathustra-Gefühle. Nietzsche und die Jugendbewegung. In  : Buchholz, Kai u. a. (Hg.)  :

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Wenn Pankrazius Graunzer ausgerechnet durch den poetischen Erkenntnisgewinn von Scheerbarts durchgeistigter und reflektierter Frauenfigur wie von einem »Donnerschlag« (G178) erweckt wird und seinen Weiberhass überwindet, dann zeigt der Roman den Einfluss, den Nietzsches Denkfiguren auch für die Emanzipation von patriarchalen Denkstrukturen darstellt. Viele Feministinnen der Jahrhundertwende, so unter anderen Helene Stöcker163 und Hedwig Dohm164 (Abb. 14), kämpfen gegen die »Enteignung des weiblichen Körpers durch die entfremdete Sexualmoral«165 und machen sich Nietzsches »Kritik an der asketischen, lebensverneinenden Kultur«166 der Wilhelminischen Epoche zunutze. Die Nähe der misogyn gezeichneten Graunzer-Figur zur emanzipierten Frauenbewegung zeigen die Widmungen von zwei Gedichten aus Bierbaums Sammlung Irrgarten der Liebe (1900). Unter der Überschrift »Zwei Graunzer-Widmungen« sind die Verse explizit an zwei Frauen, »An Frau Malgonia Stern«, eine ausstellende Künstlerin der Berliner Secession167, und »An Fräulein Rosa Stiegler« gerichtet. In Bierbaums Roman setzt der antipatriarchale Erkenntnisprozess Graunzers mit der Lektion von Loscha ein  : »Aber recht hat sie doch, die gute Loscha. Nur glaub’ ich nicht recht an dieses milchgläserne Mädchen, denn der Weiber Art ist es gar nicht, resigniert auf einem Turm zu sitzen und stürmische Longulanos abzuweisen« (G178).

Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Bd. 1. Darmstadt 2001, S. 169 – 178. Ebenso den Aufsatz von Ulrich Linse (Nietzsches Lebensphilosophie und die Lebensreform, S. 165 – 168) im selben Band. 163 Helene Stöcker veröffentlicht 1906 ihre von Nietzsche beeinflusste Schrift Die Liebe und die Frauen mit großem Erfolg (vgl. Stöcker, Helene  : Die Liebe und die Frauen. Ein Manifest der Emanzipation von Frau und Mann im deutschen Kaiserreich. Minden 1906). 164 Hedwig Dohm entlarvt den misogynen Diskurs des von Nietzsche geprägten Sozialdarwinismus vieler populärwissenschaftlicher Schriften um die Jahrhundertwende in ihrer Kampfschrift Die Antifeministen. Vier Unterkategorien der Antifeministen nimmt sie jeweils einzeln in die Kritik  : die Altgläubigen, die Herrenrechtler, die praktischen Egoisten und die »Ritter der mater dolorosa (Unterabteilung  : die Jeremiasse, die auf dem Grabe der Weiblichkeit schluchzen)« (vgl. Dohm, Hedwig  : Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung. Berlin 1902). 165 Roebling, Irmgard  : Schreibende Frauen. In  : Haupt, Sabine / Würffel, Stefan Bodo (Hg.)  : Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart 2008, S. 238 – 255, hier S. 245. 166 Roebling, Irmgard  : Schreibende Frauen, S. 245. 167 An Malgonia Stern (1871 – 1914 Suizid / Berlin) richtet sich auch der zehnte Brief in Bierbaums Automobil-Roman (vgl. Bierbaum, Otto Julius  : Eine empfindsame Reise im Automobil. Von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein. In Briefen an Freunde geschrieben. Mit 20 Originalphotographien der Erstausgabe und einem Nachwort von Erhard Göpel. München  ; Wien 1979, S. 131).

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14  Einband von H. Dohm: Die Antifeministen (1902).

In der Folge aber verweben sich die Wahrnehmungen der Geschlechter bei Graunzer zunehmend, er sieht in dem Mann die Fratze des Weibischen und in dem Weib etwas Mannhaftes und in der »Welt der vertauschten Geschlechter« schließlich fällt es ihm auf einem dörflichen »Schützenfest« (G180) bei Andechs nicht schwer, sich in eine Frau, die ihm zuvor bereits aufgefallen war und der er einen »rechtschaffenen Longulano« (G178) gewünscht hätte, selbst zu verlieben. Zum ersten Mal während seiner »Brautschau« begibt sich die Figur in eine passive Rolle gegenüber einer Frau und unterwirft sich ihr. Er trifft die fünfte Frauenfigur, Brigitte, am bayrischen Ammersee. Seine lyrischen Aufzeichnungen werden zu der Zeit so umfangreich, dass Graunzer ein eigenes Notizheft bei sich führt. Er nennt es das »Gerschle-Pepi-Buch«. Darin schreibt er über seine erste Begegnung  : »Ich habe sogar getanzt. Was  ? Jawohl  : mit Brigitten  ! Aber richtiger wäre zu sagen, sie hat mit mir getanzt. Ich wurde gewissermaßen getanzt.« (G180) Brigitte ist die Frauenfigur, die für Graunzer die authentische Natürlichkeit verkörpert, die die zuvor präsentierten Biographien weiblicher Subjektivität aus seiner Perspektive entbehrten. Da Graunzer die Natürlichkeit Brigittes mit der des Minnesängers Walther von der Vogelweide vergleicht, erscheint seine Projektion des naturhaften Wesens von Brigitte in einem schablonenhaften Licht.

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Graunzers eigene triviale Liebesschwüre loben das instinkthafte und lebendige Wesen Brigittes, das ihn verführt. Graunzer fühlt sich in der Gegenwart Brigittes »supranaturalistisch« (G201), also übernatürlich wohl, auch wenn die Herkunft Brigittes ganz unjunkerhaft anmutet  : Ein gräßliches Gemengsel aus den verschiedensten Unkulturen. Zuerst eine halb dämonische Alte  : die Mutter. Dann eine kleine verfettete und verdollarte Amerikanerin  : die Schwägerin. Dann ein teils roher, teils perfider Bursche  : der Mann dieser Yankeese, der Bruder. Schließlich eine jüngere Schwester – ganz nett, aber gewöhnlich. (G192)

Graunzers Traum von einer ursprünglichen Natürlichkeit erfüllt sich ausgerechnet in der Familie, die im antiamerikanischen Ressentiment vieler Familienblätter und der wilhelminischen Presselandschaft mit kultureller und moralischer Degeneriertheit und gelebter Unkultur schlechthin identifiziert wurde. Auch die Poetik des Naturalismus sieht in der darwinistischen Vererbungslehre ein Begründungsmotiv dramatischer Prädestinationsfiguren. Bierbaum wendet sich gegen diese Form der Dramatik168 genauso wie gegen die simplifizierenden Begründungszusammenhänge, wie sie in den Familienromanen konstruiert werden, wenn er Brigitte in dem Kontext ihrer amerikanischen Familie als Figur erscheinen lässt, die für Graunzer »eine unverbildete, aber begabte Natur« (G188) verkörpert  : Sonderbar nicht wahr  ? Die brave Vererbungstheorie, so plausibel sie ist, scheint ganz so einfach, wie sie von fingerfertigen Problemdramatikern behandelt wird, doch nicht zu sein. Auch hier beliebt Madame Natur, hinter die die Vielzufixen noch nicht gekommen sind. (G192)

Bierbaum parodiert an dieser Stelle den hohen Stellenwert, den die Vererbungslehre in der naturalistischen Kunstauffassung hatte. Das Ideal einer möglichst präzisen unverstellten Wiedergabe der Natur prägt das naturalistische Drama, doch Bierbaums Analyse geht darüber hinaus und der Roman legt den ideologischen und sozialen Kern der natürlich erscheinenden Lebensrealitäten offen. Graunzer hinterfragt als schelmische Figur die gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturellen Voraussetzungen, die zur Ausformung der verschiedenen weib168 Zum Zusammenhang von Prädestinationslehre und Geschlechtersemantik vgl. Igl, Natalia  : Geschlechtersemantik 1800/1900  : Zur literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise im Naturalismus. Göttingen 2014 (Palaestra  ; 340).

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lichen Lebensentwürfe führen. Gleichzeitig entlarvt er den identitär besetzten und künstlich aufgesetzten Habitus einzelner Frauenideale. Das schelmenhafte Erzählprinzip Bierbaums funktioniert also auch in die andere Richtung und trifft die ideologische Form der Lebensentwürfe  : Hält das naturalistische Kunstideal daran fest, die sozialen Lebensverhältnisse möglichst nah und unverstellt literarisch zu fassen, reproduziert es nichts anderes als ein realistisches Bild des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der Menschen, wie die von Katharina Kolbe, Mariechen, Fräulein Zurwenken in Graunzers Roman, Figuren, die sich selbst unnatürlich und künstlich zur Welt verhalten. Der Wunsch Graunzers, einer natürlichen Frau gegenüberzutreten, scheitert an den Idealen und den vorbildlichen Lebenswegmodellen der realen Frauen. So bleibt Graunzer im Roman eine misogyne Figur. Für Graunzer sind beide, das kleinbürgerliche wie das emanzipierte Frauen­ ideal, Pole eines künstlich überhöhten Lebensentwurfs, der sich rechtfertigen muss aufgrund fehlender Authentizität und Inkorporierung schichtspezifischer sozialer Rollenverteilung der Geschlechter  : Das kleinbürgerliche Geschlechter­ ideal ist geprägt von biedermeierlicher Sittsamkeit und missversteht den sozialen Aufstieg durch eine »gute Partie« als Emanzipationsversprechen für die Frau. Als kultureller Habitus wirkt dieses bürgerliche Glücksversprechen der Ehe in populären Frauenromanen169 ebenso wie in der künstlichen und sittsamen Höflichkeitsetikette und »gehäkelten Lebensführung« (G84) der Dresdnerin Marie. Die standardisierten Umgangs- und Höflichkeitsfloskeln der verstädterten Rohheit und die emanzipierte und dynamisch-aktivere Lebensweise der biertrinkenden Katharina Kolbe sind von der gleichen hohlen Identitätsphrase geleitet. Gleichzeitig enthüllt sich auch Graunzers Ideal in der Bewertung der unterschiedlichen weiblichen Existenzentwürfe  : Widmet sich der Junker im Roman der Frauenfrage, wird er geleitet von seiner Wunschvorstellung eines gelunge169 Neben den Frauenfiguren der Eugenie Marlitt folgen auch viele der Erfolgsromane von Hedwig Courts-Mahler dem Muster weiblicher Emanzipation in der Form einer bürgerlichen, moralischen Sittsamkeitserziehung. Die Frauenfiguren in Courts-Mahlers Romanen sind dabei durchaus von Selbstbewusstsein geprägt und begegnen ihrem Alltag in Ehe und Beruf mitunter auch mit einer den Geschlechterrollen entgegengesetzten rationalen Klugheit. Dennoch ist ihr Weg der Befreiung aus dichotomen Geschlechterzuschreibungen geprägt, die zementiert werden durch die Normen und das Vertrauen in die Institution der Ehe und eine durch sie stabilisierte idealisierte Geschlechter-Harmonie. Der Ehe kritisch gegenüber stehen Autorinnen wie Gabriele Reuter, Fanny Lewald, Clara Viebig und Franziska zu Reventlow. Zur Kritik an der Ehe und den bürgerlichen Normvorstellungen von Sexualität und Liebe sowie einer gelebten Doppelmoral um 1900 vgl. den Sammelband von Scheuer, Helmut / Grisko, Michael  : Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900. Kassel 1999 (Intervalle  ; 3).

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nen emanzipierten weiblichen Lebensentwurfs, der dem Vorbild natürlicher Ursprünglichkeit folgt, wie sie in der Lebensführung und den Träumen der romantischen Liebesidee entwickelt wurde. Dabei werden den vorgestellten fünf verschiedenen und einander widerstrebenden Entwürfen populärer Frauenideale um die Jahrhundertwende zusätzlich noch zwei männliche Frauen-Phantasien im Roman beigeordnet, denen Graunzer in zwei onirischen Einzelepisoden begegnet. Im Traum begegnet er zunächst Karoline, einer Lokomotive, und im Anschluss trifft er in einer Tagphantasie im Dresdner Zwinger auf Adelheid, einen Fisch. Während der Zugfahrt nach Dresden widmet Graunzer der Dampflock des Zugs, die den Namen Karoline trägt, eine Ode. Bezwungen erscheint die Frau in Graunzers Technikphantasie  : Hochverehrte Karoline  ! Ratta-huschta  ! Ratta-huschta  ! Schienklirrende Maschine  ! Ratta-huschta  ! Ratta-huschta  ! Raßle, rase Deine Straße, Schnaube Dampf aus deiner Nase, Friß dir Feuer in den Wanst, Renne, renne, was du kannst. Sieh, wie schön zu beiden Seiten Feld und Wald sich drehn und gleiten, Und die stille Heide tanzt. Ratta-huschta  ! Ratta-huschta  ! Den Galopp den mag ich leiden  ! Ah  ! wie deines Dampfes graue Fahne, allerliebste Fraue, Über unserm Sause weht  ! Schön  ! Schön  ! Schön  ! Und schneller immer  ! Oh du gutes Frauenzimmer Vorwärts  ! Vorwärts  ! Fortgedreht  ! Ratta-huschta  ! Ratta-huschta  ! (G56)

Im Zug, den die Dampflok Karoline in Bewegung setzt, sitzt Graunzer und verarbeitet die Begegnung mit der dominanten und emanzipierten Katharina Kolbe. Die Geschwindigkeit der Fahrt macht Graunzer die Natur zu einem ästhetischen

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Ereignis (»wie schön zu beiden Seiten«) und gleichzeitig befriedigt ihn die erotische Phantasie einer gelenkten, bezähmten Energie. In Karoline erlebt Graunzer die Synthese einer vitalistischen Technik, die Natur erlebbar macht und die er als Fahrgast und Dichter zu beherrschen glaubt, wenn er onomatopoetisch das Geräusch des Stangen- oder Kolbenantriebs imitiert. Die semantische Nähe von Katharina zu Karoline und der Nachname Kolbe legen nahe, das Gedicht als Verarbeitung einer egomanischen Identitätskrise zu lesen, die durch die Begegnung mit Katharina Kolbe einsetzt, die als eine Femme fatale fungiert und Graunzer in seiner männlichen Existenz bedroht. In dem barocken Ambiente des Nymphenbads im Dresdner Zwinger trifft Graunzer in einem Tagtraum auf die zweite wichtige männliche Frauenphantasie  : Es ist Prinzessin Fisch mit dem sprechenden Namen Adelheid. Noch bevor eine erotische Begegnung mit ihr im Wasser der Brunnenarchitektur gelingen kann, wandelt sich der erotische Traum in einen Albtraum und Graunzer erwacht. Das Bild der Fische wird im Roman an späterer Stelle wieder aufgerufen, in der ersten Liebeserfahrung mit Brigitte, die den Erfüllungs- und Kulminationspunkt der Liebesreise Graunzers und die fünfte Stufe der quinque lineae bildet  : »[…] und, wie es in dem alten chinesischen Roman vom schönen Mädchen von Pao heißt  : ›Die Freude der Fische im Wasser zu schildern, ist überflüssig.‹« (G212) In Bierbaums 1899 veröffentlichter Romanadaption Das schöne Mädchen von Pao, die sich einer weiblichen Emanzipationsgeschichte widmet, heißt es dann wortwörtlich  : »Oh, das Glück der Fische im Wasser, wie die alten Dichter sagen  !«170 Das Ideal der vereinigten Fische unterläuft das lebensweltlich-metaphysisch aufgeladene schopenhauerische Liebes-Modell, in dem die Wogen der erotischen Lebensenergien den mahnenden Wellen der Vergänglichkeit und des Todes trotzen. Diese Landschaft hatte noch die Priesterin Loscha unter sich. Die Fische, die sich im Wasser bewegen, spiegeln ein harmonisches Liebesmodell, das in der Verflüssigung eine vermittelnde Position beider sich widersprechender Prinzi170 Bierbaum, Otto Julius  : Das schöne Mädchen von Pao. Berlin 1899. Eine illustrierte Prachtausgabe mit sieben Tafeln mit erotischen Zeichnungen des Wiener Illustrators Franz von Bayros und einem Buchschmuck von Paul Renner wird von Bierbaum lange vorbereitet und erscheint in seinem Todesjahr 1910 mit vielen pragmatischen und produktionstechnischen Einschränkungen, wie der Briefwechsel zwischen Bierbaum und seinem Verleger Georg Müller belegt. Die bibliophile Ausstattung der 600 nummerierten Exemplare ist enorm aufwendig  : Der Band erscheint in einem blauen Original-Maroquinband gebunden mit aufwendiger Goldprägung auf dem Rücken und den Deckeln. Das Buch wird in einem breitrandigen Pressedruckverfahren hergestellt und auf unbeschnittenem, chamoisfarbenem Bütten in der Offizin von Johanna Enschede en Zonen in Haarlem gedruckt.

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pien sucht. Brigitte hält als Versöhnungsfigur gleichzeitig alle Fähigkeiten und Ideale bereit, in denen Graunzer sich in seiner Suche nach der idealen Ergänzung seiner Natur wiederfinden kann  : Sie ist nicht »verbildet«, in ihrer Bewegung und ihrem Denken absolut »natürlich« und sie kommt – nach Graunzers langer Suche, die sich von ihrem Ausgangsort, der Großstadt Berlin, immer weiter entfernte – aus einem bayrischen Dorf, vom Land. Das von ihr bediente romantische Frauenideal und das Frauenideal der Jahrhundertwende sind dabei in ihrer Ausrichtung Ergänzungsphantasien zum Mann. Wenn der Roman emanzipatorische Ansätze der Frau vorstellt, begründet dennoch Graunzers misogyner Blick auf die Frau, was idealerweise als besonders weiblich zu gelten hat. Der männliche Blick prägt schon das nachromantische Bild der Frau in Gottfried Kellers Erzählung, er bleibt bestimmend in den biedermeierlich stereotypen Frauenbildern der populären Familienblätter und prägt schichtübergreifend das Rollenverständnis sowohl konservativer Monarchisten als auch des Mittelstands, der Kleinbürger und weiter Teile der Arbeiterschaft im deutschen Kaiserreich. Während sich Marlitts Zeitungsromane häufig im aristokratischen Milieu abspielen, porträtiert der Erfolgsautor Julius Stinde vor allem das kleinstädtische Milieu (Abb. 15). In der Vorrede zum ersten Band der Familie Buchholz (1884) hebt er sich von den Erfolgsromanen Eugenie Marlitts ab  : Wem die Schilderung des kleinbürgerlichen Lebens der Reichshauptstadt nicht gefällt, dem bleibt es unbenommen, sich einen Roman zu kaufen, in denen [sic  !] Grafen und Comtessen gebildete Conversation führen. Wen es aber interessirt, zu erfahren, wie sich intimes Familienleben in der Einsamkeit der großen Stadt gestaltet, der wird an den Sorgen und den Freuden der Frau Wilhelmine Antheil nehmen und ihre Briefe als Skizzen aus dem Leben der Hauptstadt betrachten, die nicht blos aus Asphaltstraßen und langen Häuserreihen besteht, sondern aus vielen, vielen Heimstätten, deren Thüren dem Fremden verschlossen bleiben.171

Stindes Romane sind bei der Veröffentlichung des Graunzer ähnlich wie die Romane von Marlitt einem breiten Publikum bekannt. Beide speisen sich, auch wenn sie zum Teil emanzipatorische weibliche Lebensläufe beschreiben, aus einem ähnlichen Kanon weiblicher Klischeebilder wie die Fortsetzungsromane der Familienblätter. Julius Stindes bekannteste Figur ist Protagonistin einer ganzen Romanreihe und heißt Frau Buchholz. Die Figur urteilt über gesellschaftliche, politische und allgemein menschliche Fragen stets mit dem gesunden Menschen171 Stinde, Julius  : Die Familie Buchholz. Aus dem Leben der Hauptstadt. Berlin 1884, S. 10.

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15  Einband von J. Stinde: Buchholzen’s in Italien, 28. Auflage (1885).

verstand eines »für seine Zeit geltenden Durchschnittstyp[s] der kleinbürgerlichen Berlinerin«172. Ihre Wahrnehmung der Welt ist geprägt von pragmatischen Überlegungen und der Notwendigkeit gewisser ökonomischer Einschränkungen, wie sie für das städtische Kleinbürgertum typisch sind. Ihre Lebensweisheiten auf Stammtischniveau argumentieren ähnlich wie die vorauseilend die Sympathie des Lesers suchenden literarischen Erzählstrategien der Trivialromane. Das vorgestellte weibliche Geschlechterbild der Wilhelmine Buchholz prägt die Lesegewohnheiten einer breiten Masse, es unterwirft sich aus weiblicher Perspektive mit Humor dem klassischen Rollenmodell  : Zum Glück kenne ich das Seelenleben meines Mannes einigermaßen, wenn es auch nicht ganz frei von Schlupfwinkeln ist, und warte die günstigste Gelegenheit ab, ihm Wünsche zur Genehmigung vorzulegen. Natürlich darf er noch nicht im Kontor gewe-

172 Decker, Hubert  : Nachwort. In  : Stinde, Julius  : Die Familie Buchholz. Aus dem Leben der Hauptstadt. Berlin (Ost) 1967, S. 259 – 262, hier S. 262.

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sen sein, wo der brieflich angelangte Verdruß sein ganzes Interesse in Anspruch nimmt, und ebensowenig darf eine ungeruhsame Nacht vorhergegangen sein.173

Bierbaum spielt mit den »physiognomische[n] Deutungen, wie sie E. John-Marlitt einsetzt«174, adaptiert den rhetorischen Stil der Familienblätter und übernimmt deren ganzes ideologisches Arsenal, »[d]ie Bandbreite reicht von Physiognomik, Menschentypen, Geschlechterrolle der Frau, Vererbung bis zu biologischen Implikationen sozialer Gruppenzugehörigkeit.«175 Auch Graunzer ist in seinem Selbstbild und seinem Anspruch auf Natürlichkeit geprägt von Klischeebildern, wie sie die Familienblätter arrangieren. Er wird jedoch ein Opfer dessen, was er selbst auf Brigitte projiziert. Neben der Idealgestalt natürlicher Weiblichkeit Brigittes vermag es Graunzer nur noch, sich in eine diesem Ideal unterlegene komische Apparatur zu verwandeln  : In seiner eigenen Phantasie wandelt er sich in ein mechanisches, unkonzentriertes und Unsinn kritzelndes Marionetten-Männlein. Die kurzzeitige Transformation in eine Kasperlefigur markiert den Erosionsprozess von Graunzers Identität einer durch das Korpswesen des 19. Jahrhunderts gefestigten Männlichkeit  : ich, Kaschperle, Kapaschperle  ! Hui, wie ich schön steif gehen kann und mit den Beinen säbeln und mit den Armen dreschflegeln und dabei die Nase, die feuerrote, zum Fenster gerichtet, zum Fenster, aus dem das Bändel hängt, an dem ich hänge (G185)

Die Präfiguration der späteren Abenteuerfigur Zäpfel Kern / Pinocchio176 lässt Graunzer als instabilen und unfreien Charakter erscheinen, der seiner Weiberfeindlichkeit verlustig geht und so in der Lage ist, auch in Anwendung seiner lyrischen Fähigkeiten seine Gefühle zu artikulieren. Graunzer ist Junker, so dass ihm in Bierbaums klischeehafter Anlage der Charaktere eine ästhetische Aneignung von Welt versagt ist, doch ersetzt er im Verlauf seiner Suche nach einer ver173 Stinde, Julius  : Frau Wilhelmine Buchholz. Aus dem Leben der Hauptstadt. Berlin (Ost) 1988, S. 5. 174 Barsch, Achim  : Massenmediale Unterhaltungsliteratur und soziale Wirklichkeitskonstruktion  : Zum Menschenbild in der Gartenlaube am Beispiel der Romane von E. Marlitt. In  : Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von menschlicher Natur (1850 – 1914). Hg. v. Achim Barsch und Peter M. Hejl. Frankfurt / M. 2000, S. 376 – 422, hier S. 407. 175 Barsch, Achim  : Massenmediale Unterhaltungsliteratur und soziale Wirklichkeitskonstruktion, S. 398. 176 Die Übersetzung des Pinocchio besorgt Bierbaum erst 1904. Möglicherweise kennt er das italienische Original aus dem Jahr 1883 aber bereits schon zur Entstehungszeit des Pankrazius Graunzer.

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meintlich von Vernunft gelenkten geschlechtlichen Partnerschaft seine habituelle Misogynie durch eine pragmatische Lebenslust, die in der gemeinsamen Flucht mit Brigitte und einem abenteuerlichen Identitätsspiel endet. Zu Beginn des Romans ist die Liebe in Graunzers gefühlskalter und analytischer Versuchsanordnung der Ehe zur Zeugung der Nachkommenschaft ausgeklammert. Die Ehe als Ort sexueller Erfahrung ist ebenfalls zu Beginn des Romans mit Scham und Unsicherheit besetzt, wenn Graunzer in seinen Briefen von dem »Rührei von Mann und Weib« (G39) schreibt. Der Emanzipationsweg, den der Junker als literarischer Produzent in seiner geschlechtlichen Identität beschreitet, berührt auch sein Frauenbild und sein Verhältnis zur Ehe. Katharina Kolbe wird zu Beginn des Romans deshalb Graunzers Favoritin, weil ihr Brief in der forschen Etikette, in seinem dominanten Umgangston und der richtigen Lokalwahl gänzlich unweiblich verfasst ist. Doch schreckt diese Künstlichkeit und Berechenbarkeit der Attitüde eines emanzipierten, modernen weiblichen Lebensentwurfs ab, so wider­streben Graunzer doch auch sittsamere Modelle weiblicher Identität. In der Witwe Matthei sieht Graunzer ebenfalls »ein Weib, das den übrigen möglichst wenig ähnlich ist« (G141), und er bittet sie genau aus diesem Grund erfolglos, ihn zu heiraten. Die Natürlichkeit Brigittes, der modernen jungen Frau, die ihm zwar intellektuell unterlegen, aber selbstbestimmt und unabhängig gegenübertritt, nimmt ihn schließlich auf dem Land für sie ein. Der Leser erfährt von der sich anbahnenden Beziehung jedoch vor allem durch die in Briefen von Graunzer rekapitulierten Reise- und Abenteuergeschichten. Die Aufwartung bei Brigittes Mutter misslingt. Die Mutter rät von einer Verbindung ab, weil Brigitte zu jung und unerfahren sei. In der Postkutsche fliehen beide heimlich unter dem falschen Namen des Freundes über Landsberg nach Augsburg und schließlich bis nach London, um dort beim Standesamt vorstellig zu werden. Die Bildungshierarchie bleibt ungebrochen  : Brigitte lernt von Graunzer die englischen Worte, um der fremdsprachigen Zeremonie folgen zu können, doch wird der Institution der Ehe mit einem pragmatischen Eifer begegnet, der bürgerlichen Umgangsformen spottet und von Respektlosigkeit geprägt ist  : Der Portier des Londoner Standesamtes stellt den Trauzeugen und der juristische Akt ist in kürzester Prozedur vollzogen.177 177 Otto Julius Bierbaum heiratet am 16.8.1892 seine erste Frau Augusta (Gusti) Rathgeber ebenfalls in London (vgl.: Royer, Jean  : Detlev von Liliencron Briefwechsel 1884 – 1909. Detlev von Liliencron und Theobald Nöthig. Bd. II  : Anmerkungen. Herzberg 1986, S. 314). Biographisch widmet sich Thomas Raff der Bekanntschaft von Otto Julius Bierbaum und Gusti Rathgeber. Bierbaum lernt Rathgeber im Sommer 1891 in Dießen am Ammersee kennen. Die Ehe hält bis zur Scheidung am 18.12.1899. Siehe Raff, Thomas  : »Ju und Gu«. Otto Julius Bierbaum und seine erste Frau

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Zur Komik der Szene tragen die eingeübten englischen Sprachhülsen und die peinliche Suche nach den »unseligen Ringe[n]« (G226) bei. Die vernunftgelenkte Entscheidung für eine moderne Ehe wird vor dem englischem Staat vollzogen und mutet wenig kaisertreu an. Dabei ändert Graunzer sein Urteil über die wilde Ehe nicht, aber er unterstützt im Gespräch mit seinen Angestellten auf dem Kiebitzhof, Hansjörg und Christine, die moralisch nicht weniger indiskutable heimliche Ehe  : eine[r] wilde[n] Ehe, ein bloßes Multiplicaminiverhältnis, das geht in der Stadt, das geht bei Literaten, Künstlern und anderen Anarchisten, aber auf dem Lande, nein, da gehts nicht, – wenigstens doch nicht so offiziell coram Hansjörg und Christiane  ! Abgelehnt  ! Wir bleiben bei der Stange der Moral. (G126)

Die Zeugung von Nachkommenschaft, die ironischerweise nicht männlich ausfällt, wird verbunden mit einer romantischen Flucht vor bürgerlicher Etikette und einer Profanierung der Institution der Ehe. Die Trauung wird zum englischen Verwaltungsakt und dient als bloß zu bewerkstelligende und formale Zeremonie dem Ziel, den gesellschaftlich angesehenen Status der beiden »Graunzers, Gutsbesitzerseheleute« (G227), zu erlangen. England wird für Graunzer der Ort, an dem sich seine unterdrückte Sehnsucht nach Liebe und Lebendigkeit erfüllt. In seiner »baedekerden« Art hält er fest, dass ihm London gerade deswegen als eine beängstigende »Schilddrüsenerweiterung der Erde« erscheint, vor der er »Respekt« (G222) hat, wo selbst das »Elend« Charakter zeigt und deren Kunstproduktion er anbetet für ihre Lebendigkeit  : »Daher denn hier eine Kunst im Wachsen ist, eine Kunst nicht bloß für Museen, sondern fürs Leben, vor der ich mit Andacht stehe.« (G223) Die Frauenfiguren, die Graunzer auf seinen Freiersfahrten trifft, sind zumeist nicht dem im Kaiserreich vorherrschenden »Zwangskorsett einer rigiden Ehemoral«178 ausgeliefert, weil sie finanziell nicht auf eine eheliche Verbindung angewiesen sind, wie sie Marlitts Romane häufig zeigen. Die Frauen befinden sich in der Regel in wohlhabender oder wenigstens besitzender Position, zumeist verGusti Rathgeber. Eine Spurensuche in Dießen am Ammersee. Starnberg 2019. Aufschlussreich ist die editorische Analyse der Aufnahmen einzelner Gedichte aus dem Zyklus Gusti – Ein Cyclus Liebe aus den Erlebten Gedichten (1892) in Bierbaums späteren Gedichtbänden Nemt, Frouwe, disen Kranz (1894), Irrgarten der Liebe (1901), Das seidene Buch (1904) und Der neubestellte Irrgarten (1906). 178 Greven-Aschoff, Barbara  : Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894 – 1933. Göttingen 1981, S. 34.

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fügen sie auch über Hauspersonal oder einen Gärtner. Die Misogynie Graunzers wird möglicherweise noch gefördert durch die Projektion, Abspaltung und Externalisierung eigener Statusverlustängste. Graunzer gibt als Erbe seine Karriere als Bibliotheksbeamter auf und flieht aus der Stadt, doch ob er sich wirklich zum Gutsbesitzer eignet, ist ungewiss. Die Berufstätigkeit der Frauen steigt in den 1890er Jahren vor allem in den Großstädten Europas massiv an. Frauen werden in den Fabriken und Betrieben der Städte tätig, vor allem als Arbeiterinnen, aber auch als Verkäuferinnen in den Warenhäusern und als »Schreibmaschinenfräuleins«179 in den aufkommenden Betrieben neuer Dienstleistungen, wie sie die sich bildende Angestelltenkultur benötigt. Textil- und Reinigungsgewerbe, Fahr- und Kommunikationsbetriebe haben zunehmend Bedarf an Arbeitskräften und bedienen sich auch weiblicher und kindlicher Arbeitskraft, wie auch die bürgerlichen Haushalte die Dienstmädchen nicht entbehren können. In den zeitgenössischen Romanen jedoch werden von Frauen vor allem Künstlerberufe oder sogenannte Musenberufe ausgeübt  : Sie agieren als Tänzerin, Briefschreiberin, Sängerin und Schauspielerin, aber auch als Prostituierte, Wirtin und Zirkusartistin. Diese Berufsverhältnisse entsprechen weitaus mehr dem männlichen Wunschbild eines weiblichen Künstlersubjekts, das gleichzeitig sinnlich und – in der dichotomen Gegenüberstellung männlicher und weiblicher Charaktereigenschaften  – eben gerade nicht vergeistigt oder körperlich tätig erscheint. Sie werden in der Literatur des Fin de Siècle als ein den männlich-aktiven Part oder in Graunzers Worten die »Mannesgehirnkonstitution« (G45) ergänzendes sinnliches Gegenstück imaginiert. Als Tänzerin tritt eine Glaspuppe in Gerhart Hauptmanns Tragödie Und Pippa tanzt  ! (1905) auf. Als vollendete Ausgestaltung der Femme fatale wirkt aber die Tänzerin Salome in Oscar Wildes gleichnamigem Drama 1891. Eine berühmte Briefschreiberin ist Theodor Fontanes Effi Briest (1896). Dem Beruf der Sängerin, der »Dirne« und der »Schauspielerin« gehen die prototypisch gestalteten Frauenfiguren in Arthur Schnitzlers Reigen (1900) nach. Das Fräulein Rosa Fröhlich tritt in Heinrich Manns Professor Unrat (1905) als Barfußtänzerin in dem Vergnügungslokal »Der blaue Engel« auf. In Thomas Manns Erzählung Ein Glück (1904) treten gleich 30 Varietésängerinnen auf einmal auf. Die Godesberger Gastronomin Aennchen Schumacher ist eine berühmte Wirtin, die studentische Verbindungslieder sammelt und in die Literatur als Linden-Wirtin eingeht. Auch Bierbaums Roman Stilpe zitiert sie. Frank Wedekind lässt Lulu in 179 Roters, Eberhard  : Emporgekommen. In  : Asmus, Gesine (Hg.)  : Berlin um 1900. Ausstellung der Berlinischen Galerie in Verbindung mit der Akademie der Künste zu den Berliner Festwochen 1984. Berlin 1984, S. S. 45 – 51, hier S. 51.

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Erdgeist im Zirkusmilieu als Tänzerin auftreten und Otto Julius Bierbaums Die Schlangendame (1896) zeigt eine Kontorsionistin als Protagonistin. »Dient in der Romantik noch Natur als Fluchtort«, schreibt Taeger – und dies wird anschaulich an den vorgestellten, in der literarischen Öffentlichkeit vorherrschenden musischen Frauenberufen –, »ja als Gegenmodell zur Gesellschaft, setzt sich zu Ende des Jahrhunderts die Kunst, das Künstliche, an ihre Stelle.«180 Die Frauentypen, denen Graunzer während der Reise aufgrund seiner »unglücklichen Freiersfahrtidee« (G183) begegnet, gehören ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten an, sie alle sind bis auf Brigitte vermögend  : Katharina Kolbe ist emanzipierte Großstädterin und kann es sich leisten, ins Wirtshaus zu gehen (sie wird ohne Berufsbezeichnung vorgestellt). Die Aristokratin Klothilde Zurwenken ist Gutsherrin und beschäftigt Hauspersonal. Die Witwe Frankebeil ist eine »gute Hausfrau« (G136) mit »etwas Vermögen[, e]twas ›Bildung‹« (G136) und auch sie hat ein Dienstmädchen angestellt. Schmidts Mariechen wohnt noch bei ihren Eltern und ihr Vater ist Rentier. Mariechen karikiert als Figur, die »bumsdummes Zeug« (G82) erzählt, die Romanreihe über die Familie Buchholz, wenn Graunzer seinen Besuch rekapituliert  : [Ich] betrachtete mir das Trio, dick, dünn und verbildet mit der kalten Objektivität, aus der am häufigsten der Humor blüht. Ich dachte mir  : Wir sind allzumal Witze der Schöpfung. Selbst die Größten unter uns sind mutmaßlich nichts als Geschöpfe der Einbildungskraft von jenen grausamen Künstlern, die wir Götter nennen. Demnach muß es unter den Göttlichen auch einen Stinde geben, der Leute, wie die Familie Schmidt an die Strippe seiner Komik hängt. (G83)

Nur in Brigitte findet Graunzer schließlich ein Mädchen, das selbst noch in der eigenen Familie als Dienstmädchen ausgebeutet wird und dem der eigene Bruder als »Dienstherr« (G215) gegenübertritt. Die Hierarchie der Geschlechter bleibt also auch auf der ökonomischen Ebene in der gelingenden Beziehung des Pankrazius Graunzer unangefochten. Bemerkenswerterweise ist die Gleichrangigkeit der Geschlechterverhältnisse und das Vorherrschen trivialer Mythen über das Weibliche und das Männliche schichtenübergreifend. Die adlige Gräfin Klothilde Zurwenken mit ihrem Pinseldilettantismus steht dem biedermeierlichen Kleinbürgertum Mariechens in ihrem Urteilsvermögen über die Moral der Ehe und ihrem Zuspruch zum klassischen Rollenverständnis der Frau in nichts nach. Selbst 180 Taeger, Annemarie  : Die Kunst, Medusa zu töten. Zum Bild der Frau in der Jahrhundertwende. Bielefeld 1987, S. 90.

Frauenfeindlichkeit und Ehe 

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die bevorzugte Witwe Matthei »baedekerte ein bißchen zuviel« (G147)181 und spricht in Sätzen wie aus dem Konversationsspiel »Der fidele Kaffeeklatsch«182, das um die Jahrhundertwende sehr populär war. So geziert und gestellt die Regeln des Konversationsspiels sind, so geziert sprechen beim Ausflug tatsächlich beide, die Witwe und Graunzer, so dass ein Dialog nicht wirklich zustande kommt. Dass das Frage-und-Antwort-Spiel mehr Banalitäten als echten Humor erzeugt und das Populärwissen einer »vorfabrizierte[n] Sprache«183 der Familienblätter einer Unterhaltung miteinander und einem Begeistertsein voneinander entgegensteht, wird noch im selben Gespräch thematisiert. So agieren alle Figuren sehr schablonenhaft und stellen idealtypische Lebens­ entwürfe jeweils phrasenhaft vor. Selbst Graunzer, der sich in der Begründung seiner Frauenfeindlichkeit naturwissenschaftlicher Objektivität bedient, opfert seine heroischen Ideale, bevor sie enttäuscht werden und unerfüllt bleiben. Er vergöttert und liebt in derselben Trivialität eine ursprüngliche weibliche Natürlichkeit in Brigittes Wesen, mit der er zuvor seinen auf Trivialmythen aus Familienblättern und auf vulgärphilosophisch angeeignetem Schopenhauer’schen Lebenspathos fußenden Weiberhass zum Lebensmotto stilisiert hat. So bleibt auch sein widersprüchlicher Lebensentwurf und das dem eigentlichen Reiseziel diametral entgegengesetzte Modell der Auflösung der Misogynie in einer kinderreichen Ehe unwidersprochen. Ziel des bukolisch gewendeten Schlusses des Romans ist dennoch die Erhaltung eines männlich dominierten Ordnungssystems, das sich regeneriert auf der Grundlage der Einhaltung der klassischen Geschlechteraufteilung. Graunzer ist mit Brigitte verheiratet und sie bekommen auf dem Kiebitzhof sechs Mädchen. Alle zuvor von Graunzer besuchten, kaleidoskopisch vorgestellten modernen Entwürfe weiblicher Identitätsbiographien sind im gelungenen Lebensentwurf von Brigitte und Graunzer zu Ende des Romans wieder zugegen. Alle Mädchen erhalten in Erinnerung an die vorgestellten Frauenfiguren ihre Namen  : Klothilde, Mariechen usw. Die Witwe Frankebeil und die Witwe Matthei werden als Gouvernanten eingeladen. Fällt Graunzers 181 Zur Popularität des seit 1832 existenten Reiseführers um die Jahrhundertwende vgl.: Maurer, Kathrin  : Mit Herrn Beadeker ins Grüne. Die Popularisierung der Natur in Baedekers Reisehandbüchern des 19.  Jahrhunderts. In  : Paulsen, Adam / Sandberg, Anna (Hg.)  : Natur und Moderne um 1900. Räume, Repräsentationen, Medien. Bielefeld 2013 (Edition Kulturwissenschaft  ; 23), S. 89 – 101. 182 Zur Verbreitung und Wandlung des Konversationsspiels zum Unterhaltungsmedium einer aufkommenden Freizeitkultur um die Jahrhundertwende vgl. Jahn, Bernhard / Schilling, Michael (Hg.)  : Literatur und Spiel. Zur Poetologie literarischer Spielszenen. Stuttgart 2010. 183 Riha, Karl  : Cross-Reading und Cross-Talking. Zitat-Collagen als poetische und satirische Techniken. Stuttgart 1971, S. 11.

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Wahl auf Brigittes biederes und nicht emanzipiertes Lebensideal, so sind doch in der Schlussszene des Romans alle unterschiedlichen Frauen und ihre verschiedenen modernen Lebensentwürfe versammelt und bezeugen den Triumph über Graunzers Misogynie. Dass keine der Frauenfiguren authentisch ist, wird durch eine holzschnittartige Erzählweise Graunzers deutlich. Das Zitat spielt in seiner von kommentierenden Einlassungen und Männerulk unterbrochenen Erzählung eine zentrale Rolle, die im nächsten Kapitel näher untersucht werden soll. Die komische Form der Graunzer’schen Beobachtungen in seinen Notizen, Briefen und Tagebucheinträgen und seine selbstreferentiellen und selbstkritischen Äußerungen werfen die Figur Graunzer immer wieder auf sich selbst als Kunstfigur zurück, was den Roman als Schelmenroman erscheinen lässt.

2.3 Herr Pankrazius Graunzer versucht, hinter sich selber herzugehen« – Elemente des Schelmenromans Die Aufschreibemedien, deren sich Graunzer im Roman bedient, sind vielfältig. Der Roman ist zunächst unterteilt in Kapitel, die jeweils einen Vorsatz mit kurzer Inhaltsangabe erhalten. So titelt Kapitel 18  : »Herr Pankrazius Graunzer reist nach Nürnberg, badet sich in Deutschtum, lernt eine seelenfeste Witwe kennen und berichtet über all dies seinem Freunde Herrn Peter Kahle in mehreren Briefen«. In Kapitel 23 wird vorangekündigt  : »Herr Pankrazius Graunzer versucht, hinter sich selber herzugehen und die Ähren zu lesen, die aus dem Breviario Brigittae fallen, gibt es aber als unfruchtbar auf und ermannt sich statt dessen zu einem wichtigen Entschlusse«. Dieser Stil erinnert an die Vorsatzkapitel in Romanen von Jean Paul184, aber auch an die Kapiteleinleitungen dreier barocker Romane, die um die Jahrhundertwende populär sind und als frühe Klassiker der Satire gel184 In der deutschen Literaturgeschichte des amerikanischen Autors Wolf von Schierbrand wird der Vergleich ebenfalls hergestellt  : »Bierbaum’s ›Pancrazius Graunzer‹ is the equal of Jean Paul’s quaint and fanciful novels.« (Schierbrand, Wolf von  : Germany. The Welding of a World Power. New York 1903, S. 268). »Peter Rosegger fand den ›Pankrazius Graunzer‹ so umwerfend komisch, daß er Bierbaum über Jean Paul stellte.« (Zitiert nach Killy, Bd. 1, S. 505). Karl Wolfskehl schreibt am 19.4.1896 an Stefan George  : »Daß ich neulich mit einem hiesigen ›Schriftsteller und Litterarhistoriker‹ zusammen war, der in seinem tempelschänderischen Frevel soweit ging, Bierbaums neuen (elenden) Roman ›jean-paulisch‹ zu heißen, möge Sie aufheitern und Ihnen ein Beispiel der Nerventänze und Fetischfeiern in der Hauptstadt von Brandenburg bieten.« (110. KW an StG. In  : »Von Menschen und Mächten«. Stefan George und Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892 – 1933. Hg. v. Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan George Stiftung. München 2015, S. 131).

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ten  : Johann Fischarts Geschichtklitterung (1575), die erste freie Übertragung von Rabelais’ Gargantua und Pantagruel (1532 – 1564) und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus (1668). Mit den stilästhetischen Anleihen bei Barock- oder Rokokoelementen verweist Bierbaum auf einen galanten Stil, der im historischen Rekurs soziale »Verunsicherungen auf dem Gebiet privater Konventionen«185 ästhetisch kompensieren soll, jedoch zitiert er mit Fischart und Grimmelshausen auch zwei Vertreter grotesker Gesellschaftsromane, die sich volkstümlicher Erzählweisen bedienen. Der Roman wird mitgeteilt in insgesamt 16 Kapiteln mit 29 Briefen, drei Kapiteln mit Auszügen aus Tagebuchnotizen, vier Kapiteln mit Reisetagebuchnotizen, einem Kapitel aus dem Brevario Brigittae, drei Kapiteln mit den Bemerkungen aus dem Gerschle-Pepi-Buch, einer wiedergegebenen »parlamentarische[n] Standrede« (G32), die der Protagonist an sich selbst hält, und einem rahmenden Vor- und Nachbericht des Erzählers. Die Kommunikationssituation, die der Roman herstellt, sucht die Authentizität und Intimität nichtöffentlicher Schreibmedien, gleichzeitig appelliert sie an das Alltagsverständnis des Lesers. Mit den Medien Brief, Tagebuch und dem »Seelenwälzer vom Kiebitzhof«, den Brigitte Graunzer für seine »Brummen« (G230)186 empfiehlt, betten sich seine Alltagslyrik und seine verfertigten Gedanken ein in ein Konglomerat aus eigentlich typisch weiblich assoziierten Aufschreibesystemen, waren den Frauen doch lange Zeit allein Tagebuch und Brief, halböffentliche Medien, als intime und zunehmend auch literarisch anerkannte Ausdrucksformen zugänglich. Seit der Aufklärung und dem ausgehenden 18. Jahrhundert bedienten »sich die schreibenden Frauen auffällig häufig dieses Mediums [gemeint ist der Brief  ; BZ]«187. Die Flucht von Graunzer und Brigitte erfolgt dann folgerichtig auch in einer Postkutsche. Der zuständige Postillion erkennt Brigitte, also muss auch sie viele Briefe geschrieben und erhalten haben. Als literarischer »Gefühlsträger«188 zeugt der Brief aber auch von einer besonderen männlichen Empfindsamkeit, die im Verborgenen durch dieses Medium 185 Schönemann, Martin  : Rokoko um 1900. Beispiel der Historisierung von Literatur, Musiktheater und Buchkunst. Bremen 2004, S. 84. 186 Das Brummen oder Graunzen von Graunzer spielt abermals auf die romantische Vorlage von Gottfried Keller an  : »Die Moral von der Geschichte sei einfach, daß er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei.« (Keller, Gottfried  : Pankraz, der Schmoller, S. 72). 187 Bovenschen, Silvia  : Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt / M. 1979, S. 212. 188 Glaser, Hermann / Werner, Thomas  : Die Post in ihrer Zeit. Eine Kulturgeschichte menschlicher

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dem Leser umso vertrauter erscheinen soll. Seit Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) stand der Brief für die sentimentale Offenbarung des männlichen Subjekts und diente als Medium der Mitteilung öffentlich nicht zulässiger intimer Gefühlsgeständnisse. Die empfindsame und emphatische Rezeption, hält Julia Stadtler fest, wird durch die Form des Briefromans bereits vorgegeben  : Durch den intimen Ton der tiefen Seelenausschüttung nimmt der Leser Anteil an der Gefühlssituation des Schreibers. Zugleich wird er durch die Lektüre gewissermaßen zu einem weiteren Adressaten, was großen emotionalen Bezug zu den Romanfiguren auslöst.189

E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Der Sandmann (1816) ist ebenfalls in Briefform verfasst. Auf den selbstsüchtigen, romantischen männlichen Charakter Nathanael spielt die Szene von Graunzers Besteigung des Aussichtsturms mit der Witwe Matthei direkt an. Dem literarischen Vorbild männlicher Intimität folgt Bierbaum auch in der Anordnung des Adressatenkreises. Alle Briefschreiber und -empfänger in Pankrazius Graunzer sind männlich. Es entspinnt sich also ein intimes Gespräch in Briefen, das gänzlich geprägt ist durch einen männlichen Blick und die Anschauungen und Urteile eines Mannes, der bis zum Antritt seines Erbes auf dem Kiebitzhof lange als Korpsstudent in Berlin gelebt hat. Insgesamt 21 Briefe sind an den »Freund und Gymnasiallehrer« Peter Kahle gerichtet, drei Briefe an den Staatsanwalt Dagobert Prellerhahn und ein Brief wird wiedergegeben, der von Graunzer handelt, aber vom Amtsgerichtsrat Kropfer an seinen Korpsbruder Kahle geschrieben wurde. Durch den Kreis der männlichen Leser wird aber das empfindsame Moment, das die Briefe von Goethes Werther auf den Leser übertrugen, von einem sachlich-jovialen Ton männlicher Selbstvergewisserung abgelöst. Über diesen Unterton männlich-chauvinistischen Ulks hinaus gehen nur die Tagebucheinträge. Hier wird die Figur Graunzer in einer gesteigerten intimen Erzählsituation als ein inkohärenter Charakter vorgestellt, der mit sich selbst nicht im Reinen ist, der Gefühle und Aggressionen zeigt, Enttäuschungen und Erinnerungen formuliert, die nicht mit dem öffentlichen Bild von Männlichkeit übereinstimmen. Als Korpsstudent und Junker wird von Graunzer vielmehr eine Kommunikation. Heidelberg 1990, S. 143. 189 Stadtler, Julia  : Der Brief im Spiegel der Künste. Briefmotive und Bühnenbriefe in Malerei, Literatur und Musiktheater. Sinzig 2015 (Musik und Theater  ; 9), S. 159.

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männliche und standesgemäße Selbstdisziplin und ein emotional-psychisch standfester Charakter erwartet. Erzählerische Verunsicherungen durch die Verbalisierung früher Onanier-Erfahrung mit dem damaligen Mitschüler Rammer am Dresdner Freimaurerinstitut (»brachte der liebenswürdige, grünäugige Bursch mir eine Kunst bei, der ich den Verlust meines halben Gedächtnisses verdanke … […] Furchtbares Monstrum, furchtbare Zeit, Pubertät«, G63 f.) durchweben Graunzers Notizen gleichberechtigt neben infantilen Selbstdisziplinierungen (»Pfui, Graunzer  !« G126) und zögerlich formulierten Revisionen zuvor gefällter Urteile und Selbsteinsichten (»Wundervoll  : ich bin jetzt so frei vom Weibe, daß ich sogar eine Freude an ihm haben kann.«, G170). Die Innensicht eines so prototypischen Charakters, wie er von Bierbaum in Graunzer vorgestellt wird, steht seiner gefestigten Position in der Öffentlichkeit als Junker entgegen, wenn im Entwicklungsprozess der Figur die Selbstzweifel thematisch werden, die sich bis zum Identitätsverlust und sprachlicher Dissoziierung steigern  : »ich Pankrazius, ich, und bin das dümmste Kasperle, das je die Beine schlenkerte« (G184), und kurz darauf  : »will ich Pankrazius heißen, wie jener Graunzer, den ich früher mal gekannt habe, ich, Kaschperle, Kapaschperle  !« (G185) Das durch die nichtöffentlichen Medien zur Verfügung gestellte psychosoziale Durchleuchtungsinstrument eines Dichter-Charakters der Jahrhundertwende eröffnet dabei ein anderes Selbstverständnis des modernen Menschen, als es kurze Zeit zuvor noch durch die programmatische Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere (1885) des Naturalisten Wilhelm Arent proklamiert wurde. In einer national-mythischen Überhöhung der Literatur und von Autoren wie Hermann Conradi, Julius Hart, Karl Henckell, Ernst von Wildenbruch, Erich Hartleben und anderen trat Arent entschlossen für die poetische Kraft der jungen Lyriker des Naturalismus ein. Ihre neue Poesie befürwortet er und begründet den Bruch mit traditionellen Formen der Lyrik in den Modernen Dichter-Charakteren mit geographischen oder biologistischen Mentalitätsargumenten. Arents Sammelband war ein »Musterbeispiel für die Widersprüchlichkeit von Erneuerungswille und Konventionspraxis«190 des Naturalismus und er wurde in seinem literargenetischen Anspruch unter den Modernen umstritten diskutiert. Es finden sich viele polemische Antworten auf den »Fanal-Charakter«191 von Arents Textsammlung, zu denen sich auch Pankrazius Graunzer zählen lässt, wenn Bierbaum dem Heroismus neuer vorbildlicher 190 Meyer, Theo  : Einleitung. In  : ders. (Hg.)  : Theorie des Naturalismus. Stuttgart 1973, S. 3 – 49, hier S. 29. 191 Sprengel, Peter  : Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 619.

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Dichter-Charaktere im Roman mit satirischer Absicht begegnet. Er seziert den männlichen Charakter (eine Frau findet sich in Arents Lyriksammlung nicht) in seinen verborgenen Ansichten als unsicheren, wankelmütigen und sentimentalen jungen Mann. Die Umbildung, schöpferische Fortführung und Ironisierung des naturalistisch überhöhten Begriffs des »Charakters« gelingt darüber hinaus gerade auch in der Vorstellung von möglichen weiblichen role models oder femininen modernen Frauen-Charakteren, wie sie während der Reise Graunzers auftauchen. Pankrazius Graunzer selbst trägt schon im mythologischen Ursprung seines Namens einen charakterlichen Widerspruch aus, bedeutet griechisch pankrátios doch ›der Allesbeherrschende‹ oder ›der Allmächtige‹, wirkt er als der weiberfeindliche Alltagslyriker doch eher deplatziert und seine Suche nach einer geeigneten Frau ist von Misserfolgen, Enttäuschungen und Absagen geprägt. In dem Namen Pankrazius steckt aber auch der bukolische Dichtergott Pan, der nur ein Jahr zuvor Namensgeber war für die Zeitschrift Pan (Abb. 16 – 19), als deren leitende Redaktionsmitglieder der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe und Otto Julius Bierbaum noch vor der Veröffentlichung des Romans Pankrazius Graunzer 1895 unfreiwillig entlassen wurden. Die literarische Mutation des Pan in den schmollenden Pankrazius Graunzer kann in der Verbindung mit der Zueignung des Pankrazius Graunzer als literarische Abrechnung und poetisch-humoristische Verarbeitung gelesen werden  : Meinem lieben Meier-Graefe zu eigen Ich sah ein Rathskollegium, Das saß um einen Tisch herum, Mit rathlosen Geberden. Indessen schien die Sonne hell, Und fröhlich ritten Zweie schnell Davon auf guten Pferden.192

In Anspielung auf die Kündigung beider als geschäftsführende Redakteure des Pan wird Julius Meier-Graefe nicht nur Zeuge eines literarischen Fortlebens des Pan, auch wenn der Gott der Lust mit seiner Lyra jetzt in anderer Gestalt eines zwar literaturbewanderten und modernen, aber doch dilettantischen Lebenspoeten Pankrazius auftritt. Meier-Graefe wird auch aufgenommen in eine verschworene 192 In der von mir zitierten Gesamtausgabe fehlt die Widmung an Julius Meier-Graefe. Vgl. aber die Erstausgabe  : Bierbaum, Otto Julius  : Pankrazius Graunzer. Berlin 1895.

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16  Einband des Pan (1895).

17  Frontispiz von Pan, H. 1 (1895).

18  Frontispiz von Pan, H. 2 (1895).

19  Anzeige von O. J. Bierbaum: Lobetanz, in Pan, H. 1 (1895).

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dichterische Reitergemeinschaft, die sich dem Zugriff des Aufsichtsrats um Eberhard von Bodenhausen und den eher deutsch-konservativen Wertvorstellungen des modernen Zeitschriftenunternehmens entzieht und »fröhlich« ins Helle, also ins Leben und in die Wahrheit, entflieht. In ironischer Verharmlosung der eigentlich politisch höchst brisanten Situation am Kunstblättermarkt – haben doch Meier-Graefe und Bierbaum stark auf den internationalen Charakter der Zeitung Pan gedrungen, was dem Wunsch widersprach, einem Organ deutscher künstlerischer Bestrebungen den Weg zu bereiten, wie es sich weite Teile der Herausgeberschaft vorstellten – behält diese Widmung zumindest in der Sphäre der Literatur schelmisch das letzte Wort.193 Als literarischer Witz, der aber nur unter Freunden und Bekannten Bierbaums zum Tragen kommen konnte, gilt sicherlich am Ende auch noch die Namensübereinstimmung des Titelhelden mit einem der bedeutenden Vorfahren des Gutsherrn von Schloss Englar, Pankraz Khuen von Belasi194. Bierbaum wohnt nach dem Ausscheiden aus der Redaktion des Pan von September 1895 an bis Ende 1899 auf dem Schloss und verfasst hier große Teile des Romans. Diese versteckte Reminiszenz an seinen (adligen) Vermieter stellt einen literarischen Witz und eine Literarisierung realer Vorkommnisse dar, wie sie Bierbaum in weiteren literarischen Texten und Schlüsselromanen noch perfektionieren wird. Doch selbst die fortgeführte Figur des Romantikers Pankrazius »ist ein Ding, das überwunden werden muß« (G88), so hält es der Protagonist im literarischen Selbstgespräch fest. Graunzer funktioniert als »komische Person« (G42) und ist 193 Im Vorwort zum Bunten Vogel ein Jahr später (1897) nimmt Bierbaum abermals Bezug auf die nicht öffentlich gemachte Begründung der Entlassung  : »Meinen vaterländischen Gefühlen, daß ich es nur gestehe, habe ich damit [mit den Holzschnitten von Félix Vallotton  ; BZ] nicht wehe getan, obwohl ich die deutliche Empfindung habe, daß ich damit reichlich ausgestattet bin. Mögen andere die Schmerzen, die mir erspart blieben, um so stärker fühlen, falls es ihnen Befriedigung gewährt. […] Die schönen Zeichnungen von unserm jungen E.R. Weiß […] mögen Pflaster auf diese patriotischen Schmerzen sein.« (Bierbaum, Otto Julius  : Der Bunte Vogel von 1897. Ein Kalenderbuch. Berlin 1896, S. 25). 194 In einem Brief von Ludwig Thuille an Richard Strauss ist von Bierbaums Khuen-Hütte die Rede, so dass man davon ausgehen kann, dass das Schloss unter den Künstlern der Münchner Moderne allgemein bekannt war als zwischenzeitlicher Wohnort Bierbaums  : »Von der ›Gugeline‹ sind nunmehr drei Akte fast ganz fertig, ausschließlich einiger Stellen, die Bierbaum auf meinen Wunsch noch ändern soll. Dazwischen hinein habe ich ein paar Lieder geschrieben  ; darunter auch das von Dir so witzig interpretierte ›Junghexenlied‹, welches mich eines Abends bei der Lektüre des neuen ›bunten Vogels‹ sehr angeregt hatte. – Bierbaum ist zur Zeit noch in Dresden, wird aber wahrscheinlich noch im Lauf der Woche hierherkommen, um dann seine Khuen-Hütte wieder aufzusuchen  ; es geht ihm mit den Nerven, wie es scheint, recht übel.« (Brief Thuille an Strauss am 23.12.1898. Trenner, Franz [Hg.]  : Richard Strauss – Ludwig Thuille. Ein Briefwechsel. Tutzing 1980 [Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft  ; 4], S. 149).

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selbst Parodie eines Literaturbetriebs, der den Humor nicht mehr als selbstreflexives Element kennt, sondern ihn durch literarische Weihe und Ernst und Deutschtümelei ersetzt, wie sie auch die literarischen Bestrebungen des Pan mehr und mehr prägten. Das künstlerische, oft »baedekernde« Urteil über die Bestrebungen der »Modernen« unterscheidet bei Graunzer nicht zwischen städtisch-modern und ländlich-unmodern, sondern folgt dem Grad an Natürlichkeit und Angemessenheit. Allem Zierrat, Kunstdünkel und aufgesetzter Künstlichkeit erteilt die Figur im Roman eine Absage. Ist Graunzer zu Besuch bei Baron Birkicht, einem vermögenden Landjunker und Mäzen, betrachtet er die Kunstwerke nicht im Widerspruch zur Identität des Landlebens  : Mit Mutter Kunst steht er auf demselben guten Fuße, wie mit Mutter Erde. Sie geben ihm beide das Beste, was sie haben. Sein Korn ist so gut, wie seine Thoma’s, und seine Bibliothek kann sich gerade so sehen lassen, wie sein Kuhstall. (G109)

Die Natur bildet hier nicht das Vorbild für die Kunst, sondern beide stehen gleichberechtigt nebeneinander. Ludwig Thomas Bilder werden vom Kunstliebhaber Graunzer in ihrer Qualität genauso gelobt wie das Korn. Das Urteil Graunzers über die künstlerischen Arbeiten der Baronin Klothilde Zurwenken fällt dagegen verheerend aus  : Er nennt ihr Bild »Ritterdame mit einem Falken« (G122) schlicht »Gänsegeschnatter in Farben« (G123). Das Lob des vermeintlich ehrlich-natürlichen Realismus, die Absage an den Kitsch eines neoromantischen Stils und die historisierend-heroische Sujetwahl rufen das Gespräch aus Detlev von Liliencrons Poggfred195 in Erinnerung, das vor einem Kunstdilettantismus warnte, der unecht und leblos ist. Dennoch setzt Bierbaums Graunzer den »feinen Pinselgreueln« (G122) und dem vermeintlich »Konstruierte[n]« (G151) und Unechten der künstlerischen Bemühungen eine lebendige Lyrik entgegen, die wiederum bagatellisiert und  – Liliencrons Manifest folgend – als Alltagsreime in das Leben überführt werden soll. Graunzer unterscheidet dabei auf seiner Reise, wenn er von Berlin über Dresden, Wurzen, Altenburg, Nürnberg nach München bis zum Ammersee und von dort nach London fährt, nicht zwischen künstlerischen Tätigkeiten auf dem Land und denen in der Stadt. Er unterscheidet auch nicht zwischen professionellen und dilettantischen Kunstbestrebungen, auch wenn er entschieden ur195 Carl Busse nennt den Dialog eine den Leser beleidigende »bummelige Fetzenpoesie« und spricht dem Epos jegliche Literarizität ab (Carl Busse  : Verse [Rezensionen]. In  : Blätter für literarische Unterhaltung 71 [1897], Nr. 45, 4.11.1897, S. 713 – 716, hier S. 714).

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teilt  : »Der deutsche Adel heutiger Zeit hat zur Kunst überhaupt kein Verhältnis, höchstens das minervaverfluchte des Dilettanten« (G110). Nur als Mäzen könnte der Adel der Kunst sinnvoll dienen, aber nicht, indem er versucht, selbst produktiv zu werden. Die Kunst wird bei Graunzer alltäglich, sie steht nach seinem Empfinden im besten Fall nicht den Erlebnissen und Erfahrungen entgegen und entwirft im Phantastischen eine irreale Welt, sondern sie fließt im besten Sinn in das Alltagsgeschehen und die Alltagserlebnisse ganz natürlich ein. Das Einsetzen des Dichtens, dem Graunzer zu Beginn selbst noch wie einem Mangel des persönlichen männlichen Status begegnet, begrüßt der verliebte Junker im Roman mehr und mehr, so dass seine Verseleien vor keinem noch so banalen Gegenstand Halt machen  : »Dieses Bier ist wert, besungen zu werden« (G159), frohlockt Graunzer. Doch klagt Graunzer nicht etwa, wenn Poesie zur Werbung verkommt, sondern er begrüßt die Verquickung von Lebensgenuss und Literatur, da Letztere auf diese Weise eingebunden ist und eine neue Wirksamkeit entfaltet. Die Kunst dient nicht mehr der allgemeinen Erziehung und Erbauung, dieser Funktion ist sie verlustig gegangen. Wenn Graunzer stattdessen aber lieber das Frühstück und das Bier bedichtet oder die Landschaft während der Kutschfahrt, dann profaniert sich die Kunst und Literatur wird zu einem Kunstgewerbe bzw. einem Literaturgewerbe, das alltäglich erscheint. Die Trivialisierung gelingt, indem die Objekte der literarischen Transformierung zunehmend wahllos werden. Das gestalterische Prinzip erhält den Vorrang vor der Frage nach der Kunstwürdigkeit der Gegenstände und trifft einen alltagslyrischen Anspruch  : Die Gedichte erhalten durch die Endreime oft einen »gelegenheitspoetischen Gestus«.196 Um dem massenkulturell erfolgreichen Amüsierbetrieb der Familienblätter und den trivialen Leseerfahrungen ein literarisches Pendant zu geben, soll Literatur im Pankrazius Graunzer ebenfalls der Unterhaltung dienen. Gleichzeitig werden durch die kulturpolitischen Bemerkungen und ästhetischen Urteile Graunzers auch politische Missstände offengelegt und aufgedeckt und die Figur erscheint als Schelm. Der Roman wirkt so auch als Kommentarbühne in den literarischen Betrieb hinein. Graunzers kulturpolitische Diskurse dienen der Selbstbestimmung der literarischen Öffentlichkeit, indem der Leser aus dem Munde eines kunstliebenden und gleichzeitig nutzliebenden Literaturproduzenten Bewertungen des 196 Sandra Pott bezeichnet so das lyrische Verfahren und die Reimschemata von Arno Holz’ Gedicht Berliner Schnitzel, das 1884 entsteht und auch in die Arent’sche Lyrik-Anthologie eingeht. (Pott, Sandra  : Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin  ; New York 2004, S. 282).

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Literaturbetriebs vernimmt. Graunzer gibt dabei nicht prinzipiell einer aktuellen Kunstrichtung den Vorzug, aber er legt die betriebliche Gewinnorientierung des Kunstschaffens offen, ohne diese einschränkend auch im Hinblick auf den ästhetischen Gehalt des Kunstwerks zu werten  : »Die Dekadenz ist blos ein literarischer Trick« (G134), hält Graunzer in einer seiner eingestreuten, selbst »baedekernden«, kunsthistorischen Abhandlungen fest, »[ü]brigens keiner von den unamüsanten. Er mußte kommen, nachdem euch der Naturalismus abgelaust hatte.« (G134) Den humoristischen Weltbezug als Kompensation für erfahrene Zurückweisungen und Entbehrungen eignet sich Graunzer nicht nur selbst bereits in frühen Jahren in der Lehranstalt aufgrund seines ersten Liebeskummers an, ein humoristisches Weltverhältnis wird auch zum ästhetischen Prinzip einer unheroischen Alltagskunst und Literatur erhoben  : Der Literatur kommt in Bierbaums Roman die Aufgabe zu, dem Vergnügen und der Kompensation zu dienen. In einem dialektischen Selbstgespräch Graunzers streitet der verliebte Dichter Graunzer mit seinem Alter Ego, dem vernünftig denkenden und rational argumentierenden, weiberfeindlichen Graunzer-Ich  : »Schließlich verfiel mein antilyrisches Ich darauf, das lyrische zu parodieren. Aber dieses war charakterlos genug, sich darüber zu amüsieren und unentwegt weiterzuharfen.« (G95) Die Charakterlosigkeit einer humoristischen Kunst hebt diese von den naturalistischen Kunstbestrebungen der 1880er Jahre ab, wie sie noch Arents Anthologie vertritt, und befreit die Kunst aus einem der Natur untergeordneten Darstellungsverhältnis. Der Kunst kommt in Pankrazius Graunzer eine viel beiläufigere Aufgabe zu  : Das lyrische Ich Graunzers gewinnt gegen das antilyrische Ich, wenn es ästhetisch anspruchslos und humorvoll dichtet. Bierbaum überträgt in den poetischen und anspielungsreichen Zwischenstücken des Pankrazius Graunzer eine selbstreferentielle Parodieform, wie sie die Stilzitate und ironischen Verweisverfahren der antinaturalistischen Einakter der Gesellschaft für modernes Leben und die späteren Überdramen von Hanns von Gumppenberg aufzeigen197, in die Prosa und schafft damit den trivialparodistischen Roman. Die zeitgenössische Kritik ist wenig begeistert von den parodistischen Elementen des Romans  : »Schade, daß Bierbaum manchmal glaubt, ein Genie müsse sich in Cynismen bekunden, die gar nicht zu der Gesamtphysiognomie des Buches passen«, so en-

197 Vgl. Sprengel, Peter  : Schall und Rauch. Erlaubtes und Verbotenes. Spieltexte des ersten Max-Reinhardt-Kabaretts (Berlin 1901 / 02). Berlin 1991, S.  16 und Muschol, Klaus Peter  : Dramatische Experimente (Überdramen). In  : ders.: Otto Julius Bierbaums dramatisches Werk. Bamberg 1961, S. 43.

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det eine Rezension von Paul von Szepanski in Velhagen & Klasings Monatsheften. Vorher urteilt er noch abfälliger  : Auch Otto Julius Bierbaum ist Lyriker wie Falke und legt wie dieser großen Wert darauf, zu den Modernen gezählt zu werden. Seine Zugehörigkeit zu ihnen beweist er in seinem Roman »Pankrazius Graunzer, der Weiberfeind« durch ein paar Cynismen, die ganz und gar an den Haaren herbeigezogen sind, und durch einige subjektive Einschätzungen, die dem unbefangenen Leser ebenso willkürlich erscheinen müssen, wenn ihn nicht der Zufall über persönliche Erlebnisse, Erfahrungen, Schmerzen und Enttäuschungen Bierbaums orientiert hat, die hier verallgemeinert sind und ihn deshalb einseitig erscheinen lassen. Schade darum und merkwürdig genug – denn Otto Julius Bierbaum ist sonst ein Mann von recht behaglichem Humor, und so gesegnete Leute werden für gewöhnlich mit dem Leben auf leichtere Weise fertig. Dieser behagliche Humor auch ist es, der ihn von den sogenannten Modernen durch eine tiefe Kluft scheidet und der seinen »Pankrazius Graunzer« innerhalb der neuesten Litteratur zu einer ganz eigenartigen Erscheinung macht. Innerhalb der neusten Litteratur – Vorläufer hat Bierbaum eine ganze Menge gehabt und eine der ihm verwandtesten Naturen ist der seiner Zeit gefeiertste und augenblicklich gar nicht mehr gelesene Jean Paul. Keiner der »Modernen« wäre jemals auf den Gedanken verfallen, ein Mann wie Pankrazius Graunzer könne der Held eines modernen Romans werden […].198

Das Vagabundierende des Helden und die Reihung verschiedener loser Einzelepisoden, die Graunzer auf seiner Reise quer durch das Kaiserreich zeigen, erinnert in der Anlage an Jean Pauls Dr. Katzenbergers Badereise (1809) oder Flegeljahre (1804 / 05). Das gesellschaftliche Sittenbild, das durch die Reise der Schelmenfigur Graunzer durch die verschiedenen wilhelminischen gesellschaftlichen Schichten im Roman gezeichnet wird, spiegelt die Auseinandersetzungen um die Frauenbewegung und die Geschlechterfrage um 1900 wider. Wenn sich diese Reise für Graunzer in einen ihn aus seinem Geschlechterkampf hinausführenden Emanzipationsweg wandelt, dann wirkt der »Bekehrungsroman«199 auf seinen Helden in satirischer und unerwarteter Weise ein. Dies macht es möglich, Bierbaums Roman auch vor dem Hintergrund einer zweiten klassischen Vorlage 198 Szepanski, Paul v.: Neues vom Büchertisch. In  : Velhagens & Klasings Monatshefte 10 (1895/96), H. 11, S. 587 – 591, hier S. 591 und S. 588. 199 Kaiser, Reinhard  : Der Simplicissimus und sein Erfinder. Biographische Andeutungen und Hinweise zur Werkgeschichte. In  : Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen  : Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser. Frankfurt / M. 2009, S, 721 – 735, hier S. 733.

Elemente des Schelmenromans 

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zu lesen  : der des Schelmenromans Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Graunzer wird auf seinem Entwicklungsweg geläutert von seiner Weiberfeindlichkeit und sein Lebensweg führt ihn entgegen seinen Idealen in eine harmonische und gleichberechtigte Partnerschaft, die nicht von dem Wunsch nach männlicher Nachkommenschaft, sondern von Liebe geprägt ist. Aus dieser Beziehung gehen – eine parodistische Umkehr des Männlichkeitskultes – sechs Mädchen hervor. Die Spezies des weiberfeindlichen Graunzer scheint im Roman somit auszusterben. Adaptiert Bierbaum das Moment der Desillusion des Helden im Simplicissimus, dann ersetzt er die volkstümliche Erzählweise des barocken Romans durch eine suggerierte Nähe zu weit verbreiteten Bildungsgütern und dem Kultur- und Kunstwissen eines zeitunglesenden Massenpublikums. Die »Volkspoesie«200, wie sie durch die Schriften und Anthologien des Naturalismus gefordert worden war, findet Bierbaum in den Vorbildern altdeutscher und barocker Dichtung tradiert, die er in seinen Romantiteln imitiert. Er knüpft sie an im Lesebewusstsein der Jahrhundertwende präsente Bilder romantischer Motivvorlagen von E.T.A. Hoffmann und Gottfried Keller. Der Minnesang von Walther von der Vogelweide dient Otto Julius Bierbaum explizit und die Volkstümlichkeit im Werk Simplicissimus implizit als Ideal natürlicher und lebensnaher Literatur, die Graunzer auch in Abgrenzung von den strengen ästhetisch-stilistischen Formvorgaben des Naturalismus bevorzugt. Hinzu tritt in Bierbaums Roman ein derb-satirisches Moment, das Nike Wagner in Bezug auf die frühe Lyrik von Karl Kraus als »traditionelle[n] Männer-­Ulk«201 beschrieben hat. Das satirische Element wird wirksam, wenn das ungelenkte, wilde Fabulieren eines männlichen Titelhelden alle profanen Alltags­erlebnisse für würdig befindet, literarisch verarbeitet zu werden. Graunzer ist als Dilettant das Moment der Ergriffenheit durch die Kunst genauso fremd, wie er als Dichter keine Überwältigung von einer wie aus einer Epiphanie kommenden künstlerischen Ideengebung spürt. Den Dichter begreift Graunzer nicht als ein künstlerisches Genie, sondern die Kunst ergibt sich aus einer Laune, aus einem spontanen Anlass heraus. Graunzer wird jedoch nur dann dichterisch tätig, wenn sein weiberfeindliches Ich seine dichterische Natur, und das heißt seine Hingabe an die Liebe, zulässt. Da der ästhetische Gehalt bald nebensächlich ist, entspringt das 200 Pott, Sandra  : Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin  ; New York 2004, S. 278. 201 Wagner, Nike  : Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt / M. 1982, S.  24. Das Zitat bezieht sich auf den frühen Karl Kraus, im gleichen Satz wird erwähnt, Kraus dichte »im Sinne Bierbaumscher Frischluft-Lyrik«.

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elysische Moment von Graunzers Versen nicht einem poetischen Erweckungserlebnis, sondern ist vom Biertrinken und dem Alkoholgenuss getragen. Die starke Neigung des Helden zu Alkoholika und die Präsenz studentischer Trinkkulturen scheinen ganz ähnlich seiner gelegentlichen Gebrauchslyrik für Graunzer einen Ausweg zu bilden für die in frühen Jahren erlebte und später unterdrückte Erotomanie. Der derbe Männerhumor, der Graunzers Briefe begleitet, erhält – bezogen auf die Figur – kompensatorischen Charakter, er ist als behäbig-stumpfe Komik aber auch Teil einer Bierbaum’schen Strategie der Popularisierung der Künste  : In Graunzers Gedichten werden Kaffee, Lokomotiven und Bier gleichrangig als künstlerisch würdige Objekte anerkannt und lyrisch geadelt, wie auch niedere Schreibmedien wie das Tagebuch zur Kunst erhoben werden. Die Kunst wird in Bierbaums Roman anerkannt als Gewerbe, sie ist »Haus- und Kammerkunst« (G117). Nicht voneinander geschieden wird, ob ihr jemand dilettantisch nachgeht oder sie professionell ausübt, wenn die Kunst nur lebendig erscheint  : Die ursprünglich-schöpferische oder natürliche Charakteristik der Dichtkunst sieht Graunzer in ihrem Hervorgehen aus einer Alltagsrealität.

2.4 Die Figur des Pan Die Veröffentlichung des Pankrazius Graunzer verschafft Bierbaum 1895 nicht die Popularität, die notwendig gewesen wäre, um als frei arbeitender Schriftsteller auf Auftragsarbeiten verzichten zu können. So strebt er nach dem Erscheinen weitere literarische Unternehmungen vor allem aus Gründen des »Broterwerbs«202 an. Bierbaum wechselt 1895 in den neu gegründeten Berliner Verlag Schuster & Loeffler und experimentiert an einer Fortsetzung der bibliophilen Anlage des Pan, wenn er als Autor in gleichberechtigter Zusammenarbeit mit einem oder zwei Künstlern das Jahrbuch Der Bunte Vogel zusammenstellt. Das erste Jahrbuch erscheint 1896 in einer Ausstattung, die Félix Vallotton und E. R. Weiß betreuen (Abb.  20). Der Band ist außen mit einer Vogelillustration von Weiß versehen, die Texte des Bandes, die allesamt von Bierbaum stammen, sind motivisch eingefasst mit einer Reihe von Vignetten und Vorsatzbildern des jungen französischen Malers, der zuvor bereits für die Pariser Zeitschrift La Revue blanche203 und für den Pan tätig war. Der zweite Band des Bunten Vogels erscheint 202 Brandenburg, Hans  : Nachwort zu  : Otto Julius Bierbaum. Gesammelte Werke I. Gedichte. Hg. v. Georg Conrad u. Hans Brandenburg. München  ; Leipzig 1912, S. 371 – 372, hier S. 371. 203 Von Julius Meier-Graefe erscheint 1898 unter dem Titel Im Anfang war die Linie eine erste um-

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20  Umschlag von Der Bunte Vogel (1897), Buchgestaltung: Félix Vallotton und E. R. Weiß.

ein Jahr darauf, 1897, und als Künstler ist diesmal Peter Behrens204 an der Produktion beteiligt (Abb. 21). Er konzentriert sich vor allem auf die druckgestalterische und typographische Dimension des Bandes und verzichtet, abgesehen von einzelnen Rahmungselementen, auf schmückende Vignetten oder Zeichnungen. Beide Jahrbücher erreichen eine große Leserschaft, sie sind als Gebrauchsliteratur konzipiert und mit Kalender- und Mondphaseninformationen, Angaben zu katholischen und evangelischen Namenstagen und Sternzeichen ausgestattet. Beide Jahrbücher werden buchgestalterisch und druckgraphisch ausführlich in fassende Würdigung und Einführung in das druckgraphische Werk von Félix Vallotton (vgl. der Wiederabdruck in Krämer, Felix / Gaßner, Hubertus [Hg.]  : Félix Vallotton. Idylle am Abgrund. Grafik. Hamburg 2008, S. 59 – 82). 204 Peter Behrens liefert für Otto Julius Bierbaums Aufsatz Künstlerische Vorsatzpapiere ein gestaltetes Vorsatzblatt, das neben vielen anderen Beispielen abgedruckt wird. In dem Aufsatz hebt Bierbaum den eigenständigen Charakter der künstlerischen Gestaltung des Buches hervor  : »Man kann sagen  : völlige Neutralität, die sich darauf beschränkt, bezuglos zu schmücken, ist immer noch sehr viel besser, als plumpe Illustrationstendenz« (in  : Dekorative Kunst. Eine illustrierte Zeitschrift für angewandte Kunst 1 [1898], H.  3, S.  111 – 129, hier S.  115). Diesem Grundsatz folgen beide auch in ihrer Zusammenarbeit für den Bunten Vogel 1897.

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21  Umschlag von Der Bunte Vogel (1899), Buchgestaltung: Peter Behrens.

den Zeitungsorganen für bibliophile Leser und Sammler gewürdigt (Abb. 22).205 Zusätzlich veröffentlicht Bierbaum in den Jahren 1895 bis 1897 unter anderem als Mitarbeiter in der Zeitschrift Die neue Rundschau. Die bis dahin von Samuel Fischer unter dem Titel Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit herausgegebene und vierteljährlich erscheinende Zeitschrift wird von Bierbaum als Redakteur maßgeblich in Aufbau und Format umgebaut und in Die neue Rundschau umbenannt. Darüber hinaus ist Bierbaum Beiträger in der Wiener Wochenschrift Die Zeit, in den Neuen Bremer Sonntagsheften, der Zeitschrift für Bücherfreunde und in der Dekorativen Kunst. Illustrierte Zeitschrift für angewandte Kunst, einer Monatsschrift, die Julius Meier-Graefe von Paris aus für den Münchner Bruckmann-Verlag herausgibt. Er arbeitet als einer der ersten Autoren für die Satirezeitschrift Simplicissimus, die am 1. April 1896 in München gegründet wird. Ihre erste Ausgabe erscheint am 4. April 1896. Darüber hinaus veröffentlicht Bierbaum im Jahr 1896 den kurzen Roman Die Schlangendame bei Schuster 205 Vgl. die Erwähnung und vollständige Abbildung des Buchumschlags von Der Bunte Vogel (1896) in  : Zur Westen, Walter von  : Der künstlerische Buchumschlag. In  : Zeitschrift für Bücherfreunde 2 (1898/99), H. 10, S. 401 – 416.

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22  Das von Félix Vallotton gestaltete Kalenderbuch Der Bunte Vogel (1897) wird in einem Aufsatz zur künstlerischen Buchgestaltung in der Zeitschrift für Bücherfreunde (1898/99) erwähnt und der Bucheinband abgedruckt.

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23  Einband von O. J. Bierbaum: Stilpe (1897).

& Loeffler. Die Erstausgabe wird mit 38 Zeichnungen von Félix Vallotton versehen auf den Markt gebracht und ist ebenfalls sehr erfolgreich. Die kurze Übersicht über die schriftstellerische, publizistische und herausgeberische Tätigkeit Bierbaums in den Jahren 1896 und 1897 – bis zum Erscheinen seines Romans Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive (Abb. 23 – 24) – vergegenwärtigt nicht nur die Umtriebigkeit Bierbaums, die notwendig war, um seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller und Publizist zu bewerkstelligen, sondern sie bildet auch den Hintergrund seines neuen Romans über die Figur Stilpe, die einen paradigmatischen Charakter der sich bis 1900 ausdifferenzierenden literarischen Öffentlichkeit darstellt. Diese literarische Öffentlichkeit ist von behördlicher Zensur und monetärer Unsicherheit ebenso gekennzeichnet, wie sie eine Umbruchsphase am literarischen Markt der Jahrhundertwende markiert. Neue Drucktechniken, neue typographische und ästhetische Formfindungen und neue Distributionsformen setzen eine dynamische Produktivität frei, deren künstlerischer Ausdruck sich signifikant in den Reformen der Theaterbühnen, der Zeitschriftenlandschaft und der Entdeckung des künstlerischen Plakats206 206 Vgl. Rath, Philipp   : Künstlerische Inseraten-Reklamen. In   : Zeitschrift für Bücherfreunde 2

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24  Zwischentitel von O. J. Bierbaum: Stilpe (1897), Buchgestaltung: Félix Vallotton.

für die Werbung niederschlägt. Die Familienblätter und zeitgenössischen Bestseller-Romane einer Marlitt und eines Julius Stinde, gegen deren vereinfachte Geschlechterstereotypen und Erzählmuster sich Pankrazius Graunzer wendet, konkurrieren genauso um die Gunst der lesenden Massen wie neuere Buchveröffentlichungsformen und Printmedien. Die Reflexion über den wachsenden und stark von Konkurrenz geprägten Literaturbetrieb unternimmt Bierbaum wiederum in Romanform im Stilpe. Der Roman lässt anschaulich werden, welche literarischen Neuerungen und welche literarischen Spektakel sich mit der Herausbildung eines einflussreichen Rezensionswesens, eines werbenden Ankündigungsbetriebs der Zeitschriften und eines größer werdenden Zeitschriften- und Buchreihen-Abonnementmarktes einstellen  : Die Literatur wird spektakulärer inszeniert. Dazu beiträgt auch ein wiederbelebter Theatermarkt und eine aus der französischen Tradition des Varietés entliehenene Unternehmung deutscher Kabarett- und Couplet-Nummern-Veranstaltungen in bislang in der literarischen Öffentlichkeit weniger etablierten Räumlichkeiten wie Kneipenräumen und Ballsälen. Arno Lubos nennt Stilpe eine »von Kommentaren durchzogene Re(1898/99), H. 12, S. 506 – 519.

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portage«, in der Otto Julius Bierbaum sich selbst als Literaturunternehmer in die Figur Stilpe »inhaltlich wie stilistisch schrankenlos, willkürlich, ungestaltet, projiziert«.207 Vielfach wurde in der literaturwissenschaftlichen Aneignung des Bierbaum’­ schen Œuvres über die Identität eventueller Schlüsselfiguren und den Charakter seiner Werke als Schlüsselromane gestritten. Oftmals wird Stilpe als Alter Ego Bierbaums identifiziert. Eine solche Verlebendigung einer Figur, die im literarischen Feld ein Eigenleben und eine phantastische Ausgestaltung als öffentliche literarische Figur genießt, wurde bereits als ästhetischer Kniff oder Witz in der Präsentation der Schriftstellerfigur Scheerbart im Pankrazius Graunzer erprobt. Im Stilpe wird dieses Spiel und das Ineinandergreifen von Persönlichkeiten der literarischen Öffentlichkeit und phantastischem Erleben literarischer Figuren fortgesetzt. Die Grenze zwischen inszenierter literarischer Öffentlichkeit und der um ein Lesepublikum werbenden Literaturszene eines sich entwickelnden modernen Wirkungskreises von Herausgebern, Publizisten und Autoren wird um der größeren Aufmerksamkeit und des größeren Skandals willen weiter zugunsten des inszenierten, fiktiven Raumes eines literarischen Spiels um Aufmerksamkeit aufgehoben. Eine ähnliche Verlebendigung erfuhr im gleichen Jahr 1897 bereits die Figur des Pan. Im Pankrazius Graunzer nur unmittelbar im Namen zugegen und in dem ein oder anderen schlechten Lied von Graunzer selbst besungen, erlebt der Gott der Lust, der in Nietzsches Interpretation für das dionysisch-orgiastisch Ausufernde des Lebens und der Kunst eintritt, eine Wiederkehr in der Erzählung Der Pan und die Geheimräte, die 1897 in Bierbaums Jahrbuch Der Bunte Vogel erscheint. Schon der Name der Zeitschrift Pan zeugt 1895 von dem allgemeinen Interesse, das dem Faun als Transformationsfigur der Ovid’schen Metamorphosen im Zuge der Rezeption der Kulturkritik Nietzsches entgegengebracht wird  : Pans Begleitfunktion im dionysischen Thiasos hat in der Zeit der Nietzsche-Verehrung sicher stark zu seiner Popularität beigetragen. Im Zuge einer zunehmenden Breiten-

207 Lubos, Arno  : Otto Julius Bierbaum. In  : Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 13 (1968), S. 284 – 312, hier S. 302. Arno Lubos’ Würdigung Otto Julius Bierbaums als moderner Autor stützt sich trotz dieser Beobachtung auf die weit verbreitete literaturwissenschaftliche Bewertung des Autors als den deutschen Kabarett- und Chansonerfinder  : »Als Avantgardist wurde Bierbaum jedoch nur auf Grund seiner Chansons und seiner Initiative zum Nutzen des Kabaretts beachtet.« (Lubos, Arno  : Otto Julius Bierbaum, S. 295).

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wirkung der Philosophie Nietzsches wird Pan, eben im Zeichen des Dionysos, Symbol der vollen amoralischen Lebensbejahung.208

In Der Pan und die Geheimräte zeigt sich der lyrische Gott Pan zwei Dichtern, »der Dicke« und »der Dünne« genannt, auf einer Insel. Diese Begegnung wird durch ein Ambiente ermöglicht, das von Alkohol, Frauen und Flötenmusik bestimmt wird. Von der Idee des Pan ergriffen, eröffnen die Dichter der Öffentlichkeit die Wahrheit über die lebensbejahende, sinnlich-natürliche und Konventionen sprengende Kunst, wie sie sie durch den Lyrikgott Pan erfahren haben. Doch die »Kaste der Kunstgeheimräte«209, die von der neuen Idee der Kunst überzeugt werden soll, um sie als Kunstvermittler gewinnen zu können, schreckt vor dem wilden und behaarten Monstrum Pan zurück. Sie stellt den Dichtern die Bedingung, dass die neue Kunst begrenzt und in ihrer Wildheit gezügelt werden muss. Der Dicke und der Dünne erkennen in einem domestizierten Pan den Verrat an der Kunst und fliehen von dem Schiff der Geheimräte in einem Rettungsboot »mit einem herzlichen Gelächter davon zur Insel des großen Pan.«210 Selbst wenn es, blickt man aus dem Jahr 1899 zurück, ein Zufall gewesen zu sein scheint, dass das nächste mit Rudolf Alexander Schröder und Alfred Walter Heymel vorgenommene Zeitschriftenprojekt ausgerechnet Insel heißen sollte211, so liegt die ästhetische Vermutung nahe, dass dank literarischer Maskerade von Bierbaum Wirklichkeit vorentworfen wird oder zumindest die Inszenierung einer solchen Angleichung von Poesie und Literaturbetrieb die Entfesslung und Popularisierung beider Bereiche befördern soll. Die Figur Pan wird von Bierbaum noch an anderer Stelle literarisch verarbeitet  : die Gedichte Faunsmonolog und Faunsflötenlied in seinem frühen Gedichtband Nemt, Frouwe, disen Kranz (1894) und das Lied Pan an die Sterne aus dem Bunten Vogel auf das Jahr 1897 stellen den Pantheismus ins Zentrum und huldigen dem ewigen Werden des Pan in religiöser Verehrung. Bierbaums Tanzspiel Pan im Busch (1900)212 lässt die 208 Germanese, Donatella  : Pan (1910 – 1915). Schriftsteller im Kontext einer Zeitschrift, S. 19. 209 Bierbaum, Otto Julius  : Pan und die Geheimräte. In  : ders.: Der Bunte Vogel von 1897. Ein Kalenderbuch von Otto Julius Bierbaum. Mit vielen Zeichnungen von Felix Vallotton und E.R. Weiß. Berlin 1896, S. 222. 210 Bierbaum, Otto Julius  : Pan und die Geheimräte, S. 235. 211 Franz Blei erwähnt in seinen Erinnerungen als Namensgeber der Zeitschrift das »Inselhotel in Konstanz«, in dem sich Heymel, Schröder und Bierbaum getroffen hätten (Blei, Franz  : Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930, S. 322). 212 Heinrich Vogeler entwirft das Bezugspapier für Bierbaums Tanzspiel Pan im Busch, das 1900 im Insel-Verlag der Insel noch unter Schuster & Loeffler in Berlin erscheint, wie auch das Vor-

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mythische Figur des ästhetischen und orgiastischen Kunstrauschs unter einer Gruppe von »Zöglingen eines Knabeninstituts und Mädchenpensionates«213 auftreten. Das Ballett ist bestimmt durch den Konflikt zwischen dem Begehren der adoleszenten Schüler und der Aufsichtspflicht des Professors und der Gouvernante. Das ganze Bühnenspiel kulminiert in einer Szene, die sich im »Rosenbusche«214 abspielt, wo ein Schülerpaar im Schlaf von den Waldgöttern »Faun und Paniske«215 vor dem Zugriff der Lehrer beschützt wird. Bierbaums mit dem Motiv des Rosenbuschs verbundenes Couplet Der lustige Ehemann macht ihn 1900 in den Feuilletons der Tagespresse zum Meister der Varietébühnen und wird zu seinem Markenzeichen  : Der lustige Ehemann Ringelringelrosenkranz, Ich tanz mit meiner Frau, Wir tanzen um den Rosenbusch, Klingklanggloribusch, Ich dreh mich wie ein Pfau. Zwar hab ich kein so schönes Rad, Doch bin ich sehr verliebt Und springe wie ein Firlefink, Dieweil es gar kein lieber Ding Als wie die Meine giebt. Die Welt, die ist da draußen wo, Mag auf dem Kopf sie stehn  ! Sie intressiert uns gar nicht sehr, Und wenn sie nicht vorhanden wär Würd’s auch noch weiter gehn  : Ringelringelrosenkranz, Ich tanz mit meiner Frau, satzpapier mit dem Schneebeerenmuster, das bereits 1899 für den Lyrikband Unmut von Rudolf Alexander Schröder verwandt worden war, der ebenfalls im Insel-Verlag erschien. 213 Bierbaum, Julius Otto  : Pan im Busch. Ein Tanzspiel von Otto Julius Bierbaum mit Musik von Felix Mottl. Buchschmuck von Peter Behrens. Berlin 1900. 214 Bierbaum, Julius Otto  : Pan im Busch, S. 38. 215 Bierbaum, Julius Otto  : Pan im Busch, S. 39.

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Wir tanzen um den Rosenbusch, Klingklanggloribusch, Ich dreh mich wie ein Pfau.216

Bierbaum unternimmt in dem Tanzspiel nun durch die Zusammenfügung zweier bekannter Motive eine Aufwertung des Singspiels und seines eigenen Werks  : Er lässt im Pan im Busch217 die Liebenden sich ebenfalls unterm Rosenbusch treffen und gruppiert allen Liebesreigen um diesen Busch  ; so wird in dem Bühnenbild das trivial-unterhaltsame Kunstwerk eines Gassenhauers ebenso aufgerufen wie durch die Form des Balletts und die mythischen Götterfiguren die etablierten Kunstformen vergegenwärtigt. Hält die Figur des Pan im intertextuellen Spiel auch die Erinnerung an Bierbaums Bemühungen um Kunsterneuerung durch die mit Julius Meier-Graefe gegründete gleichnamige Zeitschrift wach, wirkt das Tanzspiel wie ein Versuch der Versöhnung populärer Darstellungsformen mit einem ernsten, kenntnisreichen Kunstgenuss. Die Figur Pan wird wiederholt angerufen in Bierbaums Werk und so schafft der Schriftsteller in verschiedenen Maskeraden eine Verlebendigung des Pan. Der Faun erhält eine figurative Eigenständigkeit innerhalb des Bierbaum’schen Werkes, die, von Bierbaum auch biographisch inszeniert, für seine Bestrebungen der Kunstpopularisierung steht. Diese Anrufungsspiele und Maskeraden werden fortgesetzt in der Figur Stilpe. Ihr widmet Bierbaum nicht nur einen eigenständigen Roman, er stilisiert die Figur eines literarischen Hasardeurs über einen Zeitraum seiner literarischen Tätigkeit hinweg zum zentralen Akteur seines Œuvres.

216 Abgedruckt wird das Gedicht unter dem Titel Ehetanzlied bereits 1898 in der Zeitschrift Quickborn. Vgl. Bierbaum, Otto Julius  : Ehetanzlied. In  : Quickborn 1 (1898), H. 1, S. 17. 217 Die Uraufführung des Balletts fand am 20.3.1900 am Großherzoglichen Hoftheater in Karlsruhe unter der Leitung des Komponisten Felix Mottl statt.

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3 Der Fluch der Attraktion: Stilpe

Das öffentliche Proklamieren einer literarischen Biographie, die für einen Motor im Literaturbetrieb gehalten wird und die ähnlich populär wie die Familienblattfiguren und spektakulär wie die Jahrmarktsbudenfiguren inszeniert wird, lässt sich anhand des Protagonisten in Bierbaums Roman Stilpe analysieren. Stilpe ist der populäre Literaturkritiker, er ist der Gründer einer Varietébühne und er steht selbst als Conférencier auf der Bühne. Er nimmt also mehrere wichtige Schlüsselpositionen einer literarischen Öffentlichkeit zugleich ein. Er ist Mäzen oder wenigstens Förderer und öffentlicher Fürsprecher der Kunst, die er selbst produziert und interpretiert, er verkörpert als Kritiker und Journalist zusätzlich die Rezeptions- und Verbreitungsinstanz der Kunst. Ein literarisches System funktioniert nur, indem es sein eigenes Umfeld und seine Existenzberechtigung nicht nur von selbst und immer wieder aufs Neue unermüdlich reproduziert, sondern indem es als Literaturmarkt auch den Garanten seiner eigenen Legitimationsbasis bildet. Dieser fragilen Konstellation des sich etablierenden und vielen ökonomischen Verwerfungen unterlegenen Kunstbetriebs des Fin de Siècle begegnet der Erzähler in Bierbaums Roman Stilpe. Die Figur Stilpe in ihrer Multifunktionsfähigkeit ermöglicht es der Erzählerfigur, einen analytischen, nicht ästhetisierenden Blick auf die Reproduktionsverhältnisse von Literatur um 1900 zu werfen  : Im Zentrum des Romans stehen die literarische Bohème der Jahrhundertwende und ihre vielen verästelten sozial-literarischen Verbindungen zwischen einzelnen literarischen Zirkeln, Gruppen, Aufführungsorten und Treffpunkten. Stilpe als Akteur auf der Berliner Varietébühne des von ihm gegründeten Momus-Theaters schließlich verdoppelt den Illusionseffekt einer intakten literarischen Öffentlichkeit. Der Leser des Romans wird von Beginn an durch die direkte Anrede des Erzählers in ein intimes Erzählverhältnis gesetzt, das ihn mit der wankelmütigen Figur Stilpe im Verlauf des Romans sehr vertraut macht. Die Szene im Momus-Theater wirkt dank der Suggestion der verlebendigten Figur Stilpe wie eine Mise en Scène, ein durch die Raumanordnung inszenierter theatraler Illusionsraum im Roman, den Stilpe nutzt, sich selbst zu spielen. Und so findet sich der implizite Leser zu Ende des Romans lesend als Varietépublikum im Momus-Theater wieder und wird Zeuge der Sensationslust der literarischen Öffentlichkeit des wilhelminischen Kaiser-

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reichs. Bierbaum inszeniert diese Lust an neuen Attraktionen im Roman, indem er wiederum auf das Populärwissen zurückgreift, das er bei seinem Lesepublikum als bekannt voraussetzen kann. Ergänzt werden diese kulturellen Wissens-, Feuilleton- und Skandalversatzstücke durch die Inszenierung einer neuen Attraktion  : Das französische Vorbild des Bohèmeromans soll durch Bierbaums Stilpe auch in Deutschland bekannt gemacht werden.

3.1 Stilpes Lehrjahre und die Aneignung von Hoch- als Populärkultur Bierbaum wählt für die Unterteilung seiner »Satire gegen das Litteraten- und Rezensententum[ ]«218 Stilpe die alttestamentlich anmutende Gliederung in vier Bücher. Die Lebensgeschichte des »durchaus problematischen, ja in mancher Hinsicht lächerlichen Helden Stilpe«219 beginnt mit seiner Geburt in der sächsischen Kleinstadt Leißnig, an der »Doktor Schatzheber« (S7)220 beteiligt ist, in Buch 1 (»Der Knabe Willibald«, S5). Die folgenden Bücher sind überschrieben mit »Das Jünglinglein« (Buch 2, S43), »Vir Iuvenis Dominus Stilpe« (Buch 3, S103) und schließlich »Ecce Poeta« (Buch 4, S143). Der Wechsel der Überschriften von der deutschen in die lateinische Sprache vollzieht sprachlich denselben Bildungsweg, den auch der Knabe Willibald Stilpe durchläuft. Als Junge bekommt er von seinem Vater einen Schulplatz im Internat eines Freimaurerinstituts zugewiesen. Nach den mühevollen Jahren in der »königliche[n] Erziehungsanstalt für Knaben in Friedrichstadt-Dresden« (S8) lernt er weiter in der Leipziger Thomas-Schule und führt seine Schulausbildung schließlich als Oberprimaner am »Königlichen Gymnasium« in der sächsischen Industriestadt Wurzen zu Ende, nachdem der Vater überzeugt werden konnte, die Ausbildung nicht schon eher in einer »Schreibhilfe bei einer Magistratskanzlei« (S83) enden zu lassen. Das dritte Buch konzentriert sich auf das Studentenleben Stilpes. Der Schüler wird in Leipzig »stud. phil. et jur. Willibald Stilpe« oder wie es lateinisch hieß  : »vir iuvenis dominus Stilpe leissnigensis« (S106), bis er im letzten Kapitel vom »Hilfsreporter« (S146) zum Literaturkritiker, Autor, Zeitschriftengründer und Theaterregisseur 218 Rachel, M.: Aus der Erzählliteratur. In  : Blätter für litterarische Unterhaltung 72 (1898), Nr. 21, 26.5.1898, S. 329 – 331, hier S. 330. 219 Sprengel, Peter  : Literarische Avantgarde und Cabaret in Berlin  – Erotik und Moderne. In  : McNally, Joanne / Sprengel, Peter (Hg.)  : Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda. Würzburg 2003, S. 29 – 38, hier S. 29. 220 Bierbaum, Otto Julius  : Stilpe. München 1963. Ich zitiere den Roman fortlaufend im Text mit der Sigle »S« und unmittelbar folgender Seitenzahl.

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avanciert. Der Erzähler stellt ihn als Kritiker und als »de[n] lachende[n] Zola« (S170) dar, von anderen Figuren wird er hinter vorgehaltener Hand spöttisch als »Witzwanze« (S145) bezeichnet. Dennoch ist er jetzt der berühmte Feuilletonist Stilpe, gefürchteter Rezensent und umtriebig-geschäftiger Erfinder einer neuen Form des Bühnenwerks  : Er leitet und lenkt als Conférencier, Proklamateur und Inhaber ein Unterhaltungstheater, das als »anständiges Tingeltangel« (S169) ein Massenpublikum amüsiert. Er spielt kurze Zeit mit Erfolg den Direktor des Momus-Theaters und endet als Komiker auf einer kleinen Berliner »Varietébühne ›Zum Nordlicht‹« (S191), wo er sich während einer einstudierten Programmnummer selbst das Leben nimmt, indem er sich auf öffentlicher Bühne inszeniert erhängt. Der Aufbau des Romans folgt klassischen Stationen eines Entwicklungs­ romans, auch wenn sich der Erzähler zu Beginn dagegen verwahrt, ein allzu ­simples, stringentes Entwicklungsmodell des Lebens seines »Freund[es] Stilpe« (S8) zu entwerfen  : Die Gelegenheit, jetzt schon zu konstatieren, wohin sich das Häkchen krümmen will, wäre günstig, aber ich möchte dem Leser auch etwas zu tun geben und überlass’ es also ihm, nachzumessen. Nur bitte ich, sich nicht gleich ein Schema zu machen. Des Menschen Seele ist manchmal schwankender als der Gang eines Betrunkenen durch einen Sturzacker. Aber  : Wie Sie wollen  ! (S19)

In den meisten literaturwissenschaftlichen Interpretationen des Romans steht die Facette des Kulturneuerers und Kabarett- oder Varietétheaterbegründers Stilpe im Vordergrund. Ein zweiter wichtiger Aspekt der Figur wird hervorgehoben, indem Stilpes Studentendasein als prototypisch für das Korps- und Burschenschaftswesen221 des wilhelminischen Kaiserreichs analysiert wird. Viele Interpretationen sind sich einig, dass die Stärke des Romans in der Darstellung des ausschweifenden Berliner Bohèmelebens Stilpes liegt, die für authentisch und einzigartig in der deutschen Rezeption der französischen Bohèmeliteratur gehalten wird. Oft wird der Roman in Überblicksdarstellungen der deutschen Literatur ganz auf das Begründungsmanifest einer deutschen Varietébühne limitiert, die in der Folge vorbildlich wirkt auf praktische Versuche und Theaterunternehmungen wie das von Ernst von Wolzogen unter Mithilfe von Otto Julius Bier221 Vgl. Pilar, Ute  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums. Beziehungen zwischen Außenseitern und bürgerlicher Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. Mainz 1995.

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baum gemeinsam eröffnete Bunte Theater222 in Berlin, die poetisch-satirischen Henkerabende der Elf Scharfrichter 1901 in München, Max Reinhardts Berliner Varietéprogramm Schall und Rauch, das ebenfalls 1901 Premiere hat, oder das Carbaret Fledermaus223, das 1907 in Wien eröffnet. Trotz der starken Anziehungskraft auf Theaterneuerungen und ästhetische Bühnenentwürfe und dramaturgische Einfälle, die der Roman tatsächlich ausübt, stellt sich in der Gesamtkonzeption des Romans doch ein weiterer Zusammenhang dar, dem in der literaturwissenschaftlichen Analyse weniger Beachtung geschenkt wird. Schon in der Kapitelaufteilung und Gewichtung des Romans wird deutlich, dass nur das letzte Kapitel sich den literarischen und publizistischen Bemühungen Stilpes und seinem Versuch der Begründung einer neuen Theaterästhetik widmet. Die vorherigen Kapitel, die Stilpes Schulausbildung und sein Studentenleben vorstellen – das bis auf die Untersuchung von Pilar zumeist auch auf den Ausschnitt des ausschweifenden Bohèmelebens des jungen Stilpe und somit vorwegnehmend auf die Künstlerbiographie des Überbrettl-Schöpfers Stilpe konzentriert wird –, beschreiben einen literarischen Erziehungsweg, dem im Hinblick auf die Forderung Stilpes nach einer neuen Bühne am Ende des Romans eine eminente Bedeutung zukommt. Die Anteilnahme der Literatur an der Erziehung des Willibald, die Einflussnahme literarischer Vorbilder und wiederkehrender Leitfiguren sollen im Folgenden näher untersucht werden. Der Knabe Willibald wird zunächst unterrichtet in einem Knabeninstitut der Freimaurer in der Dresdner Friedrichstadt (den Zeitraum umfasst das erste Kapitel), er wechselt als Obertertianer an die Thomasschule nach Leipzig und gelangt nach Wurzen (zweites Kapitel), um schließlich in Leipzig ein Jurastudium zu beginnen (drittes Kapitel). Dieser Ausbildungsweg hält neben dem Schul- und Lernstoff der Lehranstalten auch nicht kanonisierte und außerliterarische Vorbilder und Ideale für Stilpe bereit. Unter dem Gesichtspunkt populärer Erzählweisen und außerliterarischer Einflussnahmen sollen nicht nur die literarischen Vorbilder und ihre Funktionen in Schulalltag und Studentenleben untersucht werden, sondern auch die gegenläufigen, weniger satisfaktionsfähigen Figuren und Idole aus der Alltags- und Vulgärkultur, die wirksam werden in der Identi-

222 Das von Ernst v. Wolzogen gegründete Bunte Theater heißt bald nur noch Überbrettl. Es öffnet am 8.1.1901 im ehemaligen Sezessions-Theater in der Alexanderstraße 40, direkt am Berliner Alexanderplatz. 223 Vgl. zur Entstehungsgeschichte und den Verbindungen zur Berliner Varietészene Buhrs, Michael / Lesák, Barbara / Trabitsch, Thomas (Hg.)  : Kabarett Fledermaus 1907 – 1913. Ein Gesamtkunstwerk der Wiener Werkstätte. Literatur. Musik. Tanz. Wien 2007.

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tätsstiftung des jungen Literaten und späteren Literaturunternehmers und Thea­ terinitiators. 3.1.1 Das Spiel mit dem Leser und seinem Schul- und Alltagswissen

Stilpe wird in Leißnig geboren als Sohn eines »Lepidopterologen« (S9)224 und ­einer Hausfrau, die dem Leser nur unter der Bezeichnung »Mutter« oder »Stilpe-­ Mama« vorgestellt wird. Da die beruflichen Anforderungen den Vater schon bald veranlassen, nach Südamerika zu reisen, tritt Stilpe in ein Internat des Dresdner Freimaurerinstituts ein, um – nach dem Willen des Vaters – sich später einmal sowohl den Karriereweg »in die Humaniora und den in die Realistika« (S10) offenhalten zu können. Der Weggang des Vaters wird im weiteren Entwicklungsverlauf nicht weiter thematisiert und auch die Absenz des Vaters wird weder durch den auktorialen Erzähler noch in Stilpes wiedergegeben Briefen, Tagebucheintragungen oder Skizzen thematisch. Die väterliche Expedition nach Südamerika steht so losgelöst von dem Entwicklungsgang des Titelhelden  : In ihrer exotisch-morbiden Konnotation eines Schmetterlingskundlers, der zur Sezierung und Katalogisierung von Insekten in das damals kolonialisierte »Südamerika« (S9) reist, bildet sie den Gegenpol zur Strenge und Disziplin der »militärisch geführten Erziehungs­ anstalt«225 des Freimaurerinstituts, das dem Jungen die elterlichen und bildungsbürgerlichen Erziehungsideale ersetzt. Stilpe wächst also vaterlos und unter Einfluss einer patriarchalen Internatsordnung auf. Fluchtpunkte aus dem Internat heraus bilden die Briefe des kleinen Willibald an seine »allerliebste Mama« (S13), der er nicht nur die militärisch anmutenden Tagesabläufe im Internat detailliert schildert, sondern die er auch zur Komplizin und Vertrauten macht, indem er von den Hier­archien und Gewaltausübungen innerhalb der Schülerschaft berichtet und sie bittet, »recht viele Pfannkuchen« (S16) im Paket zu schicken, um die Zugriffe auf ihn durch Bestechung abzumildern. 224 Auch die Schülergruppen in Pan im Busch sind mit »Schmetterlingnetze[n]« ausgestattet, was wieder ein Selbstzitat Bierbaums auf sein eigenes Werk vorstellt (Bierbaum, Otto Julius  : Pan im Busch, S. 12). 225 Pilar, Ute  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums, S. 24. Das Institut existiert in der Dresdner Vorstadt Friedrichstadt tatsächlich  : »Die Freimaurerloge ›Zu den drei Schwertern‹ eröffnete 1772 eine Armenschule, in der die Kinder auch verköstigt wurden. 1843 wurde diese Schule in eine reine ›Knabenerziehungs-Anstalt‹ umgewandelt. Zu den Schülern des sogenannten Freimaurerinstitut zählten Ferdinand von Rayski und Andreas Schubert.« (Landesamt für Denkmalpflege Sachsen [Hg.]  : Denkmale in Sachsen. Stadt Dresden. Friedrichstadt. Dresden  ; Basel 1994, S. 205). Bierbaum wurde 1874 als achtjähriger Junge ebenfalls als Internatsschüler im Institut aufgenommen.

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Die Ausgangssituation und die Innenperspektive dieser »Erziehungsgeschichte«226 einer wilhelminischen Bildungsanstalt und insbesondere eines Jungen­ internats lassen sich einbetten in eine Fülle an Literatur, die sich um die Jahrhundertwende den reformerischen Bemühungen um die Erziehung und Bildung der Kinder zuwendet. Die populäre Schrift des konservativen Julius Langbehn (Rembrandt als Erzieher, 1890), die eine deutschnationale Reformulierung der kulturkritischen Wissenschaftskritik von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung (1874) über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben vornimmt, stößt schuldidaktische und bildungspolitische Diskussionen an, die in den Folgejahren das feuilletonistische Tagesgeschäft prägen. Die kurz nach Stilpe (1897) erscheinenden Romane von Emil Strauß (Freund Hein, 1902), Hermann Hesse (Unterm Rad, 1905), Robert Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 1906) und Robert Walser (Jakob von Gunten, 1909) sind signifikant für die Zuwendung zu dieser Thematik und die Kritik des Erziehungsgehorsams und eines erzieherischen Gewaltverhältnisses an den Schulen. Neben dem sehr populären reformerischen Einspruch durch Julius Langbehn, dessen Überlegungen von schulpädagogischer Deutschtümelei geleitet sind, finden sich weitere berühmte kritische schulreformische Stimmen, wie Theodor Fontane und Ellen Key, die sich kritisch gegen Langbehn wenden. Fontane kolportiert 1890 die Beschwörung volksnationaler Schulstoffe und den sensualistischen Antiintellektualismus in einem anonym erscheinenden Aufsatz in der von Fritz Mauthner herausgegebenen Zeitschrift Deutschland.227 Die schwedische Pädagogin Ellen Key wird in ihrem Bestseller Das Jahrhundert des Kindes (dt. Übers. 1902)228 der Schulreformbewegung eine maßgebliche Stimme verleihen. Bierbaum kann sich in seinem Entwurf der Erziehungs- als Leidensgeschichte aber auch auf viele reformkritische Stimmen beziehen, die nicht aus einer anspruchsvollen literarischen Tradition kommen. Sie stammen aus den populären Literaturkulturen wie den Heftromanen von Hedwig Courths-Maler und den kulturpolitischen Abhandlungen der Familienzeitschriften.229 Auch wenn diese bürgerliche Schulkritik 226 Rachel, M.: Aus der Erzählungsliteratur. In  : Blätter für litterarische Unterhaltung 72 (1898), Nr. 21, 26.5.1898, S. 329 – 331, hier S. 330. 227 Anonym [d.i. Theodor Fontane]  : Nante Strump als Erzieher. In  : Deutschland 1 (1890), H.  29, 19.4.1890, S. 493 – 494. 228 Key, Ellen  : Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Autorisierte Übertragung v. Francis Maro. Berlin 1902. 229 Vgl. Kapitel  4  : Schule, Hochschule, Lehrer. In  : Berg, Christa (Hg.)  : Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. 4  : 1870 – 1918 – Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991, S. 179 – 370.

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die drakonischen Schulpraktiken und den doktrinär eingeforderten Schulgehorsam nicht aufgrund der Struktur der Bildungsinstitutionen kritisiert, sondern mit individuell-mentaler Konditionierung der einzelnen Schullehrer argumentiert und so ein gesellschaftliches Problem individualisiert  : Sie eint – unabhängig von ihrer literarischen Qualität oder moralisch-politischen Tendenz  – der Wunsch nach einer Öffentlichmachung von und Kritik an den hygienischen Bedingungen230 innerhalb der Lehranstalten, an sich erhaltenden Machtgefügen innerhalb der Stufenabfolge der schulischen Jahrgänge (bei Bierbaum werden sie genannt  : Battlinge, Quarks und Strunk) und an der allgegenwärtigen Züchtigung durch die Lehrpersonen.231 Das Besondere von Stilpes Verarbeitung der erfahrenen Schulmalträtierungen ist die genügsame Zurücknahme des Schülers in die ­eige­ne literarischen Welt und die anpassungsfähige Hinnahme der vorgegebenen gewalttätigen Spielregeln. Nur eine Stelle lässt Stilpes Verdruss über die scheinbare Unveränderbarkeit des Machtgefüges auf dem Knabeninstitut erahnen. Er schreibt an seine Mutter (wie alle Briefe immer nur an sie gerichtet sind)  : »Ja, zum Teufel, warum tun sich die Quarks nicht zusammen und wehren sich  ? Wenn sie alle zusammen stünden und vielleicht noch die Battlinge heranzögen, so müßten sie die Großen, die ja viel weniger sind, unterkriegen  !« (S20) Im Anschluss schildert der Roman aus der Sicht der Erzählerfigur in auktorialer Erzählweise die veränderten sozialen Verhältnisse unter den älter werdenden Schülern, die eine neue Form von psychischer Machtausübung am Internat ausbilden  : Da wurde Willibald selber ein Strunk. Zwölf Jahre war er nun alt. Die Periode der wesentlich körperlichen Schindung mit Ohrenlangziehen, Andenhaarenreißen, Schellenkriegen war im allgemeinen vorüber. Die Drangsale fingen an, hauptsächlich seelischer Natur zu werden. Die Strunks, die nur die Großen noch über sich hatten, wurden von diesen nicht geprügelt, sondern verhöhnt. (S22)

Stilpes Schulalltag wird anschaulich durch eine kaleidoskopische Ansammlung aller möglichen Schullektüren und Schulstoffe, die für ein breites Lesepublikum identifizierbar mit dem zumeist selbst erlebten zurückliegenden Schulalltag ver230 »Wenn einer Läuse hat, so nennen sie ihn Lausewenzel. Es kommt beim Haareschneiden raus und ist eine große Schande und wird mit Essig gewaschen.« (S14) 231 »Ich habe furchtbar lachen müssen«, schreibt Willibald an seine »gute Mama«, »weil du schreibst, ob es nicht recht wehthut, wenn der Herr Inspektor auf die Hosen kloppt. Du denkst wol, wir haben sie an, wenn er kloppt  ?« (S17)

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bunden werden konnten  : Die »Peloponnesische[n] Kriege« (S23), die »Biblische Geschichte« (S15), »Cornelios Nepos« (S33), »die Schlacht bei Salamis« (S38 f.) oder »Thusnelda«, die »Gattin Armins des Befreiers« (S41), »Hermodios und Aristogeiton« (S50) sind nicht nur signifikante nomenklatorische Verweise auf die sich wiederholenden Strapazen der Wissensaneignung, sie zielen auch auf die vorwegnehmende Erzeugung von Sympathie für die Leiden des jungen Stilpe beim Lesepublikum. Zum fixen Datum geronnene historische Ereignisse werden von dem Schüler Stilpe genauso identifiziert und als festes, unhintergehbares Faktum gelernt, wie sie dem Leser als vermeintlich banale und unumstößliche Wahrheit in Schlagworten zugeworfen werden. Die Nähe zu anderen damals sehr erfolgreichen Vorbildern »trivialer Gesellschaftsromane«232 von Hedwig Courths-Mahler, Julius Stinde oder anderen Erfolgsautoren und »Gartenlauben-Schriftstellerinnen«233 scheint Bierbaum absichtsvoll zu suchen, wenn er um das allgemeine Verständnis und Mitleid des Lesers wirbt. Die offenkundige Begrenztheit schulischer Pädagogik und die konservativ-nationale Einfärbung des vermittelten Schulstoffs macht die Erzählweise sinnfällig. »Geographie ist sehr ausgedehnt« (S15), hält Stilpe fest und enthüllt in der Doppeldeutigkeit nicht nur die Monotonie des Unterrichts, sondern auch den politischen Hintergrund und den territorial-kolonialen Diskurs, der die verstärkte Aufmerksamkeit auf dieses Unterrichtsfach forciert. »In der Geschichte gefallen mir die alten Germanen vortrefflich gut«, berichtet Stilpe weiter, »[a]ber die Römer siegen immer« (S15) – und erfasst so die Ideale des wilhelminischen nationalen Heroismus, wie ihn im Opferkult und Schmachdiskurs nicht nur der Geschichtsunterricht vermittelt, sondern wie er auch in ähnlicher Weise vorbildlich wirkt in Familienblättern und anderen national-konservativen Massenmedien als eine »bereits zum Mythos gewordene[ ] geschlossene[ ] Geschichtswelt«234 des Wilhelminismus um 1900. Ein weit verbreitetes und auf die Lehrpläne der jeweiligen Staaten des deutschen Kaiserreiches und die vorherrschende Konfession abgestimmtes Schulhandbuch aus dem Verlag Velhagen  & Klasing, das für den allgemeinen Schulgebrauch vertrieben wurde  – Kahnmeyer / Schulzes Realienbuch  – belegt die stereotype 232 Karl Markus Michel charakterisiert so die Romane von Hedwig Courths-Mahler, die das Lese­ verhalten des von Bierbaum anvisierten Publikums prägte (Michel, Karl Markus  : Zur Naturgeschichte der Bildung. Die ältere Kolportageliteratur. In  : Schmidt-Henkel, Gerhard / Enders, Horst / Knilli, Friedrich / Meier, Wolfgang [Hg.]  : Trivialliteratur. Aufsätze. Berlin 1964, S. 7 – 22, hier S. 13). 233 Schrattenthal, Karl  : Frauenschriften. In  : Blätter für literarische Unterhaltung 71 (1897), Nr. 14, 1.4.1897, S. 214 – 216, hier S. 215. 234 Michel, Karl Markus  : Zur Naturgeschichte der Bildung, S. 21.

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deutschtümelnde und militärbegeisterte Ausrichtung des Geschichtsunterrichts im Lehrplan. Anekdotenhaft wird Geschichte als Nationalkultur vermittelt und werden die Ideale des wilhelminischen Kaiserreichs als die eines vergeistigten, aber naturverbundenen und gesunden Volkskörpers der Deutschen vorgestellt  : »In uralten Zeiten bedeckten unermessliche Laubwälder und große Sümpfe unser Vaterland […] Die alten Deutschen waren ein rauhes, kernhaftes Geschlecht von großem Wuchs und Kühnheit«235, heißt es  ; über Blücher lernen die Schulkinder  : Er »war bei Beginn der Freiheitskämpfe bereits 70 Jahr alt, doch stand er noch in voller Manneskraft«236 und »Kaiser Wilhelm war von hoher, edler Gestalt.«237 Bierbaum spielt mit solchem durch die Erziehungsanstalten propagierten Heldentum und lässt seine Protagonisten sich ganz den mythischen Idealen träumerisch hingeben. Willibald fühlt sich überwältigt von einem Konglomerat »an allerlei anfliegenden Idealempfindungen von germanischen Urwäldern, Blücher, Kaiser Wilhelm, Moltke« (S41). Gleichzeitig lenkt dieses erhabene Gefühl von den ersten sexuellen Bedürfnissen erfolgreich ab, die auf dem Internat unterdrückt werden müssen. Der personalisierte Geschichtsunterricht wird von dem jungen Stilpe in einen »kleinen Heroenkult« (S19) überführt, der nicht nur identitätsstiftend wirkt, sondern auch kompensatorischen Charakter hat. Das identifizierende Denken befördert der Form nach eine Wissensaneignung, die partiell von ihrem Gegenstand abstrahieren kann. So ist es Willibald eigentlich egal, ob er Bismarck, Moltke, den Kaiser oder Lasalle und Heinrich Heine verehrt. In den unterschiedlichen Entwicklungsstadien des jungen Pennälers wird mit der gleichen Euphorie und absoluten Treue ein Kult der Verehrung von oftmals politisch oder kulturell diametral entgegengesetzten Figuren betrieben. Die Komik entspringt genau aus dieser widersprüchlichen Aneignung von gegensätzlichen ideologischen Weltanschauungsmodellen, werden sie doch für den jungen Stilpe selbst immer plausibilisiert und als die jeweils einzige Wahrheit, wenn es sein muss, mit Schlägen verteidigt. Die Form der Überidentifikation ermöglicht Stilpe einen affirmativen Umgang mit dem Gewaltverhältnis an der Schule ebenso wie ein Ausbrechen aus und ein Verachten der Norm, die soziale Verhältnisse in einem Freund-Feind-Schema emotionalisiert und dadurch naturalisiert. Stilpe gewinnt an der Schule in Dresden und später auf der Oberschule 235 Kahnmeyer, Ludwig / Schulze, Hermann  : Realienbuch. Enthaltend Geschichte, Erdkunde, Naturgeschichte, Physik, Chemie und Mineralogie. Ausgabe A. Nr. 1 Vollständige Ausgabe für evangelische Schulen. Mit zahlreichen in den Text gedruckten Abbildungen. 141. – 150. Auflage. Bielefeld  ; Leipzig 1913, S. 1. 236 Kahnmeyer, Ludwig / Schulze, Hermann  : Realienbuch, S. 118. 237 Kahnmeyer, Ludwig / Schulze, Hermann  : Realienbuch, S. 141.

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in Wurzen und der Leipziger Universität ein Politikverständnis, dass nicht rationalen Erwägungen folgt, sondern nach Sympathie wertet, und er entwickelt eine unterschiedslose Euphorie, die politische oder literarische Urteile zu Glaubenssätzen gerinnen lässt. Beides sind Versuche, aus einem allzu rigiden und disziplinierten Schulalltag auszubrechen, wie er für das damalige Kaiserreich sicher nicht nur am Freimaurerinstitut in Dresden-Friedrichstadt symptomatisch wird  : Aber in seinen Tagebüchern rumorte sich die Empörung seines Wortschatzes am wildesten aus. Dort fanden sich im wunderlichen Nebeneinander die Namen von Gajus und Tiberius Gracchus, Catilina, Marat, Danton, Robespierre, August Bebel und Eugen Richter. Für Majestätsbeleidigungen hatte er sich eine Geheimschrift erfunden. Der vor vier Wochen noch angebetete Name Bismarcks war von nun an durch das Zeichen eines Dolches wiedergegeben. (S50)

Stilpes politisches Urteilsvermögen wirkt im Kontrast zu den Äußerungen seines Schulfreundes und »Klassengenossen« (S45) Girlinger naiv und banal. Auch Gir­ linger kennt Leitbilder und politische Vorbilder – neben Ludwig Börne sind dies vor allem Ferdinand Lassalle und August Bebel, aber auch Kant und Schopenhauer zählen dazu  –, doch nimmt er sie »kühl in sich« (S51) auf und goutiert sie mit »Kennerschnalzen« (S51) bei seinem Studium. Stilpe wiederum liest keines der Bücher, die ihn jetzt durch Girlingers Einfluss »wild begeisterten« (S51), zu Ende, doch elektrisiert ihn die Lektüre, da er »sofort wie überschüttet und überglänzt war und alles am liebsten gleich subjektiv für sich zur Tat gemacht hätte.« (S51) Auch wenn beide Obertertianer mit zwölf Jahren sehr jung sind, zeigt der Roman ihre politische Polarisierung unter dem Einfluss der Schullektüre und fängt in Stilpes Edukation zwei wichtige Momente karrikaturhaft ein, die den Mentalitätsdiskurs der Jahrhundertwende stark beeinflussen. Es ist die Betonung des Subjektiven und der Emotionalität sowie der Wunsch nach einer Betätigung oder nach einem Ausdruck in der Tat. Der Internatsalltag in seinem militärisch anmutenden Tagesabläufen und starken Hierarchien, die Demütigungen und Entsagungen in der Adoleszenz systematisch einfordern, ist die andere Seite einer nach Erfüllung strebenden Wunsch-Identität, die sich in der kämpferisch-strotzenden Schülerwiderständigkeit eines Stilpe Bahn bricht. In den ersten Kapiteln des Romans, die Stilpes Schulausbildung anschaulich werden lassen, wird nicht nur der national-stereotype und biologistische Heroenkult der Geschichtsschulbücher karikiert, sondern auch in Beziehung gesetzt

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zum Werdegang Stilpes als Bohèmien, der nicht losgelöst von dieser auf Identität und Widerspruchsbereinigung ausgerichteten Erziehung im weiteren Verlauf des Romans zu denken sein wird. Der wilhelminischen Erziehungsmoral, die geprägt ist von preußisch-militärischen Ordnungstugenden und der Einübung eines Vasal­lengehorsams gegenüber den Paukern und dem Kaiserreich, entzieht sich der adoleszente Stilpe und begegnet ihr mit seinem eigens entwickelten Pathos der Tat. Ausflucht aus der schulischen Enge bieten ihm zwei Lehrmeisterinnen, die widersprüchlicher nicht sein können  : die Literatur und das Bordell. Im Folgenden sollen beide Bereiche, der vergeistige Bereich der Literatur und der der erotischen Lebenserfahrung, daraufhin untersucht werden, wie sie Stilpes Phantasie beflügeln. Im weiteren Verlauf wird sich diesen beiden Fluchtpunkten, die das apollinische und das dionysische Prinzip verkörpern, noch ein dritter hinzugesellen, der der Produktivität Stilpes zum Durchbruch und zur Vernichtung zugleich verhilft. Ihm wird ein eigenes Kapitel gewidmet  : dem Alkohol. 3.1.2 Die Literatur als Erzieherin

Ist die Schullektüre geprägt durch die Verehrung antiken und romantischen Heldentums, das sich sowohl im Geschichts- wie auch im Literaturunterricht niederschlägt und eine umfassende »Mystifikation des Kriegertums«238 etabliert, sind es die Abenteuerromanlektüren Stilpes, die als »literarisch-fiktive«239 Fluchtoption Kompensation versprechen. Der Roman verfolgt die Lese-Stationen Stilpes und entwirft diesen lesend fortschreitenden Bildungsprozess als autodidaktischen Gegenentwurf zur Schulausbildung  : »Nebenbei fing er auch an, auf alles Gedruckte zu fahnden was kein Schulbuch war« (S27) und  : »Die meiste Zeit las er. Wahllos alles, was ihm unter die Hände geriet« (S38). Ähnelt das Interesse an literarischen Produktionen einer wilden Aneignung der Lektüreerfahrungen, lenkt dies das Augenmerk eher auf den Prozess des Eroberns eines irrealen, phantastischen Raumes als auf die Aufnahme einer bewusst gewählten Geschichte oder Historie. Je zielloser die Lektüre, die von Stilpe gesucht wird, desto stärker wird im Roman der Eindruck einer Genuss bringenden Ablenkung vor den Anforderungen, die außerhalb der Lektüre und der Phantasie liegen, entworfen. Zunehmend bilden im Laufe seines literarischen Bildungswegs dann auch literarische Figuren eine 238 Demant, Oliver  : »Zwischen Aktion und Kontemplation«. Das Frühwerk Ernst Jüngers unter dem Aspekt der Entwicklung individualistischer und kollektivistischer Perspektiven als Bewältigungsversuch der Moderne. München 2008, S. 28. 239 Demant, Oliver  : »Zwischen Aktion und Kontemplation«, S. 30.

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Vorbildfunktion für Handlungsanleitungen aus, die Stilpe sich vergegenwärtigt und die er mit seinen eigenen Taten vergleicht. So erwächst aus der Entschlossenheit und Hingabe von Friedrich Schillers Räuber Karl Moor – nach kurzer Zeit moralischer Gewissensbisse – Stilpes Entschluss, seine Zieheltern Wiehr ebenfalls heimlich zu bestehlen und den Schrank mit den Devotionalien ihres zu früh verstorbenen Sohnes »aufzubrechen« (S69). Mehr und mehr füllen die Lektüreerfahrungen das Vakuum der fehlenden Erzieherrolle, das sowohl der abwesende Vater hinterlässt als auch die Mutter – die beim Aufenthalt im Dresdener Jungeninstitut zwar als Ansprechperson und Briefpartnerin fungiert, aber doch selten anwesend sein kann –, wie auch die später in Leipzig zugeteilten Zieheltern Wiehr, die ebenfalls wenig Notiz von Stilpes Freizeitbeschäftigungen nehmen. Die ersten eigenständigen Lektüreerfahrungen macht Willibald, indem er Jugendausgaben von Klassikern und Abenteuerromanen schmökert, darunter finden sich »[d]er Lederstrumpf, verschiedene Walter Scott-Romane, ›für die Jugend‹ bearbeitet, ein ›ausgewählter Goethe‹ (fahr hin, Kastrat  ! rief Willibald) und anderes mehr« (S56). Schon bald werden die Bücher bei dem Antiquar Wopf240 in Bares verwandelt, damit Stilpe den ersten Abenteuern im Bordell finanziell gewachsen ist. Aus den wiederholten Besuchen bei dem Antiquar erwächst in Stilpe die erste Dramenidee, in der der Antiquar, seine Frau  – die »üppig blühende Gattin« (S56) – und Stilpe selbst als etwas älterer »Galan« (S56), berühmter Journalist und Liebhaber die Hauptrollen übernehmen sollten. Das »WopfDrama« (S57) bildet den Beginn von Stilpes Laufbahn als Literaturproduzent und es erhält mit dem Titel »Der Hahnenrei. Sittentragödie«241 (S59) zugleich als abgesetzter Abdruck im Roman die literarische Werkautonomie, die Stilpe 240 Die Figur des Antiquars Wopf wird in der 1904 erscheinenden Studentenkomödie Der Musenkrieg wiederkehren, so wie viele andere der Bierbaum’schen Protagonisten sein komplettes Œuvre durchwirken und wiederholt in Erzählungen, Romanen oder Singspielen auftreten. 241 »Das beliebteste erotische Thema«, zeigt Rudolf Schenda in seiner Sozialgeschichte des Lesens und populärer Lesestoffe des 19.  Jahrhunderts, »ist übrigens nicht der Koitus, sondern die Hahnreischaft. […] Während sich die Etymologen seit langem in ernstem Eifer die Köpfe zerbrechen, was der Hahn, das -rei und die Hörner, der Kuckuck und der Hirsch miteinander zu tun haben, findet der einfache Leser jede Geschichte von betrogenen Ehemännern schrecklich lustig, ohne sich über die inzwischen verhärtete Metaphorik Gedanken zu machen. Der Hahnrei liefert Stoff für die Anekdoten in Wochenblättern, allgemeine Witzsammlungen und spezielle Kollektionen von Hahnrei-Witzen, Hahnrei-Orden und ihre Publikationen, Hahnrei-Lieder, Hahnrei-Patente in Form von Einblattdrucken, die dem Empfänger seine Hahnreischaft bezeugen, Hahnrei-Predigten, Hahnrei-Spottbüchlein und Hahnrei-Trostschriften. […] Die Hahnrei-Satire trifft weniger die Institution der Ehe als die staatliche oder kirchliche Gesetzgebung.« (Schenda, Rudolf  : Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770 – 1910. Frankfurt / M. 1977, S. 371 f.)

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seinem Entwurf zugesteht. Das Wopf-Drama wird nie geschrieben werden, es ist Hirngespinst und Hypertrophie Stilpes, aber es bleibt als literarisches Phantasieprodukt in Stilpes Kopf erhalten. Später soll die Geschichte in ähnlicher Figurenkonstellation die Form einer »Kriminalnovelle« (S68) erhalten, doch auch diese literarische Idee wird nicht umgesetzt. Dennoch bilden die Lektüreerfahrungen Stilpes das eigentliche Korrektiv seiner eigenen Lebensführung. Dass die Literatur selbst an die Stelle der Erziehungsberechtigten tritt und die Poesie und die Lektüre als Ersatzhandlungen Erziehungsgehilfinnen spielen, bettet sich ein in einen populären Diskurs um die Jahrhundertwende, der seit dem Erscheinen von Langbehns Bestseller Rembrandt als Erzieher (1890) die autodidaktischen und bildgebenden Verfahren als Bildungsideal aufwertet. Seine Schrift stellt die althergebrachten Lehrmeinungen und klassischen Schulbildungsideale der Wissensaneignung durch verinnerlichende Rezitation, durch Wiederholung und Repetieren in Frage. War es Friedrich Nietzsches »Abwehr eines Zuviel an historischer Bildung als reiner Tradition«242 noch gelungen, erkenntniskritisch auf die jahrhundertelang eingeübten Techniken der Wissensvermittlung und der Indoktrination von Lehrmeinungen einzuwirken, so verbreiterte sich zwar sein kulturkritischer Einwand in Langbehns populärem Erkenntnisinteresse, aber nicht ohne dass der erkenntnistheoretische Gedanke bei ihm verflachte. Langbehns Vereindeutigung der Anschauung im Bild kulminiert in einer »radikale[n] Wissenschaftsfeindlichkeit«, doch erwächst aus Rembrandt als Erzieher eine neue Perspektive auf pädagogische Ansätze und Verfahren. Die unsystematischen Erörterungen Langbehns fußen auf einer apodiktischen Unterscheidung zwischen den rationalen und unemotionalen Kategorien einer Verstandeskraft, die nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die im 19. Jahrhundert etablierte Vorstellung eines Bildungsprozesses zunehmend einseitig bestimmten, und einer emotionalen, kämpferischen und emphatischen Kraft des Individualismus und seiner schöpferischen Kreativität, die urtümlich sei, aber auch in der Kunst des Münchner »Gemüthsmaler[s]«243 Fritz von Uhde und des »Phantasiemaler[s]«244 Arnold Böcklin noch gegenwärtig zu finden sei. Langbehn sieht die letztgenannten produktiv-urtümlichen Kräfte unterdrückt durch die vorherrschenden Verstandeskategorien in den akademi242 Ulbricht, Justus H.: Ästhetik, Religion und neue soziale Bewegung um 1900. In  : Braungart, Wolfgang / Fuchs, Gotthard / Koch, Manfred (Hg.)  : Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwende II. Um 1900. Paderborn  ; München  ; Wien  ; Zürich 1998, S. 47 – 67, hier S. 60. 243 Langbehn, Julius  : Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. 41. A. Leipzig 1892, S. 35. 244 Langbehn, Julius  : Rembrandt als Erzieher, S. 35.

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schen und historischen Wissenschaften und durch die Epoche des Historismus in der Kunst negiert. Ergebnisse dieser einseitigen Prägung deutscher Wissensund Geisteskultur zeigten sich in der Verkümmerung und der Kraftlosigkeit der deutschen Geisteselite, die Langbehn beeinflusst sieht von einer »falschen Kultur« des französischen Realismus, geprägt durch Émile Zola, und des Antikenkults. Für die Ausbildung eines neuen deutschen Genius oder eines deutschen Geistes müsse das Ziel einer »gesamtkulturellen Reform« in der »Wendung zur Kunst«245 liegen. So banal die Trennung von rationaler Wissenschaft und schöpferisch-kraftvoller, produktiver Kunst ist, so einschlagend und maßgebend war sie damals in der Kritik der historischen und akademischen Schulausbildung. Rembrandt als Vorbild vereint den Wissenschaftler der Renaissance mit dem individuellem Schöpfer, den er als Maler und Künstler vorstellt. Langbehn propagiert diesen Rembrandt und durch seine populärwissenschaftliche Abhandlung beeinflusst er einen neuen Heroenkult des vermeintlich natürlichen Wissens und des Erkenntnisgewinns gefühlter Wahrheiten. Sie ebnet einer neuen Volksbildung den Weg, die auf die Sphärentrennung von (echtem) Gefühl und (künstlichem) Intellekt fußt und vor allem den deutschen Vorbildern des Sturm und Drang, aber auch der Romantik nacheifert. Der Idealismus Hegel’scher Prägung bringt nach Langbehn im deutschen 18. Jahrhundert eine Wissenschaft hervor, die aus der »Vogelperspektive« argumentiert. Auf diese Epoche folgt im 19. Jahrhundert die »Froschperspektive« des »Spezialismus« des Neukantianismus. Die Einfachheit und Genialität des Individuums müsse nun nach Langbehns Vorstellung diese »Froschperspektive« ablösen und eine neue Perspektive der Weltaneignung und Wissensausbildung des beginnenden 20. Jahrhunderts prägen, um die deutsche Kultur erneuern oder gar revolutionieren zu können  : Die falsche Objektivität ist vor allem zu bekämpfen. Kaltblütigkeit ist nützlich und auch ein Frosch hat kaltes Blut  ; aber die Frosch-Perspektive ist deshalb doch noch nicht die richtige Perspektive, um die Welt zu beurteilen. Das vorletzte Jahrhundert, in seinem Idealismus, sah die Welt aus der Vogelperspektive an  ; das letzte, in seinem Spezialismus, sah sie aus der Froschperspektive an  ; hoffentlich wird das jetzige, in einem gesunden Individualismus, sie aus der menschlichen Perspektive ansehen. Der Mensch schwebt weder in den Wolken, noch hockt er im Sumpfe  : aber steht, mit festem Fuß, auf der Erde  ; dies gilt für seine physische sowohl wie seine geistige Existenz.246 245 Heinßen, Johannes  : Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 439. 246 Langbehn, Julius  : Rembrandt als Erzieher, S. 69.

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Wenn Bierbaum nun wiederum seinen Roman Stilpe aus der »Froschperspektive« erzählt, wie es im Untertitel heißt, dann verweist er auf den in der Öffentlichkeit diskutierten kulturkritischen Anspruch der Langbehn’schen Schrift. Die Figur Stilpe ist ein Produkt der Langbehn’schen populären Wissenschaftskritik und sie bildet in der Schule durch ihre Lektüren und Lehrbuchlektionen bald einen Heroenkult aus, wie ihn Langbehn in Rembrandt als Erzieher für einen volkstümelnden Bildungsgedanken notwendig voraussetzt. Der Wissenschaft stellt Langbehn in der Figur des universal gelehrten Malers, Radierers und Zeichners Rembrandt eine Künstlerfigur entgegen, der es in Langbehns Apologie einer neuen Didaktik der Wissenschaften gelingt, erst durch die künstlerische Produktion erkenntnistheoretisch produktiv zu werden oder umgekehrt seine Erkenntnis produktiv und gestalterisch wirksam werden zu lassen. Garant für eine erfolgreiche Wissenschaftsvermittlung ist für Langbehn die Popularität und die Anschauung von historischen oder naturwissenschaftlichen Wissenskategorien. In die Sphäre der Kunst überführt, wird die Erkenntnis aber nicht einfach zur Darstellung gebracht, sondern sie entfaltet erst im vitalistischen Modell einer Erweckung oder eines Geniekults der Jahrhundertwende ihre Wahrheit. Stilpe lässt sich gut einfügen in das Langbehn’sche Erziehungskonzept, ist ganz beseelt durch die literarischen Vorbildfiguren (die sowohl aus der Abenteuerliteratur wie auch aus der schulischen Pflichtlektüre entspringen) und bastelt aus ihnen wild sein individuelles Heroentum. So konsumiert Stilpe Heinrich Heine als Hoch- wie als Populärkultur und unterscheidet beides nicht in seiner Aneignung des romantischen Dichters als Held der lyrischen Durchdringung des alltäglichen Lebens. Er zitiert Hölderlin und baut ihn verlebendigt ein in seine Alltagssprache  : »Komm ins Freie  !«, flüstert er Girlinger zu, um ihn bei seinem ersten Liebeskummer ins Vertrauen zu ziehen. Der Antiquar Wopf inspiriert ihn, eine »aristophanische Komödie [zu] schreiben  : Die Kaulquappen« (S62). Wirkliches Leben und gelebte literarische Phantasien werden Stilpe zunehmend eins auf seinem Weg der literarischen Erziehung. Der Drang zur literarischen Tat lässt eine weitere erzieherische Vorbildwirkung der Literatur für Stilpe wirksam werden  : Er beginnt, sich der Welt mit einem Okular zu nähern, das sie auf ihr Potential für eine literarische Verarbeitung prüft. Dabei werden die literarischen Klassiker und die Schulliteratur in Stilpes Alltagskommunikation ebenso unterschiedslos verwoben wie Werbe- und Trinksprüche oder Abzählreime. Dieser Auflösung von literarischen und historischen Leitfiguren in profanen industriellen Kitsch und in banale Illustrierten- und Werbeikonen folgt auch der Erzählstil des auktorialen Erzählers. Martha, eine Prostituierte, die für Stilpe ebenfalls zur wichtigen Lehrerfigur werden wird, erinnert den Erzähler dank ihrer »allerweichesten,

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rundesten Bewegungen« und ihrer »sehr liebe[n], linde[n] Stimme« gleichzeitig an Paul Thumann, den biedermeierlichen Porträtmaler, wie auch an schundverdächtige Werbebildchen  : »Professor Thumann hat diesen Typus in die Seele der deutschen Bourgeoisie gemalt, und wir begegnen ihm noch immer auf Wäschekartons, Zigarrenkisten und Glaube-Liebe-Hoffnung-Buntdrucken« (S49). Was als künstlerische Stabilisierung des Bürgertums in der Mitte des 19. Jahrhunderts galt, ist in den städtischen Kulturbetrieben zu konsumierbaren Schmuckelementen gewandelt, was aber weder das eine zum Kitsch machen noch das andere für unbrauchbar erklären soll, sondern beides zu Formen eines neuen kulturellen Ausdrucks eines städtischen Industriezeitalters werden lässt. Diese Gleichzeitigkeit von kulturell anerkannten Klassikern und bekannten Illustriertengrößen und niederen Schund- und Werbeartikeln appelliert wiederum an die Lese- und Rezeptionsgewohnheiten eines breiter werdenden Massenpublikums der Jahrhundertwende. In ihrer adoptiven, enthusiastischen Aufmerksamkeit in der Vereinnahmung zeigen sowohl das Assoziationsgedächtnis des auktorialen Erzählers wie auch der Stilpe’sche Bildungsweg die Vor- und Nachteile der Schulbildung und eines Zuviel an historistischen Stoffen. Langbehn verurteilt den »Spezialismus«, wie er ihn nennt, der ausdifferenzierten Einzelwissenschaften des 19.  Jahrhunderts und insbesondere der Geschichts- und Kulturwissenschaften des Historismus, die nicht mehr die Ideale der gesamtgesellschaftlich gebildeten Humanwissenschaften wiedergeben, und beklagt deren »Frosch-Perspektive«. Stilpe nimmt diese Perspektive an, ohne sie selbstkritisch zu hinterfragen, der »Roman aus der Froschperspektive« spiegelt Langbehns populärer Erkenntnistheorie ironisch ihre banale Welterkenntnis wider. Fungieren dabei alle Begegnungen und sozialen Erfahrungen auf Stilpes Weg zum literarischen Schriftsteller und Kritiker mehr und mehr als dramatische Vorlagen und bloßes Zitat, so überführt Stilpe die Geschichtslosigkeit einer simplifizierenden Alltagsbegegnung in literarische Sinngebung. Der Akt der Literarisierung ist somit ein Lehr- und Bildungsakt zugleich. Dem Weg der von Nietzsche geforderten Ablösung der entleerten Geschichtswissenschaften durch die Künste geht Stilpe intuitiv nach. Die Verlebendigung von Geschichte erfolgt gerade durch ihre Literarisierung. Der Bildungsprozess, den Stilpes Lektüren anstoßen, bildet in dem Maße, wie sich sein Wunsch nach Dramatisierung von Welt steigert, eine phantastische, literarische Welt aus, die als Ordnungsinstanz hinüberreicht in die Wirklichkeit. Ein Produkt dieser literarischen Erziehung ist das Identitätsspiel in den beiden geheimen Lesezirkeln »Lenz« und »Cénacle«. Dass Stilpe als wilder Leser in seiner Schulzeit die Aneignung von Kunst und Unterhaltungskultur auf die gleiche

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enthusiasmierte und identifizierende Art vornimmt, knüpft auch an die Lektüre­ erfahrung des imaginierten Lesers an. An seine Schullektüren wird ebenso appelliert wie an sein Kunstwissen und seine literarische Bildung. Bierbaum verquickt die Ebenen der Kunst- und der Trivialliteraturproduktionen in seinen Anspielungen und Zitaten. Sein Roman setzt »voraus, dass das Publikum die Originale kannte oder zumindest von ihnen wusste, da es sonst die Anspielungen nicht verstanden und damit auch nicht als lustig empfunden hätte.«247 Dass Literatur erzieherisch wirksam wird für Stilpe, verdankt sie auch ihrer Eigenschaft der »doppelten Optik«248  : Sie stellt Stilpe als naiven und nach Identität suchenden Jungen ebenso zufrieden, wie sie im Kreis der Bohèmiens einen gebildeten Lesegenuss verschafft. Nietzsche beschreibt mit dem Bild der doppelten Optik den Publikumserfolg der Wagner’schen Opern und versucht ihn aus der ästhetischen Struktur der Opern, zusammengesetzt aus banalen Kompositionselementen und raffiniertem Zitatspiel, zu erklären. Bierbaum schildert in einem Brief an Georg Müller seine Motivwahl für die Frontgestaltung von Die Yankeedoodle-Fahrt (1909) und verfolgt ein bildstrategisches Zitatspiel, das dieses poetische Verfahren praktisch werden lässt und sich zugleich an dem erfolgreichen Unterhaltungsmodell orientiert. Der Typograph und Illustrator Paul Renner solle, wünscht sich Bierbaum, holzschnittartig ein Bild dazu machen, nach einer Photographie von mir, die mich von hinten auf dem Hinterteil des Schiffes zeigt, mit dem Zeissdoppelfeldstecher das Land der Griechen suchend. Oder es sollte, nach einer anderen Photographie, ein Bild dichten, wie ich von einem Araber rasiert werde. oder es sollte mich auf einem Esel reitend darstellen. Was sich zwar Alles (Gott sei vor  !) nicht begeben hat, aber dem Pöbel Spaß machen würde. Das beste wäre wol das Hinterteilbild.249 (Abb. 25) 247 Becker, Tobias  : Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880 – 1930. München 2014 S. 400. 248 Vgl. Nietzsche, Friedrich  : Aphorismus 825. In  : ders.: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwer­ thung aller Werthe (Studien und Fragmente) (Abth. 2, Bd. 7  : Nachgelassene Werke). Leipzig 1901. Der Gedanke findet sich aber auch in Nietzsches Schriften Der Fall Wagner (1888) und Nietzsche contra Wagner (1888). Aufschlussreich, wenn auch auf das Werk Thomas Manns bezogen, ist die historische Verortung der »doppelten Optik« Nietzsches in Klugkist, Thomas  : »Doppelte Optik«. In  : ders.: Sehnsuchtskosmogonie. Thomas Manns Doktor Faustus im Umkreis seiner Schopenhauer-, Nietzsche- und Wagner-Rezeption. Würzburg 2000, S. 439 – 456. Als Erster unternahm Eberhard Lämmert die Anwendung der ästhetischen Doppelinterpretation auf Thomas Manns Werk (vgl. Lämmert, Eberhard  : Doppelte Optik. Über die Erzählkunst des frühen Thomas Mann. In  : Rüdinger, Karl [Hg.]  : Literatur Sprache Gesellschaft. München 1970, S. 50 – 72). 249 Brief Bierbaum vom 24.5.1909. Zitiert nach Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Rela-

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25  Einband von O. J. Bierbaum: Yankeedoodlefahrt und andere Reise­ geschichten (1909).

Dieses parodistische Verhältnis wird Stilpe als Figur auf der Bühne beibehalten, wie es das ganze literarische Schaffen von Bierbaum kennzeichnet. Durch diese Vermischung ist Bierbaum einem Verfahren der Popularisierung der Literatur auf der Spur, die marktkonforme Elemente wie das Populärwissen, Trivia und Schullektüren an Versatzstücke einer Bildungskultur und Theatergeschichte bindet. Beide letztgenannten bildungsbürgerlichen Errungenschaften sollen auf diese Weise wieder breitenwirksamer zur Geltung kommen. 3.1.3 Das Bordell als Erzieherin

Bevor Stilpes literarische Bildung in Bezug zu seinem weiteren Bildungsweg in geheimen Lesezirkeln und Bohèmekreisen gesetzt wird, die in ihrer Selbstwahrnehmung einen Gegenentwurf zu den bürgerlichen Erziehungsidealen darstellen, soll auf ein Motiv eingegangen werden, das um 1900 ebenfalls literarische Bedeutung bekommt, ein verstärktes öffentliches Interesse hervorruft, äußerste populär tionship with his Publishers. Göppingen 1975, S. 234. Paul Renner malt Bierbaum wunschgemäß das Hinterteilbild.

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ist und das in dem entworfenen Erziehungsmodell des jungen Willibald Stilpe eine nicht unerhebliche Rolle spielt  : das Bordell. Das Bordell und insgesamt der Motivkomplex der Prostitution erhält durch das wachsende städtische Amüsementbedürfnis bei zugleich verstärkten Restriktionen durch die juristischen Verfolgungs- und Polizeibehörden des Kaiserreichs eine besondere Bedeutung als Ort des sozialen wie politischen Refugiums wie auch als Ort sittlicher Freizügigkeit, sexueller Versprechen und Wunscherfüllungen. Szenen und Figuren aus dem Bordell werden motivisch vorbildlich in den impressionistischen Zeichnungen von Edgar Degas und den Zeichnungen und Farblitographien von Henri de Toulouse-Lautrec, die wiederum im Pariser Vorort Montmartre entstehen. Das Viertel rund um den Montmartre prägte den Topos des Lebens der Bohème und des ausschweifenden, frivolen wie ungewohnt freizügigen sozialen Umgangs wie kein anderer Ort. Die Erotisierung des Lebens ist eine Errungenschaft, die sich ebenfalls erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der zunehmenden Verstädterung und der Entstehung eines urbanen mittelständischen und kleinbürgerlichen Angestelltenmilieus entwickelt. In dem Pariser Vorort wird dies greifbar, so dass am Montmartre im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Sehnsuchts- und real erlebbarer Ausflugsort gefunden ist. Die Gegend rund um die ehemalige Benediktinerabtei Saint-Pierre de Montmartre stellt ursprünglich ein Armen- und Bauernviertel dar, das in den 1860er Jahren langsam erschlossen wird und durch viele Bordelle und Etablissements zunächst als Künstlerkolonie und Experimentierfeld für artistische und frivole Vortragsabende in Paris einen Ruf verruchten und halbseidenen Budenzaubers und eines gefährlichen Künstlermilieus verbreitet, das »von den Clochards zu allen Varianten der Prostitution«250 reichte. Der Montmartre wird durch die Ansiedlung von Amüsierbetrieben und durch entsprechende Investitionen zu einem der ersten touristisch erschlossenen Künstlerviertel der Moderne  : Man kann zu Recht von einer sich entwickelnden Vergnügungsindustrie auf dem Montmartre sprechen, und die Besitzer der Lokale sorgen mit Werbemaßnahmen dafür, dass die Geschäfte florieren. Notenhefte und Chansons sowie von Cabarets herausgegebene Zeitungen oder Wochenzeitschriften werben für die Vergnügungsstätten und Tanzlokale und die billigen Druckerzeugnisse erreichen aufgrund der gestiegenen Alphabetisierungsrate der Bevölkerung auch die niederen Schichten. So erscheint 1884 250 Pfeiffer, Ingrid  : Esprit Montmartre. Die Bohème und der Blick auf ein wenig vertrautes Paris. In  : Pfeiffer, Ingrid / Hollein, Max (Hg.)  : Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900. München 2014, S. 24 – 37, hier S. 29.

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zum ersten Mal Le Courrier français, mit Werbeanzeigen für das Élysée-Montmartre sowie die beiden Cafés Le Rat Mort, in dem die Journalisten der Zeitung sich regelmäßig trafen, und L’Abbaye de Thélème an der Place Pigalle.251

Wenn Cesare Lombroso 1875 die Prostituierte noch als »das weibliche Äquivalent zum männlichen Verbrecher«252 begreift, trägt er zu einer Kriminalisierung der Prostitution bei. Fortführungen von Lombrosos Stigmatisierung der weiblichen Prostitution finden sich in den medizinischen und psychologischen Untersuchungen von Richard von Krafft-Ebing (Psychopathia sexualis, 1886) und Otto Weiningers »Sexualmythologie«253 (Geschlecht und Charakter, 1900), in denen die Prostituierte explizit als Ausdruck kranker Gesellschaften interpretiert wird. Analog wird die Prostituierte in der Literatur dämonisiert. Doch setzen viele literarische Verarbeitungen des französischen Realismus die Figur der Prostituierten ins Verhältnis zu den gesellschaftlichen Strukturen, die sie hervorbringen. Balzac formuliert die gesellschaftliche Stellung der Prostituierten als Widerpart gegen die bestehende Ungerechtigkeit der Gesellschaft  : »Die Prostitution und der Diebstahl sind zwei lebendige Proteste, ein weiblicher und ein männlicher, des Naturzustandes gegen die Gesellschaft.«254 Die Erotisierung des Lebens wirkte aber auch in einem starken Maße auf die Umwälzung und Neuorientierung am Buch- und Zeitschriftenmarkt um die Jahrhundertwende. Kunstdruckblätter und illustrierte Werk- und Buchausgaben werden attraktiv für Sammler und Abonnenten durch die Beigabe erotischer Drucke oder die buchgestalterische Raffinesse und aufwendige Illustrations- und Druckverfahren vornehmlich erotischer Motive. Aufsehen erregen die Zeichnungen Aubrey Beardsleys für die seit 1893 erscheinende Londoner Kunstzeitschrift The Studio und seine an japanische Holzschnitte angelehnten erotischen Illustrationen zu Oscar Wildes Salome (1894). Beardsleys Zeichnungen werden ebenso in deutschen Zeitschriften wie Pan und Die Insel abgedruckt wie die Zeichnun251 Devynck, Danièle  : Toulouse-Lautrec und seine Lehrjahre auf dem Montmartre. In  : Pfeiffer, Ingrid / Hollein, Max (Hg.)  : Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900. München 2014, S.  171 – 177, hier S.  175. Das von Jules Roques 1886 eröffnete Cabaret Abbaye de Thélème ist wie die von Bierbaum bei Georg Müller herausgegeben Veröffentlichungsreihe Bibliothek von Thélème nach dem Kloster in Rabelais’ Gargantua und Pantagruel benannt. 252 Sauer, Kretschmer, Simone  : Bordelle. Grenzräume in der deutschen und französischen Literatur. Berlin 2015, S. 79. 253 Nitzschke, Bernd  : Männerängste, Männerwünsche. München 1984, S. 58. 254 Balzac, Honoré de  : Glanz und Elend der Kurtisanen. Übersetzt von Felix Paul Greve. Vollständige Neuausgabe hg. v. Karl-Maria Guth. Berlin 2015, S. 386.

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gen weiterer Künstler wie Félicien Rops und Franz von Byros, die das erotische Genre zur Kunst erheben255. Der österreichische Graphiker und Maler Franz von Byros steuert als Graphiker und Zeichner die Illustrationen zu einer erotischen Liebhaberausgabe von Otto Julius Bierbaums Das schöne Mädchen zu Pao bei. Bieten die Illustrationen der ersten Auflage des Romans 1899 von Ernst Rudolf Weiß durch die Einbindung chinesischer Motiv- und Stilvorgaben noch Anleihen an das chinesische Original, bevorzugen die Zeichnungen von Byros in der exklusiven Prachtausgabe aus dem Jahr 1910, die nur in 600 Exemplaren unter der Hand verkauft wird, ein Tableau an erotischer Motivik und pornographischer Detailliebe. Diese Publikation folgt der massenwirksamen Lust an einer neuen Pikanterie, die den illustrativen Beigaben und dem bildnerisch-graphischen Medium mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit schenkt wie dem durch exotische Szenen und die sexualisierte Darstellung erotisch aufgewerteten Emanzipationsweg der jungen chinesischen Prinzessin Pao, wie ihn Bierbaum in der adaptierten Erzählung wiedergibt. Auch Stilpes Emanzipationsweg als Schüler wird nicht nur durch literarische Vorbilder geprägt, sondern auch durch das Wirtshaus und die erotischen Erfahrungen im Bordell. Bei seinem Freund Girlinger, der dem erotischen Bildungsweg weniger aufgeschlossen gegenübersteht, heißt es verächtlich »Bumskneipe« (S47). Eine Transformation erfährt Stilpe durch die erotische Erziehung Marthas. Dabei ändert sich Stilpes Blick auf das Mädchen im Zuge seiner fortschreitenden Erfahrungen. Fasziniert ist Stilpe zuerst von ihr, weil sie aussieht, wie sich »sämtliche Backfische Fausts Gretchen« (S48) vorstellen. Martha erinnert hier in ihrer äußeren Gestalt viel mehr an das Schmidt-Mariechen aus Pankrazius Graunzer, als dass sie ein erotisches Versprechen der Wollust personifiziert. Doch ist Stilpes Blick geprägt durch seinen kleinbürgerlichen Erfahrungshorizont, der Sittsamkeit und Weiblichkeit in eins setzt. Erst als er sie in einem »Puff« (S53) verschwinden sieht, kommt sein moralisches Weltbild ins Wanken. Trotz des Trostes seines Schulfreunds Girlinger, der mit Verweis auf Ferdinand Lassalle erklärt  : »die schlimmsten Huren sind nicht in den Bordells« (S54), wendet sich Stilpe zunächst enttäuscht von Martha ab. Als Übergangsfigur tritt sie ihm gegenüber, als er das ruchlose und sexuell unangepasste Milieu zum ersten Mal betritt. Im Abgleich mit den ihm bekannten bürgerlich-populären Bildvorlagen wird Martha jetzt für ihn zur exotischen Er255 Vgl. Ottmann, Victor  : Die erotische Litteratur und die Bibliophilen. In  : Zeitschrift für Bücherfreunde 1 (1897/98), H. 12, S. 617 – 621.

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scheinung, wenn sie »mit einem schwarzseidenen Hemde bekleidet, nicht mehr an die Gemälde Prof. Thumanns erinnerte.« (S76) Das Bordell tritt von nun an als Erzieherin Stilpes an die Seite der Philosophie und der Literatur. Überheblich wirft er nach seinem ersten Bordellaufenthalt Girlinger entgegen  : »Und übrigens, wie willst du denn ohne das deinen Schopenhauer verstehen  ? Und dann die Dichter  !« (S55) Waren es bis dahin die Schulbuchheroinen und Werbeikonen, die Stilpe halfen, seine ersten Frauenfiguren zu betrachten und seinem Gefallen Ausdruck zu verleihen, so versagt das Bildrepertoire, das ihm die Erziehung durch Freimaurerinstitut und Populärkultur zur Verfügung gestellt hat. Das »schwarzseidene Hemd« (S76), das Martha trägt, entlässt die Figur aus dem biedermeierlich-romantischen Beschreibungsgefüge, das Stilpe durch seine Schullektüre und den Kunstunterricht verinnerlicht hat. Der seidene Stoff inkorporiert ein exotisch-erotisches und die Farbe Schwarz ein dämonisch-gefährliches Moment. Die Farbe Schwarz symbolisiert aber auch Trauer und Abschied, was Stilpe in seiner Fähigkeit zur Dramatisierung profaner Begegnungsszenen sicher hilfreich wäre. Aber der Besuch Stilpes bei Martha, der tatsächlich ein Abschiedsbesuch sein sollte, verläuft unvorhergesehen. In der Erwartung einer Erfüllung seiner noch unkonkreten sexuellen Wünsche (»eine Orgie feiern  ! Eine Orgie  ! Weißt du was das ist  ?«, S77) unterbreitet Stilpe Martha die gestohlenen Konfirmationsgeschenke des verstorbenen Sohns seiner Zieheltern, so dass er sie bezahlen kann. Martha, die Stilpe immer nur mütterlich »Schnutchen« (S76) nennt und die somit jede Erotik der Szene selbst kassiert, bezeichnet ihn als Dieb. Sie kehrt das Moralverhältnis sofort um und bildet für Stilpe eine erzieherische Gewissensinstanz, die er umgehend versteht und durch die er geläutert wird. Die Schmuckund Erinnerungsstücke werden an die Erziehungsberechtigten zurücktransferiert und er übernachtet zum ersten Mal bei Martha im Bordell. Das Auflösen der Szene, die Martha von einer anfangs brav-biedermeierlichen Gretchen-Schönheit rein äußerlich in eine Femme fatale wandelt, doch im moralischen Urteil zu einer Art Übermutter für Stilpe werden lässt, die er gerade wegen dieser Transformation küssen wird, gibt dem Roman an der Stelle das burlesk-komische Moment. Das Motiv der reinen Hure wird von Bierbaum nicht bedient, vermengt er doch witzelnd die Erwartungshaltung Stilpes und des Lesers mit einem bürgerlichem Moralverständnis. Marthas Anstand konterkariert die Amoralität der Welt außerhalb der Bordelle, die so noch stärker zutage tritt256. Das Komische stellt sich 256 Eduard Fuchs kennzeichnet diese moralische Wendung der satirischen Aneignung des Motivkomplexes der Prostitution in seiner 1906 erschienenen Sozialgeschichte der Frau, wie sie auch

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durch das Missverhältnis der Erwartungen ein. Das Figurenensemble verschiedener weiblicher Charakter-Stereotype ist um 1900 fest ausgebildet und entfaltet seine Wirkung auf die Entwicklung der Libido des männlichen literarischen Helden in Abgrenzung zu den jeweils anderen Frauentypen. Die Figur Martha wird dem Bedürfnis Stilpes folgend entsprechend besetzt und sie ist abwechselnd in kurzer Folge das sittsame Mädchen, die Femme fatale und die Übermutter. Eine wichtige Referenz dieser ambivalenten Kippfigur bildet an dieser Stelle neben Zolas Nana (1880) – auf die Martha kolportierend anspielt, wenn sie Stilpe mit den Worten empfängt  : »Nanu, doch nicht ganz fort, Schnutchen  ?« (S77) – auch das Figurenrepertoire von Prostituierten und Animierdamen bei Honoré de Balzac. Die Hure Martha wird zur moralischen Instanz für Stilpe, wenn ausgerechnet sie ausruft  : »So eine Sünde.« (S79) Durch sie erscheint die »Unsittlichkeit des Zeitalters« und die Welt als ein von bürgerlicher Doppelmoral durchdrungenes »Weltbordell«257. Einen literarischen Witz entfaltet die Randfigur auch noch im Bezug auf eine biographische Anspielung, die nur mit Hilfe von intimem Wissen entschlüsselt werden kann. Viele Briefe von Liliencron an Bierbaum enthalten ausführliche Schilderungen einer heimlichen, aber sehr intensiven Affäre, die Liliencron mit einer Prostituierten Martha hat. Solche geheimen, für den Leser nicht entzifferbaren Anspielungen und Zitate sind besonders charakteristisch für die Prosa und die ästhetische Vorgehensweise Bierbaums. Es kann und soll auch hier nicht unterstellt werden, dass es sich bei Martha um eine Schlüsselfigur handelt, aber hinzudeuten auf das Verweben von Realität und literarischen Phantasien wie auch örtlichen Bezugnahmen und geographischen Typologien könnte das Besondere an dem ästhetischen Verfahren des Popularisierens, Skandalisierens und der literarischen Produktivität Otto Julius Bierbaums näher fassen. Diese Verflechtung wird anhand des dritten Romans, Prinz Kuckuck, in Kapitel 4 näher untersucht werden. Stefan Zweig schildert in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern (1944) die kulturelle Selbstverständlichkeit, mit der junge Männer voreheliche Sexualität durch den Besuch von Bordellen genossen, und verurteilt die Bigotterie, die in der Trennung zwischen einer keuschen Sittlichkeit der Ehe und einer (männauf Bierbaums Martha zutrifft  : »Für die ernsten und starken Satiriker ist die satirische Kennzeichnung der Prostitution sehr häufig die Zusammenfassung aller Anklagen gegen die Unnatur der Verhältnisse gewesen, hier subsumierte man sozusagen alles.« (Fuchs, Eduard  : Die Frau in der Karikatur. Sozialgeschichte der Frau [Nachdruck]. Frankfurt / M. 1973, S. 423.) 257 Friedell, Egon  : Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krises der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. Zürich 2009, S. 180.

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lichen) sexuellen Triebbefriedigung bestand, die nur außerhalb dieses sozialen Verhältnisses geduldet wurde, solange sie gegen Bezahlung stattfand  : In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen angeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebenso wenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung.258

Der Skandalisierungswert solcher literarischer Szenen im Bordell, die sich im Laufe des Romans Stilpe sammeln, ist nicht zu unterschätzen. Großes öffentliches Interesse erregten zu Beginn der 1890er Jahre gleich mehrere Gerichtsverfahren gegen die Unsittlichkeit poetischer Werke  : Während des Leipziger Realistenprozesses im Juni 1890 sahen sich Conrad Alberti aufgrund des 2. Teils seines sechsbändigen Romanzyklus Der Kampf ums Dasein, Die Alten und die Jungen (1889), Hermann Conradi wegen seines Romans Adam Mensch (1889) und Wilhelm Walloth wegen seines Romans Der Dämon des Neides (1889) dem Vorwurf der Verbreitung unsittlicher Schriften ausgesetzt. Der Sittenprozess gegen den Zuhälter Gotthilf Heinze hatte am 25.  Juni 1900 die Verabschiedung der Lex Heinze zur Folge, die eine Verschärfung der Strafgesetzgebung gegen Kuppelei und Verbreitung unzüchtiger Schriften vorsah. Nach dem Erlass der Lex Heinze finden in mehreren Großstädten Massendemonstrationen gegen die durch das Gesetz verschärfte wilhelminische Pressezensur und für die Freiheit publizistischer und künstlerischer Tätigkeiten statt. Bierbaum verfolgt diesen Prozess und auch alle vorangegangen, insbesondere den Majestätsbeleidungsprozess gegen Albert Langen, Thomas Theodor Heine und Frank Wedekind. Den Anstoß gab die sogenannte Palästina-Nummer des Simplicissimus vom 23.  Oktober 1898 (3. Jg., Nr. 31). In den Steckbriefen (1900) bezieht Bierbaum unter Pseudonym direkt Stellung zur Zensurpolitik des wilhelminischen Kaiserreichs  : »[…] aber diese Steckbriefe kommen gleichzeitig mit der Lex Heinze heraus […] Seine [Wedekinds  ; BZ] besten Arbeiten sind sicherlich ungedruckt, denn bei allem, was von ihm gedruckt werden durfte, hat man die Empfindung  : das sind nur Andeutungen der eigentlichen Frechheit dieses Geistes.«259 258 Zweig, Stefan  : Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin (Ost)  ; Weimar 1990, S. 87. 259 [Pseud. Möbius, Martin]  : Steckbriefe erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur von Martin Möbius. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul. Berlin  ; Leipzig 1900, S. 123.

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Gerade die Proteste gegen die Lex Heinze setzen für die beschlagnahmte Literatur eine ungeheure Popularisierung und großes öffentliches Interesse frei. Solange es jedoch in ausuferndem Maßen einer Zensurbehörde und staatlichen Verwaltungsakten oblag, den Diskurs über angemessene Werte von Sittlichkeit und Freizügigkeit zu dominieren, versuchten sich die Autoren entweder zu wehren, indem sie sich organisierten (der Dürerbund ist eine unmittelbare Reaktion auf die Begrenzungen durch die Lex Heinze), oder durch weitere Skandale und publizistische Begleitung dieser Strafverfahren eine »Steigerung des Reklameeffekts«260 für die betroffenen Werke hervorzurufen und somit eine literarische Öffentlichkeit zu erschaffen und zu stärken. Das Motiv der absichtsvollen Herausforderung der Strafverfolgungsbehörden durch Skandalliteratur findet sich in Bierbaums Roman Stilpe wieder. Der angehende Theaterdirektor fordert für seinen literarischen Tingeltangel aufsehenerregende erotische Lyrik, die sich nicht an den Maßstäben des Predigers Adolf Stoecker misst, eines vehementen Verfechters der Lex Heinze und Politikers der Christlich-sozialen Partei  : »Zieht doch eure Verse endlich mal aus  ! Ich lasse Rops tanzen  – habt ihr doch die Courage, Rops zu dichten  ! Unser Theater heißt doch ›Momus‹ und nicht ›Stöcker‹. Seid ihr denn Predigtamtskandidaten  ?« (S181) Zuvor fordert der Künstler Kasimir gegenüber Stilpe unverhüllt ein  : »Du solltest direkt ein literarisches Bordell gründen  !« (S180) Literatur in Bierbaums Konzeption soll nun beides gelingen  : die Eröffnung eines offenen Feldes literarischer Produktion und ästhetischer Freiheiten, aber auch eine Mitgestaltung solcher öffentlich geführter Diskussionen über sittliche Werte  ; so sollte Literatur auch erzieherisch wirken. Denn auch eine von der Reformbewegung angestoßene Kritik versucht gegen einen in den Großstädten drohenden Sittenzerfall und eine kulturelle Verrohung zu argumentieren. Doch Bierbaum lässt sich nicht so leicht einordnen in den Kreis der damals starken Zulauf erhaltenden reformpädagogisch motivierten oder kulturpessimistischen Antischund-Propagandisten261, die den Kolportageromanen und dem Tingeltangel der Varietébühnen publizistisch und institutionell entgegentreten. Wenn Bierbaum eine Verfeinerung der Geschmacksnerven befürwortet und Stilpe einen literarischen Tingeltangel gründet, schwebt ihm 260 Schneider, Uwe. Literarische Zensur und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Kaiserreich. In  : Mix, York-Gothart (Hg.)  : Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus 1890 – 1918. München  ; Wien 2000 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart  ; 7), S. 394 – 409, hier S. 401. 261 Vgl. Schenda, Rudolf  : Die Hochzeiten des Schundkampfes. In  : ders.: Die Lesestoffe der kleinen Leute. Studien zur populären Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. München 1976, S. 89 – 92.

Stilpes Cénacle und außerordentliche Orientierungsversuche 

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eine ästhetische Massenbewegung vor, die dem Unterhaltungsbedürfnis auch mit erotischer Freizügigkeit nachkommt und es verknüpfen möchte mit einem ästhetischen Genuss, der eine neue Kultur sexueller Freizügigkeit ermöglicht. Der Motivkomplex der Prostitution erfährt um die Jahrhundertwende noch eine weitere semantische Bestimmung, die in Stilpe ebenfalls zum Tragen kommt. Die doppelte Position des Schriftstellers als autonomer Künstler einerseits und als literarischer Produzent, der einen sich ausdifferenzierenden Markt literarischer Medien bedient, andererseits lässt ihn selbst in einem gesellschaftlichen Verhältnis erscheinen, das einem Abhängigkeitsverhältnis im Bordell gleicht. Die »Prostitution wird zum Begriff für die Ökonomisierung literarischer Produktion«262 im ausgehenden 19. Jahrhundert, schreibt Urte Helduser. Stilpe bezeichnet im Roman die Zeitungen verächtlich als »Holzpapierbordells« (S122) und spielt auf diese Verwertungslogik schriftstellerischer Tätigkeit an. In seinem Abschiedsbrief an Robert Girlinger bezeichnet sich Stilpe als »Hure, die Gouvernante sein möchte.« (S194) Dies bedeutet sein Eingeständnis, dass er als zwar Journalist und Kunstkritiker seine Begabung gefunden hat, aber das Dilemma einer erzieherisch wirken wollenden Unterhaltungskunst nicht lösen konnte und deswegen scheitert in seinem eigenen Anspruch, den literarischen Tingeltangel als neue ästhetische Anstalt zur kulturellen Erziehung eines Massenpublikums zu gründen.

3.2 Stilpes Cénacle und außerordentliche Orientierungsversuche: Sehnsuchtsort Bohème Die Gründung und Überhöhung eines literarischen Geheimbundes, des Cénacle, wie sie Stilpe als Tertianer in Wurzen unternimmt, wird in der Literaturwissenschaft vor allem unter dem Aspekt der Popularisierung und Aneignung der französischen Bohèmekultur und -literatur im wilhelminischen Kaiserreich fokussiert.263 Henry Murgers Roman Scènes de la vie de bohème (dt. Szenen aus dem Leben der Bohème) erscheint in Frankreich schon ein halbes Jahrhundert vor Bierbaums Stilpe, im Jahr 1851, in Buchform. Murgers Roman wurde noch im 262 Helduser, Urte  : Geschlechterprogramme, S. 96. 263 Vgl. die zentralen Untersuchungen von Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum – Eine Werkmonographie (1971), Holeczek, Bernhard Maria  : Otto Julius Bierbaum im künstlerischen Leben der Jahrhundertwende (1973), Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum. The tragedy of a poet (1977) und Pilar, Ute von  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums (1995).

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selben Jahr unter dem Titel Pariser Zigeunerleben von Hugo Hartmann für das Verlags-Comptoir Grimma / Leipzig übersetzt, doch setzte eine umfangreiche öffentliche Wahrnehmung des Romans aus dem Pariser Künstlermilieu erst durch die 1881 besorgte deutsche Übersetzung von Robert Habs für den Reclam-Verlag ein. In diesem Jahr eröffnet auch Rodolphe Salis das Varieté Le Chat Noir auf dem Montmartre. Das Lokal bietet mit einer Mischung aus Bühnendarbietungen, Chansons und politischer Satire eine künstlerische Programmunterhaltung, wie sie die Helden Murgers ebenfalls anstreben. Die Improvisation, die Spontanität und die sittliche Ungezwungenheit eines Amüsierbetriebs, wie ihn nur der öffentliche Raum einer Kneipe oder eines Künstlercafés offeriert (in Murgers Vorbild ist es das Momos-Café im Quartier Latin), werden zur Voraussetzung einer neuen Form von ungeordneter und freier literarischer Produktivität und künstlerischer Betätigung, die sich auf der einen Seite gegen den Akademismus der klassischen Kunstschulen wendet, auf der anderen Seite sich aber auch künstlerisch abhebt von den Unterhaltungsmechanismen von Kirmes, Zirkus, Wachsfigurenkabinetten und Schaustellereien. Als Bierbaum 1897 seinen Künstlerroman Stilpe veröffentlicht, sind Henri Murgers Bohèmeschilderungen bekannt und der Montmartre ist als ­ersehntes und touristisch erschlossenes Reiseziel des deutschen Kulturbürgertums im kulturellen Gedächtnis bereits fest verankert. Dort haben neben dem Chat Noir weitere Cabarets und Lokale eröffnet  : Le Lapin Agile, Le Ciel, L’Enfer, La Souri, das »Gruselkabinett« Cabaret du Néant, das Lokal Abbaye de Thélème, die Kneipe Martha, das Moulin de la Galette und schließlich das zum Mythos geronnene Moulin Rouge. Als europaweit ausstrahlende Künstlerenklave fungierte der Montmartre schon ein Jahrzehnt zuvor, so dass das Viertel bereits in den 1880er Jahren zum »Mekka der Bohème«264 wurde. Die Bemühungen um eine Cliquenbildung folgen in Bierbaums Stilpe ganz dem Vorbild des Murger’schen »Cénacle«, eines Künstlerzirkels, den Exklusivität und Intimität im gleichen Maße auszeichnen wie Sorglosigkeit, gesellschaftliche Unbekümmertheit und ästhetische Unverfrorenheit in der künstlerischen Produktion. Die vier Künstler, die Murger ins Zentrum seines episodischen Romans stellt, sind Alexandre Chaunard, Musiker, der Maler Marcel, ein Philosoph namens Gustave Collin und der Dichter Rodolphe. In Bierbaums Roman nehmen Stilpe und seine Schulfreunde Namen aus einem Theaterstück als Identität an und spielen als literarischer Klub eine Maskerade des Murger’schen Cénacle  :

264 Hanke, Helmut  : Yvette Guilbert. Die Muse vom Montmartre. Berlin 1978, S. 47.

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Sie hielten sich, im Gefühle ihrer Zukunft, sehr exklusiv gegenüber den anderen Primanern, die eingestandenermaßen bloß Pastoren, Lehrer, Ärzte, Juristen, Offiziere werden wollten, und wurden dafür wieder von diesen als überspannt und lächerlich abgetan. Ihre bürgerliche Nomenklatur war diese  : Rodolphe  : Bruno Wippert Marcel  : Max Stössel Colline  : Ludwig Barmann Schaunard  : Willibald Stilpe Stilpe war der Gründer des Cénacle und sein anerkanntes Haupt. (S82)

Der Habitus der Cénaclisten in Bierbaums Roman verschleiert, dass sie den sozialen Zwängen und Nöten des Pariser Vorbilds nicht ausgesetzt sind. Alle vier pubertierenden Künstler unterliegen keinen finanziellen Sorgen und betreiben das Bohèmeleben als genüssliches Spiel. Sie durchlaufen als Schüler im Gründungsakt des literarischen Bohèmebundes eine Entwicklung, die den Moden der damaligen Literaturszene der Modernen ähnelt. Bevor die Ideale der französischen Bohème proklamiert und gelebt werden, organisieren sie sich zu viert in einem literarischen (Geheim-)Zirkel »Lenz«, benannt nach ihrem »literarischen Hauptheiligen« (S84). Sie lesen ausschließlich Dramen des Sturm und Drang, dann wechseln sie zu Ibsen und diskutieren den Vorschlag, den Lesekreis »durch einen naturalistischen Debattierklub abzulösen« (S89). Dann wird – von Stilpe gefördert – auch dem Naturalismus abgeschworen und dem Murger’schen »Musettismus« (S89) der Vorzug gegeben. Egon Friedell entdeckt in seiner 1927 erscheinenden Kulturgeschichte der Neuzeit den chronikalischen Charakter dieser Gründungsgeschichte  : Otto Julius Bierbaum hat in seinem Roman Stilpe den Frontwechsel der damaligen Jugend recht anschaulich geschildert  : vier Gymnasiasten gründen einen Verein, der in doppeltem Sinne »Lenz« heißt  : zur Bezeichnung des geistigen Frühlings und des literarischen Hauptheiligen  ; in diesem Debattierklub wird »Herr Schillinger, der Dichter des p.p. Wallenstein«, vernichtet und über Themen folgender Art gehandelt  : »Die Wahrheit als einziges Prinzip der Kunst«, »Inwiefern Naturalismus und Sozialismus Parallelerscheinungen sind«, »Emile Zola und Henrik Ibsen  : die Tragesäulen der neuen Literatur«, »Worin liegt die Gemeingefährlichkeit des sogenannten Idealismus  ?«  ; »gewisse Namen durften bei hohen Strafen bis zu zwanzig Pfennigen unter ihnen nicht genannt werden, so Paul Heyse und Julius Wolff«.265 265 Friedell, Egon  : Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 1655f.

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Der dokumentarische Aspekt von Bierbaums Roman wird ergänzt durch einen Manifestcharakter, den Stilpe in seinem Initiationsvortrag formuliert  : die Kunst solle zum Leben erweckt und gleichzeitig gelebt werden. Stilpe überzeugt seine drei Schulfreunde Bruno, Max und Ludwig, auch wenn die von ihm eingestreuten Witze und gesetzten Pointen unerkannt bleiben und sein Talent zur literarischen Zote sich zwar dem Leser, aber nicht dem Geheimzirkel eröffnen kann und dieser so literarisch noch unverdorben und keusch wirkt  : »Wir haben an einer Hypertrophie der Zerebralbedürfnisse gelitten  ; besinnen wir uns auf die – Niederlande (hier hatte er abgewartet, ob man seinen Witz verstünde  ; da es nicht den Anschein hatte, fügte er erklärend hinzu)  : Wir müssen unsern werten Sinnen auch etwas zukommen lassen.« (S90)

Die Szene erinnert nicht nur an die Alternative des lustvollen Landlebens von Liliencrons Poggfred, der die Sinneslust und die Frivolität einer dilettantischen Kunstproduktion vorzieht, sondern sie treibt ihr literarisches Spiel mit der Auslassung. Der Klub von Stilpes »Schlappdeckel[n]« (S91) ergötzt sich an »erotischer Lyrik« (S91) und sucht auf den »sonntägigen Tanzvergnügen« (S91) nach Mädchen, die lebendige Pendants der promiskuitiven Frauen aus Murgers Roman, »Phémie Teinturière« oder »Mimi oder der völlig götzendienerisch verehrten Musette« (S91), wären, aber der Roman selbst kennt keine erotischen oder pornographischen Sequenzen. Der Balanceakt zwischen einer literarischen Provokation und der Gefahr einer Verurteilung durch die Gesetzgebung der Lex Heinze gelingt Bierbaum durch die beredte Auslassung. Die Provokation wird inszeniert durch die Anspielungen von Stilpes Ausführungen und die Auslassung des Wortes »Titten«. Der literarische Witz und die pornographische Lust am Text entfaltet sich also erst, indem der Roman an einzelnen Stellen wie ein Rätsel entziffert wird. Gleichzeitig markieren diese verrätselten literarischen Zoten auch die Umstände und Produktionsbedingungen, unter denen der Roman geschrieben und veröffentlicht werden durfte  : die Beschränkung und Verfolgung durch die Sittlichkeitsparagraphen der Zensurbehörden. Der junge Stilpe wird von Bierbaum gezeichnet als frivoler Dichter und erinnert sehr an die Selbstinszenierung von Detlev von Liliencron als Lebemann und dessen derb-sinnliche Lyrik. Gegenüber seinen Cénacle-Freunden inszeniert sich Stilpe als aufmüpfigen literarischen Widerpart zu den Lehrmeinungen und der Autorität des alten »Geheimrat[s] Ammer« (S93) und anderer Schullehrer. Insgeheim träumt er von der opulenten Lebensweise eines wohlhabenden Staatsbeamten oder der Karriere als »literarischer Regierungssekretär« (S95). Die Sehnsucht

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nach einer Schriftstellerexistenz in der »Verbindung von Staatsmann und Poet« (S95) wird nicht erfüllt und so erwächst Stilpe die Idee zum Bohèmienleben des Cénacle eigentlich aus einer Enttäuschung  : Nicht Freiheit und künstlerische Autonomie werden in der Außenseiterrolle einer Künstlerexistenz gesucht und genussvoll gelebt, Stilpe verwirklicht in seinem Cénacle vielmehr eine antibürgerliche Haltung, die sich nach dem körperlichen Exzess sehnt. Der »Ganz- oder Halbintellektuelle«266 Stilpe, wie ihn Annemarie Lange beschreibt, emanzipiert sich in der Doppelrolle als Anführer einer aufmüpfigen literarisch-erotischen Schülergruppe und der Hoffnung auf eine erfolgreiche Anstellung und gelingende bürgerliche Berufslaufbahn im Staatsdienst. Die erzieherische Rolle des Rollenspiels des Cénacle ist bisher wenig untersucht worden. Tritt auf der einen Seite durch die Anführerrolle Stilpes für die anderen »Schlappdeckel« (S95) ein heroischer Individualismus zutage, der durch den Erzähler mit dem Verweis auf Nietzsche ironisch entthront wird (»So sprach Schaunard.« S97), so formt der lyrische Trinkzirkel auf der anderen Seite das Verständnis der Jungen von Gesellschaft und prägt der Geheimbund ihre Vorstellung von Sozialität. Ein gesellschaftliches Verhältnis  – und dies beeinflusst auch Stilpes Werdegang  – ist nur als Zusammenhalt in einem Bund denkbar. Das prekäre, aber künstlerisch befreiende Bohèmeleben der Helden Murgers, dessen sozialer Zusammenhalt als Libertinage überhöht und dem bürgerlichen Leben entgegengesetzt wird, wandelt sich in Bierbaums Roman zu einem widersprüchlichen sozialen Verhältnis, das in der Absonderung der Cénacle-Gemeinschaft als Männerbund identitätsstiftend wirkt. Konsequent führt dann die feierliche Absage der jungen Examinierten an das vom Ideal wahrer Männerfreundschaft abgefallene Korps- oder Verbindungswesen zu ihrer eigenen Farce, wenn sie sich im Studienalltag wieder begegnen  : Die Wurzener Schüler treffen sich im ersten Semester zufällig in Leipzig und sie alle sind entgegen ihrem Cénacle-Schwur einer Studentenverbindung beigetreten  : Stilpe einer »kanariengelb« (S106) tragenden einfachen Verbindung (die Farbe der Leipziger Thuringa erinnert wenigstens an die Farbe eines Dandys und an Murgers Bohème), Stössel wird aufgenommen in einem »rotmützigen Korps« (S107), Colline tritt einer »Burschenschaft« (S108) bei und »Wippert war Landsmannschafter geworden« (S108). Auf Stilpes Initiative hin wird nun wiederum auch dem Verbindungswesen poetisch-idealistisch entgegen getreten und die vier gründen einen neuen »Geheim-Cénacle« (S110). Das soziale Wesen und die alkoholbasierte Geselligkeit der Studentenverbindungen werden den Gepflogen266 Lange, Annemarie  : Das Wilhelminische Berlin. Berlin 1967, S. 535.

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heiten ihres Literatenkreises angepasst, die literarischen Klassiker werden nach den in ihnen vorkommenden oder sie symbolisierenden Spirituosen klassifiziert und die Literatur wird dem Alkohol letztlich subsumiert. Die Gruppenzugehörigkeit, sei es das Korpswesen oder der literarische Zirkel, bildet bei Bierbaum das vordergründige Interesse der Figuren an einer Bohème, die noch in Murgers Roman vor allem durch das Aussteigertum charakterisiert war. Die Elendsbohème, wie sie soziotypisch bei Murger gestaltet wird, wirkt zwar als Vorbild für die ersten privaten literarischen Abendsoireen des jungen Stilpe, doch die unternehmerische Umtriebigkeit Stilpes lässt ihn spätestens, als er von der Studentenstadt Leipzig in die Theaterstadt Berlin zieht, nicht nur zum Kritiker, sondern zunehmend zum Lebemann und Dandy werden. Eine solche allgemeine Neigung der Bohème zur eigentlich ›widernatürlichen‹ Geschäftstüchtigkeit beobachtet Helmut Kreuzer in vielen literarischen Verarbeitungen, sollen sie doch der dauerhaften finanziellen Absicherung einer sozialen und pekuniär unabhängigen Sonderstellung des Bohèmien dienen, was die Unternehmung paradox werden lässt  : Die Neigung zu solchen Unternehmungen ist keineswegs eine individuelle Eigentümlichkeit, sondern ein Fall der bohemischen finanziellen ›Projektemacherei‹, einer verbreiteten Passion für Spekulationen, Erfindungen, Geschäftsideen, die mit dem Wunsch verknüpft ist, ohne Preisgabe der Boheme-Existenz, vielmehr zu ihrer Fundierung, ›den‹ großen finanziellen ›Coup‹ des grand bohème zu landen.267

Diesen ausgeprägten Typus eines künstlerischen Außenseitertums grenzt Helmut Kreuzer ab mit dem Begriff der Bohème dorée. Die Bohème dorée stellt einen elitären Kreis genießerischer Kulturmenschen vor, die finanziell abgesichert sind, aber den bürgerlichen Werten wie Sparsamkeit, Sittsamkeit oder Besitz abwertend gegenüberstehen. Henri Murgers genial unproduktive Bohème prägt ein soziales Milieu aus verkrachten Literaten, Straßenmusikern, Gaunern und Gelegenheitsdichtern, deren Kreativität und Spontanität neue ästhetische Formen schaffen. Bei Bierbaum findet sich die mythenumwobene Aura dieser literarischen Bohème wieder, so dass Ute Pilar Stilpe zu Recht als den »prototypischen Bohemien«268 kennzeichnet, jedoch ohne dass diese Arbeitszusammenkünfte den kreativ-produktiven Künstler hervorbringen  : Barmann wird im Laufe des Romans »Gymnasiallehrer« (S181), Stössel heiratet reich und gibt vor, »musik267 Kreuzer, Helmut  : Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968, S. 262. 268 Pilar, Ute  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums, S. 167.

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wissenschaftliche Studien zu treiben« (S182), Wippert widmet sich erst orientalischen Studien und studiert dann Medizin. Er eröffnet eine Klinik für Frauenheilkunde und der Sozialrevolutionär Girlinger ist beruflich erfolgreich, indem er die »Laufbahn eines königlichen Staatsanwalts« absolviert. Ohne Stilpe, der zum Journalisten und Kritiker aufgestiegen ist, bemühen sie sich später vergeblich abermals um die Neugründung eines identitätsstiftenden Cénacle, das aber über einen losen literarischen Debattierklub nicht hinausgeht. Im Vorwort seiner einflussreichen Übersetzung grenzt Robert Habs den Bohèmien oder den Zigeuner, wie er das französische Wort ›bohème‹ wörtlich übersetzt, ab von weitaus trivialeren Jahrmarkt- und Unterhaltungsfiguren wie den »Bärenführern, den Feuerfressern, den Taschendieben, den Verkündern des Satzes ›Jeder Wurf gewinnt  !‹«269 Bierbaum verschmilzt in seiner Adaption die Sphären des genialen Kneipenkünstlers wieder mit den Helden und Heldinnen des Budenzaubers. Der inzwischen gesellschaftlich anerkannte und »gefürchtete Kritiker W. St.« (S156) eruiert ebenfalls wie seine alten Wurzener Schulfreunde eine Wiederbelebung des Cénacle. Auf seiner Suche verfasst er selbst einen Aufruf in seiner in Berlin neu gegründeten literarischen »Broschüre  : ›Der Tinten­ sumpf‹« (S152). Mit Hilfe dieser Annonce »An das bißchen Bohème in Berlin  !« (S154) gründet er schließlich einen »echte[n]« (S155) Cénacle und führt Künstler zusammen, die »den Freunden Murgers nicht nach[gaben]« (S155). Der erste Künstler dieses Kreises trägt gleich den Namen »Bärenführer« (S158), einer Zirkusfigur, die Habs noch von einem wahren Bohèmien geschieden wissen wollte. Gemeinsam bildet der Bärenführer mit dem »Peripatetiker« (S158), dem Polen »Kasimir«, dem »Zungenschnalzer« (S160) und Stilpe den Berliner Cénacle, der mit einer Zeitungsgründung in die literarische Öffentlichkeit wirken will. Die Diskussionen über literarische und thematische Ausrichtung treten hinter die Überlegungen zu werbewirksamen gestalterischen Neufindungen zurück. So plädiert man für eine exklusive Ausstattung der Zeitschrift in »Lederrollen« (S162) 269 Murger, Henri  : Zigeunerleben. Scenen aus dem Pariser Literaten- und Künstlerleben. Mit einer Biographie Murgers deutsch von Robert Habs. Leipzig 1881, S. 19. Der deutsche Titel zeugt von der kulturell-exklusiven Stellung, die dem Wort »Zigeuner« Ende des 19. Jahrhunderts zugedacht wird und die damals die soziologisch-ethnische Konnotation dieser Zuschreibung überformt. Gleichzeitig trägt Habs’ Übersetzung zu einer neuen Popularität des Künstlerzigeuners bei, wie viele Veröffentlichungen und theoretische Abhandlungen, aber auch Erzählungen und Romane über den Künstler als Zigeuner belegen. Vgl. Meyer, Anne-Rose  : Jenseits der Norm. Aspekte der Bohème-Darstellung in der französischen und deutschen Literatur 1830 – 1910. Bielefeld 2001 und Brittnacher, Hans Richard  : Der zerlumpte Dandy. In  : ders.: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst. Göttingen 2012, S. 132 – 138.

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und die massenhafte Verbreitung in »Plakatform« (S162), mit der werbewirksamen Unterstützung durch »kleine Sandwichmänner« (S162) oder an »Litfaßsäulen« (S162). Dem entgegen steht eine völlig andere Überlegung, mit der neu zu gründenden Zeitschrift gerade nicht massenwirksam zu sein, dafür eine erlesene Leserklientel anzusprechen, das Besondere der neuen Zeitschrift an ihre »Unöffentlichkeit« (S161) zu knüpfen und »das Blatt in einer Geheimsprache« (S161) zu verlegen. Zusammen ergeht sich die Runde in der Suche nach einem geeigneten Titel für die geplante Publikation  : »Die gesprenkelte Nachtigall« (S163), »Das Prisma« (S163), »Der Stammler« (S164), »Stimmwechsel« (S164) sind Titelideen. Doch gibt es Einwände und wenn »Das Prisma« als zu kalt und »Gläsern  !« (S165) empfunden wird, tendiert man eher zu Titeln, die »sehr warm« (S165) anmuten, wie »Phallus« oder »Phalluswald«, oder einfach »Seelenkrebs« (S167). Einer dänisch-deutschen Liedersängerin, die den Abend mit den Künstlern verbringt, eröffnet Stilpe das Ergebnis der Diskussion, betrunken vom Toddy  : »Wir haben soeben die deutsche Literatur mit einer neuen Zeitschrift begnadet  : ›Der Mastenwald‹ oder so ähnlich, Organ für gesprenkelte Nachtigallen und Seelenkrebs« (S167). Das Parodistische dieser betrunken geführten Gründungsdiskussion des Cénacle trifft nicht nur die zur selben Zeit angestrebten Verlegerbemühungen des Münchners Stefan George270 und Karl Wolfskehls, die mit ihrer Zeitschrift Blätter für die Kunst einen ausgewählten Rezipientenkreis bedienen und die Exklusivität des literarischen Abonnentenzirkels durch Aufnahmerituale, Kleiderordnungen und habituelle Eigentümlichkeiten noch steigern, sie trifft auch allgemein die unzähligen Bemühungen der Neugründungen an Literaturzeitschriften. Hatte Otto Julius Bierbaum zu Beginn der 1890er Jahre selbst mitgewirkt an der Herausgabe von Almanachen für ausgewählte Vereinsmitglieder und Abonnenten der Gesellschaft für modernes Leben oder mit Julius Meier-Graefe den auflagenstarken Pan mit unterschiedlichem Ausstattungsniveau ins Leben gerufen, mehren sich die Neugründungen literarisch-künstlerischer Zeitschriften, die als Versuche einer 270 Bierbaum gewinnt dem Ästhetizismus Stefan Georges nichts ab. Er urteilt pauschal, »ein Wortkunstwerk von Stefan George, selbst ein schönes, ist ein künstlerisches Gemächte, ist wie ein Homunkel, leer, leblos, kalt.« Gleichzeitig verfolgt er den sich um den Münchner bildenden Kreis von Adepten  : »So sehen wir, daß eine Erscheinung wie Stefan George von Einigen mit fast religiöser Verehrung umgeben wird, während andere ihn als komische Figur erheitert belächeln.« (Bierbaum, Otto Julius  : Wo wir stehen  ? In  : Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde 4 [1901 / 02], H.  1, Sp.  5 u. Sp.  3). Berühmt ist Bierbaums parodistisch-zynische Bemerkung zu Georges Schreibformen in dem 1900 veröffentlichten Steckbrief auf den Dichter  : »Der Tag ist am Ende nicht mehr ferne, wo Stefan George sein erstes Komma schreibt.« (Möbius, Martin  : Steckbriefe, S. 56).

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Merkantilisierung eines literarischen Marktes gelten können, der sich löst von der einzelnen verlegerischen Buchpublikation und eine Verbreiterung der Publi­ kationsmöglichkeiten zur Folge hat, wie sie eine zunehmende Vermarktung der Kunst und Literatur nötig macht. Die ironischen Titelfindungen der vier Cénaclisten parodieren das Epigonentum vieler verlegerischer Unternehmungen. Dabei steht der Titel »Das Prisma« schon für eine technikaffine moderne Literatur, der Titelvorschlag »Die gesprenkelte Nachtigall« erinnert an einen der Bohèmeliteratenkreise, die sich meist nach dem Namen ihres Wirthauses oder Lokals benennen, und der Titel »Phalluswald« macht den egomanen Überschuss eines neuen literarischen Selbstbewusstseins und einer neuen elitären Literatur lächerlich. Die literarische Innovation des Stilpe’schen Cénacle besteht dann auch in der Überführung der Zeitschriftenpublikationen in ein anderes Medium. Anstatt sich einer Vielzahl von Neugründungen zu widmen, die allesamt vom ausbleibenden Erfolg der literarisch-verlegerischen Unternehmung betroffen wären, befolgt der Cénacle einen spontanen Vorschlag Mathildas, der »dänisch-deutsche[n] Liedersängerin« (S167) aus dem Wintergarten, die ironischerweise eigentlich Martha heißt, wie Stilpes erste Liebesbekanntschaft, die Hure  : »Ernsthaft  ! ein literarisches Tingeltangel  ! Wirklich  ! So was fehlt  ! Wo gute Sachen gesungen werden. Sie können ja auch verrückt sein. Aber Sachen von Dichtern. Und dann überhaupt  : alles geschmackvoll, so wie die englischen Ballette  ; überhaupt  : was Schönes  !« (S169)

Es ist also nicht der erfolgreiche Publizist Stilpe, auf den die Gründung eines anspruchsvollen Tingeltangels zurückzuführen ist, sondern die Idee einer Chansonette, eines »ingeniöse[n] Mädchen[s] aus Holstein« (S171). Das Potential dieser Vermengung eines Unterhaltungsmediums und literarischer Produktion erkennt Stilpe aber sofort. Eine Varietébühne wird gegründet und sie trägt den Namen, der sich wiederum an das Vorbild des französischen Cafés in Henri Murgers Roman hält  : Momus. Das Bohèmetheater Momus verhilft dem Roman Stilpe zum Ruhm. Johannes Schlaf urteilt schon zwei Jahre nach dem Erscheinen von Bierbaums Murger-Adaption  : Ich nenne ihn einen der besten [der Romane der Moderne  ; BZ], weil er Physiognomie und wirklich selbständige und köstlich unbekümmerte Eigenart entschieden und eigenkräftig darthut. […] In letzter Zeit wurde das Interesse erneut dadurch auf diesen

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Roman gelenkt, daß in ihm zuerst die Idee des ›literarischen Variétes‹ ausgesprochen ist, die nun im ›Überbrettl‹ ihre Verwirklichung erfahren hat.271

Da Stilpe bis heute aufgrund dieser »Schaubühnen«-Initiative (S173) als Gründungsfigur des Varietétheaters gilt und Bierbaum durch den Roman und »mit seinen Chansons und seinen praktischen Anregungen dem deutschen literarischen Kabarett den Weg in die Zukunft«272 ebnet, soll kurz auf das Spiel des Romans mit Verweisen auf die Künstler- und Varietészene und auf seine Charakteristik als Schlüsselroman eingegangen werden. Dushan Stankovich273 verweist auf die vielfachen Anspielungen und Hinweise in Bierbaums Roman auf real existierende Schriftsteller und Figuren des öffentlichen Kulturlebens. So liegt es auf der Hand, bei Stilpe von einem Schlüsselroman zu sprechen. Zugeordnet wird Paul Scheerbart dem »Bärenführer« (S162) des Cénacle. Der Zeitschriftentitel »Das Prisma« (S163) gibt verschlüsselt sein Interesse an der Glasarchitektur wieder und literarisch verarbeitet wird der Spitzname von Scheerbarts Frau, die von ihm »Bärin« genannt wurde, was vermutlich nur Eingeweihten bekannt ist, Scheerbart widmet erst 1914 einen Roman »Meinem lieben Bären Frau Anna Scheerbart«274. Der »Peripatetiker« (S163) trägt Züge des Berliner Poeten Peter Hille. Bierbaum spielt auf Hilles zweiten Roman an  : Des Platonikers Sohn ist 1896 erschienen und die Figur des Peripatetikers kommt in Hilles Roman ebenfalls vor. Die Figur Petrarca sagt hier  : »zwei Peripatetiker der Wissenschaft und schönen Rede«275. »Ein gar wilder Pole« (S159), Kasimir, gibt schon durch die ihm zugewiesene Nationalität einen offenkundigen und naheliegenden Hinweis auf den Berliner Schriftsteller Stanisław Przybyszewski und schließlich wird in der Figur des Zungenschnalzers Julius Meier-Graefe276 entdeckt. Rüdiger Bernhardt 271 Schlaf, Johannes  : Der neuere deutsche Roman. In  : Die Kritik. Wochenschau es öffentlichen Lebens (1899), Nr. 173, S. 234. 272 Muschol, Klaus Peter  : Otto Julius Bierbaums dramatisches Werk. Bamberg 1961, S. 109. 273 Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum, S. 110. 274 Scheerbart, Paul  : Das graue Tuch und zehn Prozent weiß. Ein Damenroman. München 1914. 275 Hille, Peter  : Des Platonikers Sohn. Erziehungstragödie in fünf Vorgängen. Berlin 1896. 276 Die Figur ist nicht ganz eindeutig zuordenbar. Der »Doktor der Erotologie« (S160) und der »sachkundige[ ] »Zirkuskritiker« (S160) könnten auf Meier-Graefe verweisen. An Richard Dehmel erinnert die Figur durch die Nähe der vier Figuren zu den Literaten des Berliner Dichterkreises, die sich im Wirtshaus Das schwarze Ferkel trafen, wo der Legende nach ebenfalls viel Toddy getrunken wurde, die »›Skandinavier-Milch‹. Strindberg galt als unübertroffener Meister des Mischens« (Bernhardt, Rüdiger  : Literarische Wanderer zwischen Künstlerkolonien. Von Skandinaviern, Deutschen und Polen. In  : Neumann, Bernd / Albrecht, Dietmar / Talarczyk, Andrzej  : Literatur Grenzen Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als ei-

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stimmt in einer Arbeit über Peter Hille den Entschlüsselungen Stankovichs zu und schließt mit der Bemerkung  : »und, was oft übersehen wurde, Bierbaum der Stilpe.«277 Ferdinand Hardekopf, ein Zeitgenosse Bierbaums, schreibt ebenfalls in seinem wöchentlichen Feuilleton Berliner Brief in der Eisenacher Tagespost vom 7. Mai 1899  : Das köstliche Buch von Otto Julius Bierbaum, »Stilpe«, erzählt, wie fünf befreundete Schriftsteller, in denen man leicht Paul Scheerbart, Franz Evers, Stanislaw Przybyszewski, Frank Wedekind und Stilpe-Bierbaum selbst erkennt, sich zu einer gemeinsamen litterarischen Unternehmung vereinigen.278

Hardekopf identifiziert den »Zungenschnalzer« mit Wedekind und den »Peripatetiker« mit Franz Evers. Bierbaum selbst wiederum lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine andere literarische Figur des öffentlichen Lebens, indem er den Roman Hermann Bahr widmet. Weitere Anspielungen finden sich in der Figur Girlinger, die als Staatsangestellter ihr Vorbild in einem Kommilitonen Bierbaums, dem späteren in China tätigen Diplomaten Emil Krebs279, haben könnte. Die Figur der Tänzerin und Muse Mathilda, die die Idee zum Programm des Momus-Theaters entwirft, könnte Anspielungen auf Dagny Juel in sich tragen. Das Spiel, privates Wissens und Interna von Künstlerkreisen oder des Intimlebens der ner Literaturlandschaft. Würzburg 2004, S. 323 – 338, hier S. 330). George Klim und Helsztynski sprechen sich bei der Figur des Zungenschnalzers deswegen für Dehmel aus, Stankovich und Soergel für Meier-Graefe. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Figur Züge von beiden Dichtern in sich vereint (vgl. zur Toddy-Legende  : Klim, George  : Stanisław Przybyszewski. Leben, Werk und Weltanschauung im Rahmen der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Paderborn 1992, S. 183 und FN S. 220). 277 Bernhardt, Rüdiger  : »Ich bestimme mich selbst.« Das traurige Leben des glücklichen Peter Hille (1854 – 1904). Jena 2004, S. 163. 278 Hardekopf, Ferdinand  : Berliner Brief. Eisenacher Tagespost, 7.5.1899, Nr. 107. In  : ders.: Briefe aus Berlin. Feuilletons 1899 – 1902. Mit zwei Zugaben aus Handschriften. Hg. v. Bernhard Echte. Wädenswill am Zürichsee 2015, S. 11 – 18, hier S. 16. 279 Bierbaum hatte bereits in der Erzählung To-lu-to-lo oder Wie Emil Türke wurde der Figur Emil Züge seines Kommilitonen Emil Krebs zugegeben. Emil Krebs arbeitete inzwischen als Dolmetscher und Diplomat in Peking und der 1897 vom deutschen Kaiserreich besetzten Provinz Tsingtao. Die Erzählung erschien in dem Band Leichtfertige Geschichten 1893 im Dachauer Einhorn-Verlag und wurde aufgenommen in den Erzählband Studentenbeichten. Zweite Reihe (1897). Zum Verhältnis Bierbaums zu Emil Krebs, dem deutschen Kolonialismus in Tsingtao und einer Beamtenlaufbahn im diplomatischen Dienst des Kaiserreichs, die Bierbaum möglicherweise selbst hatte einschlagen wollen, vgl. Hahn, Peter  : Emil Krebs. Kurier des Geistes. Badenweiler 2011.

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Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu zitieren, setzt in der literarischen Verarbeitung eine Inszenierung fort, die durch aufwendig verkündete Gründungen von Literaten- oder Künstlerzirkeln (Gesellschaft für modernes Leben, Brücke, Worpsweder Kreis) oder die zahlreichen Bildungen von Dichterbünden (Kosmikerbund, George-Kreis, Hartlebens Halkyonische Akademie für unangewandte Wissenschaften zu Salò, Friedrichshagener Dichterkreis) und Künstler-Stammtischen (Zum schwarzen Ferkel280, Die neue Gemeinschaft und viele mehr)281 um die Jahrhundertwende das literarische Feld selbst prägt. Das Interessante ist nicht so sehr die einzelne Übereinstimmung von literarischen Figuren und biographisch brisanten Details, sondern das Verfahren der Popularisierung und Verbreitung eines intim-privaten Wissens über Literaten und Schriftsteller, die im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen, in der figürlichen Verarbeitung eine Autonomie und Verselbstständigung ihrer Biographie erfahren und in ähnlicher Weise in Figuren des öffentlichen Interesses transformiert werden. Murgers Cénacle als Künstlerkreis war ein wichtiges Vorbild dieses sozialen Gruppenbildungsprozesses. Bierbaum dient die Vorlage zur literarischen Persiflage der dem ökonomisch gewachsenen Zeitschriften- und Literaturmarkt zuträglichen Inszenierung einer elitären Sonderrolle der Geheimbünde und nur für Eingeweihte zugänglichen Literatenkreise. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erhält der George-Kreis gerade dadurch, dass er sich Letzterer verschließt.282 Die Aufnahmerituale, die selektive Einladungspolitik der Mitglieder, die geheime Versendung von Jahrbüchern inszenieren ein ästhetisches Sonderwissen, das Bierbaum in Stilpe öffentlich karikiert. Bierbaums Verfahren der Belustigung über Wirkmechanismen am literarischen Markt und einer Literatur, die ihre ästhetische Bedeutung aus dem Nimbus einer außerökonomischen und freigeistigen Sphäre zieht, wirkt nach in den Theaterproduktionen von Max Reinhardts Varietéensemble Schall und Rauch, insbesondere im 3. Teil des Don-Carlos-Zyklus, Carleas und Elisande. Eine Gobili­ nesque in fünf Verschleierungen von Ysidore Mysterlinck (1901), der den »esote280 Vgl. Heidgen, Michael / Nier, Svenja  : Alkohol, Musik und Nervenkunst. Zur Berliner Boheme des »Schwarzen Ferkels«. In  : Bernauer, Markus / Gemmel, Mirko  : Realitätsflucht und Erkenntnissucht. Alkohol und Literatur. Berlin 2014, S. 137 – 160 und Fialek, Marek  : Die Berliner Künstlerbohème aus dem »Schwarzen Ferkel«. Dargestellt anhand von Briefen, Erinnerungen und autobiographischen Romanen ihrer Mitglieder und Freunde. Hamburg 2007 (Schriften zur Literaturgeschichte  ; 7). 281 Vgl. Wülfing, Wulf / Bruns, Karin / Parr, Rolf  : Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825 – 1933. Stuttgart  ; Weimar 1998 (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte  ; 18). 282 Die widersprüchliche Suche Stefan Georges nach der Sonderstellung eines elitären Literatenkreises in der literarischen Öffentlichkeit illustriert Hermand, Jost  : Der George-Kreis. In  : ders.: Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern zum PEN-Club. Köln  ; Weimar  ; Wien 1998, S. 156 – 166.

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rischen Irrationalismus der weltanschaulichen Schriften Maeterlincks und seiner schnell wachsenden deutschen Gemeinde«283 verulkte, oder in Bruno Köhlers Bühnensatire Der Dichter nach Maß (1901), die »die Anpassung dramatischer Massenware an die Techniken des Boulevardtheaters«284 verspottet. Bierbaum erkennt, »daß der parodistische Impuls für die Literatur der Jahrhundertwende von spezifischer Produktivität ist«285, und macht ihn in Stilpe und der zehn Jahre später erscheinenden Trilogie Prinz Kuckuck zu seinem Markenzeichen.

3.3 »Keiner begreift, daß wir die Bühne der Zukunft gründen wollen!« – Stilpe wird Literatur zur Ware Das Momus-Theater ist der künstlerische Ertrag des ausgewählten Berliner Bohèmekreises, den der Berliner Kunstkritiker Stilpe um sich versammelt hat. Zur Bewerkstelligung der literarischen Unternehmung fehlt den vier Männern und Mathilda jedoch die finanzielle Unterstützung. Nur einige Monate braucht Stilpe, um »Kapital am Bändel« (S172) zu haben, und er gründet eine »Aktiengesellschaft Momus« (S172)  : Es war ein Schauspiel, ihn zu sehen, wie er in seinem Staatsrock und mit seinen lässigen Gesten des sicheren Geschäftsmannes bei ›Leuten von Gelde‹ am Werke war, […] wie er in gesetzter Rede, aber mit einem Grundton tiefer künstlerischer Überzeugung und dabei gestützt auf entwicklungsgeschichtliche Ideen origineller Art, nachwies […], daß hier eine ›Sache‹ im Entstehen war. (S172)

Das künstlerische Varieté wird Stilpe zu einer ›Sache‹, in der die angefragten Geldgeber, die »in Kunst spekulieren wollten« (S173), eine aussichtsreiche Investitionsmöglichkeit vorfinden, denn »ganz von selbst werde sich aus bescheidenen Anfängen das große Etablissement der Zukunftsbühne entwickeln.« (S173) Das Interesse der Bühne wird zusätzlich entfacht, indem Stilpe publikumswirksame Werbekampagnen in »Witzblätter[n]« (S173) lanciert. Sie berichten schon vor der Eröffnung des neuen Theaters von der Idee eines »poetischen Tingeltangel[s]« 283 Sprengel, Peter (Hg.)  : »Genehmigt für Schall und Rauch mit Ausnahme des Gestrichenen« – Ein Kabarett auf dem Weg zum Theater und die preußische Zensur. In  : ders. (Hg.)  : Schall und Rauch. Erlaubtes und Verbotenes. Spieltexte des ersten Max-Reinhardt-Kabaretts (Berlin 1901 / 02). Berlin 1991, S. 7 – 44, hier S. 15. 284 Sprengel, Peter (Hg.)  : »Genehmigt für Schall und Rauch mit Ausnahme des Gestrichenen«, S. 20. 285 Sprengel, Peter (Hg.)  : »Genehmigt für Schall und Rauch mit Ausnahme des Gestrichenen«, S. 16.

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(S173) und veröffentlichen Vorschläge für das literarische Liedprogramm und die Besetzung  : »Ernst von Wildenbruch als Hausdichter des Momus, Menzel als Kostümzeichner und Karl Frenzel als Tanzmeister« (S173). Die Bemühungen Stilpes, dem Bühnenunterfangen auf der einen Seite eine nötige Finanzierung zu finden und auf der anderen Seite überhaupt ein öffentliches Interesse für die neue Unterhaltungsform zu entfachen, spiegeln die Schwierigkeiten der damaligen literarischen Produktionen im Gefüge des städtischen Kulturlebens wider. Die zahlreichen Zeitschriften- und Verlagsgründungen befanden sich nicht nur miteinander, sondern auch mit anderen Medien in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit eines wachsenden städtischen Publikums, das aus einer Vielzahl von Unterhaltungsangeboten wählen konnte. In Stilpe finden sich die konkurrierenden Medien wieder  : Es gibt »Phonographen« (S57) auf »Jahrmärkten« (S57) neben dem Singspieltheater »Wintergarten« (S166), das zum Erscheinen von Bierbaums Roman unter der Leitung von Julius Baron und Franz Dorn eine wichtige Institution Berliner Unterhaltungskultur war, und es gibt das klassische Theater, wo »Karl Häusser aus München« (S136) den Falstaff gibt. Der größte Konkurrent in der sich bildenden Unterhaltungsindustrie für die Neugründung eines gehobenen und kulturell anspruchsvollen Cabarets fand sich im Budenzauber der Jahrmärkte. Auf Stilpes Aufruf zur Gründung eines neuartigen Momus-Theaters melden sich unzählige Dichter und Komponisten und senden neue Couplets und »Lieder jeder erdenklichen Art« ein, zusätzlich wimmelten Chansonetten und Komiker, Reckturner und Jongleure, Tierbändiger und Zauberkünstler, Knockabouts, Clowns, Gedankenleser, Schlangenmenschen, plastische Poseusen, Schnellmaler, Schnelldichter, Schnellmodelleure, Antispiritisten, Bauchredner, Zwerg- und Riesenmenschen, kurz alles herbei, was nur auf den Namen Varieté hörte und das Literarisch-Künstlerische für Nebensache erachtete. Sogar Herr Ahlwardt kam. (S174)286

Dass der Kunst wieder eine gesellschaftlich relevante Stellung zugeführt werden kann, scheint in Bierbaums Roman einzig dadurch möglich zu sein, sie zur Attraktion zu erklären. Bilden die Künstler und Artisten aus der Sphäre der Jahrmärkte und Klamaukschulen der Zirkusse eine mögliche Stammbelegschaft für 286 Hermann Ahlwardt war ein preußischer Theologe, der durch seine antisemitischen Äußerungen den sogenannten Radauantisemitismus begründete. Ihn in die Zirkusfiguren des Stilpe’schen neuen Theaters einzureihen parodiert seine politischen Äußerungen. Ahlwardts Agitationen wurden häufiger von Karikaturblättern wie Der wahre Jakob und Simplicissimus sarkastisch kommentiert.

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das zukünftige Theater, werden die »unerhörtesten Chansons« (S173), »erotische Szenen von trikotloser Kühnheit« (S173) und »satanische Absynthismen« (S174) von dem Cénacle persönlich beigetragen. Doch fällt es auch den Künstlern nicht leicht, für ein neues Medium zu dichten, so dass die Endredaktion, die aus der Sängerin Mathilda, dem Zungenschnalzer und Stilpe besteht, zunächst Kritik an den poetischen Werken übt, denn, wie Stilpe es ausdrückt, »druckreif und momusreif ist ein Unterschied […] ihr seid noch nicht auf der Höhe des Brettls, ihr seid noch zu papieren  !« (S175) Die Maßgabe für den Erfolg der neuen literarischen Bühnenanstalt stellt also allein der Publikumserfolg dar. Geurteilt wird in Bierbaums Roman über den ästhetischen Gehalt eines Werks, die gestalterische Eloquenz oder Einzigartigkeit eines Kunstwerks als Gesamtkunstwerk aus Sicht ihrer Popularität  : Wie funktioniert die Lyrik als poetische Inszenierung auf der Bühne der literarischen Unterhaltung  ? Ablenkung und Zerstreuung, aber auch eine redliche Ehrlichkeit in der Offensichtlichkeit des Betrugs finden die Zuschauer vor allem auf den Jahrmärkten und im Zirkus wieder. Das Erfolgskriterium für Stilpe soll den gleichen Effekt der Unterhaltung und Ablenkung, nur auf einer literarischen Bühne, bieten. Gleichzeitig ermöglicht eine Varietébühne Anleihen bei den anderen erfolgreichen Kulturindustrien. So können sowohl tänzerische, pantomimische als auch burleske und komische Elemente in das Programm einfließen, die zuvor stärker der Sphäre des Zirkus oder der Jahrmärkte zugeordnet wurden und als solche von vornherein als unkünstlerisch abqualifiziert waren. Schon als Schüler folgt Stilpes Wahrnehmung von Realität dem Wunsch nach der Inszenierung und effektvollen Literarisierung seiner eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Der Antiquar Wopf gibt ihm Anlass für die Idee zu einer Sittentragödie »Der Hahnrei«, die als Schlüsseldrama fungieren soll, später denkt er über eine aristophanische Komödie »Die Kaulquappe« (S68) nach, zu der er seine Schulerlebnisse literarisch verarbeiten könnte  ; gleichzeitig spielt er mit dem Gedanken, die Erfahrungen in eine »Kriminalnovelle« (S68) einfließen zu lassen. Seine Überlegungen und die Suche nach dem geeigneten Medium steigern sich in der Idee zum Momus-Theater in der Engführung von literarischer Arbeit und natürlicher Lebendigkeit auf der Bühne. Stilpe selbst versteht sich als Verkünder und Vermittler einer neuen Theateridee, die sich dem Ernst des naturalistischen Einakters genauso entgegenstellt wie dem intimen Theater, das vor allem durch die Erfolgsstücke von Maurice Maeterlinck und August Strindberg auf deutschen Bühnen präsent ist  : »Ich habe das Amt erhalten, die Berliner in ein künstlerisches Leben hinüberzuamüsieren.« (S180) Gleichzeitig verkörpert Stilpe den gesellschaftlichen Widerspruch, den die Figur des Bohèmiens um die Jahrhundertwende in sich trägt. In seinem künstleri-

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schen Ideal und seiner antibürgerlichen Haltung strebt der Bohèmien sozial nach einer »Absonderung zur Gemeinschaft«287, wie es Gustav Landauer 1900 formulierte. Die Notwendigkeit, sich monetär abzusichern und am Leben zu erhalten, lässt ihn neben seiner künstlerischen Tätigkeit einem Broterwerb und einer profaneren künstlerischen Arbeit wie dem Kunstjournalismus oder einer Anstellung nachgehen. Literarischer Erfolg ist der literarischen Figur des Bohèmien versagt, doch wird sie als Bühnenattraktion von Stilpe überführt in ein Geschäftsmodell des neuen Theaters, das für viele Künstlerinnen und Literaten als neues Betätigungsfeld eröffnet wird. Helmut Kreuzer beschreibt den Problemhorizont der Bohèmien-Künstlerexistenz um 1900, die Stilpe aufzulösen versucht  : Wo dergestalt die Merkantilisierung der Kunst, ihre marktgerechte Herstellung und Anpreisung als Frevel und Entweihung, als Verbürgerlichung eines wesenhaft Nichtund Überbürgerlichen aufgefasst wird, zwingt die Not den Mittellosen zur nichtkünstlerischen Arbeit.288

Die Literatur wird Stilpe insofern zur Ware, als er eine Klientel auf dem Weg des literarischen Tingeltangels dem Literaturmarkt zuführt, die noch nicht vom Kulturbetrieb korrumpiert wurde  : »Wenn ich die literarischen Hungerleider, die von Gnaden des Elends noch anständig sind, aufriefe gegen die gewürdeten literarischen Beutelschneider und Gaudiebe  ?« (S152) Nicht die Verbürgerlichung der Kunst ist das Menetekel und der Verrat, den der Künstler des Fin de Siècle bei Stilpe begeht, sondern dass er sich der Nachfrage für eine moderne Form der literarischen Unterhaltung verschließt. Literarischer Erfolg und künstlerischer Lebensentwurf eines Bohèmiens gelingen zugleich in dem Moment, wo die künstlerische Lebensführung als Vorbild von der Bühne aus ins Leben wirken kann. Das Mäzenatentum, das im Bohèmemilieu durch die Figur des Barmuche, des überredeten edlen Spenders in der Kneipe, ersetzt werden kann, benötigt im Zuge der Merkantilisierung der Literatur entweder ein ähnliches förderndes Interesse an der Kunst, wie es in den Jahrhunderten zuvor der Mäzen noch verkörperte, der sich um 1900 in der Figur eines Gönners vereinzelt auch noch wiederfindet (Alfred Walter Heymel wird für Bierbaum beim gemeinsam mit Rudolf Alexander Schröder realisierten Zeitschriftenprojekt Die Insel so eine Figur dar287 Gustav Landauer hält seinen Vortrag Durch Absonderung zur Gemeinschaft am 18.6.1900 in Friedrichshagen-Berlin (vgl.: Landauer, Gustav  : Durch Absonderung zur Gemeinschaft. In  : ders.: Skepsis und Mystik. Versuch im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. Lich 2011, S. 131–147). 288 Kreuzer, Helmut  : Die Boheme, S. 253.

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stellen), oder, wie es in Bierbaums Stilpe anschaulich wird, einen Investor, der auf den zukünftigen Erfolg und das Tingeltangeltheater als Geschäftsidee spekuliert. Oder, und das ist der Ausblick von Bierbaums poetischen Entwürfen, ein Massenpublikum, das die Literatur wieder für sich »entdeckt«. Bierbaum verteidigt 1901 die Idee eines neuen Bühnentheaters, das sich dem Erfolgskriterium ebenso unterwirft, wie es ein poetisches Programm verfolgt  : Man sollte nicht, weil diese Bühnen in etwas zu schneller Folge allzu üppig entstehen, despektierlich von ›Mode‹ reden. Es ist mehr als das. Diese Bühnen kommen einem wirklichen Bedürfnis entgegen, eben dem, das sich bei dem Publikum herausgestellt hat, das der Pseudodramatik unserer großen Schauspielbühnen müde geworden und nun froh ist, Lyrik, einmal unverkleidet und rein vorgestellt, zu erhalten.289

Schon 1895/96, schreibt Bernhard Holeczek, soll Bierbaum gemeinsam mit Frank Wedekind ein fahrendes Tingeltangeltheater entworfen haben290. Doch soll diese populäre Theaterform nicht die bestehenden Bühnentechniken ersetzen, Bierbaum erkennt die Gleichzeitigkeit der klassischen Theaterbewegungen an. Sein Einwand betrifft nur eine Kritik der einseitigen Konzentration auf die althergebrachte Theaterbühne, die nur erweitert werden müsse durch experimentierfreudige Bühnen und Aufführungsorte. Es gibt zur gleichen Zeit vielgestaltige Bemühungen um eine Reform der Theaterlandschaft, wie die Entwicklung einer Arbeiterbühne, einer Volksbühne, der Freien Bühne, der Salonbühnen und der Varietétheater. In einer Auftragsarbeit, Fünfundzwanzig Jahre Münchner Hoftheater-Geschichte, schreibt Bierbaum 1892  : Es ist ebenso unerträglich, Schillersche Jambensprache mit dem Tonfalle des Salons nachlässig zu verschleudern zu hören, wie es unerträglich ist, wenn eine moderne Salondame auf der Bühne ihre Worte mit tragischer Lawinenrollewucht von sich gibt.291

Das Theater solle nicht direkt aufgelöst werden durch die neuen Bühnen des intimen Theaters und der Salons, dennoch sieht Bierbaum eine Gleichberech289 Bierbaum, Otto Julius  : Wo stehen wir  ? In  : Das litterarische Echo 4 (1901 / 02), Sp. 6. 290 Vgl. den Hinweis bei Holeczek, Bernhard Maria  : Otto Julius Bierbaum im künstlerischen Leben der Jahrhundertwende. Studien zur literarischen Situation des Jugendstils. Berlin 1973, S. 153. 291 Bierbaum, Otto Julius  : Fünfundzwanzig Jahre Münchner Hoftheater-Geschichte. München 1892, S. 63 f. Bierbaum empfiehlt am Ende des Aufsatzes die Einrichtung einer leitenden Dramaturgenstelle und der Gedanke liegt nahe, dass sein Aufsatz über die Geschichte des Hauses schon eine Bewerbung um diese mögliche Stelle darstellt.

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26  Traueranzeige auf das Trianon-Theater vom 25. Januar 1902.

tigung beider Aufführungspraxen, ohne den Fehler zu begehen, sie ästhetisch in der Darbietungskunst vermengen zu wollen. Inzwischen waren einige prominente Versuche unternommen worden, tatsächlich eine poetische Varietébühne zu gründen, wie zum Beispiel das Schall und Rauch von Max Reinhardt und Das Bunte Theater von Ernst von Wolzogen, das unter dem Namen Das Überbrettl bekannt wurde. Zeitgleich veröffentlicht Alfred Walter Heymel im Jahr 1900 eine äußerst erfolgreiche Anthologie, Deutsche Chansons, zu deren erster Ausgabe Bierbaum die programmatische Einleitung Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede verfasst, so dass er in der Öffentlichkeit als der Überbrettl-Erfinder angesehen wird292. Der zunehmenden Vermarktung der Brettl-Idee steht er 1901 jedoch schon skeptisch gegenüber  : Das Überbrettl als neue Bühnengestaltung hat sich in einer Weise ausgewachsen, die nicht als gedeihlich für die lyrische Kunst angesehen werden kann. Es ist nicht das lyrische Theater geworden, das ich erhofft habe und das auch Wolzogen im Auge gehabt hat, […] sondern es ist in den Händen von spekulativen Leuten […] ein litterarisch nur notdürftig aufgeputzter Tingeltangel geworden, in dem der roheste Ungeschmack blüht.293 292 Vgl. die Rezension in der Neuen deutschen Rundschau  : »Ein hübsches, rotscheckiges Bändchen deutscher Chansons, von Otto Julius Bierbaum teils aus dem Simplicissimus, teils aus den Liederbüchern seiner Freunde mit dem Vornamendoppelvorschlag gepflückt und mit lavendel- und rosafarbenen Bändern locker gebunden, ist bei Schuster und Loeffler erschienen.« (Deutsche Chansons [F.P.]. In  : Neue deutsche Rundschau [Freie Bühne] 7 [1901], H. 1/2, S. 222). 293 Bierbaum, Otto Julius  : Vorrede. In  : Heymel, Alfred Walter  : Deutsche Chansons. Berlin  ; Leipzig 1901.

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27  Anonyme Karikatur auf den Misserfolg des Trianon-Theaters.

Bis zu diesem Zeitpunkt förderte die Überbrettl-Idee eine Vielzahl an Theatergründungen, die zum Teil nicht lang vorhalten  : Wolzogens Überbrettl inspirierte weitere Cabarets wie das Charivari, von Max Reinhardts Schall und Rauch spaltet sich das Cabaret Die Bösen Buben ab, der Maler Max Tilke gründet das Cabaret Zum hungrigen Pegasus, »[d]em ›Hungrigen Pegasus‹ folgen andere Kneipenbrettl  : Sie nennen sich ›Im Siebten Himmel‹, ›Die Schminkschatulle‹, ›Zur Buckligen Anna‹«294. Ingrid Heinrich-Jost hält in ihrer Geschichte des frühen Berliner Kabaretts fest  : »Zwischen dem Auftakt Wolzogens im Jahr 1901 und 1905 wurden in Berlin allein 42 Anträge auf eine Cabaret-Konzession gestellt.«295 Auch Bierbaum unternimmt eine Theatergründung, deren Misserfolg er in einer eigenen Nummer der Insel kommentiert, wo er zugleich die literarischen Produktionen des Abendprogramms vollständig abdruckt296. Eine am 25.  Januar 1902 extra gedruckte 294 Eine umfassende Übersicht auch kleiner Theater in Berlin um die Jahrhundertwende hat Tobias Becker erstellt (vgl. Becker, Tobias  : Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880 – 1930. München 2014). 295 Heinrich-Jost, Ingrid  : Hungrige Pegasusse. Anfänge des deutschen Kabaretts in Berlin 1984, S. 32. 296 Kühn, Volker  : Die zehnte Muse. 111 Jahre Kabarett. Köln 1993, S. 34.

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Traueranzeige für das Trianon-Theater (Abb. 26), das ebenfalls nach einem Café am Montmartre benannt war, parodiert das finanzielle Desaster der Theatergründung. Den unternehmerischen Versuch, in der Nähe der Friedrichstraße selbst einen literarischen Tingeltangel zu gründen, unternahm Bierbaum nicht weit von dem Ort entfernt, an dem die literarische Vorbildfigur Stilpe gewohnt hatte  : an der Weidendammbrücke. Überliefert sind tatsächlich nur die Programmpunkte der ersten und einzigen Aufführung am 28. Dezember 1901 im Trianon-Theater unter den S-Bahn-Bögen und einige Rezensionen der Aufführung.297 Das Theater fasste über 500 Personen298 und die Aufführungen wurden beeinträchtigt durch die Geräusche der S-Bahn, die direkt über dem Theater fuhr. Ob Bierbaum die regelmäßige Unterbrechung durch den Lärm strategisch als effektsteigerndes Mittel einsetzte oder die Geräuschkulisse die Lebendigkeit der Bühnenvorgänge und Couplets noch unterstreichen sollte, ist nicht bekannt. Schon nach einer Vorstellung muss das Trianon schließen und Bierbaum wird als Theaterdirektor durch den Aufsichtsrat der gegründeten G.m.b.H. entlassen. Hanns Heinz Ewers’ Urteil über den gescheiterten Theatergründungsversuch fällt 1905 vernichtend aus  : »In Berlin selbst war der selbstgefällig-kindische Eintagsversuchs Bierbaums im Trianon-Theater gewiß von niemanden ernst genommen worden«299. Bierbaum begründet den Misserfolg (Abb. 27) mit der zu kurzen Probezeit  : »Eine G.m.b.H. hat es sich in den Kopf gesetzt, 28. Dezember mit dem Geldverdienen anzufangen.« In der biographischen Skizze Im Spiegel präzisiert er 1908 die Differenzen, die er als künstlerischer Leiter mit den Theaterbesitzern hatte. Er weist auf unterschiedliche Vorstellungen seines »lyrischen Theaters« und der am Projekt finanziell beteiligten »berliner Herren« hin, so dass eine »töricht überhetzte erste Aufführung« »zu einem wilden Durchfall« führen musste, worauf er sein »Amt sofort« niedergelegt habe.300 Ohne Quellenangabe nennt wiederum Rüdiger Bernhardt baulich-techni297 Der Berliner Börsen-Courier macht sich über Bierbaums Theaterreinfall lustig und endet  : »Bierbaums Singspiel ›Die Hirtin und der Schornsteinfeger‹, das den Schluss machte, war, obgleich herzlich matt, noch nicht ganz so schlimm, aber das Publikum war bereits so nervös geworden, daß es gerade während dieses Stückes den größten Lärm vollführte und zum größten Theil noch vor Schluß der Vorstellung ins Freie hinausdrängte. Ein neues Überbrettl, ein neuer Reinfall. Pereat sequens.« (V.A.: Bierbaums Trianon-Theater [Rubrik Kunst und Wissenschaft]. In  : Berliner Börsen-Zeitung – Morgenausgabe [1901], Nr. 607, 29.12.1901, S. 6). 298 Vgl. Becker, Tobias  : Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London 1880 – 1930. München 2014, S. 419. 299 Ewers, Hanns Heinz  : Das Cabaret. Berlin  ; Leipzig 1905, S. 39. Hervorgehoben wird von Ewers das Berliner Cabaret Silberne Punschterrine unter der Leitung von Hans Hyans, den er mit seinem Lied der Arbeitslosen mit dem bekannten französischen Kabarettsänger Aristide Bruant vergleicht. 300 Vgl. Bierbaum, Otto Julius  : Im Spiegel. Autobiographische Skizze. In  : Das literarische Echo. Halb-

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sche Mängel als Grund für die Schließung des Theaters  : »Bierbaum versucht sich am 26.  Dezember 1901 mit einem Kabarett am Trianon-Theater  : dem Kabarett der ›Lebenden Lieder‹. Es wurde nur einmal gespielt, dann sperrte die Baupolizei das Haus.«301 Die Episode von Bierbaums kurzer Karriere als Theatermacher unterstreicht den prototypischen Entwicklungsweg, wie ihn der Kritiker Stilpe zurücklegt  : »Ein anderer Weg zum Theaterunternehmer«, schreibt Tobias Becker in seiner empirischen Untersuchung über das populäre Theater in Berlin und London um die Jahrhundertwende, »führte über die Tätigkeit als Bühnenautor oder den Journalismus, insbesondere die Theaterkritik.«302 In beiden Berufsfeldern ist sowohl der Schriftsteller Bierbaum als auch die literarische Figur Stilpe tätig. In der 1906 verfassten Vita autoris setzt Bierbaum seine Figur Stilpe und seine fiktionalen Versuche einer neuen poetischen Tingeltangelkultur ins Verhältnis zu seiner eigenen Theaterunternehmung, die dem Anspruch der Stilpe’schen Idee einer neuen Populärbühne des Überbrettls nicht standhält  : Über seine [Bierbaums  ; BZ] Mitschuld am Überbrettl gehen die Meinungen auseinander. Einige Passagen im »Stilpe« belasten ihn zwar schwer, aber das Programm seines Trianon-Theaters (einmal und nicht wieder  !) wird immer als besinnungslos rein lyrisches Entlastungsdokument angeführt werden können.303

Doch selbst die erfolgreichen Überbrettl-Gründungen in Berlin halten sich nicht auf Dauer auf einem sehr dynamischen Markt städtischer Amüsement- und Unterhaltungsindustrie (Abb.  28 – 30). Kulturelle Novitäten, technische Entdeckungen monatsschrift für Literaturfreunde 9 (1907), Nr. 14, Sp. 1082 – 1087. In seinem Nekrolog verweist Bierbaum mit dem Titel »Gumpel-Theater«, wie das Trianon in Wahrheit heißen solle, auf einen der Berliner Herren  : den »Hoteldirektor Gumpel«. Der Hotelier investiert nicht nur in das Trianon, sondern kurze Zeit später auch in das Theater Schall und Rauch von Max Reinhardt große Summen (vgl.: Reissmann, Bärbel  : Max Reinhardt. Ein erfolgreiches Theaterexperiment. In  : Freydank, Ruth  : Theater als Geschäft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende. Berlin 1995, S. 157 – 171, hier S. 159). 301 Bernhardt, Rüdiger  : »Ich bestimme mich selbst.« Das traurige Leben des glücklichen Peter Hille (1854 – 1904). Jena 2004, S. 208. 302 Becker, Tobias  : Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880 – 1930. München 2014, S. 297. Die Arbeit belegt das sich ausweitende Berufsfeld des Theaterunternehmers in Berlin und sie verzeichnet neben Bierbaums Trianon-Theater viele weitere Neugründungen von Berliner Theatern um die Jahrhundertwende wie das Theater am Schiffbauerdamm (1892), das Theater Unter den Linden / Luisentheater (1896), das Theater des Westens (1896) und das Schall und Rauch / Kleines Theater (1901). 303 Bierbaum, Otto Julius  : Vita autoris. In. ders.: Mit der Kraft. Automobilia. Berlin 1906, S. 337 – 344, hier S. 341.

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28  Werbung für Berliner Theater-Vorstellungen in der Berliner Börsen-Zeitung, 25. Januar 1902. Unten links: Das Trianon-Theater, nun ohne Beteiligung von Bierbaum.

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29 und 30  Bericht über die Vorstellung des Trianon-Theaters in der Berliner Börsen-Zeitung, 29. Dezember 1901.

wie bildgebende Verfahren und Schatten-Projektionen oder die gestiegene Lust an Sensationen, Weltneuheiten und Skurrilitäten verschaffen nicht nur den klassischen großen Bühnenhäusern, sondern auch den kleinen Experimentierbühnen und lyrischen Theatern und Varietés eine große Konkurrenz in Gestalt der Zirkusund Schaubuden, Jahrmärkte, Arbeitertheater und erst im Entstehen begriffenen Lichtspielhäuser.304 Auch Ernst von Wolzogens Buntes Theater, das in der Tages304 »Nach der Statistik von H. Werth bestanden im Jahr 1900 in Deutschland zwei Kinotheater, und zwar eins in Hamburg und eins in Würzburg.« Die Tabelle im Anschluss zeigt, dass nur zehn Jahre später 139 Kinos in Berlin gezählt wurden. Berlins erstes Kino befindet sich Unter den Linden 21 und heißt »Meßters Biophon« (vgl. Jason, Alexander  : Der Film in Ziffern und Zahlen. Die Statistik der Lichtspielhäuser in Deutschland 1895 – 1925. Mit 38 Tabellen und 9 Übersichten, 7 Karten und Text sowie einer großen Spezialfilmkarte mit alphabetischem Verzeichnis. Berlin 1925, S. 21). Die erste öffentliche Berliner Filmvorführung fand in einem Varieté statt  : Die Brüder

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presse einfach nur das Überbrettl heißt, hatte als Bühne langfristig keinen Erfolg. Ludwig Thoma schreibt in seinen Erinnerungen  : Kurz nach der Jahrhundertwende war das Überbrettl schon nicht mehr in Mode, hatte Konkurrenten, und überdies hatte das Theater in dem Armenviertel die ungünstige Lage. [… A]ber Berlin W war nicht so harmlos und hatte seine Neigung für gehobene Variétékunst bereits wieder abgelegt. Die Konkurrenz versuchte es mit Attraktionen, und Liliencron las vor einem Parkettpöbel seine Novellen und Gedichte vor. […] Ganz Berlin gab sich damals dem mächtigen Eindruck hin, den das Lied »Haben Sie nicht den kleinen Cohn geseh’n  ?« machte, und es war aus mit den vertonten Liedern Bierbaums und Liliencrons.305

3.4 »[O]riginell, geistreich sumpfen« – Das Kommentieren als Verflachung und die Poetik des Kleinmachens: die Froschperspektive Ein inszeniertes persönliches Verhältnis der Erzählerfigur zur Figur Stilpe prägt von Anbeginn nicht nur eine Intimität mit dem Protagonisten des Romans, die – so wird noch zu zeigen sein – sich in einem Witz auflöst, sondern auch das Verhältnis zum Rezipienten, dem fiktiven Leser. Er wird mehrfach direkt im Roman angesprochen. Formulierungen wie der Romanbeginn »Als mein Freund Stilpe« (S7) oder »wir folgen ihm« (S35) oder die Hoffnung, »daß ich ihn einst unsern Freund werde nennen dürfen« (S8), stellen die Erzählerfigur, den Protagonisten Stilpe und den fiktiven Leser auf eine Erfahrungsebene. Die Erzählerfigur erhält selbst eine Körperlichkeit, wenn sie kommentierend neben dem Geschehen steht. Diese körperliche Anwesenheit der Erzählerfigur nimmt im Verlauf des Romans ab. Wird zu Beginn die Anwesenheit einer beobachtenden und schildernden Instanz sentimental ausgestattet, erfüllt sich der Wunsch der Erzählerfigur nach einem intimen Verhältnis zwischen Leser und Stilpe zu Ende des Romans  : Die Erzählerfigur verschwindet hinter den intimen Dokumenten, Tagebuchblättern, Abschiedsbriefen und testamentarischen Notizen Stilpes, in die nun wiederum Skladanowsky stellten am 1.11.1895 ihr Bioscop und seine »Lebenden Bilder« als Programmnummer im Wintergarten vor. 305 Thoma, Ludwig  : Erinnerungen. München 1988, S. 171 f. Das vierstrophige antisemitische Couplet über den kleinen Cohn komponiert Julius Einödshofer im Jahr 1900, es kommt im Rahmen von Siegfried Jacobsens Stück Seine Kleine. Große Ausstattungsposse mit Gesang und Tanz 1902 im Thalia-Theater zur Uraufführung (vgl. dazu  : Adorno, Theodor W.: Musikalische Aphorismen. In  : ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 18  : Musikalische Schriften V. Frankfurt / M. 1984, S. 18 – 19).

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der Leser direkt Einsicht erhält. Dem poetischen Unvermögen und dem fehlenden literarischen Talent, das den jungen Stilpe trotz seines Drängens nach Dramatisierung seiner Umgebung kennzeichnet, begegnet die Erzählerfigur mit ironischer Nachsicht. Stilpe werkelt an seinen Versen und scheitert oft. So schreibt er – kurz bevor er mit Girlinger im Gartenhaus zur heimlichen Flucht in »eine deutsche Kolonie« (S64) nach Athen verabredet ist  – ein Abschiedsgedicht an seine Mutter. Der Versuch, seinen Gefühlen und den Gedanken an den Abschied von seiner Mutter lyrischen Ausdruck zu verschaffen, misslingt  : Mütterchen, weine nicht, weine nicht so, Sieh, ich bin in der Fremde froh Und denke dein. Er hoffte, es würde ein ganzes Gedicht werden, aber es blieb, wie gewöhnlich, beim Anfange. (S73)

Kurz darauf wartet Stilpe vergebens auf Girlinger  : Ich werde doch wohl wegen dieser Canaille nicht hierbleiben  !  ? Aber diese Bestie hat ja das Kursbuch  ! Der ganze Reiseplan stand ja bei ihm  ! Ich Wickelkind habe ihm alles überlassen  ! Sonderbar  : Der Gedanke, sich nun selbst ein Kursbuch anzuschaffen und einen Reiseplan zu machen, kam ihm nicht. Dafür entwarf er bereits den Brief, den er nach seiner Ankunft in Athen »diesem Elenden« schicken wollte […]. (S75)

Die gestalterische Vorwegnahme eines zukünftigen Geschehens eint die Perspektive des Erzählers auf den Handlungsverlauf und das Ideal eines Lebensentwurfs des Dichters Stilpe. Das literarische Modellieren einer möglichen Wirklichkeit, die Verfestigung von Wünschen und Idealen in lyrischer Gestalt, das Verwandeln von (noch nicht realisiertem) Leben in Poesie prägt das Verhältnis Stilpes zu seiner Umgebung und zu seinem eigenen Leben und – dies soll im Nachvollzug der Fortsetzung der literarischen Produktionen Bierbaums herausgearbeitet werden – so wird sich auch das ästhetische Prinzip oder das literarische Verfahren Bierbaums kennzeichnen lassen. Die Vorwegnahme, das Literarisieren des eigenen Lebens unternimmt Stilpe oft in Sequenzen des inneren Monologs. Dies weist voraus auf Erzählungen, die das literarische Experiment dieser ästhetischen Reflexionsform konsequent umsetzen, wie Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) oder Fräulein Else (1924). Durch die Erwähnung der Froschperspektive im Untertitel des

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Romans gelingt ein Spiel des literarischen Bezugs zu zwei früheren Werken Bierbaums, zu Pankrazius Graunzer und der Erzählung Negerkomiker. In Pankrazius Graunzer tritt die Figur Stilpe ebenfalls in einem Tingeltangel auf und schon hier wird sie von der Erzählerfigur als bekannte und vertraute Figur vorgestellt  : Aber das ist es eigentlich nicht, wovon ich dir schreiben wollte. Wovon ich dir schreiben will, das ist der Stammtisch zum Ring in der Westentasche. Unser guter Stilpe hat mich dieser Tafelrunde des Gottes Momus zugeführt. Er durfte es umso mehr, als ein gutes Drittel dieser Tafelrunde Korpsbrüder von uns sind. […] Stilpe, in seiner alten hyperbolischen Art, die wir schon an ihm bestaunten, als er seine Gabe hauptsächlich an Mensurdetails und Tingeltangeleusen-Intimitäten übte, gab mir zuvörderst eine Erklärung dieses Tisches. (G95)

In der Erzählung Negerkomiker, die 1893 in Bierbaums Erzählband Studentenbeichten abgedruckt wird, tritt Stilpe zum ersten Mal in Bierbaums Œuvre auf. Die Figur sitzt am Rande einer Varietébühne und verfolgt das Geschehen aus der Froschperspektive  : Stilpe, ein inaktiver Bursch der Verbindung genannt der Mulatte, weil er in der That mit einem Indogermanen wenig Ähnlichkeit hatte, saß direkt an der Rampe, wie immer. »Ich liebe in solchen Dingen die Froschperspektive« pflegte er zu sagen, um diese Angewohnheit zu erklären. »Der Blick ist intimer so.« Als sie zu ihm nach vorne kamen, hatte die Fette (Trudi Muff hieß sie auf dem Programmzettel) eben ihr Lied beendet, und Stilpe rollte ihr als Zeichen seines Beifalls eine Konservenbüchse mit Cornedbeef hinter die Koulissen. »Närrisches Luderchen  !« sagte zum Danke das dicke Mädchen. Er hatte übrigens noch eine ganze Reihe von derartigem »praktischen Lorbeer« vor sich stehen.306

Solange Stilpe den selbst gewählten Platz direkt am Rand der Bühne, im Zuschauerraum einnimmt, fühlt er sich am wohlsten. Gleichzeitig erscheint der Lebensentwurf Stilpes als gefeierter Kritiker und Theatergründer aus dem Blickwinkel, den der Roman aus der Froschperspektive im Untertitel nahelegt, größer, als er eigentlich ist. Die Karriere als Verbindungsstudent und Bohèmien endet für Stilpe in Leipzig katastrophal, so dass er vor den Anschuldigungen, er habe die Verbindungskasse entwendet, nach Berlin fliehen muss. Dort baut sich Stilpe als Journalist und Kunstkritiker eine neue Lebensperspektive auf, die auf Insze306 Bierbaum, Otto Julius  : Negerkomiker. In  : ders.: Studentenbeichten. Sonderbare Geschichten. Hg. v. Norbert Honsza. Berlin 1990, S. 73 – 90, hier S. 77.

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nierung von Theaterskandalen setzt. Nach der erfolgreichen Werbung und dem Aufbruch des neu gegründeten Cénacle in eine neue Kunstära des Tingeltangel erleidet das Stilpe’sche Momus-Theater »ein vollkommenes Fiasko, weil es als Tingeltangel ›immerhin‹ zu künstlerisch, als Kunstinstitut aber viel zu sehr Tingeltangel« (S184) ist. Ein Bühnenerfolg wird ihm erst in der Rolle eines »Chantantkomikers« (S191) zuteil, in einem drittklassigen Etablissement in einem Berliner Arbeiterbezirk. Die Froschperspektive, aus der der Roman berichtet, verweist metaphorisch auf einen abseitigen gesellschaftlichen Ort, von dem aus Stilpe agiert und den er nie wirklich verlässt. Gelingt eine kurze gesellschaftliche Integration in Berlin als »Hilfsreporter« (S146) und »literarischer Volkstribun der Sozialdemokratie« (S147), verlässt Stilpe doch bald wieder das Ressort des politischen Feuilletons und wird »der Schrecken der Belletristen« (S147). Doch auch sein Ruhm als Theaterkritiker baut auf einer »Serie von Ohrfeigen« auf, die er gemeinsam mit einem Schauspieler »nach einem gemeinsam aufgestellten Regieplan« dramatisierte. Die Stationen der Literatenkarriere des Bohèmiens Stilpe verfolgt durch das intime Erzählverhältnis auch die Erzählerfigur, die so direkt beteiligt ist an der Lebenslüge, die Stilpe umgibt. Der künstlerische Bildungsprozess des Willibald Stilpe erscheint so als umgekehrter Entwicklungsweg und die vorgestellte erfolgreiche literarische Karriere am Ende des 19. Jahrhunderts erscheint aus der Froschperspektive als gescheiterte Emanzipation. Die Begeisterung für die Lebensform eines Bohèmien, wie sie das französische literarische Vorbild in Henri Murgers Roman vermittelt, führt als Lebensentwurf für Stilpe in die Einsicht seines gesellschaftlichen und sozialen Ruins. Am Ende des Romans tritt die Erzählerfigur zunehmend zurück hinter einem »Bericht quod Stilpe« (S191) von Girlinger, der den Varietégründer in Berlin aufsucht, hinter der Zeitungsnotiz »Selbstmord eines Chantantkomikers« (S191) und hinter Stilpes Abschiedsbrief an Girlinger, in dem es in der Form einer Lebensbeichte heißt  : Aber  : Diese Blasen im Gehirn. Verschlammter Grund. Gurgelgase, Fuselgase. Ich weiß schon nicht mehr, was ich Dir auseinandersetzen wollte. Es wird wohl eine Lüge gewesen sein. Daran darf nicht gezweifelt werden  ! Immer hab ich gelogen  ! Immer  ! Sieh’ nur meine Tagebücher durch. Die Verse  ! Die Verse  ! Am liebsten hab’ ich mich selber belogen, und rhythmisch. (S194)

Die Ansprache Stilpes an seinen Jugendfreund – er fragt selbst, ob er ihn je zuvor bei seinem Vornamen Robert genannt hat – fingiert die erfundene Figur Stilpe als reale und stellt sie als eigenständigen und ernst zu nehmenden Charakter in

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einer kritischen Selbstreflexion vor. Elemente von Hybris (»Fühlst Du, fühlst Du, daß es Poesie ist  ? Von mir  ! Von mir  !«, S195), körperliche Selbstschädigungen (»Ich bin mit dem Schädel gegen die Wand gerannt und habe mir, ganz biblisch, die Haare ausgerissen«, S197) und Selbstzweifel (»fürs Ganze impotent«, S196) stehen unmittelbar nebeneinander und stellen die Romanfigur zunehmend als pathologischen Fall vor. Stilpes Einsicht in sein eigenes künstlerisches Scheitern und den Zustand seiner Verrücktheit stellt der Text experimentierend in einer assoziativen Schreibweise dar, die in der Form eines inneren Monologs die Gedankengänge Stilpes in ihren Abbrüchen, Verwerfungen und sinnlosen Wortfindungen unmittelbar wiederzugeben scheint. Die Forderung nach einer lebendigen Literatur findet sich in der Selbstbeschreibung und dem nach Formulierungen tastenden Selbstgespräch des Kritikers wieder. Der Wunsch, »originell, geistreich sumpfen«, den auch der Motiv­horizont der Froschperspektive des Romans durchzieht, wird in dem Abschiedsbrief realisiert und wirkt wie eine Posse auf das literarische Programm der Bohème. Der Bildkomplex des Sumpfes findet sich nicht nur auf einem großen Werbeplakat für Stilpes künstlerisches Traktat  – »Der Tintensumpf« (S156)  –, das einen »herkulisch gebaute[n] Frosch« (S156) im schwarzen »Sumpfwasser« (S157) zeigt, der Ziegel mit den Aufschriften »Heuchelei, Prostitution, Bestechlichkeit, Plagiat, Feigheit« (S157) von sich wirft  ; er findet sich leitmotivisch seit dem Eintreten Stilpes in die Leipziger Verbindungsszene immer wieder im Text. Stilpe bildet in der Assoziationsreihe aus Sumpfen, künstlerischem Außenseitertum der Bohèmiens, Alkoholismus und einem morbiden Dumpfsein eine Erzählhaltung, die in der Froschperspektive eine den klassischen ästhetischen Maßgaben nicht konforme Kunstgattung vorstellt. Derbe sexuelle Anspielungen und Witze, das Milieu von Prostitution, Trinkgelagen und »Suff« (S136) werden literarisch inszeniert und auf ihren Unterhaltungswert geprüft. Der zukünftige Theaterdirektor Stilpe zieht folgenreich die erotische Erbauung durch einen Tingeltangelbetrieb der literarischen Bildung vor  : Es gibt hier immer noch Menschen, die Bücher lesen. Das muss aufhören. In den Spitzenunterhöschen meiner kleinen Mädchen steckt mehr Lyrik als in euren sämtlichen Werken, und wenn die Zeit erst so weit ist, daß ich ohne Unterhöschen tanzen lassen kann, dann werdet ihr begreifen, daß es überflüssig ist, andere Verse zu machen als solche, die bei mir gesungen werden. (S180)

Nimmt der Roman also auch in der Aussicht »unter die Röcke« eine Froschperspektive ein, die eine frivole Schlüpfrigkeit kommensurabel machen soll mit

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dem Literaturbetrieb, wirkt Stilpes unternehmerisches Unterfangen sarkastisch auf den etablierten Kunstbetrieb zurück. Stilpe als »lachender Lump« (S152), wie Bierbaum den Murger’schen bohémien übersetzt, der auf einer abseits gelegenen Bühne im Berliner Norden betrunken und abgehalftert sich selbst spielt und dabei ein »brillantes Stück grotesk-realistischer Tingeltangelkunst« (S187) aufführt, erfüllt die Forderung einer gehobenen und anständigen, das heißt selbstreflexiven Tingeltangelkunst, die kritisch wirken kann. Die niedere Kunstgattung ermöglicht es Stilpe, aus dem Abseits, wiederum also aus der Froschperspektive, Kritik an der Bigotterie des bürgerlichen Kultur- und Zeitungsbetriebs und der Kulturlosigkeit des Verbindungswesens zu üben. Aus Stilpes Perspektive heraus soll gezeigt werden, »was für Wäsche unter den schönen Röcken der Würdenträger der öffentlichen Meinung steckt« (S152). Dabei gelingt dem Roman in seiner Präzision eine politische Kulturkritik, die vielen nach seinem Vorbild gegründeten Varietés nicht eigen ist. Eduard Fuchs sieht in der fehlenden politischen Pointierung des deutschen Kabaretts in seinen Anfangsjahren den eigentlichen Grund des ausbleibenden literarischen Erfolgs als eigenständiges Theater, wie es in Frankreich durch das Varieté am Montmartre so vorbildlich wirkte und es durch Stilpe einen so stilprägenden Vorreiter im Kaiserreich fand  : Indem die poetischen Dreierlichter des allerjüngsten Deutschlands in komische Biedermeierfräcke schlüpften, glaubten sie auch schon das Rezept in der Tasche zu haben, das den Ruhm des Montmartre vor zwanzig Jahren über die ganze Welt trug. Der Unternehmergeist fehlt ihnen nicht, aber eben das, was diesen Ruhm einzig möglich macht – die fest fundierten Ideale. Diese wuchsen nämlich tatsächlich noch vor zwanzig Jahren auf dem Montmartre droben, sie machten aus dem Maupassant, Daudet, Millet usw. Kerle, ganze Kerle. So etwas ist natürlich nicht im Treibhaus der Einbildung und auf dem Mistbeet der politischen Charakterlosigkeit zu ersetzen. Darum bestand der einzige Erfolg dieser Bewegung in Deutschland darin, daß das Programm des Tingeltangels um einige raffinierte Nummern vermehrt wurde.307

Das lebensnahe Verhältnis von Publikum und Künstler, das für die Bühne des Tingeltangels und das Überbrettl wesensbestimmend wird, wird bei Bierbaum vorformuliert, indem ein performatives Verhältnis des Erzählens entworfen wird. Die Dialogizität, die sich in der intimen Erzählsituation des Romans zwischen 307 Fuchs, Eduard  : Die Frau in der Karikatur. Mit 450 Textillustrationen und 71 Beilagen. Um eine größere Zahl Bildtafeln erweiterte Neuausgabe. München 1928, S. 432.

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Erzählerfigur und fiktivem Leser von Beginn an einstellt und die im Laufe des Romans Stilpe zum gemeinsam »Freund« (S8) stilisiert, führt den Leser immer näher an die Sprache der Vulgarismen der Stilpe’schen literarischen Versuche und der Erotik der Tingeltangelbühnen heran. Die Erzählerfigur verschwindet in dem Maße, wie die öffentliche Berichterstattung der Zeitungen, der literarische Tingeltangel und das sentimentale Seelenbekenntnis Stilpes den Roman dominieren, so dass auch im Erzählgang des Romans die Form der klassischen Prosa zugunsten moderner Literaturformen in den Hintergrund tritt. Die vermeintlich niederen Kunstgattungen des Bohèmelebens sind in Stilpe elementar geknüpft an die Erfahrungen des Rausches. Die Verknüpfung von Alkohol und Literatur wird für das Dilemma von Stilpes schöpferischer Unproduktivität als Lump und seinen Ehrgeiz, seinen Erfolgs- und Geltungsdrang virulent. Sie soll hier abschließend untersucht werden.

3.5 Alkohol im Spiel: Gehaltvolle Literatur und Stilpes künstlerisches Ende Als den »Schnaps der Schnäpse« (S190) besingt Stilpe den Strick, mit dem er sich auf der Tingeltangelbühne »Zum Nordlicht« vor klatschendem Publikum selbst das Leben nimmt. Den ganzen Roman über nimmt der Rausch und nehmen alkoholische Getränke eine nicht unerhebliche Rolle für den Handlungsverlauf ein. Der Alkohol dient nicht nur den ersten Exzess- und Freiheitserfahrungen des jungen Willibald, sondern er wirkt strukturbildend für den Leipziger Studentenalltag. Als Rauschmittel dient er Stilpe zur Ablenkung und zur Überbrückung von Langeweile. Er fördert die Inspiration und die Geselligkeit in den verschiedenen literarischen Zirkeln und auch der Berliner Cénacle soll in Stilpes Augen zum Ziele haben, »im Rausche die Welt mit den Worten aus den Angeln zu heben« (S155). Alkohol ist Stilpe der heimliche Maßstab der Erkenntnis und Basis seiner ästhetischen Erfahrungen, durch Alkohol will Stilpe die Welt verändern. Es gibt wenige Romane um die Jahrhundertwende, in denen so viele hochprozentige Getränke genossen und so häufig betrunken gesprochen und gedichtet wird. Dennoch bettet sich Stilpe ein in viele literarische Verarbeitungen des Rausches und ästhetische Vereinnahmungen des Alkohols zur Steigerung der geistigen Produktion, wie sie bei Charles Baudelaire (Du vin et du haschisch, 1851) und bei deutschen Naturalisten wie Arno Holz (Des Schäfers Dafnis Freß-, Sauff- und Venuslieder, 1904) und Paul Scheerbart (Na Prost  ! Phantastischer Königsroman, 1898) oder unter sozialkritischer Perspektive bei Émile Zola (L’Assommoir, dt.

Alkohol im Spiel 

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Der Totschläger, 1877) zu finden sind.308 Sie alle eint der Habitus antibürgerlicher Freizügigkeit im alkoholischen Rausch  : »Die Kluft zwischen Boheme und Bourgeoisie«, schreibt Klaus Beyme, »konnte sich in der Halbwelt der Vagabunden, Weltenbummler und Alkoholiker am besten demonstrieren lassen.«309 Um kein voreiliges Urteil über den Werdegang Stilpes zu fällen, nutzt auch die Erzählerfigur schon zu Beginn des Romans den Alkohol als Metapher und das Betrunkensein als Vergleichsmaßstab  : »Des Menschen Seele ist manchmal schwankender als der Gang eines Betrunkenen durch einen Sturzacker. Aber  : Wie Sie wollen  !« (S19) Auf die Alkoholmetapher greift die Erzählerfigur wiederholt in Bezug auf Stilpes Entwicklung zurück  : Ich glaube für die Augen der Götter sah seine Seele damals aus wie ein Glas voll Federweißem, in dem die Gärschichten durcheinanderwallen und die Blasen steigen. Vielleicht richten die Götter derlei blos an, weil ihnen dieser Federweißer der menschlichen Pubertät besonders schmeckt. Für den Menschen selbst aber ist dieser Zustand keine ungemischte Freude. (S49)

Spielt der Alkohol jedoch in der Gründung des ersten Cénacle unter den Schülern eine nebensächliche Rolle und stehen die Literatur und die Liebe zu Mädchen im Zentrum des Interesses und der Unterhaltung, ändert sich dies schlagartig mit Stilpes Eintritt in das Verbindungswesen. Stilpe tritt – kaum zum Studium angetreten in Leipzig und entgegen dem zuvor abgelegten Schwur an der Mulde – einer Studentenverbindung bei, »das Kanariengelb war schuld daran« (S106). Gleichwohl plant er, eine künstlerische Studentenverbindung zu gründen, doch 308 Bierbaum unterzog sich 1899 – wie viele seiner Künstlerkollegen – aufgrund seines übermäßigen Alkoholkonsums in dem Sanatorium Schloss Marbach am Bodensee einer Entziehungskur. Vgl. die Erinnerungen seines Arztes  : Krüche, Arno  : Otto Julius Bierbaum als Patient. In  : Otto Julius Bierbaum zum Gedächtnis. München 1912, S. 141 – 154. Wie stark der identitätsstiftende Alkohol in der Bohème wirkte, zeigt ein Kommentar des Kritikers Ferdinand Hardekopf  : »Das wird manchem Verehrer des Stilpe-Dichters einen Stich durchs Herz gegeben haben. Schmerzlich lächelnd wird er auf seinen zerlesenen Stilpe schauen, diese betrunkene, unheilige Bibel der Bohème. ›O du viellieber Alkohol, von dir lernt’ ich das Schweben …‹ ›Nun will ich uranusbraunen Rum, keinen Tee  !‹ … So sangst du einst zur Zupfgeige. O Otto Julius  ! kehr zurück zum Wein und zu Mimi Pinson … ›Mimi Pinson c’est une blonde, / Une blonde que l’on connaît  !‹ Dann wird dir alles verziehen  !« (Hardekopf, Ferdinand  : Otto Julius Bierbaum. In  : Freistatt. Kritische Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst [1902], H. 4, S. 655). 309 Beyme, Klaus v.: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905 – 1955. München 2005, S. 89.

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finden die geheimen Treffen der jetzt ganz unterschiedlichen Korps- und Studentenverbindungen angehörenden Schulfreunde recht unregelmäßig statt, ist Stilpe der Einzige, der Karriere im Verbindungswesen macht. Stilpe brilliert hier, weil er »fast nie nüchtern« (S110) auftritt. Er erfindet die »neun Grundräusche« (S111), die ihm die Musen ersetzen, und proklamiert  : »Hütet Euch vor den Dichtern, die nicht saufen  ! […] Die ganze Literaturgeschichte, wohl gemerkt, soweit es sich um Verse handelt, ist nichts als eine große Tafel der Getränke.« (S111) Er treibt letztlich also nicht die Institutionalisierung der Literatur im Studentenwesen voran. Im Gegenteil  : Er ersetzt die Literatur durch den Alkohol. Er alkoholisiert die Literatur und macht sie wieder salonfähig, indem er sie auf den alkoholischen Exzess reduziert. Die Literaturgeschichte und insbesondere die Dramen Shakespeares zieht Stilpe zum Beweis heran und fabelhaft lässt sich die Trinkkultur des Korpswesens einbetten in eine »künstlerische Studentenverbindung mit neuen Bräuchen und neuen Zielen« (S102), die die Leipziger Freunde gründen, sobald sie sich wiedersehen. »Stilpe ist von Jugend an Alkoholiker«310, hält Ute Pilar fest und zählt das »Rauschbedürfnis und sexuelle Libertinage«311 zu den natürlichen Grundfesten des Bohèmedaseins. Dennoch ist auffällig, dass die Suche nach einer Stimulation bei Stilpe eng mit dem Alkoholgenuss verbunden und der Alkohol eng an literarische Bildungserfahrungen geknüpft ist. So entsteht lebendige Literatur, die nicht künstlich sein will, in seinen Augen nur unter dem berauschenden Einfluss von Alkoholika. Ziel der studentischen Trinkgelage im wiedergegründeten Cénacle sind Rauscherfahrungen, die literarisch produktiv gemacht werden. Nicht das geordnete Versmaß und die disziplinierte dichterische Komposition sind gezielt herbeigeführte Erträge der Trunkenheit, sondern die Nutznießung sinnfreier und belustigender Unterhaltung. »Ich muss wieder einen Kreis um mich haben«, sehnt sich der gefeierte Kritiker Stilpe in Berlin nach seinem alten Cénacle, »in dem man betrunken wird an sich selber« (S152). Der Alkoholexzess ermöglicht eine Erfahrung, die um die Jahrhundertwende motivisch häufig in die Nähe des Dionysischen einer rauschhaften Entgrenzung gerückt wird. Die Vergnügungskultur in Bierbaums Roman ist jedoch viel profaner gezeichnet. Eine nicht ganz irrelevante Funktion des Trinkens deckt Stilpe in Bezug auf das Korpswesen und seine Mensurtechniken auf, denn »[t]rinkt man vorher fünf Kognaks, so ist man erstaunlich wacker und ließe sich mit Heroismus den Schädel spalten« (S120). Die kompensatorische Eigenschaft des Alkohols gesteht sich Stilpe im Hinblick auf seine ihn langweilende Journalistenkarriere in 310 Pilar, Ute  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums, S. 167. 311 Pilar, Ute  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums, S. 167.

Alkohol im Spiel 

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Berlin ein  : »Ich muss mich wieder berauschen können und nicht bloß trinken.« (S152) Stilpes Bildungsweg als Künstler mündet in die verzweifelte Flucht in den Alkohol auf der Suche nach dem Augenblick des »Rausche[s] des improvisierten Wortes« (S156). In dem Moment, wo er erkennen muss, dass es »kein Getränk mehr« (S190) gibt, das ihn umbringen könnte, entschließt er sich zum öffentlichen Suizid. Bierbaum entfaltet zu einer Zeit, in der in reformbewegten Kreisen, den psychiatrischen Wissenschaften und von Seiten der Sozialdemokratie viele Bestrebungen der Mäßigungsbewegung existieren, in seinem Roman ein differenziertes Bild der gesellschaftlichen Gründe für das Phänomen Alkoholismus. Vertreten viele der neu gegründeten Abstinenzvereine und Temperenzgesellschaften die von biologisch-psychologischen Studien unterfütterte These, dass Alkoholkonsum geistige Degeneration bewirke312, sind sie zugleich von einem starken Kulturpessimismus und dem kulturellen Ressentiment gegen die Décadence-Epoche getragen. Stilpe als Künstlerfigur trägt den Anspruch eines spontan-natürlichen, genialisch anmutenden Produktionsprozesses des Dichtens in sich aus und sucht ein förderndes Stimulans im Rausch. Der Roman führt ihm ebenso den Trugschluss alkoholischer Genialität vor, doch entlarvt er die vom Alkohol beflügelte geistige Spontanität nicht als geistige Verfallserscheinung der Décadence, sondern als literarisch-politisches Rückzugsprogramm, wie es Richard Sennett in dem »Zusammenhang zwischen Alkohol und öffentlicher Passivität«313 beschreibt. Im Alkoholrausch wächst Stilpe die Erkenntnis, dass er, wenn er sein Bohèmedasein und seine schriftstellerische Tätigkeit als das »wahre« Leben denkt, Selbstbetrug betreibt.

312 Vgl. Lengwiler, Martin  : Im Zeichen der Degeneration. Psychiatrie und internationale Abstinenzbewegung im ausgehenden Jahrhundert. In  : Große, Judith / Spöring, Francesco / Tschurenev, Jana (Hg.)  : Biopolitik und Sittlichkeitsreform. Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution 1880 – 1950. Frankfurt / M.; New York 2014 (Globalgeschichte  ; 18), S. 85 – 110. 313 Sennett, Richard  : Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt / M. 1983, S. 246.

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4 Kulturkritik im Massenmedium: Prinz Kuckuck

Der verlegerische Erfolg des Stilpe verhalf Bierbaum zu einer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit. Wenn auch seine Bemühungen um die Gründung einer eigenen literarischen Theateranstalt Trianon, die er gemeinsam mit der künstlerischen Hilfe von Franz Blei und unter finanzieller Abhängigkeit in Berlin unternahm, scheiterten, waren die Jahre 1897 bis 1902 geprägt von äußerst vielfältigen geschäftigen Literaturunternehmungen, publizistischen Veröffentlichungen und Experimenten. Dabei betätigt sich Bierbaum nicht nur überaus produktiv als Schriftsteller, sondern auch als Bühnenautor, Publizist und Zeitschriftenherausgeber. In München ist Bierbaum Mitarbeiter der seit 1896 bestehenden satirischen Wochenzeitschrift Simplicissimus, die im noch jungen Verlag Alfred Langen erscheint. In Berlin veröffentlicht Bierbaum 1898 wieder bei Schuster & Loeffler den Erzählband Kaktus und andere Künstlergeschichten314, mit Illustrationen und einem Buchumschlag von Félix Vallotton. Ein Jahr darauf publiziert Bierbaum das Bühnenspiel Gugeline, das eine musikalische Bearbeitung durch den bekannten Komponisten Ludwig Thuille erhält. Thuille hatte bereits ein Jahr zuvor, 1898, mit Bierbaum zusammengearbeitet und das Singspiel Lobetanz vertont. Lobetanz war als Buchausgabe zwar schon im Jahr 1895 in der Schriftenreihe der Pan-Genossenschaft erschienen, aber die musikalische Uraufführung der Oper am 6. Februar 1898 in Karlsruhe belebt auch das Libretto und damit den Namen Bierbaums wieder. Der Uraufführung folgen weitere »Aufführungen an allen größeren Bühnen Deutschlands und des Auslands, so in Zürich, Riga, Wien, New York«315. Das Bühnenspiel Gugeline erhält in seiner Vertonung wenig Anerkennung beim Publikum, als es im Frühling 1901 in Bremen Premiere feiert, aber als Buchausgabe ist es erfolgreich. Bierbaums Singspiel ist die erste Nummer einer eigenständigen Reihe, die von Alfred Walter Heymel im Verlag Schuster & Loeffler herausgegeben wird und als druckgraphisch gestaltete Son314 Der Erzählband enthält die Erzählungen Die beiden Freunde, Kaktus, Die Lavendel-Ehe, Die rote Sphinx, Don Juan Tenorio und Emil der Verstiegene. Noch im Erscheinungsjahr werden die zweite und die dritte Auflage gedruckt. 315 Hauschild, Vera  : Nachwort. In  : Otto Julius Bierbaum  : Gugeline. Ein Bühnenspiel in 5 Aufzügen. Leipzig 1974, S. 111 – 117, hier S. 112.

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31  Titelblatt von O. J. Bierbaum: Gugeline (1899), Buchgestaltung: E. R. Weiß.

derreihe den Insel-Verlag begründet. Gestaltet wird Gugeline von Ernst Rudolf Weiß316 (Abb. 31), der schon zuvor für Bierbaum Gedichte und Vignetten im Pan veröffentlicht und 1896 für die Buchgestaltung seines Jahrbuchs Der Bunte Vogel die Titelzeichnungen und Textvignetten anfertigt. Bierbaum nimmt an der ersten Exekution der Münchener Cabaretbühne Elf Scharfrichter am 13. April 1901 im Hinterraum der Gaststätte Zum Goldenen Hirschen, Türkenstraße 25, teil und steuert in dieser Zeit  – wie Karl Friedrich Baberadt erinnert  – »das meiste an Liedern für diese Vortragsabende«317 bei. Die anlässlich von Ernst von Wolzogens Theatergründung veröffentlichte Überbrettl-Sammlung Deutsche Chansons (Abb.  30), die von Alfred Walter Heymel herausgegeben wird und mit einem Vorwort von Bierbaum versehen ist, wird aufgrund der großen Popularität Bierbaums schon bald wie selbstverständlich zu seinen eigenen Herausgeberschaften gezählt.318 Die Anthologie verkauft sich in316 Bierbaum, Otto Julius  : Gugeline. Ein Bühnenspiel in fünf Aufzügen. Mit Buchschmuck von E. R. Weiß. Berlin 1899. 317 Baberadt, Karl Friedrich  : Das Frankfurter Anekdotenbüchlein. Frankfurt / M. 1949, S. 147. 318 Vgl. noch heute zum Beispiel bei Pilar, Ute  : Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzähl-

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32  Umschlag von O. J. Bierbaum: Irrgarten der Liebe (1901).

nerhalb von wenigen Wochen 5000-mal und entwickelt sich zu dem maßgeblichen Lyriksammelband des Brettl-Zeitalters.319 Die Auflagenhöhe des Bandes wird nur noch von dem kurz darauf erscheinenden Lyrikband Irrgarten der Liebe (1901) übertroffen, einer von Bierbaum vorgenommenen umfassenden Zusammenstellung seiner bisherigen Lieder und Gedichte, ergänzt um viele Neudichtungen. Das Buch wird nicht zuletzt aufgrund seines günstigen Preises von einer Mark320 zu seinem größten Publikumserfolg (Abb. 32 – 34) und deshalb fünf Jahre später, 1906, werk Otto Julius Bierbaums, S. 38 oder bei Forcht, Georg W.: Frank Wedekind und die Anfänge des deutschsprachigen Kabaretts. Freiburg 2009, S. 169. 319 Die 10. Muse. Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl von Maximilian Bern ist die zweite wichtige Anthologie, die seit 1902 in unzähligen Auflagen erscheint und den kurzzeitigen, aber immensen Erfolg der Überbrettl-Kultur belegt. 320 »Außerdem dürften Bierbaums sämtliche Gedichte«, schreibt Ferdinand Hardekopf, »die in diesen Tagen in einem annähernd 500 Seiten starken Bande unter dem Titel ›Irrgarten der Liebe‹ erschienen sind, einen großen buchhändlerischen Erfolg haben, hauptsächlich wegen des auf dem deutschen Büchermarkt unerhört billigen Preises von einer Mark bei vorzüglicher Ausstattung.« (Hardekopf, Ferdinand  : Berliner Brief. Eisenacher Tagespost, 16.6.1901, Nr. 139. In  : ders.: Briefe aus Berlin. Feuilletons 1899 – 1902. Mit zwei Zugaben aus Handschriften. Hg. v. Bernhard Echte. Wädenswill am Zürichsee 2015, S. 95 – 100, hier S. 99).

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33  Umschlag von Deutsche Chansons (1900).

noch einmal als Der neubestellte Irrgarten der Liebe. Um etliche Gaenge und Lauben vermehrt. Verliebte, launenhafte, moralische und andere Lieder, Gedichte, Sprueche aus den Jahren 1885 bis 1905 auf den Markt gebracht. Bierbaums Anstrengungen, ein eigenes Theater zu gründen, haben keinen Erfolg. Trotzdem wird er etwa zur selben Zeit zum Erfinder eines Liedes, das für lange Zeit zum Symbol und in Berliner Feuilletons zum Schlagwort der neuen Theaterbewegung wird  : Sein Couplet Der lustige Ehemann in der Vertonung von Oscar Straus muss gleich beim ersten Aufführungsabend des Bunten Theaters am 18. Januar 1901 mehrfach wiederholt werden und wird vom Publikum in der Interpretation von Robert Kappel und der Varietésängerin Bozena Bradsky begeistert aufgenommen. Bierbaum wird es in den nächsten Jahren noch leid sein,321 den Ruf des Kling-Klang-Gloria-Dichters – so lautete der eingängige Abschlussvers des vierstrophigen Liedes  – nicht recht ablegen zu können und so als der berühmte Überbrettl-Dichter wenig ernst zu nehmender, seichter Liedersammlungen zu gelten. Im Jahr 1899 erscheint außerdem Das schöne Mädchen von Pao bei Schuster & Loeffler. Im selben Verlag gibt Bierbaum nur ein Jahr später unter dem einma321 Bierbaum, Otto Julius  : Im Spiegel, Sp. 1082 – 1087.

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34  Titelblatt von O. J. Bierbaum: Irrgarten der Liebe (1901).

lig verwandten Pseudonym Martin Möbius ein weiteres Buch heraus  : Es sind satirische Steckbriefe erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur. Sie erscheinen »mit den getreuen Bildnissen der Dreißig« von Bruno Paul, der zur gleichen Zeit als Karikaturist für den Simplicissimus tätig ist (Abb.  35). Zusätzlich zu den selbstständigen Veröffentlichungen beliefert Bierbaum unzählige Zeitschriften wie die Wiener Wochenzeitschrift Die Zeit, die Dekorative Kunst, der Morgen, Das literarische Echo, die Zeitschrift Jugend und Tageszeitungen wie den Berliner Börsen-Courier mit kunsttheoretischen Aufsätzen, Rezensionen und kulturpolitischen Feuilletons. Besonders einschneidend für Bierbaum wird 1899 jedoch die Erfahrung einer Zeitschriftengründung, die er gemeinsam mit dem 18-jährigen Kunstmäzen Alfred Walter Heymel und dem 22-jährigen Schriftsteller Rudolf Alexander Schröder, einem Cousin Heymels, unternimmt. Zuvor trifft der im Vergleich zu den beiden jüngeren Herausgebern schon erfahrene 35-jährige Bierbaum noch selbst Vorbereitungen für eine eigene Zeitschrift, die in Zusammenarbeit mit Franz Blei entworfen wird und den Namen Embryo tragen soll. Angetragen wird das Projekt dem Deutschen Kunstverlag in Berlin und Gerhard Wauer, der zuvor

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35  Umschlag von M. Möbius: Steckbriefe (1900). Hinter dem Pseudonym Martin Möbius versteckt sich Otto Julius Bierbaum.

am 15. Oktober 1898 das von Bierbaum gemeinsam mit Hans Thoma gestaltete erste Heft im ersten Jahrgang der Kunstzeitschrift Quickborn herausgegeben hat. In dieser Ausgabe wird Bierbaums Gedicht Ehetanzlied322 (Abb. 36) abgedruckt, das in späteren Fassungen den Titel Der lustige Ehemann trägt. Der Embryo wird mit Franz Blei redaktionell vorgeplant und Bierbaum sucht mit ihm nach geeigneten bekannten und unbekannten Autoren und sichtet Manuskripte. Doch die Zeitschrift wird nicht zur Drucklegung gelangen.323 Unter Gewinnung von Schuster & Loeffler als Kommissionsverlag gelingt aber in gemeinsamer Planung mit Heymel und Schröder die Veröffentlichung der monatlichen Kunstzeitschrift Die Insel (Abb.  37 – 38). Aufgrund der Tatsache, dass Heymel das Erbe seines Stiefvaters zur Verfügung stellt, ist es dem Redaktionsteam möglich, verhältnis322 Bierbaum, Otto Julius  : Ehetanzlied, S. 17. 323 Eine hervorragende und detaillierte Übersicht über die Planung und Entstehungsgeschichte der Zeitschrift Embryo, die einen Vorläufer der Insel darstellt, sowie die Darstellung der redaktionellen Diskussionen und Verwerfungen der Insel finden sich in der leider nach wie vor unveröffentlichten Forschungsarbeit von Ifkovits, Kurt  : Die Insel. Eine Zeitschrift der Jahrhundertwende. Phil. Diss. Wien 1996.

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36 Bierbaums Ehetanzlied in der Zeitschrift Quickborn (1898); auf der Bühne des Bunten Theaters von Wolzogen wird es zu Bierbaums erfolgreichem Schlager Der lustige Ehemann.

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37  Umschlag von Die Insel, H. 11/12 (1902).

mäßig hohe Honorare zu zahlen, ähnlich wie es zuvor der Verleger Albert Langen in München offerierte, Manuskriptlieferungen ausgesprochen gut zu vergüten. Dies ist ein günstiger Umstand sowohl für die Produktion einer Zeitschrift, die auf das Druckverfahren und die Heftgestaltung großen künstlerischen Wert legt, als auch für die potentiellen Manuskriptlieferanten und Künstler. In den drei Jahren bis zur Einstellung des Publikationsprojekts veröffentlichen in der Kunstzeitschrift unter anderem Robert Walser, Detlev von Liliencron, Walt Whitman, Paul Scheerbart, Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind, William Butler ­Yeats, Rainer Maria Rilke, Franz Blei und Richard Dehmel. Bierbaums Fabelspiel Die vernarrte Prinzeß erscheint im Insel-Verlag324 ebenso wie Rudolf Alexander Schröders Gedichtband Unmut. Ein Buch Gesänge (1899) mit Illustrationen von 324 Am 15.1.1905 erlebt das von Oscar von Chelius vertonte dreiaktige Fabelspiel Die vernarrte Prinzeß im großherzoglichen Hoftheater von Schwerin seine Uraufführung. Ursprünglich sollte das Stück bereits 1901 in einer Vertonung von Oskar Fried »zur Eröffnung der Künstlerkolonie Darmstadt aufgeführt werden und Peter Behrens hatte schon die Zeichnungen fertig« (vgl.: Stefan, Paul  : Oskar Fried. Das Werden eines Künstlers. Mit zwei Kupferdrucken nach Bildern von Lovis Corinth und Max Liebermann und einer Notenbeilage. Berlin 1911, S. 19). Aufgrund des Bühnenerfolgs wird das Fabelspiel bei Albert Langen erneut aufgelegt. Im selben Jahr kommt

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38  Titelblatt mit Vignette von Peter Behrens, Die Insel, H. 1 (1899).

Heinrich Vogeler.325 Das Programm des gescheiterten Trianon-Abends füllt das fünfte Heft des dritten und letzten Jahrgangs der Zeitschrift Die Insel im Februar 1902. Die Redaktionsräume der Insel in Heymels Wohnung in der Münchner Leopoldstraße 4 sind ein zentraler Ort des künstlerischen Austauschs der Zeitschrift  : Die Insel – das zeigt sich schnell – wird in ihrem literarischen, ästhetischen und buchgestalterischen Anspruch international anerkannt, aber viel zu kostspielig produziert. Ähnlich ergeht es 1900 auch der zuvor von Bierbaum mitherausgegebenen Zeitschrift Pan, so dass sich aufgrund der Verhandlungen von Seiten Peter Behrens’, Harry Graf Kesslers und Eberhard von Bodenhausens mit Heymel, Schröder und Meier-Graefe die Möglichkeit eröffnet, Die Insel und Pan zur finanziellen Rettung des Pan zusammenzuführen und in der Künstlerkolonie Darmstädter Mathildenhöhe anzusiedeln. Im Vertrauen schreibt Peter Behrens am 9. April 1900 an Bierbaum  : bei Albert Langen auch Bierbaums burleske Operette Das Gespenst von Matschatsch (1905) zur Veröffentlichung. 325 Schröder, Rudolf Alexander  : Unmut. Ein Buch Gesänge. Berlin 1899.

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Heymel war gestern hier und ich bedauerte sehr, daß die nur ganz kurze Zeit, die ich mit ihm zusammen war verbracht werden mußte mit Erörterungen zur Inseltype und das seinerzeit von mir in Vorschlag gebrachte eventuelle Übersiedeln der Insel nach Darmstadt. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß Heymel den Sinn meiner Unterredung mit dem Großherzog falsch auffasst und auch des Großherzogs Äußerung »wir müßen die ganze Insel hierherbekommen« mißversteht. Weder Olbrich noch ich haben nur mit einem Gedanken daran gedacht in der Ausführung dieser Idee etwas anderes zu sehen als ein glückliches Concentrieren geistiger Interessen. Und des Großherzogs Äußerung, die uns beide an jenem Abend fand, nie Jubel erfüllte ist absolut nicht anders zu deuten, als daß der Großherzog damit gewißer Maaßen uns das Versprechen geben wollte, daß er ein Interesse an Euch in irgendeiner Art zu bethätigen geneigt wäre. Im Übrigen ist unsere finanzielle Grundlage jetzt derart gesichert, daß weitgereiste Greise noch auf ihre alten Tage wieder an Wunder zu glauben anfangen.326

Doch Bierbaum lehnt am 15. Mai 1900 in einem Brief327 an Kessler eine Fusion der beiden Kunstzeitschriften ab. Der Pan gibt am 16. Juni 1900 seine Insolvenz bekannt und der unternehmerische Misserfolg der Insel und die zunehmend prekäre finanzielle Situation führen kurz darauf ebenso zum Bruch des Redaktionskollektivs und verhindern eine dauerhafte buchgestalterische, literarische und künstlerische Vorbildwirkung als Zeitschrift  : »Da der Absatz des ambitionierten Projektes in keiner Relation zu dem aufgewendeten Kapital stand und es unter den Herausgebern zu Differenzen gekommen ist, trennen sich Heymel und Schröder im Oktober 1901 von der Zeitschrift.«328 Bierbaum wird im letzten Jahrgang der Zeitschrift von Oktober 1901 an bis zur Einstellung ihrer Publikation im September 1902 die alleinige redaktionelle Verantwortung für Die Insel übertragen. Beitragende in den letzten Heften sind etablierte Autoren, aber auch weniger bekannte Schriftsteller wie Ernst Paul, Paul Scheerbart und Robert Walser. In der Redaktion übernimmt neben Bierbaum Franz Blei die Hauptkoordination. Anstatt der bisher verfolgten offenen Vielseitigkeit prägt die von Bierbaum hauptverantwortlich betreuten Jahrgänge 326 Unveröffentlichter Brief Peter Behrens’ an Otto Julius Bierbaum, datiert  : Darmstadt, 9.4.1900. Nachl. Otto Julius Bierbaum, Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (Sign. OJ B 12, http: /  / kal liope-verbund.info / DE-611-HS-1370322, letzter Aufruf am 20.12.2021). 327 Vgl. Barzantny, Tamara  : Harry Graf Kessler und das Theater. Autor – Mäzen – Initiator 1900 –  1933. Köln  ; Weimar  ; Wien 2002, S. 41. 328 Ifkovits, Kurt  : Vom Commis zum Schriftsteller. Robert Walser, »Die Insel« und ihr Kreis. Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft, München 2004, S. 2. Vgl. auch Ifkovits, Kurt  : Vom Prinz Kuckuck zum Prinz Hypolit.

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1901 und 1902 ein experimentierfreudiges und konzeptionelles Vorgehen in thematischen Heftschwerpunkten. Nicht zu unterschätzen ist die Zuarbeit von und redaktionelle Betreuung der Zeitschrift durch Franz Blei. Alle Bemühungen führen jedoch nicht zur gewünschten Abonnentengewinnung und die Vertragsarbeit Bierbaums als Redakteur endet mit der Einstellung der Zeitschrift mit dem Doppelheft 11/12 für August / September 1902. Heymel, Schröder und Meier-Graefe beziehen Bierbaum schon während der Phase der Vorbereitung einer möglichen Übernahme durch den Pan nicht in die Verhandlungen ein  ; anschaulich polemisch schreibt Harry Graf Kessler am 7. April 1900 an Eberhard von Bodenhausen in einem Brief, der die Übernahmepläne erläutert und die Verdrängung Bierbaums aus dem verlegerischen Geschäft nahelegt  : »[…] Bierbaum wird mediatisiert, wozu seine angeborene Arbeitsscheu eine wertvolle Hilfe bietet. Immerhin ist dieser letzte Punkt der heikelste, ja der einzige, der ernsthaft Schwierigkeiten zu bieten scheint. Meier-Graefe hofft auf Erfolg«. 329 Am 1. Oktober 1901 gründen Heymel und Schröder zusätzlich einen von der Zeitschrift unabhängigen, aber gleichnamigen Verlag, an dem Bierbaum ebenfalls nicht beteiligt ist. Zum Leiter des Verlags wird Rudolf von Poellnitz bestellt. Der Verlag beginnt seine publizistische Tätigkeit 1899 mit der Herausgabe von Bierbaums Bühnenspiel Gugeline, das Vorsatzpapier entwirft E. R. Weiß. Das Stück eröffnet die eigenständige Insel-Buchreihe, die zunächst noch im Verlag Schuster & Loeffler gedruckt wird. Kurz darauf erscheinen Die Fischer und andere Gedichte (1899) von Alfred Walter Heymel (ebenfalls noch bei Schuster & Loeffler) und der Gedichtband Unmut (1899) von Rudolf Alexander Schröder, jetzt im selbstständigen Insel-Verlag, der in Leipzig angesiedelt ist. Die Arbeit als hauptamtlicher Redakteur der Münchner Kunstzeitschrift ermöglicht Bierbaum für einen kurzen Zeitraum ein geregeltes Einkommen. Gleichzeitig konzentriert sich seine schriftstellerische Tätigkeit in den Jahren 1899 bis 1901 stark auf die Herausgabe dieser Kunstzeitschrift, so dass William H. Wilkening über diese Schaffensperiode Bierbaums urteilt  : »During the time Bierbaum served as editor of the Insel his creative writing was meager.«330 Durch den verlegerischen und sozialen Bruch mit Heymel und Schröder ist der finanziell entspannten Zeit ein Ende gesetzt. Bierbaum stürzt sich in den nächsten Jahren auf Auftragsarbeiten und feuilletonistische Beiträge. So entsteht 329 Zitiert nach Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.)  : Die Insel. Eine Ausstellung zur Geschichte des Verlages unter Anton und Katharina Kippenberg. Marbach 1965, S. 116. 330 Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his publishers. Göppingen 1975 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik  ; 148), S. 24.

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sein Automobilroman als größere Auftragsarbeit, indem der populäre Autor als Werbefigur und Schriftsteller zugleich fungiert. Die Veröffentlichungsrechte einzelner Tagesberichte der Automobilreise über die Alpen, die Bierbaum gemeinsam mit seiner Frau Gemma Pruneti-Lotti und dem Chauffeur und Automechaniker Theodor Riegler antritt, verkauft der Schriftsteller gleich an zwei Zeitungen. Das ganze Unternehmen dieser Reise fußt auf einer Werbekampagne, die der Berliner Scherl-Verlag an den berühmten Tingeltangelautor heranträgt und die der Bekanntmachung der neuen Automarke Phaeton mit einzylindrigem Motor und 8 PS der Adler-Werke und als »Propagandafahrt«331 für die Verbreitung der Idee der individuellen motorisierten Fortbewegungsweise dient. Diese Form der innovativen Vertragsbindung von Schriftstellern stellt keine Seltenheit dar  : Bereits Otto Julius Bierbaum konnte bei seiner literarischen Reise im Automobil unter anderem auf die Förderung von August Scherl setzen  ; später waren es vor allem Paul Cassirer, Samuel Fischer und Albert Langen, die ihren Autoren ausgedehnte Reisen ermöglichten und sich so auch neue Impulse für den Verlag sicherten.332

Im Vorwort erwähnt Bierbaum seine finanzielle Situation und unterstreicht in einer persönlichen Ansprache die Sponsorenfunktion des Verlags. Bierbaum räumt ein  : Meine Reise war der Versuch einer praktischen Probe auf das Exempel des Sports, und ich bringe ihre Schilderung vor die Öffentlichkeit, weil sie gelungen ist, und zwar gelungen nicht mit einem Millionärsvehikel, die nur Portemonnaiegranden erschwinglich sind, sondern mit einem leichten, billigen Wagen. – Für mich wäre er freilich immer noch zu teuer gewesen, und so will ich, um mich keiner Vorspiegelung falscher Tatsachen schuldig zu machen, und um gleichzeitig gebührenden Dank auszusprechen, zum Schlusse nicht verhehlen, daß ich die Möglichkeit, diesen angenehmen Versuch zu machen, nicht meinen Einkünften als deutscher Dichter, sondern der Freundlichkeit des Verlags August Scherl G. m. b. H. verdanke, der mir den Wagen für die Dauer der Reise zur Verfügung gestellt hat.333 331 Göpel, Erhard  : Der Dichter im Auto oder Die Wendung vom Jugendstil zur technischen Form. In  : Bierbaum, Otto Julius  : Eine empfindsame Reise im Automobil von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein. In Briefen an Freunde beschrieben. Mit 20 Originalphotographien der Erstausgabe und einem Nachwort von Erhard Göpel. München  ; Wien 1979, S.  263 – 278, hier S. 276. 332 Kuhbandner, Birgit  : Unternehmer zwischen Markt und Moderne. Wiesbaden 2008, S. 268 f. 333 Bierbaum, Otto Julius  : Eine empfindsame Reise im Automobil von Berlin nach Sorrent und

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39  Einband von O. J. Bierbaum: Annamagareth und die drei Junggesellen (1902).

40  Einband von O. J. Bierbaum: Stella und Antonie (1903).

Gleichzeitig mit dem Ausscheiden aus der Insel-Redaktion wechselt Bierbaum seinen Stammverlag und verlässt Schuster & Loeffler, wo er nicht nur seine ersten Erfolge gefeiert, sondern auch die Schriften Detlev von Liliencrons gemeinsam mit Richard Dehmel populär gemacht hat. Dieser Schritt, den zusammen mit Bierbaum noch weitere Autoren gingen, ist das Resultat einer verlegerischen Neuausrichtung von Schuster & Loeffler als Musikverlag  : Neben Dehmel verzeichnete der Verlag Schuster und Loeffler zudem weitere Autorenverluste  : Otto Julius Bierbaum – seine späteren Werke finden sich in der Folgezeit unter anderem beim Insel Verlag, vereinzelt auch bei Albert Langen, dann bei Georg Müller in München – verließ nach der Jahrhundertwende ebenso den Verlag wie Anna zurück an den Rhein. In Briefen an Freunde beschrieben. Mit 20 Originalphotographien der Erstausgabe und einem Nachwort von Erhard Göpel. München 1979, S. 8 f. Der Scherl-Verlag offerierte mit seiner »Emporlesebibliothek« auch ein publizistisches Format, das Bierbaum aufgrund des Verbreitungsgrads und des Anliegens sehr nahestand. Die Texte der Automobilreise werden 1906 von Bierbaum in einer erweiterten und modifizierten Form im Verlag Marquard noch einmal herausgegeben unter dem Titel Mit der Kraft. Automobilia (Abb. 43).

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41  Einband von O. J. Bierbaum: Mit der Kraft. Automobilia (1906), Buchgestaltung: Georg Tippel. 42  Anzeige von Prinz Kuckuck im Verlag Georg Müller, auf dem Rückumschlag von J. Ruederer: Münchener Satiren (1907). 43  Einband der gekürzten, zweibändigen Ausgabe von O. J. Bierbaum: Prinz Kuckuck (1922).

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44  Titelblatt von O. J. Bierbaum: Zäpfel Kerns Abenteuer (1920), Frontispizgestaltung: Arpad Schmidhammer.

Croissant-Rust, die nach kurzem Zwischenspiel bei der deutschen Verlagsanstalt sich seit 1908 gleichfalls unter die Autoren von Georg Müller einreihte.334

Er ist nun umso stärker auf neue Aufträge angewiesen und betreibt die Akquise neuer Vorschussgeber. Zu dieser Zeit erscheinen Bierbaums Texte noch im Insel-Verlag (Annamargareth und die drei Junggesellen, 1902, Abb.  39) und bei Albert Langen (Stella und Antonie, 1903, Abb.  40). In Georg Müller findet Bierbaum jedoch für die nächsten Jahre seinen Mäzen und Verlagspartner. Bei ihm wird Bierbaum seine Automobilreise Eine empfindsame Reise im Automobil (1906, Abb. 41) und in den Jahren 1906 und 1908 sein Hauptwerk, den dreibändigen Roman Prinz Kuckuck (Abb. 42 – 43), veröffentlichen. Bierbaums Collodi-Übertragung Zäpfel Kerns Abenteuer. Eine deutsche Kasperlegeschichte in dreiundvierzig Kapiteln (1905, Abb.  44) erscheint im Kölner Kinderbuchverlag Hermann und Friedrich Schaffstein335, dort ist bereits Fitze334 Kuhbandner, Birgit  : Unternehmer zwischen Markt und Moderne, S. 142. 335 Der Verlag wird später von Georg Müller übernommen werden.

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45  Anzeigen von Bierbaums Werken bei Georg Müller in O. J. Bierbaum: Der Musenkrieg (1907).

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46  Anzeigen von Bierbaums Werken bei Georg Müller in O. J. Bierbaum: Mit der Kraft. Automobilia (1906).

butze. Allerhand Schnickschnack für Kinder (1900) von Richard und Paula Dehmel erschienen. Zwei Stilpe-Komödien erscheinen 1905 in einem Band ebenfalls bei Georg Müller  : Das Cénacle der Maulesel und Die Schlangendame. Über seine eigenständigen Werke hinaus verabreden Georg Müller und Bierbaum die Herausgabe einer vom Schriftsteller selbst betreuten Publikationsreihe  : Die Abtei von Thelem. Bierbaum bestärkt Georg Müller darin, Schuster & Loeffler die Veröffentlichungsrechte seiner frühen Romane rasch abzukaufen und die Romane wieder neu herauszugeben (Abb.  45 – 49). Er liefert in Briefen bereits Ideen für neue Buchgestaltungen336, doch zu dem Ankauf wird es nicht kommen. Eine Aufstellung aller veröffentlichten Texte Bierbaums in seinem ersten Verlag Schuster & 336 Siehe die Briefe Bierbaums an Georg Müller in  : Wilkening, William H.: Appendix  : Selected Letters from the Bierbaum-Müller Correspondence (1907–09). In  : ders.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his Publishers. Göppingen 1975, S. 213 – 248.

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47  Anzeige von Bierbaums Gesammelten Werken bei Georg Müller in O. J. Bierbaum: Briefe an Gemma (1921). Die »in Vorbereitung« angekündigten Bände 8, 9 und 10 werden nie erscheinen.

48  Anzeige von Bierbaums Gesammelten Werken bei Georg Müller in O. J. Bierbaum: Prinz Kuckuck. Wohlfeile Ausgabe in einem Band (1922). Die Werkausgabe ist jetzt auf sieben Bände begrenzt.

Loeffler (Stilpe, Pankrazius Graunzer, Das schöne Mädchen von Pao, Die Schlangendame, Kaktus, Studentenbeichten. Erste und Zweite Reihe) in der 1910 veröffentlichen sechsten Auflage von Die Schlangendame belegt dies (Abb. 50 – 51). Im Gedächtnisband, den Hans Brandenburg zwei Jahre nach Bierbaums Tod 1912 herausgibt, erläutert Georg Müller Bierbaums Arbeitsweise  : »Er überdachte jedes Werk in langem Plan, und zu dem Prinzen Kuckuck lag ein genauer Arbeitsplan schon vor, bevor er an diesem seinem größten Werk auch nur einige Seiten Manuskript geschrieben hatte.«337 Ähnlich wie der Vorgängerroman Stilpe ist auch Prinz Kuckuck im Künstlermilieu der Jahrhundertwende angesiedelt und geprägt vom Interesse an den Vo337 Müller, Georg  : [o.T.] In  : Brandenburg, Hans (Hg.)  : Otto Julius Bierbaum zum Gedächtnis. München 1912, S. 173 – 184, hier S. 176.

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49  Anzeige von Bierbaums Einzelwerken bei Georg Müller in O. J. Bierbaum: Briefe an Gemma (1921). 50  Anzeige von Bierbaums Werken bei Schuster & Loeffler (1910).

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51  Anzeige von Bierbaums Werken bei Schuster & Loeffler (1917).

raussetzungen einer Künstlerbiographie. Der umfangreiche Fortsetzungsroman mit vollständigem Titel Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings  – Franz Blei nennt ihn abfällig einen »weitläufigen Romanschmöker«338 – untersucht in drei Teilen die Entwicklung und den Reifungsprozess eines jungen Mannes, Henry Felix Hauart, der schließlich den Folgen seiner ausschweifenden Dandyexistenz erliegt. Der erste Teil (Prinz Kuckucks Vorgeschichte – In fremden Nestern) beginnt mit seiner Geburt als unehelicher Sohn einer spanisch-amerikanischen Jüdin und »Tänzerin« (PKI15)339, Sara Asher aus New York. Er wird in eine Bauernfamilie gegeben, erhält den Spitznamen Prinz Kuckuck und wächst am Starnberger See auf, bis ihn ein Kunstmäzen und Sammler, Henry Hauart, zu sich nimmt und an ihm »die Erziehung eines Menschen in 338 Blei, Franz  : Erzählung eines Lebens (1930), zitiert nach Blei, Franz  : Die Insel und ihre Bewohner. In  : ders.: Porträts. Hg. v. Anne Gabrisch. Berlin (Ost) 1986, S. S. 440 – 444, hier S. 442. 339 Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. München  ; Zürich 1981. Ich zitiere den Roman fortlaufend im Text mit der Sigle »PK«, darauf folgen mit römischer Ziffer die Bandnummer und lateinisch die Seitenzahl.

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seinem Sinne« (PKI51) erprobt. Den Einwänden seiner Frau Klara zum Trotz, er mache mit seinen dilettantischen pädagogischen Idealen, geleitet von aristokratischem Halbwissen und einer Herrenmenschenideologie, aus dem Jungen einen »Protzaffen« (PKI66), fährt Hauart fort, aus Prinz Kuckuck einen überheblichen und eitlen jungen Mann zu formen, der sich – rassistischem Gedankengut und darwinistischen Vorstellungen von Züchtung und Auslese folgend – schon bald als Übermenschen begreift. Hauart fühlt sich als Ziehvater eines neuen Menschengeschlechts und erfährt sich selbst endlich auch »als eine Art Künstler« (PKI66) in Erziehungs- und pädagogischen Gestaltungsfragen. Prinz Kuckuck wird Henfel genannt und erlernt alle aristokratischen Kulturtechniken, nur nicht das Tanzen, das sein Vormund als »Drehkrankheit« (PKI86) verachtet. Während einer Kutschenreise in die Alpen, die von Hauart als erzieherische Maßnahme für den Jungen geplant ist, kommt es endgültig zum Streit zwischen Hauart und seiner Frau Klara über die Ideale seiner Erziehungsmaßnahmen. Die elitäre Reise mit der Kutsche soll dem jungen Henfel zur »Demonstration gegen das Gemeine« (PKI92) der Eisenbahnreisenden dienen. Durch die Fahrt soll er sein Standesbewusstsein festigen und gegenüber der Gefahr »der demokratischen Flut« den nötigen Dünkel verinnerlichen, der ihm den Weg zu einer Karriere als »Staatsmann« (PKI90) ebnen werde. Klara ist erschüttert über das Herrenmenschenideal ihres Mannes und auf einer Bergtour, die beide allein unternehmen, versucht sie sich mit ihm auszusprechen. Doch Klara stürzt in den Tod und Hauart nimmt sich anschließend das Leben. Der arrogante und millionenreiche Junker hatte es nicht versäumt, für den Fall seines Todes ein Testament aufzusetzen, das seinen »minderwertigen«, aber rechtschaffenen Hamburger Bruder Jeremias Kraker, »ein[en] strenge[n] Lutheraner« (PKI123), dazu zwingt, Henfel nun nach seinem Vorbild zu erziehen, so dass das Aristokratenkind, das bislang zu höherem Genuss und Übermenschen-Dünkel erzogen wurde, in lustfeindlicher Umgebung eines gelebten Protestantismus aufwächst. Henfel wird in Hamburg von nun an Henry genannt und strenggläubig erzogen. Zu Beginn gelingt es Henry, sich durch List, Verstellung und Imitation an die neue Lebenssituation anzupassen, doch schnell wird der Stolz des 16-Jährigen erzieherisch durch die Macht des Katechismus gebrochen. Dabei trifft er auf die von Abneigung und Neid auf sein Erbe erfüllte Hassliebe seiner Cousine Berta und seines Cousins Karl, die ebenfalls unter der protestantischen Erziehung leiden. Henfels frühere Lektüren von erotischen Klassikern und Schopenhauer werden ersetzt durch Henrys häusliche Katechismuslehre und Bibelstunde. Doch im Buch Hesekiel des Alten Testaments findet Henry schließlich heimlich sein Erweckungserlebnis. Von Karl finanzierte Bordellbesuche und versteckte Banknoten ermöglichen es dem

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jungen Erwachsenen, an das Erziehungsmodell seines alten Ziehvaters Hauart anzuknüpfen. Eingeführt von Karl, tritt er einer »freigeistig-literarische[n]-ästhetische[n] Geheimverbindung« (PKI206) mit Namen »Katakombe« bei und überführt diesen klandestinen Lesezirkel rasch in den Dichterkreis »Saatfeld«, der aufgrund seiner dichterischen Unproduktivität aber schon bald in den Geheimbund »Der lyrische Kükensalat« umgetauft wird. Lord Byron wird »zum ständigen ›Meister vom Salate‹ ernannt« (PKI231). Karl verlässt die Familie und Hamburg und geht zum Jurastudium nach Leipzig, so dass Henry sich nun Berta zuwendet, sich in sie verliebt und um ihre Liebe wirbt. Berta reagiert auf seine Annäherungsversuche widersprüchlich, doch willigt sie in Henrys Heiratsantrag ein und sie verloben sich heimlich. Unterdessen schwängert Henry Fränzchen, die Tochter des Wirts Hinrich Thomsen, der die Jungen vom Salat-Klub bei sich aufgenommen hat. Henry erkauft sich sein Schweigen mit einem wertvollen Opal. Kurz darauf erhält er eine schwarze Perle von seiner Mutter Sara, die sich als gläubige Stifterin Zutritt verschafft zum Haus Kraker, um ihren Sohn – einer Prophetin gleich – vor Karl und Berta zu warnen  : »Sie hassen dich, und ihre Absicht ist langsamer Raub nicht blos deines Geldes, sondern deiner selbst.« (PKI270) Schon die kurze Zusammenfassung der Haupterzähllinie des ersten Romanteils zeigt, dass Bierbaum Prinz Kuckuck als Gegenentwurf zu Stilpe konzipiert. Der Bildungsweg von Prinz Henry Hauart stellt die Entwicklungsgeschichte eines verschwenderischen und eitlen Künstlerlebens dar. Er wird nicht aus einer Perspektive von unten erzählt wie bei Stilpe  ; der Roman Prinz Kuckuck spielt in elitären und wohlhabenden gesellschaftlichen Kreisen. Mit dem Lebensweg des Genussmenschen Prinz Kuckuck fügt Bierbaum dem Milieu der Elendsbohème des Stilpe einen Gesellschaftsroman der Bohème dorée hinzu. Henry Felix Hauart kann aufgrund seiner gesellschaftlich unabhängigen Position und seiner finanziellen Möglichkeiten ein ästhetisches Dasein genießen – ihm wird die Schönheit der Kunst zum Lebensbedürfnis. Der Dandyroman ist von Bierbaum als kritische Kulturdiagnose des wilhelminischen Kaiserreichs angelegt, wird jedoch bereits kurz nach Erscheinen scharf kritisiert – zu deutlich ist sein Charakter als Schlüsselroman, zu leicht sind die Anspielungen auf zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens zu entziffern. Hinzu kommt der latente Vorwurf vieler Rezensenten, es handele sich bei dem Roman um ein wildes Spiel aneinandergereihter pornographischer Szenen. Um den Roman in seiner Ambivalenz als Zeitdokument und Bierbaums Versuch einer populären poetischen Kulturkritik näher untersuchen zu können, soll in den folgenden Kapiteln zunächst auf die Künstlerfigur des Prinzen Kuckuck im Verhältnis zu der bis dahin in Bierbaums Werk so prominent vertretenen Fi-

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gur Stilpe eingegangen werden. Anschließend fokussiert das Kapitel 4.2 auf das Erzählmodell des Fortsetzungsromans mit dem Interesse, Bierbaums Verfahren, die Idee einer ästhetischen Bildung auch in der Form des Romans populär zu machen, zu untersuchen. Im letzten Kapitel, 4.3, wird der Frage nachgegangen, warum Bierbaums Experiment eines populären kulturkritischen Romans in Prinz Kuckuck scheitert. Auf die Rolle der Rezeption soll ebenso näher eingegangen werden wie auf Fallstricke einer von Bierbaum entwickelten zeitgenössischen Kulturkritik, die zugleich gesellschaftlich relevant und von breiten Massen wahrgenommen und verstanden werden soll.

4.1 Prinz Kuckucks Geschmackserfahrungen als Wollüstling – zum Widerspruch von ästhetischer Erfahrung und Leben Bierbaum veröffentlicht mit der Erzählung Die Liaisons der schönen Sara, die in der November-Ausgabe in Die neue Rundschau 1906 erscheint (Abb. 52), die Vorabgeschichte für den später folgenden ersten Romanteil des Prinz Kuckuck (1907). Zum Schluss der Erzählung entdeckt die Erzählerfigur den werbenden Charakter des Vorabdrucks und verweist auf die Fortsetzung der Geschichte im noch nicht publizierten Roman  : Sollte man finden, daß diese Erzählung eigentlich keinen rechten Schluß hat, so würde man mir damit nicht zunahetreten, denn ich habe diese Empfindung selber gehabt. So sehr, dass ich einen ganzen Roman dazu als Schluß geschrieben habe  : den Roman des Sohnes der schönen Sara, der zwar einen seidenen Schlafrock und einen reitenden Kosaken, aber keinen genau bestimmbaren Vater gehabt hatte, und der »Prinz Kuckuck« genannt wurde, weil er zeitlebens in fremden Nestern hauste.340

Der Untertitel des ersten Teils, In fremden Nestern, knüpft wörtlich an den Schluss der Erzählung an und stellt zu Beginn die Mutter des Prinzen Kuckuck, die »kluge Sara« (PKI25) und »schöne Jüdin« (PKI26), ins Zentrum des Interesses. Sara ist Kind eines aschkenasischen jüdischen Kaufmannes und einer kreolischen jüdischen Tänzerin. Die Familie wandert nach Amerika aus, wo Sara aufwächst und in eine wohlhabende Familie einheiratet. Als ihr Mann stirbt, kehrt sie als erwachsene Frau nach Europa zurück, um »ihr Leben in aller Frei340 Bierbaum, Otto Julius  : Die Liaisons der schönen Sara. In  : Die neue Rundschau 17 (1906), H. 1, S. 1381 – 1400, hier S. 1400.

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52  Umschlagtitel von Die neue Rundschau (1906), H. 1. In der Ausgabe erscheint ein Vorabauszug des Romans Prinz Kuckuck: Die Liaisons der schönen Sara.

heit einer reichen jungen Witwe zu genießen« (PKI16). In Dresden lebend unterhält Sara zwei Affären  : die erste zu einem Musiker, der glühend Wagner verehrt, die zweite zu einem »russischen Kavallerie-General außer Dienst« (PKI22). Aus einer der beiden Affären geht Prinz Kuckuck hervor. Um Saras Freiheit nicht einzuschränken, wird er sofort nach der Geburt zur Adoption in eine Bauernfamilie gegeben. Den ästhetischen Forderungen des Naturalismus nach sozialkritischen Schilderungen der Milieus ärmerer Gesellschaftsschichten widerspricht Bierbaums süßlich-pikante erotische Verwicklungsgeschichte, so dass die gehobene Gesellschaft als für den Roman gewähltes Motiv zunächst eine eher seichte Unterhaltungsliteratur nahelegt. Die Liebschaften und amourösen Versteckspiele dieser Gesellschaftsschicht finden sich als Sujet um die Jahrhundertwende verstärkt in den Zeitungsromanen der Familienblätter wieder. Das Glück der Adeligen, das Bierbaums Erzählung schildert, wirkt so trivial wie die banalen Erzählmuster von reihenweise angebotenen Erfolgsromanen in den sogenannten »Kolportage-­ Buchhandlungen«. Diese »sorgten für eine noch größere Verfügbarkeit der neuartigen Literaturgattungen. Die Volkspädagogen fürchteten wegen der durchwegs anspruchslosen und sensationellen oder erotischen Inhalte der Romane um das

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seelische Wohl der neu erschlossenen, ungebildeten Leserschaften.«341 An die leichten und formelhaften Schreibweisen der Erfolgsromane der Familienblätter und der Kolportageliteratur knüpft Prinz Kuckuck klar an  : Einfache rhetorische Mittel oder legendenhaft anmutende Formulierungen wie »[e]s war um die Zeit der unumschränkten Herrschaft der Kaiserin Eugenie« (PKI14), phrasenhafte Übertreibungen wie »in den besten Geschäften der Pragerstraße nach den besten Pariser Modellen« (PKI20) und Wortwiederholungen wie »er hatte Ideen, die nach Gestaltung drängten, aber jede Gestaltungskraft war ihm versagt« (PKI51) prägen den banalen Erzählstil. War es die anschauliche und nicht artifizielle Sprache der Lieder und Couplets, die Bierbaum als Ideal des »lyrischen Theaters« darstellte, so ist Prinz Kuckuck sein Versuch, einen »reinen Roman« (PKI9), der sich als »lyrische Erzählung« (PKI7) versteht, zu schreiben, einen »Zeitroman« (PKI7), der neben dem »Trieb nach Unterhaltung« auch dem »Erkenntnistrieb, Trieb nach Klarheit« (PKI10) folgen soll. Das Konzept einer vordergründig einfachen, leichten Unterhaltungslektüre hilft Bierbaum, seine literarische Zeitdiagnose und Kulturkritik, die weit über den schlüpfrig und zugleich abenteuerlich anmutenden Titel von Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings hinausgeht, populär zu verbreiten. Auch die genealogisch-schematische Unterteilung erinnert eher an triviale Unterhaltungsliteratur  : Nach Prinz Kuckucks Vorgeschichte und In fremden Nestern folgt Teil 2, Hohe Schulen (veröffentlicht wird dieser Teil auch bei Georg Müller 1907, das Vorwort von Bierbaum ist datiert auf den 25.  November 1906), und schließlich Teil 3, Zu Pferde und zu Hause  – Nachbericht (der letzte Teil wird um den Jahreswechsel 1907 / 08 vom Verlag ausgeliefert, datiert ist das Vorwort auf den 3.  Oktober 1907). Während das Sujet der Intrigen und Schicksale reicher Adelsgeschlechter und mondäner Parvenus als unliterarisch gilt und motivisch eher von Trivialromanen verarbeitet wird, hat Bierbaum für seinen Prinz Kuckuck doch einen Gesellschaftsroman zum Vorbild, der als Epochenroman Furore macht und ebenfalls das Großbürgertum in den Blick nimmt  : Thomas Manns Buddenbrooks erscheint 1901 im Fischer-Verlag und nach anfänglichen Absatzschwierigkeiten aufgrund einer aufwendigen, teuren Ausstattung »veranstaltet der Verlag dann 1903 die einbändige Volksausgabe für fünf Mark«342, die 341 Schenda, Rudolf  : Volk ohne Buch, S. 243. Auch wenn Schendas Recherchen die hohen Zahlen nicht bestätigen können, gibt er die Aussage des konservativ-reformerischen Kunstwarts wider  : »Der Kunstwart zählte 1908 im Deutschen Reich ›8000 Kolportagebuchhandlungen, die sich angeblich überwiegend mit der Verbreitung von Schundromanen oder sonstiger Hintertreppenlektüre beschäftigen.‹ « (Schenda, Rudolf  : Die Lesestoffe der kleinen Leute, S. 87). 342 Fischer, Manfred F.: Unter fremder Flagge. Das Stadtbildmotiv des Einbandes der Volksausgabe

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sich so gut verkauft, dass die Geschichte vom Verfall einer Familie zum »meistverlangte[n] deutsche[n] Roman«343 im Buchhandel avanciert und schließlich ein »Massenerfolg«344 wird. Die literarisch-ironische Verarbeitung der Familiengeschichte einer Lübecker Handelsdynastie samt ihren internen Zerwürfnissen, Intrigen und intimen Geheimnissen bedient mit den zahlreichen dargestellten Skandalen die Sensationslust durch die Anlage als Schlüsselroman345 und bietet zugleich hohe literarische Unterhaltung. Die Grenze zwischen den anspruchsvollen Romanformen des Bürgertums und den einfachen und standardisiert fabrizierten Lektüreformaten der Fortsetzungsromane der Familienblätter und der Kolportageromane, die seit den 1880er Jahren durch den Kolportagehandel zumindest ökonomisch eigenständige Vertriebsstrukturen aufgebaut hatten346, verläuft zunehmend fließend. Ernst von Wolzogen plädiert 1906 dafür, dass Genrewahl und motivische Verarbeitung nicht mehr ausschlaggebend sein sollten für die Identifizierung einer literarischen Produktion als Schund oder Literatur  : Man kann nicht sagen  : Kriminalgeschichten, Sportgeschichten, Verlobungsgeschichten, Hohenzollernhistorien mit Schlußhurra usw usw. seien unliterarisch, dagegen die Darstellung von Ehebrüchen, illegitimen Verhältnissen, perversen Leidenschaften, anrüchigen Milieus usw. usw. literarisch. Ein durchaus freier Geist im Besitze der modernsten Bildung kann eine wundervolle literarische Pose annehmen und doch einen ausgemachten ›Stunk‹ zusammenfaseln, während andererseits ein echter Dichter trotz

von W. Schulz (1903). In  : Eickhölter, Manfred / Wißkirchen, Hans (Hg.)  : »Buddenbrooks«. Neue Blicke in ein altes Buch. Begleitband zur neuen ständigen Ausstellung Die ›Buddenbrooks‹ – ein Jahrhundertroman im Buddenbrookhaus. Lübeck 2000, S. 204 – 211, hier S. 206. 343 Mann, Thomas  : Brief an Paul Raché (2.12.1902). In  : ders.: Briefe I  : 1889 – 1913. Frankfurt / M. 2002 (Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 21), S. 221. 344 Mann, Thomas  : Brief an Richard Schaukal (21.12.1903). In  : ders.: Briefe I  : 1889 – 1913. Frankfurt / M. 2002 (Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 21), S. 257. 345 Es kursieren in Lübeck sogar Schlüssellisten, die als Lektürehilfe dienen und ein die Lektüre erweiterndes Identifikationsspiel ermöglichen, um durch den Abgleich von fiktiven Figuren und Personen des öffentlichen Lebens die Lust am Text zu steigern. Vgl. Rösch, Gertrud Maria  : Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004, S. 205 ff. 346 Vgl. Jäger, Georg  : Kolportageroman und Kulturindustrie. In  : Berg, Christa (Hg.)  : Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. 4  : 1870 – 1918 – von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991, S. 488 – 492.

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aller Beschränkung durch polizeiliche Zensur und die schlimmere Bevormundung des Familienblatt-Redakteurs ein Meisterwerk zu schaffen imstande ist.347

Bierbaum selbst war es mit dem Prinz Kuckuck sehr ernst. In dem oft zitierten Text Im Spiegel. Autobiographische Skizze schreibt er 1907 nach Erscheinen des ersten Teils des Romans  : Fiesole hat mir den »Prinzen Kuckuck« beschert, die erste große, planmäßig entstandene Arbeit von mir. Ich glaube, daß die Lektüre dieses Buches auch meine Widersacher davon überzeugen wird, daß ich nicht ganz der blos auf billiges Behagen gerichtete Idylliker bin, für den mich manche gerne ausgeben.348

Viele Handlungsstränge und Erzählmotive des Romans ähneln trotz des viel größeren Umfangs und der herausgehobenen Stellung, die Bierbaum dem Prinz Kuckuck in seinen Selbstdarstellungen einräumt, stark dem erfolgreichen Vorgänger Stilpe. Die ausschweifende Lebensart der Figur Henry Hauart, von der vor allem im zweiten Teil erzählt wird, schlägt noch mehr Kapriolen als in Stilpes Bohèmeleben. Der Handlungsrahmen ist um weitere Handlungsplätze erweitert, so dass Prinz Kuckuck zum Vertreter einer genießerischen europäischen Bohème wird. Die Hauptstädte der Moderne – Paris, London, Madrid, Wien – erweitern mit ihren freizügigen kulturellen Unterhaltungsangeboten sowohl den Horizont Henry Hauarts als auch Karl Krakers kulturelle, soziale und vor allem sexuelle Erfahrungen, die beide zuvor nur in deutschen Universitätsstädten sammeln konnten. Dennoch ist die Grundidee der beiden Romane die gleiche  : Die Literatur, insbesondere die erotische Literatur, ist für die jungen Erwachsenen Ort der Flucht vor einer starren und sinnenfeindlichen Moral, nimmt die erotische Dichtung doch »von altersher eine polemische Frontstellung gegen die offiziellen Werte«349 ein. Die in jungen Jahren erfahrene Diskrepanz zwischen diszipliniertem Gehorsam und Sittsamkeit in der öffentlichen Ordnung einerseits und den Sinnesfreuden in den Wirtshäusern und Bordellen andererseits führt in beiden Romanen zum Bedürfnis nach Abgrenzung von der vorherrschenden Bigotterie und zum Wunsch nach der Erkundung neuer Lebensformen und sexueller Um347 Wolzogen, Ernst v.: Das Familienblatt und die Literatur. In  : Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 9 (1906), H. 3, Sp. 177 – 185, hier Sp. 180. 348 Bierbaum, Otto Julius  : Im Spiegel, Sp. 1086. 349 Schlaffer, Heinz  : Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971, S. 163.

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gangsformen. Dabei ist Henry Hauarts Gründung des »Lyrischen Kükensalats« nicht nur geheim, wie es der Stilpe’sche Cénacle war, sondern zusätzlich elitär. Der Junge geht nach dem Abitur zum Studium nach Jena mit dem Vorsatz, Vorlesungen von Erich Haeckel zu hören, und er erliegt – ähnlich Stilpe – leicht der Versuchung, sich in der Pomerania, einer elitären Verbindung, mit »stolz vergnügten Leuten« (PKII34) zu umgeben. Die Rassenlehre und das Selbstbewusstsein des Herrenmenschendenkens prägen die Umgangsformen im Korps und erinnern an die Ideale, die ihm selbst von seinem Münchner Ziehvater Henry Hauart eingeprägt wurden. So bekennt Henry  : »alles Jüdische ist Unterschicht« (PKII30) und knüpft an den vorherrschenden chauvinistischen Habitus eines völkischen Antisemitismus nahtlos an. Militärischen Gepflogenheiten und der Mensur steht er hingegen ablehnend gegenüber und versagt bei seiner Einführung kläglich. Eine kulturelle Elitebildung stellt sich Henry anders vor als durch die in den Statuten der Pomerania vorgegebene körperliche Stählung und Abhärtung. Dem lyrisch begabten Korpsstudenten Fritz Böhle vertraut er unter Einfluss von viel Eierlikör an  : »Ich möchte, wenn ich einmal C.B. [Corpsbursche  ; BZ] bin, den Versuch machen, die alt vornehme Institution der Studentenkorps in einem zeitgemäßen kulturellen Sinne zu erneuern.« (PKII45) Er flieht auf Anraten Böhles vor seinem maßlos zunehmenden Alkoholkonsum und seiner Scham über die verpatzte Mensur aus Jena nach Leipzig. Als orientierungsloser, künstlerisch ambitionierter junger Student sucht er  – wie Stilpe  – nach Vorbildfiguren, die ihm Halt in seinem ausufernden, schwelgerischen Leben geben. Er könnte seinem Stiefbruder Karl folgen, der einen artifiziellen, anspruchsvollen und genießerischen Weltumgang vorlebt. Oder er orientiert sich an seinem Halbbruder Hermann Honrader, dem er zuvor selten begegnet ist, der aber jetzt ebenfalls in Leipzig studiert. Hermann stellt eine Karl diametral entgegengesetzte ästhetische und kulturelle Position vor. Egal welchem ästhetischen oder moralischen Ideal Henry Felix Hauart folgen wird, seiner in Jugendzeiten selbst gewählten Maxime des Exzesses sexueller Ausschweifung bleibt er treu  : »Hermann und Karl sollen jeder ein Denkmal von mir kriegen. Es soll aber eine bequeme Bank daran sein für mich und meine Weiber, und rechts und links ein paar schöne gemeißelte Champagnerkühler.« (PKII69) Die beiden Figuren Karl Kraker und Hermann Honrader sind die heimlichen Gegenspieler in Bierbaums Roman. Sie vertreten zwei vollkommen unterschiedliche Auffassungen, wie mit tradierten kulturellen Vorstellungen und dem akademischen Historismus in der künstlerischen Bildung zu brechen sei. Im Roman treten sie gleichzeitig auf, auch wenn beide Figuren für zeitlich nacheinander stattfindende Aufbruchsphasen gegen Ende des 19.  Jahrhunderts stehen  : Her-

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mann Honrader stellt, als Henry im Jahr 1886 nach Leipzig kommt, »das Haupt von Gründeutschland« (PKII71) dar, er vertritt die Forderungen der Naturalisten und erinnert an die soziale Verantwortung der Kunst. Dem steht Karl Krakers Kunstauffassung gegenüber, die geleitet ist von der Schönheit der Kunst, die sich im Genießen selbst genug ist und eher durch die Ausgrenzung und Überhöhung von sozialen Fragen ihre Erfüllung erhält. Karl ist Vertreter eines L’art pour l’art, das in einer künstlerisch abgetrennten Sphäre ästhetisch genießende Erfahrung ermöglicht. Diese Erfahrung steht jenseits der sozialen Verhältnisse, welche die Kunst ästhetisch überflügeln will. Die Erzählerfigur flicht an dieser wie auch anderen Stellen Nachrichten des öffentlichen und politischen Lebens in den Handlungsverlauf des Romans ein  : »›Extrablatt  ! Extrablatt  ! Extrablatt  !‹ heulte es auf den Straßen.« (PKII68) Diese zeitgeschichtlichen Marker  – zur Ankunft Henrys in Leipzig ist es der Tod des Bayernkönigs Ludwig II. am 13. Juni 1886 – dienen zur historischen Verankerung des Romans. Das Verfahren erhält einen zum Teil sarkastischen Unterton, indem die Figuren die historischen Ereignisse aus ihrer Perspektive kommentieren. Henrys zynische Bemerkungen wenden sich ebenso gegen den Dilettantismus des verstorbenen Königs wie sie den Anspruch naturalistischer Kunstauffassung mit der ablehnenden öffentlichen Haltung gegenüber der Moderne zusammenführen  : Begreiflich  : so enden Idealisten. Der wollte auch über sich hinaus. War auch mit seiner Rolle nicht zufrieden. Wollte nicht König von Bayern, sondern ein Märchenkönig sein. Bildete sich ein, heute majestätische Poesie leben zu können, Poesie früherer Jahrhunderte. Und nun, Ludwig  ? Eine Wasserleiche. Sehr unpoetisch  ! Sehr unmajestätisch  ! Ekelhaft modern. (PKII68)

Im Verlauf des Romans wird sich Henry in seiner »sexuelle[n] Ausschweifung« (PKII74) jedoch nicht dem Naturalismus, sondern dem Ästhetizismus Karls mit voller Konsequenz anschließen. Zuvor sucht er dennoch die Nähe zu Henry Honrader und seinem Literatenkreis »Der Misthaufen«. Die Ideale der modernen Literaten sollen Henry nach Hermanns Wunsch aus seinem »Sumpf« (PKII73) ziehen, was wieder auf eine Nähe der Figuren Henry / Prinz Kuckuck und Stilpe verweist, war es doch im Vorgängerroman der Sumpf, aus dem Stilpe metaphorisch als Frosch emporgestiegen ist  : Unser Ziel ist nicht die Wüstheit, unser Ideal ist nicht das Chaos, unsere Begierden sind nicht auf das Gemeine gerichtet. Wir haben im Schmutze gewühlt, weil wir dort noch eher echte Schönheit zu finden hofften, als in den wesenlosen Sphären dieser

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Idealisten. […] Unsere Herzen sind noch nicht rein geglüht von den Schlacken unkünstlerischer Begehrungen. Wir sind noch keine Künstler. Aber alle unsere Irrtümer haben uns, wenn auch vielleicht weg von der Kunst, so doch aufs heilsamste wieder an die Natur, ans Leben, ans Menschliche gebracht, und wir haben dadurch an der Kraft zugenommen, ohne die kein Künstler werden kann. (PKII73)

Henry hält dem entgegen, dass die naturalistische Kunstauffassung den gleichen Fehler begeht wie zuvor der Idealismus der klassischen und realistischen Künstler. Deren Überhöhung und Idealisierung der Natur wiederholten die Künstler des »Misthaufens«. Auch wenn Natur nun als schmutzige und fehlerhafte gedacht wird, wird sie immer noch verstanden als etwas, das mit der Kunst versöhnt werden soll. Beide Sphären – die der Kunst und die der Natur – sollen in Kongruenz zueinander gebracht werden, aber dies überführt die Kunst noch nicht, wie es die Vorstellung der Naturalisten ist, ins Leben. Trotzdem folgt Henry dem Bildungsgedanken der naturalistischen Künstlerverbindung. Er beendet die Karriere als äußerst erfolgreicher »Serail«-Held, legt seinen Kosenamen »Das große Aas« (PKII70) ab und kündigt seine berühmt-berüchtigten »Gemächer«, die manchmal »einem Schlachtfeld glichen, übersät mit zerrissenen Unterröcken, verbogenen Korsetts, zertretenen Kämmen, halbierten Spitzenhosen, umgeworfenen und zerbrochenen Spiegeln, entleerten Flaschen« (PKII70), mietet eine neue Wohnung an und wird Hospitant im »Misthaufen«. Dieser Läuterungsprozess ist unmittelbar an Hermanns Gegenwart gebunden. Als dem volljährig gewordenen Henry das Millionenerbe übertragen wird, gemahnt ihn ein Vermächtnisbrief seines Ziehvaters an sein »stolzes, glückliches Herrendasein« (PKII91), das ihn auf seinen Bildungsweg zu einem kulturvolleren Menschen und einem erfüllten genießerischen, verschwenderischen Leben führen soll  : »die Leidenschaft, Geld zu verdienen um des Geldes willen, hat alle vornehmen Leidenschaften erstickt. […] Du soll kein Kapitalist sein, mein Sohn.« (PKII92) Die Voraussetzungen sind nun geschaffen  : Im Verbund mit den Künstlern in Leipzig und ausgestattet mit den nötigen finanziellen Mitteln macht Henry den Vorstoß, nun wirklich ins Leben zu wirken und eine künstlerische Zeitschrift zu gründen, den »Morgenstern« (PKII102). Zum ersten Mal sollte die Zeitschrift angemessene Honorare zahlen können, so dass die beitragenden Künstler nicht darauf angewiesen sind, auch noch »um leben zu können, gegen Honorar invita Minerva schreiben zu müssen.« (PKII98) Henrys Position ist nun die eines Mäzens, doch genügt ihm das mit der Herausgeberschaft verbundene Prestige und die ästhetischen Diskussionen des

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Misthaufens verstummen. Henry konzentriert sich als Zeitschriftenherausgeber allein auf den publizistischen Erfolg und seinen Ruhm. Die literarischen Produktionen lassen zu wünschen übrig, weil sie Gefälligkeitsarbeiten unerfahrener Schriftsteller sind, und ein paar Ausgaben später, als das öffentliche Interesse an der Zeitschrift nachlässt, ist »Der Morgenstern« gefüllt mit »tollste[m] Unfug jugendlicher Dschinkhiskane der Poesie« (PKII104), nur um Aufsehen zu erregen und etwas Verrückt-Neues zu veröffentlichen. So ist Henrys Unternehmung einer um ästhetisches Wirken und um die Verkündung der Idee moderner Dichtung bemühten Zeitschrift gescheitert. Die Einberufung eines Redaktionskollektivs, das eine gezielte und kritische Sichtung der eingereichten Manuskripte vornehmen würde, und auch die Konzeptionierung der einzelnen Hefte oder Jahrgänge hält er für verzichtbar. Die Hauptarbeit der Redaktion und die Leitung überträgt er einem »anonymen Männchen« (PKII104) und er selbst genießt seine ausgestellte Rolle als »literarischer Audienzerteiler« (PKII103) und Literatenmagnat. Ein in seiner eigenen Zeitschrift abgedrucktes Gedicht, das ihm huldigt und ihn in seiner Funktion als Herausgeber bestärkt, enthüllt ihm als Akrostichon die Farce seiner Rolle. Die Anfangsbuchstaben der Verse verhöhnen sein Kunstverständnis  : »Gottschedchen, Du kompromittierst uns  ! Die Literatur ist kein Spielzeug für wichtigtuende junge Millionäre. Henry steck den Morgenstern ein  !« (PKII105) Diese versteckte Bloßstellung trifft Henrys Eitelkeit. Er ist narzisstisch gekränkt und beendet sofort das Experiment der neuen Publikationsform einer literarisch-ästhetischen Zeitschrift. Der »Morgenstern« wird eingestellt und die Redaktionsräume werden geschlossen. Die kurze Episode künstlerischer Betätigung, und sei es auch nur in der nutznießerischen Position eines aufsehenerregenden Mäzens, ist vorüber. Henry vermutet den lyrischen Verrat in den eigenen Reihen und denkt an Hermann Honrader. Er wendet sich von ihm ab und stattdessen seinem zweiten Mentor Karl zu, der ihm im Fortgang des Romans zur Seite stehen wird und das Experiment einer ästhetischen Erziehung dahingehend modifiziert, dass es weniger um den Bildungsgedanken, wie bei den Naturalisten, sondern vielmehr um den genießerischen Aspekt und die Kunst des Lebens gehen soll. Karl ersetzt von nun an Hermann als Vorbild für Henry. Dass Karl selbst der Verfasser des Akrostichons ist, verrät die auktoriale Erzählerfigur jedoch nur dem Leser, Henry erfährt den Namen des Urhebers des Spottgedichts nie. In Gesellschaft von Karl Kraker findet Henry zu dem ausschweifenden und erotischen Leben eines Dandys zurück, das er  – angeleitet durch seinen Ziehvater – von Kind an vorgelebt bekommen hatte. Selbst die Farben des dekadenten Dandytums, Lila und Gelb, umgeben ihn, wenn er in Genf zwei Frauen am

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Arm durch einen Rosengarten führt  : »Pirotschka (violettes Hemd, bordeaurote Strümpfe)« und »Dolores (safrangelbe Strümpfe, schwarzes Hemd)« (PKII111). Henry verwirft die ästhetische Produktion als bloße Kompensation sexueller Entsagung und widmet sich fortan seinen eigenen erotischen Neigungen. Die Derbheit und Kulturlosigkeit seiner Äußerungen lassen ihn dabei weniger als Ästheten denn als erotischen Kraftmeier erscheinen  : Menschen, denen es versagt ist, an den Brüsten des Lebens zu liegen, mögen Literatur treiben  ! Nicht ich  ! Literarischer Ehrgeiz ist das kümmerliche Aushilfsmittel von Leuten, denen es am Reellen fehlt, seis im Portemonnaie, seis in den Lenden.

Die unverhüllt derbe und intellektuellenfeindliche Sprache, die Henry benutzt, lässt seine ästhetische Verkümmerung ebenso zutage treten wie seine ästhetische Ungebildetheit. Die rassistischen Phrasen einer Herrenmenschenlehre, die er seinem Ziehvater gedankenlos nachplappern konnte, unterscheiden sich nur graduell von seinen besinnungslosen Wiederholungen der protestantischen Floskeln der Enthaltungslehre und den Demutsformeln des Adoptivvaters Kraker. Henrys Dasein als Hospitant des »Misthaufens« ist von zu kurzer Dauer, als dass eine reflexive Auseinandersetzung und die Ausbildung eines ästhetischen Urteilsvermögens auch nur begonnen hätten, und so zeugen die frivol-banalen und chauvinistischen Sprüche von der Lebenseinstellung eines jungen Erwachsenen, der sich weder Bildung noch ästhetisches Empfinden angeeignet hat. Das Scheitern der Literaturzeitschrift erfährt Henry als narzisstische Kränkung, wie es am ätzenden Gestus seiner hämischen Rede offenbar wird. Die Paarbildung Henry Hauart und Karl Kraker wird auf den folgenden Statio­ nen des Romans interessant  : von Genf über Paris und London nach Southport und dann über See nach Madrid, von dort nach Wien und München und schließlich nach Rom, Neapel und Capri. Die beiden begeben sich auf eine Lust- und Genussreise durch Europa, die eine Aneinanderreihung einzelner pikanter und erotischer Abenteuerszenen für Henry bereithält – er zelebriert den hemmungslosen Lebensgenuss in den »Ballokalen, Bordellen, Cabinets particuliers und ähnlichen Lokalen« (PKII112) – und einen aufopferungsvollen Selbsterkenntnisprozess bei Karl anstößt, der seine Homosexualität entdeckt. Den Versuch, ästhetisch ins Leben zu wirken, den der Dichterkreis noch mit dem alkoholischen Exzess, dem Disput und der Lyrik unternommen hatte, exerziert der Roman von nun an auf dem Feld der erotischen Ausschweifung und der Liebe. Während Henry von ungebrochener Virilität und strotzender Manneskraft von Orgie zu Ausschweifung eilt, eignet sich Karl »gute Kenntnisse der verschiedenen Architekturen und

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Städtebilder« an. Ihn interessiert, »auf welchem Gebiet jede einzelne große Stadt das beste an Gegenständen für verfeinerte Lebensbedürfnisse hervorbrachte.« (PKII113) Er legte Tabellen an über Goldschmiedearbeiten, Parfümerien, Seidenarbeiten, feine Flechtarbeiten, Poterien jeder Art, Bronzen, Porzellane, Holzschnitzereien, Delikatessen, Liköre, Galanteriegegenstände, edle Papiere, feine Gläser, kostbare Antiquitäten. […] Schon jetzt, in der Phantasie, genoß er nicht minder intensiv, als Henry in den Armen seiner spanischen, russischen, englischen, französischen usw. Freundinnen. Zuweilen ließ er Buch und Stift fallen und rieb sich mit einem Gefühle innigsten Vergnügens die schönen weißen, nur allzu weichlichen Hände. Endlich hatte er erreicht, was er wollte, Henry war in seiner Hand und folgte ohne Besinnen, wie seinen eigenen Trieben, so Karls Absichten, und er selber, der kluge Mentor, durfte gleichzeitig alle Vorteile des Reichtums auf seine Weise genießen, ohne als Schmarotzer empfunden zu werden oder sich gar selber als solcher empfinden zu müssen. (PKII113)

Zur gleichen Zeit verlegt Henry seine literarische Bildung einzig auf »pornographische Bücher« (PKII115), die ihn faszinieren und seinen »geilen Vorstellungen einer schließlich monströsen, ja grotesken Obszönität« (PKII116) Nahrung geben. Die dumpfe Begeisterung für das Sinnliche bei Henry nimmt absurde Formen an, so dass die als »pervers« (PKII215) titulierte Homosexualität Karls, die zunehmend offensichtlich wird und die sich auch in Abgrenzung zu Henrys überbordender Heterosexualität festigt, eigentlich als das harmlosere erotische Unterfangen erscheint. Karl lernt im Londoner Club »Grüne Nelke« (PKII142) eine Gesellschaft kennen, die ihre Homosexualität als besondere Auszeichnung mit einer elitären Haltung performt und als »Kulturaristokratie« mit »Geschmack« (PKII142) ihre erotischen Ausschweifungen genießt. In der Form der Abgrenzung gelingt es ihm zum ersten Mal, seine Sexualität zu akzeptieren und auszuleben. Dieses »Genußgeheimnis« (PKII142) ist im Gegensatz zu Henrys Orgienexperimenten um 1900 gesellschaftlich nicht akzeptiert, denn »[w]urde der homosexuelle Mann als Bedrohung der Virilität der Nation empfunden, war der Lesbianismus hingegen Teil einer dekadenten Subkultur. Er wurde als schicke urbane Unsitte aufgefasst und übte somit eine große Anziehungskraft auf das männliche Publikum des Montmartre aus.«350 Begibt sich Henry besinnungslos von einem zum nächsten Vergnügen, genießt Karl seine sexuellen Erfahrungen 350 Anderberg, Birgitte / Knudsen, Vibeke Vibolt  : Toulouse-Lautrec. Die menschliche Komödie. Mün­ chen  ; London  ; New York 2011, S. 115.

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und verliebt sich mehrfach. Auch wird er literarisch produktiv und verfasst eine »kulturprogrammatisch poetische[ ] Begrüßung des neuen Kaisers« (PKII138). Gerichtet ist sie an Kaiser Wilhelm II., der 1888 den Thron besteigt. Karl besteht auf einer exquisiten Ausstattung der Schrift  : »man müsse ein Exemplar auf Pergament drucken und es in einer Hülle aus kostbarstem alten Renaissancebrokat dem Hofmarschallamt in Berlin übersenden.« (PKII138) Henrys Geschmacksnerven kennen nur Gold als Ausdruck prächtigen Schmucks, so dass ihm auch hier das Raffinement verborgen bleibt und Karl sich über ihn lustig macht  : »So könnte man das Gedicht z.B. auf roten Sofaplüsch einbrennen und in handbemalte Ofenkacheln binden lassen« (PKII139). Die Allüre der Festlichkeit des Buchschmucks steht nicht hinter dem Anspruch des Gedichts zurück, das »das erste Manifest einer neuen Poesie« (PVII139) sein will, gerichtet an den »Dichterfürsten« Kaiser Wilhelm II. Schon die Anrufung eines aristokratischen Staatsoberhaupts enthüllt, welchen Charakter Karls Ideal einer zukünftigen Kunstausübung hat  : Die Geschmacksverfeinerung und der Genuss von Schönheit sollen jenen vorbehalten sein, die aufgrund ihres Standes und ihres Bildungsgrads zu einem höheren Genuss fähig sind. Die Literatur stellt sich bei Karl  – ganz im Gegensatz zu den Überlegungen des »Misthaufens«  – in den Dienst der herrschenden Klasse und sucht nach kaiserlichen Weihen, um ihre Sonderstellung als ästhetische Bildungsinstitution und Instrument kaiserlicher Machtausübung zu zementieren. Karls Vorstellung von Kunst als Gesamtkunstwerk, das seinen Rezipienten majestätisch über die Mühen des Lebens hinausheben und in eine neue ästhetische und verfeinerte Sinneswahrnehmung einführen soll, wird symbolisch in der Lobpreisung des neuen Kaisers durchgeführt. Die verfeinerte Kunstauffassung könne das deutsche Kaiserreich von nun an mitregieren und zur Bildung und Reifung seiner Untertanen beitragen, ebenso wie sie der Nation zu neuem Ansehen verhelfen könne. Das Lobgedicht spricht von einer »höheren Kultur« (PKII139), dank derer »sich das dichterische Deutschland an die Spitze der Nationen setzen wird.« (PKII139) Karl sendet das Werk in fulminanter buchgestalterischer Ausstattung an »vierhundert von den vornehmsten Tagesblättern, an die literarischen Revuen und an prominente Vertreter des Geistes« (PKII138) – und erhält keine Reaktion. Dem Kaiser wird es nicht zugestellt und so verfehlt die Lyrik ihre staatstragende Wirkung. Nur einer, Hermann Honrader, rezensiert Karls Gedicht und spricht »von einem hohen Talente des Verfassers für feierliche Form« (PKII146), das »nicht blos das Erbe Bismarcks antreten [würde], sondern auch das von Nietzsche.« (PKII146  f.) Gerade der Einfluss Nietzsches, so Honrader, würde eine falsche Überwindung des Naturalismus hervorbringen  ; Poesie dürfe, um ins Leben zu

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wirken, nicht nur für einen ausgewählten Kreis einzelner Privilegierter sprechen, sondern sie müsse »ein Herz für die ganze Menschheit haben« (PKII147). Dass der Dichter Karl wiederum noch nie eine Schrift Nietzsches gelesen hat und auch den Namen dieses Mannes noch nie gehört hat, mindert die poetische Kritik Hermanns nicht. Das Epigonentum vieler Schriftsteller des Ästhetizismus ist mit ihr treffend benannt. Der elitär gewordenen Poesie einer neuen Geistesaristokratie, die Karl entwirft, steht das barbarische sexuelle Verlangen seines Stiefbruders Henry entgegen. Henry, der sich auf den Lustreisen längst von jeglicher literarischer oder künstlerischer Bildung abgewandt hat und seinen eigenen Entwicklungsweg eines erotisch-egomanen Wollüstlings eingeschlagen hat, erhält in seiner animalischen Präsenz sein Pendant in Karls schöngeistiger elysischer Dichterexistenz. Dem Wunsch nach dem Wirken der Kunst in das Leben begegnet das Paar einerseits in der Abspaltung und Glorifizierung des sexuellen Triebs, in der Verkennung, dass diese sinnlichen Erfahrungen das wirkliche Leben spürbar machen ließen, und andererseits in der Überhöhung der ästhetischen Form, die losgelöst von realen Lebensgeschichten und sozialen Konflikten, von denen sie erzählt, in der Sphäre des Künstlichen verbleibt. Beide Figuren, Karl und Henry, glauben, ihren künstlerischen Bildungsweg nur vollenden zu können, indem der jeweils andere vernichtet wird. Karl sucht diesen Ausweg direkt und heuert Tiberio, seinen jungen italienischen Geliebten, an, Henry zu töten. Doch Henry gelingt es, diese Intrige in eine amouröse Affäre mit Tiberio zu überführen, und er brüstet sich Karl gegenüber mit diesem homoerotischen sexuellen Abenteuer. Diese Erniedrigung des eigenen Identitätsentwurfs erträgt Karl nicht  : Es überkommt den Ästheten und er versucht Henry zu töten. Im Handgemenge überwältigt jedoch Henry Karl und stürzt ihn einen Felsen hinunter. Die Lösung Henrys aus dieser dialektischen Beziehung zwischen Hedonismus und aristokratischem Kunst­genuss ermöglicht ihm, nun seinen eigenen, unabhängigen Lebensweg einzuschlagen. Im dritten und letzten Band tritt Henry eine militärische Laufbahn an und unterhält eine amouröse Affäre mit der Gräfin Erna. Gleichzeitig pflegt er Umgang mit den adeligen Kreisen einer Kleinstadt und ist vertraut mit Ernas Mann, Graf Pfründten. Ein kunstliebender Prinz hat an Henry Gefallen gefunden und protegiert den jungen Kadetten. Er erhebt Prinz Kuckuck schon bald in den Grafenstand, weil er tief von dessen ästhetischem Empfinden beeindruckt ist und ebenso von der Art, wie er das nachgelassene poetische Werk seines Stiefbruders Karl pflegt. Henry schmückt sich mit den lyrischen Werken des Ermordeten, wo sie ihm zu sinnlichen Genüssen oder gesellschaftlichem Prestige verhelfen. In ernsten Ge-

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sprächen mit dem »Serenissimus« (PKIII103) über das Verhältnis von Kulturproduktion und Geistesadel überspielt er seine Unkenntnis moderner Literatur und ist entsetzt über die Aussicht, seine geplante Karriere als Rennreiter zurückstellen zu müssen, um die vom Fürsten an ihn herangetragene Aufgabe erfüllen zu können, Förderer und Kurator einer aristokratischen Kunsteinrichtung, der »Pflanzschule für dramatische Talente« (PKIII91), zu werden. Dem Künstlertum widmet sich Henry Felix von nun an nur in der Form mäzenatischer Großspurigkeit, die auf besonders fruchtbaren Boden fällt, wenn er sich nach vielen Kapriolen als erfolgreicher Rennreiter und Liebhaber mit Berta vermählt, sie zur Gräfin adelt und sich in Berlin dem Künstlerkreis der »Purpurnen Wolke« (PKIII195) anschließt  : Ein Dramatiker ohne Talent, aber »voller Ideen« hatte sich mit einem Maler ohne Ge­ staltungskraft, aber voller Prinzipien, aufgrund eines ahnungsschwangeren Schlagworts von der Reliefwirkung der Bühne zu dem Plane vereinigt, eine neue Dramatik aus dem Schoße der Zukunft zu locken, indem sie, gewissermaßen als ästhetische Falle, ein neues Schauspielhaus nebst neuer Bühnenanlage aufrichten wollten  ;  – der Graf fand die Idee »scharmant« und bekannte sich mit zehntausend Mark zu ihr. – Ein flinker Geist, von Zweig zu Zweig der vielästig sich vergabelnden modernen Malerei hüpfend, der seinen tönereichen Schnabel schon an allen möglichen Meistern und Gesellen gewetzt hatte, ohne doch bisher mit seinen schmetternden Liedern der Ergriffenheit hinlänglich Eindruck gemacht zu haben, hatte plötzlich das alleingültige Gesetz der Kunst erblickt, das Perpetuum mobile der Entwicklung entdeckt, alle seine früheren Ölgötzen vom Altare gestoßen und einen definitiven Kunstgott erhöht  ; dafür  : für dieses Gesetz, diese Entwicklung, diesen Gott wollte er eine Schule, eine Palästra, einen Tempel errichten, einen Komplex von Gebäuden, einen Stadtteil, eine Stadt, ein Reich, einen Kontinent, eine neue Welt  ; – der Graf fand die Idee »scharmant« und bekannte sich mit zehntausend Mark zu ihr. – Er betätigte sich (d.h. sein Portemonnaie) an der Gründung eines ästhetischen Kindergartens, einer Akademie zur Erneuerung der Tanzkunst auf der Grundlage der antiken Vasenmalerei, eines esoterischen Schattenspieltheaters zur Herbeiführung einer metaphysischen Bühnenkunst. Er legte einen Taschengelderfonds für geistige Luxusmenschen an. (PKIII210)

Der sarkastische Ton, in dem die ungenierten sexuellen Ausschweifungen Henrys und die fetischisierenden Schwärmereien von Karl für Schmuck- und Ausstattungsgegenstände erzählt werden, spaltet die Sphäre des sinnlichen Lebens ab von dem Bereich eines vergeistigten, sinnlichen, aber künstlichen Geschmackserlebens der Kunst bei Karl. Nach dem Mord an Karl kulminiert beides in Henrys Tätigkeit als Mäzen der »Purpurnen Wolke«. Der überzogene Idealismus einer

Prinz Kuckucks Geschmackserfahrungen als Wollüstling 

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neuen Sinngebung der Kunst und der Wunsch nach Überführung der Kunst in neue, sinnlichere und lebendigere Formen kennzeichnet die Aufbruchstimmung der vergeistigten Kunstübungen der jungen Talente. In der Aneinanderreihung der verschiedenen Projekte der »Purpurnen Wolke« scheint Kunst sich dabei in weihevoll vorgetragene Scharlatanerie zu wandeln. Die Überzeichnung der Figurenkonstellation dient Bierbaum der Entlarvung von institutionell gewordenen Attitüden einzelner zeitgenössischer Kunstbewegungen, die aus ihrer elitären Haltung eine Allüre machen. Hermann Honrader, der berühmte Vertreter des Naturalismus, der sich im Laufe des Romans ebenfalls von den Vorgaben dieser ersten modernen Kunstströmung löst, erkennt an der »Purpurnen Wolke« den Verfall von Kunst zur Pose und die Maskerade, die die »geschmackvolle[n] Nichtigkeiten« im öffentlichen Selbstverständnis der kaiserlichen Monarchie spielen, wenn er bemerkt  : »alles Öffentliche hat etwas Theaterhaftes bekommen« (PKIII115). In Prinz Kuckuck werden die Untertanen der wilhelminischen Monarchie dementsprechend auch »bewusst durch ein ›Publikum‹«351 ersetzt. Die künstlerischen Produktionen von Hauart und den Künstlern der »Purpurnen Wolke« suchen die öffentliche politische Sphäre im gleichen Maße, wie sich die kaiserliche Monarchie zunehmend als Medienereignis präsentiert und ihren Herrschaftsanspruch aus der medialen Inszenierung zieht. Das neue Verständnis der Kunst wird im Verlauf des Romans durch den künstlerischen Entwicklungsweg von Henry Felix Hauart deutlich, auf dem sich Aufgabe und Zielstellung der Kunst verändern. Der Anspruch des »Misthaufens«, mit der Literatur ins Leben zu wirken, wird zunehmend abgelöst durch das befriedigende Gefühl, das Hauart erlebt, wenn seine künstlerische Betätigung repräsentative Aufgaben erfüllt. Kunst dient Hauart und dem elitären Kreis der »Purpurnen Wolke« zur Selbst­ identifikation. Im künstlerischen Herrschaftsanspruch einer elitären ästhetischen Gesamtbildung des Menschen fühlt sich die Gruppe der Künstler berufen, sich mit der Aristokratie gleichzustellen. So fügt sich die Kunst ein in die Reihe aller anderen Medien – der Presse, der öffentlichen Kaiserreden und der Photographien –, die herrschaftserhaltend wirken. Die Gestaltung von Hauarts verzweifeltem Selbstbetrug, der im Suizid endet, wendet sich im Roman implizit gegen eine solche ästhetische Elitenbildung und stellt die repräsentative Funktion der Kunst infrage. Bierbaum veröffentlicht 351 Kohlrausch, Martin  : Monarchische Repräsentation in der entstehenden Mediengesellschaft  : Das deutsche und das englische Beispiel. In  : Andres, Jan / Geisthövel, Alexa / Schwengelbeck, Matthias (Hg.)  : Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit. Frankfurt /  M.; New York 2005 (Historische Politikforschung  ; 5), S. 93 – 122, hier S. 106.

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schon zu Beginn der Herausgeberschaft seiner Zeitschrift Die Insel eine Erklärung, die sich mit der medial präsenten außerordentlichen Position künstlerischer Produktionen und ihrer avantgardistischen Vorreiterrolle kritisch auseinandersetzt, solange sie zu einer elitären Absonderung führt. In Bezug auf die Namensgebung der Insel erklärt Bierbaum  : Es lag uns ferne, durch diesen Namen das Bestreben nach einer irgendwie unberechtigten Exklusivität oder nach einer übermäßig zur Schau getragenen Vornehmheit betonen zu wollen  ; […] wir wollen nur zu erkennen geben, wie wenig wir geneigt sind, in das jetzt vielerorts übliche Triumphgeschrei über die glorreichen Resultate irgendwelcher moderner Kunstbestrebungen einzustimmen.352

4.2 »… wo auch der Stein der Weisen in unheimlich geformten Retorten und natürlich unter Beistand des Bösen gebacken wird« – Subtexte und Prinz Kuckucks Zeitdiagnose Die versteckte Kulturkritik des dreibändigen Romans von Bierbaum richtet sich nicht nur gegen die epigonalen und ästhetisierenden Tendenzen im Kunstbetrieb der Jahrhundertwende, sondern auch gegen weitreichende Veränderungen im kulturellen und politischen öffentlichen Selbstverständnis des deutschen Kaiserreichs. Aufgrund der viel Aufsehen erregenden erotischen und pornographischen Darstellungen von Orgien und der detaillierten Schilderungen der sexuellen Erfahrungen des homosexuellen Karl, die so sicherlich noch einmal gesondert gewürdigt werden müssen, treten die kulturpolitischen Analysen und Einsprüche dieses Romans in der zeitgenössischen Rezeption stark in den Hintergrund. Sie sollen im folgenden Kapitel aus dem Wust der verschlungenen und erlebnisreichen Erzählungen herausgelöst werden, um die Subtexte offenzulegen, mit denen der Roman absichtsvoll spielt. 4.2.1 Soziale Frage

Hermann Honrader dient Bierbaum als Seiten- und Widerpartfigur zu Henfel – Henry Felix. Er beschreitet nicht den Bildungsweg eines galanten Herrenmenschen. Gezeugt von Henrys Vater mit dem »leichtherzige[n] Mädchen« (PKI53) 352 Bierbaum, Otto Julius  : Die Insel. In  : Die Insel. Monatsschrift mit Buchschmuck und Illustration 1 (1899), S. 1 – 4, hier S. 1 f.

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Fanny, ist Hermann seiner gesellschaftlichen Position nach ein Arbeiterkind. Auf dem Weg zum Dichter identifiziert sich Hermann, genauso wie Henfel (PKI70), mit seiner gesellschaftlichen Position und ist gegenüber dem jungen Prinzen Kuckuck stolz auf seine »Proletarierhand« (PKI73) und seine »Proletarierfratze« (PKI73). Als »junger Sozialist« klagt er ein Machtgefüge an, das die Arbeiter und Bauern zu »Schachfiguren von den Mächtigen« (PKI97) degradiere, und ist fest entschlossen, für Freiheit und gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. Seinen ersten, offensichtlich biographisch motivierten Entschluss, Jurist zu werden, um den unehelichen Kindern und verlassenen Frauen eine Stimme zu geben, verwirft er in der Einsicht, durch dieses Beamtentum nur weiter für den Machterhalt des kaiserlichen Staats zu wirken. So sieht er für sich den Weg, Schriftsteller und Publizist zu werden, um als »Agitator der Feder« (PKI95) zu kämpfen, auch unter den widrigen Umständen von »Verfolgung und Schikane durch den Staat, der ja jetzt die Knebelung des Gedankens gesetzlich fixiert hat« (PKI95). Die Anspielung auf staatliche Zensurgesetzgebung, wie die 1897 verabschiedete Lex Heinze, bestärkt Hermann Honrader in seiner Vorstellung, durch Literatur aufklären und das Volk zur Freiheit erziehen zu können, um »zu leben wie Menschen und nicht wie Maschinen« (PKI75)353. Hermann erhält im Roman, so berühmt er neben Karl als Dichter wird, die Position einer sozialen Randfigur. Bierbaums Roman spielt vordergründig im Milieu eines Geistesadels und einer Militäraristokratie, die zunehmend ihre Einflussmöglichkeiten auf und ihre Macht über den öffentlichen Diskurs und die mediale Öffentlichkeit schwinden sehen. Dennoch etablieren sie ihr Machtgefüge durch stabile Strukturen der Elitebildung und Rekrutierung von Nachwuchs in Staatsapparaten ebenso wie auf der Verwaltungsebene, durch das Korpswesen und durch die Stütze der evangelischen Erziehungsanstalten und Honoratiorenverbindungen. Das traditionelle Machtgefüge ist dabei nicht so sehr durch die soziale Frage gefährdet, es sieht sich vielmehr bedroht von einer wachsenden Konkurrenz durch neue Formen politischer Einflusssphären, die seit der zunehmenden Industrialisierung und der mit ihr einhergehenden Verstädterung durch den Geldadel und eine aufstrebende Schicht bürgerlicher Unternehmer, Fabrikanten und Patentbesitzer repräsentiert werden. Der Name Prinz Kuckuck trifft auch aus dieser Perspektive auf den millionenreichen Grafen Henry zu, 353 Viele sozialromantische Befreiungsideale Hermanns erinnern an das Pathos eines neuen Evangeliums der Tat in Oscar Wildes Schrift Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Die Schrift erscheint 1891 auf Englisch und wird von den mit Bierbaum bekannten Schriftstellern Gustav Landauer und Hedwig Lachmann 1904 ins Deutsche übersetzt. Der Text erscheint im Verlag Karl Schnabel in Berlin.

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wird er doch von dem Geburtsadel verächtlich als »Eindringling, eine Schmarotzerpflanze« (PKIII158) bezeichnet. Dennoch zeichnet der Roman den Verfall der monarchistischen Elite bereits vor. Lehrt der Vater seinen Henry noch, dass man standesgemäß nur mit dem Pferd und der Kutsche reist, als »Demonstration gegen das Gemeine« (PKI92), denn nur der Pöbel lasse sich »würdelos gleich Gepäckstücken« (PKI92) von der Eisenbahn transportieren, fährt Henry Felix als junger Student von Bremen aus einige Jahre später ganz selbstverständlich mit der Eisenbahn nach Jena und Leipzig. Erst mit dem Antritt seines Erbes und in Begleitung von Berta und Karl übernimmt Henry den adeligen Habitus wieder und mit ihm die standesgemäße Fortbewegungsweise. Er kutschiert mit seinen Stiefgeschwistern und seinem Diener John nach Dresden und Genf. Ganz erlegen ist Henry Felix als Kandidat der österreichischen »Partei des christlichen Antisemitismus« (PKIII254) am Ende des Romans einer neuen Fortbewegungstechnik, die ihn begeistert. Er reist mit einem »Daymler« zum »Wahlkampf« (PKIII263) und erleidet bei den Junkern und dem Bürgermeister auf dem Dorf eine herbe Niederlage. Schließlich fährt er sich in einem »Rennwagen« (PKIII279), den er sich in Mailand kauft, absichtsvoll zu Tode. Dass auch das aristokratische Reisen mit der Kutsche auf den Arbeiter, den Kutscher, angewiesen ist, zeigt die einzige Szene, die nicht in der höheren Gesellschaftsschicht spielt, sondern unter »ein paar Knechten und einer Schar von Schüler[n] aus der Geigenbauschule« in der Kutscherstube der Post in Mittenwald. Hermann diskutiert hier mit allen Anwesenden »über die ungerechte Verteilung der Glücksgüter« (PKI116). Kurz nach der Szene hält er Henfel gegenüber demonstrativ fest an seiner Zugehörigkeit zu den »Armen« und dem unüberwindbaren Widerspruch beider Klassen  : »Du gehörst zu den Reichen, ich zu den Armen. Dein Weg wendet sich nach oben, der meine nach unten. Wir müssen uns also notwendig trennen.« (PKI121) Während der Vater der beiden, Henry Hauart, dem Leben nur einen Sinn geben kann, indem er Herrenmenschenmoral predigt und »vom Grundunsinn der Demokratie« (PKI91) überzeugt ist, die bekämpft werden muss, sieht er nur in seinem selbst gewählten, adoptierten Sohn, Prinz Kuckuck, seinen rechtmäßigen Erben. Ihn erzieht er im Sinne seines Ideals einer höheren Geistesfreiheit, die zu einem wahren Genuss des Lebens führen soll. Sein leiblicher Sohn Hermann, der wegen Vergehen gegen die Sittlichkeit in »nicht weniger als 85 Fällen« (PKI258) vor Gericht steht, bekämpft diese Gesellschaftsordnung und ruft in seinen Schriften, die nichts anderes sind als »literarisch verkappter Sozialdemokratismus«, zum »Klassenhasse« (PKI258) auf. Erscheint die Sozialdemokratie aus der Perspektive der höheren Gesellschaftsschichten als existenzbedrohliche Entwicklung und wird die sozialkämpferische

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Attitüde der Naturalisten ebenso als Idealismus entlarvt, so schreitet der Roman an einer Stelle doch kommentierend ein, indem er Hermann Honrader unwidersprochen in den Mund legt, dass sich die zunehmende Militarisierung des deutschen Staates und Europas auch gegen ihre Profiteure wenden könne  : Die internationale Tendenz der Sozialdemokratie ist ein mächtigeres Schwergewicht gegen den Krieg als die großen Heere, die übrigens doch auch die nicht ganz unbedenkliche Bedeutung einer gesammelten Volkskraft haben, von der man nicht wissen kann, ob sie sich nicht einmal in weniger normalen Zeitläuften gegen die wendet, denen sie im ruhigen Gang der Dinge folgt. (PKIII170) 4.2.2 Militarisierung

Henry Felix ist  – so der Titel des ersten Kapitels des zweiten Bandes  – »[d]er geborene Reiter«. Seiner Anlage und seinen Interessen nach fühlt er sich in seiner Militärausbildung am wohlsten. Bierbaum verschränkt die Erzählung vom Niedergang des Adels und seinen Abwehrkämpfen gegen den neuen, reichen Geldadel mit einer Geschichte des Niedergangs der traditionellen Werte und Umgangsformen im Militär. Üben die Uniform, die Reiterstiefel und die Disziplin der verordneten Unterordnung eine unheimliche Anziehungskraft auf den jungen Henry aus und sorgen für seine innere Stärkung, so ist es nicht weniger attraktiv für ihn, sich, umgeben von Grafen und Prinzen, mit einer Standeszugehörigkeit zu schmücken, die ihm nicht gebührt. Als er zudem den Grafentitel zuerkannt bekommt, ist die Schamlosigkeit seines Ehrgefühls grenzenlos. Er schläft mit der Frau seines militärischen Wohltäters, Graf Pfründten, er brüskiert alle anwesenden Offiziere, indem er sich den größten und erlesensten Rennstall hält, feierlich beteiligt er sich an der Grundsteinlegungszeremonie eines militärischen Kulturinstituts und lässt in übertriebener Geste die Kaiser-Schrift von Karl zum Segen des Gebäudes in die Hauswand einbetonieren. Er beschämt sein Regiment und seinen väterlichen Mentor, als er verkündet, sich als beförderter Offizier nicht mehr der Verantwortung der kulturellen Traditionspflege widmen zu wollen, sondern Rennreiter zu werden. Als sich seine Geliebte, die Gräfin Erna, schließlich den Hals aufschneidet und Graf von Pfründten ihn zum Duell herausfordert, flieht Henry nach Berlin und verletzt die militärischen Etikette von Ehre und Treue ein letztes Mal. Die Verfallserscheinungen, wie sie Bierbaum ironisch für den Adel im Kaiserreich schildert, sind auch für das Militär zu vermerken. Der Casinoalltag und geschmacklose Boudoirabende mit mürben Kulturdarbietungen von zweifelhaftem Kunstwert dominieren die Darstel-

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lung des Ausbildungsbetriebs in Henry Felix’ Regiment, das sich ansonsten vor allem durch Züchtigung der einjährigen Kadetten auszeichnet und durchzogen ist von Günstlingswirtschaft. Die ganze militärische Szenerie einer Doppelmoral von Disziplin und Erniedrigung auf der einen Seite und zügelloser Wollust auf der anderen Seite vermischt sich zudem mit dem adeligen Treiben am Hof des Fürsten, wo sich – ganz nach dem Geschmack des frisch ernannten Grafen Henry Felix Hauart – das »Würdevolle mit dem Frivolen« (PKIII28) verbindet. Wenige Jahre vor Bierbaums Roman führt 1903 ein Enthüllungsroman über ein von Intrigen und Sittenlosigkeit geprägtes Offizierskorps, das von »Gehors­ verweigerung«354, »Ehrverlust«, »Betrug, Fahnenflucht und Mißhandlungen Untergebener«355 geplagt ist, den kulturellen Niedergang des Militärs vor. Veröffentlicht werden kann der Roman mit dem Titel Aus einer kleinen Garnison nur unter dem Pseudonym Fritz von der Kyrburg, in Wirklichkeit verfasst wird er von dem beurlaubten Gefreiten Fritz Oswald Bilse. Das Buch ruft einen öffentlichen Skandal und einen Prozess vor dem Militärgericht in Metz vom 9. bis 13. November 1903 hervor, weil viele der dargestellten ranghohen Offiziere und Beamte schnell als Personen des öffentlichen Lebens zu entschlüsseln sind.356 Für Henry ist das Militär von klein auf ein Sehnsuchtsort. Als das ­uneheliche Kind von seiner Mutter Sara zur Pflege in die Hände eines oberbayrischen »Wirts­ehepaares« (PKI37) gegeben wird, erhält Henry zur Erinnerung zwei symbolische Geschenke der beiden Liebhaber seiner Mutter. Von Sturmius, dem »häß­liche[n] Musiker« (PKI34), Wagnerianer und harten Antisemiten, erhält er einen »seidenen Schlafrock« (PKI36) und vom »russischen General« (PKI34) Wladimir Golkow die »Bronze eines mit vorgelegter Lanze dahinstürmenden Kosaken« (PKI36). Der Schlafrock ist die Mitgabe seines vermutlich leiblichen 354 Kyrburg, Fritz von der (d.i. Fritz Oswald Bilse)  : Aus einer kleinen Garnison. Ein militärisches Zeitbild. Braunschweig 1903, S. 96. 355 Kyrburg, Fritz von der (d.i. Fritz Oswald Bilse)  : Aus einer kleinen Garnison, S. 237. 356 Der Fall war so präsent, dass Thomas Mann als Verteidigungsschrift für seinen Roman Buddenbrooks einen Text veröffentlichte, der zunächst unter dem Titel Ein Nachwort am 7.5.1905 im Lübecker General-Anzeiger und später als erweiterter Essay unter dem Titel Bilse und ich am 15. und 16.2.1906 in den Münchner Neuesten Nachrichten erscheint. Die Buddenbrooks sind zuvor von dem Staatsanwalt Enrico von Brocken als »Bilse-Roman« bezeichnet worden. Der Verweis auf den prominenten Lübecker Erfolgsroman diente Brocken eigentlich zur Abwehr des Vorwurfs der Verleumdung eines anderen Romans  : Der Muttersohn von Johannes Dose, der 1905 in Lübeck vor Gericht stand. Ein »Bilse-Roman« avancierte zu der Zeit zum geflügelten Schimpfwort für einen Schlüsselroman (vgl. die Anmerkung zu Bilse und ich. In  : Mann, Thomas  : Essays Band 1  : Frühlingssturm 1893 – 1918. Hg. v. Hermann Kurze und Stephan Stachorski. Frankfurt / M. 1993, S. 322).

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Vaters, er verweist wie ein Omen auf die bevorstehende Fülle an Liebesabenteuern des Jungen. Den seidenen Rock hält das Kind genauso in Ehren wie den reitenden Kosaken, doch gilt Letzterem seine ganze Faszination. Aus der kleinen Statue des Reiters zieht Henry sein Leben lang das Selbstbewusstsein, zu etwas Höherem geboren worden zu sein, weil seine Ahnen adeligen oder sogar königlichen Ursprungs sein könnten. Henry identifiziert den Kosaken aus Bronze nicht nur mit dem Glanz militärischen Erfolgs, den er mit einer kühnen Form von Freiheit, Selbstbestimmung und Ruhm verwechselt, sondern auch mit einer aristokratischen Lebensform, die ihm gerecht wird und die sich schicksalhaft durch die Bronze bewahrheiten wird. Die Verschränkung von militärischen und aristokratischen Idealen sieht Henry in der von männlicher Dominanz und uneingeschränkter Machtausübung gekennzeichneten Lebensform des Herrenmenschen. Befördert sein erster Ziehvater Henfels Vorstellung, er sei aufgrund seiner Geburt ausgewählt, eine besondere gesellschaftliche Position einzunehmen, unterstützt die protestantische Erziehung durch den zweiten Ziehvater Kraker die Demut und den Glauben an die göttliche Vorsehung einer solchen gesellschaftlichen Rangordnung. Entbehrt diese Ordnung aufgrund der Machtübernahme durch den »Knoblauch-Adel« (PKIII26), die »Portemonnaiebarone« (PKIII40), den »Klosettpapier-Adel« (PKIII27) oder den »schnell und ungeheuerlich anschwellende[n] Reichtum der Familie Krupp« (PKIII212) zunehmend ihrer Rechtfertigung, so wirkt wenigstens die Rangordnung im Militär fort. Die zunehmende Militarisierung des wilhelminischen Kaiserreichs, die Hermann Honrader anprangert, lässt sich in Bierbaums Roman also auch als eine Antwort auf den Machtverlust des Adels lesen. Die bereits erwähnte Kampfrede Hermanns gegen die fortschreitenden Tendenzen zur Aufrüstung und Militarisierung in ganz Europa tritt heraus aus dem Romangeschehen und wirkt wie ein zeitkritischer Kommentar zur politischen Lage, der weit über die satirische Kommentierung eines Simplicissimus hinausreicht (Abb.  53) und 1908, als der dritte Teil des Prinz Kuckuck erscheint, auf kommende politische Entwicklungen vorausweist  : Man steigert nicht durch Jahrzehnte und Jahrzehnte alle kriegerischen Kräfte der Na­ tionen in fortwährenden Exerzitien und durch unablässig vervollkommnete Hilfsmittel des Krieges, ohne daß gleichzeitig der Wunsch gesteigert würde, nun auch einmal zu beweisen, was man gelernt hat, wie stark und geschickt man geworden ist. Und der Wunsch wird umso mächtiger sein, je mehr der Offiziersstand allen vorgezogen wird. Gerade die besten Naturen unter den Offizieren werden es mehr und mehr als etwas Lästiges, ja Peinliches empfinden, nie zeigen zu dürfen, daß sie dieses Vorzugs würdig

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53  Umschlagtitel der sogenannten Palästina-Nummer, H. 3 des Simplicissimus im dritten Jahrgang vom 29. Oktober 1898.

sind. Das Volk selbst, das zweifellos nirgends Krieg will, hetzt die Offiziere unbewußt in eine Art kriegerische Ungeduld, indem es sie mit kaum verhehltem Spott verfolgt. Der Offizier wird zur komischen Figur in den Witzblättern. Das ist ungerecht, aber psychologisch erklärlich, wie es auch psychologisch erklärlich ist, daß viele Offiziere zum Kultus wirklich komischer Äußerlichkeiten gelangen. Aber aus diesen scheinbaren Lustspielelementen ballt sich eine dramatische Handlung zusammen. Ich bin überzeugt, daß wir noch einen großen Krieg erleben werden, obwohl die gegenwärtigen Fürsten samt und sonders unkriegerisch sind. Sie werden es in dem Momente nicht mehr sein, wo die ungeheure Waffe in ihrer Hand so mit Elektrizität geladen ist, daß die Hand von ihr bewegt wird, wie die Hand des Bauernburschen vom Strome der elektrischen Jahrmarktsbatterie. (PKIII168 f.)

Helmut Kreuzer betont deshalb zu Recht in seinem Standardwerk zur Bohèmeliteratur  : »In Bierbaums Prinz Kuckuck wird mit dem Krieg gerechnet«.357 Die Bezugnahme auf die Karikatur des Militärs in Witzblättern und der Verweis auf den Offizier als komische Figur, der ebenso an Bilses Roman erinnert, wie 357 Kreuzer, Helmut  : Die Boheme, S. 341.

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er auch seinen eigenen Roman Prinz Kuckuck und den Simplicissimus mitdenken lässt, fördert eine Konfrontation zutage  : auf der einen Seite der Kampf der bürgerlichen Zeitungen und Verlage für die Pressefreiheit und auf der anderen der Machterhalt einer aristokratischen Elite und eines Militärs, die jede geäußerte Kritik als narzisstische Kränkung und als Infragestellung ihrer Vormachtstellung verstehen. Interessant ist die Betonung der Elektrifizierung als Auslöser einer kriegerischen Situation. Als Metapher unterstreicht die Elektrifizierung den Charakter einer europaweiten angespannten und konkurrierenden Rüstungsindustrie, die nach einer Entladung im Krieg sucht und als neue Technik stellt sie eine Energiegewinnung vor, der der Roman an dieser Stelle skeptisch begegnet. 4.2.3 Rassenhygiene und Blutlehre

Die Rassen- und Blutlehre ist in Bierbaums Zeitdiagnose-Roman allgegenwärtig. Henry ist von klein auf beseelt von der Vorstellung, Träger eines besonderen Blutes zu sein. Er glaubt, dass die Reiterstatue ihm als Zeichen gegeben wurde und sie ein Hinweis darauf ist, dass er das Blut eines Thronfolgers in sich hat. Immer wieder denkt er »echt inbrünstig Habsburg-Mexiko« (PKIII13). Seine dunklere Hautfarbe und sein dunkles Haar, das ihn in der Studentenverbindung Pomerania von den »Semmelblonden« (PKII20) um ihn herum unterscheidet, fügen dem vermeintlich fürstlichen Blut noch »heißes, wildes, ungestümes Blut« (PKII20) von Mutter Sara hinzu, das ihn in seinen Augen umso mehr zum Angehörigen eines Herrschergeschlechts prädestiniert. Das Blut seiner nichtadeligen Zeitgenossen nennt Henry »Fischblut, Froschblut, Plebsblut« (PKII20), was an den bürgerlichen Korpsstudenten Stilpe erinnert, aus dessen Froschperspektive Bierbaums Vorgängerroman berichtete. Henry Felix geht zum Studium nach Jena, um dort einen wichtigen Fürsprecher und Theoretiker der Rassenkunde, Ernst Haeckel, in seinen Vorlesungen zu hören, dessen »Weltanschauung« (PKII17) er sich zu eigen macht. Die Studentenverbindung der Pomerania verinnerlicht neben der Blutlehre auch die Rassenlehre und so bekommt Henry erste Schwierigkeiten bei der Aufnahmeprozedur. Er wird dort als »Neger« beleidigt und ihm wird als »Mosaiker« (PKII26) zunächst die Aufnahme in die Pomerania verwehrt. Doch um »eine Elitebildung unter der Studentenschaft« voranzutreiben, beschließt das Korps, dass die Aufnahme nicht an der »Rassenfrage« (PKII27) scheitern solle, schließlich würde man auch einen »Chinesen auf[nehmen], wenn er ein anständiger Mensch von ritterlicher Gesinnung und bereit und imstande ist, sich uns zu assimilieren« (PKII27).

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Die Rassenhygiene und Blutlehre, aber auch die Physiognomik und Phreno­ logie erhalten um die Jahrhundertwende durch Werke wie Über den physiologi­ schen Schwachsinn des Weibes (1900) des Nervenarztes Paul Julius Möbius, Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie (1904) von Erich Haeckel, Wilhelm Bölsches allgemein verständliche Einführung in Die Entwicklungslehre (Darwinismus) (1900) sowie das ebenfalls von Bölsche verfasste und weit verbreitete mehrbändige aufklärerische Lehrwerk Das Liebes­ leben in der Natur (1898 – 1900) einen großen Popularisierungsschub. Der ­elitäre Deutschbund, der 1894 vom antisemitischen Publizisten Friedrich Lange gegrün­det wurde, propagierte ein »reines« Deutschtum, das durch eine Ahnentafel nachzuweisen wäre, um einer die Nation bedrohenden Vermischung mit nicht­arischem Blute entgegenzuwirken. Der Deutschbund wird eine der wichtigen und mitgliederstarken Institutionen der völkischen Bewegung358, Lange gründet schon 1884/85 die ebenfalls der völkischen Idee folgende Gesellschaft für deutsche Kolonisation und er ist Mitglied der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft. Der Lebensreformer Theodor Fritsch gibt ab 1887 den Antisemiten-Katechismus359 heraus und lässt in dem von ihm gegründeten Hammer Verlag neben der Zeitschrift Der Hammer – Blätter für deutschen Sinn (1902 ff.) weitere antisemitische Propagandaschriften zur Heroisierung des Ariertums verbreiten. Im Jahr 1905 wird von Alfred Ploetz unter großem öffentlichen Interesse in Berlin die Gesellschaft für Rassenhygiene gegründet, der neben Wilhelm Bölsche und ­Erich Haeckel auch Gerhart Hauptmann angehört. Bierbaum greift in Prinz Kuckuck die weit verbreitete Vorstellung einer Vererbungslehre so phrasenhaft auf, wie sie auch die zeitgenössischen öffentlichen Debatten bestimmt, und führt sie auf die beiden wichtigen Denker zurück, auf die man sich öffentlich bezieht  : Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Das kriegerische Großmachtstreben der Kaisermonarchie – so legt es der Roman in Henrys Verteidigungsrede des Militärs offen – fußt auf dem Gedanken der Vererbungslehre  : Gewiß, wir Deutschen sind nicht ruhmsüchtig, aber, wie untermischt mit anderen Rassen wir auch sein mögen, der Grundstoff unseres Blutes ist germanisch, und die Ger358 Vgl. Gossler, Ascan  : Friedrich Lange und die »völkische Bewegung« des Kaiserreichs. In  : Archiv für Kulturgeschichte 83 (2001), S. 377 – 411. 359 Seit 1907 trägt die Schrift dann jenen Titel, unter dem sie bis heute bekannt ist  : Handbuch der Judenfrage. Das propagandistische Werk erreichte bis 1944 immer wieder erweiterte Auflagen mit insgesamt 330.000 Exemplaren  ; es wurde die erfolgreichste von Fritschs rund vierzig Publikationen.

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manen sind von Natur kriegslustig. ›Wo kühne Kräfte sich regen, da rat’ ich offen zum Krieg‹ läßt Richard Wagner singen, und Nietzsche weiß es noch besser und deutscher  : ›Der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.‹ Hat doch sogar ein deutscher Professor vom ›frischen, fröhlichen Krieg geredet‹. (PKIII169)

Ironisch spielt der Roman mit der Vorstellung von der Reinheit des Blutes. So kommen gleich mehrere Figuren auf die Idee, den Tod durch Vergiften des Blutes herbeizuführen. Auf diese Technik verfallen die Gräfin Erna und der Okkultist Jan del Pas am Ende der Romans. Die Gräfin Erna vergiftet sich selbst langsam mit »Arsenik« (PKIII147), um der Schmach zu entgehen, von Henry wegen einer Bürgerlichen als Geliebte verlassen zu werden. Der dem Okkultismus huldigende Jan del Pas, der die Runde der »Purpurnen Wolke« aufsucht und sich dort in Berta verliebt, erscheint Berta wiederum wie der »Vollstrecker von Karls Wille« (PKIII218). Berta unterliegt seinen Verführungskünsten und wird von ihm schwanger. Del Pas und Berta führen von da an im Verborgenen eine Beziehung und schmieden den Plan, Henry zu vergiften. Jan del Pas verabreicht Henry das Gift getarnt als Heilmittel über ein halbes Jahr. Doch Henry durchschaut die Intrige und wehrt sie ab. Er schauspielert amüsiert den dahinsiechenden und gehörnten Ehegatten. Die ganze Szene erhält am Ende des Romans einen wüst-okkulten dekadenten Zug. Doch wirklich zu Fall bringt Henry schließlich die Wahrheit über sein Blut. Er muss verarbeiten, dass er als glühender Antisemit (»Antisemitismus ist Instinktsache, Sprache des Blutes«, PKIII24), der er im Laufe seiner Entwicklung durch die Studentenzeit, das Militär, seine übertriebene Wendung zum protestantischen Glauben und schließlich als Kandidat einer konservativ-antisemitischen Partei geworden ist, selbst jüdischer Abstammung ist. Es gelingt ihm nicht, diesen ideologischen Widerspruch für sich produktiv aufzulösen, und er fährt sich mit seinem Auto zu Tode. 4.2.4 Völkischer, rassistischer und christlicher Antisemitismus

Im ersten Teilband des Romans unterstreicht das Kapitel In fremden Nestern die besondere Lage, in der sich Henry Felix Hauart befindet. Da seine bayrischen Zieheltern früh sterben, die Bremer Familie Kraker, die ihn aufnimmt, ihn nur um sein angehendes Erbe beneidet und es ihn weder im Studium noch im Regiment länger hält, ist er ein junger Mann, der zwischen den Welten in seiner gesellschaftlichen Rolle etwas haltlos wirkt. Die »kluge Sara« (PKI24), seine Mutter, ist die einzige Figur, die über alle drei Bände zu ihm hält, ihm in schwierigen

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Situationen zu Hilfe eilt und sein »Geheimnis« (PKII134) kennt  : Henry Felix alias Prinz Kuckuck ist das Kind eines antisemitischen Wagnerianers oder wahlweise ebenso fanatisch-antisemitischen Kosaken und einer kreolischen Jüdin, die sich als emanzipierte und selbstbewusste junge Frau nicht an die Rolle der Mutter binden wollte. Henry selbst wird seine Herkunft erst am Ende des Romans offenbart und das stürzt ihn in eine so ausgeprägte Identitätskrise, dass er sich umbringt. So unstet sein Leben verläuft, so stabil ist seine Selbstwahrnehmung und das Feindbild, das ihn in seiner persönlichen Entwicklung prägt  : Henry entwickelt sich zu einem engagierten Verfechter eines völkischen Antisemitismus. Diese antisemitische Grundeinstellung findet sich im Roman jedoch nicht nur beim Titelhelden, sondern sie durchdringt das politische Selbstverständnis aller Gesellschaftsschichten. Es beginnt mit den Affären der Mutter von Henry Felix. Beide Liebhaber stammen zwar aus radikal verschiedenen gesellschaftlichen Milieus, dem Militär und dem Kunstbetrieb, doch sie sind beide überzeugte Antisemiten  : Die schöne Jüdin war glücklich mit ihren beiden verliebten Antisemiten, deren Rassenhaß sie auf so angenehme Weise ad absurdum führte, und die ihr dafür so viel Glut und Verehrung entgegenbrachten, daß in der Tat für die ganze übrige Judenheit nur recht wenig Liebe mehr übrig bleiben konnte. (PKI32)

Der Roman parodiert den Antisemitismus, indem er die antisemitische Haltung mit einem Unmaß an philosemitisch-erotischer Zuneigung aufrechnet und ihn so der Lächerlichkeit preisgibt. Doch zeigt sich gleich zu Beginn des Romans, wie salonfähig Antisemitismus im wilhelminischen Kaiserreich ist. Den Grundstein für Henrys eigenen Antisemitismus legt der überzeugte religiöse Antisemitismus des Bremer Ziehvaters Kraker, der bei der Testamentseröffnung fassungslos aufschreit  : »Henry ist ein Jodenjonge  !« (PKI164) Chauvinistisch sind die Tendenzen des Antisemitismus in der Jenaer Studentenverbindung Pomerania360 (»alles Jüdische ist Unterschicht«, PKII30)  ; und 360 In Jena existierte die Verbindung Pomerania von 1800 bis 1806. Sie trug jedoch die Farben BlauWeiß. Ein Corps Pomerania existierte um 1890 – in der Zeit spielt der dritte Band des Prinz Kuckuck – nur noch in Greifswald und dort mit langer Tradition. Aber auch dieses Korps führte die Farben Silber-Blau-Silber und nicht das »orange-blau-silberne Band« (PKII23), wie es das Jenaer Corps im Prinz Kuckuck trägt. Bierbaum selbst war Mitglied des Corps Thuringia Leipzig und achtete das Verbindungswesen. Die Zuordnungen der genannten Korps in seinem Stilpe-Roman sind auch korrekt, so dass nur gemutmaßt werden kann, dass Bierbaum rechtliche Gründe bewegt haben könnten, eine Studentenverbindung im Prinz Kuckuck im Zusammenhang mit antisemitischen Tendenzen nicht direkt zu porträtieren. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Prinz

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unter den Vertretern des Adels und der höfischen Gesellschaft ist er motiviert von einer reaktionären Modernekritik und Besitzstandswahrung, die den Juden als Nutznießer der kapitalistischen Moderne fürchtet (»Das Geld frißt uns auf. Ablösung vor  ! heißt’s auch in der Weltgeschichte. Jetzt kommen die Juden dran«, PKIII158). Die Herrenmenschenideologie führt zur Überzeugung, dass »die Juden stark sind« (PKII27) und eine drohende jüdische »Verunreinigung« der Rasse nicht zugelassen werden dürfe (»so wenig der deutsche echte Adel verjudet werden kann«, PKII27). Die Auffassung, dass das Judentum trotz der projizierten Überlegenheit minderwertige, parasitäre und bedrohliche Elemente in sich trägt, durchzieht die angstbesetzte Vorverurteilung unter den Korpsstudenten im selben vehementen Maße, wie sie den Antisemitismus der Regimenter und Garnisonsrangordnungen kennzeichnet  : Ich besitze nicht schöne Zuversicht, daß der S.C. [Senioren-Convent  ; BZ] gegen Verjudung gefeit ist. Er ist es so wenig, wie alles übrige Deutsche. Wir sind in demselben Maße schwach, wie die Juden stark sind. Ich habe, gottverdammich, Respekt vor dieser in der Tat auserwählten Nation, die uns mit einer gefährlichen Liebe liebt. Es ist die Liebe des Efeus zur Eiche. Jedenfalls möchte ich einstweilen nicht zu den sonderbaren Forsttheoretikern gehören, die dieses üppige Schlinggewächs im deutschen Walde eigenhändig pflegen, und sei es auch bloß innerhalb des Pflanzengartens der deutschen Korps. (PKII27 f.)

Der völkische Antisemitismus des Militärs besaß eine besondere Ausprägung  : In seinem patriotischen und verleumderischen Charakter unterstellte er den Juden die Verschlagenheit und Unehrlichkeit von Vaterlandsverrätern. Gezeigt hatte das zuvor in Frankreich die Dreyfus-Affäre, die vor allem durch den Einsatz Émile Zolas zum Skandal geriet, als er mit seinem Aufruf »J’accuse …  !« am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore den institutionellen Antisemitismus innerhalb des Militärapparats und der Gerichte öffentlich verurteilte361. Das antisemitische Motiv des Judas als Verräter bzw. die Auffassung, Juden hätten andere Kuckuck nahmen bereits viele deutsche und habsburgische Studentenkorps keine Juden mehr als Mitglieder auf. Vgl. Kampe, Norbert  : Studenten und »Judenfrage« im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus. Göttingen 1988, S. 193. 361 »Das J’Accuse stellt innerhalb eines Tages ganz Paris auf den Kopf«, schreibt Léon Blum 1935, es »war eine Summierung der Beweise, ein Angriff auf die schuldigen, ein lauter, durchdringender Hilferuf, und gleichzeitig war es eine Herausforderung, eine kalkulierte Provokation, um genau jenes Verfahren zu erzwingen, um den öffentlichen Prozeß (gewaltsam) zu eröffnen, der den geheimen Freispruch Esterhazys annulieren sollte.« (Blum, Léon  : Beschwörung der Schatten. Die

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Loyalitäten als die zur Nation, waren der Grund für die sofortige Verurteilung und Verbannung des Hauptmanns Dreyfus. Zolas Bekenntnis ruft eine breite Aufmerksamkeit für den staatlich begünstigten Antisemitismus in Frankreich hervor und entfacht eine öffentliche moralische Debatte um die Rolle des Intellektuellen. Zola oder Dreyfus werden in Prinz Kuckuck nicht erwähnt, dennoch sind der Skandal und die politischen Auseinandersetzungen dem Leser präsent. Einen öffentlichen Skandal, der den im deutschen Kaiserreich grassierenden Antisemitismus offenkundig macht, greift Bierbaum dafür direkt auf und nimmt ihn zum Anlass für ein Streitgespräch zwischen zwei Künstlern »von mittlerem Alter« (PKI135) über das Verhältnis von Christentum und Judentum. Die Form eines eingeschobenen, die Handlung nicht tangierenden, reflektierenden Kapitels ist einmalig im Prinz Kuckuck, was die herausragende Bedeutung unterstreicht, die Bierbaum dem aufklärerischen Umgang mit den antisemitischen Tendenzen seiner Zeit beimisst. Ein Zwischenstück als Kommentar (PKI135) gibt ein Gespräch im Nachbarabteil des Zugs wieder, in dem der junge Henfel mit seiner Stiefmutter Sanna Kraker nach Bremen reist. Ein Berliner und ein sächsischer Maler liegen im Disput über die angemessene künstlerische Darstellung von Christus und das Verhältnis von Christen- und Judentum. Das Gespräch lenkt die Aufmerksamkeit auf die Emanzipation der Juden und ihre Assimilierung im 19. Jahrhundert sowie auf die Problematik des Laizismus. Waren in Frankreich nach der Dreyfus-Affäre Gesetze erlassen worden, die die staatlichen Institutionen der Judikative vor dem Einfluss der Kirche schützen und eine Trennung von Kirche und Staat durchsetzen sollten, so bleibt im deutschen Kaiserreich unter Wilhelm  II. die institutionelle Verknüpfung in der Ausbildung und in der Einflussnahme der Kirche auf politische Entscheidungsprozesse unangetastet. Der Berliner Maler spricht Mundart  : […] d.h. sie nahmen ihm [dem Christentum  ; BZ] alles Jefährliche, alles was sie beim Rejieren genieren konnte, indem sie’s zur Staatsrelijion machten. Sie haben sich wohl selbst jewundert, wie leicht det jing. Et jing wie jesalbt, um nich zu sagen, wie jeschmiert. Und so jeht et heute noch. […] Es hat die Herrschenden, janz jleich wie sie als Staat firmiert haben, nicht im mindesten scheniert, auf jenau so wüste und blutige Manier Weltjeschichte zu machen, wie es von jeher jemacht worden ist. […] Det’s im Jeschäftsleben jenau wie im Staatsleben. Im Dunkeln is jut munkeln, wie det neieste Volkslied so scheene tingeltangelt. Im Schatten des Kreuzes läßt sich dem Profite von Affäre Dreyfuß. Aus dem Französischen, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Joachim Kalka. Berlin 2005, S. 77 f.)

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wegen der dusteren Beleuchtung mit jrößter Sicherheit nachschleichen. Es ist dasselbe wie mit der braunen Soße in der Malerei. Da läßt sich och am besten schwindeln, und man jilt dabei noch für vornehm. En plein air jeht det nich so bequem. (PKI140)

Die Vereinnahmung religiöser bzw. christlicher Werte aus politischem Kalkül und die Verquickung von Kircheninteressen und Machtinteressen des Staats werden von den beiden Malern ebenso kritisiert, wie sie das Aufklärerische der modernen Malerei des Pleinair hervorheben. Die Szene im Coupé spielt vor dem politischen Hintergrund einer großen antisemitischen Kampagne im Kaiserreich, die durch ein Gemälde ausgelöst wurde. Der Maler mit dem Berliner Dialekt, der »mit einem Bilde Aufsehen und Anstoß erregte, das den jungen Christus im Tempel zeigte« (PKI135), ist für den Leser unschwer als Max Liebermann zu entschlüsseln. Sein Gemälde Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Abb. 54) wird 1879 auf der Münchner »Internationalen Kunstausstellung« erstmals gezeigt und zieht einen Aufschrei etablierter Kunstkritiker und Kirchenfunktionsträger nach sich. Das Gemälde wurde nicht aufgrund seiner realistischen und naturgetreuen Darstellung von Christus als armem Jungen mit zerschlissenen Schuhen verurteilt, sondern weil Christus mit eindeutig jüdisch kodierten Attributen versehen ist, eine Darstellung, die das Christentum beleidige. Das Bild zeige »den häßlichsten, naseweisesten Juden-Jungen, den man sich denken kann«, so der prominente Historienmaler und Kunstkritiker Friedrich Pecht in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, und die Gelehrten zeigten das »Pack der schmierigsten Schacherjuden«362. In der Folge wächst die Kritik am jüdischen Maler Max Liebermann, die zunehmend antisemitische Züge trägt. Eine tragende Rolle in der antisemitischen Verleumdungskampagne spielt der Berliner evangelische Hofprediger Adolf Stoecker. Er hält am 26.  September 1879 eine öffentliche Rede  : Notwehr gegen das moderne Judentum. In der Folge gründet der völkische Antisemit und Journalist der Gartenlaube Wilhelm Marr noch am gleichen Tag eine erste Vereinigung antisemitischer Männer, die Antisemitenliga. Grenzt sich Marrs Radauantisemitismus von Stoeckes konservativ-klerikal fundiertem Antisemitismus ab,

362 Pecht, Friedrich  : Die Münchner Ausstellung II. Die religiöse und die Historienmalerei. In  : Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 216, 4.8.1879. Zitiert nach Howoldt, Jenns E.: Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Zwischen Kritik und Anerkennung. In  : Max Liebermann. Der Realist und die Phantasie. Hg. v. d. Hamburger Kunsthalle. Hamburg 1997, S. 105 – 108, hier S. 107. Siehe auch Fürbis, Hildegard  : Der ›Fall‹ Liebermann. Entangled histories – Antisemitismus und Antimoderne im Streit um das Gemälde »Der zwölfjährige Jesus im Tempel« (1879), und Martin Faass (Hg.)  : Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik. Max-Liebermann-Gesellschaft, Berlin 2009.

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54  Max Liebermann: Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1897).

indem er die Angst vor einem »weltgeschichtlichen Triumpf des Judentums«363 beschwört und den Grundstein für die moderne antisemitische Verschwörungstheorie vom jüdischen Streben nach der Weltherrschaft legt, verstärken beide Lager die antisemitische Stimmung in Deutschland. In breiter Allianz bürgerlicher, christlicher und aristokratischer Kreise wird 1880/81 die sogenannte Antisemitenpetition364 unterzeichnet, die die Rücknahme grundlegender Gleichstellungsgesetze für Juden, die 1869 verfassungsrechtlich verankert worden waren,365 verlangt. Stoecker ist Erstunterzeichner und Marr unterstützt den Aufruf mit seiner Antisemitenliga. Ein Jahr später, 1882, wird ein fraktionsübergreifender Erster Internationaler Antisemitenkongreß in Dresden veranstaltet, der in den Folgejahren in anderen Städten wiederholt wird und zur Popularisierung antisemitischer Parolen dient. Adolf Stoecker366 ist weiterhin als Vertreter der von 363 Marr, Wilhelm  : Der Sieg des Judentum über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Bern 1879, S. 4. 364 Vgl. Massing, Paul W.: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt / M. 1986, S. 43. 365 Zunächst für die Verfassung des Norddeutschen Bundes und ab 1871 für das deutsche Kaiserreich. 366 Als Figur kommt Adolf Stoecker schon in Stilpe vor, wobei dort nur auf seine protestantische

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55  Fritz von Uhde: Das Tischgebet (Komm, Herr Jesu, sei unser Gast) (1885).

ihm gegründeten Christlich-sozialen Partei eine politische Leitfigur und nimmt nach Bis­marcks politischem Abgang Einfluss auf die Deutschkonservative Partei. Der sächsisch sprechende zweite Maler, der sich in dem Zugabteil mit dem Berliner unterhält, ist identifizierbar als Fritz von Uhde. Der in Sachsen geborene Maler, dem Bierbaum 1893 eine eigene Werkmonographie widmet, erwirbt nach dem Skandal das Gemälde von Liebermann im Tausch. Dieses besagte Gemälde Der zwölfjährige Jesus im Tempel dient zukünftig wiederum Uhde als Bild- und Motivvorlage »seines proletarischen Christus«367, den er als motivische Figur seit 1884 selbst entwickelt (Abb. 55). Der christliche Antisemitismus ist sowohl unter Wilhelm II. als auch in der K.-u.-k.-Monarchie eine der treibenden politischen Kräfte. In Prinz Kuckuck Prüderie angespielt wird (»Unser Theater heißt doch ›Momus‹ und nicht ›Stöcker‹. Seid ihr denn Predigtamtskandidaten  ?«, S181). 367 Brand-Claussen, Bettina  : Uhdes Christusbilder – Eine Erfolgsgeschichte. In  : Hansen, Dorothee (Hg.)  : Fritz von Uhde. Vom Realismus zum Impressionismus. Ostfildern 1998, S.  21 – 31, hier S. 23.

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fängt ihn Bierbaum in seinen verschwörungstheoretischen, diffusen Aussagen und seiner wirkmächtigen Suggestionskraft symptomatisch in der Figur des Wiener Jesuitenpaters Cassian ein. Felix Hauart unterliegt Cassians Beschwörungskünsten, die ihn das »Dämonische des Juden« (PKIII251) fürchten lehren und von der Notwendigkeit überzeugen, den Juden (in sich) zu vernichten  : Ich dagegen rege den Ehrgeiz des tätigen Christen in ihm auf, indem ich ihm zeige, daß er seine Freiheit von allem Jüdischen zu beweisen habe. – Wir brauchen Kämpfer gegen das Judentum. Wehe uns, wenn wir nicht danach trachten, diesen gefährlichsten Feind zu vernichten, der darauf aus ist, alle Macht an sich zu reißen. Wer Augen hat, zu sehen, der weiß, wie schrecklich weit ihm das bereits gelungen ist, und er kennt auch das verruchte Ziel  : Ecrassez l’infame  ! Das siegende Judentum wird der siegende Antichrist sein. (PKIII252)

Pater Cassians heilsbringerische Predigten legen in der Form des inneren Monologs ihren instrumentellen Charakter wie den sie motivierenden Antisemitismus in all seinen Widersprüchen offen. Cassians antisemitische Verschwörungstheo­ rien erwachsen in Prinz Kuckuck aus der Furcht vor einem assimilierten Juden­ tum, das durch den Übertritt zum Christentum der Machtausbreitung des jüdischen Geistes den Weg bereitet. Die Furcht vor einem in dieser Weise erfolgreichen jüdischen Antichristen und dem Angriff auf christliche Moralvorstellungen in der Rede Cassians verbindet den christlichen Kulturpessimismus einer Angst vor der als entartet geltenden, dekadenten Moderne mit seiner vermeintlichen Ursache  : der jüdischen Identitätsverleugnung. Cassian unternimmt – getrieben durch seinen Antisemitismus – den Versuch der christlichen Bekehrung »des hochmütigen, schändlichen, durch keinen Fluch zu demütigenden Judentums« (PKIII251) des frömmelnden Prinzen Kuckuck, Henry Felix. Nietzsches Moral- und Religionskritik – der Ausruf des aufklärerischen »Ecrasez-l’infame  !« am Ende seiner Schrift Ecce homo – kehrt sich bei Cassian unter antisemitischen Vorzeichen gegen Henry Felix und bringt die Doppelmoral der christlichen Frömmigkeit zutage, die den »wild gewachsenen Katholizismus« (PKIII248) des Prinzen Kuckuck einzuhegen wünscht, um am Ende über »seine Millionen« (PKIII248) verfügen zu können. Im Disput mit Cassian sieht sich Henry Felix bestärkt, als Kandidat der österreichischen Partei des christlichen Antisemitismus deren politische Ideen zu verbreiten, seine Identität als assimilierter Jude zu leugnen und – wie Cassian beschwört – sich selbst zu bekämpfen. Die im Roman implementierten politischen, sozialen und kulturellen Anspielungen und tagesaktuellen Auseinandersetzungen, die zum Teil ironisch gebro-

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chen oder sarkastisch kommentiert werden, stehen der vordergründig kapriolenreichen Kolportagegeschichte zunächst entgegen. Bierbaums »Zeitroman«368 über einen eitlen jungen Mann, der Reise- und Liebesabenteuer besteht und selbst zum Mörder wird, wirkt durch die kommentierenden und kritischen Momente wie ein erzieherisches Programm. Bierbaum entwirft im Gesellschaftsroman eine Form der Unterhaltungskunst, die auf der Ebene der Geschichte eine spannende Erzählung bietet, wie sie in Schund- oder Familienblattromanen ein Massenpublikum begeistert. Doch in einem zweiten Lektüreschritt zeigt sich der Roman als eine Zeitkritik, die zur Gesellschaftskritik und zu einer öffentlichen Debatte anregen will. Die Literatur, der »reine Roman«, wird in dieser Konstellation für Bierbaum eine Bühne zur Kommentierung politischer und kultureller Vorgänge. Durch die Anspielungen auf historische und politische Ereignisse und Figuren, die genauer im letzten Kapitel untersucht werden sollen, wirkt der Roman und somit die Literatur als Dauerkommentarbühne in die Öffentlichkeit hinein. Diese Form einer Literatur, die »Wirkung« zeigt, die ins Leben wirkt, hatten sich die Modernen nicht nur im Stilpe und im Prinz Kuckuck, sondern tatsächlich als literarische Avantgarde seit dem Naturalismus auf die Fahne geschrieben. Berichtet Prinz Kuckuck vom Scheitern vieler experimenteller poetischer Projekte der Modernen, so verpflichtet sich der Roman selbst dem Programm einer neuen modernen Ästhetik, die als ästhetische Kommentarbühne Einfluss auf die Öffentlichkeit ausübt. Die Kulturkritik des Prinz Kuckuck lässt sich als konsequente Fortsetzung des lyrischen Theaters Bierbaums lesen, das in der Praxis des Trianon-Theaters scheiterte. Dass sich der Kolportageroman innerhalb von kürzester Zeit in über 100.000 Exemplaren369 verkaufen lässt, überzeugt Bierbaum zunächst davon, dass sein Unternehmen einer aufs Massenästhetische gerichteten Kulturkritik, die erzieherisch wirksam werden kann, erfolgreich sein könne. Das Erfolgskonzept einer erotischen und skandalträchtigen Geschichte, die kulturästhetische Beobachtungen und Kritik leichter zugänglich und spannend konsumierbar werden lässt, scheint retrospektiv gleichzeitig sowohl der Schlüssel zum Erfolg als auch der Grund für das Scheitern des erzieherischen ästhetischen Programms von Prinz Kuckuck zu sein. Dies zeigt auch die im Folgenden diskutierte Rezeptionsgeschichte des Romans.

368 So heißt es in der Werbe-Annonce in der Berliner Börsen-Zeitung vom 26.10.1906. 369 Thomas Manns Buddenbrooks war lange nicht so erfolgreich wie Prinz Kuckuck. Erst 1920, 19 Jahre nach dem Erscheinen der 1. Auflage, erreicht der Roman die 100.000er-Auflage.

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4.3 Kulturkritik als Kolportage(roman) – Bierbaums Scheitern eines populären Programms ästhetischer Erziehung Wenn Bierbaum mit Prinz Kuckuck den Versuch unternimmt, einen Ge­sell­ schafts­roman zu entwickeln, so fallen zunächst der gemessen an seinem übrigen Werk ungewohnt ernste Stil aller drei Vorreden zu den einzelnen Bänden wie auch die politische und zeitliche Verortung des Geschehens um seinen Helden auf. Der Ton und die thematischen Schwerpunkte, die in den Vorworten gesetzt werden, heben sich ab vom ansonsten ironisch und verspielt werbenden Ton anderer Vorworte, die zum Teil für sich stehende ästhetische Manifeste darstellen.370 Ist der erste Band noch dem aus anderen Werken bekannten Rollenspiel-Verfahren Bierbaums verpflichtet, wenn die Einleitung »An meinen lieben und sehr verehrten Freund Holger Drachmann« gerichtet ist, so gibt sich die Anrede im zweiten Band nüchtern »An meine Leser« und im dritten Band fällt die Adressierung weg und es heißt formell nur noch »Vorwort«. »Ich bin einigermaßen gespannt darauf«, schreibt Bierbaum in diesem letzten, sehr kurzen und auf den 3. Oktober 1907 datierten Vorwort, »mit welchen Phantasieschlüsseln die eifrigen Ausbeuter des Prinzen Kuckuck die ›Geheimnisse‹ des dritten Bandes erschließen werden.« (PKIII7) Dies mag ein Hinweis darauf sein, in welcher von Bierbaum zwar intendierten, jedoch beschränkten und vereindeutigenden Weise der Roman in der Öffentlichkeit wahrgenommen und gelesen wird. Hatte sich der Autor in der Zueignung des ersten Bandes noch gewünscht, mit dem Prinz Kuckuck nicht nur den »Trieb nach Unterhaltung« zu befriedigen, sondern den »Erkenntnistrieb, Trieb nach Klarheit« (PKI10) zu fördern, so fühlt er sich genötigt, im letzten Band die Rezeption schon in der Vorrede zu lenken und vor allzu schneller Identifikationen der fiktionalen Erzählung mit der Realität zu warnen. Er wehrt sich gegen diejenigen, »die nicht harmlose Ausleger dieses Buches, sondern verleumderische Untersteller sind« (PKIII7), und schreibt  : »Sie davon zu überzeugen, dass es in dieser Dichtung keine anderen Beziehungen gibt als solche, die aus dem Plan des Werks hervorgehen, gebe ich auf.« (PKIII7)

370 Vielen von Bierbaums Vorworten wie Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede (Deutsche Chansons, 1900) oder An den Jungfernbund zu Straßburg (Steckbriefe, 1900) liegt etwas Programmatisches inne und sie kommen ästhetischen Manifesten gleich. Die drei Vorreden des Prinz Kuckuck treten dagegen hervor durch die Forderungen nach moralischer Redlichkeit und künstlerisch-gesellschaftlicher Verantwortung.

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Dabei sollten doch gerade das Spiel mit Figuren des öffentlichen und kulturellen Lebens und die Verbindung und ästhetische Bearbeitung von gesellschaftspolitischen Ereignissen und zeitpolitischen Fragestellungen den erotischen Abenteuerroman in ein Instrument verwandeln, das einem Massenpublikum durch die Form der leichten Unterhaltung einen Bildungsgenuss bietet. Das Verfahren einer Erzählweise, die versteckt Hinweise auf real existierende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gibt, erklärt Bierbaum präzise  : Denn, mag Teleologie der wirklichen Welt gegenüber auch vielleicht ein müßiges Spiel von geistreichen Leuten sein  : die Welt eines Romans, als Menschenwerk, ist von Grund auf durch Zwecke bestimmt. Daß ich mir erlaubt habe, in Nebenfiguren ein paar mehr oder weniger frei gezogene Silhouetten bekannter Persönlichkeiten zu zeichnen, wird, hoffe ich, nicht als Verstoß gegen diesen Grundsatz empfunden werden. Sie haben lediglich den Zweck, zeitbestimmend zu wirken, und ich würde an ihrer Stelle auch wirkliche Portraits mit Namensnennung haben setzen können, wenn mir das nicht stilwidrig und in einem gewissen Sinne anmaßend vorgekommen wäre. (PKI11 f.)

Haben die Anspielungen also doch die Provokation zum Zweck, so kalkuliert Bierbaum nicht nur mit einem möglicherweise verkaufsfördernden und öffentlichkeitswirksamen Enthüllungsskandal, sondern zielt darauf ab, sich den Voyeurismus des Lesers zunutze zu machen.371 Durch das Wiedererkennen historischer Ereignisse und politischer Debatten, durch die Entschlüsselung zum Teil diskreditierter Personen des öffentlichen Lebens in Prinz Kuckuck soll während der Lektüre ein reflexiver Prozess angestoßen werden. Die literarische Verarbeitung vieler Personen des künstlerischen Lebens stellt gleichzeitig eine Selbstkritik der Generation der Modernen um die Jahrhundertwende dar, als deren Protagonist sich Bierbaum selbst und viele andere Vertreter nichtakademischer Kunstströmungen sieht. Durch die aufsehenerregende Trennung der beiden jungen Herausgeber Rudolf Alexander Schröder und Walter Alfred Heymel von der Insel-Zeitschrift und die widersprüchlichen Aussagen über den Grund dieses Zerwürfnisses in der Öffentlichkeit372 ist die Erwartung gegenüber einem als Schlüsselroman angekündigten neuen Werk Bierbaums sicherlich schon vorab fokussiert auf Pikantes aus 371 Schon der Titel Prinz Kuckuck spielt mit dem Zitat eines zuvor erschienenen Romans von Julius Meier-Graefe. Meier-Graefe veröffentlicht 1897 die Roman-Trilogie Die Keuschen. Im Untertitel wird eine ganze Romanreihe angekündigt  : Eine Folge von Romanen über das Liebesleben im neunzehnten Jahrhundert. Erschienen sind im ersten Jahr der erste Teil, Fürst Lichtenarm, und zweite Teil, Der Prinz (1897), auf den Bierbaum möglicherweise anspielt. 372 Über die Geschichte des frühen Insel-Verlags und das Zerwürfnis zwischen den drei Herausgebern

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dem Redaktionsalltag oder dem Leben der genannten Personen. Dabei stellen ästhetische Versteckspiele und Schlüsselromane zu der Zeit keine Besonderheit dar. Im Gegenteil, sie erfreuen sich äußerst großer Beliebtheit und es entsteht »eine Welle von Schlüsselromanen um 1900«373. Neben Thomas Manns Buddenbrooks (1901) porträtiert beispielsweise Das Peter Hille-Buch (1906) von Else Lasker-Schüler einzelne Personen der Berliner Bohèmeszene, Oscar Wagners »wahre Erzählung aus dem Leben«374 bildet unter dem Titel Berliner Zigeuner (1903) die Berliner Bohème ab, Ernst von Wolzogen schildert in Das Lumpengesindel (1892) den Friedrichshagener Dichterkreis unter Verwendung »bekannter Anekdoten«375, Franz Servaes porträtiert Berliner Künstlerfiguren in Gärungen. Aus dem Leben unserer Zeit (1898), Frank Wedekind veröffentlicht mit dem Schauspiel Oaha (1908) eine Travestie-Komödie auf Albert Langen und den Simplicissimus, Josef Ruederer schreibt die Münchener Satiren (1907) und Franziska von Reventlow kolportiert die Münchner Bohèmeszene und ihre eigene Rolle als Gräfin des Kosmiker-Kreises in ihrem Roman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913). Heinrich Mann porträtiert Bierbaum in der Figur des Schriftstellers Pömmerl in seinem Roman Die Jagd nach Liebe (1903)376. Bereits einige Jahre früher hält Michael Georg Conrads Roman Was die Isar rauscht (1888) Anspielungen auf real existierende Bohèmiens bereit, eine Figur in dem Roman, die sexuell selbstbestimmt und emanzipiert agiert, heißt Bertha. Bierbaum reiht sich mit Prinz Kuckuck also ein in eine Vielzahl von Romanen und anderen Texten, die trotz ihrer ästhetischen Autonomie als Werk einen zusätzlichen Reiz ausüben, indem geheimes oder intimes Wissen über Personen des öffentlichen Lebens offenbart oder indem nur mit der Anmutung, hier würde enthüllt, gespielt wird. Das literarische Spiel dient so durchaus auch der eigenen Legendenbildung und Mystifizierung und wirkt mit seinem Personenkult selbst an dem Erhalt und der Popularisierung einer literarischen Öffentlichkeit mit. Schon die Figuren des Cénacle in Bierbaums Stilpe gibt Klaus Schöffling einen guten Überblick  : Schöffling, Klaus  : Die ersten Jahre des Insel Verlags 1899 – 1902. Begleitband zur Faksimileausgabe der Zeitschrift »Die Insel«. Frankfurt / M. 1981. 373 Rösch, Gertrud Maria  : Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004, S. 182. 374 Hille, Almut  : Identitätskonstruktionen. Die »Zigeunerin« in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2005, S. 19. 375 Bernhardt, Rüdiger  : Literatur in Künstlerkolonien. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In  : Pese, Claus (Hg.)  : Künstlerkolonien in Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels. Nürnberg 2001, S. 195 – 219, hier S. 196. 376 Die Entschlüsselung findet sich bei Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum, S. 11.

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sind in ihren Anspielungen auf Künstler der Berliner Bohèmeszene Ausdruck einer solchen Selbststilisierung. Ute Pilar schildert, wie die Rezeption des Prinz Kuckuck und die sehr begrenzte literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Roman durch den Vorwurf überformt wurde, Bierbaum habe in der Figur Henry Felix Hauart aus Rache an dem Zerwürfnis über Die Insel Alfred Walter Heymel satirisch überzeichnet. Laut Pilar ging es um einen Streit um das Honorar der Deutschen Chansons im Insel-Verlag. Die Anthologie ist vor allem mit Bierbaums Namen verbunden, Heymel verankert die Herausgeberschaft des Liederbuchs rechtlich jedoch geschickt im Insel-Verlag. Am Verlagsgeschäft des ausgegründeten Insel-Verlags wiederum ist Bierbaum von Beginn an nicht beteiligt, da der Verlag unabhängig von der Zeitschrift ist und unter der Leitung von Rudolf von Poellnitz steht. Vom publizistischen Erfolg des Bandes finanziell profitieren konnte Bierbaum in dieser Konstellation nicht, obwohl er mit seinem bekannten Namen und dem Vorwort nicht unerheblich zum Erfolg beigetragen hatte. Die Tantiemen gingen an Heymel.377 Norbert Honsza deutet ebenfalls einen Zusammenhang mit dem Zwist zwischen den Herausgebern Heymel, Schröder und Bierbaum an  : »es kam zu einem Zerwürfnis, was im Schlüsselroman Prinz Kuckuck auf eine wohl etwas geschmacklose Weise in süßer Rache zum Ausdruck kam«.378 Der Kunsthistoriker Josef August Beringer widerspricht in seinen Erinnerungen an Bierbaum wiederum der ebenfalls weit verbreiteten Erklärung, dass die Differenzen der Herausgeber dem Umstand geschuldet gewesen seien, dass sich Bierbaum finanziell gegenüber den beiden unerfahreneren Herausgebern bevorteilt hätte  : Daß die Saga von Bierbaums ›Ministergehalt‹ eine aus Mißgunst erfundene Fabel war, daß Bierbaum auf eigene Produktion fast verzichten mußte und daß die drei der ›Insel‹ gewidmeten Jahre zwar für die Literatur eine verdienstvolle, aber für Bierbaum selbst eher verhängnisvolle Sache waren, weil sie ihn von der Produktion fernhielten, war mir klar.379

Auf die Ministergehalts-Legende geht auch Walter Hettche ein, wenn er das verlegerische Verhältnis von Bierbaum und Heymel im Jahr 1902 beschreibt  : 377 Pilar, Ute v.: Studenten-, Künstler- und Bohemefiguren im Erzählwerk Otto Julius Bierbaums, S. 92. 378 Honsza, Norbert  : Nachwort. In  : Bierbaum, Otto Julius  : Studentenbeichten. Sonderbare Geschich­ ten. Hg. v. Norbert Honsza. Berlin 1990, S. 169. 379 Beringer, Joseph August  : Im memoriam Otto Julius Bierbaum. In  : Brandenburg, Hans  : Otto Julius Bierbaum zum Gedächtnis. München 1912, S. 157 – 166, hier S. 160.

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Zwei Jahre später stellte Die Insel ihr Erscheinen schon wieder ein, weil Bierbaum die Gerüchte über den eigentlichen Zweck der Zeitschrift nicht mehr hinnehmen wollte  : Man munkelte, ein talentloser, aber schwerreicher Schriftsteller – Heymel – habe sich in Bierbaum einen prominenten Herausgeber ›gekauft‹ und bezahle ihn mit einem fürstlichen Gehalt, damit der einem unbedeutenden Poeten anderweitig unerreichbare Publikationsmöglichkeiten verschaffe. Im letzten Doppelheft der Insel vom August / September 1902 hat Bierbaum sich in einer »persönlichen Bemerkung« gegen diese Unterstellungen zur Wehr gesetzt und bei der Gelegenheit die Überzeugung geäußert, dass die Literaturgeschichte »an der Insel nicht gleichgültig vorübergehen wird.«380

Kurt Martens hingegen spekuliert 1924 über die Trennung und die Auflösung der Insel in einer Weise, die spätere Literaturgeschichten nicht aufgreifen  : Bierbaum, mit dessen fachkundigem Beistand er 1898 »Die Insel« gegründet hatte, zerfiel bald mit ihm um der Gunst einer Dame willen und karikierte ihn nun als den hanebüchenen Wollüstling »Prinz Kuckuck«. Damit war Heymels vielfältige schimmernde Natur nun freilich nicht erschöpft.381

Anschaulich und faktenreich rekonstruiert Kurt Ifkovits382 die Entwicklungsgeschichte der Insel bis zu ihrer Einstellung und differenziert die unterschiedlichen ästhetischen Positionen innerhalb der Redaktion, die vor allem Schröder und Bierbaum voneinander trennen. Die kurzzeitige redaktionelle Mitarbeit von Frank Wedekind383 und der umfassende redaktionelle Einfluss von Franz Blei, der so lange im Verborgenen blieb, wie man in der Öffentlichkeit die Zeitschrift vor allem als »Bierbaums Organ«384 wahrnahm, werden von Blei in der postumen Aneignung der Publikationsgeschichte manipulativ dargestellt, indem er nach Bierbaums Tod seinen ästhetisch-kritischen Einfluss hervorhebt und seinen künstlerischen Beitrag zur Zeitschrift überhöht zulasten Bierbaums, dem in Bleis Memoiren385 zum Teil die Rolle des unachtsam arbeitenden Schlendrian zufällt, 380 Hettche, Walter  : Post aus der Heilanstalt. Otto Julius Bierbaum zum 150. Geburtstag. In  : Literatur in Bayern 30 (2016), Nr. 120, S. 18 – 21. 381 Martens, Kurt  : Schonungslose Lebenschronik. Zweiter Teil 1901 – 1923. Wien  ; Berlin  ; Leipzig  ; München 1924, S. 13. 382 Ifkovits, Kurt  : Die Insel. Eine Zeitschrift der Jahrhundertwende. 383 Vgl. Schöffling, Klaus  : Die ersten Jahre des Insel Verlags 1899 – 1902, S. 62. 384 Schöffling, Klaus  : Die ersten Jahre des Insel Verlags 1899 – 1902, S. 62. 385 Vgl. Blei, Franz  : Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930.

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der »gerne für alles Mindere verantwortlich gemacht wurde«386. Ifkovits verweist im Zusammenhang mit Bleis Herausstreichen der eigenen künstlerischen Bedeutung für die Insel auf die nachträglich sich ändernde Rezeption, die die Bedeutung von Bierbaums Beitrag für die Gründungsphase der Zeitschrift und die buchgestalterische Prägung der Zeitschrift deutlich herabsetzt.387 Die Lektüre des Prinz Kuckuck scheint sich jedenfalls nie von der historischen Episode der Auflösung der Insel zu lösen. »Wie stehts mit der P.-K.-Propaganda  ?«388, fragt Bierbaum in einem Brief aus Siffian seinen Verleger Georg Müller am 17. August 1908. und meint sicherlich beides  : den durch die öffentliche Werbung seines Verlegers erzielten Erfolg und die Diffamierung seines Bestsellers. Die Insinuation, es handele sich hier um einen Schlüsselroman, spielte eine bedeutsame Rolle für die Vermarktung des Prinz Kuckuck und der Erfolg des Romans wird gefördert durch eine eindeutige Zuspitzung in der Interpretation der Schlüsselfiguren. Die Konzentration auf die Figuren Henry Felix und Karl prägt jedoch erst die Memoirenliteratur und die viel später einsetzenden, zögerlichen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen des Romans. Der junge und ausschweifend lebende Millionenerbe Henry Felix, dessen Jungennamen Henfel sehr ähnlich klingt wie der des Insel-Mitherausgebers, soll Alfred Walter Heymel karikieren. Zumal sich die beiden Namen Henfel und Heymel im Schriftbild der Frakturschrift sehr ähneln. Die zweite herausgehobene Figur ist Karl Kraker, denn – so sind sich alle literaturwissenschaftlichen Interpretationen einig – sie spielt auf Heymels Cousin Rudolf Alexander Schröder an.389 386 Ifkovits, Kurt  : Vom Prinz Kuckuck zum Prinz Hypolit, S. 92. 387 Vgl. Ifkovits, Kurt  : Vom Prinz Kuckuck zum Prinz Hypolit, S. 92. 388 Brief O. J. Bierbaum an Georg Müller am 17.8.1908. In  : Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his Publishers, S. 224. 389 Der Verweis auf Rudolf Alexander Schröders Homosexualität stellt ein Spiel mit Intimwissen in Bierbaums Roman dar  : Auch wenn eine öffentliche Diskussion über gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen zu der Zeit nicht ungewöhnlich ist, herrscht eine öffentlich ausgelebte und alle Gesellschaftsschichten betreffende Homophobie vor, die es unmöglich macht, jenseits künstlerischer Bohèmekreise offen homosexuell zu leben. Die Figur Karl Kraker ist dennoch nicht so leicht zuzuordnen, das belegt die literaturwissenschaftliche Studie zu Homosexualität und Literatur von Wolfgang Popp, die nur Mutmaßungen über eine mögliche Nähe Karl Krakers zu realen Personen des öffentlichen Lebens anstellen kann  : »Es bleibt demnach offen, ob sich in der homosexuellen Komponente dieses Bösewichts [Karl Kraker  ; BZ] eine unkritische Homosexuellenfeindlichkeit des Autors Bierbaum zeigt, die allerdings seine ausgebreitete Gesellschaftskritik doch auch in Frage stellen müßte, oder ob er mit dieser Figur auf eine, jedenfalls bislang literaturwissenschaftlich unbekannte reale Person anspielt, deren bösartig-übertreibende Darstellung er dann auch zu rechtfertigen hätte.« (Popp, Wolfgang  : Männerliebe. Homosexualität und Literatur. Stuttgart 1992, S. 430). Benedikt Wolf widmet dem Prinz Kuckuck ein ganzes Kapitel in seiner Studie über

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Zu anderen Figuren finden sich kaum Hinweise in der Rezeptionsgeschichte des Romans. Arno Lubos gelingt ein selten vorgetragener Einwand gegen eine Interpretation, die den Schlüsselroman Prinz Kuckuck auf die Identifikation von Heymel und Schröder verengt, indem er einen neuen Vorschlag zur Identitätsbestimmung des Prinzen Kuckuck macht. Aufgrund der biographischen Übereinstimmung des »Verlusts des Elternhauses«390 kommt er zu dem Schluss  : »diese Figur ist identisch mit Stilpe – und wiederum mit Bierbaum.«391 Folgt man dem Modell des Schlüsselromans, so verfehlt diese Zuspitzung auf das Zerwürfnis des Redaktionskollegiums und die Skandalisierung möglicher fiktionalisierter »devianter Sexualität«392 und gesellschaftliche Tabus brechender erotischer Ausschweifungen der beiden porträtierten Insel-Redakteure das literarische Versteckspiel, das Bierbaum in seinem Roman betreibt. Bemerkenswert ist, dass schon allein die Namensgebung des Romanhelden eine vieldeutige Identitätszuschreibung der Figur entfaltet. Dies entzieht den Text von Beginn an einer allzu verengten Festlegung in der vom Autor in den Vorworten tatsächlich nahegelegten Entschlüsselungspraxis. Henry Felix Hauart trägt nämlich mehrere Rufnamen im Roman  : Er wird als Kind Prinz Kuckuck gerufen, solange er bei den Wirtsleuten Schirmer lebt. Sein Ziehvater, der ebenfalls den Namen Henry Hauart trägt, nennt ihn liebevoll Henfel (Henry Felix zusammengezogen). In Bremen wird er von den Krakers Henry gerufen und später nennt er sich selbst Henry Felix. Seine einzige Publikation, den Gedichtband »Rosa mystica«, gibt er unter seinen Initialen H.F.H. heraus, Graf Hauart nennt er sich als Offizier und Jussuf oder »das große Aas‹« (PKIII70) sind seine Spitznamen als Liebhaber. Wenn der Roman angelegt ist als literarisches Rätsel, dann gibt diese Vielfalt an namentlichen Zuordnungen auch einen Hinweis darauf, dass bei der Entschlüsselung der Figuren Vorsicht geboten ist, dass möglicherweise Hinweise auf mehrere Figuren des öffentlichen Lebens in einer Romanfigur amalgamiert wurden (»Henfel«) und dass eine Figur zu verschiedenen Zeitpunkten im Roman literarische Diskursivierungen von penetrierter Männlichkeit um 1900, er präzisiert in Anlehnung an die Interpretation von Franz Adam den im Roman entworfenen Komplex einer dreifach entfalteten devianten Sexualität  : Homosexualität, inzestuöse oder erotische Mutterliebe und Promiskuität  ; auf eine mögliche literarische Anspielung der Figur Karl Kraker auf R. A. Schröder gibt er keinen Hinweis (vgl. Wolf, Benedikt  : Die »Echtheit des Kinädentums«  : Penetrierte Männlichkeit als Desublimierung und Maskerade in Otto Julius Bierbaums Prinz Kuckuck. In  : ders.: Penetrierte Männlichkeit. Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne [1905 – 1969]. Köln  ; Weimar  ; Wien 2018, S. 121 – 158). 390 Lubos, Arno  : Otto Julius Bierbaum, S. 304. 391 Lubos, Arno  : Otto Julius Bierbaum, S. 304. 392 Wolf, Benedikt  : Penetrierte Männlichkeit, S. 123.

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auf unterschiedliche Persönlichkeiten anspielt. Festzuhalten bleibt, dass – wenn der Leser dem Spiel nachgehen möchte – es nur so wimmelt von möglichen Zuordnungen der Haupt- und vieler Nebenfiguren des Prinz Kuckuck. Der Roman erschließt sich als Zeitdokument und als satirischer Gesellschaftsroman auch ohne eine Entschlüsselung der Verweise auf real existierende Personen des öffentlichen Lebens. Diesen Lektürehinweis gibt der Roman an einer Stelle sogar selbst. Sie sei kurz in ihrer Rätsel- und metaerzählerischen Funktion erläutert. Als der Student Henry von Jena nach Leipzig fährt, sitzt ihm ein unbekannter Herr gegenüber, der im Kapiteltitel »Der unkorrekte Herr« (PKII62) genannt wird. Es ist Sturmius, einer von Saras beiden antisemitischen Liebhabern und möglicherweise Henrys leiblicher Vater. Die Szene ist so verschlüsselt, dass sowohl Henry als auch dem unaufmerksamen Leser nicht offenbart wird, wer hier mit im Abteil sitzt. Sturmius selbst, der unkorrekte Herr, fühlt sich durch Henry aber erinnert an eine Person, die ihm bekannt ist, und er fragt ihn  : »fängt ihr Name mit Sch. an  ?« (PKII65) Henry verneint die Frage und verkennt seinen möglichen Vater, der wiederum seinen möglichen Sohn nicht erkennt. Das Missverständnis entsteht, weil Sturmius nur nach dem Familiennamen der Wirtsleute fragen kann, zu denen Sara das neugeborene Kind heimlich gegeben hatte. Der Name der Wirtsleute fängt mit »Sch.« an  : Schirmer. Henrys Antwort (»Nein, durchaus nicht, ich heiße Hauart«, PKII65) ist wahr und falsch zugleich. Henrys Name war Schirmer, und darauf zielte die Frage Sturmius’ ab, und Henrys Name ist Hauart, doch das ist eine Information, die Sturmius nicht verarbeiten kann, weil er an der Entwicklungsgeschichte seines Sohnes nicht teilnahm. Beide gehen so auseinander, ohne die »wahre Identität« ihres Gegenübers in Erfahrung zu bringen, und beide werden sich im Roman nicht wieder begegnen. Die Szene liest sich wie eine metafiktionale Kritik an einer den literarischen Text nur auf die voyeuristische Lust reduzierenden, identifikatorischen Lektüre  : Sturmius fragt nur nach dem, was er schon zu wissen glaubt –, ähnlich wie die Romanlektüre, die ein auf Schlüsselhinweise beschränktes Interesse am Text zeigt. An anderer Stelle macht sich die Erzählerfigur lustig über eine den Roman auf die Schlüsselstellen verengende Interpretation und legt offensichtlich falsche Fährten. So heißt ein Unterkapitel im zweiten Band »Cousin Rudolf«. Die Anspielung auf Rudolf Alexander Schröder, den Cousin Heymels, liegt auf der Hand. Die Lesererwartung wird an dieser Stelle künstlich erhöht, könnten sich doch in diesem Kapitel besonders skandalträchtige Details »verstecken«. Der Untertitel bezieht sich an der Stelle im Roman aber nicht auf Schröder, sondern auf eine andere lebende Person  : den Kronprinzen von Österreich, Rudolf von Habsburg. Diese Doppelung des Namens Rudolf enttäuscht die Lesererwartung und der

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Umstand der Enttäuschung wird an gleicher Stelle satirisch kommentiert. In dem Moment, wo der Text nämlich auflöst, wer tatsächlich mit Rudolf gemeint ist, tritt die Figur Karl auf, die gemeinhin mit dem Cousin Rudolf Alexander Schröder gleichgesetzt wird. Die Figur Karl wiederum verwechselt im Roman ebenfalls den Rudolf, von dem Henry spricht. Henry berichtet von der Nachricht des Todes des am 30. Januar 1889 gestorbenen Kronprinzen, die ihn zutiefst erschüttere, fühlt er sich doch insgeheim als rechtmäßiger Erbe. Karl glaubt zunächst, Henry verwechsele alles und werde zunehmend verrückt, denn er meine sicherlich den viel berühmteren Rudolf von Habsburg, den ersten römisch-deutschen König aus dem Haus der Habsburger, der – wie Karl seinen Henry von oben herab gleich belehrt – doch »schon im Jahre 1291 gestorben« (PKII155) sei. Henry wehrt sich gegen die falsche Namensinterpretation Karls (und des Lesers) und fordert, sofort nach Wien zu reisen  ; dort in der Kapuzinergruft angekommen, »starrte [er] wie ein namenlos Leidender vor sich hin und murmelte  : ›Rudolf  ! Rudolf  !‹« (PKII155) Die Verquickung der Erwartung und des vermeintlichen Wissens des Lesers mit dem Wissen, mit dem die Figuren ausgestattet sind, führt zu einer kurzen Lektüreverwirrung, die ein dem Vorurteil verhaftetes Lesen persifliert. Und trotzdem lebt der Zeitroman davon, dass Figuren charakteristische Züge tragen, die sie in die Nähe von Figuren des öffentlichen Lebens rücken. Bierbaum führt eine wilhelminische Gesellschaft vor, deren Vertreter sich politisch leiten lassen von kriegerischen Bestrebungen, chauvinistischer Rassenphraseologie und Antisemitismus, während eine sich auf ästhetische Fragestellungen zurückziehende Kultur sich in Epigonentum und Kitsch ergeht. Dem Zeitbild gegenüber stehen im Roman aber auch Figuren, die progressiv gezeichnet werden und denen ebenfalls biographische Details anhaften, die sie zumindest in die Nähe realer Personen bringen. Viele der Anspielungen sind für den heutigen Leser verschüttet und nicht alle Rekurse auf Personen und historische Ereignisse und Werke sind mit dem historischen Abstand so einfach zu entschlüsseln wie für die zeitgenössische Lektüre, für die der Text damit brisant wurde. Einige Figuren sollen dennoch kurz in ihren Anspielungen genannt werden  : Die Figur des Liebhabers Sturmius ist nicht nur hässlich, sie wird vorgestellt als glühender Wagnerianer und überzeugter Antisemit. Dies sind Charaktereigenschaften der Romanfigur, die möglicherweise auf den Dirigenten, Pianisten und Komponisten Hans von Bülow verweisen. Bülow war Kapellmeister in München, ein großer Wagnerverehrer und -interpret sowie einer der prominentesten Erstunterzeichner der Antisemitenpetition. Der Maler Tonl ist, so erwähnt es die auktoriale Erzählerinstanz im Roman, neben »Leibl« (PKI46) ein wichtiger Münchner Maler. Die Figur hat ursprünglich als Maurergesell gelernt und porträtiert inzwischen sogar Fürstengeschlech-

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ter – alles Merkmale, die an Franz von Lenbach denken lassen. Henfels Münchner Wirtsfamilie, wo der Maler Tonl oft verkehrt, heißt Schirmer. Der Name verweist auf den Landschaftsmaler der Düsseldorfer Schule, Johann Wilhelm Schirmer, in dessen Klasse sowohl Ludwig Thoma als auch Arnold Böcklin lernten. Der Ziehvater Henry Hauart verjubelt fast sein ganzes Vermögen in einer Genossenschaftsgründung, vertritt eine durch Nietzsche unterfütterte Rassenlehre und begründet mit ihr eine reformpädagogische Sonderlehre des Herrenmenschen. Sie wird verantwortlich gemacht für die instabile und leicht beeinflussbare chauvinistische Selbstwahrnehmung Henfels. Die Figur trägt Züge von Alfred Walter Heymels Ziehvater, dem Großkaufmann und Konsul Adolph Heymel, was nicht allgemein bekannt war, eher zum literarischen Intimwissen der Bohème gehört und so einen internen literarischen Witz liefert. Das uneheliche Kind der Figur des Ziehvaters mit der Putzkraft Fanny, die schon dem Namen nach an Fanny oder Franziska von Reventlow erinnert, ist Hermann Honrader, der zunächst Anwalt statt Dichter werden möchte, solange es Klassenunterschiede gibt und den Frauen und unehelichen Kindern kein Recht zuteilwird. Auch der Münchner Schriftsteller Ludwig Thoma arbeitet als Jurist, tritt in Dachau für die Bauern ein und porträtiert sie in vielen Gemälden. Er arbeitet wie Bierbaum zur Zeit des Erscheinens für den Simplicissimus und veröffentlicht dort unter dem Pseudonym Peter Schlemihl. »Doch lassen sich für Honraders literarischen Werdegang«, so entschlüsselt es Volker Hartmann, »eher Gemeinsamkeiten mit dem naturalistischen Schriftsteller Hermann Conradi (1862 – 1890) ermitteln, den B[ierbaum] selbst als Vorbild nennt (Stankovich, 130).«393 Conradi als Vertreter einer älteren Generation des Naturalismus könnte möglicherweise genauso wie Ludwig Thoma als Vertreter der »Modernen« eine Figur des öffentlichen Lebens sein, an die der Leser erinnert wird. Hermann Honrader wird im Roman als die »Hauptperson« (PKI93) der Naturalistenbewegung betitelt, was klanglich und faktisch den Namen Gerhart Hauptmann evoziert. In der Kutscherstube wiederum streitet sich die Figur Summerl in starkem Münchner Dialekt, der eventuell eine Anspielung auf Josef Ruederer in sich trägt, mit einer ebenfalls bayrischen Dialekt sprechenden Figur mit Namen Ludwig, was an Ludwig Thoma erinnert. Die Figur des strengen Bremer Ziehvaters Jeremias Kraker weist Züge von Adolf Stoecker auf, dem evangelischen Theologen, der die sogenannte Berliner Bewegung der Christlich-Sozia393 Hartmann, Volker  : Otto Julius Bierbaum. In  : Rösch, Gertrud Maria  : Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900 – 2010. 1. Halbband  : Andres bis Loest. Stuttgart 2011, S. 50 – 54, hier S. 52.

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len gründet und rechter Antisemit ist. Der Dichter Detlev von Liliencron wird kurz porträtiert als der »nicht bloß an Jahren, sondern auch an Kunst reifste unter uns Naturalisten«, der, »obwohl längst kein Jüngling mehr, im Sinne der bürgerlichen Moral grundlüderlich« sei (PKII75). Der Berliner Jesus-Maler Max Liebermann und der in Sachsen geborene Fritz von Uhde werden ebenso verschlüsselt porträtiert. »Meister vom Salate« (PKI231) ist eine Anspielung auf Stefan George. Der Münchner Dichter wird in Prinz Kuckuck als »Apparat zur Herstellung von Versen« (PKIII197) karikiert und dies ähnelt in der Charakteristik seinem Porträt in Bierbaums Steckbriefen, wo er 1900 schon als der »wunderbarste Automat der Gegenwart« verulkt wird, der »feierlich sinnlose Worte tönt«394. Berta wird im Kreis der »Purpurnen Wolke« nur noch die Gräfin genannt, denselben Titel trägt Franziska von Reventlow im Umkreis der Kosmiker in Mün­ chen. Der völlig verwirrte und von Hermann in die Heilanstalt begleitete Henry sinniert am Ende des Romans von einer »Blutleuchte« (PKIII241), ein Terminus, der den esoterischen Privatkultus von Alfred Schuler prägte, einem Mitglied des Kosmiker-Kreises, dem auch Franziska von Reventlow, Ludwig Klages und Karl Wolfskehl zuzuordnen sind. In ihrer Vorstellung setzen sie der Verfallsgeschichte des Abendlandes und des Christentums einen neuen heidnischen Mystizismus der Kräftigung des Blutes durch Licht entgegen. In Prinz Kuckuck wird diese Heilslehre als »neueste[ ] Geheimwissenschaft« (PKIII241) banalisiert und von der Erzählerfigur als Beispiel für Henrys Geisteszustand angeführt. Henry ist als Figur ein Vertreter, der diese geistige Fallsucht in den Adern ha[  ]t, deren feineren Namen, Dekadence, die Philisterschaft so gerne allen beweglichen Geistern anheften möchte. Arme Fratze eines fratzenhaft verzerrten »Zeitgeistes«, die in Wahrheit nur ein zuckender Nebel ist, hinter dem der wahre, schaffende, gesunde, große Sinn dieser Zeit ruhig steht wie ein Felsmassiv. (PKIII242)

Zum obskuren Höhepunkt des Romans gehört das Auftreten der Figur Jan del Pas, die diabolisch als »gottvoller Teufel« (PKIII188) vorgestellt wird und in Begleitung des Polen mit dem »Spitznamen Goethinsky« (PKIII189) auftritt, der Ähnlichkeiten zu Stanisław Przybyszewski aufweist. Jan del Pas erweitert den Künstlerkreis um den »dantenasige[n] Meister« (PKIII197), der »Knäblein liebt« (PKIII197), und entführt Berta nach Italien. Dort leben beide zusammen und 394 Möbius, Martin  : Steckbriefe, S. 55.

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ziehen ihr gemeinsames Kind auf, das Carl heißt. Die Figur Jan del Pas deckt mit ihrem Namen eine illustre Persönlichkeit des öffentlichen Lebens auf, den okkulten Spiritisten Carl du Prel395, dessen monistische Seelenlehre eine dankbare Aufnahme in der von »Affinität zu Mystizismus, Spiritismus und Okkultismus«396 geprägten Münchner Bohème findet. Das Interesse »für Spiritismus und die Verbannung mit Berta nach Sorrent hat del Pas aber mit Hanns Heinz Ewers (1871 – 1943) gemein, der mit seiner Frau von 1902 bis 1904 überwiegend auf der Sorrent nahe gelegenen Insel Capri lebte.«397 Selbstverständlich sind Anspielungen auf Heymel und Schröder in den beiden Figuren Henry und Karl zu finden. So ironisiert schon der auf Henrys Mäzenatentum fußende Künstlerklub der »Purpurnen Wolke« (PKIII206) den von Heymel und Schröder gemeinsam mit dem Direktor der Bremer Kunsthalle, Gustav Pauli, tatsächlich im Jahr 1903 in Bremen gegründeten Lesekreis und späteren Kulturverein der »Goldenen Wolke«398, der nationale Kunst förderte und sich einer elitären Kulturvermittlung aus dem Bildungsbürgertum heraus verschrieb. Heymels Kindheit, die Erziehung durch seinen Ziehvater Adolf Heymel und die anschließende strenge Unterweisung durch die protestantische Juristenfamilie von Dr. Gustav Nagel in Bremen sind biographische Details, die Bierbaum als leicht zu identifizierende Hinweise im Text verarbeitet hat.399 Sich selbst zitiert Bierbaum mit dem Wort »Rosenbusch« (PKI82) und spielt auf sein erfolgreichstes Varietécouplet Der lustige Ehemann an. Julius Meier-­ Graefe ist möglicherweise wieder in der Figur des im Kreise der »Purpurnen Wolke« auftretenden »Kosmoerotiker[s]« (PKIII203) festgehalten. Anspielungen auf die Gerichtsverfahren gegen Frank Wedekind finden sich ebenso im Text wie Verweise auf Paul Scheerbart. Die Figur des »blonde[n],

395 Volker Hartmann schlägt vor, dass Bierbaum in der Figur Jan del Pas Richard Dehmel porträtierte (vgl.: Hartmann, Volker  : Otto Julius Bierbaum, S. 52). 396 Sprengel, Peter  : Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 122. 397 Hartmann, Volker  : Otto Julius Bierbaum, S. 52. 398 In ihren Erinnerungen an den Bremer Kreis schreibt Marga Berck, mit Bezug auf Goethes Tasso sei der Name von »Rudi Schröder« »verkündet« worden (Berck, Marga  : Die goldene Wolke. Eine verklungene Bremer Melodie. Bremen 1954, S. 15). 399 Auf Wilhelm Weigand geht die Legende zurück, Bierbaum hätte Heymel schon »vor Beginn der Niederschrift« angeboten, gegen »einen Betrag von zwanzigtausend Mark« von der Verarbeitung seiner Biographie in Prinz Kuckuck abzusehen. Weigand erinnert sich  : »Heymel lehnte das Anerbieten lächelnd und ohne Entrüstung ab« (Weigand, Wilhelm  : Welt und Weg. Aus meinem Leben. Bonn 1940, S. 252). Es gibt meines Wissens jedoch keinen Quellenbeleg für Weigands Behauptung.

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bur­schi­­kose[n] Riese[n]«400 trägt Züge von Michael Georg Conrad401. Eine Figur heißt »Der fünfte Prophet« und trägt im Namen den Titel eines Romans von Hanns von Gumppenberg. Auf Maximilian Harden könnte die Figur des Kritikers anspielen, die die Erzählerfigur den »grimmige[n] ›Wanzentod‹« (PKIII178) nennt. Karls Londoner Erlebnisse in dem Club »Grüne Nelke« spielen direkt auf Oscar Wilde an, der mit seinem Kreis »bei der Premiere von Lady Windermere’s Fan (1892) geschlossen mit einer grün gefärbten Nelke im Knopfloch auftrat«402 und sich öffentlich bekannte zu einem anonym verfassten Werk The Green Carnation (dt.: Die grüne Nelke), das 1894 erschienen war und »in kaum verschlüsselter Form die Geschichte der Beziehung zwischen Wilde und Lord Douglas darstellt.«403 Zentral in Prinz Kuckuck, Band 3, ist zudem die Figur des »Serenissimus mit dem Knebelbart, einst politisch ehrgeizig, jetzt für Jagd, Weiber und Theater eingenommen«.404 Sie trägt Züge von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg, unter dessen Regentschaft und auf dessen Initiative hin 1861 in Gotha der Deutsche Schützenbund und 1862 in Coburg der Deutsche Sängerbund gegründet wird, und exemplifiziert an ihm die sich dem liberalen Bürgertum und seinen nationalen Idealen öffnende kulturpolitische Interessenpolitik, die wilhelminische Bildungseliten betrieben, die gleichzeitig einen Statusverlust hinnehmen mussten. Eine ganze Reihe weiterer offensichtlicher und versteckter Andeutungen auf Personen des öffentlichen kulturellen und politischen Lebens ist zu finden. Diese fiktional entworfene literarische Öffentlichkeit wird durch ein Spiel der Maskeraden und der Pseudonyme, der intimen Anspielungen in den realen Literaturbetrieb zurücktransportiert. Ein Kosmos literarischer Verflechtungen wird ausgesponnen, der ein Sittengemälde des wilhelminischen Kunst- und Kulturbetriebs zeichnet und in einzelnen Formulierungen und Entdeckungen erotischer Ausschweifungen oder böswilliger karikaturistischer Überzeichnungen den öffentlichen Skandal sucht. Bierbaum ist von 1896 bis 1909 als Mitarbeiter des Simplicissimus tätig und ist sich seiner gezielt evozierten Provokationen im Prinz Kuckuck 400 Schneider, Georg  : Die Schlüsselliteratur. Bd. 2  : Entschlüsselung deutscher Romane und Dramen. Stuttgart 1952, S. 18. 401 Vgl. Stumpf, Gerhard  : Michael Georg Conrad. Ideenwelt – Kunstprogrammatik – Literarisches Werk. Frankfurt / M.; Bern  ; New York 1986, S. 395. 402 Wolf, Benedikt  : Penetrierte Männlichkeit, S. 133. 403 Der Schlüsseltext ist jedoch nicht von Oscar Wilde, sondern von Robert Hichens verfasst worden. Oscar Wilde erkennt die Autorschaft an, um den Skandal als Selbstinszenierung abmildern und steuern zu können. Vgl. Juranek, Christian  : Die Erfindung des Schönen. Oscar Wilde und das England des 19. Jahrhunderts. Halle (Saale) 2000, S. 193. 404 Schneider, Georg  : Die Schlüsselliteratur, S. 18.

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56  Umschlagtitel von Die Insel der Blödsinnigen im Berliner Verlag der Lustigen Blätter (1901).

bewusst. Die literarische Aneignung ganzer Biographien von literarischen Vertretern der Bohèmeszene und die Inszenierung ihrer Verfallsgeschichte ist somit nicht nur als »bösartiges Panorama«405 zu interpretieren und im Schlüsselcharakter »erschöpft sich die Funktion des Romans nicht«.406 Das ästhetische Mittel der Überzeichnung, der selbstironischen Bezugnahme und der Selbstbezichtigung als sarkastisches Spiel kennzeichnet nicht nur die literarische Produktivität im Umfeld der Insel durch Ausgaben von humoristischen und sarkastischen »Spaß«-Nummern wie der Halb-Insel oder Faschingsausgaben wie der Insel der Blödsinnigen (Abb. 56), auf die wiederum Hefte der Insel im literarischen Spiel Bezug nehmen, sondern auch die Henkersabende der Elf Scharfrichter. Dies ästhetische Mittel wird von Bierbaum überführt in die neue Form eines sarkastischen Gesellschaftsromans. Der Wunsch nach einer ästhetischen Zuspitzung entfaltet aus der Parodie eine ernste Kulturkritik. Die Elemente des Kolportageromans wie auch die expliziten erotischen Beschreibungen sollen dabei Prinz Kuckuck zu größerer Verbreitung 405 Hartmann, Volker  : Otto Julius Bierbaum, S. 53. 406 Hartmann, Volker  : Otto Julius Bierbaum, S. 53.

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und öffentlicher Aufmerksamkeit verhelfen. Der Tabubruch war in den Stücken Frank Wedekinds und im Simplicissimus bereits gezielt eingesetzt worden. Ludwig Thoma erinnert sich an die durch den Herausgeber Albert Langen bewusst herbeigeführte Provokation der Palästina-Ausgabe des Simplicissimus am 29. Oktober 1898 und schreibt, »daß jene angeblich planmäßigen Majestätsbeleidigungen bloß die Antworten auf planmäßige Herausforderungen waren.«407 Als literarische Strategie ist die Provokation Bierbaum also wohlvertraut. Er selbst hatte schon 1900 die Steckbriefe erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur408 verfasst. Sie dienen sowohl der kritischen Begleitung als auch einer kontinuierlichen politischen Auseinandersetzung mit den Zensurbehörden. Als Kuriosa verfolgen die Steckbriefe eine Literarisierung des öffentlichen Kulturlebens  ; enthalten in der moralisch-sittlichen Selbstbezichtigung ist eine Form der Kritik der staatlichen Kulturpolitik und restriktiven Gesetzgebung, die gegen jede formulierte politische Kritik rigoros vorgeht. Bezeichnend ist die Kunstauffassung Kaiser Wilhelms II., die die staatlichen Zensurverfolgungen ansetzt und befiehlt  : »Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, ist Fabrikarbeit, ist Gewerbe, und das darf Kunst nie werden.«409 Bierbaums Roman Prinz Kuckuck will als Zeitroman die Kulturkritik selbstkritisch auf die zeitgenössischen Kunstströmungen und ihre Produzenten ausweiten. Sein Bemühen um eine Popularisierung dieser Kritik in der Form bekannter Erzählformate, wie des erotischen Abenteuerromans und des Schlüsselromans, mag der Verbreitung seiner Kulturkritik zugutegekommen sein. Doch die vereindeutigende Interpretation der beiden Figuren Karl und Henry und die negative öffentliche Rezeption dieses »fürchterlich aufgetriebenen Werkes«410 stehen einer ernsten Auseinandersetzung mit seiner Kulturkritik im Wege, wie schon die ersten Rezensionen des Romans in der Tagespresse und den Literaturzeitungen andeuten. Es gibt eine Vielzahl von Rezensionen zu Prinz Kuckuck411, die nach 407 Thoma, Ludwig  : Erinnerungen. München 1983, S. 145. 408 Zur Entschlüsselung des Autors der Steckbriefe schreibt Walter Hettche  : »Schon zu Bierbaums Lebzeiten kam der Verdacht auf, er sei der Autor der Steckbriefe  ; der endgültige Nachweis ist erst 1960 gelungen.« (Hettche, Walter  : Otto Julius Bierbaums Briefe an Max Halbe. Beiden Autoren zum 150. Geburtstag. In  : Jahrbuch der Freunde der Monacensia [2015], S. 99 – 118, FN12). 409 Klaußmann, A. O. (Hg.)  : Kaiserreden. Reden und Erlasse, Briefe und Telegramme Kaiser Wilhelms des Zweiten. Ein Charakterbild des Deutschen Kaisers. Leipzig 1902, S. 313. 410 Busse, Carl  : Neues vom Büchertisch [Rezension zum 3. Bd. Prinz Kuckuck]. In  : Velhagen & Klasings Monatshefte 22 (1907 / 08), H. 12, S. 903 – 904, hier S. 903. 411 Vgl. Foges, Max  : Moderne Erzähler. »Prinz Kuckuck«. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. In  : Neues Wiener Journal (1907), Nr. 5069, 1.12.1907, S. 5 – 6. Rath, Willy  :

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der Herausgabe des dritten und letzten Bandes erscheinen. Erste Besprechungen wurden außerdem gleich nach Herausgabe der beiden ersten, unmittelbar nacheinander erscheinenden Bände veröffentlicht. Auch wenn auf die Form des Schlüsselromans in fast allen Rezensionen eingegangen wird, so entschlüsselt doch keine der Rezensionen die Figuren Karl und Felix Hauart. Zumeist werden hinter den Figuren der Maler Franz von Lenbach und der Musiker Hans von Bülow identifiziert, eine Rezension412 nennt Hermann Bahr. Nach dem großen Erfolg der Verfilmung von Prinz Kuckuck unter der Regie von Paul Leni 1919413 erscheint der Roman 1922 im Georg Müller Verlag neben der ungekürzten, komprimierten zweibändigen Version auch noch in einer gekürzten einbändigen Fassung, die vom Chefredakteur des Simplicissimus, Peter Scher, zusammengestellt wird. Das kurze Vorwort erwähnt »einen vierten Band«, in dem Bierbaum »weiß der Himmel was alles noch zwischen sich und der Welt auseinanderzusetzen gedachte«.414 Franz Blei rekurriert in seiner Karikatur Bierbaums in den Zeitgenössischen Bildnissen ebenfalls auf die gekürzte Fassung des Prinz Kuckuck. Der Darstellung sieht man die literarische Entwertung an, die Bierbaums poetisches Werk nach seinem Tod erfährt  : Er war lyrisch verschnupft und schrieb einen dreibändigen Wälzer, jenen ›Prinz Kuckuck‹, in dem er mit bedeutender Indiskretion und durch nichts gerechtfertigter Bosheit seine Freunde aus der Münchner Inselzeit durch den Kakao zog, wie man in Berlin sagt. Nach Bierbaums Tod strich der Verlag das Dreibändige in ein Einbändiges zuOtto Julius Bierbaums Zeitroman »Prinz Kuckuck«. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. In  : Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen – Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben 21 (1908), H.  7, S.  37 – 40. Pernerstorfer, Engelbert  : Zwei Prinzen-Romane. In  : Arbeiterzeitung. Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie 20 (1908), Nr. 217, 5.8.1908, S. 1 – 3 (bei dem zweiten Prinz-Roman handelt es sich um den zweibändigen Roman von Johannes Schlaf, Der Prinz [1908]). Bolle, Oscar  : Prinz Kuckuck – Ein Sumpfrausch. In  : Allgemeine Zeitung (1907), Beilage Nr. 198, 8.11.1907, S. 189 – 191. Busse, Carl  : Neues vom Büchertisch. In  : Velhagen & Klasings Monatshefte 22 (1907 / 08), H. 12, 903 – 904. Zusätzlich finden sich Rezensionen in vielen lokalen Zeitungen wie dem Brünner Tageblatt oder in der Berliner Zeitschrift Die Gegenwart. 412 Vgl. Foges, Max  : Moderne Erzähler. »Prinz Kuckuck«, S. 6. 413 Die Filmrollen sind verschwunden, es existiert heute keine Kopie des Films mehr. Die Figur Karl Kraker spielt der Schauspieler Conrad Veidt. Die Filmmusik komponiert Friedrich Hollaender. Die Lichtbild-Bühne urteilt, dass Lenis Film, der für die Gloria Film G.m.b.H. produziert wird, das »Stärkste« darstellt, »was deutsche Filmkunst bisher geschaffen hat« (Prinz Kuckuck. In  : Lichtbild-Bühne [1919], Nr. 30, 26.7.1919). 414 Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings, in einem Zeitroman von Otto Julius Bierbaum. Hg. v. Peter Scher. München 1922, S. 1.

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Kulturkritik im Massenmedium

sammen, aber es wurde dadurch nicht lesbarer. Mit Bierbaum wird an eine Mode erinnert, nichts als das. Die Mode hat nicht nur ihre Caprisen, sie ist Caprise. Sie hat Dauer nur im Wechsel. Alles was litteris Mode wird, ist Bierbaum. Es heißt nur anders.415

Der Untertitel von Prinz Kuckuck, der an Friedrich Maximilian Klingers Roman Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt und so auch an Johann Wolfgang Goethe erinnert, wird von Scher mit der Information noch einmal biographisch angereichert, dass auch der Autor seinen Roman »mit überlegnem Humor seinen Faust zu nennen liebte«416. Beide Aussagen Schers können nicht durch Briefe oder Selbstaussagen Bierbaums bestätigt werden. Doch ist bezeichnend, dass Scher den Roman um die Stellen kürzt, die von Bierbaums kulturpolitischen Reflexionen geprägt sind, so fehlt »Ein Zwischenstück als Kommentar« komplett. Die »moralische[n] und erzieherische[n] Absichten«417, die Bierbaums Roman auszeichnen, werden zugunsten »der unterhaltsamen Vorführung eines Lasterlebens«418 nivelliert und der Prinz Kuckuck erscheint fortan nurmehr als der triviale Kolportageroman, als der er bis heute rezipiert wird.

415 Blei, Franz  : Otto Julius Bierbaum, 140. 416 Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck, S. 1. Schon Bierbaums früher Roman Pankrazius Graunzer spielt auf Goethes Drama an, wenn Graunzer sich selbst als »Faust« (G201) betitelt. 417 Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck, S. 2. 418 Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck, S. 2.

5 Das Triviale als ästhetisches Experiment: Bierbaum als Erfolgsautor und eine neue Ästhetik des Populären um 1900 Künstlerisch produktiv wirkt Bierbaum nach der Herausgabe des Prinz Kuckuck und der zum Teil vernichtenden Kritik an dem »barocken Abenteuerroman«419 auch weiterhin. In einem Brief vom 29. Mai 1909 an Georg Müller beklagt sich Bierbaum, dass vor allem die Auftragsarbeiten und die vielen journalistischen Tätigkeiten ihn ablenken  : Es hat sich herausgestellt, daß alles Geld, was ich bekommen könnte, irgendwie literarische Verpflichtungen für mich zur Folge haben würde  : bei Marquardt (der einen neuen persönlichen Verlag gründet) die Verpflichtung zu einem Buche, bei Gebr. Ullstein die zu einem Roman für die Berl. Ill. Ztg., bei Fischer (Wien) die zu Feuilletons für die ›Zeit‹ Das schadet mir alles mehr, als es hilft. Ich mag keinen Roman (auch nicht um 20.000 M.) für ein Familienblatt schreiben (denn er würde ein Dreck)  ; und ich mag mich nicht journalistisch verzetteln. Aber ich brauche viel Geld.420

Die meisten schriftstellerischen Arbeiten, die in den drei Jahren nach der Publikation des Prinz Kuckuck bis zu Bierbaums Tod am 1. Februar 1910 in Dresden erscheinen, stellen Auftragsarbeiten dar. Bierbaum veröffentlicht noch während der Drucklegung des großen Romans in seinem Hausverlag Georg Müller den Gedichtband Maultrommel und Flöte (1907, Abb.  57), kurz darauf folgen eine Neuauflage seiner Einführung in das Werk von Fritz von Uhde (1908), die in drei Folgen erscheinenden Sonderbaren Geschichten (1908), Die Yankeedoodle-Fahrt und andere Reisegeschichten (1909) und das gemeinsam mit Franz von Königsbrun-Schaup verfasste Drama Fortuna. Abenteuer in fünf Akten (1909). Postum und mit einem Nachwort von Hans Brandenburg versehen erscheint bei Georg Müller auch Bierbaums letzter Gedichtband, Die Schatulle des Grafen Thrümmel und andere nachgelassene Gedichte (1910). Darüber hinaus veröffentlicht Bierbaum nach Prinz Kuckuck Werke in anderen Verlagen  : Eine Studentenkomödie, 419 Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum, S. 145. 420 Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaums Relationship with his Publishers, S. 239.

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Das Triviale als ästhetisches Experiment

57  Umschlag von O. J. Bierbaum: Maultrommel und Flöte (1907), Buchgestaltung: Otto Hupp.

Der Musenkrieg (1907), erscheint im Verlag Karl Curtius, geplant ist auch die Veröffentlichung von Das Geisterschloss (1909). Beide Bühnenwerke werden von Richard Weinhöppel vertont. Bierbaum trägt zu einem publizistischen Experiment bei, indem er ein Kapitel für den Roman der Zwölf (1909) schreibt, der im Verlag Conrad W. Mecklenburg in Berlin erscheint. Der Romanidee lag unter anderem ein Preisausschreiben zugrunde  : Die Leser sollten erraten, wer von den insgesamt zwölf genannten Autoren421 welches der zwölf Kapitel geschrieben hat. Als Herausgeber betätigt sich Bierbaum ebenfalls im Georg-Müller-Verlag. In der Reihe der Bibliothek der Abtei Thelem folgt Bierbaum seinem Erfolgsrezept der Mixtur älterer und bekannter oder wiederentdeckter Schriftsteller und 421 Neben Bierbaum liefern die folgenden Autoren ein Kapitel für den kompilierten Roman  : Hermann Bahr, Otto Ernst, Herbert Eulenberg, Hans Heinz Ewers, Gustav Falke, Georg Hirschfeld, Felix Hollaender, Gustav Meyrink, Gabriele Reuter, Olga Wohlbrück, Ernst von Wolzogen. Der Roman erscheint mit den Silhouetten der zwölf Autoren von H. John Höxter. Alfred von Klement hält fest, dass das Preisausschreiben nie aufgelöst wurde  : »Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 18. Februar 1910 werden nur die Verfasser in einer Reihenfolge genannt, die vermuten lässt, daß auf Bierbaum das Kapitel ›Piefke‹ zutrifft (= Kap. X, S. 287/312)« (Klement, Alfred v.: Otto Julius Bierbaum. Bibliographie. Wien  ; Bad Bocklet  ; Zürich 1956, S. 14).

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unbekannter moderner Dichter. Die Bibliothek wird als Jahresabonnement ausgeliefert, so dass auch in der Vertriebsform und in den Bemühungen um neue Leserschaften experimentiert wird. Zu den jungen unbekannten Autoren zählen Hans W. Fischer, von ihm erscheint der Gedichtband Die Kette (1910), und Walter Lehmann, mit der Erzählung Das abendrote Haus (1911). Daneben werden Lawrence Sternes Tristam Schandis Leben und Meynungen (1910) und Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (1910) in einer Neuübersetzung von Johann Joachim Bode geliefert. Für Bierbaums späte Arbeiten gilt allgemein, dass sie sich durch »eine zunehmende Beschäftigung mit eigenen früheren Werken und älteren Werken der deutschen wie der ausländischen Literatur«422 auszeichnen. Das Selbstzitat, wie es die Stilpe-Komödien Das Cénacle der Maulesel und Die Schlangendame prägt, in denen die bekannteste Bierbaum’sche Figur Stilpe erneut auftaucht und in ihrem fiktiven sozialen Kosmos um eine weitere Figur ergänzt wird, den Juristen Zollinger, der in beiden Einaktern auftritt, setzt das Maskeradenspiel und die Inszenierung populärer literarischer Figuren in Bierbaums Werk fort. Diese fiktional entworfene literarische Öffentlichkeit lässt dem Leser vertraute Figuren wie Stilpe, Prinz Kuckuck, Graunzer oder Zäpfel Kern als persönliche Begleiter im Alltagsleben fungieren. Während also das Figurenrepertoire – einmal ins literarische Leben gerufen – vom frühen Werk Bierbaums an bis zu seinen späteren Arbeiten eine gewisse Eigenständigkeit erhält, bilden die Protagonisten nicht nur eine eigene Figurenbiographie und Charakteristik aus. Sie erscheinen in Bierbaums Romanen auch öfter als anrufbare Erzähl- und Erinnerungsinstanzen, die zwar im Fiktiven agieren, doch in ihrer Anwesenheit eine konstante Verlässlichkeit darstellen und dem Leser mehr und mehr als Vertraute vorgestellt werden. Das eigenartige Verhältnis der Verlebendigung literarischer Figuren wird ergänzt durch ihren Rekurs auf politisch-gesellschaftliche Vorgänge, die sie kommentieren. Bierbaum initiiert ihre Teilhabe am gesellschaftlichen, literarischen Milieu und am politischen Tagesgeschäft wie auch am literarischen Salongeschäft in Vorworten von Almanachen und Zeitschriftenbeiträgen. Dieses Verfahren der Verlebendigung literarischer Charaktere, das Bierbaums Figuren als Sozialcharaktere erscheinen lässt, erinnert an das Erzählverfahren von Honoré de Balzac, das die Figuren durch ihre wiederholten Auftritte in seinen Romanen zu Sozialtypen gerinnen und einer breiten Leserschaft vertraut werden lässt, so beispielsweise Vautrin423 in La Comédie humaine (1829 – 1850). André Jolles er422 Stankovich, Dushan  : Otto Julius Bierbaum, S. 168. 423 Vautrin gehört zu den wichtigsten Figuren in Balzacs Romanzyklus Die menschliche Komödie,

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kennt in der Gestaltung einer autonomen Figur, wie sie in Bierbaums Stilpe als Einzelcharakter erschaffen wird, aber auch eine besondere Funktionsweise des Witzes  : Die Kraft jener neugeschaffenen, völlig autonomen scherzhaften Persönlichkeiten ist so groß, daß sie imstande sind, ihrerseits allen Spott der Vergangenheit, alle Einzelwitze, die früher die gleiche Ansicht, die gleiche Richtung zeigten, an sich zu reißen und sie in erneuter Weise auf sich zu beziehen. Sie werden magnetische Zentren so lange, bis wieder eine neue Zeit sie löst und ersetzt.424

In einer gesellschaftlichen Übergangszeit übernimmt diese ein kulturellpolitisches Vakuum füllende Funktion nicht nur die »scherzhafte Persönlichkeit« Stilpe, sondern auch viele andere Figuren Bierbaums. Stilpe, Graunzer, Henry Felix Hauart, Zäpfel Kern oder die zur Lebendigkeit erhobenen Steckbrief-Gestalten bilden in ihrer Selbstbezichtigung und Selbstbezogenheit einen eigenen Kosmos von Figuren- und Handlungsbezügen, der seinen eigenen Gesetzen und Normen folgt. Die Figuren erschaffen in ihrer dominanten Stellung in Bierbaums Werk eine literarische Öffentlichkeit, die dank des Scherzes mit der literarischen Tradition und dem Erbe des Naturalismus bricht. Doch nicht dem Autonomiecharakter der Kunst wird bei Bierbaum als neuem Ideal gehuldigt, wie es die Bewegung des L’art pour l’art tat, die literarischen Figuren selbst erhalten Autonomie und Selbstbestimmung  : Ihr Emanzipationsentwurf unterläuft die Autorität der Erzählerfigur und verweist auf eine neue Ästhetik. Nicht der Autor, kein romantisches Genie und keine erzählerische Vernunftinstanz, die ordnend eingreift und moralisch urteilt, ist Grundlage einer neuen Literatur bei Bierbaum, sondern die Schöpfung und Reproduktion der Literatur und ihrer Protagonisten selbst. So ist nicht nur die wöchentliche Wiederauferstehung oder Neuerfindung der Elf Scharfrichter ein sowohl literarisches als auch praktisches Manifest einer neuen literarisch-kritischen Theaterbühne, sondern auch die Verlebendigung der fiktiven Figur Stilpe, auf die reale Überbrettl-Gründungen und Varietétheater-Eröffnungsversuche zurückgehen, ist paradigmatisch. der zwischen 1829 und 1850 geschrieben wurde. Vautrin tritt in unterschiedlicher Gestalt in den Romanen Le Père Goriot (1835), Illusions perdues (1836 – 1843), Splendeurs et misères des courtisanes (1838 – 1847) und ein letztes Mal in Le Député d’Arcis (1847) auf. Die Figur wandelt sich im Verlauf der Romane vom Gauner und Betrüger zum Polizeibeamten und Leiter der Pariser obersten Polizeibehörde. 424 Jolles, André  : Einfache Formen  : Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (1929). 2.A. Halle (Saale) 1956, S. 216.

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Das Verfahren der Verlebendigung literarischer Figuren wird in Bierbaums Werk ergänzt durch ein poetisches Spiel von Steckbriefen, Verschlüsselungen und versteckten Verweisen auf reale Personen, Schriftsteller, Politiker, Künstler. Diese Verflechtungen transportieren die von Bierbaum entworfene fiktional-literarische Öffentlichkeit in die Welt des realen Literaturbetriebs zurück. In Schlüsselromanen versteckte Anspielungen inszenieren so eine literarische Öffentlichkeit. Die literarische Aneignung ganzer Biographien literarischer Vertreter der Bohèmeszene, so wie sie Bierbaum in Prinz Kuckuck unternimmt, stellt die Literatur als vertrautes Terrain öffentlicher Selbstverständigung vor. Durch die kalkulierte Inszenierung literarischer Skandale gelingt es Bierbaum, das Interesse der Tagespresse auf seine Literatur zu lenken und den Werken mit Hilfe anderer Medien eine größere Popularität zukommen zu lassen. Für eine kurze Zeit reüssiert er mit diesem literaturunternehmerischen Verfahren, was die Ausleihzahlen seines erfolgreichsten Romans Prinz Kuckuck in den expandierenden Leihbibliotheken belegen  : Das Buch gehört nachweislich zu den meistausgeliehenen Büchern in den Volksbibliotheken in Wien, Straßburg, Posen, Erfurt, Königsberg, Rostock, Berlin und anderen Städten.425 Ähnlich werden Texte fremder Autoren in den eigenen Werken populär in Szene gesetzt und Literaten in Anrufinstanzen und Erzählerfiguren der Bierbaum’schen Romane verwandelt, wie beispielsweise Paul Scheerbart und seine Erzählung Loscha in Pankrazius Graunzer, fiktiv eingebunden und so in die Bierbaum’sche literarische Kommentarbühnenwelt integriert. Die romantische Tradition kollektiver Schreibweisen transformiert Bierbaum in die Technik eines literarischen Netzwerkes, dessen Teilnehmer sich sowohl aufeinander beziehen als auch dafür sorgen sollen, dass sich die Reichweite öffentlicher Aufmerksamkeit für die literarischen Werke des anderen erhöht. Diese forcierte Sensationslust bestätigen nicht nur die Werke Bierbaums, sondern auch die Fülle an Schlüsselromanen anderer Autoren und Autorinnen, die soziale Verbindungen innerhalb der Gruppe abbilden und mit dem Reiz des intimen Wissens der Bohème spielen. Bierbaum stellt seine literarische Tätigkeit als bekannter Schriftsteller in vielen Vorworten in den Dienst der Popularisierung der Werke anderer Literaten. Er schreibt die Einleitung zu Ludwig Finckhs Rosen (1906), zu Carl Arnold Kortums Die Jobsiade (1906), das Burschikose Wörterbuch als Einleitung zu Felix Schnabels 425 Vgl. die Listen der meistgefragten und der angekauften Bücher deutscher Volksbibliotheken, die Alberto Martino anhand alter Leihbibliothekskataloge rekonstruiert (Martino, Alberto  : Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution [1756 – 1914]. Mit einem zusammen mit Georg Jäger erstellten Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge. Wiesbaden 1990).

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58  Umschlagtitel des Goethekalenders auf das Jahr 1910.

Wanderjahre (1907), die Einleitung zur Neuauflage von Richard Elchingers Prinzessin Schnudi426 (1907) und viele weitere Vorreden und Widmungen. Die Literatur bekleidet sich in Otto Julius Bierbaums Vorworten – so scheint es – mit dem Kostüm einer Dauerkommentarbühne und gebiert auch in dieser Textgattung die literarische Öffentlichkeit aus der Fiktion. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet Bierbaum in seinen letzten Jahren für kurze Zeit als Herausgeber und Redakteur der Wiener Zeit und er schreibt unter anderem für den Berliner Börsen-Courier, das Berliner Tageblatt, den Morgen, Das literarische Echo, die Zeitschrift für Bücherfreunde und Die neue Rundschau. Schon seit 1906 zeichnet sich Bierbaum für den jährlichen Goethe-­Kalender in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung von Theodor Weicher in Leipzig verantwortlich (Abb. 58), der sehr hohe Auflagen erzielt  : Im Jahr 1906 wird der erste Goethe-Kalender auf das Jahr 1907 in einer Auflage von 12.000 Exemplaren gedruckt, 426 Richard Elchinger ersetzt dieses Vorwort 1919 nach dem Tod Otto Julius Bierbaum durch ein eigenes Neues Geleitschreiben des Verfassers für die Prinzessin, in dem er die Druckgeschichte seines Romans und die Konflikte um Urheberrechte wie auch die verkaufsfördernde Wirkung von Bierbaums Vorwort für die Neuauflage bei Georg Müller erzählt.

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59  Einband des Daheim-Kalender (1893).

der Goethe-Kalender für das Jahr 1908 wird in einer Auflage von 17.000 Exemplaren herausgegeben. In der Form des literarischen Almanachs findet Bierbaum eine weitere Möglichkeit der Popularisierung der Künste in volkstümlichem Format  : Eine neue Form des Almanachs geben jetzt grosse Verlage heraus, und vereinigen Proben von Neuerscheinungen des eltzten [sic  !] in einem Sammelband. Solche Almanache erschienen z.B. bei Staackmann und dem Inselverlag sehr billig zu Werbezwecken.427

Auch der Goethe-Kalender unterliegt Bierbaums literarischer Strategie, sich ein populäres Format ästhetisch anzueignen, um ästhetische Bildung breitenwirksam gestalten zu können. Die Kalender werden umfangreich illustriert und unter der Verwendung von photographischen Druckverfahren aufwendig gestaltet. Ihrer Funktion nach sind sie jedoch, wie alle billigen Almanache, für den Hausgebrauch entworfen  : Sie besitzen ein Kalendarium, das Verzeichnis der Feiertage und der Mondphasen, die katholischen Namenstage, Sonnenauf- und -untergangszeiten, den jüdischen Kalender, den astrologischen Jahreskreislauf und Platz für Notizen. 427 Koerrer, Maria  : Otto Julius Bierbaum  : Goethe-Kalender. Wien 1940, S. 16.

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60  Umschlagtitel von Des Lahrer Hinkenden Boten neuer historischer Kalender (1910).

Hinzu kommen Gedichte von Goethe, Sprichwörter und Anekdoten, aber auch literarische Aufsätze, kulturhistorische Umfragen wie die Urteile unserer Zeitgenossen über Goethe428. In Konkurrenz und in Abgrenzung stellt sich Bierbaum zur Popularität der damals weit verbreiteten Jahrbücher, wenn er betont, Goethe in seinem Goethe-Kalender nicht als »profanen Kalenderheiligen« inszenieren zu wollen, um dennoch ein Massenpublikum anzusprechen, wie es weit verbreiteten Kalender-Büchern wie dem Daheim-Jahreskalender (Abb. 59) oder dem von Bierbaum selbst erwähnten »Lahrer Hinkenden Boten«429 (Abb. 60) gelingt. Der schon seit 1800 erscheinende Familienkalender aus der Stadt Lahr / Schwarzwald, für dessen redaktionelle Herausgabe der Volksschriftsteller und Autor der Gartenlaube, Albert Bürklin, bis 1875 die Verantwortung trägt, erscheint um die Jahrhundertwende in 100.000er-Auflage.430 Die Bemühungen um eine volkstüm428 Urteile unserer Zeitgenossen über Goethe. In  : Bierbaum, Otto Julius (Hg.)  : Goethe-Kalender auf das Jahr 1910. Leipzig 1909, S. 66 – 136. 429 Bierbaum, Otto Julius  : Zum fünften Jahrgange. In  : Goethe-Kalender (1909), S. 5. 430 Vgl. Greilich, Susanne / Mix, York-Gothart (Hg.)  : Populäre Kalender im vorindustriellen Europa  : der »Hinkende Bote« / »Messager boiteux«. Kulturwissenschaftliche Analysen und bibliographisches Repertorium. Ein Handbuch. Berlin [u. a.] 2006.

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61  Einband von Roman der XII (1909).

liche, populäre Aneignung Goethes durch Bierbaum bekommen auch vor dem Hintergrund der Kampagnen gegen die Schundliteratur eine neue Tragweite. Anschaulich wird dies in einem Aufsatz von Franz Mehring, in dem er sich bemüßigt sieht, die Lesegewohnheiten des Arbeiters als eine von der bürgerlichen Dekadenz unangetastete Kultur vorzustellen, und so ebenfalls im Grunde aus kulturpessimistischer Perspektive argumentiert, wenn er ein »optimistisches«, deutschen Klassikern wie Goethe zugewandtes Lektüreverhalten des Arbeiters zum Ideal erhebt  : Diese Einwände würden zutreffen, wenn die Arbeiter irgend welches Interesse für die Romane des Fräulein Marlitt und die Schauspiele des Herrn Lindau bekundeten, indessen davon haben wir nie an irgend einem Arbeiter die geringste Spur entdecken können. Im Gegentheil  : die Sorte der Kunst, an welcher sich die heutige Bourgeoisie vergnügt, verachten die Arbeiter schlechthin, während sie in der modernen Kunst doch immer eine sehr beachtenswerthe Erscheinung sehen, wofür nicht zuletzt gerade die leidenschaftliche Heftigkeit ihres Widerstandes spricht. Die Streitfrage gewinnt aber sofort ein ganz anderes Gesicht, wenn die Arbeiter den Halbe und Hauptmann nicht etwa die Lindau und Marlitt, sondern je nachdem die Goethe und Schiller vorziehen.

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62  Inhaltsverzeichnis des Romans der Zwölf, gut zu erkennen ist die Anlage des Romans als Rätselspiel.

Nach unseren praktischen Beobachtungen läßt sich der Gegensatz dahin zusammenfassen, daß die moderne Kunst einen tief pessimistischen, das moderne Proletariat aber einen tief optimistischen Grundzug hat.431

Der kollektiv geschriebene Roman der Zwölf (Abb. 61 – 63) stellt ein poetisches Experiment vor, wie Bierbaums Automobilroman durch die Arbeit mit Photocollagen ein Medienexperiment unternimmt. Beide Veröffentlichungen können als Versuche der Verbreitung des Brettl-Gedankens gewertet werden, wie ihn Bierbaums Figur Stilpe formuliert. Ein Überführen der Kunst in das Leben, wie es die Bohèmeliteratur fordert, unternimmt Bierbaum, indem er althergebrachte Formen literarischer Produktion in Medien verwandelt, die ein Massenpublikum ansprechen und mit dem Alltagsleben kompatibler scheinen. Bierbaums unermüdliche Herausgeberschaften von Jahreskalendern, Lieder- bzw. Chansonbüchern, von Reise-, Auto- und Luftfahrtliteratur (Abb. 64 – 66) führen der Literatur einen Gebrauchswert zu, so dass die Lektüreerfahrung eine praktische 431 Mehring, Franz  : Kunst und Proletariat. In  : Die neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens 15/1 (1896), S. 129 – 132, hier S. 129.

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63  Silhouette und Autorenvorstellung von O. J. Bierbaum im Anhang des Romans Roman der XII (1909). Die Autorenvorstellung Bierbaums wurde von Peter Sequentius Vindobonensis verfasst, ein Pseudonym, hinter dem sich O. J. Bierbaum verbergen könnte, das Porträt gestaltete H. John Hörter.

Alltagshilfe ermöglicht und sich dem modernen Leben anpassen lässt. Die rasche Auflösung vieler Kabarettbühnen ist zwar dem ausbleibenden finanziellen Erfolg geschuldet, bedeutet aber kein Versagen der Varietékunst als solcher. Die flexiblen und vielseitigen Theatergründungen zeugen von einer Zeit des Erprobens neuer populärer Kunstformen und Vermittlungsformen ästhetisch-literarischer Bildung. Das »Bunte« an den Brettl-Bühnen und den künstlerischen Formen bezeichnet nicht nur die Vielfältigkeit literarischer und lyrischer Formen, sondern auch die Offenheit und Variabilität der ästhetischen Formen. Die exaltierte farbliche Ausgestaltung der ersten Brettl-Bühnen – Ernst von Wolzogens Buntes Brettl (1901) und Max Reinhardts Bühne Schall und Rauch (1901) in Berlin oder das Cabaret Fledermaus in Wien (1907)432 – erobert in ihrer Absage an die Ruhe 432 Vgl. Lareau, Alan  : Nummernprogramm, Ensemblekabarett, Kabarettrevue. Zur Dramaturgie der »Bunten Platte«. In  : McNally, Joanne / Sprengel, Peter (Hg.)  : Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda. Würzburg 2003, S. 12 – 28.

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64  Einband von Koehler’s Zeppelin-­ Kalender. Illustrierte Chronik der Luftschiffahrt (1909).

und Weihe eines gehobenen Kunstgeschmacks den Raum einer neuen Öffentlichkeit. Die Kneipen und Bars wirken wie Zirkusmanegen, der Literatur wird abendfüllender Unterhaltungscharakter zugesprochen, die Literatur darf laut sein und eine Mitgestaltung und ein Zwischenrufen des Publikums ist – wie bei den Elf Scharfrichtern in München – explizit erwünscht. Bierbaum wendet sich mit seinem poetischen Popularisierungsprogramm genauso entschieden gegen den Ästhetizismus von Stefan George, wie er den Attraktionen der Familienblätter und denen eines neuen Massenmediums, des frühen Kinos, nacheifert, denn Massenmedien organisieren, anders als noch das Kunstsystem oder der bildungsbürgerliche Literaturbetrieb des 19. Jahrhunderts, die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitspotentiale großer Kollektive in komplexen Gesellschaften  : Tiefenwirkung und ökonomischer Erfolg stehen dabei in einem komplizierten, keineswegs monokausalen Verhältnis.433

433 Kreimeier, Klaus  : Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos. Wien 2011, S. 49.

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65  Prolog für die erste Ausgabe von Koehler’s Zeppelin-Kalender (1909) von O. J. Bierbaum.

Die Faszination des Illusionseffekts, den das neue technische Medium des Films ermöglicht, die Verquickung von realen Bewegungen und phantastischen Bildvorlagen der Trickfilme von Méliès ebenso wie die Simulation von Realität in den frühen Dokumentarfilmen ist enorm und so bildet der Film neben dem expandierenden Zeitschriftenmarkt und den Theaterunternehmungen ein drittes wichtiges Medium populärer Unterhaltungsindustrie. Alle drei sind Phänomene künstlerischer Massenmedien, denen Bierbaum in seinen Werken literarisch begegnet. Doch das Rezeptionsniveau, auf das Massenmedien wie die Fami­lien­ blätter oder Kolportageromane zielen, sind »›Geschmacksdurchschnitte[ ]‹, die originelle Lösungen verhindern«434. Bierbaum unternimmt den literarischen Versuch einer modernen ästhetischen Bildungsunternehmung, die sich diesen Geschmacksdurchschnitten entgegenstellt. Man mag ihn in vielen seiner Herausgeberschaften als »poetische[n] Spekulant[en]«435 bezeichnen, aber sein Werk 434 Eco, Umberto  : Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt / M. 1986, S. 42. 435 Bierbaum, Otto Julius  : Brief an Fritz Mauthner, 11.2.1904. In  : Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his Publishers, S. 167.

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66  Bierbaum als »Dichter der Aeronautik« in Koehler’s Zeppelin-­Kalender (1909).

unterzieht er auch immer wieder einer Revision. Bierbaums Schreibweisen sind von Zurücknahmen und Vorwegnahmen geprägt, die durch die Verweise auf andere Texte ein Bierbaum’sches Universum künstlerischer Phantasiewelt vorstellen, das neben einem literarischen Kunstmarkt besteht und auf ihn einwirken kann, sei es kommentierend, sei es in spielerischer Negation. Durch das literarische Zitatspiel und die auf eine literarische Öffentlichkeit zielenden Kommentierungen sind in Bierbaums literarischem Werk die vielen unterschiedlichen poetischen Experimente, die um 1900 unternommen werden, präsent. Bierbaum als prominente Figur des öffentlichen Lebens propagiert in seinem Werk die Literatur und das Theater als »öffentlichkeitswirksame Institution« und ist bemüht, beides wieder »zum Zentrum der Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Veränderung wie ästhetische Innovation«436 werden zu lassen. Bierbaums literarisches Schaffen ist geprägt von ästhetischen Bemühungen um die Öffnung der Kunst für ein neues Massenpublikum, das bis dahin vom Standpunkt der Bildungseli436 Pankau, Johannes G.: Polizeiliche Tugendlichkeit  : Frank Wedekind. Zensur und Fin de siècle. In  : Kogel, Jörg-Dieter  : Schriftsteller vor Gericht. Verfolgte Literatur in vier Jahrhunderten. Frankfurt / M. 1996, S. 142 – 170, hier S. 144.

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ten aus abwertend als der künstlerischen Bildung unfähig eingeschätzt wird. Andererseits will Bierbaum neue Kunstformen und künstlerische Medien schaffen, die sich den Bedürfnissen und den Anliegen dieser bisher nicht repräsentierten Menge von städtischem Kleinbürgertum und Proletariat zuwenden. Das skeptische Urteil von Levetzow im Vorwort zu Ernst von Wolzogens Buntes Theater, dass das amüsierbegierige städtische Theaterpublikum im Varieté »einen ganzen Abend die Atmosphäre des Elendes atmen oder [s]ich unter Dieben, Gaunern und Schwerbrechern bewegen soll«437, zeigt doch auch die Faszination für das Verrufene und das Unerlaubte, das den Brettlbühnen eine besondere Attraktion beigibt und sie wiederum konkurrenzfähiger werden lässt gegenüber den Zirkussen und Jahrmärkten. »Bierbaum war sich wohl bewußt, daß er Unterhaltungskunst produziert«438, urteilt Norbert Honsza und Bernhard Maria Holeczek spricht von Bierbaums »etwas verschwommen definierte[m] Wunschtraum von allgemein ästhetischer Volkskultur«439. Nimmt man beide Perspektiven auf das literarische Werk ernst, wird Bierbaums ästhetischer Versuch einer literarischen Popularisierung um die Jahrhundertwende anschaulich und Bierbaum kann nicht nur als ein »wahrer Jongleur der Probleme«440 gelten, wie es ein Nachruf auf ihn in Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 1910 formuliert, sondern als literarischer Kulturkritiker der Moderne der Jahrhundertwende.

437 Levetzow, Freiherr Karl v.: Vorbemerkung. In  : Buntes Theater. Ernst von Wolzogen’s offizielles Repertoir. Erster Band. Berlin  : Julius Bard Verlag 1902, S. 12. 438 Honsza, Norbert  : Nachwort, S. 176. 439 Holeczek, Bernhard Maria  : Otto Julius Bierbaum im künstlerischen Leben der Jahrhundertwende. Studien zur literarischen Situation des Jugendstils. Berlin 1973, S. 150. 440 L.F.: Otto Julius Bierbaum [Nachruf]. In  : Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung 39 (1910), Nr. 58, 2.2.1910, S. 2.

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Danksagung Viele Menschen haben mit ihren literarischen, kulturellen und politischen Interessen, ihren eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen und Überlegungen zum Verhältnis von Moderne und Avantgarde sowie zu den literarischen Produktionen Otto Julius Bierbaums direkt oder indirekt Einfluss auf meine literaturwissenschaftliche Forschung genommen und der Arbeit in ihrem fortschreitenden Entstehungsprozess durch Impulse und durch die Auseinandersetzung Inspiration und Motivation gegeben. Wenn ich nun im Folgenden nicht alle Menschen nenne, gilt ihnen allen doch mein ganz herzlicher Dank. Mein eigenes literaturwissenschaftliches Forschen und Schreiben ist über viele Jahre durch freiberufliche Tätigkeit außerhalb der Universität und durch Lohnarbeit geprägt und von dieser sowohl beeinflusst als auch eingeschränkt gewesen  ; dies bedeutete mitunter Prekarität und Diskontinuität, die sich auch auf die Entstehung der Arbeit niederschlug. Umso mehr freue ich mich, dass meine Untersuchungen zu Otto Julius Bierbaums Prosawerk als Dissertationsschrift im Sommer 2017 an der Freien Universität Berlin angenommen wurden. Mein Betreuer Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher ermutigte mich von Beginn an in meinem Forschungsvorhaben und begleitete mit viel Interesse und Langmut den Fortgang der Arbeit. Ohne seine dauerhafte Fürsorge, die intellektuellen und den Schreibprozess aus mancher Krise wieder hinausmanövrierenden Aufmunterungen und den Ideenaustausch mit ihm wäre die Arbeit über populäre Erzählstrategien um 1900 nicht geschrieben worden. Er war es auch, der zum richtigen Zeitpunkt eine Eingrenzung forderte und meine Konzentration auf Bierbaum lenkte. Über viele Jahre waren der Austausch mit den Studentinnen und Kolleginnen in seinem Doktoranden-Colloquium eine wichtige Anbindung an den universitären Betrieb. Prof. Dr. Elisabeth K. Paefgen übernahm die Aufgabe der Zweitbetreuung und stand der Arbeit mit aufmerksamer Kritik und großer Offenheit gegenüber. Dafür möchte ich mich ebenfalls herzlich bedanken. Erste Forschungsergebnisse durfte ich auf der von Dr. Bernd Zegowitz und Dr. Björn Weyand am 16.  September 2015 am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt organisierten Tagung »Otto Julius Bierbaum – zwischen Berliner und Münchner Moderne« zur Debatte zu stellen. Insbesondere die Gespräche und Hinweise von Dr. Walter Hettche und Dr. Kurt Ifkovits dienten der Motivation, Präzisierung und Bereicherung meiner Arbeit. Unterstützung erhielt ich

Danksagung 

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bei den Manuskriptsichtungen und Recherchen von den Mitarbeiterinnen der Staatsbibliothek Berlin, der Staatsbibliothek München und vor allem den Archivarinnen des Monacensia Literaturarchivs in München. Dass sich der Böhlau Verlag bereit erklärte, die Arbeit in sein Programm aufzunehmen, freut mich sehr und ich danke in diesem Zusammenhang für die aufmerksame Kommunikation durch Sarah Stoffaneller und Julia Beenken und das Lektorat durch Dr. Rainer Landvogt.

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Siglenverzeichnis G = Bierbaum, Otto Julius  : Pankrazius Graunzer. In  : ders.: Gesammelte Werke. 2. Band. Hg. v. Michael Georg Conrad und Hans Brandenburg. München 1921, S. 1 – 230. PKI = Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. Band 1  : Prinz Kuckucks Vorgeschichte – In fremden Nestern. Vollständige Taschenbuchausgabe. München  ; Zürich 1981. PKII = Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. Band 2  : Hohe Schulen. Vollständige Taschenbuchausgabe. München  ; Zürich 1981. PKIII = Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. Band 3  : Zu Pferde und zu Hause – Nachbericht. Vollständige Taschenbuchausgabe. München  ; Zürich 1981. S = Bierbaum, Otto Julius  : Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Ungekürzte Ausgabe. München 1963. Bibliographie Primärliteratur von Otto Julius Bierbaum

Das Verzeichnis enthält die zitierten Werke Bierbaums in der Reihenfolge ihres Erscheinungsjahres. Eine ausführliche Übersicht der verschiedenen Auflagen bietet die Bibliographie von Alfred von Klement, die auch eine umfassende Übersicht der Beiträge Bierbaums in Zeitschriften und Zeitungen enthält. Der Nachlass Otto Julius Bierbaum befindet sich zum Teil in der Münchner Stadtbibliothek Monacensia, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar, im Diözesanarchiv Eichstätt und in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin. Erlebte Gedichte. Berlin 1892. Fünfundzwanzig Jahre Münchner Hoftheater-Geschichte. Ein Rückblick auf die fünfundzwanzigjährige Amtsführung des Freiherrn Karl von Perfall als Leiter der Münchner Hofbühnen. Hg. v. Otto Julius Bierbaum. Mit dem Bildnisse des Jubilars und mit 70 Illustrationen nach Photographien aller hervorragenden Mitglieder der königlichen Hofbühnen unter Perfalls Leitung. München 1892.

Bibliographie 

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Aus beiden Lagern. Betrachtungen, Karakteristiken und Stimmungen aus dem ersten Dop­pelten Ausstellungsjahre in München 1893. Mit den Bildnissen von Böcklin, Gebhardt, Gebr. Max, Lenbach, Liebermann, Stuck, Thoma, Uhde. Leitwort  : Jenseits von Genossenschaft und Secession. München 1893. Fritz von Uhde. Mit dem Bildnisse des Meisters in Heliogravüre nach einem Gemälde Leo Sambergers. München 1893. Richard Muther’s Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert. In  : Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit 4 (1893), H. 3/4, S. 1142 – 1157. Studenten-Beichten. München 1893. Nemt, Frouwe, disen Kranz. Ausgewählte Gedichte von Otto Julius Bierbaum. Berlin 1894. Ein Kathederwunder. In  : Die Kritik. Wochenschau des öffentlichen Lebens 1 (1894), H. 1, S. 36 – 40. [Mitherausgeber, gem. mit Julius Meier-Graefe]  : Pan (1895 – 86, H. I und II) Ein Gespräch. In  : Pan (1895), H. 2, S. 101 – 105. Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer der schönen Wissenschaften Doktor nebst einem Anhange wie schließlich alles ausgelaufen. Hg. v. Otto Julius Bierbaum. Berlin 1896. Vom »modernen Menschen«. Ein Brief des Herrn Pankrazius Graunzer an Otto Julius Bierbaum. In  : Deutsches Dichterheim. Organ für Dichtkunst und Kritik 16 (1896), Nr. 19, S. 570 – 573. Vorwort. In  : ders.: Der bunte Vogel von achtzehnhundertsiebenundneunzig. Ein Kalenderbuch von Otto Julius Bierbaum. Mit Zeichnungen von Felix Vallotton und E.  R. Weiß. Berlin 1896, S. 9 – 26. Die Schlangendame von Otto Julius Bierbaum. Mit achtundsechzig Zeichnungen von Felix Vallotton. Berlin 1896. Studenten-Beichten. Zweite Reihe. Berlin 1897. Kaktus und andere Künstlergeschichten von Otto Julius Bierbaum. Berlin  ; Leipzig 1898. Ehetanzlied. In  : Quickborn 1 (1898), H. 1, S. 17. Gugeline. Ein Bühnenspiel in fünf Aufzügen von Otto Julius Bierbaum. Mit Buchschmuck von E. R. Weiß. Berlin 1899. Das schöne Mädchen von Pao. Ein chinesischer Roman von Otto Julius Bierbaum. Berlin  ; Leipzig 1899. Stuck. Mit 157 Abbildungen nach Gemälden, Zeichnungen und Radierungen. Bielefeld  ; Leipzig 1899 (Velhagen & Klasings Künstler-Monographien  ; 42). [Mitherausgeber, gem. mit Rudolf Alexander Schröder und Alfred Walter Heymel]  : Die Insel (1899 – 1902) Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede. In  : Deutsche Chansons. Hg. v. Alfred Walter Heymel. Berlin  ; Leipzig 1900, S. V–XVI. [Pseud. Möbius, Martin]  : Steckbriefe erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur von Martin Möbius. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul. Berlin  ; Leipzig 1900. An den Jungfernbund zu Straßburg gewidmet von Ulrike der Unentwegten. In  : Möbius, Martin  : Steckbriefe erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährli-

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cher Natur von Martin Möbius. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul. Berlin  ; Leipzig 1900, S. 7 – 12. Pan im Busch. Ein Tanzspiel von Otto Julius Bierbaum mit Musik von Felix Mottl. Buchschmuck von Peter Behrens. Berlin 1900. Irrgarten der Liebe. Verliebte, launenhafte und moralische Lieder, Gedichte und Sprueche aus den Jahren 1885 bis 1900 von Otto Julius Bierbaum. Mit Leisten und Schlusssttuecken geschmueckt von Heinrich Vogeler. Berlin  ; Leipzig 1901. Wo wir stehen  ? In  : Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde 4 [1901 / 02], H. 1, Sp. 3 – 5. Eine empfindsame Reise im Automobil. Von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein in Briefen an Freunde geschildert von Otto Julius Bierbaum. Mit vierzig Abbildungen teils nach der Natur und teils nach Kunstwerken. Berlin 1903. Die vernarrte Prinzeß. Ein Fabelspiel in drei Bildern von Otto Julius Bierbaum. Mit einer Vorrede über das musikalische Bühnenspiel. (Die Dichtung ist in Musik gesetzt von Oscar von Chelius). München 1904. Zäpfel Kerns Abenteuer. Eine deutsche Kasperlegeschichte in dreiundvierzig Kapiteln. Frei nach Collodis italienischer Puppenhistorie Pinocchio von Otto Julius Bierbaum. Mit fünfundsechzig Zeichnungen von Arpad Schmidhammer. Köln 1905. Zwei Stilpe-Komödien. Das Cenacle der Maulesel und Die Schlangendame von Otto Julius Bierbaum. München  ; Leipzig 1905. Die Liaisons der schönen Sara. In  : Die neue Rundschau 17 (1906), H. 1, S. 1381 – 1400. Vita autoris. In  : ders.: Mit der Kraft. Automobilia von Otto Julius Bierbaum. Berlin 1906, S. 339 – 344. Der neubestellte Irrgarten der Liebe. Um etliche Gaenge und Lauben vermehrt. Verliebte, launenhafte, moralische und andere Lieder, Gedichte und Sprueche aus den Jahren 1885 bis 1905 von Otto Julius Bierbaum. Mit Leisten und Schlussstuecken von Heinrich Vogeler. Leipzig 1906. [Herausgeber]  : Goethe-Kalender für 1906 (… 1910). Zu Weihnachten 1905 (… 1909). Leipzig (1905 – 1910). Offener Brief an Herrn Maurice Barrès. Mitglied der französischen Akademie und der französischen Deputiertenkammer. In  : Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 1 (1907), Nr. 4, S. 117 – 123. München. In  : Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 1 (1907), Nr. 23, S. 723 – 727. Der Kultur-Kaiser. Imaginäre Zeitungsausschnitte aus imaginärer Zeit. Imaginiert von Otto Julius Bierbaum. In  : Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur 1 (1907), Nr. 23, S. 448 – 452. Im Spiegel. Autobiographische Skizzen 24  : Otto Julius Bierbaum. In  : Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 9 (1907), Nr. 14, Sp. 1082 – 1087. Der Musenkrieg. Eine Studentenkomödie in vier Aufzügen für die Opernbühne von Otto Julius Bierbaum. Berlin 1907. Maultrommel und Flöte. Neue Verse. München  ; Leipzig 1907. Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. In einem Zeitroman von Otto Julius Bierbaum. Bd. 1 – 3. München  ; Leipzig 1907–08.

Bibliographie 

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Satura. In  : Das literarische Echo 10 (1908), H. 19, Sp. 1335 – 1340. [Mitautor]  : Der Roman der XII. Von Hermann Bahr – Otto Julius Bierbaum – Otto Ernst – Herbert Eulenberg – Hanns Heinz Ewers – Gustav Falke – Georg Hirschfeld – Felix Hollaender – Gustav Meyrink – Gabriele Reuter – Olga Wohlbrück – Ernst v. Wolzogen. Berlin 1909. Prolog. Hinauf  ! An den Grafen Zeppelin von Otto Julius Bierbaum. In  : Koehler, Wilhelm (Hg.)  : Koehler’s Zeppelin-Kalender. 1.  Jahrgang 1909. Illustrierte Chronik der Luftschiffahrt mit Originalbeiträgen von Otto Julius Bierbaum und Fritz Lienhard. Gera-Untermhaus  ; Leipzig 1909, S. 5. Die Yankeedoodle-Fahrt und andere Reisegeschichten (Von Fiesole nach Pasing  ; Blätter aus Fiesole  ; Yankeedoodle-Fahrt  ; Eine kleine Herbstreise im Automobil  ; Kleine Reise). Neue Beiträge zur Kunst des Reisens. München 1909. Sonderbare Geschichten. Abt. 1 – 3. München  ; Leipzig 1909. Liliencron und Goethe. In  : ders. / Schüddekopf, Karl (Hg.)  : Goethe-Kalender auf das Jahr 1910. Leipzig 1909, S. 139 – 145. Franz von Königsbrun-Schaup / Otto Julius Bierbaum  : Fortuna. Abenteuer in fünf Aufzügen. Vorläufiger Abdruck zur Einreichung an Bühnenleitungen an Stelle eines Manuskripts. München  ; Leipzig 1910. Die Schatulle des Grafen Thrümmel und andere nachgelassene Gedichte. Hg. v. Hans Brandenburg. München  ; Leipzig 1910. Das schöne Mädchen von Pao. Ein chinesischer Roman von Otto Julius Bierbaum. Prachtausgabe mit Bildern von Bayros. München 1910. Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. v. Michael Georg Conrad und Hans Brandenburg. München 1912 ff. [7 von 10 Bänden sind erschienen]. Briefe Otto Julius Bierbaums Bierbaum, Otto Julius  : Brief an Fritz Mauthner, 11.2.1904. In  : Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his Publishers. Göppingen 1975, S. 167. Bierbaum, Otto Julius  : Brief an Georg Müller, 17.8.1908. In  : Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum’s Relationship with his Publishers. Göppingen 1975, S. 224. Unglaub, Erich  : Vier Briefe Hofmannsthal an Otto Julius Bierbaum. Mitgeteilt von Erich Unglaub. In  : Hofmannsthal-Blätter (1977), H. 17/18, S. 285 – 294. Quellen und Rezensionen Ahlwardt, Hermann (Hg.)  : Judenflinten. Neue Enthüllungen. Dresden 1892 ff. Anonym [d.i. Theodor Fontane]  : Nante Strump als Erzieher. In  : Deutschland 1 (1890), H. 29, 19.4.1890, S. 493 – 494. Avenarius, Ferdinand / Schumann, Wolfgang / Rinn, Hermann (Hg.)  : Der Kunstwart (1887– 1937). Avenarius, Ferdinand  : Hausgreuel. In  : Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des

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Schönen  – Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben 22 (1908), 2.  Novemberheft, S. 209 – 213. Bahr, Hermann  : Symbolisten. In  : ders.: Studien zur Kritik der Moderne. Frankfurt / M. 1984, S. 26 – 32. Balzac, Henri de  : Balzac’s menschliche Komödie. 16 Bände. Leipzig 1908 – 1911. Balzac, Honoré de  : Glanz und Elend der Kurtisanen. Übersetzt von Felix Paul Greve. Vollständige Neuausgabe hg. v. Karl-Maria Guth. Berlin 2015. [Der Text folgt der zweibändigen Ausgabe im Insel-Verlag 1909] Bassewitz, Gerdt von  : Peterchens Mondfahrt. Ein Märchen mit Bildern von Hans Baluschek. Berlin 1915. Bebel, August  : Die Frau und der Sozialismus (1879). 9. A. Berlin 1946. Beringer, Joseph August  : Im memoriam Otto Julius Bierbaum. In  : Brandenburg, Hans  : Otto Julius Bierbaum zum Gedächtnis. München 1912, S. 157 – 166. Berck, Marga  : Die goldene Wolke. Eine verklungene Bremer Melodie. Bremen 1954. Bern, Maximilian  : Die Zehnte Muse. Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl. Aus vergangenen Jahrhunderten und aus unsern Tagen gesammelt von Maximilian Bern. Neue, verb. A. 77. Tausend. Berlin 1911. Bilse, Fritz Oswald (d. i. Kyrburg, Fritz von der)  : Aus einer kleinen Garnison. Ein militärisches Zeitbild. Braunschweig 1903. Blei, Franz  : Die Insel und ihre Bewohner. Zitiert nach Blei, Franz  : Portraits. Hg. v. Anne Gabrisch. Berlin (Ost) 1986, S. S. 440 – 444. Blei, Franz  : Erzählung eines Lebens. Leipzig 1930. Blum, Léon  : Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfuß. Aus dem Französischen, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Joachim Kalka. Berlin 2005. Bolle, Oscar  : Prinz Kuckuck – Ein Sumpfrausch. In  : Allgemeine Zeitung (1907), Beilage Nr. 198, 8.11.1907, S. 189 – 191. Brandenburg, Hans  : Nachwort zu  : Otto Julius Bierbaum. Gesammelte Werke I. Gedichte, hrsg. v. Georg Conrad u. Hans Brandenburg. München  ; Leipzig 1912, S. 371 – 372. Busse, Carl  : Verse [Rezensionen]. In  : Blätter für literarische Unterhaltung 71 (1897), Nr. 45, 4.11.1897, S. 713 – 716. Busse, Carl  : Aus der Erzählliteratur [Rezension Die Schlangendame]. In  : Blätter für literarische Unterhaltung (1897), S. 90 – 91. Busse, Carl  : Neues vom Büchertisch [Rezension Prinz Kuckuck]. In  : Velhagen & Klasings Monatshefte 22 (1907 / 08), H. 12, S. 903 – 904. Conrad, Michael Georg  : Was die Isar rauscht. Münchener Roman in 3 Bänden. Leipzig 1887. Conrad, Michael Georg  : Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne. Leipzig 1902. Dohm, Hedwig  : Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung. Berlin 1902. Dose, Johannes  : Der Muttersohn. Glückstadt 1905. E. Marlitt †. In  : Gartenlaube (1887), H. 27, S. 250. Elchinger, Richard  : Eine Nacht bei O.  J. Bierbaum. In  : Brandenburg, Hans (Hg.)  : Otto Julius Bierbaum zum Gedächtnis. München 1912, S. 208 – 215.

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Jacobowski, Ludwig  : Die Insel. In  : Die Gesellschaft 16 (1900), Bd. 3, S. 64 – 65. Jacobsen, Jens Peter  : Niels Lyhne. Roman. Autorisierte Übersetzung aus d. Dän. v. M. von Borch. mit einer biographischen Einleitung v. Theodor Wolff. Leipzig 1889. Jacobsen, Jens Peter  : Frau Marie Grubbe. Interieurs aus dem 17. Jahrhundert von J. P. Jacobsen. Nach dem dän. Original v. Adolf Strodtmann. Berlin 1893. Jacobsen, Siegfried  : Stück Seine Kleine. Große Ausstattungsposse mit Gesang und Tanz am 1902. Jean Paul  : Flegeljahre. 4 Bde. Tübingen 1804 – 1805. Kahnmeyer, Ludwig / Schulze, Hermann  : Realienbuch. Enthaltend Geschichte, Erdkunde, Naturgeschichte, Physik, Chemie und Mineralogie. Ausgabe A. Nr. 1 Vollständige Ausgabe für evangelische Schulen. Mit zahlreichen in den Text gedruckten Abbildungen. 141. – 150. Auflage. Bielefeld  ; Leipzig 1913. Keil, Ernst  : An unsere Freunde und Leser. In  : Die Gartenlaube. Familien-Blatt 1 (1853), H. 1, 1.1.1853, S. 1. Key, Ellen  : Das Jahrhundert des Kindes. Studien. Autoris. Übertragung v. Francis Maro. Berlin 1902. Keller, Gottfried  : Die Leute von Seldwyla (1856). Berlin (Ost)  ; Weimar 1976. Klaußmann, A. O. (Hg.)  : Kaiserreden. Reden und Erlasse, Briefe und Telegramme Kaiser Wilhelms des Zweiten. Ein Charakterbild des Deutschen Kaisers. Leipzig 1902. Kortum, Carl Arnold  : Die Jobsiade. Ein komisches Heldengedicht in drei Teilen von Carl Arnold Kortum. Leipzig 1906. Krafft-Ebing, Richard von  : Psychopathia sexualis. Stuttgart 1886. Lasker-Schüler, Else  : Das Peter-Hille-Buch. Stuttgart  ; Berlin 1906. Langbehn, Julius  : Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. 41. A. Leipzig 1892. Liliencron, Detlev v.: An meinen Freund. In  : Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst 4 (1888), 2. Halbjahr, Oktober, S. 804 – 807. Landauer, Gustav  : Durch Absonderung zur Gemeinschaft. Vortrag am 18. Juni 1900. In  : ders.: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. Lich 2011, S. 131 – 147. Lehmann, Walter  : Das abendrote Haus. Eine Septembergeschichte. München  ; Leipzig 1911. Levetzow, Freiherr Karl v.: Vorbemerkung. In  : Bunter Theater. Ernst von Wolzogen’s offizielles Repertoir. Erster Band. Berlin 1902, S. 5 – 14. Liliencron, Detlev  : Ausgewählte Briefe. Berlin 1910. Lombroso, Cesare  : Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Übers. u. bearb. v. Moritz O. Fraenkel. Hamburg 1890. Lombroso, Cesare und Ferrero, Guglielmo  : Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf einer Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes. Hamburg 1894. Mann, Heinrich  : Die Jagd nach Liebe. München 1903. Mann, Heinrich  : Notiz des Herausgebers. In  : Choderlos de Laclos, Pierre Ambroise François  : Schlimme Liebschaften. Mit vierzehn Kupferstichen übertragen und eingeleitet von Heinrich Mann. Frankfurt / M. 1989, S. 485. Mann, Heinrich  : Eine neue Literaturströmung. In  : ders.: Essays und Publizistik. Kritische

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Anhang

Ideen. Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte. Bielefeld 2014, S. 241 – 254. Ulbricht, Justus H.: Ästhetik, Religion und neue soziale Bewegung um 1900. In  : Braungart, Wolfgang / Fuchs, Gotthard / Koch, Manfred (Hg.)  : Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwende II. Um 1900. Paderborn  ; München  ; Wien  ; Zürich 1998, S. 47 – 67. Vennen, Mareike  : Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840 – 1910). Göttingen 2018. »Von Menschen und Mächten«. Stefan George  – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892 – 1933. Hg. v. Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann im Auftrag der Stefan George Stiftung. München 2015. Voßwinkel, Ulrike  : Freie Liebe und Anarchie  : Schwabing – Monte Verità. Entwürfe gegen das etablierte Leben. München 2009. Wagner, Nike  : Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt / M. 1982. Wegener, Michael  : Die Heimat und die Dichtkunst. In  : Schmidt-Henkel, Gerhard / Enders, Horst / Knilli, Friedrich / Maier, Wolfgang (Hg.)  : Trivialliteratur. Aufsätze. Berlin 1964, S. 53 – 74. Wehry, Katrin  : »Wir haben den Feind im Land«. Nationalismus in der deutschen Kulturszene um 1900. In  : Kühnel, Anita / Lailach, Michael / Weber, Jutta (Hg.)  : Avantgarde  ! Die Welt von gestern  : Deutschland und die Moderne 1890 – 1914 – Worte in Freiheit  : Rebellion der Avantgarde 1909 – 1918. Berlin. Staatliche Museen zu Berlin 2014, S. 142 – 157. Werner, Renate  : Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann. Düsseldorf 1972. Wolf, Benedikt  : Penetrierte Männlichkeit. Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905 – 1969). Köln  ; Weimar  ; Wien 2018 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte  ; 72). Wolf, Norbert  : Jugendstil. 2. Auflage. München 2012. Wülfing, Wulf / Bruns, Karin / Parr, Rolf  : Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825 – 1933. Stuttgart  ; Weimar 1998 (Repertorien zur Deutschen Literaturgeschichte  ; 18). Wyss, Beat  : Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889. Berlin 2010. Zweig, Stefan  : Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin (Ost)  ; Weimar 1990.

Abbildungsnachweis Abb. 1  : Bierbaum, Otto Julius  : Aus beiden Lagern. München 1893. Abb. 2  : Berliner Börsen-Zeitung, 06.12.1893, S. 7579.

Abbildungsnachweis 

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Abb. 3  : Meier-Graefe, Julius  : Die Keuschen. Der Prinz. Berlin 1897. © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 4  : Bierbaum, Otto Julius  : Kaktus. 3. A. Berlin und Leipzig 1898. © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 5  : Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt 48 (1900). Abb. 6  : Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte 31 (1887), H. 304. © Georg Westermann Verlag GmbH Abb. 7  : Westermanns Monatshefte – Illustrierte deutsche Zeitschrift für das geistige Leben der Gegenwart 52 (1907), H. 1. © Georg Westermann Verlag GmbH Abb.  8  : Westermanns Monatshefte  – Illustrierte Zeitschrift fürs deutsche Haus 56 (1912), H. 7. © Georg Westermann Verlag GmbH Abb. 9  : Bierbaum, Otto Julius  : Stuck. Bielefeld  ; Leipzig 1899. Abb. 10  : Velhagen & Klasings Monatshefte 22 (1907 / 08), H. 7, S. 1. Abb. 11  : Die Kritik 1 (1894), Nr. 7. Abb. 12  : Bierbaum, Otto Julius  : Pankrazius Graunzer. Berlin 1895. © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 13  : Marlitt, Eugenie  : Goldelse. 16. A. Leipzig O. J. Abb. 14  : Dohm, Hedwig  : Die Antifeministen. Berlin 1902. Abb. 15  : Stinde, Julius  : Buchholzen’s in Italien. Berlin 1885. Abb. 16  : Pan (1885/96), H. 1 und 2. Abb. 17  : Pan (1895), H. 1. Abb. 18  : Pan (1895), H. 2. Abb. 19  : Pan (1895), H. 1, S. 91. Abb. 20  : Bierbaum, Otto Julius  : Der Bunte Vogel (1897). © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 21  : Bierbaum, Otto Julius  : Der Bunte Vogel (1899). © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 22  : Zur Westen, Walter von  : Der künstlerische Buchumschlag. In  : Zeitschrift für Bücherfreunde 2 (1898/99), H. 10, S. 401 – 416, hier S. 403. Abb. 23  : Bierbaum, Otto Julius  : Stilpe. Berlin  ; Leipzig 1897. © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 24  : Bierbaum, Otto Julius  : Stilpe. Berlin  ; Leipzig 1897. © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb.  25  : Bierbaum, Otto Julius  : Die Yankeedoodle-Fahrt und andere Reisegeschichten. München 1909. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 26  : Heinrich-Jost, Ingrid  : Hungrige Pegasusse. Anfänge des deutschen Kabaretts in Berlin 1984, S. 32. Abb. 27  : Heinrich-Jost, Ingrid  : Hungrige Pegasusse. Anfänge des deutschen Kabaretts in Berlin 1984, S. 33. Abb. 28  : Berliner Börsen-Zeitung, 25.01.1902, S. 12. Abb. 29 – 30  : Berliner Börsen-Zeitung, 29.12.1901, S. 6. Abb. 31  : Bierbaum, Otto Julius  : Gugeline. Ein Bühnenspiel in 5 Aufzügen. Mit Buchschmuck von E. R. Weiß. Berlin 1899. © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG

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Abb. 32  : Bierbaum, Otto Julius  : Irrgarten der Liebe. Berlin  ; Leipzig 1901. © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG Abb. 33  : Heymel, Alfred Walter (Hg.)  : Deutsche Chansons (Brettl-Lieder). Berlin  ; Leipzig 1900. © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG Abb. 34  : Bierbaum, Otto Julius  : Irrgarten der Liebe. Berlin  ; Leipzig 1901. © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG Abb. 35  : Martin Möbius  : Steckbriefe erlassen hinter dreißig literarischen Uebelthätern gemeingefährlicher Natur von Martin Möbius. Mit den getreuen Bildnissen der Dreißig versehen von Bruno Paul. Berlin  ; Leipzig 1900. ©  Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 36  : Bierbaum, Otto Julius  : Ehetanzlied. In  : Quickborn 1 (1898/99), H. 1, S. 17. Abb. 37  : Die Insel 3 (1902), H. 11/12. © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG Abb. 38  : Die Insel 1 (1899), 1. Quartal Oktober bis Dezember. © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG Abb. 39  : Bierbaum, Otto Julius  : Annamargareth und die drei Junggesellen. Eine Raubrittergeschichte. Leipzig 1902. © Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG Abb.  40  : Bierbaum, Otto Julius  : Stella und Antonie. Schauspiel in vier Aufzügen. München 1903. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 41  : Bierbaum, Otto Julius  : Mit der Kraft. Automobilia. Berlin 1906. Abb. 42  : Ruederer, Josef  : Münchener Satiren. München  ; Leipzig 1907. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 43  : Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck. Erster Band. München 1922. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 44  : Bierbaum, Otto Julius  : Zäpfel Kerns Abenteuer. Köln 1920. Abb. 45  : Bierbaum, Otto Julius  : Der Musenkrieg. Berlin 1907. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb.  46  : Bierbaum, Otto Julius  : Mit der Kraft. Automobilia. München  ; Leipzig 1906. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 47  : Bierbaum, Otto Julius  : Briefe an Gemma. München 1921. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 48  : Bierbaum, Otto Julius  : Prinz Kuckuck. Wohlfeile Ausgabe in einem Band. München 1922. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 49  : Bierbaum, Otto Julius  : Briefe an Gemma. München 1921. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb.  50  : Bierbaum, Otto Julius  : Die Schlangendame. Berlin  ; Leipzig 1910. ©  Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 51  : Bierbaum, Otto Julius  : Das schöne Mädchen von Pao. Berlin 1917. © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 52  : Die neue Rundschau 17 (1906), H. 1. © S. Fischer Verlag GmbH Abb. 53  : Simplicissimus 3 (1898), H. 31. © Langen Müller Verlag GmbH, München Abb. 54  : Max Liebermann  : Der zwölfjährige Jesus im Tempel, Hamburger Kunsthalle. Abb. 55  : Fritz von Uhde  : Das Tischgebet (»Komm, Herr Jesu, sei unser Gast«), Alte Natio­ nalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin.

Abbildungsnachweis 

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Abb. 56  : Die Insel der Blödsinnigen. Berlin 1902. Abb. 57  : Bierbaum, Otto Julius  : Maultrommel und Flöte. München  ; Leipzig 1907. © Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Abb. 58  : Bierbaum, Otto Julius  : Goethekalender auf das Jahr 1910. Leipzig 1909. © Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Abb. 59  : Daheim-Kalender für das Deutsche Reich auf das Gemeinjahr 1893. Bielefeld  ; Leipzig 1892. Abb. 60  : Des Lahrer Hinkenden Boten neuer historischer Kalender für den Bürger und Landmann auf das Jahr 1910. Lahr in Baden 1909. ©  Silberburg-Verlag / GeraNova Bruckmann Verlagshaus GmbH Abb. 61 – 63  : Bierbaum, Otto Julius [Mitautor]  : Der Roman der XII. Berlin 1909. Abb. 64 – 66  : Koehler’s Zeppelin-Kalender. Illustrierte Chronik der Luftschiffahrt 1 (1909), H. 1. Die Autorin hat sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. In Fällen, wo dies nicht gelungen ist, bittet der Verlag um Mitteilung.

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