Autobiographie und Zoegraphie - Dmitrij A. Prigovs späte Romane 9783110602494, 9783110601404

Drawing on Agamben’s notion of zoe – the fact of something’s being alive – this study develops a theory of the zoegraphi

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German Pages 261 [262] Year 2018

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Siglenverzeichnis
1. Einleitung
2. Theorie der Zoegraphie
3. Leben in Prigovs Poetologie, Lyrik, Essayistik und Performances
4. Živite v Moskve (Lebt in Moskau, 2000): Zoegraphie und Autobiographie
5. Renat i Drakon (Renat und der Drache, 2005): Zoegraphie und Autofiktion
6. Die asiatischen Romane: Zoegraphie und kulturelle Räume
7. Tvar’ nepodsudnaja und Konvertierungstexte: Zoegraphie und Selbstobjektivierung
8. Schlussbemerkung: Zoegraphie und Selbstkanonisierung
Bibliographie
Namensregister
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Autobiographie und Zoegraphie - Dmitrij A. Prigovs späte Romane
 9783110602494, 9783110601404

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Philipp Kohl Autobiographie und Zoegraphie – Dmitrij A. Prigovs späte Romane

WeltLiteraturen/ World Literatures

Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank und Michael Gamper Wissenschaftlicher Beirat Ute Berns (Universität Hamburg), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Stefan Keppler-Tasaki (University of Tōkyō), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)

Band 16

Philipp Kohl

Autobiographie und Zoegraphie – Dmitrij A. Prigovs späte Romane

Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-060140-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060249-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060176-3 ISSN 2198-9370 Library of Congress Control Number: 2018948962. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Gestaltet von Jürgen Brinckmann, Berlin, unter Verwendung einer Graphik von Anne Eusterschulte Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Für die Betreuung und Begleitung der Dissertation sowie für die anregenden Colloquien danke ich herzlich Susanne Frank und Georg Witte. Ohne ihn und Brigitte Obermayr, die mir nicht nur umfassende digitale Archivmaterialien zur Verfügung gestellt, sondern auch immer wieder Hinweise und Ratschläge gegeben hat, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Für ihre Hilfe bei den Übersetzungen aus dem Russischen danke ich Svetlana Sirotinina, Natalia Grinina und Slata Kozakova, für die Durchsicht der Kapitel Clemens Günther. Für die Erlaubnis, einige Abbildungen zu verwenden, und die Möglichkeit, meine Studien bei Prigov-Konferenzen zur Diskussion stellen zu können, danke ich Nadia Bourova, für aufschlussreiche Gespräche in Moskau Aleksej Šapoval und Evgenij Šklovskij. Für weitere Anregungen, Kommentare und Kritik danke ich Tomáš Glanc, Il’ja Kukulin, Mark Lipoveckij, Christian Steinau, Sebastian Kirsch und Christopher Scholz. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern.

https://doi.org/10.1515/9783110602494-201

Inhalt 1 Einleitung   1 1.1 Mehr und weniger als das menschliche Leben erzählen  1.2 Ein zoegraphischer Modus der Autobiographie   5 1.3 Leben und Roman   9 1.4 Aufbau der Arbeit   11 1.5 Forschungsstand   13 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2

 1

 16 Theorie der Zoegraphie  (Auto-)Biographie – Zoographie – Zoegraphie   16 Theoretische Ansätze zum Begriff Zoegraphie   16 Autobiographie und Zoographie (Derrida)   19 Philosophische Relationen von zoe und bios   21 Mythos (Kerényi)   21 Biopolitik und Biographie   23

 33 3 Leben in Prigovs Poetologie, Lyrik, Essayistik und Performances  3.1 Poetologische Schriften ab den späten 1970er Jahren   34 3.1.1 Potenz und Aktualität: Poetischer Raum und Benennung durch Leben   34 3.1.2 Leben und Wirklichkeit: „Hoher Parodismus“ und „Sovvitalismus“   41 3.1.3 Leben und Zeit: Katastrophe, Routine und das „lebenslange Projekt“   45 3.2 Lyrik: Das Poem Machrot’ vseja Rusi (1984)   47 3.2.1 Die Lebendigkeit des Milizionärs: Images, Personen, Persönlichkeit   47 3.2.2 Machrot’ vseja Rusi: Etymologie und Komposition   50 3.2.3 Die machrot’ als paradoxe pars pro toto   56 3.2.4 Antihistorische Vitalität: Machrot’ vs. Milicaner   58 3.3 Essays, Manifeste und Interviews: Neue Anthropologie   62 3.3.1 Die „neue Anthropologie“ und Diskurse von Posthumanismus, Gentechnik und Virtualität   64 3.3.2 Utopie und Apophatik der „neuen Anthropologie“   66 3.3.3 Epistemologie des „anthropologischen Projekts“   68 3.3.4 Ein Projekt jenseits der Lebenslänge: Virtuelle künstlerische Operationen im „Modus der Transitivität“   70 3.4 Performancekunst ab 2000   76 3.4.1 Die Performance Good-bye, USSR (2003): Prigov als sowjetischer Golem   78 3.4.2 Ungeborenes und ungestorbenes Leben   79 3.4.3 Das „magische Tetragramm SSSR“   83 3.4.4 Apophatik des „Vorlebens“   86

VIII 

  Inhalt

4 Živite v Moskve (Lebt in Moskau, 2000): ­Zoegraphie und Autobiographie   91 4.1 Das Romanprojekt „aufrichtiger“ Genres und die „neue Anthropologie“   91 4.1.1 Von der Poesie der „neuen Aufrichtigkeit“ zur „aufrichtigen“ Prosa   91 4.1.2 Pränatales Romangedächtnis (Augustinus, Tolstoj, Belyj, Nabokov)   95 Grenzen des Lebens, Generation und Population  4.1.3  99 4.2 Živite v Moskve: Erinnerung und Gedächtnis des  Zoegraphischen   102 4.2.1 Der „Gedächtnisraum“   102 4.2.2 Die Phantastik der zoegraphischen Erinnerung   110 4.2.3 Schwacher Vitalismus   115 4.2.4 Immunität   123 5 Renat i Drakon (Renat und der Drache, 2005): Zoegraphie und Autofiktion   131 5.1 Roman als „Enzyklopädie unverständlichen Lebens“  5.2 Held, Figur, Name: Vakante Posten   139 5.3 Experimentelles Leben erzählen   146 5.4 Skalen des Lebendigen: Die Romanfigur als „transponierende Struktur“   157 5.5 Autofiktion als Selbsttransposition   161

 132

6 Die asiatischen Romane: Zoegraphie und ­kulturelle Räume  6.1 Tol’ko moja Japonija (Nur mein Japan, 2001)   166 6.1.1 Die postnat(ion)ale Situation des Erzählens   166 6.1.2 Verse in Prosa: Zoegraphie zwischen Ich-Erzähler und lyrischem Ich   172 6.2 Katja kitajskaja (Die chinesische Katja, 2007)   182 6.2.1 Parallelbiographie   182 6.2.2 Geometrischer Animismus   187 7 Tvar’ nepodsudnaja und Konvertierungstexte: Zoegraphie und Selbstobjektivierung   193 7.1 Tvar’ nepodsudnaja (Die immune Kreatur, 2004)   194 7.1.1 Literaturgericht und numerische Selbstbilanz   194 7.1.2 Die kreatürliche Immunität der „immunen Kreatur“   198 7.1.3 Selbstobjektivierung: Konfession, Konversion und Konvertibilität   203

 166



7.2 7.2.1 7.2.2

Inhalt  

 211 Konvertierungs- und Stratifikationstexte  Lebensdaten: Selbstbilanz zwischen Prosa und Poesie   211 Experimente der Selbstobjektivierung zwischen Vers und Prosa 

8 Schlussbemerkung: Zoegraphie und Selbstkanonisierung   235 Bibliographie  Namensregister   248

 232

 IX

 224

Siglenverzeichnis Einzelne Texte Japan Tol’ko moja Japonija (Nur mein Japan) Katja Katja kitajskaja (Die chinesische Katja) Kreatur Tvar’ nepodsudnaja (Die immune Kreatur) Machrot’ Machrot’ vseja Russi (Die Machrot’ der ganzen Rus) Moskau Živite v Moskve (Lebt in Moskau) Renat i Drakon (Renat und der Drache) Renat Ausgaben, Textsammlungen Isčislenija i ustanovlenija (Berechnungen und Bestimmungen) IIU Sobranie stichov (Gesammelte Gedichte) SoSt Sobranie sočinenij v pjati tomach (Gesammelte Werke in fünf Bänden) SoSo Sbornik preduvedomlenij k raznoobraznym veščam (Sammelband von SPKRV Vorbekundungen zu verschiedenartigen Dingen) Zur Zitierweise: Wiederholt zitierte Titel werden bei der erstmaligen Nennung in den jeweiligen Kapiteln mit Vollbeleg angeführt. Weitere Nennungen erfolgen mit Namen und Jahreszahl. Entfallen auf ein Jahr mehrere Titel, werden sie alphabetisch sortiert (z. B. Prigov 1997b). Die Romane werden in den ihnen gewidmeten Kapiteln jeweils mit Seitenzahlen im Fließtext zitiert. Bei antiken Quellen erfolgen Angaben von Editionen und Seitenzahlen in Fußnoten nur dort, wo Kapiteleinteilungen fehlen oder zu umfangreich sind. Alle Internetquellen wurden zum letzten Mal am 30. Mai 2018 abgerufen.

https://doi.org/10.1515/9783110602494-202

1 Einleitung 1.1 Mehr und weniger als das menschliche Leben erzählen Dmitrij Aleksandrovič Prigovs künstlerische Laufbahn folgte einem präzisen Timing: Seit den 1960er Jahren verfolgte er das Projekt, täglich eine bestimmte Zahl von Gedichten zu schreiben. Später legte er das Ziel genau fest: Bis zum Jahr 2000 sollten es 24 000 Gedichte sein. Nach der Jahrtausendwende behauptete Prigov, das Plansoll erfüllt zu haben und gab kurz vor seinem Tod 2007 an, inzwischen 36 000 Gedichte verfasst zu haben.1 Verlässliche Angaben, die diese Zahlen bestätigen, gibt es nicht, denn die Typoskripthefte (sborniki, wörtlich ‚Sammelbände‘, ‚Kataloge‘) befinden sich an verschiedenen Orten und sind noch nicht umfassend bibliographiert, geschweige denn herausgegeben. Unzweifelhaft ist dagegen, dass Prigov im Jahr der angeblichen Erfüllung seines Millenniums-Projekts eine neue Werkphase einleitete: Ab 2000 veröffentlichte er vier autobiographische Romane, ein weiterer blieb unvollendet. Im Gegensatz zu der großen Zahl an Studien zu Prigovs Lyrik hat seine Prosa bisher wenig Resonanz gefunden. Charakteristisch für diese Zurückhaltung ist die Sicht des Schriftstellers Evgenij Popov.2 Romane eines Dichters seien „second hand“,3 sagt Popov in einem Interview, und erläutert: На фоне некоторых великих стихотворений Пригова, которых, кроме него, никто не мог бы написать, его проза мне кажется вспомогательной. У Пригова было огромное хозяйство, у него были элитные куры-несушки, а была и рабочая скотинка. Его проза, по-моему, и была этой рабочей скотинкой. (Šapoval 2014, 214) Vor dem Hintergrund einiger großer Gedichte Prigovs, die außer ihm niemand hätte schreiben können, scheint mir seine Prosa nur eine unterstützende Rolle zu spielen. Prigov hatte eine riesige Hofwirtschaft, er hatte elitäre Legehennen, aber er hatte auch Arbeitsvieh. Und seine Prosa war meiner Meinung nach solches Arbeitsvieh.

Der Künstler als Gutsbesitzer – Popov verwendet in seiner Skepsis eine Metapher des oikos, wie sie auch Prigov selbst immer wieder variiert hat, allerdings auf die sowje­ tische Ökonomie gemünzt. Der Künstler ist bei ihm eine Art Kommunalwohnung für verschiedene Ideen, Sprachen, Stilistiken.4 In seiner expansiven Poetik hat Prigov sein

1 Vgl. ausführlich in Kap. 3.3.4. 2 Beide haben sich gegenseitig in jeweils zwei ihrer Romane als Figuren beschrieben; vgl. Kap. 4.2.2. 3 Šapoval, Sergej (Hg.): D. A. Prigov. Dvadcat’ odin razgovor i odno družeskoe poslanie, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2014, 214. 4 So in Na urovne zdravogo smysla (Auf der Ebene des gesunden Menschenverstands, 1982): „Единственно, смог я стать им самим (здравым смыслом) и предоставить свою жилплощадь для https://doi.org/10.1515/9783110602494-001

2 

 Einleitung

Schaffen auf immer neue Genres und Medien ausgedehnt. Trotz allen Willens zum Ordnen, Klassifizieren, Bewerten, Hierarchisieren hat Prigov keine ästhetischen Ränge oder Noten für die Qualität einzelner Werke verteilt. Anders sieht es auf Rezeptionsseite aus: Nicht nur bei künstlerischen Weggefährten sind die Romane bisher auf wenig Enthusiasmus gestoßen. Auch in der Gemeinde der prigovedy, der russischen und ­internationalen Prigov-Spezialisten, haben die Romane bisher wenig Begeisterung entfacht. Bei der Vorbereitung des ersten großen Sammelbandes berichtet Mitherausgeber Il’ja Kukulin, für einen Beitrag zu den Romanen habe sich keine Person aus der Literaturwissenschaft finden lassen.5 Mit dem Beginn einer fünfbändigen Werkausgabe seit 2013 deutet sich allerdings an, dass sie in Zukunft doch eine wichtigere Rolle für die Beurteilung seines Werks spielen dürften. Die Bände, die unter der Leitung von Mark Lipoveckij herausgegeben werden, gruppieren Prigovs Texte um je einen ­Roman.6 Die Grundannahme dieser Arbeit ist, dass die Romane nicht einfach leere Räume in Prigovs Genre-Gebäude besetzen, ohne ihm etwas Neues hinzuzufügen. Sie geht davon aus, dass sich mit seinen Romanen poetologische Strategien beschreiben lassen, die über seine Lyrik hinausgehen. Einerseits sind die Romane Konsequenz einer poetischen Sprache, die immer schon auf dem Weg der Prosaisierung ist: Immer steht den Gedichtzyklen ein theoretisches preduvedomlenie voran, eine „Vorbekundung“

сходки всех этих противоборствующих, соседствующих или сожительствующих идей, языков, стилистик, не прочитываясь сам как голос.“ („Das einzige, was ich tun konnte, war zu ihm [dem gesunden Menschenverstand] selbst zu werden und meinen Wohnraum für ein Treffen all dieser widerstreitenden, benachbarten oder koexistenten Ideen, Sprachen, Stile anzubieten, ohne darin selbst als Stimme vorzukommen“, SPKRV, 123). Mit der Devise, als Künstler den Raum für ein Zusammenleben („sožitel’stvo“) von Ungleichem bereitzustellen, greift Prigov eine ökologische Idee der russischen Moderne auf, die Osip Mandel’štam in einem polemischen Text über Anton Čechovs Drama Djadja Vanja (Onkel Vanja, 1896) als dramaturgische Organisationsform beschrieben hat: „Ein Biologe würde das Čechovsche Prinzip als ökologisches bezeichnen. Das Zusammenleben ist für Čechov der entscheidende Grundsatz.“ („Биолог назвал бы чеховский принцип – экологическим. Сожительство для Чехова решающее начало.“) Mandel’štam, Osip Ė. [1935]: „O Čechove“, in: ders.: So­branie sočinenij v četyrech tomach, T. 3, Moskva: ArtBiznesCentr, 1994, 414–415; 414. 5 Kukulin hat diese Aufgabe daher selbst übernommen und die erste Studie zu den Romanen vorgelegt; vgl. Kukulin, Il’ja: „Javlenie russkogo moderna sovremennomu literatoru. Četyre romana D. A. Prigova“, in: Dobrenko, Evgenij et al. (Hg.): Nekanoničeskij klassik. Dmitrij Aleksandrovič Prigov (1940–2007), sbornik statej i materialov, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2010, 566–611; 566. 6 Zur Zeit der Drucklegung dieser Arbeit liegen drei Bände vor: Im ersten („Monady“; „Monaden“) sind Katja und der unvollendete Bekenntnisroman Kreatur versammelt, im zweiten („Moskva“) Moskau, im dritten („Monstry“; „Monster“) Renat. Der vierte („Mesta“; „Orte“) sieht Japan vor, im fünften („Mysli“; „Gedanken“) sollen theoretische Texte versammelt sein. Herausgeber Mark Lipoveckij versteht das Projekt nicht als wissenschaftliche Ausgabe, sondern als einen Versuch, bisher unpublizierte Texte möglichst rasch zugänglich zu machen. Vgl. Lipoveckij, Mark / Golovastikov, Kirill: „Tot redkij, kto polnost’ju“, 28.11. 2012, https://lenta.ru/articles/2012/11/28/prigov/. Die Romane werden hier jeweils in der Originalausgabe zitiert.



Mehr und weniger als das menschliche Leben erzählen 

 3

oder „Vorwarnung“ auf die nicht selten katastrophische Wendung der Lyrik.7 Es sind Selbstkommentare eines Autors, der Kritik und Interpretation in den Text einschließt. Andererseits gestattet die Lektüre von Prigovs Romanen einen anderen Blick auf die Beziehung zwischen dem einzelnen Text und der ‚ganzen‘ Poetik Prigovs. Interpretationen seiner Gedichte sind stets mit dem Problem konfrontiert, dass sich ein Motiv, eine Idee, ein Verfahren nicht nur im gerade betrachteten Gedicht, sondern möglicherweise auch an anderen Beispielen zeigen lässt. Prigov hat davon gesprochen, nicht einzelne Texte, sondern „poetischen Raum“ zu schreiben (vgl. Kap. 3.1.1) – was sich nicht nur an der Gestalt seiner Textarbeiten, der visuellen Stichogrammy (Versogramme) sehen lässt, sondern auch an überhängenden, überbordenden Versen. In der Prosa ist der geschriebene Raum anders strukturiert. Prigovs Romane sind nicht nur eine Konsequenz der Prosaisierung seiner Lyrik, sondern auch ein Ergebnis einer Strategie8, die Prigov seit Mitte der 1980er Jahre unter dem Namen der „neuen Aufrichtigkeit“ („novaja iskrennost’“) verfolgt. Nicht ganz zufällig fällt dieser Umbau der Poetik zeitlich mit der staatlichen Perestrojka zusammen. Die neue Ausrichtung unterscheidet sich von jenem Prigov, der in den 1970er Jahren unter der Devise der Soz Art mit Images, pop­ kulturell und offiziell mythologisierten Typen wie dem Milizionär, gearbeitet hat. Neue Aufrichtigkeit bedeutet nun nicht die Rückkehr von einem Ich, das den Wechsel zwischen Images orchestriert, zu einem Ich, das sein Seelenleben aufrichtig ausspricht. Mit neuer Aufrichtigkeit meint Prigov nicht authentische Innerlichkeit, sondern poetische Simulation von Konventionen aufrichtiger Aussagen aus der ersten Person. Das heißt nicht, dass die Aneignung fremder Stile aufhört – die Strategie der Aufrichtigkeit kommt neu zu den bestehenden hinzu und besetzt eine bisher vernachlässigte ­Position. In Prigovs Romanen spielen Images und fremde Stile eine andere Rolle als in seiner Lyrik: Ihre dominante Eigenschaft besteht nicht darin, Stile kanonischer Romane zu zitieren, anzueignen oder zu parodieren.9 In seinen autobiographischen Romanen erzählt ein Ich, das es vermeidet, sich Prigov zu nennen. Aber natürlich referiert es auf Prigov – als Künstler- und Dichterfigur, als eine Art Meta-Image, ein Konglomerat aus angeeigneten Stilen, und ebenso als biographische Person. Konsequent zur Losung der „neuen Aufrichtigkeit“ kündigt Prigov seine geplante Romantrilogie unter dem Motto an, drei europäische Genres des „aufrichtigen ­

7 Da sich das preduvedomlenie in der Prigov-Philologie als eigenständige, schwer übersetzbare ­Genrebezeichnung etabliert hat, wird der Begriff im Folgenden im Original und kursiv verwendet. 8 Den von konzeptualistischen Künstlern und Theoretikern oft verwendeten Begriff der Strategie hat Stephan Küpper untersucht und als Autorstrategie gefasst. Dieses Konzept gebe die Möglichkeit, „zwischen den Extrempolen einer totalen Kontrolle des Autorsubjekts über den Text wie über die Rezipierenden einerseits und seinem ‚Tod‘ in der unpersönlichen Sprache andererseits zu vermitteln“. Küpper, Stephan: Autorstrategien im Moskauer Konzeptualismus. Il’ja Kabakov, Lev Rubinštejn, Dmitrij A. Prigov, Frankfurt am Main [u. a.]: Lang, 2000, 31. Für Prigov erläutert er den Begriff anhand der Alphabetgedichte; vgl. ebd., 129–180. 9 Man denke als Vergleichsfolie an Vladimir Sorokins Roman (1985–1989).

4 

 Einleitung

­chreibens“ durchzuspielen: Memoiren, Reisebericht und Confession. Statt drei S schreibt er fünf Romane. Autobiographisch nennt er sie selbst nicht, doch keine andere literaturwissenschaftliche Kategorie scheint zuzutreffen auf diese Texte, die überwiegend aus der ersten Person erzählen und mit Ereignissen aus Prigovs Leben zu tun haben. Ein Ich-Erzähler erzählt von einem Leben, das nicht sein eigenes, persönliches zu sein scheint, sondern das von „Prigov“. Es ist ein Leben, das nicht von einer Person, sondern von einem Namen definiert ist. Weder Prigovs eigene Terminologie („Aufrichtigkeit“) noch jene der Literaturwissenschaft (Autobiographie, Autofiktion) scheint das Verhältnis adäquat auszudrücken, in dem das Ich zu diesem Leben steht. Das Leben, das hier mit dem Namen Prigov assoziiert wird, ist nicht mit dem Leben des Menschen Prigov gleichzusetzen, der von 1940 bis 2007 gelebt hat. Es umfasst gleichzeitig viel mehr und viel weniger als ein menschliches Leben. Dass sich Prigov ‚größere‘ oder ‚kleinere‘ Masken aufsetzt, ist kein neues Verfahren. In seiner Lyrik reichen die appropriierten Identitäten vom hohen Ton eines National-, Bürgeroder Propheten­dichters über Alltagskommunikation bis zu niedrigsten Äußerungen und Kraftaus­drücken. Die Denk- und Redeform seiner Poesie umfasst eine Bandbreite von vor- oder halb­bewusstem Murmeln bis zu komplexen logischen Operationen, was Michail Ėpštejn als „narodnoe ljubomudrie“ bezeichnet, ein spezifisch russisches „Volks-Philo­so­phie­ren“.10 Prigov hat für sich das un- oder übermenschliche Unterfangen reklamiert, die offizielle sowjetische Literatur mit einem eigenen Produkt zu überbieten. Die Akteure des Moskauer Konzeptualismus leben und arbeiten in der parallelen Öffentlichkeit des Samizdat, in einer inoffiziellen oder parapolitischen Sphäre. Prigovs Romane beschreiben dieses Leben im Rückblick, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Nun sind Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit nicht nur durch den privatisierten Literaturmarkt, sondern auch durch die aufkommende Netzöffentlichkeit verschoben. Darin unterscheidet sich der Erzähler der Romane vom lyrischen Ich, das gleichzeitig ihr Gegenstand ist. Das darin beschriebene Leben ist privat, in­sofern es sich dem Bereich des Politischen und Ideologischen entzieht. Es geht in den Romanen weder um das persönliche noch um das politische Leben, weder um das ‚Selbst‘ (‚auto‘) noch um den bios, das griechische Wort für das ‚ganze‘ Leben des Menschen, das vor der neuzeitlichen Etablierung des Begriffs Autobiographie auch die Lebensbeschreibung bezeichnet hat. Passender scheint ein anderer Begriff der antiken Philosophie, der die bloße Tatsache des Lebendigseins meint: zoe.

10 „Этот живой, почти животный философизм на уровне бурчания, мычания, бормотания позволяет многое понять в феномене российского коммунизма, который рос из сора дремучего, почти бессознательного народного любомудрия“ („Dieser vitale, fast tierische Philosophismus auf der Ebene von Geknurre, Gebrüll und Gebrumme sagt viel aus über das Phänomen des russischen Kommunismus, der aus dem Mist der wilden, fast bewusstlosen Weisheitsliebe des Volkes erwachsen ist“), Ėpštejn, Michail: „Lirika sorvannogo soznanija: Narodnoe ljubomudrie u D. A. Prigova“, in: Dobrenko et al. 2010, 252–262; 254.



Ein zoegraphischer Modus der Autobiographie 

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1.2 Ein zoegraphischer Modus der Autobiographie Diese Arbeit schlägt einen alternativen Begriff zur Autobiographie bzw. zum auto­ biographischen Schreiben vor: den des zoegraphischen Schreibens. Unter zoe­gra­ phischem Schreiben sollen jene literarischen Strategien verstanden werden, die poetologische Beziehungen zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Leben herstellen. Giorgio Agamben hat in einer zuspitzenden Aristoteles-Lektüre in seinem Buch Homo sacer (1995) die beiden Begriffe bios und zoe einander gegenübergestellt – das Leben in der polis und das „nackte Leben“. Besonders intensiv diskutiert wurde Agambens Überblendung dieser Begriffe mit der Biopolitik totalitärer Systeme im zwanzigsten Jahrhundert, vor allem mit dem Paradigma des nationalsozialistischen Konzentrationslagers. Wenn Prigovs Romane als zoegraphische beschrieben werden sollen, dann geht das über eine bloße Referenz auf die sowjetische Utopie bzw. stalinistische Perversion eines neuen Menschen hinaus. Da die Grenzen zwischen bios und zoe nicht nur politisch und historisch, sondern auch künstlerisch bzw. literarisch gezogen werden, ist der Roman der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein paradigmatischer Schauplatz dieser Prozesse.11 Zoegraphie ist, wörtlich genommen, ein Ding der Unmöglichkeit: Während ein menschliches Subjekt sich selbst beschreiben, „autobiographisch“ arbeiten kann, hat Leben als zoe keine Sprache, keine Zeit, keine individuelle Form. Es werden daher die Beziehungen zu betrachten sein, die literarische Subjektivität mit dem form- und sprachlosen Leben unterhält. Bereits Prigovs früher entstandene Lyrik ist ein Konglomerat, in dem der politische und der natürliche Körper zur Sprache kommt, in dem alltägliche Lebensäußerungen und Leben als metaphysische Substanz gleichermaßen besungen werden, von einem Ich, das in menschliche und nichtmenschliche Rollen schlüpft. Doch erst in den Romanen nimmt ein erinnernder Ich-Erzähler Bezug auf das gelebte Leben. Prigovs Romane als

11 Stellvertretend für die komparatistische Literaturwissenschaft sei genannt: De Boever, Arne: Narrative care. Biopolitics and the novel, London [u. a.]: Bloomsbury, 2014. Für den russischen Kontext ist Aleksandr Ėtkinds kulturwissenschaftliche Studie zur „verzerrten Trauer“ der poststalinistischen Epoche zentral. In Abgrenzung von Agambens „nacktem Leben“ (siehe Kap. 2.2) und von Eric Santners „kreatürlichem Leben“ (vgl. Kap. 7.1) schlägt Ėtkind für die kulturelle Erfahrung des Gulag den Begriff des „gefolterten Lebens“ vor: „This is life that has been stripped of meaning, speech, and memory by torture. Like creaturely life, tortured life is created by destitution, but this is a kind of destitution that is generated by the purposeful efforts of the state and its institutions. Like bare life, tortured life is situated in direct relation to the sovereign, because it is the sovereign who tortures. Tortured life is a temporary condition, though if the torture is skillfully performed, it can be drawn out over a prolonged period of time. This life can survive and recover, but the posttraumatic consequences are unavoidable.“ Etkind, Alexander: Warped mourning. Stories of the undead in the land of the unburied, Stanford: Stanford University Press, 2013, 29. Obwohl Ėtkind auch auf postsowjetische literarische Texte eingeht, ist Prigov nicht Objekt seiner Studie. Mit gutem Grund: Kapitel 4.2.1 zum „virtuellen Körpergedächtnis“ des Romans soll zeigen, dass bei Prigov die „posttraumatischen Konsequenzen“ (s. o.) nicht den Ausschlag geben.

6 

 Einleitung

zoegraphisch zu bezeichnen, setzt die Grundannahme voraus, dass der moderne Roman eine spezifische Formleistung hinsichtlich des Lebens erbringt. Agamben weist im letzten Band des Homo sacer-Zyklus, der unter dem Titel L’uso dei corpi (Der Gebrauch der Körper, 2014) erschienen ist, auf die Fähigkeit des Romans hin, einer grundlegenden anthropologischen Praxis eine Form zu geben: Theologians distinguish between the life that we live (vita quam vivimus), namely, the sum of facts and events that constitute our biography, and the life by means of which we live (vita qua vivimus), that which renders life livable and gives to it a sense and a form […]. In every existence these two lives appear divided, and yet one can say that every existence is the attempt, often unsuccessful and nevertheless insistently repeated, to realize their coincidence. Indeed, only that life is happy in which the division disappears. If one leaves to one side projects to reach this happiness on the collective level  – from convent rules to phalansteries  – the place where the study of the coincidence between the two lives has found its most sophisticated laboratory is the modern novel.12

Das Aufeinandertreffen des ‚Lebens, das ich lebe‘ und des ‚Lebens, durch das ich lebe‘, haben Prigovs Gedichte als ein komisches, ein parodistisches Ereignis inszeniert. Die beiden Lebensebenen voneinander zu trennen und ineinander fallen zu lassen – dieses Experiment lässt sich in Prigovs Romanen nun auf besondere Weise beobachten. Es gibt ein Leben im autobiographischen Roman, das gleichermaßen ‚über‘ und ‚unter‘ dem Ich-Erzähler verläuft. Er hat teil an einer sakralen und einer profanen Ebene des Lebens, deren Dissonanz die Romane zu Gehör bringen. Das zoegraphische Schreiben am Beispiel Prigov zu erörtern, scheint nicht nur für den spezifischen kulturgeschichtlichen Punkt um das Jahr 2000 aufschlussreich, also im Rückblick auf avantgardistische und totalitäre Beschwörungen und Manipulationen des Lebens und im Vorausblick auf Technoutopien virtueller Existenzweisen. Auch für die Beziehung Prigovs zum modernen europäischen bzw. insbesondere zum russischen modernistischen Roman scheint die Perspektive des ‚Lebens‘ produktiv. Mit der Perspektive auf die erzählerischen Verfahren von Abgrenzung, Trennung und Überlagerung von bios und zoe sollen einige Kategorien, die von der Forschung ausführlich zu postmodernen, konzeptualistischen und postsowjetischen Romanen diskutiert worden sind, bewusst im Hintergrund platziert, aber nicht ausgeblendet werden. Diese Arbeit geht von der Annahme aus, dass bestimmte Topoi postmodernen autobiographischen Schreibens wie Tod (einschließlich des Untoten und des Gespenstischen), Körper, Trauma sowie das Paradigma des Anderen für Prigovs ­Romane nicht ausreichend sind. Zäsuren von Tod oder Trauma spielen darin keine zentrale Rolle; das eigene Leben steht nicht im Verhältnis zu einem absolut ‚Anderen‘, sondern zum Leben ‚als solchem‘. Die konstitutive Krankheitserfahrung der

12 Agamben, Giorgio [2014]: The use of bodies. Homo Sacer IV, 2, transl. by Adam Kotsko, Princeton: Princeton University Press, 2016, 226.



Ein zoegraphischer Modus der Autobiographie 

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Kinderlähmung, die in allen Romanen präsent ist, scheint nicht nur den Körper unbeweglich zu machen, sondern die Kategorie des Körpers überhaupt aufzuheben. Die Kategorie des Lebendigen, so argumentiert Prigov auch in seinen theoretischen Texten, lässt sich dagegen nicht aufheben, gerade wenn in posthumanen Spekulationen über virtuelle Existenzweisen Körper und Tod wegfallen. Der Fokus auf ‚Leben‘ bzw. ‚Leben als solches‘ soll keinem Essentialismus das Wort reden. Zoegraphisches Schreiben ist nicht als esoterische Beschwörung einer undarstellbaren Essenz des Lebens zu verstehen. Dabei soll der apophatische Aspekt keineswegs außen vor bleiben –  also der Umstand, dass über ein vorsprachliches, vorbewusstes, vormenschliches oder über das Menschliche hinausgehendes Leben nicht gesprochen werden kann. Eine weitere Gefahr besteht darin, das Erzählte mit dem Erzählen zu verwechseln und das nichtmenschliche Leben bloß als Thema oder Motiv abzuhandeln. Nicht die undarstellbare zoe, sondern zoegraphische Formen des Schreibens sind Gegenstand dieser Arbeit. Georg Witte und Sabine Hänsgen haben dieses Problem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Natur und Kultur im russischen Konzeptualismus beschrieben: Konzeptualistische Ästhetik ist keine naive, neorousseauistische Kulturflucht, keine primitive Hinwendung zu Ursprünglichkeitserlebnissen jenseits der Zivilisation. Sie bedient sich ja gerade der Texte dieser Zivilisation (vom lyrischen Gedicht bis zur Propagandalosung), um ebendiese zum Medium der Entleerung zu machen. Der für die Kulturphilosophie seit der Aufklärung charakteristische Dualismus zwischen „Leben“ und „Kultur“ (zwischen „Erlebnis“ und „Text“, zwischen „vitaler“ Primitivität und „degenerierter“ Zivilisation usw.) erscheint aufgehoben.13

Konzeptualistische Kunst – ob Text, Bild oder Performance – kommentiert und rezipiert sich selbst. Für Witte und Hänsgen kommt das einer „unendlichen interpretativen Spirale gleich, in der Text und Situation sich wechselseitig und immer von neuem auseinander gebären.“14 Die Rolle der Interpreten scheint bei einer Kunst, die ihre ­eigene Kritik mitverkörpert, eine prekäre. Was bleibt ihnen mehr als Paraphrase? Die biologische Metapher des wechselseitigen „Gebärens“ etwa könnte auch zur Selbst­ beschreibung eines konzeptualistischen Texts gehören.15 Das lässt ahnen, auf welches

13 Hirt, Günter / Wonders, Sascha [Pseudonyme für: Witte, Georg / Hänsgen, Sabine]: „Mit Texten über Texte neben Texten. Kulturtheoretische Nachfragen des Moskauer Konzeptualismus“, in: Harten, Jürgen (Hg.): Sowjetische Kunst um 1990, Ausstellungskatalog „Binationale“ Kunsthalle Düsseldorf, Köln, 1991, 56–83; 65. 14 Ebd. 15 Konzeptualistische Arbeiten haben den Anspruch, totale performative Texte zu sein. Sie beziehen auch die Personen mit ein, die sich kritisch oder akademisch mit ihnen auseinandersetzen. Im Zweifelsfall lassen sich dann eine künstlerische Position und eine fremde Äußerung über diese Position nicht auseinanderhalten. Dirk Uffelmann hat das in einer Rezension von Stephan Küppers Dissertation hinsichtlich der Bibliographie problematisiert: „Maybe Küpper’s book does not contain an index for good reason, as this would have shown just how narrow the circle of relevant contributors

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 Einleitung

Abenteuer sich Literaturwissenschaft einlässt, wenn sie Literatur interpretiert, die eigene Begriffe zu ihrer Interpretation schon in sich trägt. Das interpretierende Publikum hat nicht nur die Rolle, die Windungen der konzeptualistischen Interpretationsspirale nachzufahren, sondern auch die Tautologien der Selbstkommentierung des Werks zu verstehen und etwaige Ungereimtheiten zu bemerken. So lohnt es sich gerade, close readings von Texten zu unternehmen, die sich als closed readings ihrer selbst präsentieren, den Komplex aus Text und Selbstkommentar zu entwirren. Darüber hinaus fragt sich, ob dieser Komplex in Prigovs Prosa aus seiner postkonzeptualistischen Zeit noch in sich geschlossen ist. Wenn Prigov etwa seinen Roman Renat i Drakon ohne Ironie als seinen Beitrag zum Genre der „Fantasy“ bezeichnet,16 scheint das zu Gegenmeinungen nachgerade aufzufordern. Die vorliegende Arbeit wird einen doppelten heuristischen Weg gehen: Einerseits wird Prigovs Metasprache als Terminologie beim Wort genommen, also ausführlich dargestellt und in einen diskursiven Kontext eingeordnet. Andererseits scheint die selbstkommentierende Position des IchErzählers in Prigovs Romanen um etwas Unkommentierbares zu kreisen. Ein unklassifizierbarer Rest bleibt trotz oder gerade wegen der Anstrengung dieses Ichs, alle Phänomene inklusive des eigenen Lebens poetisch, prosaisch, logisch zu klassifizieren und hierarchisieren. Als Annäherung an diesen Rest, das unklassifizierbare Leben des autobiographischen Romans, wird der Begriff des Zoegraphischen entwickelt und auf die Romane bezogen. Es ist ein fremder Kontext, eine Theoriesprache, die Prigov zur Verfügung gestanden hätte, aber von ihm nicht übernommen wurde. Und gerade deswegen scheint es – trotz aller Risiken der Heuristik – ein möglicher Umgang mit den oben skizzierten Problemen der Interpretation.

to authorial theory in connection with Moscow conceptualism is, whereby the German academics-­ witnesses (such as Witte) eventually both appear in the Russian texts and have taken part in looking after the work under review, so that even a quotation of Rubinshtein can turn into a homage to a German academic“ (Uffelmann, Dirk: Rezension zu: Küpper, Stephan: Autorstrategien im Moskauer Konzeptualismus. Il’ja Kabakov, Lev Rubinštejn, Dmitrij A. Prigov, Frankfurt am Main [u. a.]: Lang, 2000, in: ARTMargins 17. 8. 2002, http://www.artmargins.com/index.php/4-books/299-these-threeauthors). Auch meine Beschäftigung mit Prigov wurde vom erwähnten Prigov-Übersetzer und -Philologen Witte inspiriert und begleitet. In Japan wird er beschrieben als „der nervöse, die ganze Zeit sozusagen hüpfende, die ganze Zeit unaufhörlich und rasch, aber anständig Russisch sprechende, uns begleitende und betreuende Slawistik-Doktorand, ein ehemaliger Linker und Maoist, lang, hager und mit runder Brille auf seinem runden, rasierten kleinen Schädel“ (Prigow 2007, 42; „наш нервный, все время как бы подрыгивающий, все время беспрерывно и быстро говоривший на приличном русском принимающий и опекающий из бывших левых и даже маоистов, длинный и тощий, в круглых очках на маленькой круглой бритой головке аспирант-славист“, Japan, 48 f.). Auch andere Personen kommen in dieser Arbeit nicht nur als Stimmen der Forschung, sondern auch als Romanfiguren vor. Diese Prigov-Arbeit ist aus der konzeptualistischen Feedbackschleife nicht ausgeschlossen, wenn auch größere biographische Distanz zum Autor Prigov besteht – ich habe erst nach seinem Tod von ihm erfahren. 16 Vgl. Obermayr, Brigitte: „Vorwort“, in: dies. (Hg.): Jenseits der Parodie. Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma, Wien [u. a.]: Sagner, 2013, 6–15; 9.



Leben und Roman 

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Bios und zoe sollen als Begriffe des autobiographischen Romans zwei Pole sein, an denen sich die Lektüre von Prigovs Texten entfaltet, ohne dass sie eine letztgültige Typologie reklamiert, mit dem Erklärungsanspruch, an welchen Stellen, in welchen Verfahren, Motiven, Figuren bios und zoe zu identifizieren wären. Ein solcher Dualismus würde erstens hinter die theoretische Diskussion um diese Begriffe weit zurückfallen und zweitens Prigovs Idiosynkrasien in ein Raster zwängen, das beliebige andere Texte und Autoren aufnehmen könnte und so keine distinkten Erklärungsoptionen mehr bieten würde.

1.3 Leben und Roman Das Konzept eines zoegraphischen Schreibens ist in dieser Studie an einem theore­ tischen Konnex von Leben und Roman orientiert. Damit geht sie notwendigerweise über den russischen bzw. russistischen Bereich von Literatur und Literaturwissenschaft hinaus.17 Der Germanist Rüdiger Campe vertritt die These, dass der Roman seit seiner Entstehung exklusiv mit dem Leben verknüpft ist.18 Nicht zufällig führen kanonische Werke des achtzehnten Jahrhunderts das ‚Leben‘ im Titel (z. B. Sternes Life and ­Opinions of Tristram Shandy, 1759). Diese Verknüpfung geht über eine thematische hinaus, denn der Roman entsteht mit seiner Theorie zusammen, wie Campe anhand von Friedrich von Blanckenburg und Friedrich Schlegel dargestellt hat. Während bisherige literarische Gattungen über rhetorische und poetologische Kategorien definiert wurden, entsteht der Roman an einem Begriff des Lebens, der sich mit dieser Tradition nicht vollständig erklären lässt (vgl. Campe 2009, 197). Zoe ist keine klassische poetologische Kategorie. Wenn Aristoteles in der Poetik vom Leben in der Tragödie spricht, dann ist von bios die Rede: „die Tragödie ist eine Darstellung nicht von Menschen, sondern von Handlungen, vom Leben [βίου]“.19 Die Form, in der Leben dargestellt wird, sieht Aristoteles hinsichtlich ihrer Einheit in Analogie zum zoon, dem ­Lebewesen: [M]an muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar [ὥσπερ ζῷον ἓν ὅλον], das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann.20

17 Dabei werden auch und gerade russische Theorieansätze zum Leben in Roman, Poetik und Rhetorik in dieser Arbeit von Bedeutung sein, insbesondere die von Jakobson (vgl. Kap. 3.2) und Bachtin (vgl. Kap. 7.1.3). 18 Vgl. Campe, Rüdiger: „Form und Leben in der Theorie des Romans“, in: Avanessian, Armen et al. (Hg.): Vita aesthetica, Zürich: Diaphanes, 2009, 193–211. 19 Aristoteles: Poetik, 1450a16–17. 20 Aristoteles: Poetik, 1459a20–22.

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 Einleitung

Mit der Beschreibung der Tragödie als lebendiges Ganzes nimmt Aristoteles die parallele Entstehung von Biologie und Ästhetik im achtzehnten Jahrhundert vorweg. Doch erst die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entstehende Romantheorie thema­ tisiert das Verhältnis von Form und Leben grundlegend. Georg Lukács, Taufpate der Romantheorie, schreibt in seiner Theorie des Romans (1916): Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.21

In Prigovs Romanen scheint sich das bei Lukács beschriebene Verhältnis des Romans zur Totalität des Lebens wesentlich verändert zu haben. Sie beschreiben das Leben nicht als etwas Totales, sondern als etwas Partikulares oder Singuläres. Bereits seine Lyrik geht von einer Grundspannung zwischen Partikularem und Totalem aus, die im Russischen mit byt und bytie bezeichnet wird. In den Begriffen, die sich nur annähernd als ‚Dasein‘ und ‚Sein‘ übersetzen lassen, drückt sich eine Polarität zwischen partikularer, alltäglicher Existenz auf der einen Seite und allgemeinem, spirituellem, kosmischem Sein auf der anderen aus.22 Igor’ Smirnov argumentiert, dass sich diese Pole bei Prigov zueinander nicht antagonistisch, sondern kongruent verhalten: „Prigovs Gedichte thematisieren das Dasein und sind dabei, in ihrer Massenproduktion, durch die Darstellung des Privaten und Konkreten hindurch auf das Erfassen des Seins als Ganzes gerichtet.“23 Prigovs Poesie geht darüber hinaus, das Banale zu beschreiben, sie denkt selbst banal. So werden in Banal’nye rassuždenija (Banale Überlegungen) philosophische Gemeinplätze mit Situationen des Alltags überblendet.24 Svetlana Boym hat in ihrer Studie Common places (1994) die politischen und ästhetischen Konflikte um das Banale dargestellt. Die pošlost’ ist eine spezifisch russische Vorstellung von Trivialität, Vulgarität, sexueller Promiskuität und einem Mangel von Spiritualität (vgl. Boym 1994, 41). In der späten Sowjetunion ist die Rede von der Banalität des Lebens schließlich selbst banal geworden (vgl. ebd., 65). In Prigovs Romanen kommt das banale Leben zu einer neuen Dignität: Sie verhandeln die Grenzverschiebungen zwischen Banalem und Nicht-Banalem immer wieder neu. Das geschieht sowohl auf der Ebene des Erzählten (des banalen Lebens) als auch auf der Ebene des Erzählens (in alltäglicher und philosophischer Sprache). Die Frage nach dem Banalen wird sich wie ein roter Faden durch die theoretischen und textanalytischen Teile der Arbeit ziehen.

21 Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, 9. Aufl., Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, 1984, 53. 22 Vgl. dazu Boym, Svetlana: Common places. Mythologies of everyday life in Russia, Cambridge [u. a.]: Harvard University Press, 1994, 29–33. 23 Smirnov, Igor’ P.: „Dasein und Sein in D. A. Prigovs Gedichten“, in: Obermayr 2013b, 54–71; 56. 24 Vgl. Prigov, Dmitrij A.: Sovetskie teksty. 1979–84, Andrej L. Zorin, sost., vstupit. stat’ja, SanktPeterburg: Izdatel’stvo Ivana Limbacha, 1997, 121–136.



Aufbau der Arbeit 

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1.4 Aufbau der Arbeit Die Arbeit umfasst zwei einleitende Teile und einen Hauptteil: einen zu theoretischen Ansätzen des zoegraphischen Schreibens (Kap. 2), einen zu Prigovs Poesie, Theorie und Performance (Kap. 3) und schließlich ausführliche Lektüren der Romane (Kap. 4 bis 7). Die ersten beiden Teile laufen von zwei Seiten auf den Hauptteil zu: In Kapitel 2 wird das Verhältnis zwischen den Lebensbegriffen bios und zoe einerseits, zwischen Leben und Schrift andererseits betrachtet. Diese Verhältnisse werden in mythologischer, philosophischer und (bio-)politischer Perspektive bei Derrida, Kerényi, Agamben, Foucault und Deleuze diskutiert. Dieses Kapitel soll ein theoretisches Netz aufspannen, ohne einen starren Lektüreleitfaden für die folgenden Teile vorzugeben. Prigovs Texte und Romane sollen sowohl als eigenständige poetologische Beiträge gelesen als auch am Beispiel einzelner Verfahren, Motive und Probleme in den Kontext mit theoretischen Positionen sowie intertextuellen Bezügen gestellt werden. In Kapitel 3 wird Prigovs Poetik des Lebens in verschiedenen Gattungen und Medien beleuchtet: In seinen Gedicht-Vorbekundungen der 1980er Jahre entwickelt er ein Konzept der poiesis, das nicht nach dem Modell eines (er-)zeugenden Schaffens, ­sondern durch die Definition eines Raums verläuft, in dem Leben entstehen kann. Der staatlichen Kunstrichtung des Sozrealismus setzt er die Idee eines „Sovvitalismus“ entgegen, die nicht Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern das Aufeinandertreffen von niedriger, materieller Lebensäußerung und hoher, abstrakter Ideologie meint. Die Parodie bzw. das, was Prigov „hohen Parodismus“ nennt, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Prigovs bekannteste Verse besingen mit dem Milizionär das politische Leben, den bios, in Verkörperung eines niedrigen Vertreters der Staatsmacht. Mitte der 1980er Jahre kommt zusammen mit der „neuen Aufrichtigkeit“ ein anderes Lebenskonzept hinzu, das eine unbestimmte Lebendigkeit akzentuiert. Dies soll am Beispiel des Gedichts Machrot’ vseja Rusi (Die Machrot’ der ganzen Rus, 1984) gezeigt werden. In Prigovs theoretischen Überlegungen als Essayist und Interviewpartner ist das Stichwort einer „neuen Anthropologie“ zentral. Darunter unternimmt Prigov ­Spekulationen zu Poetik, Philosophie und Theologie, die von einer fortschreitenden Transformation des menschlichen Lebens, seiner Entstehung, seines Beginns und Endes ausgehen. Mit dem Aufkommen digitaler Medien wandelt sich Prigov vom ­sowjetischen Schreibmaschinen-Arbeiter zum Computer-Textproduzenten. Der Plan einer performativen Digitalisierung des eigenen Werks, von dem jeden Monat ein ­Gedicht bis zum vierten Jahrtausend ins Netz gestellt werden soll, bleibt unrealisiert. Auch seine körperbezogene Performancekunst soll in diesem Kapitel betrachtet ­werden, beispielhaft in der Performance Good-bye, USSR (2003): Darin lässt sich Prigov als „sowjetischer Golem“ vom unbeweglichen Ding zum Leben erwecken. Den Übergang vom „Vorleben“ zur Lebendigkeit beschreibt er in einem späteren Text. ­Dieses Modell einer An- und Abschaltbarkeit von Vitalität – ohne die menschlichen ­Lebensgrenzen von Geburt und Tod – soll der Lektüre der autobiographischen Romane zugrunde liegen. Bevor in Kapitel 4 die Lektüre des ersten und meistrezipierten

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 Einleitung

­Romans Živite v Moskve (Lebt in Moskau, 2000) einsetzt, werden drei Grundgedanken von Prigovs Romanprojekt beleuchtet: 1. Prigovs Spekulation über Möglichkeiten von „aufrichtigen“ Aussagen ohne die anthropozentrische Prämisse eines verantwort­lichen menschlichen Subjekts, die sich in den „aufrichtigen“ Romanen auf verschiedene Weise manifestiert; 2. eine Poetik des autobiographischen Romans, die die ­Geburt als Modell der Genese des menschlichen Lebens ausklammert, verbunden mit einem intertextuellen Exkurs zur Poetik der pränatalen Erinnerung (Augustinus, Tolstoj, Belyj, Nabokov); 3. eine Diskussion der Konzepte Generation und Population, die dem individuellen Leben in Moskau gegenübergestellt sind. Die Lektüre des Romans, der zeitlich von Prigovs Kindheit bis in die späte Sowjetunion reicht, untersucht zunächst das Problem einer zoegraphischen Erinnerung, die sich nicht auf Lebensereignisse, sondern auf jenes Potentielle richtet, das noch nicht zum Lebensereignis geworden ist. Das Verhältnis zwischen bios und zoe bzw. dem Erzählersubjekt und dem organischen Leben soll hier anhand der rhetorischen und biologischen Mechanismen von Ansteckung und Immunisierung erläutert werden. Kapitel 5 widmet sich Renat i Drakon (Renat und der Drache, 2005), einer Kombination aus Science-Fiction und Intellektuellen-Schlüsselroman: Die Hauptfigur Renat tritt hier als eine Art alter ego des Ich-Erzählers auf, beschrieben wird ein experimentelles Leben im romantischen Sinn – er strebt die Selbsttransformation in eine virtuelle Existenz an. In dem aus verschiedenen Episoden bestehenden Text ist der Ich-Erzähler nur eine Instanz von vielen. Die als „Fragmente“ („otryvki“) bezeichneten Teile sind einander in Orten, Zeiten und Figurennamen ähnlich, stimmen aber nicht überein und werden von keiner Instanz verglichen. Das Verhältnis von autobiographischem und zoegraphischem Schreiben ist in dieser fragmentarischen Struktur zu ­suchen, in den ‚Lücken‘ zwischen den Textebenen, die von vor- oder außergeschichtlicher Zeit bis in die Gegenwart r­ eichen, von Räumen, die kein menschliches Wesen bezeugen kann, bis zu Orten des Alltags. Während also Renat das Verhältnis von ‚natürlichen‘ und ‚kulturellen‘ Zeit- und Raumordnungen erzählt, sind Prigovs asiatische Romane mit den Beziehungen zwischen kulturellen Räumen befasst. In Kapitel 6 werden Tol’ko moja Japonija (Nur mein Japan, 2001) und Katja kitajskaja (Die chinesische Katja, 2007) als Szenarien anthropologischer Differenz untersucht: Japan erkundet die autobiographische Selbstbeschreibung eines russischen Dichters in einer postimperialen oder postnationalen Situation. Der Roman ist nicht nur Reisetext, sondern auch Hybridform zwischen Prosa und Versarbeiten. Hier wird die Differenz zwischen der zoegraphischen Lebensbeschreibung eines Ich-Erzählers und eines lyrischen Ichs als Formproblem deutlich. Katja ist die biographische Beschreibung der Kindheit von Prigovs Frau in China, die mit seiner sowjetischen Kindheit verglichen wird. Es ist eine Parallelbiographie, die in buchstäblich geometrischer Perspektive beschrieben wird. Dieser Roman erprobt das Paradox einer unpersönlichen Einfühlung –  statt die

Forschungsstand 

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‚­eigene‘ Lebenserfahrung eines Erzählers in der ersten Person mit einer Lebens­ geschichte eines Mädchens in der dritten Person zu vergleichen, strebt das Erzählen auf eine abstrakte Position zu. Eine solche abstrakte Position, die ‚über‘ oder ‚unter‘ dem autobiographischen ­Schreiben steht, wird schließlich in Kapitel 7 anhand poetischer und prosaischer V ­ erfahren des Berechnens und Bewertens erörtert: Im dritten Teil der „aufrichtigen“ Trilogie, dem unvollendeten Bekenntnisroman Tvar’ nepodsudnaja (Die immune ­Kreatur, 2004), bewertet das Ich sein Leben nach einer Punkteskala, deren Regeln es tautologisch selbst bestimmt und verändert. Das Verhältnis von bios und zoe wird hier in der titelgebenden „Kreatur“ zu suchen sein, die keinem Gesetz unterworfen, im juristischen und biologischen Sinne immun ist. Kreatur ist der Versuch, eine Lebensbilanz numerisch zu ziehen – und doch bleibt ein unbezifferbarer Rest. Das Romanfragment setzt eine Textpraxis des Berechnens, Umrechnens und Bezifferns um, die Prigov in den 1990er Jahren intensiv betrieben hat. Texte aus dieser Phase sollen im zweiten Teil des Kapitels auf die Frage untersucht werden, welche kleinen Formen des Zoegraphischen zwischen Vers und Prosa möglich sind. Hier wird es insbesondere um diaristische Texte gehen, in denen Lebensdaten nur kontingente Punkte in einer seriellen Struktur sind. In den sogenannten Stratifikations- und Konvertierungstexten werden Phänomene mittels sprachlicher Operationen ineinander konvertiert. Diese Texte sind nicht narrativ, sondern spekulativ. Sie sollen als Experimente analysiert werden, die ein abstraktes, unkörperliches Ich gewissermaßen errechnen, das später in den ­Romanen erzählt.

1.5 Forschungsstand Bereits zu Lebzeiten erfuhr Prigov ab den 1990er Jahren eine intensive Rezeption in der russischen und internationalen Literaturwissenschaft.25 Seit seinem Tod 2007 hat nicht nur eine neue Phase in der akademischen Auseinandersetzung, sondern auch eine institutionelle Kanonisierung im Literatur- und Kunstbetrieb begonnen. Es sind drei Sammelbände und diverse Sonderausgaben von Zeitschriften erschienen, die sich aus verschiedenen disziplinären Perspektiven mit seinem Werk auseinander­ setzen. Zum Romanwerk gibt es bisher allerdings nur wenige Studien: Über Moskau wurde bisher am meisten gearbeitet, für diese Arbeit ist vor allem der Beitrag von Michail Jampol’skij einschlägig.26 Auch zu Japan und Katja liegen einzelne ­Aufsätze

25 Eine umfassende Übersicht über die Sekundärliteratur gibt die Online-Bibliographie der PrigovStiftung: http://www.prigov.org/ru/research. 26 Jampol’skij, Michail: „Vysokij parodizm. Filosofija i poėtika romana Dmitrija Aleksandroviča Prigova ‚Živite v Moskve‘“, in: Dobrenko et al. 2010, 181–251. Außerdem: Karamitti [Caramitti], Mario: „Živite v Moskve. Telo i plamja pamjati“, in: Galieva, Žanna (Hg.): Prigov i konceptualizm. Sbornik statej, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2014, 182–186. Ich selbst habe einen Aufsatz zu Beginn des Dissertationsprojekts veröffentlicht; vgl. Kohl, Philipp: „Autobiography as zoegraphy: Dmitrii A.

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 Einleitung

vor.27 Zu Renat hat Lena Szilard eine umfassende und verdienstvolle Interpretation vorgelegt.28 Zum unvollendeten Roman Kreatur gibt es bisher keine Forschung. Die bisher einzige nennenswerte Studie, die sich Prigovs Romanprojekt in seiner Vollständigkeit widmet, erwähnt den erst 2013 veröffentlichten Text lediglich.29 Eine umfassende Analyse von Prigovs gesamtem Romanprojekt steht also noch aus, zumal in deutscher Sprache. Darüber hinaus ist Jampol’skijs 2016 erschienene Aufsatzsammlung zentral für die Argumentation dieser Arbeit, da sie zahlreiche Konzepte und Verfahren Prigovs in einen breiten theoretischen Zusammenhang stellt.30 Weitgehend ausgespart im vorliegenden zoegraphischen Ansatz bleibt das genuin graphische Moment, also die visuelle und (typo-)graphische Ebene von Prigovs Kunst. Das liegt zum einen daran, dass die Romane weder auffällig in ihrer Textgestalt und Materialität sind, noch graphische Bestandteile haben – mit Ausnahme von Japan, das eine Serie von Zeichnungen enthält (siehe Kap. 6.1). Zum anderen wurde die Schriftbildlichkeit von Prigovs Lyrik bereits ausführlich beschrieben.31 Der Forschungsstand zum theo-

Prigov’s Zhivite v Moskve“, in: Avtobiografija 3 (2014), 171–183. Die Lektüre von Moskau in Kapitel 4 geht wesentlich über diesen Beitrag hinaus. 27 Čancev, Aleksandr: „Iz Japonii v molčanie (o knige D. A. Prigova ‚Tol’ko moja Japonija‘)“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 5/2007, 290–294. Ich habe zu Japan einen Aufsatz veröffentlicht, der die Folie für Kapitel 6.1 bildet; vgl. Kohl, Philipp: „Die postnat(ion)ale Situation in D. A. Prigovs Reisetext Tol’ko moja Japonija“, in: Frieß, Nina / Lenz, Gunnar / Martin, Erik (Hg.): Ergebnisse der Arbeitstreffen des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft in Basel 2013 und Frankfurt (Oder) und Słubice 2014, Bd. 1, Potsdam: Potsdam University Press, 2016, 73–85. Zu Katja liegt ein Aufsatz vor; vgl. Chabibullina, Margarita: „‚Kitajskij tekst‘ v romane D. A. Prigova ‚Katja kitajskaja‘“, in: Vobořil, Ladislav (Hg.): Rossica Olomucensia. Sborník příspěvků z mezinárodní konference XXII. Olomoucké dny rusistů (04.–06.09. 2013), Olomouc: Univerzita Palackého v Olomouci, 2014, 291–295. 28 Zuerst auf Deutsch veröffentlicht als Szilard, Lena: „Renat i Drakon (Renat und der Drache). Das Dasein und das Ereignis des Seins“, in: Obermayr 2013b, 210–251. Hier wird zitiert nach dem Original; vgl. Silard, Lena: „Byt i sobytie bytija: ‚Renat i Drakon‘ D. A. Prigova“, in: Galieva 2014, 187–226. Außerdem hat Mark Lipoveckij Renat mit Sorokins Goluboe salo und Pelevins Generation P in eine Reihe „postmoderner Romane“ gestellt; vgl. Lipovetsky, Mark: „Postmodernist novel“, in: Dobrenko, Evgeny / Lipovetsky, Mark (Hg.): Russian literature since 1991, Cambridge: Cambridge University Press, 2015, 145–166. Ich habe zu Renat einen Aufsatz veröffentlicht, der einige Aspekte von Kapitel 5 enthält: Kohl, Philipp: „D. A. Prigovs Poetik der Selbsttransposition und sein Roman Renat i Drakon“, in: Hitzke, Diana / Finkelstein, Miriam (Hg.): Slavische Literaturen der Gegenwart als Weltliteratur. Hybride Konstellationen, Innsbruck: Innsbruck University Press, 2018, 167–186. 29 Die Argumentation von Kukulins Studie (Kukulin 2010) wird im Verlauf der Arbeit immer wieder aufgegriffen. 30 Jampol’skij, Michail: Prigov. Očerki chudožestvennogo nominalizma, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2016. Die bereits zuvor erschienenen Aufsätze des Autors, die der Band enthält, werden in früheren Publikationen zitiert. 31 Damit ist vor allem Wittes These von der „Versform als die Sichtbarkeitsform der Poesie“ gemeint, mit der er Prigov als einen Dichter beschreibt, bei dem die Unterscheidung zwischen Versrede auf der einen Seite und visueller Poesie auf der anderen keinen Sinn ergibt, weil hier Lyrik immer schon visuell ist. Vgl. Witte, Georg: „Prigov, ein Phänomenologe des Verses“, in: Obermayr 2013b, 16–53; 21 f.

Forschungsstand 

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retischen Thema dieser Arbeit lässt sich schwer eingrenzen: Einerseits existiert zu Agamben und der Philosophie von bios und zoe eine Fülle von Arbeiten, andererseits haben bisher nur einzelne Arbeiten versucht, explizit „zoegraphische“ Ansätze zu formulieren. Sie sind in Kapitel 2.1 aufgeführt. Die Arbeit soll nicht nur ein Beitrag zu Prigov und seiner (Selbst-)Kanonisierung sein, sondern auch einen theoretischen Transfer zwischen russischer und komparatistischer Literaturwissenschaft leisten.

2 Theorie der Zoegraphie 2.1 (Auto-)Biographie – Zoographie – Zoegraphie 2.1.1 Theoretische Ansätze zum Begriff Zoegraphie Eine Debatte zum Begriff Zoegraphie hat es bisher nicht gegeben. Es kann lediglich von einzelnen, voneinander unabhängigen Ansätzen in verstreuten Beiträgen die Rede sein. Solche Ansätze zu Konzepten von Zoegraphie sind in den letzten Jahren in verschiedenen Disziplinen und Forschungsfeldern entstanden: Theologie,1 Performanceund Literaturtheorie. Ein Zoegraphie-Konzept mit Bezug auf Agambens bios/zoe-Unterscheidung und ihrer Diskussion im Kontext posthumanen Lebens hat Louis van den Hengel erstmals skizziert und mit Beispielanalysen zu Performance und Bioart veranschaulicht. Sein Aufsatz Zoegraphy: Per/forming posthuman lives (2012) definiert Zoegraphie als mode of writing life that is not indexed on the traditional notion of bios – the discursive, social, and political life appropriate to human beings – but which centers on the generative vitality of zoe, an inhuman, impersonal, and inorganic force which […] is not specific to human lifeworlds, but cuts across humans, animals, technologies, and things.2

Mit seinem Begriff von zoe bezieht sich van den Hengel auf Agambens Differenzierung zwischen bios als sozial qualifizierter Lebensform und zoe als simplem Fakt des Lebens, der allen Wesen gemeinsam ist. Er geht aber nicht näher auf dessen Argumentation in Homo sacer ein. Stattdessen stellt er zoe in den Kontext der Philosophie von

1 Die theologischen Überlegungen von Andrew M. Weyermann zur Predigt als „autozoegraphy“ beziehen sich auf zoe in der neutestamentlichen Bedeutung von ‚ewigem Leben‘. Vgl. Weyermann, Andrew M.: „Preaching as autozoegraphy“, in: Currents in Theology and Mission 5/5 (1978), 325–329. Yong-Bock Kim führt Zoegraphie auf einen ökologisch-sozialen Lebensbegriff zurück: „Zoegraphy is used here in reference to an integral and convergent study of the whole of life (living beings), which involves biological and ecological as well as social and cultural dimensions“, Kim, Yong-Bock: „Zoesophia wisdom of life [sic]. Life is the sovereign subject – An alternative paradigm for graduate studies“, in: Bergmann, Sigurd / Kim, Yong-Bock (Hg.): Religion, ecology & gender: East-West perspectives, Berlin [u. a.]: Lit, 2009, 175–194; 177. Seine holistische Definition eines Bereichs der Zoegraphie als „universal story of the life of all living beings as a whole“ (ebd., 178) macht nicht klar, auf welcher Ebene sich diese „Universalgeschichte“ (im Sinne von histoire oder récit?) ereignet und welche Rolle Schrift hier spielt. Für die vorliegende Arbeit zu literarischen Schreibweisen der zoe auf Basis einer neuerlichen Aristoteles-Rezeption haben beide Ansätze keine Relevanz. 2 Hengel, Louis van den: „Zoegraphy: Per/forming posthuman lives“, in: Biography: An Interdisciplinary Quarterly, 35/1 (2012), 1–20; 2. https://doi.org/10.1515/9783110602494-002



(Auto-)Biographie – Zoographie – Zoegraphie 

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Gilles Deleuze und des Posthumanismus. So bestimmt van den Hengel zoe als präund posthumane Vitalität, als immanenten Prozess des Werdens, in dem sich Verbindungen zwischen Körpern, Arten und Technologien entfalten. In genetischen Modifikationen des Lebens erkennt van den Hengel im Anschluss an Rosi Braidotti eine materielle Produktivität des „Lebens selbst“,3 was er an den eigenständig wachsenden Zell-Skulpturen des australischen Tissue Culture & Art Project illustriert. So gelangt seine Studie zu einer Bestimmung des Zoegraphischen aus dem Geiste des ­Performativen: If posthuman life writing is a performative contradiction, then bioartists are per/forming this contradiction at the ontological level of life itself. As a material autobiographical environment, bioart enacts what I call zoegraphy: a postanthropocentric mode of life writing that affirms life as a force of inhuman vitality that runs through humans, animals, and things, and connects them transversally. Rather than addressing life from an already determined viewpoint such as that of the human “subject” or the nonhuman “other,” zoegraphy invites us to look at life as an experimental and open process of transformation, a continuous production of new relationalities. (Van den Hengel 2012, 8)

Drei zentrale Argumente seiner Definition scheinen für einen literaturwissenschaft­ lichen Begriff des Zoegraphischen entscheidend: 1. Die Doppeldeutigkeit des Lebensbegriffs im life writing: Wenn angelsächsische Beiträge wie die von Smith und Watson ihr Objekt „life writing“4 und nicht „(auto-) biography“ nennen, dann muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass „life“ nicht nur den bios der Biographie umfasst, sondern auch zoe – der Begriff des allen Wesen inhärenten Lebens, für den es seit dem Lateinischen vita in den europäischen Sprachen keinen eigenständigen Signifikanten mehr gibt. 2. Für ein life writing, das über bios hinausgeht, werden determinierte Instanzen problematisch – seien sie „Subjekt“, „Identität“ oder „Körper“. Lässt sich Leben als „transversale“ Vitalität denken, ist das Paradigma des Anderen damit nicht vereinbar. 3. Der performative Widerspruch („performative contradiction“, s. o.) des Konzepts einer posthumanen Lebensbeschreibung: Wie lässt sich Leben schreiben, wenn die Instanz der Schrift ‚nach‘ dem humanen oder humanistischen5 Subjekt der Biographie zu verorten ist? Dieser performative Widerspruch lässt sich mit den

3 Siehe Braidotti, Rosi: Transpositions. On nomadic ethics, Cambridge [u. a.]: Polity, 2006, 270; van den Hengel 2012, 3. 4 Life writing wird in ihrer Studie definiert als „general term for writing of diverse kinds that takes life as its subject“, Smith, Sidonie / Watson, Julia: Reading autobiography. A guide for interpreting life narratives, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2001, 3. 5 Für eine Abgrenzung des Posthumanismus von einer „posthumanen“ bzw. „antihumanen“ zugunsten einer „posthumanistischen“ Theorie plädiert Cary Wolfe; vgl. Wolfe, Cary: What is posthumanism? Minneapolis [u. a.]: University of Minnesota Press, 2010, 115–126.

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 Theorie der Zoegraphie

Lebensbegriffen bios und zoe reformulieren: Da zoe ohne Form ist, kann sie sich nicht in der Schrift ereignen. Wenn sie sag- oder beschreibbar werden soll, dann nur qua Formwerdung, innerhalb eines individuierten Lebens, eines bios. Van den Hengel hat in seinem Aufsatz wichtige Fragen gestellt, sie aber in zwei wesentlichen Punkten nicht oder nur teilweise beantwortet: 1.) Wenn zoe im Bereich des Ästhetischen, Fiktionalen oder Narrativen eine Form erhält, wie verhält sie sich zur Lebensform, in der sie produziert oder rezipiert wird, einem bios? 2.) Welche Rolle spielt Schrift, graphe, dabei? Obwohl sich van den Hengel auf den Diskurs des life writing, der (Auto-)Biographie bezieht und von „Narrativen“ spricht, spielt die schriftliche Verfasstheit und die narrative Zeitlichkeit des Lebens kaum eine Rolle.6 Seine Argumentation scheint vorauszusetzen, dass Theorien des life writing die (Auto-)Biographie medial entgrenzt und von ihrer narrativen Basis gelöst hätten.7 Ob das einerseits eine Untersuchung narrativer Techniken hinfällig macht und ob andererseits die Performanz der zoe mit ‚Zoegraphie‘ medial adäquat umschrieben ist, scheint fraglich. Eine im engeren Sinne literaturtheoretische Arbeit hat Corinna Sigmund mit ihrer Dissertation Schreibbegehren. Begehrenssubjekte, Begehrenstexte und skripturale Lebensform vorgelegt. Hier ist zoe erste von drei „vital-skripturalen Stufen“ sogenannter „Schreibbegehrenstexte“: zoe entspricht dem „fötalen/neutralen S ­ chreiben“, bios dem „Nicht-(materialisierten-)Schreiben“ und dynamis dem „Schreiben des Begehrenstextes“.8 Sigmund leitet den zoe-Begriff aus der aristotelischen Philosophie ab und ordnet ihn in die Kategorien von dynamis und energeia (Sein in Potenz und Aktualität) aus der Metaphysik ein (vgl. Sigmund 2014, 66). Diese Seinskategorien setzten sich in der Moderne vom Denken im Schreiben fort (vgl. Sigmund 2014, 66 f.), und zwar in der Form des „Schreibbegehrens“, das mit Platon, Aristoteles, Hegel, Heidegger und Lacan entwickelt wird. Es folgen komparatistische Textlektüren zu den Schreibformen der „dynamischen Biographie“ („sein Leben schreiben“) und „Zoëgraphie“ („ein Leben schreiben“, vgl. Sigmund 2014, 9). Wie bei van den Hengel, allerdings ohne Notiz seiner Studie, wird mit zoe die deleuzianische Philosophie der Immanenz und des Werdens assoziiert. Das geschieht vor allem in einer zoegraphischen Analyse von Virginia Woolfs Roman The Waves (1931), der Deleuze und Guattari inspiriert hat. Hier ist nicht von „posthumanen“ oder „inhumanen“ Aspekten der zoe die Rede. Die Konzeptualisierung als „fötales/neutrales Schreiben“

6 Auch wenn sich der Aufsatz nicht mit literarischem Erzählen beschäftigt, findet er Erwähnung im Handbook of Narratology; vgl. Schwalm, Helga: Art. „Autobiography“, in: Hühn, Peter et al. (Hg.): Handbook of narratology (2. ed., fully rev. and expanded ed.), Berlin [u. a.]: de Gruyter, 2014, http:// www.degruyter.com/viewbooktoc/product/207103, 58–78; 69 f. 7 Den Arbeiten von Sidonie Smith und Julia Watson sei es gelungen, „to transform narratively based theories of autobiography“, van den Hengel 2012, 16. 8 Sigmund, Corinna: Schreibbegehren. Begehrenssubjekte, Begehrenstexte und skripturale Lebens­ form, Berlin: Parodos, 2014, 25.



(Auto-)Biographie – Zoographie – Zoegraphie 

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(Sigmund 2014, 25) impliziert gerade eine Vor- oder Nullstufe des Anthropomorphen. Die „skripturale Lebensform“, deren erste Stufe sie ist, entwickelt Sigmund als Ergänzung der drei Lebensformen der Nikomachischen Ethik (praktisches, politisches und theoretisches Leben). Im Gegensatz zu van den Hengel, der zoe primär als künstlerisches Material betrachtet, versucht Sigmund, die zoe im Schreibprozess selbst zu verorten. Sie bezeichnet die untersuchten Texte als zoegraphisch, „insofern sie die Opusphantasie durch den utopischen Entwurf eines Schreibens ersetzen, das sich mit der Idee von neutraler, undifferenzierter Lebensäußerung in Verbindung bringen lässt“ (Sigmund 2014, 311). Es ist diese Verbindung von Schreiben als Lebensform und Zoegraphie, die in dieser Analyse zu wenig beleuchtet bleibt. Zoegraphie ist einerseits Teil eines drei­ stufigen Modells, wird dann aber als eigenständige Textform untersucht. Wenn ein ­Schreiben der zoe insofern utopisch ist, als es immer wieder in eine Lebensform übersetzt werden muss, lässt sich ein Modell des Zoegraphischen nicht unabhängig vom (Auto-)Biographischen betrachten. Die utopischen Impulse der bisherigen Konzepte von Zoegraphie („to free life writing from the human point of view and open it to the force of becoming“ [van den Hengel 2012, 16] oder „areflexives Schreiben“ [Sigmund 2014, 26]) bedürfen einer Vermittlung. Eine solche Vermittlung ist bisher überwiegend hinsichtlich (auto-)biographischer Texte mit Bezug zu nichtmenschlichen Lebensformen wie Tieren, Dingen, hybriden und virtuellen Wesen geschehen, also zu anderen Lebewesen und nicht zum ‚Leben als solches‘.9 Zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen Zoegraphie und Zoographie soll im folgenden Teilkapitel Jacques Derridas Theorie der Zoographie dargestellt werden.

2.1.2 Autobiographie und Zoographie (Derrida) ‚Zoegraphie‘ ist ein morphologischer Kunstgriff – ein altgriechisches Lemma zoegraphia sucht man in Wörterbüchern vergeblich. Es verhält sich damit analog zum Wort ‚Biographie‘, das ebenfalls eine neuere Wortschöpfung ist. Erstmals tritt es im späten siebzehnten Jahrhundert auf und geht damit von einem neuzeitlichen Begriff des Lebens aus.10 Es gibt allerdings das antike Wort der zographia (‚Malerei‘ – diese medialen Konnotationen werden in Kapitel 3 und 5 zur Sprache kommen). Zoegraphie ist zu unterscheiden vom Begriff des zographema, dem Gemälde, mit dem Aristoteles in Über ­Gedächtnis und Erinnerung (De memoria et reminescentia) die Repräsentationsleistung

9 Ein Forschungsüberblick zum Verhältnis von Autobiographie und nichtmenschlichen Lebensformen oder Lebewesen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 10 Die neoklassische Bildung ‚Biographie‘ im Sinne von ‚Lebensbeschreibung‘ hat sich im achtzehnten Jahrhundert etabliert, vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., völlig neu bearbeitet von Elmar Seebold, Berlin [u. a.]: de Gruyter, 1989, 87.

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des Gedächtnisses im Sinne eines Abdrucks vergleicht.11 Die zographia, Malerei – ein Wort, das im Griechischen offen lässt, ob ein zoon oder zoe gemalt wird –, vergleicht Platon im Kratylos mit der Schrift. Jacques Derrida hat das Wort in der Grammatologie (De la grammatologie, 1967) im Schriftbegriff der „Zoographie“ ­adaptiert: Hier verrät die Malerei, die Zoographie, das Sein und die lebendige Rede, die Worte und die Dinge selbst, weil sie sie erstarren läßt. Ihre Nachkömmlinge sind Bilder von Lebewesen, doch fragt man sie, dann geben sie keine Antwort. Die Zoographie hat den Tod überbracht. Gleiches gilt für die Schrift.12

Zoographie als festsetzende Schrift gilt Derrida als „todesträchtig“, weil sie die „Animalität fixiert“.13 Interpretiert er zographia als Abbildung von Lebewesen, dann kommt er auf die Grenzen zwischen ihnen zu sprechen. In seinem Vortrag Das Tier, das ich also bin (L’animal que donc je suis, 1999) behandelt Derrida diese Grenze hinsichtlich der Bestimmung des Menschen als eines „autobiographischen Tiers“. Gegen einen „bio­ logischen Kontinuismus“14 setzt er die Differenz, statt vom „Leben“ spricht er vom „­Lebenden“. Zoegraphie kann es für Derrida nicht geben, da zoe nicht für sich stehen kann. In der Autobiographie steht für ihn gerade das „Überschreiten der Grenzen zwischen bios und zoé, zwischen Biologischem, Zoologischem und Anthropologischem, sowie zwischen Leben und Tod, Leben und Technik, Leben und Geschichte“ (Derrida 2010, 48) auf dem Spiel. Aus dieser Perspektive setzt sich Derrida in der Vorlesung zum „autobiographischen Tier“ mit Heideggers ontologischen Fragen nach Mensch und Tier auseinander. Derrida betrachtet die Beziehung, genauer gesagt den „Abgrund“ zwischen zwei Formen des Selbstbezugs: der spontanen Selbstbewegung und Selbstaffektion des Lebendigen, der Animalität, und der diskursiven Selbstreferenz des cogito ergo sum (vgl. Derrida 2010, 82). Das geschieht beides im Bereich eines bios, eines als menschlich oder tierlich charakterisierten Lebens. Zu unterscheiden wäre daher im Folgenden zwischen vordiskursiven Äußerungsformen des Lebens und der unartikulierten Tatsache des Lebens, die nicht über Grenzen bestimmt werden kann. An anderer Stelle führt Derrida der morphologische Eifer zum Kompositum „Zoo-auto-bio-bibliographie“ (Derrida 2010, 62). Damit hat er einerseits eine Disziplin entworfen, die „autobiographische Tiere“ der Literatur untersucht, aber andererseits auf die strukturelle Unvollständigkeit des Worts ‚Biographie‘ hingewiesen. Keine Biographie erschöpft sich im Beschreiben des bios. Auch ‚Zoegraphie‘ ist in gewisser Weise unvollständig. Eine literarische Form des simplen Faktums der Lebendigkeit ist eine contradictio in adiecto.

11 Vgl. Aristoteles: De memoria et reminiscentia, 450a30. 12 Derrida, Jacques: Grammatologie, aus d. Franz. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt: Suhrkamp, 1974, 501. 13 Ebd. 14 Derrida, Jacques: „Das Tier, das ich also bin (weiterzuverfolgen)“, in: ders.: Das Tier, das ich also bin, aus d. Franz. v. Markus Sedlaczek, Wien: Passagen, 2010, 14–84; 56.



Philosophische Relationen von zoe und bios 

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So wird in den Romananalysen das Verhältnis von zoe und bios im autobiographischen Schreiben genauer zu bestimmen sein. Im folgenden Teilkapitel sollen mythologische und philosophische Kontexte der Lebensbegriffe dargestellt werden.

2.2 Philosophische Relationen von zoe und bios 2.2.1 Mythos (Kerényi) Bevor Agamben die bios/zoe-Unterscheidung in seinen Schriften zur Biopolitik bekannt gemacht hat, ist sie vom ungarischen Altphilologen und Kulturwissenschaftler Karl Kerényi systematisch entwickelt worden. Seit den 1960er Jahren verwendet Kerényi in seinen Arbeiten zum antiken Ritus den doppelten Lebensbegriff, bis er in seinem 1976 posthum erschienenen Buch Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens zur zentralen Unterscheidung wird. Hier fällt auch bereits das Wort der „nackten zoe“– zwei Jahrzehnte vor der Figur des „nackten Lebens“.15 Obwohl sich Agamben bei seiner kulturhistorischen Erklärung der homo sacer-Figur auf Kerényis Studien zum Menschenopfer aus den 1940er Jahren bezieht, nimmt er von dessen späterer Terminologie keine N ­ otiz.16 Das hängt mit einer vorphilosophischen Ausrichtung von Kerényis Blick auf die zoe zusammen. Seine Studie zum kretischen Dionysoskult stellt die mythologische ­Praxis in den Vordergrund. Für die Verehrung von Dionysos als dem Gott der zoe, des unzerstörbaren Lebens, spielt ein philosophischer Lebensbegriff keine Rolle. Die Ähnlichkeiten mit Nietzsches Philosophie des Dionysischen sind offensichtlich. Jedoch bezeichnet Kerényi in Kontrast zu dessen Vitalismus seine kulturgeschichtliche Methode als „biotisch“, insofern sie der menschlichen Erfahrungswelt des bios angehört.17 Statt einer philosophischen Exegese untersucht Kerényi die grundlegende sprachliche Erfahrung, in der die Griechen sich zum Leben verhielten. In seinem ­Aufsatz Schicksal, Leben und Tod nach griechischer Auffassung beabsichtigt er „die vorphilosophische griechische Auffassung vom Leben auf Grund der Sprache“ ­darzustellen.18 Für den elementaren Bedeutungsunterschied von bios und zoe betont Kerényi den sinnlichen Aspekt der Wörter nach Lautgebilde und Bedeutung: „zoé tönt das Leben

15 Kerényi, Karl: Werke in Einzelausgaben, Bd. 8: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, hg. v. Magda Kerényi, München [u. a.]: Langen Müller, 1976, 223. Zur Rolle der Schlange im Dionysosmythos schreibt Kerényi: „Sie ist die nackteste Form der im höchsten Grad auf sich selbst reduzierten zoé“, ebd., 82. 16 Vgl. Fenyvesi, Kristóf: „Dionysian biopolitics: Karl Kerényi’s concept of indestructible life“, in: Comparative Philosophy 5/2 (2014), http://scholarworks.sjsu.edu/comparativephilosophy/vol5/iss2/8, 45–68; 46. 17 Vgl. ebd. 18 Kerényi, Karl: „Schicksal, Leben und Tod nach griechischer Auffassung“, in: Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen 46, Bern/Stuttgart: Hans Huber, 5–16; 12.

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 Theorie der Zoegraphie

aller Lebewesen. Daher werden diese auf Griechisch zóon, in Mehrzahl zôa genannt. Die Bedeutung von zoé ist das näher nicht charakterisierte Leben“ (Kerényi 1963, 13).19 Entsprechend hat bios die Bedeutung eines charakterisierten Lebens – ohne Hinweis auf einen spezifisch menschlichen Charakter. Auch den Tieren, zoa, kann ein bios zukommen, wenn ihre Existenz von der bloßen physis der Pflanzen unterschieden wird: „Der feige Mensch lebt den bíos eines Hasen: wer das aussprach, faßte das Leben eines Tieres – des Hasen – als charakteristisches Leben auf, charakterisiert durch die Feigheit“ (Kerényi 1963, 13). In diesem Zusammenhang weist Kerényi auf Bedeutungsverschiebungen bei den modernen Begriffen Biologie und Biographie hin: In ‚Biologie‘ hat das griechische Wort bios streng genommen nichts zu suchen – als Wissenschaft vom Prozess des Lebens beschäftigt sie sich gerade mit dem, was jenseits der charakteristischen Existenz einzelner Lebewesen liegt. Ein biologos ist im Griechischen ein mimischer Schauspieler, also charakterisierender Nachahmer des Lebens (Kerényi 1963, 13). Der bios in ‚Biographie‘ entspricht dem griechischen Verständnis als charakterisierte Lebensform durchaus – im Griechischen hat bios bereits die Nebenbedeutung der Lebensschrift, das moderne Kompositum Biographie greift also nur einen Aspekt des Worts auf, der in der Antike bereits angelegt war. Bios lässt sich mit Kerényi als die Summe der Lebenserfahrungen beschreiben, deren Niederschrift möglich, aber nicht notwendig realisiert ist. Zoe als „Erfahrung des Lebens ohne Charakteristik – eben das, was zoé für die Griechen ‚tönt‘ –“ (Kerényi 1963, 15), versperrt sich dagegen der Schrift. Das hängt mit ihrer Unabschließbarkeit zusammen: Denn Leben ist die allererste Erfahrung, die aber als allerletzte Erfahrung nicht gemacht werden kann: sonst müßte man nach ihr auch den erfahrungslosen Zustand erfahren, und dieser wäre dann kein erfahrungsloser Zustand. Von einem solchen Zustand weiß man aber nur, wenn man aus ihm wiederum zur Erfahrung zurückgekehrt ist – sie also doch nicht ganz verloren hatte! Verschwunden, richtiger: geschwunden war die Erfahrung, nicht verloren (Kerényi 1963, 15).

Die zoe, an der jeder bios teilhat, kann nicht begrenzt, definiert, umschrieben werden, weil sie als grenzenlos erfahren wird. Sie steht in absolutem Gegensatz zum Tod. Der Gegenpol zu thanatos ist nicht bios – denn Tod gehört als Lebensereignis zu ihm –, sondern zoe, deren Zerstörung nicht erfahren werden kann. Nun sind es gerade Zustände geschwundener Erfahrung, minimaler Abweichung von bios und zoe, die kulturell bedeutsam werden. Philosophie und Religion bedienen für Kerényi Erwartungen, die „Unstimmigkeit zwischen den Erfahrungen des bíos und der Weigerung der zoé, ihre eigene Zerstörung zuzugeben, verschwinden lassen“ zu können (Kerényi 1963, 15).20

19 Die jeweils unterschiedliche lateinische Transliteration von bios und zoe wird in den Zitaten unverändert wiedergegeben. 20 Es wundert also nicht, dass die ersten Ansätze, die eine Verbindung von zoe und graphe explizit machen, aus der Theologie stammen (siehe Kap. 2.1.1).



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Aspekte der Erfahrung von bios und zoe der griechischen Religion kehren bei den Vorsokratikern in philosophischen Konzepten wieder. Heraklits Formel der ewigen Lebendigkeit, aeizoon, verbindet zoe mit Vorstellungen von Überzeitlichkeit. Bios liegt dagegen als zeitlich begrenzte Einheit in den Lebensstrom eingebettet. Im Fragment 48 heißt es: „Der Name des Bogens ist Leben, sein Tun Tod“.21 Mit einem Wortspiel betont Heraklit den für die Biographie später bedeutsamen Aspekt der Lebensspanne: Wird bios auf der zweiten Silbe betont, erklingt das Wort für ‚Bogen‘. In diesem Bild ist nicht nur die Lebensspanne, sondern auch eine im rechten Maß auszuhaltende Spannung enthalten. Nach Heraklits Auffassung ist Leben als bios mit menschlichem Leben konnotiert, das individuell auf den Tod zugeht, aber in einer zyklisch verstandenen Natur als Allgemeines, als zoe fortdauert.22 Wenn Kerényi für zoe den Ausdruck der Seinszeit (chronos tou einai) verwendet, dann steht diese Bestimmung an der Schwelle zwischen Mythos und Naturphilosophie: „Seinszeit ist da als kontinuierliches Sein zu verstehen, das in den bíos nur eingefaßt wird, solange diese dauert: das drückt die griechische Verbindung ‚zoé des bíos‘ aus. Vom kontinuierlichen Sein wird der bíos wie ein Stück herausgenommen und diesem oder jenem Individuum zugeteilt“ (Kerényi 1963, 14). Wenn zoe als „unzerstörbares Leben“ betrachtet wird, dann in einer Zeit, die dem bios nicht zugänglich ist. Auch vor dem Horizont einer möglichen Auslöschung des Lebens im zwanzigsten Jahrhundert hat die dionysische zoe für Kerényi Bestand. Ihre Auslöschung ist denkbar, „doch nicht vom Gesichtspunkt des Lebens, sondern von dem der Geschichte aus, die – wie wir jetzt, auf Grund unserer historischen Erfahrung, wissen – zu einer allgemeinen Zerstörung führen könnte“ (Kerényi 1976, 9). Obwohl Kerényi nicht auf die genuin politischen Aspekte der (Un-)Zerstörbarkeit des Lebens eingeht, lässt sich darin eine Biopolitik avant la lettre erkennen, die das Verhältnis von bios und zoe in der mythischen Praxis erhellt, noch bevor das Leben durch philosophische Operationen unterteilt wird.

2.2.2 Biopolitik und Biographie 2.2.2.1 bios, zoe und polis (Agamben, Heidegger, Arendt) Agamben hat die Unterscheidung von Lebensbegriffen zwischen bios und zoe in die philosophische Debatte der 1990er Jahre wiedereingeführt. Das Begriffspaar findet sich allerdings schon bei Hannah Arendt, die Agamben mit ihrer Analyse des homo laborans und der Rolle des biologischen Lebens bei seiner gesellschaftlichen

21 Gadamer, Hans-Georg: Heraklit-Studien, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7, Tübingen: Mohr, 1990, 43–82; 54. 22 Vgl. Karafyllis, Nicole: Art. „Bios und Zoe“ (Version 1.0, 2012), in: Kirchhoff, Thomas (Hg.): Naturphilosophische Grundbegriffe, http://www.naturphilosophie.org/bios-und-zoe/.

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­Ent­faltung zitiert.23 In The Human Condition (1958) denkt Arendt den Begriff des bios im Kontext von Lebensformen und ihrer Erzählbarkeit. Julia Kristeva hat unterstrichen, dass diese biographische Praxis öffentlich, in der polis stattfindet.24 Das von Anfang und Ende begrenzte menschliche Leben teilt einen biologischen Impuls mit der ü ­ brigen belebten Welt, unterscheidet sich davon aber durch eine zwischen Geburt und Tod eingefasste Zeitlichkeit. Arendt schreibt: The chief characteristic of this specifically human life, whose appearance and disappearance constitute worldly events, is that it is itself always full of events which ultimately can be told as a story, establish a biography; it is of this life, bios as distinguished from mere zoe, that Aristotle said that it “somehow is a kind of praxis.” (Politics 1254a7).25

Aber auch Arendts Lehrer Heidegger hat die Differenz zwischen bios und zoe bereits wahrgenommen, und sie wird mit der Biographie in Verbindung gebracht. Seine Logikvorlesung im Wintersemester 1925/26 in Marburg, wo Arendt studiert, enthält die Bemerkung: ζωή im Aristotelischen Sinne: das vegetative und animalische Sein; ζωή, Leben im heutigen Sinne des Biologischen. Während βίος bei den Griechen heißt, wenn wir ganz extrem interpretieren, so viel wie menschliche Existenz oder personales Sein, wie es z. B. im Ausdruck Biographie sich zeigt, βίος bezeichnet im Griechischen, in der Aristotelischen Ethik z. B., eine Möglichkeit der Existenz; βίος θεωρητικός: Existenz des wissenschaftlichen Menschen.26

Heidegger deutet bios als „menschliche Existenz“ und „personales Sein“. Das hebt eine anthropozentrische Seite von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik hervor, die Agamben aufgreift. Sein 1995 erschienenes Buch Homo sacer beginnt er mit einer Analyse der Verwendungsweise der Begriffe bei Platon und Aristoteles. Aristoteles benutzt bios, wenn es um das Leben in der polis geht – die Formen des politischen oder theoretischen Lebens können nur im Staat realisiert werden. Das reproduktive Leben der zoe ist dagegen auf die private Sphäre des oikos beschränkt. Zoe als „einfache Tatsache des Lebens“ (Agamben 2002, 11) ist nicht anthro­ pologisch festgelegt. Der Mensch ist ein politisches Lebewesen (abgeleitet von zoe: zoon politikon), auch Götter können zoa sein. Dass die zoe für Aristoteles einen

23 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus d. Ital. v. Hubert Thüring, Frankfurt: Suhrkamp, 2002, 13. 24 Vgl. Kristeva, Julia: Hannah Arendt. Life is a narrative, aus d. Franz. v. Frank Collins, Toronto: University of Toronto Press, 2001, 8. 25 Arendt, Hannah: The Human Condition, Chicago [u. a.]: University of Chicago Press, 1998, 97. 26 Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Bd. 21, Abt. 2, Vorlesungen 1923–1944, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, 2., durchges. Aufl., Frankfurt: Klostermann, 1995, 34 f.



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­eigenständigen Wert im Leben der Menschen habe, unterstreicht Agamben mit einem Zitat aus der Politik: Aber die Menschen treten auch um des Lebens selbst willen zusammen  – denn vielleicht ist schon im Leben allein ein Teil des Guten zu finden – und erhalten die staatliche Gemeinschaft schon um des bloßen Daseins willen aufrecht, vorausgesetzt, daß das Ungemach des Lebens nicht gar zu sehr überwiegt.27

Mit der These, die Griechen hätten zoe, das „einfache natürliche Leben“ aus der polis ausgeschlossen, hat Agamben Kritik auf sich gezogen: Aristoteles verwendet in seinen naturwissenschaftlichen Schriften das Wort bios im Zusammenhang mit tierischem und pflanzlichem Leben durchaus, nämlich dann, wenn es um die Lebensweise ­bestimmter Wesen geht.28 Weder kann bios auf Menschen und ihre politische Praxis reduziert werden noch zoe auf nichtmenschliche Wesen und die Eigenschaftslosigkeit von Leben. Entsprechend lehnt Derrida in seinem Seminar zum Verhältnis von Tier und Souverän die Unterscheidung von bios und zoe als wirksames Analyseinstrument ab: erstens aus dem Grund, dass Aristoteles nicht konsequent zwischen den beiden Begriffen unterscheide, zweitens, weil es zoe als „nacktes Leben“ nicht gebe. Dies macht Derrida am Begriff des zoon politikon fest: „The specific difference or the attribute of man’s living, in his life as a living being, in his bare life, if you will, is to be political.“29 Für Derrida ist zoe mit bios derart verschränkt, dass daraus keine Differenz für das Sprechen über Leben entsteht – geschweige denn im Namen des Diskurses, in dem sich Agamben mit Referenz auf Foucault bewegt: „Biopolitik“ müsste „Zoopolitik“ heißen, ließe sich die Unterscheidung bios/zoe durchhalten (Derrida 2009, 325). Das „entscheidende Ereignis“ des modernen souveränen Staats ist schließlich, so Agamben, das „Eintreten der zōḗ in die polis, die Politisierung des nackten Lebens als solches“ (Agamben 2002, 14). Unklar bleibt hier, wie das Verhältnis zwischen zoe und polis im Gegensatz dazu in der Antike geregelt ist. Von einer „an sich uralte[n] E ­ inschließung der zōḗ in die polis“ (Agamben 2002, 19) ist die Rede. Auch an anderer Stelle scheint sein Text ahistorisch zu argumentieren. Ganz offensichtlich sind die aristotelische zoe und das von Walter Benjamins Geschichtstheologie abgeleitete „bloße“ bzw. „nackte Leben“ nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen. Bei Agamben überlagern sie einander. Das hat methodische Gründe. Um die Form der modernen Biopolitik ­darzustellen, verwendet Agamben juristische und philosophische Konzepte

27 Aristoteles: Politik, 1278b24–26. 28 Vgl. Dubreuil, Laurent: „Leaving politics: Bios, zōē, life“, in: diacritics 36/2 (2006), 83–98; 85: „Take, for example, the phrase ‚living [zēn] the life [bion] of a plant.‘ One reads as well that ‚the differences among animals [zōon] are relative to their lives [bíous], their characteristics, and their organs‘“. 29 Derrida, Jacques: The Beast and the Sovereign, Vol. 1, Chicago [u. a.]: University of Chicago Press, 2011, 330.

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aus v ­ erschiedenen Epochen über- und nebeneinander: Aristoteles’ Ethik, die römische Figur des homo sacer (des tötbaren, aber nicht opferbaren Lebens), die Figur des Banns, den Ausnahmezustand des modernen Staates (samt der Konzeptualisierung des souveränen Herrschers durch Carl Schmitt), die nationalsozialistische Euthanasie und das Konzentrationslager, sowie das Koma. Wenn Agamben etwa das Lager als „Paradigma“ der modernen Biopolitik bezeichnet, dann im Wortsinn eines para­ deigma, dessen, was sich „daneben zeigt“ (Agamben 2002, 32). Diese paradigmatische Vorgehensweise „neben“ Geschichte und Genealogie verschiebt das aristotelische Verständnis von bios und zoe. Diese Verschiebung scheint fundamental, wenn es darum geht, das nicht näher charakterisierte Leben in zoegraphischen Schreibformen des zwanzigsten Jahrhunderts auszumachen. In besonderer Weise stellt sich diese Frage um die Jahrtausendwende, also nach den totalitären Zugriffsweisen auf das Leben im zwanzigsten Jahrhundert und im Angesicht neuer politischer und biologischer ­Optionen. Eine paradigmatische Denkweise kann hier helfen zu verstehen, wie die geschichtslose zoe konkrete Formen annimmt.

2.2.2.2 Bann und banales Leben (Agamben, Foucault) Das Verhältnis von bios und zoe in der polis charakterisiert Agamben als „einschließende Ausschließung“ (vgl. Agamben 2002, 18–41). Als originäre politische Beziehung des souveränen Staats macht Agamben dabei die rechtsgeschichtliche Figur des Banns aus. Wichtig ist dabei die doppelte Bedeutung des germanischen Ursprungsworts ‚bannan‘: Es bezeichnet nicht nur den Ausschluss aus der Gemeinschaft, sondern auch Befehl und Banner des Souveräns. Zur Verbannung schreibt Agamben: Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen [abbandonato], das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen. (Agamben 2002, 39)

Agamben bezieht sich bei seiner Philosophie des Banns auf Jean-Luc Nancy. In dessen Aufsatz L’être abandonné (Das verlassene Sein, 1981) wird Heideggers Begriff der „Seinsverlassenheit“ mit dem französischen „abandon“ assoziiert. Nancy führt das darin enthaltene ‚ban‘ auf seine indogermanische Wurzel ‚bha-‘ zurück: ‚sprechen‘, ‚sagen‘, ‚erzählen‘. Er übersetzt „Bann“ daher mit „Ausrufung“ („proclamation“) und „Einberufung“ („convocation“).30 Der Bann ist also eine Art Sprechakt, der eine Schwellensituation herstellt.

30 Nancy, Jean-Luc [1981]: „L’être abandonné“, in: ders.: L’impératif catégorique, Paris: Flammarion, 1983, 139–153; 149.



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Bei Agamben wiederum fällt auf, dass er bei aller etymologischen Faszination für den Bann das Banale ausklammert, das wortgeschichtlich aus dieser Figur hervorgegangen ist. „Bannalités“ waren im Französischen Gegenstände, die dem Bann unterstanden. Sie gehörten dem Feudalherrn und wurden den Vasallen, also der Allgemeinheit, zur Benutzung überlassen. Öfen, Mühlen, Felder, auch Tiere konnten „banal“ sein. Ende des achtzehnten Jahrhunderts werden aus den gemeinen Sachen gemeine Worte, Gemeinplätze. Und seit Anfang des neunzehnten Jahr­ hunderts werden auch literarische Werke als „banal“ beurteilt, als Gegenteil zu insbesondere in der Romantik dominanten Werturteilen wie ‚originell‘ oder ‚außer­ gewöhnlich‘.31 Auf diese Weise bekommt das Wort eine veränderte Bedeutung von Zugänglichkeit – das Banale ist das Allzu-Zugängliche, das als nicht weiter bemerkenswert erscheint.32 Der Grund, warum das Banale für Agamben keine Rolle spielen kann, liegt in der Figur des homo sacer, der unter dem souveränen Bann steht: Sein Leben, das ja gleichermaßen heilig und verflucht ist, kann nicht banal sein, denn etwas Heiliges kann nicht profan sein. So weit zur Anti-Banalität von Agambens Philosophie – in einer literaturtheoretischen Auseinandersetzung mit Texten, die ‚mehr‘ und ‚weniger‘ als das menschliche Leben erzählen, sollte das Banale jedoch nicht unter den Tisch fallen. Michel Foucault hat sich der Banalität der Biographie in seinem Text La vie des hommes infâmes (Das Leben der infamen Menschen, 1977) gewidmet. Anhand kurzer Lebensbeschreibungen eines Internierungsregisters des frühen achtzehnten Jahrhunderts stellt Foucault Überlegungen zu Biographien an, die durch die Macht ausgeschlossen sind, aber auch von ihr dokumentiert werden: „Es sind Leben, so als ob sie nicht existiert hätten, Leben, die nur durch den Zusammenstoß mit einer Macht überleben, die sie einzig hatte vernichten oder zumindest entfernen wollen, Leben, die nur durch die Wirkung mannigfaltiger Zufälle auf uns zurückkommen“.33 Die Lebensereignisse sind nicht ob ihres skandalösen Inhalts interessant, sondern als Dokumente des Zugriffs der Macht auf das Gewöhnliche des Lebens, etwa in der obligatorischen Erwähnung aller „banalen Verfehlungen“ bei der christlichen Beichte (Foucault 2011, 266). In Foucaults biopolitischer Sicht auf die Biographie entsteht eine Form des Lebens erst im Aufeinandertreffen mit der Macht: „Das ­Banale konnte nur in einem Machtverhältnis gesagt, beschrieben, beobachtet, erfasst und bezeichnet werden, das von der Figur des Königs heimgesucht wurde“ (Foucault 2011, 270). Die Form­losigkeit eines banalen Lebens wird erst durch den Kontakt mit dem Souverän in Sprache überführt. Diese Sprache ist alles andere als

31 Vgl. Jerphagnon, Lucien: De la banalité. Essai sur l’ipséité et sa durée vécue: Durée personnelle et co-durée, Paris: Vrin, 1965, 18. 32 Vgl. Genz, Julia: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch, München: Fink, 2011, 68. 33 Foucault, Michel: „Das Leben der infamen Menschen“, in: Fetz, Bernhard et al. (Hg.): ­Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin [u. a.]: de Gruyter, 2011, 257–275; 264.

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alltäglich: „Der politische Diskurs der Banalität konnte nicht anders als feierlich sein“ (Foucault 2011, 271). Dass Agamben in seinem Kommentar zu Foucaults Text diese banale Semantik des Banns nicht registriert, verwundert kaum.34 Wie oben gezeigt, hat das banale Leben in seiner ­Philosophie des Lebens keinen Platz. Ein zoegraphisches Schreiben der (Auto-)Bio­graphie nach der „einschließenden Ausschließung“ des Lebens durch totalitäre Politik muss aber gerade auch das banale Leben umfassen. In Prigovs geschichtlich-­kultureller Situation wird der „Bann“ nicht mehr am eigenen Leib erfahren, ist aber auf andere Weise noch präsent. In den Romanlektüren wird daher gerade das Verhältnis zwischen Bann und Bana­ lität zu beachten sein.

2.2.2.3 Biographie als (Zusammen-)Fall von bios und zoe Foucault fragt bei der Beziehung von politischem und natürlichem Leben nach der „Sorge um sich“, nach Objektivationen des Selbst und der Subjektkonstitution. Bei Agamben dominieren Begriffe des Lebens, die sich nicht auf einzelne Subjekte beziehen.35 Dennoch gibt es einen Blick auf die individuelle Biographie, der den Schnittpunkt von bios und zoe im Menschen fokussiert. Im letzten Abschnitt von Homo sacer lässt Agamben eine „kurze Serie von Leben“ (Agamben 2002, 196) oder „Viten“ („breve serie di ‚vite‘“36) Revue passieren. Er betrachtet das Verhältnis, in dem bios und zoe, Lebensform und Leben, in ihnen zueinander stehen. Agambens Biopolitik der Biographie bestimmt Paradigmen, in denen die Beziehung zwischen bios und zoe jeweils auto- oder heteronom organisiert ist. In zwei Beispielen bezieht er sich auf die römische Welt: Der aus der polis verbannte homo sacer „ist reine zōḗ, doch seine zōḗ steht als solche im souveränen Bann“ (Agamben 2002, 192). Umgekehrt verhält es sich mit dem Amt des römischen Jupiterpriesters flamen Dialis, für den Agamben sich auch auf Kerényis Forschung bezieht. Sein Leben ist in keinem Augenblick von seinen kultischen Funktionen zu unterscheiden (Agamben 2002, 191). Hier entspricht die Unterscheidung bios/zoe der modernen Differenz öffentlich/privat. „[E]s ist nicht möglich, im Leben des flamen Dialis so etwas wie ein nacktes Leben abzusondern; seine ganze zōḗ ist bíos geworden“ (Agamben 2002, 192). Zwei weitere Viten entstammen dem Nationalsozialismus: der von Primo Levi beschriebene Muselmann, einer Figur des Lagerhäftlings, der nur noch auf der niedrigsten Stufe der Existenz am Leben ist. Von seiner Lebendigkeit lässt sich

34 Vgl. Agamben, Giorgio: „Der Autor als Geste“, in: ders.: Profanierungen, aus d. Ital. v. Marianne Schneider, Frankfurt: Suhrkamp, 2005, 57–69. 35 Die Differenz wird besonders deutlich bei Agambens Irritation darüber, dass Foucault die ­Pro­zesse der Desubjektivierung nur hinsichtlich des Selbst, nicht aber der Biopolitik der totalitären Staaten ­untersucht habe (vgl. Agamben 2002, 127). 36 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino: Einaudi, 1995, 208.



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nicht sagen, dass sie natürlich oder instinktiv sei. Der Muselmann hat also keine reine zoe, sondern offenbart die „Ununterscheidbarkeit von Faktum und Recht, Leben und Norm, von Natur und Politik“ (Agamben 2002, 194). Eine Analogie der juristischen Ausnahme besteht in Hitler als „Führer“: Da er kein juristisches Amt bekleidet, sondern seine politische Funktion ganz seiner Person entstammt, ist er „an einem Punkt angesiedelt, wo zōḗ und bíos, biologischer und politischer Körper zusammenfallen. In seiner Person gehen das eine und das andere unablässig ineinander über“ (Agamben 2002, 193). Für die letzten beiden paradigmatischen Leben bezieht sich Agamben im engeren Sinne auf zwei juristische Fälle in den USA: Einerseits die Komapatientin Karen Quinlan, um deren Behandlung in den 1970er Jahren eine breite Diskussion geführt wurde. Hier war das „biologische Leben […] von der Lebensform, die den Namen Karen Quinlan trug, völlig abgetrennt: Es ist (oder scheint es zumindest zu sein) reine zōḗ“ (Agamben 2002, 195). Die zoe scheint sich hier sogar vom Körper abgetrennt zu haben, da die künstlichen Lebensfunktionen keinem sich bewegenden Organismus mehr dienen. Das andere Extrem – die selbstermächtigte Erhebung der zoe zum Lebensinhalt – stellt der Biologe Edward O. Wilson dar. Nachdem bei ihm unheilbarer Krebs diagnostiziert wurde, führte er sein Leben als biologisches Experiment, bei dem ethische und rechtliche Barrieren verschwinden, und die Forschung „frei und restlos mit der Biographie zusammenfallen“ kann (ebd.). Dieses „Zusammenfallen-Lassen“ von wissenschaftlichem Experiment und biographischer Erfahrung, von Wissen und Leben, stellt eine auf das natürliche Leben gerichtete Selbsttechnik dar (vgl. dazu die Lektüre von Renat in Kap. 5.3). Das „experimentelle Leben“ ist ein „bíos, der sich in einem sehr spezifischen Sinn so weit auf die eigene zōḗ konzentriert hat, daß er von ihr nicht mehr zu unterscheiden ist“ (ebd.). Eine ähnliche Figur hat Agamben im vierten Teil seines Homo sacer-Projekts als mönchische Lebensform verfolgt, in der ein bios sich von der zoe ununterscheidbar macht (vgl. Agamben 2002, 198). Zu fragen wäre, wie sich diese politischen Figuren als bio- oder zoegraphische lesen lassen, also, ob und wie dem „einschließenden Ausschließen“, der „Absonderung des nackten Lebens von der Vielfalt der konkreten Lebensformen“ (Agamben 2002, 191) rhetorische, narrative oder fiktionale Strategien entsprechen. Besonders interessant für solche Strategien der Verhandlung von bios und zoe in einer individuellen Biographie ist Agambens Formulierung des „Zusammenfallens“ („­coincidenza“). Agamben beschreibt die ‚Viten‘ nicht als zeitlich ausgedehnte bioi, sondern als „Fälle“ des Lebens. Sie stehen in einer eigentümlichen Beziehung zum Gesetz, als Punkte der Kontingenz, an denen zoe zu bios werden kann und umgekehrt. Um die uncharakterisierte, formlose zoe in autobiographischem Schreiben zu lokalisieren, soll im nächsten Teilkapitel der Begriff der Singularität mit Bezug auf Deleuze betrachtet werden.

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 Theorie der Zoegraphie

2.2.2.4 zoe als unpersönliche Singularität (Deleuze, Agamben) Agamben denkt bios und zoe nicht als Opposition, Dichotomie oder Polarität. Wie gesehen, beschreibt er häufig Situationen, in denen das eine nicht vom anderen zu unterscheiden ist. Das titelgebende sacrum, ambivalent zwischen Heiligem und Verfluchtem, spielt dabei eine Schlüsselrolle: „Das heilige Leben, weder politischer bíos noch natürliche zōḗ, ist die Zone der Ununterscheidbarkeit, in der bíos und zōḗ sich wechselseitig einbeziehen und ausschließen und sich gerade dadurch konstituieren“ (Agamben 2002, 100). Auch die Ausnahme, die Agamben von Carl Schmitts Begriff des Ausnahmezustands herdenkt, definiert er durch eine Figur von Ein- und Ausschließung: Sie ist „dasjenige, was nicht in das Ganze eingeschlossen werden kann, zu dem sie gehört, und nicht zu der Menge gehören kann, in die sie schon immer eingeschlossen ist“. Zoe kann also nicht in das „ganze Leben“ eingeschlossen werden und gehört nicht zum menschlichen Leben, in das sie gleichwohl schon immer eingeschlossen ist. In der Politik der Moderne wird zoe singulär. Die souveräne Ausnahme repräsentiert „Singularität als solche“ (Agamben 2002, 34), in ihr kann zoe in einem Zustand existieren, in dem sie nicht qualifiziert, aber dennoch definiert ist, oder genauer gesagt: einschließend ausgeschlossen. Das Singuläre der zoe entspricht ihren grammatikalischen Optionen im Griechischen: bios kann im Plural stehen, zoe hingegen nur im Singular. Zoe als Singularität zu denken, führt in den Kontext von Agambens Rezeption von Gilles Deleuze. Im kurzen Text Immanenz. Ein Leben … (L’immanence: Une vie …, 1995) entwickelt Deleuze den Begriff des „unpersönlichen Lebens“, der an die Stelle individuellen Lebens rückt: Das Leben des Individuums ist einem unpersönlichen Leben gewichen, das ein reines Ereignis hervortreten läßt, frei von den Zufällen des inneren und äußeren Lebens, das heißt von der Subjektivität und Objektivität dessen, was geschieht.37

Die Titelformulierung „ein Leben …“ verwendet „ein“ nicht nur als unbestimmten ­Artikel, sondern auch als Zahlwort. Es gibt hier keine Unterteilung mehrerer Lebensbegriffe, sondern nur „singuläres“ Leben: „Das Leben solcher Individualität erlischt zugunsten des singulären Lebens, das einem Menschen immanent ist, der keinen Namen mehr hat, auch wenn er sich nicht mit einem anderen verwechseln läßt“ (­Deleuze 1996, 31). Deleuze entfaltet diese Begrifflichkeiten an einer Szene aus Charles Dickens’ Roman Our Mutual Friend (Unser Gemeinsamer Freund, 1864–65). Agamben betrachtet sie in seinem Deleuze-Kommentar Absolute Immanenz (Immanenza ­assoluta, 1996) genauer. Er macht auf den „Lebensfunken“ aufmerksam, der beim Anblick des ums Haar ertrunkenen Schurken Riderhood bemerkbar wird:

37 Deleuze, Gilles: „Die Immanenz: ein Leben  …“, in: Balke, Friedrich / Vogl, Joseph (Hg.): Gilles ­Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink, 1996, 29–33; 31.



Philosophische Relationen von zoe und bios 

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No one has the least regard for the man: with them all, he has been an object of avoidance, suspicion and aversion; but the spark of life within him is curiously separable from himself now, and they have a deep interest in it, probably because it is life, and they are living and must die.38

Dass der „spark of life“ losgelöst von Körper und Subjekt betrachtet werden kann, macht ihn zu einem Phänomen des singulären Lebens. Deleuze führt ein weiteres Beispiel aus der Alltagserfahrung an, um zu unterstreichen, dass singuläres Leben neben dem des Individuums existieren kann, ohne mit ihm eine Verbindung einzugehen: So ähneln zum Beispiel die Kleinkinder einander und besitzen kaum Individualität; aber sie haben Singularitäten, ein Lächeln, eine Handbewegung, eine Grimasse, Ereignisse, die keine subjektiven Merkmale sind. Die Kleinkinder werden von einem immanenten Leben durchzogen, das reines Vermögen ist und sogar Glückseligkeit, über alle Leiden und Hinfälligkeiten hinweg (Deleuze 1996, 31).

Agamben identifiziert in diesen Beispielen biographische Situationen in der Nähe von Geburt und Tod, „wo das Kind und der Sterbende die rätselhafte Signatur des nackten biologischen Lebens zur Schau stellen.“39 Hier werden die Unterschiede zu Homo sacer deutlich: Während Deleuze „ein Leben“ unteilbar immanent betrachtet, interessiert sich Agamben für die Zäsuren des Lebens. Wiederholt stützt er sich auf eine Strategie, die Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele (De anima) verfolgt. Hier wird Leben nicht als solches definiert, sondern nur in verschiedene Bereiche und Funktionen z­ erlegt.40 Die Differenz zu seinen aristotelisch gedachten Lebensbereichen fasst er wie folgt: [W]ährend die spezifische Aufgabe der Isolierung des nackten Lebens darin bestand, eine Unterteilung des Lebendigen vorzunehmen, die es ermöglichen sollte, eine Vielzahl von Funktionen zu unterscheiden und eine Serie von Oppositionen zu bilden (vegetatives Leben/relationales Leben; inneres Tier/äußeres Tier; Pflanze/Mensch; und in letzter Konsequenz zoè/ bios, das heißt nacktes Leben einerseits, politisch ausgezeichnetes andrerseits), ist ein Leben … durch die radikale Unmöglichkeit gekennzeichnet, Hierarchien und Trennungen zu errichten (Agamben 1998, 110 f.).

Am Ende seines ein Jahr nach Homo sacer erschienenen Deleuze-Texts postuliert Agamben, dass im Licht der Lebensphilosophie von Deleuze alle diese Kategorien hinfällig werden müssten. Abgelöst würden sie von einer Philosophie des Lebens als

38 Dickens, Charles: Our mutual friend, Oxford: Oxford University Press, 1989, 443; zit. nach Agamben 1998, 101. 39 Agamben, Giorgio: „Absolute Immanenz“, in: ders.: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, aus d. Ital. v. Maria Zinfert u. Andreas Hiepko, Berlin: Merve, 1998, 77–127; 105. 40 Agamben 1998, 106. Diese Strategie wird grundlegend für seine Versuche der Isolation menschlichen und tierischen Lebens (siehe Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier, aus d.  Ital. v. Davide Giuriato, Frankfurt: Suhrkamp, 2003, 24).

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 Theorie der Zoegraphie

„­erkenntnisloser Kontemplation“ (Agamben 1998, 127). Dies scheint allerdings erst in Sichtweite, wenn ihre Genealogie erforscht ist. An den unterschiedlichen Konzepten von Deleuze und Agamben wurden zwei verschiedene Weisen gezeigt, dem an sich namenlosen Leben Namen und Begriffe zu geben. Das philosophische Denken des Lebens bewegt sich hier zwischen den Möglichkeiten, es zu unterteilen, und der Notwendigkeit, es als etwas zu akzeptieren, das sich einer Definition entzieht. In den folgenden Kapiteln zu Prigovs Poetik und intermedialer Praxis des Lebens wird diese Spannung zwischen dem undifferenzierten Leben und der Definition, Benennung und Formwerdung weiter zu verfolgen sein.

3 L eben in Prigovs Poetologie, Lyrik, Essayistik und Performances Prigovs autobiographisches Ich ist eine Stufe von Metamorphosen seines Werk-Ichs, das als lyrisches Ich beginnt. Die lebendige Erfahrung dieses lyrischen Ichs ist der Alltag der Sowjetunion der Brežnev-Zeit. Oft wurde darauf hingewiesen, dass das lyrische Ich Prigovs nicht mit der biographischen Person zu verrechnen sei. Das stimmt einerseits, andererseits findet sich das gelebte Leben sehr wohl in den Formen der Verse wieder, und umgekehrt – das Image von Prigovs lyrischem Ich wirkt auf sein alltägliches Leben zurück. Hätte Prigov im Silbernen Zeitalter gelebt, würde man von einer Poetik des žiznetvorčestvo (Lebens-Schaffen) sprechen, einer theurgisch motivierten Form der Lebens-Kunst.1 Doch die Kunsttheologie der avantgardistischen Demiurgen funktioniert in den 1970er Jahren nicht mehr – nachdem Stalin den Status des Demiurgen politisch ad absurdum geführt hat, nachdem Pop Art und später Soz Art die Allgegenwärtigkeit des Ästhetischen durch die Massenmedien thematisiert haben. Ihre Erkenntnis: Wenn keine genuin originelle Äußerung mehr möglich ist, kann der Künstler keine Ansprüche mehr auf eine gottähnliche Schöpfung erheben. Jede Äußerung ist ein Zitat von Diskursen, jede Manifestation von Lebendigkeit eine Reproduktion von bereits Existierendem. An diesem Punkt setzt Prigov mit seiner post-theurgischen Poetik an: Trotz all dem gibt es eine operative Letztinstanz, die „Ich“ sagt. Diese Äußerungen haben keine transzendente Letztbegründung, und sie sind nicht endgültig – deshalb sind sie Rekontextualisierungen, Zitaten und Reinterpretationen unterworfen. Prigovs Ich wechselt die Medien, Gattungen und Stile, es besetzt nach und nach – oder gleichzeitig – verschiedene Genres innerhalb eines Kanons. Sein prosaisches Ich, der Ich-Erzähler, ist eine der werkbiographisch spätesten Formen innerhalb dieses Projekts. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewegung von der Lyrik zur Prosa bereits in seinen früheren Texten und Arbeiten stattfindet. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, wie Prigov das Projekt seines künstlerischen Ichs mit Begriffen von Leben, Schöpfung, Vitalismus und „Vorleben“ quer durch verschiedene Gattungen fundiert. Sie lassen sich nicht voneinander trennen. Lyrik kann Theorie sein, Theorie kann erzählende oder essayistische Prosa sein, eine Performance kann einen theoretischen Impuls geben. Die folgenden vier Teile werden daher nur den Schwerpunkt auf Poetologie, Lyrik, Performance und Essayistik legen, und die gleichzeitig reflektierten Gattungen und Medien nicht außer Acht lassen.

1 Die Semantik von žiznetvorčestvo oder žiznestroenie (Leben-Bauen) weist Prigov allerdings von sich: „Проект понимается не в смысле жизнестроительства, а в смысле некоего проекта-работы.“ („Das Projekt versteht sich nicht im Sinne des Leben-Bauens, sondern im Sinne eines Arbeits­ projekts.“), Prigov, Dmitrij A. / Ioffe, Denis: „Razgovornyj žar žiznetvorčestva. Besedy Denisa Ioffe s ­dejateljami kul’tury i iskusstva, sozdannye dlja literaturno-filosofskogo žurnala ‚Topos‘“, in: Topos. Literaturno-filosofskij žurnal, 29.3. 2003, http://www.topos.ru/article/1434?page=4. https://doi.org/10.1515/9783110602494-003

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 Leben in Prigovs Poetologie, Lyrik, Essayistik und Performances

3.1 Poetologische Schriften ab den späten 1970er Jahren Dem „Leben“ lassen sich in Prigovs philosophisch-poetologischer Prosa drei Funktionen zuordnen: die Funktion der lebendigen Eigenschaften von Text, Bild und Raum (Kap. 3.1.1), der Signifikant einer unhintergehbaren Lebenswirklichkeit (Kap. 3.1.2) und die zeitliche Verlaufsebene der durch nichts anzuhaltenden Bewegung (Kap. 3.1.3).

3.1.1 Potenz und Aktualität: Poetischer Raum und Benennung durch Leben In den poetologischen Vorbekundungen (preduvedomlenija) zu seinen Gedichtzyklen denkt Prigov darüber nach, wie das der Kunst eigene Leben beschaffen ist und wie der Künstler sich als Schöpfer dazu verhält. Für Prigov als Dichter mit Bildhauer-Ausbildung besteht die Formleistung des Künstlers darin, dem Leben in der Kunst einen Raum zu geben. Der zu diesem Komplex meistzitierte Ausspruch lautet: „Ich schreibe nicht einzelne Gedichte, ich schreibe poetischen Raum“ („Я пишу не отдельные стихи. Я пишу поэтическое пространство“).2 Künstlerisches Schaffen bedeutet nicht, einzelne, abgegrenzte Formen zu erzeugen, sondern den Lebensraum für ihre Entstehung zu definieren – ähnlich einem künstlichen Biotop, einer Biosphäre. Dieses Konzept vom Leben der Kunst ist nicht metaphorisch. Als Bildhauer arbeitet Prigov mit Lehm, also buchstäblich einer Materie, die in sich abgestorbenes Leben enthält. Diese ökologische Dimension der Form wird thematisiert in Sbornik nenapisannych stichov (Sammelband nichtgeschriebener Gedichte, 1976): Такое же чувство постигает меня, когда я стою над ванной размокшей глины: вот этот кусок год назад был ногой цветущего солдата, а полгода назад – не помню каким животным, или его укротителем, усами напоминавшим Бисмарка, а теперь это будет …  – я не знаю что. Но оно уже здесь, среди этих смешавшихся до уровня первобытной слизи существ. Так и хочется воскликнуть словами поэта: О, глина, глина! Кто тебя засеял Смутными костями! Как безошибочно вычленить эти клеточки, заранее населенные будущими жизнями, возникающими на смерти других, в ущерб другим? Я так понимаю, что творчество не может быть безвозмездно и неущербно. (SPKRV, 24 f.)

2 241 platoničeskij dialog, 13 ėrotem i častuški (241 platonische Dialoge, 13 Erotemata und Singverse, 1977), SPKRV, 47. Gerald Janecek bemerkt in seiner Stilanalyse dieses preduvedomlenie, dass dieser poetische Raum, den Prigov schreibt, leer ist und die Bestimmung daher nur ex negativo verfährt: „But it is a negative system, an apophatic relationship. Space is emptiness; there are no specific poems there, and without specific poems there is no specific author.“ Janecek, Gerald: „Some remarks on Prigov’s preduvedomleniia and mertsanie“, in: ders. (Hg.): Staging the image. Dmitry Prigov as artist and writer, Bloomington: Slavica Publishers, 2017, 23–24; 25.



Poetologische Schriften ab den späten 1970er Jahren 

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Das gleiche Gefühl überkommt mich, wenn ich über einer Wanne mit feuchtem Lehm stehe: Dieser Klumpen hier war vor einem Jahr noch das Bein eines quietschfidelen Soldaten, und vor einem halben Jahr – ich weiß nicht welches Tier oder sein Bezwinger, dessen Schnurrbart an den von Bismarck erinnert, und jetzt wird daraus … – ich weiß es nicht. Doch dieses Etwas ist schon hier, inmitten dieser bis zum Zustand des Urschleims vermischten Wesen. Und so möchte man mit den Worten eines Dichters ausrufen: O Lehm, Lehm! Wer hat dich besät Mit trüben Knochen! Wie soll man diese Zellen fehlerfrei und ohne Schaden voneinander trennen, die früher von künftigen Leben bevölkert waren, die auf dem Tod anderer entstanden sind, zum Schaden anderer? Wie ich das verstehe, kann künstlerisches Schaffen weder uneigennützig noch schadenfrei sein.

Der Künstler-Demiurg wiederholt den Schöpfungsakt Gottes am Lehmtrog. Im Gegensatz zu den demiurgischen Imaginationen der Moderne ist dieses Szenario im banalen Arbeitsalltag angesiedelt. Das Ausgangsmaterial des Bildhauers ist eine ununterscheidbare Masse von Lebensformen in verschiedenen Zuständen, von Menschen, Tieren und Dingen, von geschichtlichem und natürlichem Leben. Man kann sie als maximale Indifferenz wahrnehmen, aber auch als Potenz: Das Zerstörte, das noch nicht Hergestellte und das bereits virtuell Existierende schwimmen hierarchielos zusammen in einem Medium. Die historisch identifizierbaren Elemente, die hier zur Sprache kommen, stammen aus dem neunzehnten Jahrhundert: auf der Ebene der Politik Bismarck, auf der Ebene der Biologie die Theorie des „Urschleims“ – unter anderem von den Biologen Thomas Henry Huxley und Ernst Haeckel im Gefolge von Darwins Evolutionstheorie als Entstehungstheorie des Lebens in den 1860er Jahren vertreten3 – und auf der Ebene der Dichtung Puškin. Mit den Zeilen „О, глина, глина! Кто тебя засеял / Смутными костями!“ adaptiert Prigov dessen Verse „О поле, поле, кто тебя / Усеял мертвыми костями?“ aus Ruslan i Ljudmila (Ruslan und Ljudmila, 1820), indem er das bildliche Schlachtfeld der Geschichte durch den buchstäblichen Lehm ersetzt. Die beschriebene Methode des Schöpfens aus literarischem Lehm findet Anwendung in situ – nicht nur die Anordnung der Wörter, sondern auch die Aufteilung der Worte auf Verse wird neu kombiniert und modifiziert. Eine Arbeitsweise, die nur einen Raum des Entstehens ­definiert, lässt vieles offen. So können etwa die Größeneinheiten der Formen durcheinanderkommen – schließlich lassen sich die „Zellen“ nicht ohne Fehler voneinander trennen, es kann zu ‚Fehlbildungen‘ kommen. Die Frage nach der Größe der Einheiten hat in Theorien der Geschichte, Biologie und Kunst gleichermaßen eine Rolle gespielt. Im Weiteren wird sie besonders beim Verhältnis von Lyrik und Prosa bedeutsam sein – Prigov arbeitet immer wieder mit Vergrößerungen und Verkleinerungen des Verses, mit seinem ‚Verklumpen‘ zu größeren Einheiten, die dann in Prosa übergehen.

3 Huxley benannte eine Substanz, die er am Meeresboden entdeckt und mit Haeckels Theorie des Urschleims identifiziert hatte; ihm zu Ehren nannte er sie Bathybius haeckeli (von ‚bathys‘, ‚tief‘, und ‚bios‘). Später stellte sich die Substanz als Produkt eines chemischen Prozesses und damit die Hypothese als falsch heraus. Vgl. Art. „Bathybius“, in: Encyclopædia Britannica 1911, Bd. 3.

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 Leben in Prigovs Poetologie, Lyrik, Essayistik und Performances

In seiner theologischen Dimension schließt das posttheurgische Schöpfungsszenario Prigovs an die Erzählung des Buch Genesis an, in der Adam aus Lehm geformt wird, nach dem Prinzip der Gottebenbildlichkeit. Es heißt weiter im Text: Из вышеописанной картины ванны с глиной логически непреложно не следует сходства жизни творца с жизнью его творений. Но неоднократное переживание этого состояния уверенно говорит мне, что такова картина соотношения жизни и смерти на любом изломе бытия. Создавая что-то, я отнимаю это у кого-то другого, или же у самого себя в другой сфере своего бытия. Проблема творчества не только в рождении, но и в моментальной, моментной и неразрывно с ним связанной гибели чего-то другого. Каждый истинный поэт и художник, прикоснувшийся к творчеству, ощущает, что он родной брат Ангела смерти. (SPKRV, 25) Aus dem oben beschriebenen Bild der Wanne mit Lehm folgt nicht zwingend logisch eine Ähnlichkeit des Lebens des Schöpfers mit dem Leben seiner Schöpfungen. Doch das mehrfache Erleben dieses Zustands sagt mir sicher, dass das Bild des Verhältnisses von Leben und Tod in jeder Windung des Seins so beschaffen ist. Wenn ich etwas schaffe, nehme ich es jemand anderem weg, oder gar mir selbst in einer anderen Sphäre meines Seins. Das Problem des Schaffens liegt nicht nur in der Geburt, sondern auch im momenthaften, momentanen und unzertrennlich mit ihr verbundenen Tod von etwas anderem. Jeder wahre Dichter und Künstler, der einmal mit künstlerischem Schaffen in Berührung gekommen ist, spürt, dass er ein Bruder des Todesengels ist.

Zwischen Kreation und Kreatur scheint eine universelle Analogie zu bestehen, was das „Bild des Verhältnisses von Leben und Tod in jeder Windung des Seins“ betrifft. Jenseits von Anthropomorphismus und Nicht-Anthropomorphismus basiert Prigovs Ökonomie der Schöpfung auf einem Prinzip der Verteilung und Umverteilung. Es beginnt mit einem negativen Akt – aus dem Reservoir des Möglichen wird etwas ‚weggenommen‘. Innerhalb des Seins wird Leben umverteilt. Leben ist nicht gleich Sein. Statt­ dessen nimmt das Leben dynamisch am Sein teil, verhält sich privativ und subtraktiv dazu. Prigov ist kein ontologisierender Vitalist. Wenn Prigov über das verbindende Element zwischen verschiedenen Leben bzw. Generationen nachdenkt, knüpft er an den jungen Chlebnikov an, der zu Studienzeiten ganz ähnliche Verbindungen herstellt. Dem biologischen Terminus der Symbiose – Verbindungen von Lebewesen über den Raum hinweg – setzt er den Begriff der „Metabiose“ entgegen, gerichtet auf ihre Verbindungen über die Zeit hinweg. In seinem kurzen Text Opyt postroenija odnogo estestvennonaučnogo ponjatija (Versuch der Konstruktion eines naturwissenschaftlichen Begriffs, 1910) heißt es: Деятельность бактерий, изменяющая почву, связывает метабиозом мир низших и ­растений. Здесь может быть высказана смелая гипотеза, что сущность смены одних животных царств другими в разные времена жизни Земли также сводится к метабиозу. Метабиоз объединяет поколения кораллов внутри какого-нибудь атолла и поколения людей внутри народа.



Poetologische Schriften ab den späten 1970er Jahren 

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Смерть высших, не исключая и Homo sapiens, делает их связанными метабиозом с низшими.4 Wenn die Aktivität der Bakterien den Boden wechselt, verbindet sie vermittels Metabiose die Welt der niederen Organismen und der Pflanzen. Hier kann die kühne Hypothese geäußert werden, dass das Wesen der Ablösung der einen Tierreiche durch andere zu verschiedenen Zeiten des Irdischen Lebens ebenso auf Metabiose zurückzuführen ist. Die Metabiose vereint Generationen von Korallen innerhalb eines beliebigen Atolls und Generationen von Menschen innerhalb eines Volkes. Der Tod der höheren Organismen, einschließlich des Homo sapiens, verbindet sie durch Metabiose mit den niederen.

Der Neologismus „Metabiose“ fasst also die Effekte eines Lebens ‚nach‘ seinem Ende auf andere. Offensichtlich spielt der Terminus auf die ursprüngliche Bedeutung von ‚Metaphysik‘ an, ‚nach der Physik‘. Tatsächlich sind in der Beziehung zur Metaphysik die Differenzen zu Prigov zu suchen: Während Chlebnikov für seine transrationale Zaum’-Programmatik ‚hinter‘ (‚za‘) das Leben der Sprache zu blicken versucht, steht Prigov vor einer Wanne mit Lehm, der sich keiner Gesetzmäßigkeit unterwirft, sondern offen und undefinierbar daliegt. Zwar liegt das Lebendige in seinen kleinsten Einheiten vor, aber es gibt kein genetisches Programm, das sie neu organisieren könnte. Der WortBildhauer kann nur heuristisch damit arbeiten. Prigovs Hinweis auf die Unmöglichkeit, die vermischten Zellen „fehlerfrei und ohne Schaden“ voneinander trennen zu können, verrät eine bestimmte Haltung zum Vitalismus der Avantgarde. Die Vorstellung, einen „neuen Adam“ produzieren zu können – ‚adamah‘ heißt im Hebräischen nichts anderes als Lehm5 –, scheint hier unmöglich oder zumindest nicht ohne Fehler machbar. Im Einklang mit den platonischen und biblischen Schöpfungsmodellen ist bei Prigov die Belebung untrennbar mit der Benennung verbunden. Für seine räumlich gedachte Sprach-Schöpfung ist der Auftrag der schwarzen Farbe auf Papier nicht nur Be-Zeichnen, sondern auch Benennen. In Stichi vesny, leta, oseni goda žizni 1978 (Verse aus Frühling, Sommer, Herbst des Lebensjahres 1978, 1978) formuliert Prigov seine Philosophie der Benennung: Так вот, если я рисую предмет в пространстве, значит, я называю, как он живет в пространстве; даже вернее  – как пространство живет в нем. Значит, я называю его через жизнь, через ипостась, в какой она изволит себя явить в пространственном рисунке. Значит, я пытаюсь понять предмет как пособника жизни. В этом и есть принцип его

4 Chlebnikov, Velimir: „Opyt postroenija odnogo estestvennonaučnogo ponjatija“, in ders.: Tvorenija, Мoskva: Sovetskij pisatel’, 1986, 582–584; 583. 5 Jampol’skij deutet diesen Komplex unter dem Gesichtspunkt der Analogisierung von Sprache und Lehm, wie sie in Gershom Scholems Kabbalah-Studien zum Ausdruck kommt: Er stützt sich auf die griechische Doppelbedeutung der ‚stoicheia‘ als Buchstaben und Elemente bzw. Naturgewalten – im Russischen etymologisch verknüpft in ‚stich‘ (‚Vers‘) und ‚stichija‘ (‚Elementargewalt‘). Vgl. Jampol’skij 2010, 181–193, insbesondere 184.

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жизни, его имя. Жизнь дает имя, предмет и явление могут присвоить себе чужое имя. И предмет умрет, вернее, он сам не умрет, умрет для нас, для нашей жизни, потому что жизнь это тот единственный язык, на котором мы понимаем друг друга. (SPKRV, 65) Wenn ich also einen Gegenstand im Raum zeichne, heißt das, ich benenne, wie er im Raum lebt; richtiger noch – wie der Raum in ihm lebt. Das heißt, ich benenne ihn durch das Leben, durch die Hypostase, in der sie in der räumlichen Zeichnung zu erscheinen beliebt. Das heißt, ich versuche den Gegenstand als Komplizen des Lebens zu verstehen. Darin besteht auch das Prinzip seines Lebens, sein Name. Das Leben gibt den Namen, Gegenstand und Phänomen können sich einen fremden Namen aneignen. Und der Gegenstand wird sterben, besser gesagt, er wird nicht selbst sterben, er wird für uns sterben, für unser Leben, denn das Leben ist jene einzige Sprache, in der wir einander verstehen.

Auf dichtem Raum verknüpft Prigov hier graphisches bzw. visuelles und sprachliches Schaffen: Nicht der künstlerische Gegenstand wird benannt, sondern der Raum, in dem er lebt und der in ihm lebt. Gegenstand und Raum sind ineinander verschränkt, man könnte von einer animistischen Vorstellung sprechen. Vokabeln wie ‚Belebung‘ oder ‚Beseelung‘ (‚oživlenie‘ oder ‚oduševlenie‘) sucht man hier vergeblich. Stattdessen ist die zentrale Operation das Benennen der gegenseitigen Beziehung von Gegenstand und Raum. Das Leben fließt nicht vom Belebenden in das Belebte, sondern es ist dem Raum gewissermaßen intrinsisch. Prigovs Ablehnung künstlerischer Aktivität als Erzeugen, Generieren von etwas wird im Folgenden noch genauer zu diskutieren sein. Es gibt nicht einzelne lebende Texte, Formen, Werke, Medien sondern ein Milieu des potenziell Lebendigen – Prigov benutzt in einem späteren Zyklus Pjat’desjat ­kapelek krovi v absorbirujuščej srede (Fünfzig Blutstropfen in einem absorbierenden M ­ ilieu, 1990) diese naturwissenschaftliche Vokabel für den poetischen Raum. Der Text Kupajuščiesja (Badende, 1996) entwirft die Beziehung zwischen dem Lebewesen und seinem Milieu – das auch alles oder nichts sein kann, als „sorodnost’“, eine Gleichartig­ keit oder Gleichstofflichkeit (vgl. IIU, 306). Zyklen wie Rasslablennost’ očertanij organizma (Entspanntheit der Umrisse des Organismus, 1992) oder Obratimye polumeta­ morfozy (Umkehrbare Halbmetamorphosen, 1992) arbeiten um diese Zeit mit einer Beschreibungssprache, die zwischen naturwissenschaftlichen Termini für Körper und ästhetisch-philosophischen Dimensionen von Sprache und Text oszilliert. Prigovs Demiurg hat sich aus dem unmittelbaren Akt der Schöpfung zurückgezogen, er stellt nur noch einen Raum her, in dem sich Leben entwickeln kann.6 Westliche Spielformen der Konzeptkunst, an die Prigov und die mit anderen Künstlern des Moskauer Kreises abgehaltenen Seminare anschließen, haben die Möglichkei-

6 Jampol’skij spricht im Hinblick auf Prigovs Text Apofatičeskaja katafatika (Apophatische Kataphatik, 1991) statt von einer negativen von einer „minimalen Theologie“, in Anlehnung an Hent de Vries’ Buch Minimal Theologies zu Resonanzen des religiösen Denkens bei Adorno und Lévinas: Gott hat sich so sehr in die Transzendenz zurückgezogen, dass er jegliche Anzeichen der Existenz verliert. Vgl. Jampol’skij, Michail: „Vremja metamorfozy“, in: Galieva 2014, 7–39; 15.



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ten künstlerischer Kreation als solche in Frage gestellt: Das ‚Leben‘ der Texte, Bilder, Räume entsteht nicht ‚ontogenetisch‘ in Individuen, sondern nach einem ‚phylogenetischen‘ Programm. Bei den Vertretern des Moskauer Konzeptualismus sind es gerade die Störungen, Fehlbildungen solcher Programme, die die ästhetische Wirkung ausmachen. Hinzu kommt, wenn man Boris Groys’ Abgrenzung einer russischen Konzeptkunst von westlichen Versionen folgt, das Moment des „Mystischen“, also Einflüsse von Religiosität, die im westlichen „Akademismus“ nicht vorkommen, unsagbare, nicht menschengemachte Quellen von Energie wie orthodoxe Vorstellungen des Taborlichts.7 Wenn die lebengebende Verbindung zwischen Schöpfer und Kreation bzw. Kreatur keine direkte, originäre mehr ist, ergeben sich Fragen nach Ähnlichkeit: Wie kann der Schöpfer etwas auf die Schöpfung übertragen? Was überträgt sich? Bestehen überhaupt Analogien zwischen Schaffendem und Geschaffenem? Die Frage der „Ähnlichkeit des Lebens des Schöpfers mit dem Leben seiner Schöpfungen“ (s. o., 25) beschäftigt Prigov auch in Stichi dvadcati let opyta (Verse aus zwanzig Jahren Erfahrung, 1978): Правда, в отличие от единовременно созданных сборников, где предуведомления объясняют, вспоминают, подсовывают и притягивают все привходящие и обходящие моменты, в случае данного сборника представляющего самого по себе отдельную жизнь, во всяком случае, воссоздающего ее, трудно представить, какие привходящие моменты могут еще ему принадлежать – разве что предыдущего рождения или последующей жизни. Помимо того, если на коротком промежутке жизни (и, соответственно – на пределах одного сборника) можно проследить конструктивную идею, то проследить подобное на примере целой жизни – немыслимо, кроме, разве что, идеи выжить. (SPKRV, 66) Im Unterschied zu den einmal geschaffenen Sammelbänden, wo die Vorbekundungen alle hinzuund vorbeikommenden Umstände erklären, erinnern, unterschieben und anziehen, ist es im Fall des vorliegenden Sammelbandes, der selbst ein eigenes Leben darstellt, in jedem Fall es reproduziert, tatsächlich schwer vorstellbar, welche hinzukommenden Umstände noch zu ihm gehören könnten – es sei denn die einer früheren Geburt oder eines nächsten Lebens. Abgesehen davon – mag es in einem kurzen Lebensabschnitt (und dementsprechend im Rahmen eines Sammelbandes) möglich sein, eine konstruktive Idee nachzuverfolgen, dann ist es doch undenkbar, so etwas am Beispiel eines ganzen Lebens nachzuverfolgen – ausgenommen vielleicht die Idee zu überleben.

Hier ist die Rede von der theoretischen Funktion der „Vorbekundungen“, also davon, ob und wie sie eine „konstruktive Idee“ für die Einheit der Gedichte ausdrücken können. Für den kurzen Lebensabschnitt bzw. den Gedichtband kann es eine solche Idee geben, für ein ganzes Leben (die entsprechende Gattung wäre die Biographie) nicht, zumindest jenseits des Faktums der bloßen Reproduktivität – dass das Leben eben weitergeht. Diese Aussage ist nicht nur für die Vorbekundungen typisch, sondern auch für den autobiographischen Erzählerkommentar in Moskau.

7 Vgl. Grojs, Boris: „Moskovskij romantičeskij konceptualizm“, in ders.: Iskusstvo utopii, Moskva: Chudožestvennyj žurnal, 2003, 168–186; 170 f.

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Prigov betrachtet die Gattungsdifferenz von Prosa und Poesie aus der Perspektive des Arbeitsalltags: Während der Prosaiker mit seiner dauerhaften Schreibtätigkeit über einen „rettenden Trägheitsballast der Arbeit“ („спасительную инерцию-балласт труда“, ebd.) verfügt, löst ein vollendetes Gedicht ein „unglaubliches Schlingern im dichterischen Alltagsleben“ aus („неимоверную качку в поэтическом житьебытье“, ebd.). Während das prosaische Schreiberleben im Fluss verläuft, ist das des Dichters Brüchen und Neuanfängen unterworfen. Durch die Kombination von Gedichten und Prosa-Vorworten stellt sich für Prigov nicht nur eine arbeitsökonomische, ­sondern auch eine kompositorische Harmonie ein: Prosastück und Versteil müssen in einem Größenverhältnis zueinander stehen. Aber ihre Proportionen werden mit jedem neuen Band neu verhandelt, und deshalb kann es zu Ungleichgewichten zwischen Prosa und Poesie, Länge und Kürze kommen. Es wäre irreführend, in Prigovs Werk Prosa mit Länge und Poesie mit Kürze zu assoziieren. Diese Parameter werden vermischt: Einerseits kommt die kurze Überhangzeile am Strophenende zum Einsatz, manchmal nur aus einem Wort bestehend, von Andrej Zorin еinst „Prigov-Zeile“ („prigovskaja stroka“) getauft.8 Anderen Gedichten wachsen dagegen „Schwänze“ (­Chvostatye stichi; Gedichte mit Schwänzen, 1984), also Mutationen des letzten Verses zu Prosatext. Auch hier ist die Text-Organismus-Analogie wieder eine Frage der anthropologischen Perspektive – ob man die Überhangzeile von „oben“ oder „unten“ betrachtet, entscheidet, ob es „Schwänze“ oder „Hörner“ sind.9 Und auch in der Prosa sind die anatomischen Proportionen Störungen unterworfen, lange Satz-Glieder werden durch kurze Einsprengsel unterbrochen – dazu wird in der Analyse des Poems Machrot’ in Kapitel 3.2.2 noch einiges zu beobachten sein. Wenn Prigov über seine theoretische Disziplin spricht, dann weniger über Poetik, geschweige denn Rhetorik. Seine Lehre vom Schreiben ist die Grammatik, im Wortsinn des gramma, des Geschriebenen. In 60% stichi (60% Verse, 1975) kommt er auf die Rolle der Grammatik bei der Benennung zu sprechen: Я уверовал в то, что язык не просто орудие называния предметов, людей и явлений, но что он есть конгениальная жизни жизнь и что каждое явление внешней жизни тыкается не куда угодно, но именно в свою единственную кормушку языка. Я понял, что грамматика не только функциональна, но и значима, что в ее воле, равной воле жизни, переиначивать, выплащивать и организовывать язык (SPKRV, 15) Ich bin zur festen Überzeugung gekommen, dass die Sprache nicht einfach ein Werkzeug zur Benennung von Gegenständen, Menschen und Phänomenen ist, sondern dass sie ein zum Leben kongeniales Leben ist, und dass jedes Phänomen des äußeren Lebens nicht einfach irgendwohin vorstößt, sondern einzig und allein in den Futtertrog der Sprache. Mir wurde klar, dass die

8 Zorin, Andrej L.: „Muza jazyka i semero poėtov: Zametki o gruppe ‚Almanach‘“, in: Družba narodov 4/1990, 240–248; 247. 9 „Если посмотреть снизу, так и стихи можно назвать рогатыми. Пока я еще предпочитаю смотреть сверху.“ (SPKRV, 145)



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­ rammatik nicht nur funktional, sondern auch bedeutsam ist, dass es in ihrem Willen liegt, gleichG wertig dem Willen des Lebens, die Sprache umzumodeln, abzuschleifen und zu organisieren.

Prigov schöpft nicht genial, sondern entwickelt Programme der Grammatik, die die Sprache der Wirklichkeit auf „kongeniale“ Weise verändern. Diese Denkweise lässt sich mit einer Formulierung Lena Szilards bei der Analyse des Romans Renat i Drakon erläutern, Prigov schenke den Phänomenen seiner Lebenswirklichkeit ein zweites Leben im grammatischen Raum.10 Dass Prigov der Sprache eine Analogie zum „Willen des Lebens“ attestiert, ist ein vitalistischer Zug seines Denkens, der im Folgenden eingehender betrachtet werden soll.

3.1.2 Leben und Wirklichkeit: „Hoher Parodismus“ und „Sovvitalismus“ Prigovs theoretische Texte adressieren das Leben als eine Kategorie der unhintergehbaren Wirklichkeit – und rufen dabei die Lebensemphasen der Avantgarde und der sozialistischen Ideologiesprache einerseits, die Philosophie des deutschen Idealismus andererseits in Erinnerung. Die unmittelbare Realität ist bei ihm nicht Gegenstand der Kunst, Gegenstand sind die Phänomene der Kultur. Prigov trifft diese Unterscheidung in einem Text, der auf die Frage antwortet, wie parodistisch seine Sprache mit der Welt umgeht: In Stichi oseni, zimy goda žizni 1978 (Verse aus Herbst, Winter des Lebensjahres 1978, 1978) definiert er seine Repräsentationsstrategie als „hohen Parodismus“ („vysokij parodizm“, SPKRV, 53). Der Parodist „schlüpft“ für Prigov in eine Spalte. Sie entsteht, weil eine Stilistik ihren zu beschreibenden Gegenstand nie vollends abdecken kann (ebd., 54). Er tut das, um das sich in der jeweiligen Stilistik materialisierende „Wesen der Zeit“ aufzudecken, und die „Punkte ihres Anwachsens an die Ewigkeit“ („точки его прирастания к вечности“, ebd., 54) zu bestimmen. Es ist aber nicht das Leben selbst, das parodiert wird. Das Leben ist Ursprung der parodistischen Perspektive, die Prigov von der wertenden Satire abgrenzt: Пародизм  – это взгляд на явления с точки зрения жизни, в то время как сатира  – это взгляд с точки зрения морально-этических максим и культурных ценностей. (Ebd., 54) Parodismus ist der Blick auf die Phänomene aus der Perspektive des Lebens, während die Satire der Blick aus der Perspektive moralisch-ethischer Maximen und kultureller Werte ist.

Während die Satire den Gegenstand der Stilistik an sich leugnet oder die völlige Unangemessenheit einer Stilistik gegenüber einem Gegenstand aufzeigt, nimmt die Parodie ihren Gegenstand auf paradoxe Weise ernst. Indem der Parodist die Stilistik vom

10 „ДАП дает всему перечисленному здесь […] вторую жизнь – в грамматическом пространстве.“ Silard 2014, 220.

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Gegenstand entfernt, erzeugt er eine Dynamik zwischen ihnen – so weit sie auch auseinanderklaffen, vereint sie „Liebe“ und „Lebensrealität“. Diese Dynamik kann so weit gehen, dass die Stilistik selbst zum Gegenstand wird – und die Parodie nicht mehr von der Apologie des Parodierten, also der Ideologie zu unterscheiden ist (ebd.). Igor’ Smirnov hat für Prigov den Begriff der „aufgehobenen Parodie“ (in Anspielung auf Tynjanovs Parodietheorie) verwendet: Da in seinem Werk das Hohe und das Niedrige in völliger Kongruenz zueinander existieren, muss die Parodie nicht mehr ihre Inkongruenz ausdrücken (vgl. Smirnov 2013, 55 f.). Im Zustand aufgehobener Parodie sei so auch die Funktion des parodierenden Menschen aufgehoben: Letztlich gehen Dasein, in sich transzendierbar in die Sphäre primär-biologischer Bedürfnisbefriedigung, und Sein, transzendierbar in die Übernatürlichkeit, eine untrennbare Verbindung ein, die ohne den homo creator, den Träger des differenzierenden Faktors, auskommt (Smirnov 2013, 60).

Smirnov illustriert die Verbindung von Hohem und Niederem und die Entfernung des schöpferischen Menschen an zwei Strophen aus dem Zyklus Kartinki iz častnoj i obščestvennoj žizni (Bilder aus dem privaten und gesellschaftlichen Leben, 1979): Два скульптора стоят перед стихией – В их мастерской вдруг прорвало сортир И жижа ползает между творений Так в верхний мир ворвался нижний мир

Zwei Bildhauer stehn vor dem Element – Im Atelier brach ein Toilettenrohr Zwischen den Meisterwerken fließt der Schleim Die niedre Welt brach in die hohe ein

Меж двух миров, обоим не ровня Они стоят, не по себе им стало – Вот верхний мир сорвется с пьедестала И их расплющит столкновенье сил (Prigov 1997b, 27)

Zwischen den Welten, aber nicht wie sie, Stehen die Künstler, ziemlich konsterniert – Es [fällt] die hohe Welt, die’s Piedestal geziert Der Kräfteprall zermalmt die beiden Männer11

Wer auch nur oberflächlich mit Prigovs Lyrik vertraut ist, kann diese Verse stilistisch ohne Schwierigkeiten seiner Autorschaft zuordnen. Doch einen eigenen Stil hat Prigov nie für sich proklamiert. In zahlreichen Selbstaussagen gibt er zu Notiz, nur ein Raum für vorhandene Stile zu sein (siehe Kap. 1.1). Das preduvedomlenie des Zyklus überrascht nun allerdings dadurch, dass es eine Definition seines Stils gibt: Желая дальше определить себя среди других возможных эсэсэсэровских поэтов, определил я свой стиль как соввитализм. Уже из двух составляющих можно понять, что он имеет отношение к жизни (в данном случае термин „витализм“ взят именно для акцентирования некоего всеобщего и всевременного значения понятия жизнь), и к жизни

11 Übersetzung von Christiane Körner, zitiert nach Smirnov 2013, 60. Das Original wird hier in der Version nach Prigov 1997b zitiert, daher eine Veränderung in der Übersetzung des Prädikats „sorvetsja“, das bei Smirnov in der Vergangenheit steht. Er zitiert nach Prigov, Dmitrij A.: Napisannoe s 1975 po 1989, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 1997, 104.



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именно советской. Т. е. этот стиль имеет своим предметом феномен, возникающий на пересечении жесткого верхнего идеологического излучения („верхний“  – в данном случае чисто условное понятие, принятое в системе философских и социологических учений) и нижнего, поглощающего, пластифицирующего все это в реальную жизнь, слоя жизни природной. (Prigov 1997b, 24) Im Bestreben, mich weiter von anderen möglichen udssrischen Dichtern abzugrenzen, habe ich meinen Stil als Sovvitalismus definiert. Schon aus den beiden Bestandteilen wird verständlich, dass er eine Beziehung zum Leben hat (in diesem Fall wurde der Begriff „Vitalismus“ gerade zur Akzentuierung einer gewissen allgemeinen und allzeitlichen Bedeutung des Begriffs Leben gewählt), und zwar zum sowjetischen Leben. Das heißt, dieser Stil bezieht sich auf ein Phänomen, das in der Überschneidung der intensiven oberen ideologischen Ausstrahlung („oben“ ist hier ein rein konventioneller Begriff, wie er im System philosophischer und soziologischer Lehren akzeptiert wird) und der unteren, all das ins reale Leben einsaugenden und plastifizierenden Schicht des natürlichen Lebens.

Die Wortschöpfung „Sovvitalismus“ spielt zunächst einmal auf die sowjetische Abbreviatur-Praxis und die Bezeichnung des Staatsstils an, den Sozrealismus. Sovvitalismus ist keine Verballhornung von Sozrealismus, sondern die inoffizielle Ergänzung zum offiziellen Stil, zu einem Realismus, dem der Vitalismus fehlt, der die andere, natürliche Seite des „sowjetischen Lebens“ nicht zur Kenntnis nimmt. Auch hier definiert Prigov Leben im Raum: Der eigentliche Gegenstand der Kunst entsteht im Schnittpunkt von höheren ideologischen Strahlen und der niederen Schicht des natürlichen Lebens. In der Unterscheidung von „oben“ und „unten“ deutet sich bereits das Denken in „Stratifikationen“ an, wie es in den 1990er Jahren prägend für Prigovs Texte sein wird. Im Paradigma des „Sovvitalismus“ erweist sich „Stil“ nicht als rhetorisches oder ästhetisches Merkmal, sondern als Beziehung der künstlerischen Produktivität zum Leben,12 als eine vom Leben her gedachte Entstehung der Form.13 „Sovvitalismus“ ist eine künstlerische Entsprechung des „realen Sozialismus“, wie es weiter heißt:

12 Prigov macht sich hier das breite ästhetische, philosophische, soziologische und ideologische Spektrum von Stilbegriffen zunutze. Dabei scheint eine Dichotomie von Individual- und Kollektivstil hier gerade keine Rolle zu spielen; vgl. dazu: Rosenberg, Rainer et al.: Art. „Stil“, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart [u. a.]: Metzler, 2003, 641–703. Prigovs Stil bezeichnet weder das „Wie“ eines Einzelnen noch der Gesellschaft, sondern ist vom Leben her gedacht, er ist ein Lebens-Stil. 13 Jampol’skij hat die vitalistischen Züge von Prigovs Poetik ausführlich beschrieben und sie mit Hans Drieschs Studien zum Vitalismus der 1910er Jahre zusammengelesen. Drieschs Konzept der Morphogenese bringt er mit Prigovs Konzept des räumlichen Schöpfens in Verbindung: Die Genese der Form funktioniere wie ein künstlerischer Akt, der „mithilfe der Projektion von Intensitäten jenen Raum gestaltet, in dem die künstlerische Form entsteht“ („с помощью проецирования интенсивностей формирует то пространство, в котором возникает художественная форма“). Vgl. Jampol’skij 2016, 30–60; insbesondere 32.

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Наиболее верное и точное определение этого феномена появилось, кстати, в самое последнее время  – „реальный социализм“. И если научно-коммунистическое и диссидентское сознание акцентируют свое внимание на понятии социализм, уже в нем самом, в самом заявлении его определяя его реальность или нереальность (то есть реальность со знаком минус), то мы (в смысле – я) отдаем предпочтение определению „реальный социализм“ как феномену, коррелятом которого в сфере нашего искусства (то есть – моего) служит соввитализм. Т. е. еще проще, как Советское Шампанское есть ни шампанское, ни советское, а именно – Советское Шампанское. (Prigov 1997b, 24 f.) Die treffendste und präziseste Bestimmung dieses Phänomens ist übrigens erst kürzlich entstanden: der „reale Sozialismus“. Und wenn das wissenschaftlich-kommunistische und das dissidentische Bewusstsein ihre Aufmerksamkeit auf den Begriff Sozialismus richten, indem sie bereits in ihm selbst, allein durch seine Proklamation seine Realität oder Irrealität (also Realität mit Minuszeichen) definieren, dann bevorzugen wir (also ich) eine Definition des Begriffs „realer Sozialismus“ als Phänomen, dessen Korrelat in der Sphäre unserer Kunst (also meiner) der Sovvitalismus ist. Also noch einfacher: genauso wie Sowjetischer Champagner weder Champagner noch sowjetisch ist, sondern eben Sowjetischer Champagner.

Die Pointe ist nun: Im empirischen, real existierenden Sozialismus berühren die Ideologie und die physis, bzw. das „natürliche Leben“ (s. o.) einander längst. Gemeint ist der Alltag der späten 1970er Jahre, in dem es zu Verbindungen des „hohen“ und des „natürlichen“ Lebens wie „Sovetskoe šampanskoe“ kommt. Dieses „natürliche“ Leben ist einerseits banal, trägt aber die Spur des Totalitarismus – der „Sowjetische Champagner“ wurde unter Stalins Ägide 1936 als Konsumgut dekretiert und ging 1937 in Massenproduktion.14 Sovvitalismus ist nicht der Vitalismus der totalitären Ideologien, die mit dem Lebensanspruch von Völkern Politik rechtfertigen. Hier zieht das niedrige Leben die Ideologie zu sich herab. Prigov verwendet einen Begriff des Lebens, um sich sowohl von der Satire als auch vom Realismus abzugrenzen. Der Sovvitalismus ist kein verkappter Realismus  – wie Prigov anhand der dissidentischen Reaktionen auf den Sozrealismus zeigt, ist auch ein alternativer Realismusbegriff potenziell ideologisch. Die formal­ logische Eigenschaft, die Prigov „Sovvitalismus“ zuspricht – frei nach dem Beispiel des „Sowjetischen Champagners“: ‚weder vitalistisch noch sowjetisch, sondern eben sovvitalistisch‘ –, lässt es nicht zu, den Begriff in seine Teile zu zerlegen. Stattdessen wird der „Sovvitalismus“ als inoffiziell-künstlerisches Korrelat zum realen Sozialismus – eben nicht als einen die Wirklichkeit repräsentierenden Begriff – in Stellung gebracht.

14 Vgl. Bogdanov, Konstantin A.: „Sovetskoe šampanskoe. Prazdničnaja istorija“, in: Antro­ po­ logičeskij forum 16 (2012), 367–379; insbesondere 370–372.



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3.1.3 Leben und Zeit: Katastrophe, Routine und das „lebenslange Projekt“ Leben als Verlauf der Existenz spielt für Prigovs Schaffensökonomie eine entscheidende Rolle. Die Frage, welche Gewalt der Künstler-Demiurg über den Lauf der Zeit hat, findet sich immer wieder in neuer Gestalt und berührt nicht zuletzt den Komplex des Apokalyptischen. Im Zyklus Isčislennye stichi (Gezählte Verse, 1983) scheint die Macht des Dichters so groß, dass ein Ende seines Schreibens zugleich das Ende allen Lebens bedeuten würde. Prigovs Emphase der Quantität, der zählbaren Menge von Gedichten, macht sich damit den seit der Offenbarung des Johannes bestehenden Nexus zwischen Zahl und Weltende zu eigen. Solle das Leben weitergehen, müsse das „letzte katastrophische Gedicht“ unendlich aufgeschoben werden: Конечно, будучи заинтересованным более делом спасения мира, чем исполнением поэтического долга, я мог бы сознательно оттягивать написание последнего катастрофического стихотворения, с целью продлить мирный период на нескончаемый срок, определяемый только моими способностями прожить нескончаемо долго. (SPKRV, 131) Da ich natürlich mehr an der Sache der Weltrettung interessiert bin als an der Erfüllung meiner dichterischen Pflicht, könnte ich das Verfassen des letzten katastrophischen Gedichts bewusst aufschieben, um die Friedensperiode um eine unendliche Zeitspanne zu verlängern, die sich nur nach meinen Fähigkeiten richtet, unendlich lange zu leben.

Die Vorstellung des Messianischen bezieht sich nicht auf die Ankunft von etwas, sondern auf die Abwendung vom Ende der Welt – vermittels einer ökonomisch durchgeplanten Schaffenstätigkeit. Der Messianismus der Avantgarde bestand – geht man etwa von Nikolaj Fedorov aus – darin, dem neuen Menschen ein neues Leben zu geben. Bei Prigov ist dagegen ein unendlicher Leerlauf des ‚alten‘ Lebens zu beobachten. Womöglich lässt sich dieser Leerlauf durch keine dichterische Potenz beeinflussen. Das Leben geht einfach weiter. So heißt es in Sledujuščie stichi (Folgende Verse, 1984): Самое большое, что может случиться, так это что стихи не напишутся, но жизнь-то все равно идет, будет идти и без них и без нас. (SPKRV, 138) Es kann höchstens passieren, dass Verse nicht geschrieben werden, aber das Leben trotzdem seinen Gang geht, weitergehen wird auch ohne sie und ohne uns.

Die historische Konfiguration, in der das Leben „seinen Gang geht“, ändert sich ab Mitte der 1980er Jahre, und das spiegelt sich auch in Prigovs Reflexion des Lebens­ verlaufs wider. Immer häufiger tritt die Vokabel der „Routine“ auf. Eine landläufige ­Erklärung wäre dafür: Sobald der inoffizielle Staatskünstler von seinen politischen Aufgaben entbunden ist, stellen sich neue Anforderungen. Dass Prigov und seine Images – allen voran der Milizionär – seit der Perestrojka eine Art Selbstprivatisierung durchlaufen haben, ist immer wieder bemerkt worden und lässt sich insbesondere für

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 Leben in Prigovs Poetologie, Lyrik, Essayistik und Performances

den Roman Moskau belegen.15 Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass alle „Privatisierungen“ von ideologischen Phänomenen schon im ‚klassischen‘ Prigov etwa zwischen 1975 und 1979 angelegt sind.16 Die Dimension der „Lebensroutine“ betont dann einerseits eine Trägheit des künstlerischen Projekts, das von historischen Umbrüchen unberührt bleibt. Andererseits entwickelt sich dieses Projekt gerade kraft seiner Trägheit weiter und findet neue Verfahren, Stilistiken und Medien. In einem Rückblick auf Begriffe aus den 1980er Jahren im Slovar’ terminov moskovskoj konceptual’noj školy (Wörterbuch der Begriffe der Moskauer konzeptuellen Schule, 1999) definiert Prigov den Eintrag der „rettenden Routine“ („spasatel’naja rutina“) und wirft darauf ein eigentümliches theoretisches Licht: продолжительная художественно-экзистенциальная практика, имеющая целью не порождение текстов, но посредством производимых текстов выстраивание художественного организма, способного почти спонтанно, самопроизвольно в любой момент порождать артефакты.17 eine andauernde künstlerisch-existenzielle Praxis, deren Ziel nicht die Erzeugung von Texten ist, sondern mithilfe produzierter Texte die Konstruktion eines künstlerischen Organismus, der geradezu spontan und von alleine in der Lage ist, in jedem beliebigen Moment Artefakte zu erzeugen.

Ähnlich zum räumlichen Schöpfungsmodell aus Kapitel 3.1.1 entfaltet sich Prigovs indirekte Produktion von Werken in der Zeit als Routine: Seine Arbeit schafft nicht Werke, sondern einen „Organismus“, aus dem sie entstehen können. Dieser Organismus, so ein anderer Eintrag, bewegt sich auf der Zeitachse durch das „Totschlagen von Lebenszeit“ („ubienie vremeni žizni“) in einem „trägen Funktionieren“ („inercionnoe funkcionirovanie“).18 Die zeitliche Existenz erklärt Prigov in der Semantik des „Projekts“ und kommt dabei auf eine oft verwendete und zitierte Formel, das „lebenslange Projekt“: в отличие от любых языковых практик и идентификации с ними (включая и перформансно-поведенческий текст) предполагает доминанту временной составляющей и процесса развертывания вдоль временной оси (предел: проект длиною в жизнь), когда любого рода текстовые знаки суть лишь некие отметки, определяющие траекторию, вектор проектного существования, художественно-эстетического бытования почти фантомным способом. Термин актуализировался для меня в середине 90-х годов.19

15 Vgl. z. B. Obermayr 2013c, 9. 16 Vgl. Martin, Olga: „Der Milizionär: Das Ende eines Heldenepos“, in: Obermayr 2013b, 252–305; 269 f. 17 Prigov, Dmitrij A.: Art. „Spasatel’naja rutina“, in: Monastyrskij, Andrej (Hg.): Slovar’ terminov moskovskoj konceptual’noj školy, Moskva: Ad Marginem, 1999, 193. 18 Prigov, Dmitrij A.: Art. „Ubienie vremeni žizni“, in: Monastyrskij 1999, 194. 19 Prigov, Dmitrij A.: Art. „Proekt“, in: Monastyrskij 1999, 193.



Das Poem Machrot’ vseja Rusi 

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im Gegensatz zu jeglichen sprachlichen Praktiken und der Identifikation mit ihnen (den performativen Verhaltenstext eingeschlossen) vermutet es [das Projekt, P. K.] eine Dominante der zeitlichen Komponente und des Entfaltungsprozesses entlang der Zeitachse (Begrenzung: das lebenslange Projekt), wenn textuelle Zeichen jeglicher Form nur gewisse Anmerkungen sind, die die Trajektorie bestimmen, den Vektor der projektiven Existenz, des künstlerisch-ästhetischen Daseins auf geradezu phantomhafte Weise. Der Begriff wurde für mich Mitte der 90er Jahre wieder aktuell.

Vokabeln wie „Trajektorie“, „Vektor“, „projektive Existenz“ und „Lebenslänge“ deuten darauf hin, dass Prigov den Projektbegriff in seinem räumlichen Sinn als etwas ‚nach vorn Geworfenes‘ ernst nimmt. Die Zeit des Lebens wird räumlich gemacht, mit dem Anspruch, sie auf geometrische Formen abzubilden und zu ‚projizieren‘ oder ‚projektieren‘. Für den Komplex von Erzählung und Erinnerung in den Romanen wird dieses Denken noch weiter bedeutsam sein.20

3.2 Lyrik: Das Poem Machrot’ vseja Rusi (1984) 3.2.1 Die Lebendigkeit des Milizionärs: Images, Personen, Persönlichkeit In der ‚klassischen‘ konzeptualistischen Phase arbeitet Prigov mit Images. Neben dem Milizionär sind das andere sowjetische Berufe, wie sie Sergej Michalkov seit Mitte der 1930er Jahre in seinen Kinderpoemen Djadja Stepa (Onkel Stepa)21 populär gemacht hat, etwa Seemann und Feuerwehrmann. Prigov erhebt aber auch andere (Arche-) Typen, Helden und Antihelden der sowjetischen Kultur in solche Funktionen: Jude, Terrorist, Bürgerdichter, Dichterin. Neben der Lyrik des sowjetischen Lebens in seinen Formen entsteht bei Prigov in den 1980er Jahren aber eine Lyrik der ungeformten Lebendigkeit der Sprache. Es gibt dort eine Ebene des Lebens – alltäglich, metaphysisch, in allen oben diskutierten Bedeutungen –, die in Figuren nicht zu fassen ist, die in kein Image passt. In diesem Kapitel wird es um diese Unterscheidung einer Dichtung von bios und zoe gehen, und dazu werden einzelne Aspekte der Milizionär-Gedichte gegenüber dem Poem Machrot’ vseja Rusi (1984) gelesen. Der Milizionär ist eine omnipräsente Figur des sowjetischen Alltags. In Prigovs poetischem Kosmos wird er zur philosophisch-poetischen Mittlerfigur: Als ‚niedere‘ Verkörperung der ‚hohen‘ Idee des ideologischen Staats schreibt sich Prigovs Milizionär in der umgangssprachlichen Form „Milicaner“. Die Wortgestalt selbst realisiert

20 Dabei wird sich herausstellen, dass sich der Begriff des Projekts nach seiner „Aktualisierung“ in den 1990er Jahren von der zeitlichen Begrenzung eines (Künstler-)Lebens löst (siehe Kap. 3.4.3). 21 Einen ausführlichen Vergleich der Figuren liefert Evgenij Dobrenko: Dobrenko, Evgenij: „‚Prijti k ženščine i leč’ k nej v postel’ v mundire‘. Prigov i Michalkov-Končalovskaja“, in: Dobrenko et al. 2010, 358–404; insbesondere 360–380.

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und ironisiert damit die Denkfigur der „zwei Körper des Königs“.22 Die ephemere Hülle des ewigen Lebens ist hier eine Uniform: Он представляет собой Жизнь Явившуюся в форме Долга Он – краток, а искусство – долго И в схватке торжествует Жизнь (SoSt 5, 55)

Er selbst ist Sinnbild für das Leben Die Mütze Sinnbild für sein Amt Kurz ist das Leben, und die Kunst ist lang Doch im Scharmützel siegt das Leben23

Die repräsentative Funktion des Staatsdieners wird auf metaphysische Kategorien – das Leben mit großem Ж – ausgedehnt. So spielt Prigov konsequenterweise mit der Ambivalenz des Homonyms „forma“ zwischen den Bedeutungen „Form“ und „Uniform“. Die „Pflicht“ – „dolg“ mit großem Д – steht im Reim mit „dolgo“, anspielend auf die hippokratische Formel über die Kürze des Lebens („Ho bios brachys, hê de technê makrê“), die seit Seneca mit „vita brevis, ars longa“ zitiert wird. In Prigovs „sovvitalistischem“ Stil ist die Form des Lebens gleichzeitig Uniform, seine Länge politische Pflicht. Der Milizionär ist Protagonist dieses Stils, und deshalb hat er sowohl an der „oberen“ ideologischen Sphäre teil als auch an der niederen physis. Insbesondere die Kürze, Vergänglichkeit und Zerstörbarkeit (etwa im Zusammentreffen mit Mördern und Terroristen) hebt den Kontrast zum Körper des Milizionärs und der unzerstörbaren Substanz seiner Idee hervor. In einer der als dramatische Miniaturen angelegten Preduvedomitel’naja beseda (Vorbekundendes Gespräch) zum Band Krov’, slezy i vse pročee (Blut, Tränen und alles andere, 1980) besetzt Prigov die Rolle des Gesetzesvertreters mit dem Milizionär, die des Mörders mit Hamlet und die des Autors mit sich selbst. Sie diskutieren über den Mord als Handlung, die sich den Naturgesetzen entzieht und daher einen aus der Natur herausragenden Menschen fordert. So der Autor: И в данном случае вы, товарищ Гамлет, будете этим самым водящим человеком, так называемым убийцей, а товарищ Милицанер, представляя Государство, будет тем противовесным элементом, который представляет интересы высших законов природы, а я как описатель этого процесса, то есть будучи чистым языком eгo – стану синтезом человека человеческого и человека природноrо. (SPKRV, 106) Und in diesem Fall werden Sie, Genosse Hamlet, dieser herausragende Mensch sein, der sogenannte Mörder, und der Genosse Milizionär, der den Staat repräsentiert, wird jenes konträre Element sein, das die Interessen der höchsten Naturgesetze vertritt, und ich als Beschreibender dieses Prozesses, d. h. als seine reine Sprache, werde zur Synthese des menschlichen Menschen und des natürlichen Menschen.

22 Dobrenko analysiert Prigovs Milizionär-Mythos anhand von Ernst Kantorowicz’ Schrift Die zwei Körper des Königs (1957): Dobrenko 2010, 369. 23 Prigow: Dmitri: Der Milizionär und die anderen. Gedichte und Alphabete. Nachdichtungen von Günter Hirt und Sascha Wonders, Leipzig: Reclam, 1992, 22.



Das Poem Machrot’ vseja Rusi 

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Während der Milizionär in dieser auf Hobbes’ Staatslehre anspielenden Schematik zwischen den höchsten Naturgesetzen und dem Menschen vermittelt, wird dem Autor eine Mittlerrolle darüber hinaus zuteil: Durch seine Sprache vermittelt er zwischen „menschlichem“ und „natürlichem“ Menschen. Der Milizionär ist eine endliche Lebensform (bios), aber seine Verkörperung einer abstrakten Idee widerspricht zugleich einer menschlichen Lebensform – der Mensch im Milizionär kann morden, der Milizionär an sich aber nicht. Der Anteil der Natur in ihm ist variabel in seinen Ebenen, er kann zoomorph werden: И как кошачий стон от уст Милицанера Und wie ein Katzengestöhn den Mund des Milizionärs Так ворон отходил от мертвого меня Verließ der Rabe das tote Ich Недалеко, поскольку высшей мерой Nicht weit, denn im größten Maßstab Мы все очерчены в пределах жизни дня Sind wir alle entworfen im Leben eines Tages Мы все подвластны под ее размер Wir alle fallen unter die Macht seines Maßes И я, и ворон, и Милицанер Ich, und der Rabe, und der Milizionär Отчасти (Prigov 1997a, 198) Teilweise

In der oben zitierten Strophe steht das tote „Ich“ als „Mich“ im Akkusativ, in rhetorischer Analogie mit einem zoomorphen Milizionär und einem Raben. Dem folgt eine belehrende Passage über „Maßstab“ und „Größe“ des Lebens (später soll ein Text so heißen, Mera i razmer, 1999), denen „wir alle“ unterworfen seien. Dass das Ich über sich selbst als ein totes sprechen kann, ist ein – lyrisch, narrativ, sprechakttheoretisch – vielfach erkundetes Paradox der Moderne. In Prigovs Vers erscheint es wie eine Referenz auf diesen Topos. Doch die Verschiebung dieses Paradoxes auf die Zitatebene ergibt ein neues Paradox: Wer bleibt übrig, um den selbst schon ‚toten‘ Topos des toten Ichs zu zitieren? Die Frage nach der Persönlichkeit des lyrischen Ichs – wer da „Ich“ sagt – ist eine der meistdiskutierten zu Prigovs Gedichten. Die erste Prigov-Textsammlung in deutscher Sprache stellte ihn unter dem Titel Poet ohne Persönlichkeit vor.24 Nun liegt die These von Groys nahe, Prigov verwende in seiner klassischen Soz-ArtPhase keine lebendigen Stimmen, sondern archiviere kanonische Stimmen der Poesie als tote „Textobjekte“.25 Die Frage, auf die Groys antwortet, ist jedoch nicht abschließend geklärt. Was ist es dann, das auf den Leser wirkt? Gibt es eine Stimme, einen Stil, eine bestimmte Form von Lebendigkeit, die das leistet? Oder lediglich eine Instanz des

24 Prigov, Dmitri A.: Poet ohne Persönlichkeit, aus d. Russ. v. Peter Urban, Berlin: Literarisches Colloquium Berlin, 1991. 25 Groys grenzt seine Benutzung poetischer „Masken“ von der Bachtinschen Polyphonie ab: „It is a question not of living voices, which may polemicize among themselves, but of dead text-objects, which form a certain virtual library“. Der Dichter sei „Archivar“ oder „Textkurator“ dieser Bibliothek. „We do not so much read Prigov as we read with him – and we hear his reading, claiming neutrality, and giving to the text an effaced, summary, impersonal character.“ Groys, Boris: „Text as a ready-made object“, in: Balina, Maria / Condee, Nancy / Dobrenko, Evgeny (Hg.): Endquote. Sots-art literature and Soviet grand style, Evanston: Northwestern University Press, 2000, 32–45; 40 f.

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Lebens, die über der persönlichen Perspektive steht? Wenn Prigovs lyrisches Ich als unpersönlich bezeichnet werden kann, dann in Verneinung der Ursprungsbedeutung von ‚persona‘ als einer ‚Maske‘, durch die gewisse Eigenschaften ‚durchscheinen‘. Das Personalpronomen „ja“, das Ich, kann auch in der dritten Person stehen. Diese grammatikalische Option des Russischen wird insbesondere in Moskau ausgenutzt.26 Die unpersönliche Lebendigkeit des Autors wird noch deutlicher in den Text­ arbeiten, in denen er in der dritten Person über sich spricht. Eine fast mustergültig konzeptualistische Arbeit Prigovs sei dazu angeführt: Im Zyklus Nekrologi (Nachrufe, 1980) adaptiert Prigov Form und Stil von Nekrologen staatlicher Presseorgane – allerdings sind die Trauerfälle kanonische russische Autoren, zuletzt auch Prigov. Es heißt im fünften und letzten Nachruf der Serie: Центральный Комитет КПСС, Верховный Совет СССР, Советское правительство с глубоким прискорбием сообщают, что 30 июня 1980 года в городе Москва на 40-ом году жизни проживает Пригов Дмитрий Александрович. (Prigov 1997b, 143) Das Zentralkomitee der KPdSU, der Oberste Sowjet der UdSSR und die sowjetische Regierung geben in tiefer Trauer bekannt, daß am 30. Juni des Jahres 1980 in der Stadt Moskau in seinem 40. Lebensjahr Prigov, Dmitri Aleksandrovič, lebt. (Prigov 1991, 88)

Im Unterschied zu Puškin, Lermontov, Dostoevskij und Tolstoj, deren jeweils in kurzen Würdigungen gedacht wird, bleibt Prigov ohne Eigenschaften. Die Aussage, dass Prigov lebt, bzw. in Moskau „wohnt“ („proživaet“), bricht das Trauerritual ab. An die banale Existenz kann sich keiner erinnern. In den Romanen wird die Erinnerung an das banale Leben zu einer Herausforderung des Erzählens.

3.2.2 Machrot’ vseja Rusi: Etymologie und Komposition Der Milizionär ist an die (Uni-)Form gebunden, er ist performierbar, wie viele andere kanonische Figuren des Prigovschen Kulturkosmos. In einem Poem von 1984 führt Prigov eine Protagonistin ins Feld, die weder Figur noch Form ist. Der Text heißt Machrot’ vseja Rusi (Die Machrot’ der ganzen Rus)27 und steht am Übergang von Prigovs

26 Vgl. Obermajr [Obermayr], Brigitte / Vitte [Witte], Georg (2016): „Roman iz stichov: ‚Živite v Moskve‘ i chudožestvennyj proekt D. A. Prigova. Dialog Brigitte Obermajr i Georga Vitte“, in: SoSo 2, 10–37; 25. 27 Als „Poem“ ist der Text im Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift untertitelt, in der er 1990 zuerst erschien: Prigov, Dmitrij: „Machrot’ vseja Rusi (poėma)“, in: Vestnik novoj literatury 1 (1990), 90–97. In dieser Version fehlen jedoch handschriftliche Ergänzungen, die Prigov in die Typoskriptdurchschläge eingetragen hat. Zudem sind die Mat-Ausdrücke nur mit Anfangsbuchstaben und Punkten wiedergegeben. Im Anhang des Aufsatzes von Viktoria Olskaia sind sie berücksichtigt, jedoch enthält die Transkription einige Fehler. In den Privatarchiven von Brigitte Obermayr und Georg Witte finden sich von Prigov erstellte Typoskripthefte mit teilweise unterschiedlicher Strophenreihenfolge. Zitiert



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konzeptualistischer Phase zu einer Schaffensperiode und Poetik, die Prigov als „neue Aufrichtigkeit“ bezeichnet hat. In den epischen Teilen dieses Texts treffen das lyrische Ich, der Kreis der Konzeptualisten, der Milizionär und verschiedene Personen der Zeitgeschichte auf ein unpersönliches, zerstörerisches Wesen namens „machrot’“. Dabei lässt die wechselnde Großund Kleinschreibung offen, ob es sich um den Namen eines Individuums oder eine Gattungsbezeichnung handelt. Das feminine Substantiv „machrot’“ ist ein Neolo­gis­ mus:28 Das Adjektiv „machrovyj“ bezeichnet eine gekräuselte Oberfläche, etwa eine vielblättrige Blume oder Frotteestoff, wird aber zumeist in seiner übertragenen Bedeutung gebraucht und attestiert dann eine unabänderliche negative Eigenschaft. Ein ‚machrovyj konservator‘ ist im Deutschen ein ‚Erzkonservativer‘. Die Endung „-ot’“ erinnert an Kollektiva wie „mjakot’“ – das weiche Fleisch von Lebewesen oder Früchten –, das gleich zu Beginn genannt wird, oder „plot’“ („Fleisch“) in der letzten Strophe. Es mag sich also um etwas in Russland buchstäblich ‚Eingefleischtes‘ handeln, andererseits ergibt sich eine Semantik des Auswurfs: Die Verwandtschaft zu Wörtern mit starken Rachenlauten wie ‚charkat’‘ (‚Schleim auswerfen‘) oder ‚mokrota‘ (‚Auswurf‘) ist offensichtlich. Michail Klebanov hat zudem auf die Assoziation mit ‚machra‘, einer umgangssprachlichen Bezeichnung des für den sowjetischen Alltag symbolischen ­ ­Machorka-Tabaks, und die damit verbundene Praxis und Symbolik eines spezifisch ­russischen „hoffnungslosen Ausspuckens“ hingewiesen.29 Das Gedicht spielt diese

wird im Folgenden nach Olskaias Version, die entsprechenden Stellen wurden im Abgleich mit diesen Typoskripten verändert und gekennzeichnet; vgl. Olskaia, Viktoria A.: „‚Machrot’ vseja Rusi‘ by Dmitrij Prigov as a composition of Moscow conceptualism“, in: Russian Literature XXXIX (1996), 39–64 (Anhang: 55–64). Im Folgenden wird der Titel des Poems abgekürzt als Machrot’ wiedergegeben, während die darin zentrale Substanz mit kleinem Anfangsbuchstaben als machrot’ bezeichnet wird. 28 Zum Typ des Worts „machrot’“ merkt Michail Ėpštejn an, es unterscheide sich von avantgardistischen „odnoslovija“ („Univerbalismen“) wie Voznesenskijs „mat’ma“ (aus ‚mat’‘ und ‚t’ma“  – ‚Mutterdunkelheit‘) dadurch, dass es aus mehreren zusammenklingenden Wörtern komponiert sei, etwa ‚machorka‘ ‚charkat’‘ (‚speien‘), ‚rota‘ (‚Rotte‘/‚Kompanie‘) ‚rat’‘ (‚Schlacht‘). Man könnte das im Gedicht erwähnte „achovyj“ („hoffnungslos schlimm“) hinzufügen. Ėpštejn schlägt für das Verfahren in Anspielung auf Chlebnikovs Neologismen aus etymologischen Wurzeln („skornenie“; „Koradikation“, vgl. Vroon, Ronald (Hg.): Collected works of Velimir Khlebnikov, Boston: Harvard University Press, 1987, 237) einen eigenen Terminus vor: „množestvennoe skornenie“ („multiple Koradikation“); vgl. Ėpštejn, Michail: „Tipy novych slov. Opyt klassifikacii“, in: Topos. Literaturno-filosofskij žurnal, 5.12. 2006, http://www.topos.ru/article/5174). Man könnte „machrot’“ alternativ als Zusammenziehung von ‚machrovost’‘, der Substantivierung von ‚machrovyj‘, lesen – also ein Wort, das einen Teil seines Suffixes absorbiert hat. Diese ‚autophagische‘ bzw. selbstanonymisierende Komponente wird in der Analyse noch zu berücksichtigen sein. 29 „Эта унылая махра становится важным компонентом ожесточенного и безнадежного плевка, которым российский житель испокон веков выражал свое отношение к жизни. И этот плевок, сдобренный махрой, приправленный туберкулезным сгустком (‚С виду синяя, снутри красная‘), сливаясь с мириадами других плевков, падая в благодатную российскую почву, пропитывая ее насквозь, создает некую особую субстанцию, имя которой – Махроть“ („Diese trostlose ‚machra‘ wird zur wichtigen Komponente eines verbitterten und hoffnungslosen

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­ edeutungsebenen gegen Wörter aus dem poetischen („čarka“; „Kelch“) oder fremdB sprachlichen („čakra“; „Chakra“) Register aus. Wenn die etymologischen Schichten des Worts eine Kurve nach oben beschreiben – vom ‚Tiefsitzenden‘ über den Auswurf bis zum hohen Register –, dann korrespondiert das sowohl mit der Wortmelodie von „machrót’“ als auch der Dramaturgie des Poems vom niedrigen Alltag zur Apotheose. In der folgenden Lektüre wird anhand der kompositorischen Struktur, der rhetorisch-poetologischen und historisch-mythologischen Funktion der machrot’ ihre Nicht-Form des Lebens beleuchtet und in Kontrast zum Ich Prigovs und zu seinen Images gesetzt. Das Poem besteht aus vier einander abwechselnden Prosa- und Strophenteilen, beginnend mit einem preduvedomlenie. Diese Vorbekundung unterscheidet sich im Stil von vielen anderen: Hier spricht nicht der sich selbst interpretierende konzeptualistische Autor, sondern eine Art Prosaerzähler, der den epischen, lyrischen zweiten Teil einleitet. Viktoria Olskaia hat den Text als Komposition aus Fragmenten bezeichnet, die jeweils ihre eigene Melodie haben (Olskaia 1996, 41) und darin Pseudozitate von Blok, Mandel’štam, Majakovskij oder Esenin einflechten (ebd., 49). Klebanov hat in polemischer Auseinandersetzung mit Olskaias Aufsatz bemerkt, dass in dieser poetischen Zitatpraxis nicht die formale Innovation des Poems im Vergleich zu Prigovs bekannten Werken liege. Die Besonderheit sei stattdessen eine spezifische „Verdünnung“ („razbavlenie“) von Poesie mit Prosa, die Kombination einer poetischen und einer prosaischen Ebene (vgl. Klebanov 2002). Tatsächlich scheint Machrot’ einer der ersten Versuche Prigovs zu sein, Poesie und Prosa im Raum eines Texts zu gleichen Stücken zu legitimieren. Hier gibt es kein Prosa-preduvedomlenie als Peritext, sondern der Textbeginn ist bereits Prosa: ein in der Melodie eines modernistischen stream of consciousness gehaltener Satz aus 211 Wörtern. Der Beginn sei zitiert: Какому русскому она не есть мать родная, поющая, убаюкивающая, ласкающая, целующая, слизывающая кожу, прикровенные верхние слои следом и обмершую, неискушенную мелкими трудами и привычками оборонительными, саму мякоть души виноградную в себя всасывая, через себя глядеть вынуждающая, своим телом вскидываться, своим хвостом вздергиваться […] Welchem Russen ist sie nicht die liebe Mutter, die singt, hätschelt, streichelt, küsst, die Haut ableckt, die verborgenen oberen Schichten hintereinander, die das erstarrte, sich nicht von unbedeutenden Mühen und Abwehrgewohnheiten verlocken lassende Traubenfruchtfleisch der Seele selbst in sich einsaugt, die einen zwingt, durch sich durchzublicken, sich an seinem Körper in die Höhe zu werfen, sich an seinem Schwanz hinaufzuziehen […]

­ usspuckens, mit dem der Bewohner Russlands seit Jahrhunderten seine Beziehung zum Leben ausA drückt. Und dieses Ausspucken, mit ‚machra‘ angereichert, mit Tuberkulose-Auswurf gewürzt (‚Von außen blau, von innen rot‘), fließt zusammen mit Myriaden anderer Spuckeladungen, fällt auf fruchtbaren russischen Boden, durchtränkt ihn und schafft eine besondere Substanz namens ‚Machrot’‘“). Klebanov, Michail: „Prigov i konceptualizm: problemy kritiki. Ešče raz o ‚Machroti vseja Rusi‘ Dmitrija Prigova“, in: Topos. Literaturno-filosofskij žurnal, 15.7. 2002, http://www.topos.ru/article/420.



Das Poem Machrot’ vseja Rusi 

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Das Wort „machrot’“ fällt in diesem langen Satz nicht, allerdings wird offensichtlich, dass „mat’“ („Mutter“) phonetisch und semantisch damit zu tun hat. Die Verkörperungen der machrot’ in den folgenden Strophen sind überwiegend weiblich, aber nicht nur menschlich („Jungfrau“, „heilige Ratte“, „Lilith“, „Schlange“). Im Gespräch mit Olskaia hat Prigov auf den Einfluss Vladimir Solov’evs hingewiesen, der Russland als weibliche Substanz konzipiert hat (Olskaia 1996, 41). Etwas weiter entfernt erklingt allerdings auch das Wort für das obszöne Register des Mat in „machrot’“, dessen ­Vokabular sich in einigen Strophen mit Wörtern hohen poetischen Stils reimt. In „machrot’“ kommt eine alle stilistischen Niveaus, gesellschaftlichen Milieus, Ebenen des Lebens durchquerende Materie zur Sprache – auch ‚materia‘ geht schließlich etymologisch auf die Mutter, ‚mater‘, zurück. Im Gegensatz zum Milizionär gibt es von der machrot’ keine höhere Idee. Klebanov besteht in seiner Polemik mit Olskaias Lektüre darauf, es gebe kein spirituelles, geistiges oder ideelles Wesen von ihr: Махроть откровенно предстает перед нами сутью России, неосязаемой, но ощутимой метафизической материей, может быть не всеопределяющей, но имманентной и вездесущей. (Klebanov 2002) Die Machrot’ steht offen vor uns als Wesen Russlands, keine greifbare, aber eine spürbare metaphysische Materie, vielleicht nicht alles bestimmend, aber immanent und allgegenwärtig.

Die poetischen Bilder, die hier evoziert werden, können nicht Ausdruck, Abbildung oder Nachahmung der Materie machrot’ sein. Vielmehr scheinen sie selbst fragmentierte Zitate zu sein, von einer zerstörerischen Dynamik aus dem russischen Kanon hervorgeschleudert – die machrot’ produziert poetischen Auswurf. Die Eingangspassage, die wie ein Angebot zur Identifizierung an den russischen Leser beginnt, entwickelt sich zu einer unüberschaubaren Reihe von Präsens- und Adverbialpartizipien (deepričastija, wörtlich: Handlungspartizipien). Reduziert man den Satz auf seine elementaren Teile, ergibt sich ein Subjekt mit angeschlossenem Relativ- und Finalsatz: „die Mutter, die einen zwingt, sich selbst zu beißen, um sie in all ihren Formen zu umarmen“ („мать […] вынуждающая […] себя самого покусывать, […] чтобы обнять ее во всех ее образах“). Zu dieser Handlung sieht sich das – für ein preduvedomlenie obligatorische – Ich gezwungen und schildert sein eigenes Erlebnis mit ihr: как это случилось мне в вечереющий час осени Московской поры густого листопада на кухне у окна прозрачного замершего, видеть ее и единовременно-необъятную и в исторических, развертывающихся глубинах зарождения до точки незначимой и облекаемой, возможно, моим собственным воображением […] wie es mir passierte zur frühen Abendstunde im Herbst zur Zeit des dichten Laubfalls in Moskau in der Küche am durchsichtigen vereisten Fenster, sie zu gewahren sowohl gleichzeitig-unermesslich als auch in den historischen aufreißenden Tiefen der Entstehung bis zu einem unbedeutenden Punkt, womöglich umhüllt von meiner eigenen Einbildung […]

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Die Narration („wie mir das passierte“) geht in Partizipien unter, erst im Lyrikteil wird eigentlich erzählt. Die diskursive Funktion des preduvedomlenie übernehmen zwei sogenannte „Erklärungen durch den Autor“ („avtorskie pojasnenija“). Die erste von ihnen folgt auf eine Strophe, in der die machrot’ das lyrische Ich unter der Gürtellinie beschimpft. Der Prosa-Sprecher spekuliert in klassisch konzeptualistischer Diktion, die Vulgärsprache des russischen Mat sei Überbleibsel einer ursprünglich sakralen Sprache der spontanen Gefühlsäußerung im Angesicht des Wunders. Im dritten Prosateil, der zweiten „Erläuterung“, diskutiert der Sprecher die eigene Theoriesprache als sakralen Diskurs. Hier verschmelzen die Ebenen von Objekt und Beschreibungssprache. Der „erklärende Autor“ wird selbst von der beschwörenden Macht der Diskurssprache affiziert. Auch die Grenzen zwischen lyrischem und prosaischem Text sind nicht mehr eindeutig zu ziehen: Die Strophe vor dem Prosateil endet bereits mit einer diskursiven Einordnung der machrot’ („Что по-индийски кундалини / Поиудейски же  – никак“; „Was auf Indisch Kundalini heißt / Auf Jüdisch aber gar nichts“). An die Definition von „Kundalini“ als „Kräfteenergie“ („ėnergija sil“) schließt sich eine Kaskade aus Partizipien an, die diese Erklärung scheinbar präzisieren: […] все топографии идеального архетипа человеческого феномена с определенными кванторами, кванторами, кванторами каждого конкретного случая проецирования в конкретное жизнепроявление суггестируемых майей частных проявлений жизнепространственных чакр, о чакра, чакра! родимая чакра! […] alle Topographien eines idealen Archetyps des menschlichen Phänomens mit bestimmten Quantoren, Quantoren, Quantoren eines jeden konkreten Falls der Projektion auf eine konkrete Lebensäußerung der von Maya suggerierten privaten Äußerungen von lebensräumlichen Chakren, o Chakra, Chakra! liebes Chakra!30

Der wie zu Beginn langgezogene, anakoluthische Satz vermischt Begriffe westlicher und östlicher Tradition. Mit enthusiastischen Wiederholungen werden sie geradezu wie Gottheiten angerufen, mantrisch wird die gegenseitige Übersetzbarkeit der griechischen und hinduistischen Philosophie beschworen, etwa in einer Analogisierung eines den logos erzeugenden nous mit der Dualität von Atman und Brahman. Dahinter steckt allerdings im Gegensatz zu etwa Nietzsches Auseinandersetzung mit den asiatischen Philosophien31 oder Belyjs Interesse für die Kongruenzen zwischen Christentum und Hinduismus32 nicht das Phantasma, diese Traditionen in ein epistemologisches System

30 Die wiederholenden Ausrufe sind im Typoskript handschriftlich ergänzt. 31 Vgl. dazu Parkes, Graham (Hg.): Nietzsche and Asian thought, Chicago: University of Chicago Press, 1991. 32 Vgl. dazu Stahl, Henrieke: „Die rhythmische Geste: Symptomatologie und Prognostik in Andrej Belyjs ‚Geschichte des Werdens der Selbstbewusstseinsseele‘“, in: Taškenov, Sergej / Kemper, Dirk (Hg.): Visionen der Zukunft um 1900. Deutschland, Österreich, Russland, Paderborn: Fink, 2014, 187–221; 200–202.

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zu bringen. Die wiederholte Ex- oder Deklamation von Begriffen appelliert an den anthropologisch fundierten religiösen Akt ihrer Benennung bzw. den rituellen Charakter ihrer Nennung. Ist der Sprecher des zweiten und dritten Prosateils ein konzeptualistischer Theoretiker, nimmt er im vierten die Position eines Zuhörers ein: Er stimmt in einen begeisterten Ton über die Schönheit des Gesangs der machrot’ ein: „это Бетховен, Бетховен, Бах, Чайковский, Баховен, Баховский, Бетбах, Бетовский, бетчайбах, чайбахвен“ („das ist Beethoven, Beethoven, Bach, Čajkovskij, Bachoven, Bachovskij, Betbach, Betovskij, betčajbach, čajbachven“). Die durch Silbenkombination verfremdeten Komponistennamen verstärken den Charakter des Gedichts als einer Kompo­ sition, wörtlich ein Ensemble aus Positionen, die vertauschbar sind. Aber bereits der Kanon, aus dem es schöpft, ist etwas Komponiertes, das sich in seine materiellen Bestandteile zerlegen lässt. In den Versen ist die machrot’ in eine Form eingelassen, oft steht sie am Versende im Reim mit Lexemen der Standardsprache. Nur in der ausufernden, überschwellenden Prosareihung kann sich ihre fragmentierende Energie räumlich freisetzen. Man könnte schematisch vergröbernd von zwei widerstreitenden Typen von Lebendigkeit sprechen: die in Versen gefasste, von Namen benannte und Metaphern ausgedrückte, und die namenlose, von unvollständigen metonymischen Prosa-Reihen bezeichnete. Prosa performiert hier den Wortsinn proversa, ‚nach vorne gerichtete Rede‘, eine Bedeutung, die für Roman Jakobsons Theorie der Prosa zentral ist.33 Wenn Jakobson über die gattungsspezifischen Eigenschaften von Metapher und Metonymie schreibt, wählt er nicht zufällig Pasternaks Figuren des Lebens. Pasternaks Metonymien funktionieren durch die „Unterstellung der Tätigkeit statt des Täters oder die Unter­ stellung des Zustands, der Äußerung, der Eigenschaft statt deren Besitzer und die entsprechende Absonderung und Vergegenständlichung dieser Abstraktion“. „Leben“ ist bei Pasternak beispielhaft für alle vermeintlichen „entia“, die wie Wesen aus Fleisch und Blut behandelt werden. „Sestra moja – žizn’“ (Meine Schwester – das Leben), der eigentlich unübersetzbare Titel und das Leitmotiv der einschlägigsten Gedichtsammlung Pasternaks („Leben“ ist in russischer Sprache weiblich), entlarvt anschaulich die sprachlichen Wurzeln dieser Mythologie. (Jakobson 1979, 200)

Prigov führt diese Bewegung noch weiter: „Leben“ wird hier mit einem ens gleichgesetzt, das auf der Wort- und Sachebene keine bestimmbare Bedeutung hat. Der abschließende vierte Lyrikteil greift in der letzten Strophe die Präsenspartizipien des einleitenden Prosateils wieder auf: Нежно-поющая, густо шипящая Рвущая мясо в лохмоть Вот она вещая, жизнь настоящая

Zärtlich singend, zäh zischend Fleisch in Fetzen reißend Da ist sie, die weise, das echte Leben

33 Vgl. Jakobson, Roman: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, übers. v. Tarcisius Schelbert, hg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt: Suhrkamp, 1979, 265.

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 Leben in Prigovs Poetologie, Lyrik, Essayistik und Performances

Именем Бога – махроть Всея Руси

Im Namen Gottes – Die machrot’ Der ganzen Rus’

Die Schlussemphase wirkt wie eine dialektische Synthese des ganzen Texts: Einerseits ist die machrot’ Leben spendende und erhaltende Mutter (eingedenk der mythischen Verkörperung der russischen Heimat, rodina-mat’), andererseits tötende Natur. Am Ende lässt sie sich nur als das „echte Leben“ bezeichnen, nicht mehr und nicht weniger. Was ist dieses echte Leben mit göttlicher Signatur, mit dem die machrot’ zusammenfällt?

3.2.3 Die machrot’ als paradoxe pars pro toto Die erste Strophe schildert das Entstehen der machrot’ in einer Szene mit der folkloristischen Figur des Bären Miška, wobei das mythologische Thema vom einfachen Stil des prostorečie konterkariert wird: „Ан нет вот – народилося / Великая Махроть / Всея Руси“ („Aber nein doch – da ward geboren / Die Große Machrot’ / Der ganzen Rus’“). Mit der Form „narodilosja“ kann im niedrigen Register des prostorečie die Geburt eines Kinds (‚narodilosja ditja‘) ausgedrückt werden, wobei das Geschlecht gemäß der Volkskultur noch unbestimmt ist. Dieses Etwas, die machrot’, ist geographisch, physiognomisch und genealogisch mit Russland verbunden, so die Behauptung des Poems. Sie hat keine Wurzeln, auf die Frage, von wem und woher sie abstammt, gibt der Text keine Antwort. Aus rhetorischer Perspektive ließe sich sagen, der Text sei ein Experiment mit den Möglichkeiten der Metonymie  – und zwar der titelgebenden ­Metonymie „Machrot’ der ganzen Rus’“. Die Situation, dass eine formlose Materie ‚Teil‘ eines ‚Ganzen‘ ist, eröffnet Prigov zahlreiche Optionen. Die machrot’ kann definiert werden, ohne dass ihr Wesen damit erschöpft wäre. Denn sie dehnt sich auf immer weitere Sinnbereiche des ‚Ganzen‘ aus. Dass die machrot’ im ganzen Text 22 Mal genannt, beschrieben oder bezeichnet wird, erinnert an kataphatische Sprechpraktiken, in denen die Nähe zu Gott durch übertreibende Nennung seines Namens hergestellt wird. Der Ausdruck ‚X der ganzen Rus’‘ ist ein Epitheton, das üblicherweise Zar und Patriarch tragen. Prigov ersetzt die politischen oder klerikalen Repräsentanten durch ein Nicht-Wort, eine Nicht-Person. Es stellt sich die Frage: Wie kann etwas pars pro toto sein, wenn es nicht einmal ein Teil, nicht einmal ‚etwas‘ ist? Die in den Prosateilen im Überfluss verwendeten Partizipien weisen auf ein Paradox der universellen Partizipation der machrot’ hin: Sie ist mit allem grammatikalisch verbunden, kann aber kein stabiler Teil von etwas werden. Keine ihrer Verkörperungen ist von Dauer. Ėpštejn hat für die unklare Identität der machrot’ gar ein neues Pronomen gebildet: sie sei „нечто или некто, а вернее, всечто или всекто“ („etwas oder jemand, oder genauer gesagt allwas oder allmand“, Ėpštejn 2010, 255 f.). Ist ‚etwas‘ ein Indefinitpronomen einer zählbaren Menge, so wäre ‚allwas‘ auf eine ganze Menge bezogen – eine unbestimmte Totalität. Es gibt zahlreiche Signifikanten für solche unbestimmten Totalitäten in Prigovs Werk bzw. in der Theoriesprache der Moskauer Konzeptua-

Das Poem Machrot’ vseja Rusi 



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listen: die Leere, das Andere, das Monströse, das Unbewusste. Zwar hat die machrot’ eine zerstörende, absorbierende Funktion, doch sie ist nicht leer. In einem auf Mandel’štams Gedicht Ja skažu tebe s poslednej prjamotoj (Ich sage es dir mit letzter Offenheit, 1931) anspielenden Vers ersetzt sie gerade die Leere: А посередке Где зияла пустота Там повылезла Святая крыса та И сказала: Здравствуй, Русь! Привет, Господь! Вота я – Твоя любимая махроть

Und mittendrin Wo die Leere schien Da kroch geschwind Die heil’ge Rätterin Und sie sagte: Hallo, Rus’! Grüß dich, mein Gott! Da bin ich – Deine geliebte machrot’

Dass ‚Ratte‘ hier homophon zu ‚Schönheit‘ wird (‚krysa tá‘ = ‚krasotá‘), versprachlicht das Oszillieren der machrot’ zwischen niederer Lebensform und höchster Substanz – nicht umsonst reimt sie sich auch auf „Gospod’“ („Herr“). Auch die Deutung der machrot’ als das Unbewusste der Sprache reicht nicht aus. Sie spricht in direkter Rede, andernorts tut sie das sogar mit Lippen und Gesicht – Marker des Menschlichen, die im Gegensatz stehen zu ihren monströsen Aspekten: „Желтым-желтая / Да ядовитая / Лицом юная / Да змеевидная“ („Gelblich-gelb / Und giftig / Jung im Gesicht / Und schlangenförmig).34 Was trifft nun eher zu als die bisher genannten Kategorien? Ėpštejn assoziiert die machrot’ mit einer Art Quintessenz des Literarischen: „нечто вездесущее и неуловимое, алгебраический образ, некий ‚икс‘, к которому подстраиваются все словесные уравнения“ („etwas Allgegenwärtiges und Undefinierbares, eine algebraische Gestalt, ein ‚X‘, dem sich alle Wortgleichungen unterordnen“, Ėpštejn 2010, 256). Die machrot’ lässt sich also auch schwerlich unter der Kategorie des „Anderen“ subsumieren, weil sie eine poetologische Materie ist, die dem Dichter aus den eigenen Fingern rinnt: Гляжу на руку – вот махроть С неверных пальцев истекает И прямо в землю утекает А всё мы живы, смертны хоть

Schau ich auf meine Hand – da ist machrot’ Die mir aus den ungehorsamen Fingern rinnt Und geradewegs in die Erde rinnt Und doch sind wir am Leben, wenn auch bald tot

In der unaufhörlichen Formdynamik zwischen Gerinnen, Zer- und Entrinnen wird die machrot’ für einen Moment zur poetologischen Substanz. Sie entfließt der schreibenden Hand in den Boden, stellt eine chthonische Verbindung zur titelgebenden Rus’

34 Dmitrij Golynko-Vol’fson hat die „machrot’“ in seiner Klassifikation von Prigovs Monstern als „nichtanthropomorphes Monster“ bezeichnet, das trifft in seiner Ausschließlichkeit aber nicht zu; vgl. Golynko-Vol’fson, Dmitrij: „Mesto monstra pusto ne byvaet (Božestvennoe i čudoviščnoe v teologičeskom proekte D. A. Prigova)“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 5/2010, 221–236; 234.

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her – doch auch dieser Zustand ist einer Sinnerosion unterworfen. Immer wieder ändert die machrot’ ihren Aggregatzustand – mal ist sie flüssig („machrot’-voda“; „Wasser-Machrot’“), mal „geronnen“ („svernuvšisja“), mal nimmt sie Gestalt an zwischen Pflanze, Tier, Mensch und Ungeheuer. Mit den von Prigov in seinen theoretischen Texten oft evozierten „Aggregatzuständen“ (siehe Kap. 3.3) lassen sich auch Übergänge zwischen Prosa und Vers beschreiben. Momente des ‚Schmelzens‘ bzw. ‚Überlaufens‘ von Versen, der Dehnung von Prosasätzen kommen in seinem Werk immer wieder vor.35 Ėpštejn vergleicht die machrot’ mit Beispielen aus der Erzählliteratur: dem Staubgeist „nedotykomka“ in Fedor Sologubs Roman Melkij bes (Der kleine Dämon, 1905) oder der staatlich verteilten Exkrementmasse „norma“ in Vladimir Sorokins Roman Norma (1983). Zu ergänzen wäre ein in etymologischer und ontologischer Hinsicht ähnlich unbestimmter, proteischer Gegenstand bei Kafka: der „Odradek“ aus der Erzählung Die Sorge des Hausvaters (1920). Bemerkenswert bei Prigov ist, dass das Wort „machrot’“ in den Prosateilen des Gedichts nicht erwähnt wird. Die Narration ereignet sich innerhalb der Verse, während die Prosateile nichts erzählen, stattdessen sind sie eine Anhäufung von Eigenschaften, deren lautlich-musikalische Qualität sich immer weiter in den Vordergrund drängt. Zuletzt ertönen glossolalische Ausrufe („Ochaminadroza, Ochali, Kali! O!O!O!O!“).

3.2.4 Antihistorische Vitalität: Machrot’ vs. Milicaner Parallelen zu Sorokins ein Jahr vor Machrot’ vseja Rusi entstandenem Text Norma und seinen poetologischen Substanzen sind ohne Zweifel vorhanden – auch die machrot’, die durch Adern fließen kann, bekommt eine pharmakologische Funktion. Auch bei Sorokins Text-Masse ist die grammatikalische Zugehörigkeit – zählbar oder nicht, bestimmt oder nicht – unklar. Allerdings ist ihre Verbindung zwischen Staat, Ideologie und Mensch eine andere: Die machrot’ ist nicht menschengemacht, womöglich gar nicht gemacht. Die Substanz „der ganzen Rus’“ ist eine chthonische, die über alle ­Manifestationen der Geschichte hinweg antihistorisch wirkt. Ihre Antihistorizität entfaltet sich universell, sie steht auf der Seite keiner bestimmten Ideologie: А она ответчица Да неметчица Пулеметчица Антисоветчица Стихийная“

Sie ist Verantwortliche Und Deutschliche Maschinengewehrschützin Antisowjetliche Stürmische

35 Vgl. Witte 2013, 39–41. Im preduvedomlenie der bereits erwähnten Chvostatye stichi (Gedichte mit Schwänzen) spricht Prigov explizit von Erweiterungen des „Versorganismus“ („stichovoj organizm“), was den Formcharakter der überhängenden Verszeilen betont.

Das Poem Machrot’ vseja Rusi 



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Das Epitheton der „Maschinengewehrschützin“ spielt auf die Rotarmistin „Ankapulemetčica“ aus dem Film Čapaev (1934) der Gebrüder Vasil’ev an, die eine kontroverse Rezeptionsgeschichte hat: Sie diente der 1979 zum Tode verurteilten WehrmachtKollaborateurin Antonina Makarova („Ton’ka-pulemetčica“) zum Vorbild für ihre Hinrichtung von Partisanen mit dem Maschinengewehr. Die Eigenschaft der „stichijnost’“ steht nach einem Diktum Lenins für ein Moment spontaner, natürlicher Dynamik des revolutionären Akteurs – für diese nietzscheanische Komponente früh­ sowjetischer Ästhetik ist in der sozrealistischen Kunstdoktrin und Heldenpoetik jedoch kein Platz mehr.36 Die machrot’ absorbiert positive wie negative mythologische Figuren und Eigenschaften und neutralisiert sie. Ihre antihistorische Neutralität entfaltet die machrot’ auch in Begegnung mit dem lyrischen Ich und dem Milizionär. In der vierten Strophe des ersten Lyrikteils stellt sich die „machrot’“ dem Ich als „großes Tier“ („velikij zver’“) vor und erklärt ihm die Liebe, um von ihm als „wahnsinnige Liebende“ („bezumnyj ljubovnik“) zurückgewiesen zu werden, der private Raum der Küche bleibt immun gegen sie. Dem Milizionär tritt sie gewaltsam entgegen, am Ende des zweiten Lyrikabschnitts bietet er sich ihr stellvertretend für sein Volk an: Вот на посту стоит он среди ночи Прозрачный как кристалл Милицанер Она же как ползучий зензивер Отвсюду лезет разъедая очи

Da steht mitternachts auf seiner Wacht Durchsichtig wie Kristall, der Milizionär Doch sie kriecht wie ein Zenziver Kreucht von überall, macht Augen Nacht

Махроть, махроть, дремучая природа! – Он говорит ей русским языком: Вот я! Бери меня! Коль есть на то закон Не трогай только моего народа Не губи идею

Machrot’, machrot’, du wilde Natur! Sagt er ihr in russischem Idiom Hier! Nimm mich! Und sei es ein Axiom Lass nur mein Volk in Ruh’ Verdirb nicht die Idee

Die Milicaner-Episode beginnt mit einem Selbstzitat: Die Deixis des „vot“ zeigt nicht nur den „auf dem Posten stehenden“ Milizionär an, sondern auch die bloße Exemplarität des Verses, von dem Prigov seit Mitte der 1970er Jahre zahlreiche ähnliche Exemplare schreibt. Die Strophe setzt den Milizionär in Antithese zur machrot’: Er ist vertikal, sie horizontal; er verkörpert die reine anorganische Form des Kristalls, sie wird mit der falsch zitierten Bezeichnung des Vogels „zinziver“ aus Chlebnikovs Gedicht Kuznečik (Der Grashüpfer, 1906–1908) umschrieben; er steht für die Idee des „narod“ („Volk“), sie für die Materie der „dremučaja priroda“ („wilde Natur“). Während der ­Milizionär die klassische Zweiteilung des Körpers in body natural und body politic em­blematisiert, hat die bloße physis der machrot’ keine ‚Idee‘, die sie verkörpern könnte. Während der

36 Vgl. Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur, Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart: Metzler, 1984, 41.

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Milizionär den bios politikos, die politische Lebensform des ideologischen Staats im zwanzigsten Jahrhundert lebt, hat die machrot’ keine solche Lebensform. In ihr materialisiert sich eine Vitalität, die man mit der dionysischen Dimension der Lebensäußerung (also: zoe) in Verbindung bringen kann – am Schluss tritt sie in Gestalt einer ekstatischen Mänade auf. Dem Milizionär käme in dieser Konstellation die Rolle einer apollinischen Gestalt zu. Allerdings ist dies nur eine von mehreren kulturgeschichtlichen Spuren, denn ähnlich wie bei den Symbolisten spielen nicht nur griechiche, sondern auch östliche Traditionen eine Rolle. Nach der Szene mit dem Milizionär wird die machrot’ mit der tantrischen Lehre der menschlichen Energien (Kundalini) assoziiert: И вот она, махроть, взошла Цветком пылающим и длинным Что по-индийски кундалини По-иудейски же – никак

Und da ging die machrot’ auf Als lange, flammende Blume Was auf Indisch Kundalini heißt Auf Jüdisch aber gar nichts

Eben in jenem Moment, als sie als „glühende Blume“ aufblüht und damit in der Tradition der dionysischen Pflanzenmythologie steht, wird die Übersetzbarkeit dieser Vitalität in andere Kulturen ausgelotet: als feinstofflicher Körper der buddhistischen Tradition („Kundalini“) oder als etwas, wovon es in er jüdischen Tradition keine Entsprechung gibt. Wer gewinnt nun im Duell zwischen Milizionär und machrot’, zwischen dem ideologischen Konzept des Raums und der unkonzeptualisierbaren tellurischen Größe? In der folgenden Strophe scheint sie kurzzeitig besiegt: Она свернувшися лежала Упершись головою в пах И он растлил ее, Гундлах Не убоявшись ее жала

Und gekauert lag sie da Den Kopf in die Leiste gestützt Und er hat sie geschändet, Gundlach Ohne Angst vor ihrem Stachel

Ob der Milizionär oder jemand anders sie „geschändet“ hat, ist nicht eindeutig, denn das Komma vor „Gundlach“ kann sowohl eine Anrede als eine das „er“ präzisierende Apposition einleiten.37 Die paradoxe Sexualität der machrot’ spielt nicht nur auf jüdische (Lilith) und christliche Motive (Jungfrau Maria) an. Sie ist nicht nur geschändetes Kind (siehe oben: „rastlil ee“), sondern auch Personifikation Russlands, die feindliche Penetrationen bereitwillig hinnimmt: „Я многим некогда давала / Поляку некогда

37 Erwähnt wird der Moskauer Künstler Sven Gundlach, der 1983 den Aufsatz Personažnyj avtor (Der Autor als Figur) über Sorokins Prosa schreibt und ihn 1985 in der vielbeachteten Exilzeitschrift A-YA veröffentlicht. Möglicherweise realisiert Prigov dieses Autor-Spiel in abgewandelter Form also hier mit Gundlach selbst. Vgl. dazu: Sasse, Sylvia: Texte in Aktion. Sprech- und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus, München: Fink, 2003, 201.

Das Poem Machrot’ vseja Rusi 



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давала / Французу некогда давала / И немцу некогда давала“ („Vielen hab ichs gegeben / Dem Polen mal / Dem Franzosen mal / Und dem Deutschen mal“). Der Ausdruck ‚davat’ komu-libo‘ kann je nach Kontext als passive sexuelle Beziehung, aber auch als aggressive Handlung (‚davat’ žaru‘) gebraucht werden (vgl. Olskaia 1996, 44). Die machrot’ spielt mit einer einfachen und einer komplexen Bedeutung der Gabe. Die komplexe wäre ein geschichtsphilosophischer Mechanismus, der gibt und nimmt, ohne auf die Beständigkeit der Gabe und ihre Adressaten Rücksicht zu nehmen. Im dritten Lyrikteil ruft der als Bergprophet stilisierte Stalin die machrot’ zu Hilfe, doch diese Rechnung geht nicht auf. Stalin stirbt und löst ein Szenario allumfassenden V ­ erschwindens aus: Почувствовал вдруг слабость в сочлененьях Er spürte plötzlich Schwäche in den Gliedern И слабость, слабость, ломота в суставах Und Schwäche, Schwäche, Gliederschmerzen И вот уже лежит в хрустальном гробе Da liegt er schon im gläsernen Sarg И смотрит во все стороны земли Und schaut in alle Richtungen der Erde И ясно Es ist klar Качнется вправо гроб – и нету полумира Schaukelt der Sarg nach rechts – und weg ist die halbe Welt Качнется влево – и полмира нету Schaukelt nach links – und die halbe Welt ist weg

Durch bloße Trägheit vermag der tote Herrscher-Körper die Welt zu vernichten, zumindest hört sie in der Perspektive der machrot’ auf zu existieren. Im Gegensatz zu den apokalyptischen Szenarien der in der gleichen Zeit entstehenden Azbuki (Alphabete) bleibt hier nichts von der Position des „Ich“ übrig, stattdessen ist von einem „wir“ die Rede: В наших жилах вовсе не водица Вовсе и не кровь, похожа хоть Как у вещей птеродактиль-птицы В наших жилах древняя Махроть

In unseren Adern fließt kein Wasser Und gar kein Blut, und doch wie Beim weisen Pterodaktylvogel In unsern Adern fließt uralte Machrot’

Zur Erinnerung: Im zweiten Lyrikteil sieht das lyrische Ich noch machrot’-Masse aus seinen Fingern zu Boden rinnen, ist von ihr betört und zu Gewaltausbrüchen animiert. Nun fließt die Materie in den Adern eines „Wir“. Ab dem dritten Lyrikteil hat die machrot’ die erste Person Singular gewissermaßen an sich gerissen. Nachdem mit dem Tod Stalins das Leben von der Erdoberfläche verschwunden ist, breitet sich die unzerstörbare Lebendigkeit der machrot’ unter- und überirdisch aus. Mit dem „himmlischen Feuer“ schwebt sie über der Erdkugel. Es folgen dunkle Verse, in denen nur noch von einer anonymen femininen Figur in der dritten Person die Rede ist – man könnte von einem (selbst-)anonymisierenden Effekt sprechen. Der dritte Lyrikteil endet mit der Beschreibung eines chorischen Gesangs, der aus pseudo-indischen Mantren besteht. Die machrot’ ist am Schluss Teil eines anonymen Kollektivs (darunter Pflanzen und Panzer), im letzten Vers heißt es: „Она средь них, она поет за нас“ („Sie ist unter ihnen, sie singt für uns“). Der darauf folgende

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Prosateil wird nicht mehr als „Erklärung des Autors“ angekündigt – das lyrische und das prosaische Ich sind verschwunden –, sondern er nimmt den singenden Ton auf: „Она поет, поет, хоры подхватывают, растут, разрастаются, ширятся, звук нарастает, нарастает, становится невыносимым, и каждая поющая точка сама прорастает поющим хором“ („Sie singt, singt, die Chöre stimmen ein, wachsen, schwellen an, werden breiter, der Klang wird lauter, unerträglich, und jeder singende Punkt wächst selbst zu einem singenden Chor“). Der letzte Lyrikteil besteht aus zwei Strophen: einer orgiastischen Szene und einer Schlussemphase oder Apotheose. Als die machrot’ noch das „Fleisch“ zerreißt, auf das sie sich reimt („plot’“), wird sie ­bereits als „wirkliches Leben“ besungen (die Verse seien noch einmal zitiert: „Нежно-поющая, густо шипящая / Рвущая мясо в лохмоть / Вот она вещая, жизнь настоящая / Именем Бога – махроть / Всея Руси“). In den letzten beiden Strophen scheint alles Existierende dem Nicht-Prinzip der machrot’ unterworfen zu sein. Die lyrische Sprechsituation ist paradox: Es gibt hier kein menschliches Subjekt mehr, das die machrot’ besingen könnte (vgl. auch Klebanov 2002).38 Mit Machrot’ erweitert Prigov den Stil des „Sovvitalismus“ und deutet an, wie seine Poetik in einer historischen Situation ohne das „Sowjetische“ aussehen könnte, wie es eine Lebendigkeit jenseits der Biopolitik der Ideologie und jenseits des belebenden, demiurgischen Künstlers geben kann. Mit der antihistorisch-vitalen Sub­ stanz der machrot’ erhält der Milizionär ein komplementäres Element. Der politischen Lebensform und ihrer Parodie steht eine dissoziative Lebendigkeit gegenüber, die sich nicht parodieren lässt. Prigov hat den „hohen Parodismus“ definiert als Blick auf die Dinge aus der Perspektive des Lebens (Kap. 3.1.2) – in Machrot’ wird das Leben selbst zum blinden Fleck.

3.3 Essays, Manifeste und Interviews: Neue Anthropologie Das Problem nichtmenschlichen Lebens manifestiert sich in Prigovs Werk in ver­ schiedenen Phasen und Medien. Die graphischen Zyklen der Monstry, oft zusammengefasst als das Bestiarium (Bestiarij) betitelt, entstehen seit den 1980er Jahren.

38 Der desubjektivierte Schluss von Machrot’ steht in einem merkwürdigen Verhältnis zu dem, was Prigov in einem Interview über das Poem gesagt hat: „Für mich bildete Machrot’ vseja Rusi damals den Übergang von der konzeptuell-sozartistischen Thematik und Praxis zu einer plastischeren und in geringerer Distanz zum benutzten Material arbeitenden Praxis, einer neuen Aufrichtigkeit, wie ich sie damals für mich bezeichnete.“ („Для меня же Махроть всея Руси являлась, в свое время, переходом от концептуально-соцартистской тематики и практики к более пластичной и работающей на более близком расстоянии от пользуемого материала практике – как я тогда себе ее называл  – новой искренности.“ Prigov/Ioffe 2003). Es gibt am Schluss kein erlebendes Subjekt mehr, aber auch kein Sprechen als Image. Zur Poetik der „neuen Aufrichtigkeit“ siehe auch Kap. 4.1.1.



Essays, Manifeste und Interviews: Neue Anthropologie 

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Ab ­Anfang der 1990er intensiviert Prigov nicht nur die theoretische, poetische und poetologische Reflexion, sondern auch seine mediale Inszenierung als Essayist, Interviewpartner und Autor von Manifesten.39 1993 entsteht der Band Novaja antropologija (Neue Anthropologie).40 Das preduvedomlenie versteht den Begriff „neue Anthropologie“ als ein utopisches Phänomen, das in verschiedenen historischen und ideologischen Situationen notwendig wird: Проблема новой антропологии вставала перед человечеством всякий раз в моменты кризисов, завершений больших культурных эонов, возникновения новых больших идеологий. (Prigov 1993, 2) Das Problem einer neuen Anthropologie stellte sich der Menschheit jedes Mal in Krisenmomenten, am Schluss großer kultureller Äonen, beim Entstehen neuer großer Ideologien.

Utopien der Umformung des Menschen gibt es zahlreiche, so gesehen lässt sich nicht von einer, sondern nur von mehreren „neuen“ Anthropologien sprechen: im Christentum, in totalitären Ideologien oder östlichen Lehren. Ihre Radikalität bemisst sich nach der „Transformation der biologischen Ebene der menschlichen Existenz“ („преображения биологического уровня человеческого существования“), einer „Überwindung der gewohnten biologischen Ebene des anthropologischen Aggregatzustands“ („преодолении привычного биологического уровня антропологической агрегатности“, еbd.). Das Scheitern bisheriger utopischer „neuer Anthropologien“ erklärt Prigov mit ihrer Unfähigkeit, die menschliche Physiognomie zu überwinden.41 Zu den gegenwärtigen Versuchen dieser Transformation zählt er elektronisch-virtuelle Erfindungen, Experimente der Gentechnik und des Klonens (Prigov 1993, 4). In den 1990er Jahren erreicht die öffentliche Debatte über die ethischen Grenzen der künstlichen Reproduktion von Leben ihren Höhepunkt: 1997 wird das erfolgreiche Klonen eines Schafs bekanntgegeben, es folgen Verbote des Klonens von Menschen.42 Derartige Transformationen haben Tabucharakter, sie provozieren nicht nur die Moral des

39 1994 erscheint im Wiener Slawistischen Almanach eine Reihe von Texten zu Fragen von Postmoderne und zeitgenössischer Kunst, das Stichwort „neue Anthropologie“ fällt hier nur im Essay My tak blizki, čtoby slov ne nužno (Wir sind uns so nah, dass es keine Worte braucht, 1993). Prigov, Dmitrij A.: „Manifesty“, in: Wiener Slawistischer Almanach 34 (1994), 293–341; 340. 40 Prigov, Dmitrij A.: Novaja antropologija, Typoskript, Moskva, 1993. 41 Vgl. Prigov, Dmitrij A. / Balabanova, Irina: Govorit Dmitrij Aleksandrovič Prigov, Moskva: O. G. I., 2001, 145. 42 In einem Gespräch vom Dezember 1997 mit Aleksej Parščikov nimmt Prigov bereits darauf Bezug. Die Redaktion der Zeitschrift Novoe literaturnoe obozrenie hat der Veröffentlichung 2007 eine Chronik der Debatte beigegeben: Prigov, Dmitrij A. / Parščikov, Aleksej: „‚Moi rassuždenija govorjat o krizise nynešnego sostojanija …‘ (beseda o ‚novoj antropologii‘)“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 5/2007, 325–336; 327. Zu ergänzen wäre für Russland, dass als Äquivalent zur Charta der Europäischen Union im Jahr 2002 ein Gesetz über das „Einstweilige Verbot des Klonens des Menschen“ („O vremennom zaprete klonirovanija čeloveka“) erlassen wurde.

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c­ hristlichen Schöpfungsmodells (in dem der Mensch „nach Bild und Ähnlichkeit Gottes“ geschaffen ist, „по образу и подобию Божьему“, Prigov 1993, 4), sondern rufen auch tief sitzende Ängste wach.

3.3.1 D  ie „neue Anthropologie“ und Diskurse von Posthumanismus, Gentechnik und Virtualität Da Prigov keine Systematik der „neuen Anthropologie“ entwickelt, gibt es zahlreiche Interpretationen dieses Begriffs. Ein Problem bei seiner Einordnung besteht darin, dass er kein in sich geschlossenes System bildet, sondern an verschiedenen Stellen mit unterschiedlichen Strategien zum Einsatz kommt. Sein gesellschaftlicher Kontext ist dagegen leichter zu erkennen: Proklamationen „neuer“ Lebensformen gehören seit Anfang der 1990er Jahre zum Mainstream in der internationalen Publizistik sowie im Kunstbetrieb. Kukulin geht sogar so weit, Prigovs theoretische Posen mit der Cyberpunk-Kultur bzw. Donna Haraways A Cyberpunk Manifesto (1983) zu assoziieren.43 Bereits seit den 1960er Jahren rezipieren die Moskauer Künstler еsoterische, anthroposophische, jainistische, vedische und zenbuddhistische Schriften,44 auch auf die new age-Bewegung, insbesondere die Schriften Carlos Castanedas nimmt Prigov Bezug (vgl. Prigov/Balabanova 2001, 125). Diese Diskurse analysiert Prigov als Utopien mit potenziellem Anspruch auf Totalität. Das gilt genauso für die Literatur der humanities über Posthumanismus. Eine solche Analyse ist für Prigov nur möglich, wenn er nicht nur als realer Gesprächspartner, sondern auch in einer distanzierten Position spricht. Dass er nicht nur als Autor quasi-theoretischer preduvedomlenija, sondern auch als Interviewpartner und Publizist zwischen der Position des aufrichtigen Gesprächsteilnehmers und einem distanzierten Sprechen oszilliert, scheint von der Forschung bisher zwar nicht gänzlich ignoriert, doch aber vernachlässigt, wenn man die Zitierweise der Interviews betrachtet.45 Statt einen Begriff der „neuen Anthropologie“ systematisch zu entfalten, wiederholt Prigov systematisch eine Losung – eine aus dem sowjetischen Kontext bekannte Technik. Die Rede von der „neuen Anthropologie“ scheint zumindest nicht das zu sein, was sie vorgibt. Prigov ruft kein neues wissensgeschichtliches Paradigma aus, es handelt sich nicht um eine Erneuerung philosophischer oder kulturologischer Disziplinen der Anthropologie (siehe die historisierende Verwendungsweise oben). Dmitrij Golynko-Vol’fson nennt die „neue Anthropologie“ lediglich

43 Kukulin, Il’ja: „Prigov i Nekrasov. Dva varianta ėstetičeskoj utopii“, in: Galieva 2014, 243–262; 262. 44 Prigov, Dmitrij A. / Klejn, Aleksandr: „Beseda s Dmitriem Prigovym“, 2003, http://klein.zen.ru/ pravda/klassik/pc_prigov1.shtml. 45 Marion Rutz hat sich mit dieser Frage in einem Aufsatz beschäftigt: Rutz, Marion: „D. A. Prigov playing the literary critic: ‚What I would wish to know about Russian poetry, if I were a Japanese student‘ and other theoretical statements“, in: Janecek 2017, 117–144.



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eine „(Quasi)-Disziplin als innovative kulturelle Praxis“ („[квази]дисциплины как новаторской культурной практики“).46 Der Begriff einer Praxis, ob kulturell, künstlerisch oder diskursiv47 – scheint eng mit Prigovs Arbeitshypothesen der neuen Anthropologie verknüpft. Weitere Bestimmungsversuche, was die „neue Anthropologie“ eigentlich sei, fallen vorsichtig aus: Mark Lipoveckij und Il’ja Kukulin ordnen sie in eine Reihe „theoretischer Ideen“ ein und heben die künstlerische Stoßrichtung hervor. Ihnen zufolge geht es Prigov um eine Aktualisierung der Kategorie des „Neuen“ der Avantgarde nach einem anti-innovativen Postmodernismus.48 Jampol’skij dagegen nimmt keinen Bestimmungsversuch vor, sondern umschreibt die neue Anthropologie als „neue Zoologie“. Er reformuliert Prigovs ästhetische Begriffe mit tierphilosophischen Kategorien nach Heidegger und vor allem Jakob von Uexküll („Verhalten“, „Generation“, „Umwelt“). In Prigovs „neuer Zoologie“ komme ein Gedanke der negativen Theologie des Dionysius Areopagita zum Ausdruck: Das Göttliche könne nur durch das Unähnliche, die tierischen Wesen auf den unteren Stufen der himmlischen Hierarchie, ausgedrückt werden. Prigov fülle das leer gewordene Autorsubjekt durch eine „tierische Dreifaltigkeit“ zwischen Mensch, Tier und Engel auf.49 Hier ist ein Einwand zu formulieren: Zwar spielt das Konzept der „Hypostasen“ eine große Rolle in Prigovs Werk, doch die Reihe ließe sich um weitere „Wesen“ erweitern, die weder menschliche, ­tierische noch engelshafte oder göttliche Eigenschaften haben. Als Beispiel sei der ­Zyklus Atomy našej žizni (Die Atome unseres Lebens, 2001) angeführt. Im preduvedomlenie nimmt Prigov Bezug auf vorhergehende Arbeiten, die statt Atomen Tiere, Menschen und Ereignisse im Titel tragen.50 In ihnen sei die Rede von той же самой субстанции, что все время принимая различные обличия соответственно нашей разорванной способности разорванно воспринимать целокупность этого мира, является нам как бы различными модусами одной и той же сущности.51 der gleichen Substanz, die die ganze Zeit verschiedene Gestalten annimmt entsprechend unserer zerrissenen Fähigkeit die Ganzheit dieser Welt zerrissen wahrzunehmen, die uns gewissermaßen in verschiedenen Modi ein und desselben Wesens [suščnosti] erscheint.

46 Golynko 2010, 223. 47 Vgl. dazu Lipovetsky, Mark / Kukulin, Ilya: „‚The art of penultimate truth‘. Dmitry Prigov’s aesthetic principles“, in: The Russian Review 75 (2016), 186–208; 186. 48 Lipoveckij, Mark / Kukulin, Il’ja: „Teoretičeskie idei DAP“, Chudožestvennyj žurnal 79/80 (2011), http://xz.gif.ru/numbers/79-80/lipovecky-kukulin/#link1. 49 „Человек у Приrова являет свою сущность в этой звериной Троице, в которой, по словам Дионисия Ареопаrита, происходят неведомые нам ‚какие-то свои собственные соединения и разделения‘ трех бестиарных ипостасей.“ Jampol’skij 2016, 213. 50 Die Titel Zveri/Ljudi/Sobytija našej žizni sind allerdings nicht im Werkverzeichnis enthalten. Sie sind also entweder nicht registriert worden, oder es handelt sich um ein Spiel mit fiktiven Werktiteln. 51 Prigov, Dmitrij A.: „Atomy našej žizny“, in: ders.: Kniga knig. Izbrannye, Moskva: Zebra, 593–596.

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Hier spielt Prigov auf eine theologische Diskussion eines Wesens des Göttlichen an, die sich von Spinoza über Jakob Böhme bis zu Berdjaev zieht.52 Die verschiedenen „Gestalten“ der aus dem Wesen entspringenden (Lebe-)Wesen sind nur von einer fehlbaren Wahrnehmung verschleierte Ausprägungen dieses Wesens. Es spricht einiges dafür, Prigovs Anthropologie nicht als Zoo-logie, als Diskurs und Denken der Lebe­ wesen, sondern als Zoe-logie, als Diskurs des Lebens zu verstehen.

3.3.2 Utopie und Apophatik der „neuen Anthropologie“ Theorie und poetische Praxis der „neuen Anthropologie“ stehen im Kontrast zueinander. Die Gedichte des Zyklus Atomy našej žizni lösen die Idee einer übergeordneten Wesenhaftigkeit nicht als poetisches Bild ein. Hier spricht das Ich von Begegnungen mit sprechenden oder schweigenden Atomen. Sie sind mehr oder weniger anthropomorph, lassen sich mit Menschen ersetzen. Eine ähnliche – komisch wirkende – Dissonanz von Theorie und Poesie findet sich auch im Zyklus Novaja antropologija wieder.53 In diesen Gedichten haben wir es mit einem lyrischen Ich zu tun, das der „alten“ Anthropologie angehört und seinen Unmut über die Veränderungen kundtut, die mit ihm geschehen, etwa die Transplantation eines Kuheuters auf den eigenen Körper, die nur Beschwerden mit sich brächte. Auch geht es um die Reproduktion zwischen Tier und Mensch: Женщина-паук меня не любит Die Spinnenfrau liebt mich nicht Она любит своих паучат Sie liebt ihre Spinnenkinder Гадких Die Viecher Ради них она меня погубит Für sie bringt sie mich noch um Лишь один, по-моему, зачат Nur eins, glaub ich, hab ich Мною Gezeugt Самый светленький (Prigov 1993, 7) Das allerhellste

Obwohl ein Spinnen-Mensch-Hybrid gezeugt wird, besingt das Ich nichts Un-, Überoder Neu-Menschliches. Das umgangssprachliche Register, die Unterbrechungen des Metrums lassen regelrecht den Unwillen erkennen, für die neue Anthropologie eine neue Form zu finden, eine inszenierte Trägheit der Sprache der „alten“ Anthropologie. Im preduvedomlenie gesteht der Autor den „archaischen“ Charakter der Verse in ihrer

52 Jampol’skij hält Prigovs Rede von „suščnost[i] i suščestv[a]“ (Moskau, 148) für eine Unterscheidung der scholastischen Philosophie zwischen res und ens, die das Denken des „Wesens“ nichtexistierender Dinge ermöglichen (vgl. Jampol’skij 2010, 195f). Für die Anthropologie der Phantastik von Moskau ist diese Beschreibung hilfreich, siehe Kap. 4. 53 Von solchen Tier-Gedichten gibt es zu Beginn der 1990er zahlreiche, ähnlich z. B. der Zyklus Novyj volk (Der neue Wolf, 1992).



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„gewöhnlichen Metaphorizität“ („privyčnoj metaforičnosti“) unumwunden ein. Sein Sammelband erhebe keinen Anspruch auf Originalität, sondern diene nur als „Erinnerung“ („napominanie“) an etwas anderes. Es könnte sein, dass es im Rahmen der „gewohnten“ Anthropologie überhaupt keine Formen oder Medien gibt, die einer neuen Anthropologie gerecht werden könnten. Diese Möglichkeit erzeugt zugleich Hoffnung und Resignation: Однако же все вариации этой проблемы, на протяжении большого человеческого времени, встраиваются в финальный горизонт, финальный контур некоего антропологического строительства (Prigov 1993, 3) Allerdings fügen sich ja alle Variationen dieses Problems über die lange Zeit des Menschen hinweg in einen finalen Horizont, in eine finale Kontur einer gewissen anthropologischen Konstruktion.

Im Übergang von einer „alten“ zur „neuen“ Anthropologie befinden sich die künst­ lerischen Formen an einem „finalen Horizont“, der ihre Unterschiede verschwinden lässt.54 Sie alle wissen genau gleich viel oder wenig davon. Es kann aus dieser Sicht keine Poetik oder Ästhetik in der neuen Anthropologie geben – nur eine vor ihr oder über sie. Das ist die apophatische Denkfigur, von der Prigov ausgeht. Die alte Kultur stößt an eine Grenze, von der aus die neue negativ bestimmt werden kann: Пока же коллапс старого способа бытования в культуре дает некую дополнительную энергетику умирания, которая еще удерживает в пределах своего горизонта и искривляет в поле своего тяготения достаточно большую зону культуры […]. (Prigov 1994, 340) Einstweilen verleiht der Kollaps der alten Existenzweise in der Kultur eine gewisse zusätzliche Energie des Sterbens, die noch eine recht große Kulturzone in ihrem Horizont behält und in ihrem Gravitationsfeld verzerrt […].

Prigov formuliert die Übergänge zwischen alter und neuer Kultur in physiologischen, kosmologischen und energetischen Termini. Wiederholt finden sich solche Beschreibungen, wenn etwa eine „warm atmende Masse von Unbekanntem schon durch die erschöpfte Folie des zeitgenössischen kulturellen Äons linst, der gewissermaßen an seiner Grenze angekommen ist, an die Grenze seiner Variante eines Anthropo-kosmos.“ („теплодышащая масса неведомого уже проглядывает сквозь истончившуюся

54 Es ist sicherlich keine bewusste terminologische Opposition, aber der „Horizont“ korrespondiert semantisch mit dem „Vertikalen“ bzw. dem aufrechten Gang, den Prigov als Konstante menschlicher Existenz hervorhebt; vgl. Prigov/Parščikov 2007, 330. Die berühmteste vertikale Figur ist zweifellos der Milizionär. Erst in seiner Prosaisierung und der kindlichen Perspektive in Moskau wird dies explizit. So beginnt das Kapitel „Milicaner moskovskij“ mit dem Satz: „Für gewöhnlich sieht man ihn vertikal an“ („Он обычно смотрится вертикальным“), Moskau, 122.

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пленку нынешнего культурного эона, придвинувшегося как бы к своему пределу, пределу своего варианта антропо-космоса“, SPKRV, 265). Dieser AnthropoKosmos trifft nun auf ein mit seinen sinnlichen Kategorien nicht wahrnehmbares ‚­Paralleluniversum‘. Prigov weist immer wieder darauf hin, dass es die menschliche Wahrnehmung mit ihren Sinnesorganen ist, die eine Ästhetik der neuen Anthropologie versperrt. Graphisch hat er dieses Problem in einer Serie mit dreiäugigen Wesen bearbeitet.55 Ein drittes Auge ist allerdings kein neues Organ, sondern nur ein Auge mehr. Wie die „neuanthropologischen“ Gedichte stellt diese Arbeit das Immer-NochFunktionieren der alten Struktur aus. Die Rede von einer „neuen Perzeption“ (Prigov/ Ėpštejn 2010, 60) hat die avantgardistische Erneuerung der Wahrnehmung im Visier – vor allem das „neue Sehen“ („novoe videnie“). Doch auch das Pathos der Avantgarden verläuft für Prigov innerhalb eines „Projekts“, über das es nicht hinausschauen kann.

3.3.3 Epistemologie des „anthropologischen Projekts“ Historisch sieht Prigov die neue Anthropologie als eine neue Konstellation, die am Ende verschiedener anthropologischer „Projekte“ der Kunst steht. Die nachfolgenden Punkte beziehen sich auf verschiedene Essays bzw. Interviews: 1. Das Projekt der Renaissance („vozroždenčeskij proekt“)56 und die in ihm etablierten Begriffe von Autor, Werk, Person, Stil, Schule – die Vorstellung eines datierten und signierten Kunstwerks, die den Autor in seiner zeitlichen Existenz einrahmt. In der Gegenwart hat diese Autordefinition zur Tautologie „ein Autor ist ein Autor“ („автор – это автор“) geführt. 2. Das Projekt der Aufklärung („proekt Prosveščenčeskij“) und die Vorstellung einer allgemeinen, hohen, pädagogischen Kunst und eines Künstler-Titanen, der Lehrer, Weiser und Richter ist. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das europäische Projekt der Aufklärung zwar diskreditiert, hat jedoch im sowjetischen Russland einen eigentümlichen Triumph gefeiert: Hier wurde die Kultur mit einer aristokratischen und propagandistisch-pädagogischen Kunst archaisiert. Nachdem mit dem Ende der Sowjetunion auch dieses aufklärerische Projekt kollabiert ist, bleibt eine letzte Utopie: die des Künstlers, verbunden mit einer „Utopie der Allgemeingültigkeit anthropologischer Grundlagen. Der Glaube, dass alles von einem Menschen Gesagte von einem anderen wahrgenommen und verstanden werden kann“ („утопия всеобщности общеантропологических оснований. Вера, что все сказанное одним человеком может быть воспринято и понято другим“, Prigov 2000, 53 f.). Durch diese pathetische Anstrengung bestätigt die

55 Prigov, Dmitrij A.: Tretij glaz, Papier, Mixed Media, Krings-Ernst Galerie, Köln, 1997. 56 Im Folgenden wird wiedergegeben: Prigov, Dmitrij A.: „Čto delaetsja? Čto u nas delaetsja? Čto delat’-to budem?“, in: Neprikosnovennyj zapas 9/2000, 52–61; 53 f.



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Utopie allerdings gerade „Vorahnungen eines neuanthropologischen transgressiven Ausgangs aus ihr“ („преощущения новоантропологического трансгрессивного выхода за ее пределы“, Prigov 2000, 54). 3. Das Romantische Projekt („proekt Romantičeskij“) hat das Bild des Künstlers als Genie und Mediator zwischen dem Hohen und Niedrigen etabliert. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts hat sich der Inhalt dieser Pole aufgefächert in die Gegensätze des Himmlischen/Irdischen, Schönen/Hässlichen, Erhabenen/Niedrigen, Jenseitigen/Diesseitigen. Die konkreten Pole der Mediation sind also historisch variabel: Im zwanzigsten Jahrhundert habe etwa Majakovskij zwischen den Polen der Energie der sozialen Revolte und des banalen Alltagslebens vermittelt. 4. Das Projekt der Avantgarde („proekt Avangardnyj“) schließlich hat die Forderung an den Künstler etabliert, ununterbrochen innovativ zu sein, die Idee, dass jede neue Generation der Welt eine radikal neue Idee zu präsentieren hat, die die Grenzen dessen, was als Kunst betrachtet wird, neu verschiebt.57 In einem früheren Manifest Vtoraja sakro-kuljarizacija (Zweite Sakro-kularisierung, 1990) unterteilt Prigov die Avantgarde in drei „Alter“ („vozrasty“) und erklärt so die Genese des Konzeptualismus (Prigov 1994, 302–304): a) Das futuristisch-konstruktive Alter, in dem ontologische Einheiten des (künstlerischen) Texts in Malerei (z. B. die „reine Farbe“ bei Malevič) und Literatur (Silbe, Buchstabe und Laut in der Literatur bei Kručenych oder Il’jazd) und damit die Gesetze des wahren Baus der Dinge bestimmt wurden. Es ist diese Utopie der großen ontologischen Einheiten, auf die auch die totalitäre Kultur aufbaut.58

57 Lipoveckij und Kukulin richten sich in der Reihenfolge der Projekte nach dem teilweise als Interview veröffentlichten Text Zaveršenie četyrech proektov (Der Abschluss von vier Projekten): Renaissance, Aufklärung, Avantgarde, Romantik (vgl. Lipoveckij/Kukulin 2016, 193–195; Prigov, Dmitrij A. / Jachontova, Alena: „Konec 90-ch  – konec četyrech proektov“, in: Chudožestvennyj žurnal 28–29 [1999], http://www.guelman.ru/xz/362/xx28/x2806.htm). Prigov assoziiert mit dem romantischen Projekt nicht nur die deutschen Frühromantiker, sondern auch russische Futuristen. Im ein Jahr später veröffentlichten Essay Čto delaetsja? Čto u nas delaetsja? Čto delat’-to budem? (Was tut sich? Was tut sich bei uns? Und was tun wir eigentlich?, 2000) bringt er die letzten beiden Projekte – Romantik und Avantgarde  – in die umgekehrte Reihenfolge, wie sie auch hier dargestellt ist. Eine chronologische Reihe ist ausdrücklich nicht gemeint, vielmehr seien die Projekte miteinander verflochten (vgl. Prigov 2000, 53). Andererseits wird das Projekt der Avantgarde als „spätestes“ („samyj pozdnij“, ebd., 54) der vier bezeichnet. Erwähnt sei der Vollständigkeit halber ein Entwurf dieses Texts, in dem das romantische Projekt nicht vorkommt und konsequent von drei Projekten die Rede ist (Pro novuju antropologiju, [Über die neue Anthropologie], unveröffentlichtes Dokument). 58 Vgl. Lipovetsky/Kukulin 2016, 194; hier auch der Hinweis auf die Verwandtschaft von Prigovs Thesen zu den Arbeiten über Avantgarde und Totalitarismus von Boris Groys und Vladimir Papernyj (ebd., 197).

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b) Das absurdistische Alter, das auf die mechanistische Euphorie des ersten Alters und den Anspruch des Staats, reine Projekt-Ambitionen zu verkörpern, mit einer Erklärung der Absurdität aller Ebenen der Sprache reagiert. c) Das dritte Alter lässt sich in seinem Anfang mit der konzeptualistisch-sozartistischen Bewegung identifizieren, die in dialektischer Manier die entgegengesetzten Sprachauffassungen der beiden ersten Alter aufhebt: durch die Bestätigung des Wahrheitsgehalts jeder Sprache im Rahmen ihrer Axiomatik und der Erklärung ihrer Unwahrheit und ihrer totalitären Ambitionen. Es fällt nicht leicht, der Vokabel „Projekt“ eine klare Bedeutung zuzuordnen, einerseits, weil sie bei Prigov häufig und in verschiedenen Kontexten auftritt, andererseits, weil die meisten Sekundärtexte – den vorliegenden eingeschlossen – sie übernehmen. Dabei bleibt oft unklar, ob sich der Begriff von seiner Alltagsbedeutung unterschiedet – auch diese ist im Russischen omnipräsent und mannigfaltig konnotiert. Lipoveckij und Kukulin haben Prigovs Projektbegriff mit dem von Foucault in Let mots et les choses (Die Ordnung der Dinge, 1966) entwickelten Begriff der Episteme assoziiert. Dabei räumen sie ein, dass er sich nicht auf die Beziehungen und Praktiken von Macht und Wissen bezieht, sondern auf künstlerische Produktion (und Rezeption, wie zu ergänzen wäre; vgl. Lipovetsky/Kukulin 2016, 193). Prigov gibt in Čto delaetsja eine Definition der ­Projekte in einer Theatermetapher: Er nennt sie „große Dramaturgien der Wechsel­ beziehungen von Kultur und schöpferischer Persönlichkeit“ („больших драматургий взаимоотношения культуры и творческой личности“, Prigov 2000, 52). Diese Dramaturgien kommen für Prigov in der Gegenwart zu einem „Abschluss“ („zaveršenie“): Так вот, в этом контексте кольцо четырех завершающихся проектов представляет собой некий сжимающийся, самозамкнутый эон, выйти за пределы которого практически невозможно (Prigov 2000, 56) In diesem Kontext also stellt der Ring der vier zum Abschluss kommenden Projekte einen sich zusammenziehenden, in sich verschlossenen Äon dar, über dessen Grenzen hinauszugehen praktisch unmöglich ist.

Wie bereits oben gesehen, argumentiert Prigov nicht kunst- oder kulturhistorisch, nicht chronologisch und nicht genealogisch, sondern vielmehr mythologisch und kosmologisch.

3.3.4 E  in Projekt jenseits der Lebenslänge: Virtuelle künstlerische Operationen im „Modus der Transitivität“ Körperlichkeit und Zeitlichkeit gehören zu den beiden letzten Grundpfeilern der Utopie einer anthropologischen Einheit Mensch. Diese beiden Aspekte sind zugleich wesentlich für Prigovs eigenes „Projekt“ einer täglichen Schaffensnorm, das er immer wieder



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als „lebenslanges Projekt“ („proekt dlinoju v žizn’“, siehe Kap.  3.1.3) bezeichnet. Michail Ryklin hat diesen Begriff mit seinem künstlerischen Gesamtprojekt assoziiert.59 Allerdings ist fraglich, ob das auch noch für die Arbeiten um die Jahrtausendwende zutrifft. Dafür, dass Prigov die Idee der „Lebenslänge“ erweitert oder neu ausgerichtet hat, gibt es verschiedene Indizien: In Zaveršenie 4-ch proekta wird es als „totales Projekt“ des Künstlers bezeichnet, das sich der Gesellschaft erst nach seinem Tod darbietet. Das „lebenslange Projekt“ gehört damit zur auf Zeit und Körper basierenden „alten“ Anthropologie des Künstlers. In den 1990er Jahren entwickelt Prigov ein Schreibprojekt jenseits der biologisch möglichen „Lebenslänge“. Im Band Ešče nemnogo stichov (Noch ein paar Verse, 1993) wird die literarische Planproduktion auf einen Zeitraum nach seinem Tod ausgedehnt: А если прибавить, что в проектной части своей деятельности я живу уже в 2000 году, когда я должен написать все 24000 тысячи стихотворений, то о каком сознании вообще можно говорить. А если еще и учесть, что в гипер-проекте я уже живу в 4000 году – т.е. все мои 24000 стихов должны быть занесены в интернет и начиная с 2000 годы [sic] каждый месяц следущего [sic] тысячелетия должно будет открываться одно стихотворение.60 Und wenn man hinzufügt, dass ich im Projektteil meiner Tätigkeit bereits im Jahr 2000 lebe, wenn ich alle 24 000 Gedichte geschrieben haben muss, von welchem Bewusstsein kann da überhaupt die Rede sein? Und wenn man dann noch bedenkt, dass ich in einem Hyper-Projekt bereits im Jahr 4000 lebe – d. h. alle meine 24 000 Gedichte sollen ins Internet eingetragen werden und beginnend mit dem Jahr 2000 soll jeden Monat des nächsten Jahrtausends ein Gedicht geöffnet werden.

Das „Hyper-Projekt“ einer Internet-Installation, die sämtliche Prigov-Gedichte bis ins Jahr 4000 veröffentlicht, ist nicht realisiert worden – zumindest bisher. Dass Prigov es eine Zeit lang verfolgt hat, lässt sich allerdings verschiedenen Interviews entnehmen.61 Er hat dazu einen Verleger kontaktiert und eine Art kuratorische Begleitung für die Zukunft vorgesehen: Die Nachricht zum letzten Gedicht im Jahr 4000 solle eine

59 Ryklin, Michail: „‚Proekt dlinoj v žizn‘: Prigov v kontekste moskovskogo konceptualizma“, in: ­Dobrenko et al. 2010, 81–95. 60 Prigov, Dmitrij A.: Ešče nemnogo stichov, Typoskript, Moskva 1993. 61 In einem Interview mit Philip Metres räumt Prigov die schwierige Machbarkeit des Projekts ein, vermittelt aber gleichzeitig die Idee, durch die zeitliche Ausdehnung des Projekts zu verschiedenen Zeiten zu leben: „[I]t’s a problem of time of course. I stand, as it were, in the middle – it’s quite postmodern – and I live at the same time 2,000 years behind and 2,000 years ahead.“ Prigov, Dmitry / Metres, Philip: „The end(s) of russian poetry: An interview with Dmitry Prigov“, in: Behind the lines: Poetry, war, & peacemaking (Blog), 18.7. 2007, http://behindthelinespoetry.blogspot.de/2007/07/endsof-russian-poetry-interview-with.html. Ein weiteres Interview in kaum verständlichem Englisch hat Obermayr Rätsel aufgegeben: „There are projects and there are hyper-projects. So my main project was ‚ideal poet‘.“ Das Englisch Prigovs ist in der Transkription eines Radiofeatures unverändert wiedergegeben: Kempker, Bernd: „Mantra der hohen russischen Kultur. ‚Auch Dmitrij Prigov ist ein Genie‘“, WDR 3 Literatur Forum, 15. Januar 2003, 22:00; zit. nach Obermayr 2005, 230.

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Bitte an den Kritiker sein, die Texte nicht zu streng zu beurteilen.62 Im Gegensatz zur demiurgischen Vorstellung eines „letzten katastrophischen Gedichts“ aus den 1980er Jahren (Kap. 3.1.3), nach dessen Produktion die Welt enden muss, ist in diesem „HyperProjekt“ kein Ende vorgesehen, zumindest kein Weltende. Im Internet soll die Poesie dem Publikum zugänglich sein. Die Zahlen 2000 und 4000 sind nicht zufällig gewählt und ziehen sich leitmotivisch durch Prigovs Zahlentexte (siehe Kap. 7). Mit der Zeitspanne von 2000 Jahren spiegelt der Dichter seine Gegenwart im Rückblick auf den Beginn der Zeitrechnung. Bei seiner Definition des „idealen Dichters“ als einem hypothetischen Autor der Installation ergänzt Prigov die eschatologische Komponente mit Semantiken der Unsterblichkeit: Что такое в культурном обиходе идеальный поэт? Это поэт, который покрыл всю действительность своими словами, который живет 2000 лет, почти как египетские пирамиды. (Prigov/Grigor’eva 1999, 15) Was ist im kulturellen Alltag ein idealer Dichter? Das ist ein Dichter, der die ganze Wirklichkeit mit seinen Worten bedeckt hat, der 2000 Jahre lebt, fast wie die ägyptischen Pyramiden.

Das „Hyper-Projekt“, eine Art ‚überlebenslanges Projekt‘ ist, wie Brigitte Obermayr richtig anmerkt, eine rhetorische amplificatio, eine Hyperbel des ursprünglichen Projekts bis zum Jahr 2000 (Obermayr 2014, 535). Wenn Prigov reklamiert, durch seine im Cyberspace der Zukunft stehenden Gedichte im Jahr 4000 zu leben, dann ist das eine Projektion. Als performatives Projekt bleibt die Sache unrealisiert. Das zeigt, dass die Überschreitung der Grenze des biologischen Lebens in einem solchen buchstäblichen Sinn nicht in Prigovs Sinn liegt. Die Verewigung nach Art ägyptischer Mumien gehört als utopisches Projekt zum sowjetischen Mythos, der referiert, aber nicht als Utopie im Internet fortgesetzt wird. Performative Künste bieten für solche Strategien weitreichende Optionen, wie ­realisierte, vergleichbare Langzeit-Projekte zeigen – etwa John Cages auf 639 Jahre angelegtes Orgelstück As SLow aS Possible (1987, seit 2013 in Halberstadt aufgeführt). Prigov geht in den Dimensionen performativen „Verhaltens“ noch weiter und verlässt die Ebene der zeitlichen Expansion vollends. Im Gespräch mit Irina Balabanova nennt Prigov zwei Formen des Projekts, die über das „lebenslange Projekt“ hinausgehen: erstens ein Projekt über die Grenzen des Lebens hinaus (das er als soziale Utopie bezeichnet), und zweitens eine Art virtuelles Projekt: Если это переводится, скажем, в разряд виртуальных проявлений, то становится некой реальностью не личности, а реальностью виртуального пространства, в которое эта личность смогла в какой-то мере вписаться в качестве предвиртуального. (Prigov/Balabanova, 157)

62 Vgl. Prigov, Dmitrij A. / Grigor’eva, N.: „4000 god: napadenie Prigova“, in: Peterburgskij Čas Pik, 33/1999, 25.8. 1999, 15.



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Wenn dies, sagen wir, auf die Kategorie virtueller Erscheinungen übertragen wird, dann wird es nicht zur Realität der Persönlichkeit, sondern zur Realität des virtuellen Raums, in den sich diese Persönlichkeit bis zu einem gewissen Grad als Prävirtuelles einordnen konnte.

Erst durch die völlige Aufgabe der Materialität könne es gelingen, in die Virtualität „hinüber“ („tuda“) zu gelangen. In Renat wird die Figur des Künstler-Wissenschaftlers Renat diesen Versuch unternehmen (siehe Kap 5.3). Die Idee einer Persönlichkeit, die sich als ein „Prävirtuelles“ in den virtuellen Raum einschreibt, gibt dem (auto-)biographischen ­Schreiben wichtige Fragen auf, um die es ab Kapitel 4 gehen wird: Wie lässt sich das Ich in einen virtuellen Raum projizieren? Mechanismen der Projektion – nicht psychoanalytisch, sondern rein geometrisch, visuell bzw. perspektivisch verstanden –, der Übertragung und der Transposition sind in Prigovs Essayistik vielfach anzutreffen (siehe Kap. 6.2.1). In einem Interview mit Sergej Gandlevskij spricht Prigov bereits 1993 vom Künstler als einem „Quantum der Übersetzung von einer Wirklichkeit in eine andere“.63 Ist dieser Transfer hier noch auf die Unterscheidung zwischen Kunst und Leben bezogen, weitet Prigov den Übersetzungs-Begriff im Zeichen der neuen Anthropologie aus. Im Gespräch mit Michail Ėpštejn nennt er den Künstler ein „Modul der Übersetzung von einem Zustand in einen anderen“ („modul’ perevoda iz odnogo sostojanija v drugoe“, Prigov/Ėpštejn 2010, 63). Diese Übersetzung bezieht sich nicht zwingend auf das Verbale, sondern auf das Körperliche, auf „Aggregatzustände“. Das Ziel dieser Übersetzungen besteht darin, sich auf die Ebene der Sprache zu komprimieren und sich einer körperlichen, materiellen Komponente zu entledigen. Diesen Zustand bezeichnet Prigov als „Modus der Transitivität“: Пока не обнаружилось никакой новой онтологии  – откуда и куда транспонируется прежнее антропологическое содержание. Очищение художника и вообще человечества от телесности, ее „перекодирование“ в модус транзитности. […] В этом модусе транзитности гораздо легче сделать шаг в Другое, чем со всей своей предыдущей телесностью, коммунальными телами, художественными телами, я даже не говорю про физиологические тела. (Prigov/Ėpštejn 2010, 63) Bisher hat sich noch keine neue Ontologie gefunden, die erklärt, woher und wohin der bisherige anthropologische Inhalt transponiert wird. Die Reinigung des Künstlers und der Menschheit überhaupt von der Körperlichkeit, ihre „Umcodierung“ in einen Modus der Transitivität. […] In diesem Modus der Transitivität gelingt der Schritt ins Andere wesentlich leichter als mit all der bisherigen Körperlichkeit, mit kommunalen Körpern, künstlerischen Körpern, von physiologischen Körpern gar nicht erst zu sprechen.

Was unterscheidet den künstlerischen „Modus der Transitivität“ von den Utopien der Avantgarde? Wenn Prigov von einer „Reinigung“ („očiščenie“) des Künstlers spricht,

63 „[Я] не есть полностью в жизни, я есть эта самая граница, этот квант перевода из одной действительности в другую.“ Prigov, Dmitrij A. / Gandlevskij, Sergej: „Meždu imenem i imidžem“, in: Literaturnaja gazeta 19/1993, 12.5. 1993, 5.

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sollte das nicht mit einem biopolitischen Programm verwechselt werden. Der „Modus der Transitivität“ meint nicht den Akt der Transgression („Schritt ins Andere“), sondern das Potenzial des Transitiven zwischen Körperlichkeit und Virtualität. Man kann erweiternd hinzufügen: Prigov denkt und schreibt im „Modus der Transitivität“. In seinen Gedichten im Kontext der „neuen Anthropologie“ ist es nicht nur möglich, virtuelle oder maschinelle Eigenschaften auf den Menschen zu übertragen, sondern auch umgekehrt: Der Computer kann Objekt anthropologischer Kategorien werden. In Metakomp’juternye ėkstremy (Metacomputerextreme, 1994) erkundet Prigov eine solche ‚strukturale Methode‘, deren Gegenstand nicht das Menschliche im Menschen, sondern das „Computerhafte“ im Computer ist: Среди всех компьютерных примочек, одолевающих современный мир и намеревающихся одолевать его до полного его изнеможения, истончения, вернее, выжимания из него всей структурной эссенции и сведения его до уровня агара-агара, я пытался отыс­ кать самое-самое, то есть ту маленькую и единственную точку, которая и есть экстрема чистой компьютерности. (SPKRV, 264) Inmitten aller Computergerätschaften, die die moderne Welt einnehmen und sie beherrschen wollen bis zu ihrer völligen Entkräftung, Erschöpfung, oder besser dem Herauspressen aller Strukturessenz und der Reduktion auf die Ebene von Agar-Agar, habe ich versucht, dieses Eine zu finden, also das eine kleine Pünktchen, das eben genau das Extrem reiner Computerhaftigkeit ist.

Im Begriff „komp’juternost’“ kommt zum Ausdruck, dass sich eine Eigenschaft bestimmen lässt, eine ‚Quintessenz‘ der maschinellen Rechenprozesse. Analog zu seiner künstlerischen Selbstbeschreibung liegt sie aber nicht im ‚Wesen‘ des Computers, sondern in seiner Tätigkeit, in seinem Verhalten. Prigov spricht daher von der „Operation als Einheit von Computerverhalten“ („обозначить операцию как единицу компьютерного поведения“, SPKRV, 265). Genau dieser Begriff von Verhalten lässt sich in Prigovs neuer Anthropologie nicht nur auf Mensch und Tier beziehen. Sie ist damit mehr als eine „neue Zoologie“ (vgl. Jampol’skij 2016, 213, siehe Kap. 3.3.1). Was bedeutet „Computerverhalten“ oder virtuelles Verhalten für die künstlerische und insbesondere literarische Produktion? Hier knüpft Prigov an den Gedanken an, nicht einzelne Texte, sondern poetischen Raum zu schreiben. Mit der neuen Anthropologie wird das demiurgische Schöpfungsmodell durch eine informationstech­ nische Operationalität ergänzt bzw. überschrieben. Literatur, so Prigovs Diagnose ­Anfang des dritten Jahrtausends, verliert in einer Gegenwart der anthropologischen Transformationen an Intensität (vgl. Prigov/Balabanova 2001, 114 f.). Texte sind hier  nur noch „Abfallprodukte der Tätigkeit eines zentralen Phantoms“ („otchody dejatel’nosti central’nogo fantoma“), einer Instanz virtuellen Verhaltens.64

64 Diese Formulierung verwendet er insbesondere für die Romane und macht mit polemischer Wendung an die Philologie deutlich, dass auch sie nicht als einzelne Texte, sondern in ihrem Bezug zu



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Das Paradoxe an einem Begriff von virtuellem oder computerhaftem, technomorphem Verhalten ist gerade die Herkunft des Begriffs: „Verhalten“ entstammt Biologie und Psychologie – dem Bereich des ‚Lebens‘ und der ‚Seele‘.65 Prigov hat immer wieder von „kulturellem Verhalten“, oder „reinem Verhalten“ gesprochen. In der „neuen Anthropologie“ entzieht Prigov dem Verhalten seine biologische bzw. physische Komponente und spricht von der unkörperlichen, abstrakten Operation. Damit steht er in einer Tradition mit Norbert Wiener, dessen kybernetische Theorie eine ähnliche Ausstreichung des Biologischen aus der Beschreibung von Wirklichkeit verfolgt: „Leben“ und „Lebendiges“ sind für die Kybernetik kein adäquates Beschreibungskriterium, wenn es darum geht, Phänomene reduzierter Entropie zu beschreiben.66 Prigov gibt die Semantik des Lebens und des Lebendigen nicht auf. Aber im Unterschied zu den in Kapitel 3.1 beschriebenen Schöpfungs- und Stiltheorien denkt er im Kontext der neuen Anthropologie nicht vom Leben her, sondern zwischen den Polen körperlich/ virtuell. Dabei macht Prigov sein Interesse an einer neuen Lebensphilosophie als Reflexion der Virtualisierung der Körper ganz deutlich.67 Die ‚alte‘ Lebensphilosophie und ihr prominentester Vertreter Henri Bergson dient Moskau als Folie und soll in Kapitel 4 weiter betrachtet werden.

ihrer virtuellen Matrix zu lesen sind. Prigov, Dmitrij A. / Jachontova, Alena: „Otchody dejatel’nosti central’nogo fantoma“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 1/2004, 255–259; 257. 65 Jampol’skij hat sich Prigovs Beschreibungen befreundeter Künstler und Intellektueller (Portretnaja galereja DAP / Porträtgalerie von DAP, in: Prigov, Dmitrij A. / Šapoval, Sergej I.: Portretnaja galereja D. A. P., Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2003) unter dem Gesichtspunkt ihres kulturellen Verhaltens und der Bestimmung des künstlerischen Genies als Tier gewidmet und den Verhaltensbegriff mit Heideggers Unterscheidung zwischen menschlichem „Verhalten“ und tierischem „Benehmen“ verglichen; vgl. Jampol’skij 2016, 185–197; insbesondere 196. 66 „It is in my opinion, therefore, best to avoid all question-begging epithets such as ‚life‘, ‚soul‘, ‚vitalism‘, and the like, and say merely in connection with machines that there is no reason why they may not resemble human beings in representing pockets of decreasing entropy in a framework in which the large entropy tends to increase.“ Wiener, Norbert [1950]: The use of human beings. Cybernetics and society, London: Free Association Books, 1989, 32. Bei der Suche nach ideengeschichtlichen Vorläufern für die Operationen des Menschen als Rechenmaschine gelangt Wiener wie Prigov zu Leibniz’ Monaden, deren Interaktion auf rein optischem, lichtbasiertem Weg verläuft (vgl. ebd., 18). 67 „Wenn also auf diesem Gebiet etwas zustande gekommen sein sollte, nichts Medizinisch-Biologisches oder gar Künstlerisches, sondern etwas Größeres  – etwas Ideologisches, Kulturphilosophisches – wenn sich jemand dieses Ideologem zu eigen gemacht und als eine Art neue Philosophie des Lebens entwickelt hätte, fände ich das interessant zu lesen […] Das sind alles meine hausbackenen Küchenüberlegungen“ („Поэтому, если бы что-то совершилось в этой области, не медицинскобиологическое или даже художественное, а что-то большее  – идеологическое, культурнофилософское, – кто бы взял на вооружение эту идеологему и развил бы ее в качестве новой такой философии жизни, мне было бы интересно почитать. […] Это все мои доморощенные кухонные размышления.“ Prigov/Balabanova 2001, 149).

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3.4 Performancekunst ab 2000 Die Performance ist ein Grundpfeiler von Prigovs künstlerischem Projekt. Das umfasst nicht nur die poetische Performance, sondern auch die Performanz des Alltagslebens – Prigov bestand selbst im Umgang mit Freunden auf dem „Sie“ bzw. der Anrede mit Vor- und Vatersnamen; die Privatwohnung in Beljaevo und später auch die eigene Familie waren Schauplatz und Element seiner Arbeit. Prigovs poetische Vortragstechnik ist sein trademark. In Performance-Formaten, etwa der mantrischen Deklamation des Beginns von Puškins Evgenij Onegin in buddhistischer und orthodoxer Manier oder den Aufführungen von Evangel’skie zaklinanija (Evangelien-Beschwörungen, 1975) kommt die Stimme als asemantisches Element zum poetischen Wort hinzu. Obermayr bemerkt, dass in Prigovs Performancekunst „Stimmlichkeit und Schriftlichkeit hier einen äquivalenten Status materieller Präsenz haben, einander initiierende Faktur, und nicht, wie in einem zu kurz gegriffenen Verständnis einer Dekonstruktion der Präsenz der phoné, der typographische Exzess sich gegen letztere richtet.“68 Einer der bekanntesten Figuren von Prigovs Performances liegt kein geschriebener Text zugrunde: Im Krik kikimory (Der Kikimora-Schrei), so Sabine Hänsgen, „vollzieht Prigov eine rein performative Geste. Es handelt sich um einen ekstatischen, langen, hohen Schrei, der in ein Lachen übergeht.“69 Wie in Lyrik und Graphik benutzt Prigov auch hier expressive Mittel nicht nur in extremen, sondern auch in minimalen Graden. Mal simuliert er affektive Urphänomene mit seiner Stimme, mal macht er sich lediglich die Deklamation ‚offizieller‘ Literatur zu eigen. Die „neue Anthropologie“ schlägt sich auch im performativen Werk nieder. Insbesondere ein Format thematisiert die Schnittmengen von Alltagsleben und nichtmenschlichem Leben: Ab 2002 tritt Prigov mit seinem Sohn Andrej und dessen Frau Natalija Mali unter dem Namen Prigov Family Group auf. In einem Interview konzipiert Prigov die Familie als elementare „Anthropostruktur“ der Welt: Эта группа имеет своей целью воспроизвести ячейку семьи, как первичный ритуальный организм, который апроприирует мир во всём богатстве его проявлений. Посему она и способна на квазиритуальные действия. Она их не столько имитирует, сколько воспроизводит логос всех этих действий – от вылепливания Образа Новой России до одомашнивания картофеля – в элементарной антропоструктуре из трёх человек. Один – это оди-

68 Obermayr 2013c, 10. Mladen Dolar hat Agambens Aristoteles-Interpretation im Hinblick auf die Stimme weitergedacht: Für ihn besetzt sie einen Zwischenraum zwischen logos/phone und bios/zoe; vgl. Dolar, Mladen: A voice and nothing more, Cambridge [u. a.]: MIT Press, 2006, 121. 69 Hänsgen, Sabine: „Poetische Performance: Schrift und Stimme“, in: Obermayr 2013b, 306–333; 321. Die Autorin, die als Mitglied der Gruppe Kollektivnye dejstvija (Kollektive Aktionen) selbst zahlreiche private Performances der Underground-Zeit audiovisuell dokumentiert hat, hat sich mit dem Verhältnis von Schrift und Stimme in seinem Werk auseinandergesetzt und die Versanordnung als Partitur für poetische Performances untersucht.



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ночка, двое – это пара, но трое – уже коллектив. Минимальная схема семьи: два пола, два поколения.70 Diese Gruppe setzt sich zum Ziel, die Keimzelle der Familie als einen rituellen Urorganismus zu reproduzieren, der die Welt in all ihrem Erscheinungsreichtum appropriiert. Daher ist sie auch zu quasirituellen Handlungen fähig. Sie imitiert sie nicht nur, vielmehr reproduziert sie auch den Logos all dieser Handlungen – vom plastischen Formen des Bildes eines Neuen Russlands bis zur Domestizierung der Kartoffel71 – in der elementaren Anthropostruktur aus drei Menschen. Einer ist alleine, zwei sind ein Paar, aber drei sind bereits ein Kollektiv. Das Minimalschema der Familie sind zwei Geschlechter, zwei Generationen.

Die Familie, das Leben im oikos, soll in der Performance-Gruppe anthropologisch verwurzelte Rituale imitieren. Verschiedene Performances ‚implantieren‘ die Utopien modifizierbaren Lebens in das Alltagsleben der Familie mit ihren Ritualen und Dingen: Etwa werden in Pretvorenie turgenevskogo junoši (Transsubstantiation eines Turgenevschen Jünglings, 2004) einem Teddybären Zettel mit Texten Turgenevs in den Kopf ‚implantiert‘.72 In Ja-tretij (Dritt-Ich, 2004) liest Prigov am Esstisch Gedichte, wird dabei von den anderen Familienmitgliedern immer wieder mit einem schwarzen Tuch verhüllt und damit zum Verstummen gebracht bzw. ‚an-‘ und ‚ausgeschaltet‘. Die Dynamik von Ver- und Entlebendigung soll im folgenden Teil am Beispiel einer Performance untersucht werden, die Prigov mit einer anderen Gruppe aufgeführt hat und die mit ausführlichen Begleittexten dokumentiert ist: Good-bye, USSR (2003).

70 Prigov, Dmitrij A. / Sid, Igor’: „Igra, igruška, vostorg, ėkstaz“, in: So-Obščenie 12 (2004), http:// soob.ru/n/2004/12/s/5. 71 Er bezieht sich auf die Performances Narod i vlast’ sovmestno lepjat obraz novoj Rossii (Volk und Staatsmacht formen zusammen das Bild des neuen Russlands, 2003) und Odomašnivanie kartofelja (Die Domestizierung der Kartoffel, 2003). 72 „Перформанс в виде хирургической операции (трепанация черепа плюшевого мишки) с помещением туда т[у]ргеневских текстов является как бы объединенной метафорой операций окультуривания нашeго времени и времен тургеневских.“ („Die Performance in Form einer chirurgischen Operation [der Schädeltrepanation eines Plüschbären] mit dem Einsetzen Turgenevscher Texte ist gewissermaßen eine vereinte Metapher von Operationen der kulturellen Angliederung unserer Zeit und der Zeit Turgenevs.“), http://prigov.ru/action/perfomans.php. Die Beschreibung ordnet die Operation eines anthropomorphen Kuscheltiers in eine „Dramaturgie der Wechselbeziehung des Natürlichen und des Kulturellen“ („драматургия взаимоотношения природного и культурного“, ebd.) ein. Für Valentina Parisi erkundet das performative Familienprojekt „the possibility of the (re-) constitution of a family identity in a posthuman context, where blood ties are more and more out­ dated, but the cultural memory of archetypical rituals based on obsolete anthropocentric imprinting is still active.“ Parisi nennt die ästhetische Verfremdung der Familie „de-familiarization“ – hier trifft die gängige, aber ungenaue englische Übersetzung von Šklovskijs Begriff „ostranenie“ ins Schwarze. Parisi, Valentina: „Performing the posthuman: the prigov family group“, in: Janecek, Gerald (Hg.): Staging the image. Dmitry Prigov as artist and writer, Bloomington: Slavica Publishers, 2017, 105–116; 111 ff.

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3.4.1 Die Performance Good-bye, USSR (2003): Prigov als sowjetischer Golem Für die Frankfurter Buchmesse 2003 organisierten verschiedene Künstler aus dem Umfeld des inzwischen zur historischen Strömung gewordenen Moskauer Konzeptualismus die Performance Good-bye, USSR.73 Die Performance fand am 8. Oktober am Stand der Organisation Memorial statt und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Künstler Griša Bruskin verpackte Prigov in weißen Stoff, setzte ihm einen Helm aus Gips auf, bemalte ihn mit weißer Farbe und schrieb mit roten Buchstaben das „magische Tetragramm UdSSR“ („magičeskuju tetragrammu SSSR“, Bruskin 2007, 312) auf seinen Oberkörper. Dem so geschaffenen „Golem sovieticus“ brachte er daraufhin eine alphabetische Liste von Lexikoneinträgen bei, welche die Novoe literaturnoe obozrenieVerlegerin Irina Prochorova an eine Tafel mit Kreide schrieb. Dazu las Dichter Lev Rubinštejn seine Karteikartentexte und Musiker Vladimir Tarasov spielte dazu Percussion-Instrumente. Prigov wurde als Golem zunehmend lauter, und die eben noch gelernten Wörter gingen in lautes Deklamieren eigener Textteile (z. B. ein Wiederholen von „no pasarán“) über. Die Performance endete damit, dass Bruskin die roten Buchstaben mit weißer Farbe übermalte. Daraufhin blieb Prigov regungslos stehen (siehe Abb. 1–5). Wer mit dem Werk der beteiligten Akteure vertraut war, musste die Veranstaltung wie eine Revue von Klischees der ehemaligen inoffiziellen Kunstszene wahrnehmen, denn alle traten hier mehr oder weniger konsistent mit ihren Images auf: Bruskin, dessen aus enzyklopädisch angeordneten Bilderminiaturen bestehendes Gemälde Fundamental’nyj leksikon (Fundamentallexikon, 1986) nach einer Auktion bei Sotheby’s 1988 zu einem der ersten lukrativen Exporte der russischen inoffiziellen Szene in den Westen wurde; Prigov, bei dem Wiederholungen, Schreie, glossolalische und hesychastische Stimmtechniken zum performativen Instrumentarium gehören; Rubinštejn und Tarasov mit ihren bekanntesten Vortragstechniken und schließlich Prochorova, die den ‚Hausverlag‘ der Moskauer Ex-Konzeptualisten vertritt. Die titelgebende „Verabschiedung“ bezieht sich nicht nur auf die historische Sowjetunion, sondern gerade auf den Status des inoffiziellen Künstlerkreises. Besonders die Verwendung von Losungen und die dokumentarische Rolle Prochorovas spielen auf die Performances der Kollektivnye dejstvija um 1980 an. Die sogenannten „poezdki za gorod“ („Reisen aus der Stadt“) besetzen den quasi-leeren Raum der Moskauer Vororte. Bruskin bezeich-

73 Da ich selbst nicht anwesend war, stützt sich die Analyse auf Dokumente der Performance: Ein Fernsehbeitrag des Kulturtheoretikers Vladimir Papernyj im Kanal NTV, Fotos von Jens Liebchen und ein Priblizitel’nyj scenarij (Annäherndes Szenario, 2003) von Bruskin: Bruskin, Griša: „Performans ‚Goodbye, USSR‘. (Priblizitel’nyj scenarij)“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 5/2007, 311–315. Die Passagen über die Performance, die sich auf die konkreten Aktionen beziehen, sind im Präteritum verfasst, um ihre einmalige Aufführung zu unterstreichen. Was sich auf das Konzept der Performance bezieht, steht im Präsens.



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net den Ort der Performance entsprechend als „leeren Raum“ („pustoe prostranstvo“, Bruskin 2007, 312), was mit Blick auf den belebten Ort auf der Buchmesse absurd wirkt. Auch der Titel der Performance – eine Anspielung auf den im selben Jahr erschienenen deutschen Kinofilm Good Bye, Lenin! von Wolfgang Becker, der vom phy­ sischen Nicht-Abschied-Nehmen-Können vom Sozialismus handelt  – unterstreicht einen satirischen Gestus.74 Tatsächlich gibt es einen simplen allegorischen Kern der Performance: In einer Stunde präsentiert sie ein bis zur Lächerlichkeit schematisiertes Modell der sowjetischen Periode – mit Anfang, Mitte und Ende. Das „Tetragramm UdSSR“ und die Einübung des Alphabets beziehen sich auf die Etablierung des sowjetischen Staats und die Ideologisierung eines Kollektivkörpers. Diesen Körper eint nicht eine Kultur oder Sprache, sondern eine geographische Lage – er ist eine tellurische Einheit, buchstäblich ein gewaltiger Lehmklumpen. Das Löschen der lebensspendenden Buchstaben bricht das Projekt des Kommunismus ab. Die Handlung der Performance verläuft zwischen zwei Polen: Prigov/Golem, dem lebenden Körper, der noch nicht in die Geschichte eingetreten ist, und Bruskin/Autor, einem Demiurgen, der einen Lebensimperativ verkörpert.

3.4.2 Ungeborenes und ungestorbenes Leben „Golem sovieticus“ ist eine Persiflage von „homo sovieticus“. Mit dem „homo sovieticus“ hat Aleksandr Zinov’ev in seinem gleichnamigen Buch 1974 einen pejorativen Begriff für eine ‚Gattung‘ des sowjetischen Menschen geprägt. Der „golem sovieticus“ stammt ebenso aus dissidentischen Kreisen: 1983 bezeichnet Michail Agurskij mit dem „sovetskij golem“ allegorisch die sowjetische Parteiherrschaft, die nur durch Beschwörung am Leben erhalten werden könne.75

74 Ähnlich wie die Rollen der beteiligten Akteure erhebt der Titel keinen Anspruch auf Originalität bzw. intertextuelle Tiefenschärfe. Der weißrussische Regisseur Arkadij Ruderman hat bereits 1991 einen Film ähnlichen Titels veröffentlicht, hier ist die Formel auf Russisch übersetzt (Gud-baj, SSSR). 75 Im Vorwort zu seinem gleichnamigen Buch beschreibt Boris Filippov die „Elemente“, aus denen die Figur in der jüdischen Mythologie zusammengesetzt ist, für den „sowjetischen Golem“ folgendermaßen: „Советский Голем, созданный партократией (воздух) при участии армии (огонь) и при истощении всех жизненных соков населения (вода) и всех производительных сил (земля), этот военно-технократический Голем может двигаться и чего-то достигать лишь при помощи заклинаний“ („Der sowjetische Golem, geschaffen von der Partokratie [Luft] mit Beteiligung der Armee [Feuer] und unter der Erschöpfung aller Lebenssäfte der Bevölkerung [Wasser] und aller Produktionskräfte [Erde], ist dieser militärisch-technokratische Golem nur mithilfe von Beschwörungen fähig, sich zu bewegen und etwas zu erreichen“), Filippov, Boris, „Vmesto predislovija“, in: Agurskij, Michail: Sovetskij golem, London: Overseas Publications Interchange, 1983, 5–7; 6.

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Abb. 1–5: Prigov und Bruskin bei der Performance „Good-bye, USSR“, Frankfurt, 8. Oktober 2003 © Fotos von Jens Liebchen, 2003. Abbildungen nach: Bruskin, Griša: Prjamye i kosvennye dopolnenija, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2008, 424–432.



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Doch die Performance ist mehr als eine Parodie. Dafür lohnt es sich, sie nicht unter dem Aspekt einer erzählten Geschichte als zeitlicher Abfolge der Handlungen zu betrachten, sondern den Zustand vor ihrem Beginn. Dieser Zustand wird vom Ritual einer Schöpfungsszene eingerahmt. Im Szenario heißt es dazu: Пустое пространство посередине помещения около 40 кв. метров. Автор надевает бутафорский красный нос. Берет красную и белую краску, пишет на полу имена участников в местах, где им полагается быть в начале перформанса (3 минуты). (Bruskin 2007, 312) Eine leere Fläche in der Mitte des ca. 40 Quadratmeter großen Raums. Der Autor zieht sich die rote Nasenattrappe über. Er nimmt rote und weiße Farbe, schreibt am Boden die Namen der Teilnehmer an den Plätzen auf, wo sie zu Beginn der Performance sein sollten (3 Minuten).

Nachdem die Beteiligten ihre Plätze eingenommen haben, wird Prigovs Körper in ein Kostüm gehüllt: Bruskin verpackt ihn mit weißen Stofffetzen, Styropor und Papier, und „gestaltet die Proportionen, Formen und die Größe Prigovs vollständig um“ („полностью преображая пропорции, формы и размер Пригова“, Bruskin 2007, 312). Mit einem klassischen Golem – einer zum Leben erweckten Lehmfigur – hat das Kostüm wenig zu tun. Der hier produzierte Golem ist keine homogene Masse, sondern ein menschlicher Körper, den Schichten fremden Materials entstellen. Die Formen des Kostüms wecken Assoziationen an das Reich der Tiere (Kokon), der Ägypter (Mumie) und der Sowjets (Kosmonautenhelm). Vor allem der Vergleich mit dem ägyptischen Ritus, dessen Einfluss auf den sowjetischen Totenkult unbestritten ist,76 hat einen Haken: Die Einbalsamierung scheint der Idee des „Good-bye“ zur UdSSR insofern zu widersprechen, als hier etwas definitiv verabschiedet und nicht unsterblich gemacht werden soll. Alle oben genannten Elemente schwingen in dieser GolemBearbeitung mit, und doch gibt es noch eine andere Fährte, die für ihre Interpretation produktiv erscheint: Jampol’skij hat die Figuren aus Bruskins Fundamental’nyj leksikon mit der larva assoziiert, wie sie Agamben mehrfach beschreibt.77 Diese larva – lateinisch für ‚Maske‘ und ‚Gespenst‘ – repräsentiert in der römischen Begräbniskultur das erste Stadium, in das eine Leiche rituell transformiert wird. Im Ritual wird der Figur der larva die Maske abgenommen, auf diese Weise wird sie in einen lar, einen guten Geist verwandelt. In Agambens Interpretation ist sie ein „ein flüchtiges und bedrohliches Wesen, das in der Welt der Lebenden bleibt und zu den Orten zurückkehrt, die vom Bestatteten besucht worden waren“.78 Durch Trauerrituale wird der

76 Vgl. Jampolskij, Michail: „Der feuerfeste Körper“, in: Murašov, Jurij / Witte, Georg (Hg.): Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. München: Fink 2003, 285–308; hier: 293–295. 77 Vgl. Jampol’skij, Michail: „Fetiši bednogo opyta“, in: Mochova, Elena (Hg.): V storonu Bruskina, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2011, 48–68; 58 f. 78 Agamben, Giorgio: „Im Land der Spielzeuge“, in ders.: Kindheit und Geschichte, aus d. Ital. v. Davide Giurato, Frankfurt: Suhrkamp, 2004, 97–127; 120.



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Tote in eine larva, eine Maske bzw. ein Gespenst verwandelt, um die „Wandlung dieses unbequemen und ungewissen Wesens in einen freundlich gesinnten und mächtigen Vorfahren zu garantieren, der in einer eigenen Welt lebt“ (Agamben 2004, 120). Auch Prigov erhält von Bruskin eine Maske, die sein Gesicht und den lebendigen Körper verhüllt. Aber er nimmt sie ihm innerhalb der Performance nicht ab, damit die Figur des golem sovieticus ins Totenreich wandern könnte. Das Einpacken, Animieren und Deanimieren des Bruskinschen Golems ist ein unvollständiges Begräbnis: Die larva wird nicht entmaskiert, ihr „Geist“ nicht in eine abgetrennte Welt entsandt. Ein weiteres Paradox kommt zu dieser Form des Abschiedsritus hinzu: Hier wird ein unentwickeltes Wesen beerdigt. Die Assoziation eines Kokons oder eines Embryos rührt nicht nur von der ‚eingesponnenen‘ Hülle her. Die embryonale Komponente wurde auch häufig in den ursprünglichen Wortsinn des hebräischen ‚golem‘ (‚ungeformte Materie‘) hineingelesen.79 In der Performance wird die Schöpfung einer ambivalenten Figur zwischen dem ungeborenen und dem gespenstischen Leben simuliert. Hier sind die Zäsuren der menschlichen Existenz, Geburt und Tod, jedoch abwesend. Der golem sovieticus kommt weder zur Welt, noch stirbt er. Bruskin erzeugt seine Vitalität vermittels Schrift, durch das Beschriften oder ‚Imprägnieren‘ der materiellen Oberfläche mit nasser roter Farbe. Die Ambivalenz des ‚Prägnanten‘ zwischen Biologie und Rhetorik wird hier auf letzteres reduziert: Niemand gebiert den Golem, Prigov verlässt die materielle Hülle nicht, die keine ‚maternale‘ ist, keine Mutter-Materie im Gegensatz zur machrot’ (siehe Kap. 3.2.2).

3.4.3 Das „magische Tetragramm SSSR“ Ein Unterschied der Adaption als Performance zum Golem in der jüdischen Überlieferung besteht im Sinn der Beschriftung: In den populärsten Mythenvarianten trägt der Rabbi Löw das Wort für Wahrheit, ‚emeth‘, auf die Stirn des Golems auf. In manchen Versionen wird das Wort begleitet vom Tetragramm YHWH, sodass sich die Aussage ‚Gott ist die Wahrheit‘ ergibt. Sobald der Golem wächst und beginnt, seinem Schöpfer nach dem Leben zu trachten, entfernt jener den ersten Buchstaben aus ‚emeth‘, sodass ‚meth‘ zurückbleibt, ‚Tod‘.80 Dieses Ritual der Buchstabenmagik macht den Golem

79 Gershom Scholem weist auf die Bedeutung im Alten Testament hin: „Golem heißt hier wohl, und sicher in den späteren Quellen, das Ungestaltete, Formlose. Nichts spricht dafür, daß es, wie manchmal behauptet wird, Embryo hieße. Die mittelalterliche philosophische Literatur benutzt es als hebräischen Terminus für Materie, formlose Hyle“, Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich: Rhein-Verlag, 1960, 212. 80 Vgl. Scholem 1960, 233–238. In einem Bericht von Schülern von Juda dem Frommen aus Speyer aus dem dreizehnten Jahrhundert heißt es: „nach drei Jahren wurde ihnen ein Mensch erschaffen, auf dessen Stirn ’emeth stand, wie auf der Stirn Adams. Da sagte der Mensch, den sie erschaffen hatten, zu ihnen: Gott allein hat Adam erschaffen, und als er den Adam sterben lassen willte, löschte er das

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wieder zu totem Lehm, der Akt der Belebung wird rückgängig gemacht. Die buchstäbliche Semantik von Wahrheit und Tod fehlt bei Bruskin und Prigov. Stattdessen leuchtet der Name des Staats auf, dessen Ideologie Wahrheit und Tod verbürgt. Die Buchstaben übertragen nicht das Leben von Gott auf den Golem, sondern sie sind Instrument eines Demiurgen, der den golem sovieticus mit ideologischem Sinn auflädt und so Leben spendet: erst durch das Tetragramm „SSSR“, dann durch die Erziehung mit enzyklopädischem Wissen. Auch in materiellen Aspekten weicht Bruskin vom Mythos ab: Im Gegensatz zum Rabbi Löw, der der Golemfigur ein beschriebenes Stück Papier an die Stirn heftet, beschriftet er die Oberfläche der geschaffenen Skulptur direkt. Die Performance verändert nicht eine Wortgestalt, sondern verwischt die Konturen der Buchstaben, deren rote Farbe mit der weißen zu einer hellrosa Fläche verschwimmt. Eine „Beschneidung des Wortes“, wie sie Jacques Derrida für Paul Celans poetische Golem-Bearbeitung beschrieben hat, findet nicht statt.81 Hier ist kein „Autor“ eines poetischen Texts am Werk – in Prigovs maschinenschriftlichen Textarbeiten gibt es schließlich Wortbeschneidungen ohne Ende –, sondern ein ‚avtor kartiny‘, ein visueller Schöpfer. Bruskin erfüllt das Amt des Demiurgen mit der sowjetischen Bürokratie im Hinterkopf, er ‚stempelt‘ den Golem und macht schließlich das Vorgangszeichen wieder ungültig. Die Formulierung „sowjetischer Golem“ enthält eine doppelte mythopoetische Geste: Sie kombiniert sowjetische und jüdische Elemente. Für Bruskins Kunst ist diese Synthese grundlegend. Groys hat auf die Verwandtschaft zwischen jüdischem und sowjetischem Messianismus hingewiesen, die in seinen Werken zum Ausdruck kommt.82 Die Figuren in Fundamental’nyj leksikon, die ähnlich einer barocken Allegorie Begriffstafeln in den Händen halten und selbst Allegorien sozialer Gruppen der Sowjetunion sind, stellen für Groys „doppelte Allegorien“ dar, in denen eine Allegorie die andere erklärt. In Good-bye, USSR haben die Performer allegorische Funktionen – laut Szenario heißen sie Autor (Bruskin), Golem (Prigov), Dichter (Rubinštejn), Musiker (Tarasov) und Verlegerin (Prochorova). Sie alle üben wiederum eine allegorische Handlung aus. Prigov bezeichnet die rhetorische Funktion des Golems nicht als Allegorie, sondern als метафора и метонимия сложноустроенного феномена советской власти и советского бытия как хранителей и наследников религиозно-апокалиптического русского созна-

’aleph von ’emeth weg, und er blieb meth, tot. […] Der erschaffene Mensch sagte zu ihnen: Kehrt die Buchstabenkombinationen [durch die er erschaffen war] um und tilgt das ’aleph des Wortes ’emeth von meiner Stirn – und sofort zerfiel er zu Staub.“ Ebd., 233. 81 Vgl. Derrida, Jacques: Schibboleth. Für Paul Celan, aus d. Franz. v. Wolfgang Sebastian Baur, Wien: Böhlau, 1986, 133. 82 Vgl. Grojs, Boris: „Allegoričeskij čelovek“, in: Mochova, Elena (Hg.): V storonu Bruskina, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2011, 31–41.



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ния, традиций европейского просвещения и массоидно-урбанистических перекроек европейского социума XX века. (Prigov 2007, 318) Metapher und Metonymie des komplexen Phänomens der sowjetischen Macht und des sowjetischen Seins als Bewahrer und Erben des religiös-apokalyptischen russischen Bewusstseins, der Traditionen der europäischen Aufklärung und der massoid-urbanistischen Umbaumaßnahmen des europäischen Soziums des 20. Jahrhunderts.

Die jüdische Mythologie der Figur lässt Prigov explizit außer Acht. Die ihm zugewiesene Rolle des sowjetischen Dichters in der Hülle des golem sovieticus stellt den komple­ mentären Part zum jüdischen Künstler Bruskin dar. Zur Beschwörung des Golems verliest Bruskin eine Liste von alphabetisch geordneten enzyklopädischen Einträgen. Sie ­zitieren in verschiedenen Arbeiten Bruskins verwendete Textbausteine, die im Performance-Szenario unter dem Titel Azbučnye istiny (wörtlich: Alphabetische Wahrheiten, im ­übertragenen Sinne: Binsenweisheiten) wiedergegeben sind.83 31 Einträge werden aufgeführt, darunter folgende: А – Первая буква русского алфавита Б – Бабочки выводятся из гусениц […] Ж – Живопись отражает действительность в художественных образах […] П – Прятки – игра, в которой один ищет, а другие прячутся […] С – Словарь разъясняет значение слов Т – Танки движутся на гусеницах (Bruskin 2007, 315) A – Der erste Buchstabe des russischen Alphabets […] B – Schmetterlinge [babočki] entstehen aus Raupen […] Ž – Die Malerei [živopis’] spiegelt die Wirklichkeit in künstlerischen Bildern wider […] P – Verstecken [prjatki] ist ein Spiel, bei dem einer sucht und die anderen sich verstecken […] S – Ein Wörterbuch [slovar’] erklärt die Bedeutung von Wörtern T – Panzer [tanki] bewegen sich auf Ketten

Die Einträge bilden ein topisches und stilistisches Nebeneinander einer breiten Spannweite von Lexemen (Tiere, Pflanzen, Maschinen, Literatur und Kunst, offizielle Phrasen und Wörterbucheinträge) und von Beschreibungssprachen zwischen Kinderbuch, Philosophie und Propaganda. Während der Performance wiederholte Prigov diese Sätze mantrenartig und entfaltete im Lauf des Sprechens die Möglichkeiten seiner eigenen Stimme, indem er das sprachliche Material deformierte und mit seinen eigenen Texten verflocht. Dieser Prozess erinnert weniger an Pädagogik, sondern an Agitation, die buchstäblich wird: Prigov schüttelt und dreht sich, seine Rolle besteht ausdrücklich darin, das Publikum zu belästigen („Кидается на зрителей“; „Er wirft sich auf

83 1998 stellt Bruskin 34 bemalte Porzellanteller mit Abbildungen und Erklärungen her. Die Texte sind aus sowjetischen Nachschlagewerken und Lehrbüchern für Russisch als Fremdsprache kompiliert. 1992 hat er bereits drei davon in Triptych (Triptychon) verwendet.

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die Zuschauer“, Bruskin 2007, 312). Trotz der buchstäblichen Alphabetisierung des golem sovieticus entwickelt sich keine zusammenhängende, auf einer Grammatik basierende Sprache. Aus der Tautologie zwischen den Buchstaben und den Truismen, die sie denotieren, findet der Golem keinen Ausweg. Gefangen in der Endlosschleife von Zeichen und Erklärung bleibt er in einem Zustand vor dem Gebrauch der Sprache.

3.4.4 Apophatik des „Vorlebens“ Was für eine Art von Wesen ist der Golem und welche Existenzform hat er vor seiner Belebung? Bruskins Szenario beschreibt diesen Zustand wie folgt: „Пригов не шевелится, глаза закрыты. Еще не создан“ („Prigov rührt sich nicht, die Augen sind geschlossen. Er ist noch nicht erschaffen“, Bruskin 2007, 312). Prigov selbst reflektiert diesen Moment in seinem Text Golem ausführlicher. Er beginnt mit dem Golem-Werden eines Menschen – eine Inversion des Mythos, nach dem Adam von einem Golem aus Lehm zum Menschen wird.84 Prigov wird vom Menschen zum Golem. Er setzt dem Anthropozentrismus des Buchs Genesis ein quasi-mystisches Experiment entgegen: Wie kann man die eigene Erschaffung als Ding aus Lehm erfahren? In seinem Text betont er, während der Performance kaum etwas gesehen oder gehört zu haben, da er lediglich daran teilgenommen habe. Zu Beginn stellt er die Frage nach den kognitiven Vorgängen in einem inaktiven Golem: Что мыслит Голем? Что вертится в его не фиксированной ни на чем голове до момента озарения? [Или чего-то,] могущего быть названным озарением? Вернее принудительным толчком в жизнь. (Prigov 2007, 316) Was denkt der Golem? Was dreht sich in seinem auf nichts fixierten Kopf vor dem Moment seiner Erleuchtung? [Oder etwas,] das man Erleuchtung nennen kann? Oder eher einen erzwungenen Stoß ins Leben.

Der Begriff der Erleuchtung scheint unangemessen, weil die Potenzialität des Golems keine psychische ist – er hat nichts, was mit Gedanken und Emotionen gefüllt werden könnte. Seine Potenzialität ist eine materielle. Folgt man Agambens Lesart von Aristoteles’ Idee des Möglichen als einem „potential not to pass into actuality“85, verkörpert der Golem die physische Potenz, nicht lebendig zu werden. In Prigovs Worten ist der Golem

84 Die Erzählung von der Schaffung des ersten Menschen aus Erde/Lehm lässt sich etymologisch mit dem Namen Adams illustrieren, der oft mit ‚adamah‘ (‚Erde‘, ‚Boden‘) assoziiert wurde. Prigov und Bruskin schreiben „Golem“ mit Großbuchstaben, sodass offenbleibt, ob es sich beim golem sovieticus um ein Individuum mit Eigennamen oder eine Gattung handelt. 85 Agamben, Giorgio: „On potentiality“, in ders.: Potentialities. Collected essays in philosophy, aus d. Ital. v. Daniel Heller-Roazen, Stanford: Stanford University Press, 1999, 177–184; 180.



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уже вызван из анонимной всеобщности, но еще не обрел конкретности. Он в преджизни. […] С момента его замысленности, онтологической объявленности в этом мире он обитает на границе, из которой может отплыть обратно в неподеленное и необязывающее, а может и вступить в мир наделенных самоотдельными движениями и порывами существ. (Prigov 2007, 316) bereits aus der anonymen Allgemeinheit herausgerufen, doch er hat noch keine Konkretheit erlangt. Er ist im Vorleben. […]  Seit dem Moment seines Erdachtseins, seiner ontologischen Bekanntgabe in dieser Welt lebt er auf der Grenze, aus der er zurück ins Ungeteilte und Unverbindliche treiben, oder auch in die Welt der Wesen mit eigenständigen Bewegungen und Impulsen eintreten kann.

Mit der Präfixierung „predžizn’“ („Vorleben“) spielt Prigov auf die apophatische Theologie von Dionysius Areopagita an. In dessen Schrift De divinis nominibus (Über die göttlichen Namen, 5.-6. Jh.), auf die Prigov in seinem Zyklus Imja boga (Der Name Gottes, 1977) direkt Bezug nimmt, werden die zentralen Begriffe (Sein, Leben, Licht) mit Präfixen wie ‚pro-‘ (‚vor-‘) oder ‚hyper‘ (‚über‘) differenziert. Dionysius schreibt Gott ein „Überleben“ („hyperzoe“) zu – denn Gott kann weder lebendig noch tot sein, sondern existiert über diesen Bezeichnungen. Dionysius beschreibt das göttliche Leben repetitiv-tautologisch als „des Lebens übervoll, Leben aus sich selbst [autozoos], lebenspendend und überlebensvoll [hyperzoos] jedem Leben entrückt, oder wie einer immer das unaussprechliche Leben in menschlicher Rede feiern mag“.86 In Prigovs „Vorleben“ kommt eine Apophatik der Potenzialität zum Ausdruck – nicht zu sprechen, nicht zu handeln, nicht lebendig zu werden. Wie Obermayr diagnostiziert, kommt Prigov jedoch ohne das subversive Pathos aus, das Agamben dieser Potenzialität zuschreibt. Anhand zahlreicher apophatischer Sprech- und Schreibpraktiken in seinem Werk legt sie dar, dass das Nicht-Sprechen für ihn nur eine Option unter anderen ist.87 Der Golem hat die Option, wieder ins unbelebte, undifferenzierte Stadium zurückzufallen. „Vorleben“ ist keine Begriffsschöpfung Prigovs, an keiner anderen Stelle in seinem Werk taucht das Wort überhaupt nur auf. Es gibt im Golem-Text auch keine weitere explizite Auseinandersetzung damit. Und doch scheint er diesen Begriff in Einklang mit einer Tradition zu verwenden. Vorlebendige Zustände wurden von Autoren des mystischen Denkens in verschiedener Weise diskutiert. Nachdem Philosophen

86 Dionysus Areopagita: Des heiligen Dionysus Areopagita angebliche Schriften über „Göttliche Namen“; Angeblicher Brief an den Mönch Demophilus, aus d. Griech. v. Josef Stiglmayr. (Des heiligen Dionysus Areopagita ausgewählte Schriften Bd. 2; Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Bd. 2) Kempten; München: Kösel/Pustet, 1933, 113; Ioannis Scythopolitani prologus et scholia in Dionysii Areopagitae librum „De divinis nominibus“ cum additamentis interpretum aliorum, hg. v. Beate Regina Suchla, Berlin: de Gruyter, 2011, 193 (VI 2. 3). 87 Obermayr, Brigitte. „Verneinung, Verteilung, Übertreibung und andere apophatische Verfahren (am Beispiel Dmitrij A. Prigov)“, in: Wiener Slawistischer Almanach 73 (2014), 517–544; insbesondere 517–522.

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der Stoa bis zu Plotin die vor der Schöpfung angelegte Potenzialität der Materie als „logoi spermatikoi“ (also etwa: „die lebendigen geistigen Samen aller Dinge“88) diskutiert haben, führt Augustinus diesen Begriff als „rationes seminales“ in die mittelalterliche Philosophie (und Alchemie) ein.89 Bei Meister Eckhart werden von Gott „krefte“ in alle Dinge geschüttet, bei Jakob Böhme sind es „Quellgeister in Gott“, die zwischen der ewigen und der materiellen Welt vermitteln.90 Unter dem Namen „Vorleben“ sind solche Vorstellungen explizit bei Pierre Teilhard de Chardin anzutreffen, der für ein mystisches Denken zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts steht und von Prigov rezipiert wird: In seinem in den 1930er Jahren verfassten Buch Le phénomène humain (Das menschliche Phänomen, 1955)91 bezeichnet „Prévie“ die erste Stufe seiner mystischen Theologie, die Leben und Denken vorausgeht.92 Er fragt: Mais comment nous représenter la saute (où même trouver place pour une saute?) du préconscient inclus dans la Prévie au conscient, si élémentaire soit-il, du premier vivant véritable? (Teilhard de Chardin 1955, 90) Doch welche Vorstellung sollen wir uns machen von dem Sprung (wenn es da überhaupt einen Sprung geben kann) des in der Vorstufe des Lebens eingeschlossenen Vorbewußten zu einem wenn auch noch so elementaren Bewußten, wie dem des ersten wirklichen Lebewesens? (Teilhard de Chardin 1969, 81)

Prigovs Text gibt auf diese Frage eine Antwort: Das „Vorleben“ ist nicht Gegenstand der subjektiven Erfahrung des Performers Prigov, sondern ein Zustand seiner Figur, des golem sovieticus, über den er in der dritten Person spricht. Über das „Vorleben“ lässt sich insofern sprechen, als der Golem im Übergang zwischen Vorleben und Leben ‚lebt‘ – die Grenze ist verräumlicht, der Golem kann „aus ihr“ zurück ins Chaos driften (s. o.):

88 Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: „Erlösung durch Philologie. Der poetische Messianismus Quirinus Kuhlmanns (1651–1689)“, in: Feger, Hans (Hg.): Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996), Amsterdam [u. a.]: Rodopi, 1997, 243–284; 275. 89 Vgl. Hirai, Hiro: „Les logoi spermatikoi et le concept de semence dans la minéralogie et la cosmogonie de Paracelse“, in: Revue d’histoire des sciences 2008/2 (45), 245–264. 90 Weeks, Andrew: German mysticism from Hildegard of Bingen to Ludwig Wittgenstein. A literary and intellectual history, Albany: State University of New York Press, 1993, 30. 91 Auf Deutsch 1959 unter dem Titel Der Mensch im Kosmos erschienen; vgl. Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos, aus d. Franz. v. Othon Marbach, München: C. H. Beck, 1969. 92 „D’où le plan essentiel de ce travail: la Prévie, la Vie, la Pensée, – ces trois événements dessinant dans le Passé, et commandant pour l’avenir (la Survie!), une seule et même trajectoire: la courbe du Phénomène humain.“ (Teilhard de Chardin, Pierre: Le phénomène humain, Paris: Editions du seuil, 1955, 29); „Daher ergeben sich als Hauptpunkte für den Plan dieses Werkes: die Vorstufe des Lebens, das Leben, das Denken – drei Ereignisse, die ein und dieselbe Flugbahn in die Vergangenheit einzeichnen und für die Zukunft (das höhere Leben!) vorausbestimmen: die Kurve des Phänomens Mensch.“ (Teilhard de Chardin 1969, 21).



Die Performance Good-bye, USSR 

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Он на границе, а граница принадлежит обоим мирам сразу. Он живет на ней мерцательным способом, погруженный в мелкую и не уследимую внешним взглядом размывающую динамику беспрерывного движения […]. (Prigov 2007, 316) Er ist auf der Grenze, und die Grenze gehört zu beiden Welten gleichzeitig. Er lebt auf ihr in schimmernder Weise, eingetaucht in eine winzige und durch den äußeren Blick nicht nachvollziehbare, verschwimmende Dynamik ununterbrochener Bewegung […].

Die Bewegung des Schimmerns und Oszillierens („mercanie“) verdeutlicht: „Vorleben“ ist kein Zeitpunkt, der ‚vor‘ dem Leben liegt, sondern ein unbestimmter Zustand ­zwischen dem Belebten und Unbelebten. Mit Good-bye, USSR inszenieren Prigov und Bruskin eine Vor-Form, die Konkretion erlangt und wieder ins Undifferenzierte zurückfällt. Man könnte daher von einer pre-formance sprechen, denn in der Performance wurde ja gerade keine Golem-Form per-formiert, indem eine konzipierte Form durchgeformt, ausgeführt und damit verbraucht wurde. Der golem sovieticus bleibt zwischen Chaos und Konkretheit, zwischen Vorform und Form. Wie menschlich oder nichtmenschlich ist die Existenz des Golems zwischen ­Vorleben und Leben? Prigov vergleicht die Erfahrung, ein Golem zu sein, mit einem em­bryonalen Stadium: Возможно, это некое подобие предбытия младенца в материнской утробе. Чудовище ли – человек до своего явления на этот свет? Ну, чудовище в этом узком и специфическом смысле. (Prigov 2007, 316) Möglicherweise lässt es sich mit dem Vor-Sein des Säuglings im Mutterschoß vergleichen. Ist der Mensch ein Ungeheuer vor seinem Erscheinen auf dieser Welt? Nun, ein Ungeheuer eben in diesem engen und spezifischen Sinn.

Mit der Vorstellung vom Menschen als einem Ungeheuer, das sich während seiner Lebenszeit erst als Mensch realisiert, spielt Prigov auf einen Topos der Anthropologie an, wie er etwa in Gehlens Begriff des Menschen als Mängelwesen zum Ausdruck kommt. Der ‚Lebenszyklus‘ des golem sovieticus unterscheidet sich jedoch von dem des Menschen, einem Zyklus mit Geburt, Leben und Tod. Prigovs Golem wird weder sexuell empfangen, noch verlässt er seine eingekapselte embryonische Hülle, noch lässt sich seine Deaktivierung als Tod bezeichnen. Der Golem wird weder geboren noch produziert. Es gibt keinen Initialpunkt für sein Entstehen, es bleibt unklar, wann der Moment seines „Erdachtseins, seiner ontologischen Bekanntgabe“ (s. o.) stattfinden soll – mit dem Auftragen des Tetragramms, mit der Fertigstellung des Kostüms, mit dem Beginn der Performance oder mit ihrer Konzeption? Der Moment der Animation verläuft auch nicht streng nach der in Kapitel 3.1.1 betrachteten Poetik der Benennung: Der Golem wird mit dem Tetragramm nicht benannt, sondern mit einem Zeichen beschriftet, das sein Verhalten prägt. Der Schriftzug dient als ontologischer Schalter, der den Golem ein- bzw. ausschaltet. Der titelgebende „Abschied“ von der Sowjetunion ist eine endgültige ‚Abschaltung‘. Hier gibt es

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kein untotes Leben, sondern ein binäres Set von zwei möglichen Zuständen – lebendig oder tot. Die alternative Denkweise von Lebensbeginn und -ende, die die Performance gezeigt hat, wird in ihrer Bedeutung für das autobiographische Erzählen im nächsten Kapitel entscheidend sein.

4 Ž  ivite v Moskve (Lebt in Moskau, 2000): ­Zoegraphie und Autobiographie Mit der Veröffentlichung von Moskau im Jahr 2000 beginnt eine neue Phase in Prigovs Werk, die in den kommenden vier Kapiteln eingehend untersucht werden soll. Im Alter von knapp 60 Jahren schreibt Prigov seinen ersten Roman und kündigt zwei weitere Teile einer Trilogie an. Im folgenden Teilkapitel 4.1 sollen die poetologischen Grundideen des Romanprojekts dargestellt werden. Daran knüpft eine Lektüre von Moskau als zoegraphischer Autobiographie an.

4.1 D  as Romanprojekt „aufrichtiger“ Genres und die „neue Anthropologie“ 4.1.1 Von der Poesie der „neuen Aufrichtigkeit“ zur „aufrichtigen“ Prosa Das Projekt einer Romantrilogie kündigt Prigov als eine Bearbeitung etablierter ­Gattungen an. So heißt es beispielsweise im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Moskau, что этот роман является первой частью трилогии, посвященной испытанию трех типов искреннего европейского письма  – Мемуары, Записки путешественника и Исповедь (последняя часть еще не опубликована)1 daß es sich bei diesem Roman um den ersten Teil einer Trilogie handelt (der letzte Teil ist bislang nicht veröffentlicht), in der die drei Grundformen authentischen europäischen Schreibens  – Memoiren, Reisebericht und Confession – durchgespielt werden.2

Im Vergleich zu den Gattungen, die Prigovs Lyrik adaptiert, also etwa das Bestiarium (Bestiarij) und das Alphabetgedicht („azbuka“), sind die genannten Romangenres his­ torisch verhältnismäßig neu. Prigov beruft sich auf Gattungen, die im achtzehnten Jahrhundert das anthropologische Projekt des „ganzen Menschen“ mitkonstituiert haben.3 Bereits um 1800 in der Krise, steht diese Ganzheit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts

1 Prigov, Dmitrij A.: „Nebol’šoe zamečanie k nemecko-jazyčnomu izdaniju“, unveröffentlichtes ­Manuskript zur Übersetzung ins Deutsche, 2003. 2 Prigow, Dmitri: Lebt in Moskau, aus d. Russ. v. Erich Klein und Susanne Macht, Wien/Bozen: Folio, 2003, 5. 3 Vgl. zum Projekt des „ganzen Menschen“ und der Autobiographie als literarischer Anthropologie im achtzehnten Jahrhundert: Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart: Metzler, 1987, 1–28; Schings, Hans-Jürgen: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert; DFG-Symposion 1992, Stuttgart: Metzler, 1994. https://doi.org/10.1515/9783110602494-004

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nicht mehr im Zentrum des Romans. Die Lektüre von Moskau in diesem Kapitel fragt ­danach, wie sich ein „aufrichtiger“ Roman ohne den Fixpunkt des Menschen schreiben lässt. Das Wort Aufrichtigkeit ist in Prigovs Jargon nicht neu. Ungefähr zur selben Zeit, als amerikanische Autoren eine „new sincerity“ proklamieren,4 beginnt Prigov von „neuer Aufrichtigkeit“ („novaja iskrennost’“) zu sprechen.5 Der Band Novaja iskrennost’ (1986) gibt eine Definition: Поэт, как и читатель, всегда искренен в самом себе. Эти стихи взывают к искренности общения, они знаки ситуации искренности со всем пониманием условностей как зоны, так и знаков ее проявления. (SPKRV, 171) Der Dichter, wie auch der Leser, ist immer in sich selbst aufrichtig. Diese Verse rufen zur Aufrichtigkeit der Kommunikation auf, sie sind Zeichen einer Aufrichtigkeitssituation unter vollständigem Verständnis der Konventionen der Zone sowie der Zeichen ihres Erscheinens.

Prigovs Lyrik hat kein aufrichtig sprechendes Subjekt, sondern analysiert „Aufrichtigkeitssituationen“, die in der Kommunikation zwischen Dichter und Leser entstehen sollen. Mit dem Projekt des „aufrichtigen Schreibens“ überträgt Prigov die in den 1980er Jahren ausgerufene Poetik auf lange Prosa. Die Prosaerzähler in Prigovs Romanen erfüllen dabei lediglich die pragmatischen Minimalbedingungen einer „Aufrichtig­ keitssituation“: Hier schreibt ein Ich, erinnert sich an Ereignisse, und es wendet sich an eine Leserschaft. Dieses Publikum ist Ende der 1990er Jahre, als die Romane im namhaften Verlag NLO und teilweise in Zeitschriften erscheinen, zweifellos ein anderes als zu Zeiten des sowjetischen Untergrunds. Aufrichtigkeit bzw. die aufrichtige Aussage hat für Prigov zwei Dimensionen: Als soziokulturell konstruiertes Verhalten und als Referenz auf ein „unartikuliertes Prinzip, allgemeinmenschlich oder unartikuliert“ („некое неартикулируемое уже начало, общечеловеческое или доартикуляционное“ Prigov/Ėpštejn 2010, 69). Das sprechende Ich kann sich immer nur auf

4 Ellen Rutten widmet Prigov in ihrer Monographie zur Kulturgeschichte der Aufrichtigkeit nach dem Kommunismus ein Kapitel, das seine Strategie in Zusammenhang mit anderen Autoren inoffizieller Kunst stellt, aber auch mit konservativen Strömungen der 2000er Jahre vergleicht (Philosoph Aleksandr Dugin spricht von einer „neuen Ernsthaftigkeit“ und einer russischen Kunst ohne Ironie). Vgl. Rutten, Ellen: Sincerity after communism: A cultural history, New Haven: Yale University Press, 2017, 92–121; hier 114. Rutten ist die Rekonstruktion der sowjetisch-amerikanischen Koemergenz von „novaja iskrennost’“ und „new sincerity“ zu verdanken: 1985, ein Jahr nachdem der Musikkritiker Jesse Subletts eine Reihe texanischer Punkbands mit dem Etikett versehen hat, benutzt Prigov den Begriff zum ersten Mal in einem Gespräch mit Sorokin; vgl. ebd., 81 f. 5 Der Begriff „novaja iskrennost’“ ist nicht nur bei anderen Dichtern der 1980er als diskursiver Einsatz ‚nach der Postmoderne‘ sehr erfolgreich, sondern ist auch bereits von der Forschung ausführlich besprochen und eingeordnet worden, was Prigovs eigene Arbeit betrifft. Zu Prigovs Begriff und Timur Kibirovs „postkonzeptualistischer“ Lyrik vgl. Epstein, Mikhail: „On the place of postmodernism in postmodernity“, in: ders. et al. (Hg.): Russian postmodernism. New perspectives on post-Soviet culture, New York [u. a.]: Berghahn Books, 1999, 456–468; 457.



Das Romanprojekt „aufrichtiger“ Genres und die „neue Anthropologie“  

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sozial bedingte Situationen der Aufrichtigkeit beziehen. Allerdings interferiert es mit dem zweiten, vor- oder unartikulierten Modus (Prigov vermeidet hier Begriffe wie ‚Seele‘ oder ‚Unbewusstes‘): Es nimmt an ihm in der Dynamik des „mercanie“ („Schimmerns“) teil. Hier sei auf eine verbreitete Etymologie von ‚iskrennost’‘ hingewiesen: Max Vasmer nimmt eine Beziehung zwischen ‚iskrennost’‘ und dem altrussischen ‚­iskren‘ (‚nah‘) an, das auf ‚koren’‘ (‚Wurzel‘) zurückgeht.6 Im Gegensatz zum Deutschen und Englischen bzw. den romanischen Sprachen ist im Wort eine Naturmetapher enthalten, eine Nähe zu einem Ursprünglichen. Die Frage der Aufrichtigkeit lässt sich für Prigov nicht vom Problem der Nomination trennen: Welche aufrichtige Aussage macht ein Name über eine Person? Und wie verhält es sich umgekehrt mit einem ‚falschen‘ Namen? Im Essay Samo-identi-zvanstvo (Selbst-identi-ernennung, 2001) widmet sich Prigov der Tradition des samozvanstvo. Die Figur des samozvanec (‚Selbsternenner‘, ‚Prätendent‘) usurpiert einen fremden Namen. Der popkulturelle Wiedergänger des falschen Demetrius (Lžedmitrij) wird im zwanzigsten Jahrhundert die Figur des sowjetischen Agenten Stierlitz aus der Fernsehserie Semnadcat’ mgnovenij vesny (Siebzehn Augenblicke des Frühlings, 1973), der in den letzten Kriegstagen in der SS spioniert. Stierlitz, der in verschiedenen Gedichtzyklen figuriert, verkörpert für Prigov das Doppelwesen par excellence: Er ist gleichzeitig Ideal der faschistischen und der sowjetischen Anthropologie, weil er den Übergang vom einen ins andere mit größter Leichtigkeit vollzieht. Er ist ein „unmöglicher Held im Rahmen festgezurrter ontologischer Identifikationspositionen“ („невозможный герой в пределах жестко укрепленных онтологических идентификационных позиций“).7 Für Smirnov erlaubt die Kraft des Namens dem samozvanec, sich den Namen derjeniger anzueignen, die nicht mehr am Leben sind, aber bereits zur Metempsychose fähig.8 Prigov weitet diese Idee jenseits des menschlichen Namens aus: Kann ein Mensch eine nichtmenschliche Identität usurpieren? Gibt es also eine nichtanthropomorphe Variante der Selbsternennung? Prigov benutzt das Beispiel des Werwolfs. Diese tierische Variante des samozvanec führte в области зооморфного, и дальше, дальше  – в каменноугольные пласты и газовые фракции, подтверждая всеобщую метаморфозмичность универсума, не оставляя ни малейшей возможности, если и не свободы выбора, то обнаружения остатков рефлективного самосознания на всех гранях и ступенях этой трансформации. (Prigov 2001, 344)

6 Vgl. Fasmer, Maks [Vasmer, Max]: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka, T. 2, Moskva: Progress, 1986, 140–141. 7 Prigov, Dmitrij A. [2001]: „Samo-identi-zvanstvo“, in: SoSo 1, 340–354; 347. 8 „[С]ила имени позволяет занять место того, кого уже нет в живых, но кто оказывается способным к метемпсихозу.“ Smirnov, Igor’ P.: „Samozvanstvo i filosofija imeni“, in Zvezda 3/2004, 197–202; 199.

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in den Bereich des Zoomorphen, und weiter, weiter – in Karbonschichten und Gasfraktionen, als Bekräftigung der allgemeinen Metamorphotizität des Universums, ohne die geringste Möglichkeit zuzulassen, wenn nicht zur Freiheit der Wahl, dann zur Identifizierbarkeit eines selbstreflektiven Bewusstseins auf allen Rändern und Stufen dieser Transformation.

Die Vorstellung, die Identität des Ichs in nichtmenschliche Bereiche zu erweitern, wird in Renat behandelt (vgl. Kap. 5.5). In (auto-)biographischer Prosa scheint diese Vorstellung fehl am Platz zu sein, ist sie doch ein Gegenstand der Phantastik.9 Prigov spekuliert darüber in seinem Essay lediglich, ohne sich weiter damit beschäftigen zu wollen. Es geht ihm nicht um die buchstäbliche Identifikation mit Hybridwesen, sondern um eine abstrakte Form der „aufrichtigen“ Rede bzw. der künstlerischen Identifikation. Dazu muss eine Form des „tiefen genetischen Gedächtnisses“ mobilisiert werden, die sich auf die vormenschliche Existenz bezieht und im Bereich der Kultur „eine Gestalt jenseits des Menschlichen, des Untermenschlichen und des Menschliches Übersteigenden annimmt“.10 Dieses Gedächtnis des Vormenschlichen spielt eine zentrale Rolle im Roman Moskau. Prigovs künstlerische Identität ist untrennbar mit dem eigenen Namen Prigov verbunden. Den Neologismus des „samo-identi-zvanstvo“ entwickelt er als poetologische Figur, was nicht mit einer künstlerischen Strategie zu verwechseln ist. Prigov schreibt nicht unter fremdem Namen. Der einzige Posten in seiner Bibliographie, auf dem nicht „Dmitrij Aleksandrovič Prigov“ oder „DAP“ als Autorname firmiert, ist ein Text aus dem Jahr 1997, den er unter dem Pseudonym „Invard Vojs“ (die russische Transliteration von ‚inward voice‘ für die göttliche innere Stimme) veröffentlicht hat.11 Der Essay Mužajtes’, brat’ja! (Nur Mut, Brüder!) dreht sich um die im Sommer des Jahres bei der Flucht vor Fotografen verunglückte britische Prinzessin Diana. Hier illustriert Prigov das Problem der neuen Anthropologie an der Existenz des Individuums in den Massenmedien: Indem Diana vor den Fotografen flieht, versuche sie eine ontologische

9 Vgl. dazu Renate Lachmanns These von einer „Anti-Anthropologie“ des Phantastischen: „Die Wandlungen von lebendig in tot – und umgekehrt, von menschlich in nicht-menschlich, in Mineral, Pflanze, Tier oder Stern, wie sie entweder von Göttern oder Magiern verursacht werden oder einem inneren Impuls des Menschen folgend sich vollziehen, sind vom phantastischen Text spektakulär in Gang gesetzte Grenzüberschreitungen, die der Text selbst als Beunruhigung der Ordnung, Inversion geltender Annahmen über die menschliche Natur vorführt.“ Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt: Suhrkamp, 2002, 7. 10 „Идентификация себя с доплеменными прародителями. Либо это глубинная генетическая память, по дарвинской теории о дочеловеческом существовании, что в культуре принимает вид зачеловеческоrо, недочеловеческоrо и превышающего человеческое“, Prigov/Balabanova 2001, 111. 11 Vojs, Invard: „Mužajtes’, brat’ja“, in: Mesto pečati 10 (1997), 10–20. Allerdings hat Prigov dem Aufsatztyposkript mittels handschriftlicher Signatur den eigenen Namen hinzugefügt. Vgl. Obermayr, Brigitte: „P-rigov wie P-uškin. Demystifikation der Autorfunktion bei D. A. Prigov“, in: Frank, Susi et al. (Hg.): Mystifikation – Autorschaft – Original. Tübingen: Narr, 2001, 283–311; 309.



Das Romanprojekt „aufrichtiger“ Genres und die „neue Anthropologie“  

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Grenze zwischen Bild und Körper zu überschreiten, gleichzeitig „sichtbar“ und „unsichtbar“ zu sein. Zu diesem Schritt, so die Argumentation Prigovs, ist sie nicht fähig. Die „arme, schwache, normal-anthropoide Göttin Diana“ („бедная, слабая нормально-антропоидная богиня Диана“, Vojs 1997, 19) wird zur paradoxen Verkörperung einer nicht mehr verkörperbaren anthropologischen Identität, die für ihr Insistieren auf „Aufrichtigkeit“, auf dem nichtmedialisierten Körper, für die Flucht vor ihrer virtuellen Projektion ihr Leben lässt. Umso treffender fügt sich die Wahl des Pseudonyms in  die Stoßrichtung des Essays: Eine „innere Stimme“ verkündet  – schriftlich maskiert – die Absage an jede Identifizierbarkeit einer einzelnen Stimme, eines einzelnen Körpers mit einem Menschen, desavouiert die direkte Aufrichtigkeit.12

4.1.2 Pränatales Romangedächtnis (Augustinus, Tolstoj, Belyj, Nabokov) Jampol’skij hat Moskau als „Pseudo-Memoiren“ bezeichnet. Das impliziert ein Moment der Fälschung und ist im Hinblick auf die empirischen Lebensereignisse nicht ganz richtig. Hier erinnert sich ein Ich-Erzähler an Erlebnisse aus der ersten Lebenshälfte, die sich in ihrer Faktizität durch andere Dokumente bestätigen lassen. Die realistische Erzählung ist allerdings phantastischen Digressionen ausgesetzt. Diese werden vor allem durch die Struktur des Romans begrenzt bzw. eingehegt: Der Text beginnt mit einem preduvedomlenie, es folgen durchnummerierte Kapitel „Moskva-1“ bis „Moskva-6“ (im Folgenden mit Abkürzungen bezeichnet), wobei zwischen M-3 und M-4 das Kapitel „Milicaner moskovskij“ („Der Moskauer Milizionär“) eingefügt ist. Alle Kapitel außer letzterem beginnen mit einer Reflexion über Erinnerung, Gedächtnis und Erzählung und knüpfen an zentrale europäische Diskurse von Romanpoetik und Autobiographietheorie an. Eine Art Schlüssel zu diesen regelmäßig in den wuchernden Text eingeflochtenen, ordnenden Reflexionen bildet eine weitere, dem Text später für die deutsche Übersetzung vorangestellte Bemerkung: И все здесь представленное и описанное, опять-таки, мне самому представляется почти что древне-ассирийски удаленным и уже, практически, нераспознаваемым, выводимым наружу разве только некими неимоверными усилиями из архаических пластов пренатальной жизни. Сам удивляюсь – неужели я жил там, чувствовал и страдал?! Не верится! А ведь жил. (Prigov 2003)

12 In den publizierten Romanen kommt der Name D. A. Prigov – abgesehen vom Titel – nicht vor. Während in Moskau und Renat das kindliche Ich „Dima“ heißt, geben die erwachsenen Ich-Erzähler nur Fremdbenennungen wieder („Dichter Prigov“ in Moskau, „Domitori Porigov“ in Japan). In einem Manuskript von Renat dagegen wird von Prigov als dem Autor des Romans „Živite v Moskve“ gesprochen. Im unvollendeten und posthum veröffentlichten Manuskript von Kreatur kommt der Name mehrfach vor. Es handelt sich in diesem Text um den höchsten Grad nomineller Aufrichtigkeit, zu dem Prigov in seinem Romanprojekt bereit ist (siehe Kap 7.2).

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Alles, was hier dargestellt und beschrieben ist, kommt auch mir derart entfernt vor, als stamme es von den alten Assyrern; es ist wie etwas praktisch nicht mehr Wiedererkennbares, das sich höchstens unter größten Anstrengungen aus den archaischen Schichten des pränatalen Lebens an die Oberfläche holen lässt. Ich wundere mich selbst: Habe tatsächlich ich dort gelebt, gefühlt und gelitten? Kaum zu glauben! Dennoch – ich habe da gelebt.

Prigovs Appell an die pränatalen Schichten der Erinnerung schließt an einen philosophischen und an einen im engeren Sinne romanzentrierten Diskurs des pränatalen Gedächtnisses an. Sie verdienen an dieser Stelle einen Exkurs. Platons Phaidon thematisiert die Frage nach der Präexistenz der Seele: Besteht sie bereits vor dem Körper oder kommt sie im Moment der Geburt mit dem Körper auf die Welt? Platons Dialogpartner verwerfen letztere Option und entscheiden sich für die pränatale Existenz der Seele.13 Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer Theorie des pränatalen Gedächtnisses. Augustinus macht in seinen Confessiones davon Gebrauch: Denn was anderes will ich denn sagen, Herr, als daß ich nicht weiß, wie ich hierhergekommen bin, ich meine: in dieses tödliche Leben, in diesen lebendigen Tod? (I.6.7) […] Sage du mir, Gott, ich bitte dich inständig, […] ob meiner Kindheit ein anderer, bereits abgelaufener Lebensabschnitt vorausging. War es der, den ich im Leib meiner Mutter zubrachte? Denn auch darüber wurde mir einiges erzählt, und schwangere Frauen habe ich selbst gesehen. Aber davor, meine Wonne, mein Gott, war ich da irgendwo und irgendwer? Ich habe niemanden, der mir das sagen könnte. Das könnten weder Vater noch Mutter, weder die Erfahrung mit anderen noch mein Gedächtnis. (I.6.9.)14

Der Autobiograph kann sich genauso wenig an die eigene Geburt wie an Zeugungsakt oder die embryonale Existenz erinnern. Nur fremde Erzählungen geben darüber Auskunft. Der natürliche Anfang des Lebens ist damit ein Punkt, dessen Kontingenz kulturelle Begriffe von Geburt nur reduzieren können.15 Für das Schreiben einer Autobiographie, das textuelle Erinnern, bleibt die Geburt ein unbestimmter Anfang, der nach Sinn verlangt. Vladimir Nabokov hat dies im Vorwort zu seinen Memoiren Drugie berega (Andere Ufer16, 1938) zum zentralen Problem der Erinnerung und damit der Autobiographie der Moderne gemacht:

13 Platon: Politeia, 76d/e. 14 Augustinus: Confessiones, I.6.9. 15 Vgl. zum „fremden Beginn des eigenen Lebens“ und der infantia in den Confessiones: Moser, Christian: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen: Niemeyer, 2006, 437–443. 16 Im Deutschen bekannt in der Übersetzung der englischen Fassung von 1966 (Speak, Memory; Erinnerung, sprich). Nabokov, Vladimir: Gesammelte Werke, Bd. 22: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie, hg. und aus d. Engl. v. Dieter E. Zimmer, Reinbek: Rowohlt, 1991.



Das Romanprojekt „aufrichtiger“ Genres und die „neue Anthropologie“  

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Заглушая шепот вдохновенных суеверий, здравый смысл говорит нам, что жизнь — только щель слабого света между двумя идеально черными вечностями. Разницы в их черноте нет никакой, но в бездну преджизненную нам свойственно вглядываться с меньшим смятением, чем в ту, в которой летим со скоростью четырех тысяч пятисот ударов сердца в час.17 Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, daß unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist. Obschon die beiden eineiige Zwillinge sind, betrachtet man in der Regel den Abgrund vor der Geburt mit größerer Gelassenheit als jenen anderen, dem man (mit etwa viereinhalbtausend Herzschlägen in der Stunde) entgegeneilt. (Nabokov 1991, 19)

„Vorlebens-Abgrund“ („bezdna predžiznennaja“) nennt er jenen Bereich, auf den die autobiographische Spekulation über eine Präexistenz des Ichs zielt. Das Phantasma einer pränatalen und posthumen Persönlichkeit treibt den Erzähler, der aber daran scheitert, auch nur den „allerschwächsten persönlichen Lichtschimmer in der unpersönlichen Dunkelheit auf beiden Seiten meines Lebens wahrzunehmen“ („стараясь высмотреть малейший луч личного среди безличной тьмы по оба предела жизни“, Nabokov 1991, 20; Nabokov 2000, 148). Die geschriebene Autobiographie ist also bei Nabokov ein Text, der aus einer Begrenzung von Imagination und Spekulation entstanden ist. Das Pathos der imaginativen Überschreitung der Grenze zum „Vorleben“ prägt auch Andrej Belyjs Ich-Erzähler im Roman Kotik Letaev (1922).18 Der sich erinnernde Ich-Erzähler, dessen Kosename Kotik („Katerchen“) lautet, blickt durch das Prisma der Kindheit auf die pränatale Existenz und fügt damit die Erinnerung in einen kosmologischen Zusammenhang. In teilweise wörtlichen Wiederholungen ruft er einen Raum vor der Geburt an: Впечатления  – воспоминания мне моей мимики в стране жизни ритмов, где я был до рождения. (Belyj 1997, 70) Meine Eindrücke aber sind mimische Erinnerungen an das Land, wo die Rhythmen leben, das Land, wo ich war vor der Geburt.19

Die Erinnerung scheint hier mit einem Rückwärtsvektor ausgestattet zu sein. Ihre ­Erzählung ist Mimesis an das, was noch nicht Leben geworden ist. Die Polarität zwischen „werdendem“ und „gewordenem“ Leben prägt Belyjs Text. Seine andernorts

17 Nabokov, Vladimir V.: Sobranie sočinenij russkogo perioda v pjati tomach, T. 5: 1938–1977: Volšebnik. Solus Rex. Drugie berega. Rasskazy. Stichotvorenija. Dramatičeskie proizvedenija. Ėsse. Recenzii, hg. v. M. V. Kozikov, Sankt-Peterburg: Simpozium, 2000, 141–335; 148. 18 Belyj, Andrej: Kotik Letaev, in: ders.: Sobranie sočinenij, T. 3, Obšč. red. i sost. V. M. Piskunova, Moskva: Respublika, 1997, 22–155. 19 Belyj, Andrej: Kotik Letaew, aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, Frankfurt: Fischer, 1993, 84.

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entwickelte Rhythmus-Theorie wird hier zum autobiographischen Verfahren: Der ­Lebensanfang ist nur aus dem Vorher erzählbar, der Ich-Erzähler kehrt rhythmischprosaisiert in das Land vor der Geburt zurück, das wiederum als ein Phantasma rhythmischer Bewegungen beschrieben wird. Belyj hat seinem Roman ein Zitat aus Lev Tolstojs Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1865–1869) programmatisch vorangestellt (Belyj 1997, 24).20 Im Gespräch über Metempsychose und die Unsterblichkeit der Seele lehnt Nataša die Präexistenz als Tier ab, wie sie in der ägyptischen Kultur verbreitet war, und glaubt stattdessen an ein Leben als Engel vor der Geburt, als ein körperloses Wesen:21 – Знаешь, я думаю,  – сказала Наташа шепотом, […] что когда так вспоминаешь, вспоминаешь, все вспоминаешь, до того довспоминаешься, что помнишь то, чтó было еще прежде, чем я была на свете. Wißt ihr, ich glaube, […] wenn man sich so erinnert und erinnert und immer weiter erinnert, dann bringt man es schließlich in der Erinnerung so weit, daß man sich an das erinnert, was geschehen ist, ehe man noch auf der Welt war.22

Tolstojs Verb „sich hinerinnern“ („dovospominat’sja“) dehnt den innerlichen Erinnerungsakt in Richtung eines unbestimmten Vorraums des Lebens aus.23 Prigovs Formulierung, das Erzählte erscheine wie aus den „archaischen Schichten des pränatalen Lebens hervorgeholt“, schlägt die umgekehrte Richtung ein. Das Erzählen wird in diesem Bild zu einer Archäologie der noch nicht zum bios gewordenen zoe.

20 Il’ja Kukulin hat diesen intertextuellen Bezug zuerst gesehen, allerdings ohne auf die Semantik der Geburt einzugehen. Vgl. Kukulin 2010, 586–592. 21 Vgl. Tolstoj, Lev N.: Vojna i mir. Sobranie sočinenij v 22 t., T. 5 (2), Moskva: Chudožestvennaja literatura, 1951, 287 f. 22 Tolstoi, Leo N.: Krieg und Frieden. Ein Roman in fünfzehn Teilen mit einem Epilog, Bd. 2, aus d. Russ. v. Hermann Röhl, Leipzig: Insel, 1922, 440. 23 Tolstoj hat das Thema des Romandialogs später in seinen Tagebuchmemoiren Moja žizn’ in der ersten Person formuliert: „Wann habe ich begonnen? Begonnen zu leben? Und warum bereitet es mir Freude mich mir damals vorzustellen, war es doch furchtbar; wie sich auch jetzt viele davor fürchten, sich den Moment vorzustellen, da ich wieder in jenen Zustand des Todes eintreten werde, von dem es keine Erinnerungen gibt, der sich nicht in Worten ausdrücken lässt?“ („Когда же я начался? Когда начал жить? И почему мне радостно представлять себя тогда, а бывало страшно; как и теперь страшно многим, представить себя тогда, когда я опять вступлю в то состояние смерти, от которого не будет воспоминаний, выразимых словами?“ Tolstoj, Lev N.: Sobranie sočinenij v 22 t., T. 10, Moskva: Chudožestvennaja literatura, 1982, 499). Vgl. dazu Paperno, Irina: „Who, what am I?“ Tolstoy struggles to narrate the self, Ithaca [u. a.]: Cornell University Press, 2014, 86: „Like Augustine before him, Tolstoy, a modern man, took the limitations of his memory not as a psychological phenomenon in need of analysis (as Freud would) but as a distant echo of the condition that the ‘I’ inhabited before birth and would inhabit at the other end.“



Das Romanprojekt „aufrichtiger“ Genres und die „neue Anthropologie“  

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4.1.3 Grenzen des Lebens, Generation und Population Prigovs autobiographische Strategie versucht nicht, über die Geburt und den Tod ­hinauszublicken. Der (auto-)biographische Text von Moskau steht nicht im Zeichen des „ganzen Lebens“. Die Grenzen des bios, Anfang und Ende, können den zoegraphischen Text nicht begrenzen. Was sie betrifft, lohnt sich ein Blick zurück auf die in Kapitel  3.3 dargestellten Thesen zur neuen Anthropologie. Schließlich muss sich Prigov an seinen theoretischen Postulaten messen lassen: Wie schreibt man eine „neuanthropologische“ Autobiographie? Im Gespräch mit Balabanova bemerkt Prigov, für die durch technische Machbarkeit neu denkbaren Lebensformen bedürfe es einer Art neuer Philosophie des Lebens. Er spricht von einer Aufhebung der Grenzen des ­Lebens: Но вся человеческая культура возникла в напряжении между тремя экзистенциалами человеческой жизни: рождение, созревание (инициация) и смерть. (Prigov/Balabanova 2001, 153) Doch die ganze menschliche Kultur ist im Spannungsfeld zwischen drei Existenzialen des menschlichen Lebens entstanden: Geburt, Heranwachsen (Initiation) und Tod.

Gleich wie Prigov die entscheidenden Punkte des Lebens nennt – an anderer Stelle ist von drei „Existemen“ und „Traumata“ die Rede –,24 diese Begrenzung entfällt an jenem Punkt, da Lebewesen nicht mehr durch natürliche Zeugung und Tod kommen und gehen, sondern wo Leben als biologisches oder virtuelles Programm auf Träger übertragen und von ihnen gelöscht werden kann.25 Das Entstehen und Verlöschen von Populationen und Generationen ist ein zentrales Thema des Romans Moskau. Es lässt auf ein jenseits von Kategorien wie individuell und kollektiv bzw. onto- und phylogenetisch gedachtes Konzept der Generation schließen. Auf den Begriff der Generation greift Prigov in Essays und Interviews systematisch

24 „Как известно, вся мировая культура и все мировые культуры построены, зиждутся, как бы подвешены, как на неких столпах, на трех основных экзистемах  – травма рождения, травма взросления и травма смерти.“ („Bekanntermaßen beruhen die gesamte Weltkultur und alle Weltkulturen, als seien sie daran befestigt, wie auf Säulen, auf drei Grundexistemen – dem Trauma der Geburt, dem Trauma des Erwachsenwerdens und dem Trauma des Todes.“ Prigov, Dmitrij A.: „My o tom, čego skazat’ nel’zja“, in: Topos. Literaturno-filosofskij žurnal, 18.6. 2006, http://www.topos. ru/article/4758?page=2). 25 Darin unterscheidet sich Prigovs Denken der Aufhebung der Grenzen von Geburt und Tod vom christologischen Projekt des ewigen Lebens. Wie Oleg Aronson bei der 5. Prigov-Konferenz 2015 formuliert hat: „Смерть в новой антропологии не отменяется в том смысле, что мы будем жить вечно. Смерть перестанет быть ценностью, тем что связывает нас с миром трансцендентности.“ („Der Tod in der neuen Anthropologie ist nicht in dem Sinn aufgehoben, dass wir ewig leben werden. Der Tod hört auf ein Wert zu sein, der uns mit der Welt der Transzendenz verbindet,“ privates Protokoll, 7. November 2015).

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zurück. Mit dem zwanzigsten Jahrhundert kommt es für ihn zu einem Auseinanderdriften von biologischen und kulturellen Generationen: Während in vormodernen ­Zeiten mehrere biologische Generationen eine kulturelle teilten, so seine Hypothese, beträgt in der Gegenwart die Dauer einer kulturellen Generation nur noch sieben bis zehn Jahre.26 Sigrid Weigel hat gezeigt, wie die Wortgeschichte von ‚Generation‘  die beiden Pragmatiken des lateinischen ‚generatio‘  – Erzeugung und Erzeugtes –  bewahrt hat: im Sinne von Zeugung und Fortzeugung.27 An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die etymologischen Besonderheiten der Begriffe im Russischen: Während Generation von ‚generatio‘ bzw. ‚genus‘ ([Er-]zeugung, Gattung) stammt, beinhaltet ‚pokolenie‘ den altslawischen Stamm ‚kolěno‘ (der zunächst ‚Glied‘, dann erst ‚Stamm‘ oder ‚Geschlecht‘ bedeutet). Eine ähnliche Differenz weist der Begriff des Alters auf, auf den Prigov immer wieder zurückkommt. Während ‚Alter‘ (ähnlich wie lat. ‚aetas‘, engl. ‚age‘, franz. ‚âge‘) die gelebte Zeit impliziert, trägt ‚vozrast‘ eine Semantik des Wachsens (oder ‚Herauswachsens‘) in sich. Wenn Prigov von „pokolenie“ und „vozrast“ spricht, ruft er eine komplexe Bedeutungstradition genealogischer und antigenealo­ gischer Modelle zwischen Natur und Kultur auf. Im Essay Žizn’ daetsja odin raz (Das Leben ist einem nur einmal gegeben, 2002) betont Prigov die entscheidende Rolle, die der Geburtsort Moskau und das Geburtsjahr 1940 für die Entwicklung seiner künst­ lerischen Identität gespielt hat. Es geht ihm dabei um das Zusammenfallen der physischen Geburt mit einer bestimmten kulturellen Situation. Geburt, Generation und Lebensalter besitzen eine natürliche und eine kulturelle Seite, sie gehören der Bio- und der Semiosphäre an. Für das Ende der Sowjetunion diagnostiziert Prigov ein eigentümliches Auseinanderfallen der natürlichen, kulturellen und ästhetischen „Alter“: И если к моменту открытия общества […] мой физиологический возраст был возрастом стареющего мужчины, если творческий возраст был почти возрастом завершения построения собственного мифа и системы, то культурный был просто ничтожным, а возраст социальный – подростковым.28 Und wenn bei der Öffnung der Gesellschaft […] mein physiologisches Alter das eines alternden Mannes war, wenn mein schöpferisches Alter fast das beim Abschluss des Aufbaus des eigenen Mythos und Systems war, dann war das kulturelle fast nichtig, und das soziale Alter das eines Heranwachsenden.

26 Prigov, Dmitrij A.: „Gde ty, gde ty, matuška-sovremennost’!“, in Chudožestvennyj žurnal 64 (2007), http://xz.gif.ru/numbers/64/prigov/. 27 Vgl. Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Natur­wissenschaften, München: Fink, 2006, 10 f. 28 Prigov, Dmitrij A.: „Žizn’ daetsja odin raz“, in: Chudožestvennyj žurnal 45 (2002), http://xz.gif. ru/numbers/45/prigov/. Der Titel spielt auf einen Satz aus Ostrovskijs Kak zakaljalas’ stal’ (Wie der Stahl gehärtet wurde, 1934) an, der in einem von Prigovs Stichogrammy auftritt: Darin nimmt das wiederholte, aneinander gereihte Zitat die Gestalt eines Körpers ohne Kopf an und spielt so auf eine die Physiognomie erschöpfende Lebensökonomie des stalinistischen Romans an.



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Ein Mensch kann mehreren Altern angehören, die mit gezählter Lebenszeit nichts zu tun haben. Die zeitliche Komponente des Lebensalters ist hier suspendiert. Die zoegraphische Autobiographie gründet nicht auf einer Konstruktion des Anfangs, der Geburt, des individuellen Lebensbeginns. Stattdessen verfolgt sie eine Archäologie der Stadien vor dem Leben. Das eigentliche Zur-Welt-Kommen, die Genese des individuellen Menschen hat dafür keine Relevanz. So ist Prigovs autobiographische ­Poetik vor dem Hintergrund seiner Konzeption des indirekten Demiurgen zu sehen. Dieser schafft ja nicht individuelle Texte, sondern ein Nährmedium für ihr Entstehen (vgl. Kap. 3.1). Der Gedanke von Natalität als kultureller oder kreativer Anfänglichkeit wird in letzter Zeit von einigen literaturwissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten diskutiert. Aage Hansen-Löve spricht vom modernen Phänomen „antigenerischen“ bzw. „antinatalen“ Schreibens, in dem Geburt als Schöpfungsmetapher durch Metaphern der Adoption, Missgeburt etc. abgelöst wird  – seine (Miss-)Geburtsstunde ist in Sternes Tristram Shandy (1759–1767) zu suchen, dessen digressive Verfahren Prigovs Romane adaptieren.29 Seine Literatur unter den Bedingungen „neuer Anthropologie“ arbeitet nicht gegen das Natale, sondern nach dem Natalen. So ließe sich zu Smirnovs Verdikt über Prigov als Verkörperung einer „Misswiedergeburt des Autors“30 nach der Postmoderne hinzufügen: Diese Wiederkehr bezieht sowohl ihr Handicap als auch ihr epistemologisches Potenzial daraus, dass sie als Reinkarnation ohne Geburt verläuft.31 Dieses Denken hat seinen Höhepunkt in der klassischen Moderne, so bezeichnet etwa Vasilij Rozanov das Genie als „kinderlos“ und spricht ihm die Fähigkeit zu „gebären“ ab.32 Ähnliches gilt für den Tod: Moskau ist keine Autobiographie vom Ende her oder auf das Ende hin, kein thanatopoetischer oder thanatographischer Text.33 Analog

29 Wobei Hansen-Löves an Lotman angelehnte Polarität zwischen „Genetik“ in der Biosphäre und „Generik“ in der Semiosphäre zu erweitern wäre, sobald sich Romane damit auseinandersetzen, dass sich das genetische Feld durch Biotechnologien semiotisch modifizieren lässt. Vgl. Hansen-Löve, Aage A.: „‚Geschaffen – nicht gezeugt …‘ Antigenerisches Erzeugen vs. genetisches Zeugen“, in: ders./ Ott, Michael / Schneider, Lars (Hg.): Natalität. Geburt als Anfangsfigur in Literatur und Kunst, Paderborn: Fink, 2014, 195–224; 199. 30 Smirnow, Igor: „Die Misswiedergeburt des Autors nach seinem postmodernen Tod“, in: Via Regia 25 (1995), 48–52; 52. 31 Ich habe in einem Aufsatz versucht, diese Dimension zu Japan herauszuarbeiten, an den die vorliegende Passage angelehnt ist: Kohl 2016, 81. 32 „Гений обычно бездетен – и в этом его глубокая и, может быть, самая объясняющая черта. Он не может рождать, и, кто знает, нужно ли это для него? Он есть некоторая Ding an sich“ („Das Genie ist gewöhnlich kinderlos – und darin liegt sein tiefer und vielleicht aussagekräftigster Charakterzug. Es kann nicht gebären, und wer weiß, hat es das überhaupt nötig? Es ist ein gewisses Ding an sich“, Rozanov, Vasilij: „Ėmbriony“, in: ders.: Religija, filosofija, kul’tura, hg. v. Aleksandr A. Nikoljukin, Moskva: Respublika, 1992, 225–232; 226). 33 Vgl. dazu Hansen-Löve, Aage A.: „Grundzüge einer Thanatopoetik. Russische Beispiele von Puškin bis Čechov“, in: ders. (Hg.): Thanatologien, Thanatopoetik. Der Tod des Dichters, Dichter des Todes, München: Sagner, 2007, 7–78.

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zur Imagination des Pränatalen projiziert sich der Ich-Erzähler in einen posthumen Zustand, als er sein Begräbnis – sicherlich in Anspielung auf den suprematistischen Sarg Malevičs – imaginiert: А вот вижу себя плывущим в каком-то странном деревянном вытянутом ящике на плечах почти сплошь незнакомых мне людей.34 Und dann sehe ich mich in einer seltsamen länglichen Holzkiste auf den Schultern von lauter mir völlig unbekannten Leuten schweben.

Prigovs Schreiben geht es nicht um eine Überschreitung der Grenzen von Leben und Tod. Dies manifestiert sich vornehmlich im Umgang des Ich-Erzählers mit Zeit und Erinnerung. Die gedächtnistheoretischen und zeitphilosophischen Implikationen sollen durch die Lektüre im folgenden Kapitel erläutert werden.

4.2 Ž  ivite v Moskve: Erinnerung und Gedächtnis des Zoegraphischen 4.2.1 Der „Gedächtnisraum“ Die erinnerte Zeit nimmt in Moskau eine Struktur an, die in der Forschung verschiedentlich als „absolute Vergangenheit“ oder „absolutes Präteritum“ beschrieben worden ist.35 Hier wird die erzählte Welt – das Moskau der 1940er bis 1980er Jahre, Kindheit und Konstitution des Künstlers Prigov – nicht vergegenwärtigt, sondern in eine abgetrennte Welt des Texts gebannt, die dem Ich-Erzähler wie eine antike „assyrische“ Kultur erscheint (siehe Zitat in Kap. 4.1.2). Nicht die Zeit, nicht die Geschichte wird ­erinnert. Stattdessen, so die Hypothese der folgenden Romanlektüre, besteht der Erinnerungsakt und seine literarische Inszenierung darin, zwischen dem individuellen bios und der zeit- und eigenschaftslosen zoe zu vermitteln. Wie in der folgenden Betrachtung der gedächtnispoetologischen Passagen des Romans deutlich werden wird, macht es die paradoxe Aktivität des zoegraphischen Gedächtnisses aus, mit einer individuellen Perspektive an einem unartikulierten Leben zu partizipieren. Obwohl die dargestellte Zeit in zahlreichen Digressionen unterbrochen, beschleunigt und zurückgespult wird, lässt sich eine chronologische Reihenfolge der beschriebenen Ereignisse entlang der Kapitel ausmachen: Kapitel M-1 beschreibt überwiegend die Kindheit des Ich-Erzählers am Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. des Großen Vater­ländischen Krieges, dessen Siegesmythos mit einer Parade deutscher Kriegs­

34 Prigov, Dmitrij A.: Živite v Moskve. Rukopis’ na pravach romana, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2000, 307. 35 Jampol’skij 2010, 220; auch Witte verwendet den Begriff (Obermajr/Vitte 2016, 33).



Erinnerung und Gedächtnis des Zoegraphischen 

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gefangener in Moskau beginnt; M-2 handelt von der späten Stalinzeit nach dem Krieg, in M-3 ist der Tod Stalins das zentrale Ereignis; das „Milicaner moskovskij“ („Der Moskauer Milizionär“) betitelte Kapitel fällt aus der Chronologie (wie auch der Schluss); M-4 handelt von der Tauwetterzeit und der intellektuellen Liberalisierung, der Bewegung der Šestidesjatniki und vom Beginn des Kunststudiums; M-5 erzählt vom Schicksal des nicht realisierten Palasts der Sowjets, dem Kosmosflug Gagarins und von der kurzen Regierungszeit Andropovs; in M-6 findet auch Gorbačevs Zeit kurz in der ­Anti-Alkohol-Kampagne Erwähnung, der Schluss des Kapitels geht jedoch in die frühe Kindheit zurück und erzählt von einem Ausflug mit den Eltern zur Datscha der ­Großmutter nach Sokol’niki, der mit dem Moment der eintretenden Kinderlähmung ­endet.36 Gedächtnistheoretische Reflexionen stehen jeweils am Anfang von Kapiteln, manchmal auch zwischen Episoden. Sie folgen einer Dramaturgie: Der Ich-Erzähler beginnt in M-1 mit einer Heuristik des Erinnerns, die noch keine klar definierte Beziehung zwischen Erinnerung und Fiktion, Biographik und Phantastik kennt. In M-6 schließlich kommt es zur Einheit des erinnernden Ich-Erzählers mit seinen Erinnerungen durch eine Projektion der Zeitlichkeit des Gedächtnisses in den Raum, genauer gesagt in einen virtuellen, geometrisch gedachten „Gedächtnisraum“.37 Hier scheinen die Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben. Die zentrale poetologische Stelle des Romans sei hier ausführlich zitiert: [Я] есть собранный посредством единой, не поддающейся узурпации чувствами, злобой или минутными выгодами, не обременяемой ленью и коррупцией памятью. Пространством памяти. Неким заранее предположенным пространством еще до всякой памяти. Просто потенциальной возможностью ее и тем самым уже неизбегаемой провокацией. То есть, конечно, память сама, как слабые волнения дат, событий, чьих-то лиц, всегда будет отдаваться любой претендующей масти. Но пространство  – чисто и прохладно. Силовые линии его хоть и проложены нами, вернее, в сотрудничестве с нами, несут в себе все черты уникальности, неподдельности абсолютных мировых линий. Надо просто охладить себя до полного совпадения с ними, попадания в них. И они понесут с дикой скоростью по единственно возможным для этого пространства направлениям. А может, и наоборот, неимоверно медленно, незамечаемо для обычного бытового глаза и ощущения времени, они повлекут тебя, как бы даже одновременно оставляя застывшим и

36 Diese Darstellung folgt dem Vorwort von Obermayr; vgl. Obermajr/Vitte 2016, 25. Die postsowjetische Zeit findet nur in Anspielungen statt: In M-3 weist der Ich-Erzähler Gerüchte von sich, die Miliz sei nach Zusammenbruch der UdSSR verschwunden und hätte bei kürzlich erfolgten Terroranschlägen nichts ausrichten können. Gemeint ist die Serie von Sprengstoffattentaten auf Moskauer Wohnhäuser im Jahr 1999. 37 Bei diesem Stichwort scheint eine Assoziation mit kulturwissenschaftlichen Modellen geo- bzw. topographischer „Gedächtnisräume“ naheliegend. Die folgenden Erläuterungen sollen allerdings deutlich machen, dass der Raum geometrisch und ohne kulturanthropologische Konnotationen gedacht ist.

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отрешенным на месте. Но тоже в пределах того единственного направления, только и возможного в данном пространстве. А поскольку это пространство единственное нам возможное, то и направления – единственные для нас возможные в пределах положенной нам антропологии, включающей в себя не только толстые материальные наши тела и агрегатные состояния, но также тела ментальные, астральные и уж полностью бескачест­ венные, типа тел первой, второй, третьей заключительной смертей. Эти направления, пространства, линии суть большее проявление жизни, чем сама жизнь, еще не ставшая точной и четкой. И я это знаю. Я там был. (286) [I]ch bin vereint durch ein einziges Gedächtnis, das sich nicht von Gefühlen, Wut oder kurzfristigen Vorteilen usurpieren, nicht durch Faulheit und Korruption zügeln lässt. Durch einen Gedächtnisraum. Einen noch vor jeder Erinnerung vorausgesetzten Raum. Allein schon durch ihre potenzielle Möglichkeit und dadurch eine unvermeidbare Provokation. Das heißt, natürlich wird das Gedächtnis – ähnlich wie die schwachen Wellen von Daten, Ereignissen, Gesichtern von irgendjemand – sich immer der jeweiligen Trumpffarbe unterordnen. Doch der Raum ist rein und kühl. Seine Kraftlinien, wenn auch von uns gezogen oder beziehungsweise in Zusammenarbeit mit uns, tragen in sich alle Züge der Einzigartigkeit, der Authentizität der absoluten Weltlinien. Man muss sich lediglich herunterkühlen, bis man völlig mit ihnen übereinstimmt, in ihnen aufgeht. Und sie werden einen mit rasender Geschwindigkeit in die einzigen für diesen Raum möglichen Bewegungsrichtungen forttragen. Oder vielleicht auch umgekehrt, unwahrscheinlich langsam, unbemerkbar für das gewöhnliche, alltägliche Auge und Zeitgefühl – sie ziehen dich und lassen dich gewissermaßen gleichzeitig erstarrt und abstrahiert am gleichen Ort. Doch genauso innerhalb jener einzigen Richtung, wie sie nur im gegebenen Raum möglich ist. Und insofern dieser Raum der einzige uns mögliche ist, so sind auch die Richtungen die einzigen für uns möglichen innerhalb der uns gegebenen Anthropologie, die in sich nicht nur unsere fülligen materiellen Körper und Aggregatzustände einschließt, sondern auch Körper mentaler, astraler oder gar völlig eigenschaftsloser Natur, sozusagen Körper des ersten, zweiten und dritten, endgültigen Todes. Diese Richtungen, Räume, Linien sind eine größere Erscheinung des Lebens als das Leben selbst, das noch nicht genau und deutlich geworden ist. Ich weiß das. Ich bin dort gewesen.

Hier wird klar, wie wörtlich der Einfluss von Henri Bergsons Matière et Mémoire (Materie und Gedächtnis, 1896) auf Prigovs Roman ist. Mit „Kraftlinien“ überträgt Bergson das physikalische Konzept der Feldlinien im Kraftfeld von Michael Faraday in seine Philosophie der Erinnerung. Er benutzt dafür eine Analogie von Atomen, die er mit Leibniz’ Monaden als Spiegel des Universums assoziiert.38 Prigovs Korrespondenz der „Kraftlinien“ der Erinnerung und der „absoluten Weltlinien“ ist von dieser Philosophie geprägt.

38 Die russische Übersetzung der Passage lautet: „Пусть вселенная состоит из атомов: в каждом из них будут ощущаться  – и качественно, и количественно по-разному, в зависимости от расстояния – действия всех других атомов материи. Или это будут центры сил: тогда силовые линии, проходящие через все центры во всех направлениях, донесут до каждого из них влияния всего материального мира в целом. Пусть, наконец, универсум состоит из монад: каждая монада, как это утверждал Лейбниц, есть зеркало вселенной.“ Bergson, Anri [Henri]: Materija i pamjat’. In: ders.: Sobranie sočinenij, T. 1, Moskva: Moskovskij Klub, 1992, 159–317, 180. Deutsch: „Wenn man das Universum aus Atomen zusammensetzt, so werden in jedem von ihnen in



Der „Gedächtnisraum“ 

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Die letzten Sätze der Stelle spielen zudem recht deutlich auf die Gedächtnispoetik von Belyjs Kotik Letaev an: Auch hier referiert der Ich-Erzähler auf eine vorartikulierte Welt, wo er „gewesen ist“, auch hier gibt es eine von Goethe, Steiner und symbolistischen Denkern geprägte Opposition zwischen „Gewordenem“ und „Werden“.39 Die Kon­ struktion des Gedächtnisraums ist die Schnittstelle zwischen der organischen, nicht artikulierbaren Vitalität und dem Text. Prigov aktualisiert hier ein Paradoxon avantgardistischer Sprach-Utopie bzw. U-chronie: Die „Weltlinien des Gedächtnisraums“ sind selbst eigenschafts-, raum- und zeitlos, umfassen das Leben aber deutlicher als die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit. Mit der sukzessiven Entzeitlichung des Gedächtnisses kommt es zu einem Wechselspiel von Narration und poetologischer Reflexion, die einander jeweils begleiten, behindern und begünstigen. Im fünften und sechsten Kapitel proklamiert der Ich-­ Erzähler einen Zustand, in dem die Lebenszeit durch das Erinnern punktuell komprimiert wird: С какого-то времени (уже достаточно позднего преклонного, стареющего) отпали также всякие проблемы с прошлым, настоящим и будущим. Стало ясно, что все они суть модусы некоего единства, стягивающееся в определенный момент с определенной задачей на одно из них. Причем остальные не пропадают, но сжимаются почти в беспространственные точки, тихонько посверкивая в глубине. Надо заметить, что именно эта драматургия перемены полюсов или мерцание в состоянии стабильности и являют основную прелесть волнующейся ткани воспоминания. (218 f.) Ab einer gewissen Zeit (die bereits recht spät und in hohem Alter ist) sind auch alle Probleme mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weggefallen. Es ist deutlich geworden, dass sie alle nur Modi einer Einheit sind, die sich in einem bestimmten Moment mit einer bestimmten Aufgabe auf einen von ihnen zusammenzieht. Dabei verschwinden die anderen nicht, sondern komprimieren sich fast zu raumlosen Punkten und glitzern dabei still in der Tiefe auf. Es ist anzumerken, dass gerade diese Dramaturgie des Polwechsels oder das Schimmern im Zustand der Stabilität den elementaren Reiz des wogenden Erinnerungsstoffes ausmachen.

In diesem Zustand entfallen Probleme mit der „Qualifikation und Identifikation der Erinnerungen“ („с квалификацией и идентификацией воспоминаний“, 218). Ereignisse müssen nicht aus einer Vergangenheit heraus vergegenwärtigt werden. Sie werden ihrer Materialität und Zeitlichkeit beraubt. Doch trotzdem oder gerade deshalb gehören sie zum Raum des (Auto-)Biographischen. Moskau benutzt den modernen

Qualität und Quantität und je nach der Entfernung variierend die von allen Atomen der Materie ausgeübten Wirkungen spürbar. Und nimmt man Kraftzentren, so lenken die von allen Zentren in alle Richtungen ausgesandten Kraftlinien auf jedes Zentrum die Einflüsse der gesamten materiellen Welt. Und seien es schließlich Monaden, so wäre, wie Leibniz es wollte, jede Monade der Spiegel des Universums.“ Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, aus d. Franz. neu übers. und hg. v. Margarethe Drewsen, Hamburg: Meiner, 2015, 40. 39 Vgl. Piskunov, Vladimir M. „Stanovlenie samosoznajuščej duši“ [Vorwort], in: Belyj 1997, 5–21; 8.

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­ utobiographie-Diskurs und stellt seine rhetorischen Wirkungsweisen im Hinblick auf A Authentizität oder Aufrichtigkeit auf die Probe, wie folgendes Selbstgespräch zeigt: Вот и понимай, что значит вспомнить прошлое. Живое, настоящее – вот оно, пальцами пощупай! А прошлое – оно и есть в прошлом. Как его оттуда выковыряешь в его как бы истинной прошлости? Ведь все  – в неминуемой грязи настоящего вываляешь. (162) Und nun versuch mal zu verstehen, was das heißt, die Vergangenheit zu erinnern. Das Lebendige, die Gegenwart – da ist es, fass’ es doch mal an! Und die Vergangenheit liegt eben in der Vergangenheit. Wie willst du sie von dort ausbuddeln in ihrem wahrhaftigen Vergangensein? Du wirst doch am Ende alles im unvermeidlichen Dreck der Gegenwart besudeln.

Die Erinnerung kann das Vergangene nicht in der „lebendigen“ Gegenwart wieder präsent machen, re-präsentieren. Eine Erinnerung, die Vergangenheit, Gegenwart und ­Zukunft in einer entzeitlichten Konstruktion auflöst, holt nichts zurück, ist kein ‚remembering‘. Die grammatikalischen Eigenheiten des Romans unterstreichen die Spa­ tialisierung der Erinnerung: das Verb ‚pomnit’‘/‚pominat’‘ findet sich in Kombination mit verschiedenen Präfixen, es wird ‚herbei‘-erinnert (‚pripomnit’‘), spontan erinnert (‚zapomnit’‘), oft in der reflexiven Form, etwas ‚erinnert sich‘ (‚pripominaetsja‘). Im Verb ‚upomnit’‘/‚upominat’‘ wird die Verwandtschaft zwischen Erinnern und Erwähnen deutlich: Was erinnert werden kann, muss zuerst einmal genannt, benannt und taxonomisch erfasst werden. In Kreatur (Kap. 7.2) wird das Prinzip einer autobiographischen Taxonomie buchstäblich als Aufzählen und Bewerten von Ereignissen ausgereizt. Ein zentrales Verfahren des konzeptualistischen Romans, insbesondere bei Vladimir Sorokin, ist die Materialisierung bzw. das bewusste Falschverstehen von Redewendungen. Prigov scheint in seiner postkonzeptualistischen Autobiographie auf eigentümliche Weise davon beeinflusst. Hier sind es rhetorische und poetologische Figuren der Erinnerung, insbesondere der autobiographischen Nachkriegsliteratur, die materialisiert werden. Der Ich-Erzähler verweist, um das „Lebendige“ bzw. die „Gegenwart“ in oben zitierter Stelle zu illustrieren, auf eine Narbe am Hals, die er sich an einem Stacheldraht zugezogen hat. Die Haut ist zentrale Bildoberfläche der Lagerliteratur, insbesondere in Varlam Šalamovs Kolymskie rasskazy (Erzählungen aus Kolyma, 1954– 1973).40 Für Šalamov hat die Haut einen poetologischen Stellenwert, sie ist eine epis­ temologische Schnittstelle. Im Aufsatz O proze (Über Prosa, 1965) heißt es:

40 Šalamovs Prosa ist bereits mehrfach im Hinblick auf die Lebenssemantik von zoe und bios und der ‚Häutung‘ des sowjetischen Subjekts im Lager untersucht worden: Burkhart, Dagmar: „Asian and European Infernos in Literature: Concepts of the Skin in Varlam Shalamov’s Kolyma Tales and Imre Kertész’ novel Fateless“, in: Gulag Studies 2/3 (2009/2010), 83–93; 3–8; Kissel, Wolfgang Stephan: „ÜberlebensWissen in Varlam Šalamovs ‚Erzählungen aus Kolyma‘: Zur Epistemologie der ‚vita minima‘“, in: Poetica. Zeitschrift für Literatur und Sprachwissenschaft 41 (2009), 161–187.



Der „Gedächtnisraum“ 

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Нужно и можно написать рассказ, который неотличим от документа. Только автор должен исследовать свой материал собственной шкурой  – не только умом, не только сердцем, а каждой порой кожи, каждым нервом своим.41 Man muss und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument nicht zu unterscheiden ist. Nur muss der Autor sein Material mit der eigenen Haut erforschen – nicht nur mit dem Geist, nicht nur mit dem Herzen, sondern mit jeder Pore der Haut, mit jedem Nerv.42

In Moskau stammt die Narbe jedoch von einer Schramme, die sich der Ich-Erzähler im Urlaub in Estland zugezogen hat. Hier erfährt das in Kapitel 2.2 beschriebene Verhältnis von Bann und Banalität des Lebens eine eigentümliche Ausprägung: Der Stacheldraht, Metapher der einschließenden Ausschließung der zoe, der totalitären Version der Bannbeziehung, wird hier zum Gimmick.43 Die körperliche Spur löst eine Erinnerung aus. Durch die taktil erfahrbare Narbe wird ein früheres Erlebnis wachgerufen, aber gleichzeitig etwas vergessen: die Narbe als Topos des Gulag. Der Lagertext trägt keine traumatischen Züge, sondern hat einen figurativen Phantomschmerz hinterlassen. Die Figuren sind ihres übertragenden Sinns entzogen und auf ihre Buchstäblichkeit reduziert, lassen aber die gekappte Verbindung als Spur erahnen. Auf diesem Weg entsteht eine Art virtuelles Körpergedächtnis: Es ruft Totalita­ rismus nicht als Erfahrung ‚am eigenen Leib‘ auf, sondern als eine Potenzialität, die durch Sprache, durch Rhetorik wirklich werden kann. In diesem Horizont wird die Situation der Öffnung der Lager beschrieben, nach der Häftlinge ihren Aufsehern ­begegnen: Die landläufige Metapher des „Zusammenwachsens der Nation“ („srastanie nacii“, 170) löst eine Reflexion über die physis von biologischen, nationalen, sozialen oder kommunalen Organismen aus. In einer Serie von Assoziationen springt der Erzähler vom Gesetz der „Anziehung dessen, was zusammen gehört“  – einer An­ spielung auf die Kugelmenschen aus Platons Symposion, deren zwei Hälften zueinander finden – zu neurophysischen Phänomenen. So könnten abgetrennte Körperteile Schmerz­eindrücke hervorrufen (Phantomglieder), oder ein Körper empfindet sich als zu groß und empfindet Schmerzen durch die vermeintlich überschüssigen Glieder.

41 Šalamov, Varlam: „O proze“, in: ders.: Sobranie sočinenij v četyrech tomach, T. 4, hg. v. Irina P. Sirotinskaja, Moskva: Chudožestvennaja literatura, 1998, 357–371; 362. 42 Schalamow, Warlam: „Über Prosa“, in: ders.: Über Prosa, aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, hg. u. m. Anm. vers. v. Franziska Thun Hohenstein, Berlin: Matthes & Seitz, 2009, 7–31, 15. 43 Diese Poetik des Banalen ist abzugrenzen von jener ästhetischen und ethischen Banalisierung („opošlenie“) der Lagererfahrung, die Šalamov Aleksandr Solženycin und dessen Archipelag GULAG (1973–1975) vorgeworfen hat. Svetlana Boym hat seine Sichtweise anhand von Gesprächsnotizen rekonstruiert: „To make the reader understand what it is like to return from ‚the hell of Kolyma,‘ Shalamov fights against what he perceives to be the clichés of the Russian humanist tradition that teach acceptance of suffering and authoritarian morality“, Boym, Svetlana: „‚Banality of evil‘, mimicry, and the Soviet subject: Varlam Shalamov and Hannah Arendt“, in: Slavic Review, 67/2 (2008), 342–363; 346.

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Prigov entkörperlicht Figuren des politischen Körpergedächtnisses: Von der politischen Metapher des „Zusammenwachsens“ gelangt er zum physiologischen Symptom der „Phantomglieder“. Prigov inszeniert nicht nur eine Virtualisierung des Körpergedächtnisses, sondern auch ein Verschwinden der Grenzen und Hierarchien zwischen Körper und Gedächtnis. In der ersten Szene des Romans kehrt der Ich-Erzähler imaginativ an den Wohnort seiner Kindheit, die Spiridonevka-Straße, zurück. Vergeblich versucht er, Passanten davon zu überzeugen, dass er dort seine Kindheit verbracht habe – sie erkennen ihn nicht wieder und können sich nicht an ihn erinnern. Seine Schlussfolgerung: Ihre „Amnesie“ liege in der natürlichen Veränderung des Menschen durch das Altern begründet. „Sich an die stetig wachsenden, sich verändernden Menschen zu erinnern, sie sich ins Gedächtnis zu rufen, ist eine undankbare Arbeit“ („Помнить да припоминать постоянно нарастающих, изменяющихся людей – труд неблагодарный“, 13). Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit ist anthropologisch und physiologisch bedingt. Dies wird in der darauffolgenden Beschreibung noch deutlicher, in der die realistische Beschreibung in phantastische Imagination ‚umkippt‘. Erinnerungen und Körper vermischen sich darin auf gleicher materieller Ebene. Im Moskau der Kindheit herrscht soviel Chaos und Tod, dass alle Menschen zur Unkenntlichkeit entstellt scheinen und zu Wesen werden, die не в силах приподняться под громадной тяжестью навалившихся переживаний и верхних тел. Многие успокаивались таким образом в самом низу гигантской пирамиды, поглотившей всех насельников Москвы. Тогда власти пошли на необычное, просто грандиозное, не сопоставимое ни с чем увеличение количества разнообразной охраны и конвоя, чтобы как-то ввести страну в русло самоидентификации, памятливости, хоть какой-то действенности. Чтобы как-то, по виду, форме, опознавательным знакам охраны, по лагерным ли номерам или другим опознавательным знакам, граждане стали опознавать друг друга. (14) nicht die Kraft hatten unter der ungeheuren Schwere der angehäuften Erlebnisse und Oberkörper aufzustehen. Viele beruhigten sich so am unteren Ende einer gigantischen Pyramide, die alle Bewohner Moskaus verschluckt hatte. Da entschieden sich die staatlichen Behörden für eine ungewöhnliche, einfach grandiose, mit nichts zu vergleichende Aufstockung sämtlicher Sicherheits- und Konvoikräfte, um so im Land Selbstidentifikation, Erinnerungsvermögen, wenigstens irgendeine Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Damit die Bürger einander irgendwie äußerlich, nach Uniform, Erkennungszeichen des Wachschutzes, vielleicht nach Lagernummern oder anderen Erkennungszeichen wiedererkennen konnten.

Aus dem Chaos wird eine wohlgeordnete Struktur, die auf Aleksandr Rodčenkos Fotografien mit Körperpyramiden anspielt. Der Erzähler kommt von hier aus zu einer eigentümlichen Beschreibung des totalitären Lagersystems: Man nummeriert Menschen, um ihre abnehmende Selbstidentifikation als moderne Subjekte zu kompensieren, um ihrer Erinnerung daran, Menschen zu sein, auf die Sprünge zu helfen. Biopolitik ist in dieser Perspektive also kein Mechanismus, der Traumata generiert bzw. Erinnerungen aus-



Der „Gedächtnisraum“ 

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löscht, sondern im Gegenteil eine Form von Mnemopolitik: Mit staatlicher Gewalt wird die Erinnerung an einen menschlichen Urzustand wiederhergestellt.44 Hier wird der Unterschied zwischen utopisch orientierten „neuen Anthropologien“ und Prigovs ästhetischem Konzept der „neuen Anthropologie“ deutlich: Utopische „neue Anthropologien“ – ob religiös, totalitär oder technizistisch – benötigen eine bestimmte narrative Struktur, der Rekurrenz auf einen Anfang oder zumindest ein ‚Davor‘, um die Fortsetzung, Verbesserung oder Transformation beschreiben zu können. Prigovs serielle Erzählweise dagegen verweigert die Rekurrenz auf den Anfang. Serialität kann entstehen, weil die Zuverlässigkeit des kollektiven Gedächtnisses in Moskau stark beschädigt ist, wie das die gerade beschriebene Szene illustriert. Dinge passieren, werden von allen vergessen, sodass sie wiederholt passieren und als neue Ereignisse wahrgenommen werden können. Und nicht nur das kollektive, sondern auch das persönliche Gedächtnis Einzelner hat regelmäßig Aussetzer. Der Ich-Erzähler vermittelt dagegen die unpersönliche Instanz, in der alle Daten überdauern, eine Art virtuellen Speicher, der selbst alles zerstörende Naturereignisse überdauert, weil er keine Körperlichkeit besitzt.45 So ist er auf ein kollektives Erinnern nicht angewiesen: Никто ничего не помнит. Поэтому возразить-то некому, да и нечего. А я помню. Все помню отлично и достоверно. Такая у меня натура и память. (203) Niemand erinnert sich an irgend etwas. Deshalb hat auch niemand etwas einzuwenden. Ich dagegen erinnere mich. Ich erinnere mich an alles ausgezeichnet und vertrauenswürdig. So sind eben meine Natur und mein Gedächtnis.

Der Ich-Erzähler inszeniert sich als hypertropher Mnemoniker, der alles erinnert.46 Er erinnert nicht stellvertretend, nicht repräsentativ für die alles vergessende Menschheit,

44 Die Selbstidentifikation, deren Verlust und Wiederherstellung bei Prigov ironisch und seriell erzählt werden, findet man bei Adorno und Horkheimer in einem dialektischen Modell: „Das von Zivilisation vollends erfaßte Selbst löst sich auf in ein Element jener Unmenschlichkeit, der Zivilisation von Anbeginn zu entrinnen trachtete. Die älteste Angst geht in Erfüllung, die vor dem Verlust des eignen Namens. Rein natürliche Existenz, animalische und vegetative, bildete der Zivilisation die absolute Gefahr. […] Die lebendige Erinnerung an die Vorzeit, schon an die nomadischen, um wie viel mehr an die eigentlich präpatriarchalischen Stufen, war mit den furchtbarsten Strafen in allen Jahrtausenden aus dem Bewußtsein der Menschen ausgebrannt worden.“ Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max [1947]: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt [u. a.]: S. Fischer, 1989, 47. 45 Witte hat darauf hingewiesen, dass der Roman Moskau der Theorie des kollektiven Gedächtnisses eine eigene Theorie des „absoluten Gedächtnisses“ entgegengestellt, als generatives Prinzip, in dem „nicht die Ereignisse im Gedächtnis bewahrt werden, sondern das Gedächtnis die Ereigisse erzeugt“. „[Т]еория […] абсолютной памяти, ‚вездесущей памяти‘ как порождающего механизма, в котором логика репрезентации подвергается инверсии: не события сохраняются в памяти, а память порождает события“, Obermajr/Vitte 2016, 34. 46 Lachmann hat das Thema der Gedächtnishypertrophie und der „Phantastik als Gegenmodell zur Memoria und zu deren kulturell verankerter Imaginationstradition“ (Lachmann 2002, 432)

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sondern an ihrer statt, für sich selbst. Das ist der mystische Aspekt einer neuen Anthropologie der Erinnerung: Das Gedächtnis des körperlosen Speichers ist in letzter Konsequenz nur für ihn selbst lesbar. Seine Erzählungen sind vom „erinnerungslosen Volk“ („bespamjatnym narodom“, 38) nicht zu verstehen: Расскажешь – ведь не поверят, не запомнят. Лучше уж утаим в самых сокрытых таилищах нашей неуничтожаемой памяти и души. (38) Erzählt man es, glaubt es ja doch niemand, niemand erinnert sich daran. Verschweigen wir es also lieber in den verborgensten Geheimkammern unseres unzerstörbaren Gedächtnisses und unserer Seele.

Das unzerstörbare, virtuelle Gedächtnis hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Das Wissen von jenem Leben, das für den Menschen unaussprechlich ist, kann es nicht vermitteln. Prigovs Roman belässt es nicht bei einer Mystik des Schweigens, sondern spielt mit der Kommunikationssituation. Die Inkongruenz zwischen bios und zoe erzeugt auf diese Weise komische Effekte.

4.2.2 Die Phantastik der zoegraphischen Erinnerung Die Erinnerung, die nicht aus den persönlichen Erlebnissen schöpft, steht nicht nur bei der rhetorischen inventio, sondern auch im Bereich der elocutio vor bestimmten Problemen. Glaubwürdigkeit (dostovernost’) und Wahrscheinlichkeit (pravdopodob­ nost’) sind die Kategorien des kommentierenden Erzählers, sie müssen mit dem Material der Erinnerung in Einklang gebracht werden: „Вспоминать легко. Верить сложнее“ („Erinnern ist leicht. Glauben schwerer“, 11). Im fünften Kapitel kann der Erzähler bereits auf eine Dramaturgie der rhetorischen Überzeugungskraft des eigenen Texts zurückblicken, das Geschriebene scheint ihm immer weniger wahrscheinlich.47 Wenn der Erzähler die aristotelischen Begriffe von Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit verwendet, dann meint er Erzählen als elocutio, es geht hier um Prosa-Rede. Das wird gerade im Kontrast von mündlichem und schriftlichem Stil deutlich, der immer wieder zu beobachten ist. Passagen mit Alltagsdialogen stehen im Widerspruch zur abstrakten Reflexion in Partizip-Kaskaden. Während erstere lebendig wirken, lassen sich letztere nur mühsam lesen, geschweige denn vorlesen.

­ nhand von Borges’ Erzählung Funes el memorioso (Das unerbittliche Gedächtnis, 1942) und Lurijas a Malen’kaja knižka o bol’šoj pamjati (Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses, 1968) beschrieben; vgl. ebd., 375–435. 47 „По мере своего дальнейшего продвижения повествование становится все менее и менее правдоподобным“ („Je weiter sich die Erzählung fortbewegt, desto weniger wahrscheinlich wird sie“, 218).



Die Phantastik der zoegraphischen Erinnerung 

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Das Gedächtnis, aus dem die autobiographische Welt von Moskau erinnert wird, ist von körperlicher Präsenz unabhängig: Так что приходится припоминать по вере, по некой везде присутствующей, независимо от нас и нашего реального наличия в месте происшествия, памяти. (27) Man muss sich also erinnern, wie man sich daran zu erinnern glaubt, nach einem gewissen allgegenwärtigen Gedächtnis, unabhängig von uns und unserer realen Anwesenheit am Ort des Ereignisses.

Daraus ergeben sich verschiedene Fragen: Wie lassen sich die im virtuellen Gedächtnisraum generierten Ereignisse trotz ihrer Unglaubwürdigkeit kommunizieren? Wie kann die eigene Erinnerung mit fremder Erinnerung korrespondieren? Der Diskurs über Selbst- und Fremderzählung zieht sich über die gesamte Strecke des Romans: Im ersten Kapitel beschäftigt den Ich-Erzähler die Frage, wie er sich fremde Erlebnisse aneignen und sie in die aufrichtige autobiographische Erzählung integrieren kann. Dabei wählt er die bekannte Strategie des „mercanie“. Der „gnoseologische Trick des Schimmerns“ („гносеологическая уловка мерцания“, 11) zwischen dem Eigenen und dem Fremden bestehe darin, in der „Zone der Unlösbarkeit“ („оставаясь в зоне неразрешимости“, ebd.) zu bleiben, ohne dabei in die „Zone der Indifferenz“ („в зону неразличения“, 12) abzudriften.48 Gemeint ist also nicht die Usurpation einer fremden oder einer nichtmenschlichen Identität (siehe Kap. 4.1.1), sondern ein oszillierendes Verhältnis dazu. Exemplarisch spielt sich dieses Verhältnis der Identifikation mit fremden Erlebnissen auf der Ebene von Prigovs künstlerischem Kontext ab. Moskau bezieht sich intertextuell auf andere Romane aus dem (ehemaligen) konzeptualis­ tischen Kreis. Im ersten Kapitel reimaginiert Prigov die zentrale Szene aus Evgenij Popovs 1983 verfasstem und 1989 erschienenen Roman Duša patriota (Die Seele des Patrioten), ohne auf den Text explizit zu verweisen:49 Die Figur Popov und der IchErzähler (in Popovs Roman sind es die Figur Dmitrij Aleksandrovič Prigov und der

48 An dieser Stelle, die in der deutschen Übersetzung (Prigow 2003) bedauerlicherweise ausgespart ist, wird das enge Diskursgeflecht zwischen der Sprache des Konzeptualismus und der westlichen Philosophie der Postmoderne deutlich. Auch Andrej Monastyrskij spricht von einer „zona nerazličenija“ (vgl. Sasse 2003, 85). Das ist eine Referenz auf Deleuze und Guattari, wie auch die Begriffe von Feld und Linie im Sprachgebrauch der Kollektivnye dejstvija nahelegen (zum Begriff „zone d’indiscernabilité“ im Original vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie, Paris: Les Editions de Minuit, 1980, passim). Auch für Agamben ist diese Denkfigur für das Verhältnis von bios und zoe prägend („zona di indistinzione“, Agamben 1995, 101). Bereits bei Bergson ist der Begriff der „zone d’indetermination“ („Zone der Unbestimmtheit“) anzutreffen, den sowohl Adorno als auch Deleuze und Guattari verwenden (Bergson 2015, 40). 49 Zitiert nach Popov, Evgenij: Duša patriota ili Različnye poslanija k Ferfičkinu, Moskva: Tekst, 1994; deutsch: Popow, Jewgeni: Das Herz des Patrioten oder Diverse Sendschreiben an Ferfitschkin, aus d. Russ. v. Rosemarie Tietze, Frankfurt: S. Fischer, 1991.

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Ich-Erzähler) versuchen nach dem Tod Leonid Il’ič Brežnevs im November 1982 vergeblich, zum im Säulensaal des Gewerkschaftshauses aufgebahrten Führer vorzudringen. Bei Popov erleben die Figuren das Ereignis daher vor Prigovs Fernseher.50 Nach Ende der Übertragung nehmen sich die beiden gegenseitig das Versprechen ab, alles „fürs ganze Leben“ zu erinnern.51 In Moskau löst Prigov diesen heterobiographischen Pakt ein. Allerdings erinnert er sich an mehr, als in einem „ganzen Leben“ passieren kann: Während bei Popov das digressive Erzählen aus Erinnerungsschwäche entsteht (vgl. Popov 1994, 19; 104), wird es bei Prigov vom Exzess von Erinnerungen angetrieben. In Popovs Text wird das Alltägliche auf paradoxe Weise historisch: Die beiden bekommen den Körper des toten Führers nicht zu Gesicht, die Zeugenschaft von ­Geschichte kommt nicht zustande.52 So muss das Flanieren im Zentrum Moskaus selbst historisch werden. Im Dialog mit dem Ich-Erzähler argumentiert Prigov: Нет, мы уже стали свидетелями исторического события, – возразил Д. А. Пригов. – Тем самым, что вот шли по вечерней Москве, причем осмысленно шли. (Popov 1994, 182) Aber wir SIND bereits Zeugen des historischen Ereignisses geworden“, versetzte D. A. Prigow. „Damit, daß wir hier durch das abendliche Moskau gehen. Zumal wir es mit Bedacht tun.“ (Popow 1991, 158 f.)

In Prigovs Version in Moskau entfalten sich die Ereignisse konzentriert auf knapp fünf Seiten: Auch hier dringen die beiden nicht zum sakralen Ort des Aufbahrungsritus vor, werden aber Zeugen einer sich von dort ausbreitenden Naturkatastrophe: Ein kleines Loch im Boden reißt sich auf zu einem gigantischen Trichter, der die beiden fortschleudert und alle wichtigen politischen Würdenträger, die direkt anwesend sind, verschlingt. Daraufhin gerät das Land in ein Verkehrschaos, bei dem die gesamte menschliche Bevölkerung ums Leben kommt und verkeilte Züge als „einzige Bewohner einer nicht für sie gebauten Welt“ übrigbleiben („[e]dinstvennymi obitateljami postroennogo ne dlja nich mira“, 37). Popov und der Ich-Erzähler überleben die Katastrophe in ihrem

50 Vgl. zum Status der Figur Prigovs in Popovs Roman und zur paradoxen Zeugenschaft des historischen Ereignisses des Brežnev-Todes in den beiden Romanen: Obermayr 2009, 328–333; hier 330 f.: „Einerseits haben wir es mit einer schizoiden zielstrebigen Ziellosigkeit einer teilnahmslosen Anteilnahme am offiziellen Todes-Ereignis zu tun, die die Protagonisten, ohne Zeugen sein zu wollen, zu Zeugen des historischen Ereignisses macht. Dem entspricht andererseits die Tatsache, dass sie, völlig überrascht über die fehlenden Hindernisse, am Ziel angekommen, doch vor der Unmöglichkeit stehen, ‚alles‘ zu sehen – wäre es dazu doch nötig gewesen, eine ‚unmenschliche‘ Perspektive einzunehmen, oder wie es im Text heißt: ‚[…] заглянуть сразу за два угла, чего делать человеческий глаз не в состоянии‘ (‚um zwei Ecken auf einmal schauen zu müssen, wozu das menschliche Auge bislang noch nicht in der Lage ist.‘ Popov 1994, 194)“. 51 „Я предлагаю вам, Евгений Анатольевич, запомнить все это на всю жизнь, – тихо сказал Д. А.Пригов“, Popov 1994, 200. 52 „Исторические дома, внеисторические персоны“, Popov 1994, 177 („Historische Gebäude, ­außerhistorische Personen“, Popow 1991, 153).



Die Phantastik der zoegraphischen Erinnerung 

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Heimatbezirk Beljaevo am Stadtrand, das als unzerstörbare Idylle in vielen Kontexten von Prigovs Poesie und Prosa auftritt. Daraufhin schildert der Ich-Erzähler die Emigration Popovs und vieler anderer Intellektueller. Sein Kommentar: „Allein ich bin hier geblieben“ („Я один здесь остался“, 38). So kommt er von der posthumanen Apokalypse und der faktualen Emigrationsbewegung Anfang der 1980er zurück in den Alltag. Während bei Popov das Alltägliche zum Historischen wird, enthistorisiert Prigov den Alltag, indem er Ereignisse entweder in den Makrobereich des Phantastischen oder den Mikrobereich des Privaten verschiebt. Der zweite, diesmal bereits postsowjetische und -konzeptualistische Intertext ist Vladimir Sorokins Roman Goluboe salo (Der Himmelblaue Speck, 1999), der eine alternative history der Sowjetunion der 1950er Jahre imaginiert. In Kapitel „Moskva-5“ beschreibt Prigov die Szene eines Festmahls mit Chruščev und anderen sowjetischen Führern, die bei Sorokin in einer homoerotischen Begegnung zwischen Stalin und Chruščev endet. Prigov spielt auf den Kannibalismus an, den Sorokin Chruščev andichtet: Chruščev lässt seinen Gästen Künstler und Intellektuelle der Tauwetterzeit zum Essen vorsetzen. Zuletzt verweist der Ich-Erzähler darauf, dass ihm diese Geschichte ein gewisser Vladimir Georgievič Sorokin erzählt habe, und wendet ein: Хотя, надо заметить, в те времена его просто не было на свете  – стало быть, помнить просто не мог. А я тогда как раз был и вполне мог помнить и, соответственно, описать. Но я этого не видел, не помню. (217) Allerdings muss man anmerken, dass er damals noch gar nicht auf der Welt war – er konnte sich also gar nicht daran erinnert haben. Ich dagegen war schon auf der Welt, konnte mich durchaus erinnern und es dementsprechend beschreiben. Doch gesehen habe ich das nicht, kann mich nicht erinnern.

Die ‚Pränatalität‘ der Ereignisse wird hier als unglaubwürdig ausgelegt: Wer es nicht bezeugt hat, hat keine autobiographische Lizenz zum Erzählen. In der Tat ist der IchErzähler über diesen Vorwurf erhaben: Außer vagen Rückblenden in vorhistorische Zeiten stammen alle erwähnten Ereignisse aus der faktischen Lebenszeit Prigovs.53 Dieser – wenngleich ironische, rollenhaft formulierte – Vorwurf an Sorokin entspringt einer fundamentalen Fiktionsskepsis des autobiographischen Erzählens in Moskau. Bereits das preduvedomlenie beruft sich auf eine Gattungstradition, in der das Erfinden dem Erinnern unterlegen ist, was die Aufrichtigkeit bzw. „Lebensähnlichkeit“ betrifft.54 In Kapitel M-4 wird dieses Argument radikal – Erfinden scheint dem Erzähler ganz und gar unmöglich:

53 Die in Kap.  4.1 beschriebene „Pränatalität“ des Gedächtnisses meint nicht das Erzählen von ­Ereignissen vor der Geburt. 54 „Тем более что вспоминать намного легче, чем что-то придумывать из ума, придавая этому вид жизнеподобия“ („Außerdem ist Erinnern viel leichter, als sich etwas im Kopf auszudenken und ihm den Anschein von Glaubwürdigkeit zu verleihen“, 8).

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Я ничего не придумываю. Да я вообще никогда ничего не придумываю. Я просто не умею придумывать – не дано, умением не вышел. Да вообще, мало чего можно выдумать, придумать в этом насквозь уже напридуманном, намысленном, населенном и напереселенном мире. (182) Ich erfinde nichts. Im Grunde erfinde ich überhaupt niemals irgendetwas. Ich kann einfach nicht erfinden – ist mir nicht gegeben, habe ich nicht gelernt. Und überhaupt kann man sich doch wenig ausdenken, erfinden in dieser schon so übererfundenen, überdachten, bevölkerten und überbevölkerten Welt.

In Sorokins Roman wird die Materie des „himmelblauen Specks“ von sogenannten Biophilologen in den Körperhöhlen von Klonen kanonischer Autoren gezüchtet. Die russische Literatur und ihre Intertextualität bildet sich als Ablagerung, als synthetische Biomasse ohne eigenen Organismus. Während diese Biomasse bei Sorokin hochgradig fiktional produktiv ist – Stalin unternimmt schließlich durch Injektion des Speck-Serums eine Reise in die Zukunft – wird bei Prigov die angehäufte Materie zum absoluten Fiktionshindernis: Die schiere „Übererfundenheit“ und „Überbevölkerung“ der Welt macht das Erfinden unmöglich. In dieser Vorstellung liegen imaginäre und reale Formen, die Masse der Gedanken und die der Menschen auf gleicher Ebene. Hier, im Bereich des gelebten Lebens, gibt es nichts hinzuzufügen. Das muss Prigovs Erinnerung auch nicht, denn im virtuellen Gedächtnisraum, im noch nicht „gewordenen“ Leben, verhält es sich anders. Prigovs virtueller Gedächtnis-Inkubator kann kontrafaktische Ereignisse erzählerisch hervorbringen, ohne sie zu erfinden. In diesem Modell wird nicht erfunden, sondern ‚anders‘ erinnert: Однако же, естественно, все не так. То есть все было так. Но если вспоминать по-другому – то, естественно, не так. (29) Aber natürlich war alles gar nicht so. Das heißt, alles war so. Aber wenn man es anders erinnert, dann war es natürlich auch nicht so.

Die Erinnerung erfindet nichts, sondern kann Ereignisse in einem Reservoir des Möglichen jeweils anders sehen. Das Gedächtnismodell der zoegraphischen Autobiographie schöpft aus einem undifferenzierten Protoplasma der Erinnerung, in dem Unterscheidungen zwischen Ereignis und Nicht-Ereignis noch nicht getroffen sind. Zu Beginn des zweiten Kapitels wird dieses Modell anhand einer Art Kanalisationssystem erklärt: Нет, все-таки для безопасности надо выстраивать эдакие-такие переходные муфты, темные рукава, прокачивающие каналы, подсасывающие капилляры, шлюзы переливания одного небывшего или как бы бывшего в другое полубывшее или вроде бы случившееся (53) Nein, zur Sicherheit sollte man solche Überleitungsmuffen einbauen, dunkle Schläuche, Durchflusskanäle, Saugkapillaren und Schleusen zur Überleitung eines Nichtgewesenen oder Fastgewesenen in ein anderes Halbgewesenes oder Fastpassiertes.



Schwacher Vitalismus 

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Wenn der Ich-Erzähler in Moskau die „Glaubwürdigkeit“ kontrafaktischer Ereignisse beansprucht, dann mit dem Argument, sie seien eben noch von niemandem erzählt worden. Unter der Bedingung, dass das kollektive Gedächtnis außer Betrieb ist, kann auch das Kriterium der Glaubwürdigkeit nicht von einem kollektiven Urteil abhängen. Der IchErzähler betont die Möglichkeit und Glaubwürdigkeit singulärer Ereignisse, das mögliche Eintreten von „Fällen“. Er benutzt dafür nicht wie Daniil Charms „slučai“, sondern „kazusy“, das lateinische Lehnwort. Prigovs Fälle sind keine Zu-Fälle, sondern Exempla. Aus den vorangegangenen Beobachtungen lässt sich ein Schluss zur Fiktionsskepsis des poetologischen Diskurses in Moskau ziehen: Prigovs Autobiographie kann deshalb behaupten, nicht ausgedacht zu sein, weil es im virtuellen „Gedächtnisraum“ keine Differenz zwischen Fakt und Fiktion gibt. In der Terminologie dieser Studie gesagt: Das Zoegraphische ist so ‚nah‘ am Leben, dass es nicht fiktional sein kann. Es ist eine Nähe zu einem in seinen Gesetzmäßigkeiten unbekannten Leben. Das Zoegraphische ist dem Autobiographischen mithin so unähnlich, dass es phantastisch wirkt. Diese allgemeine Aussage soll nun mit Blick auf die Entwicklung innerhalb des Romans weiter differenziert werden.

4.2.3 Schwacher Vitalismus Wie bereits im Zusammenhang mit Bergsons „Kraftlinien“ gesehen, durchzieht Moskau ein vitalistischer Diskurs der Autobiographie. Einerseits ist das Erzählen vom eigenen Leben immer auch ein Erzählen über das ‚Leben selbst‘. Andererseits teilt sich dieses ‚Leben selbst‘ dem Erinnernden ‚von selbst‘ mit. In Kapitel M-1 ist es dieser élan vital, der die Erinnerung wie automatisch antreibt und ihr Evidenz verleiht: Да, выходит, что помню про Москву кое-что. Даже достоверное. Все-таки сила памяти одолевает беспамятство во всепобеждающем порыве жизни  – победить неизвестно каким способом. Даже смертью самой. (24) Ja, am Ende erinnere ich mich doch an einiges über Moskau. Sogar an Glaubwürdiges. Schließlich überwindet die Kraft des Gedächtnisses die Amnesie in einem alles bezwingenden Lebens­ impuls – bezwingen auf unbekannte Weise. Sogar durch den Tod selbst.

Auf den ersten Blick mag die Emphase des „alles bezwingenden Lebensimpulses“ nach modernistischem Pathos der Lebendigkeit klingen. Doch die Stelle irritiert auf verschiedene Weise: Die Formulierung „победить незвестно каким способом“ ist eine syntaktische Abwandlung eines Satzes aus Charms’ Erzählung Sunduk (Die Truhe, 1937).55 Prigov verwendet das von Charms und den OBĖRIU-Autoren selbst etablierte

55 Auch dieser intertextuelle Hinweis ist dem Aufsatz von Kukulin zu verdanken; vgl. Kukulin 2010, 582.

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Verfahren der Zitatverwirrung, das Smirnov als „intertextuelle Aphasie“ bezeichnet hat.56 Die Erzählung bescheibt einen Mann mit dünnem Hals, der sich in eine Truhe gesperrt hat und zu ersticken fürchtet. Er denkt über den Kampf zwischen Leben und Tod nach, bis die Truhe verschwunden ist. Sein Resümee: „Das heißt, das Leben hat den Tod auf mir unbekannte Weise besiegt.“ („Значит жизнь победила смерть неизвестным для меня способом.“)57 Bei Prigov siegt das Leben grammatikalisch durch den Tod, aber es bleibt unklar, was besiegt wird. Eine weitere Referenz auf Charms liegt im Wort „bespamjatstvo“ (buchstäblich: „Amnesie“, im Sprachgebrauch: „Ohnmacht“, „Bewusstlosigkeit“). Darin schwingt sowohl kollektiv-kulturelles Vergessen als auch individuelle physische Schwäche mit. Jampol’skij bezeichnet diesen Begriff bei Charms in seinem Buch Bespamjatstvo kak istok (Amnesie als Quelle, 1998) als eine Art generative Amnesie, als „Kompression des Gedächtnisses zu seiner völligen Unlesbarkeit in der Gegenwart, als Erleben des Lebens, des ‚Jetzt‘-Moments, in dem das Gedächtnis als Amnesie existiert“.58 Auch bei den Obėriuty gibt es poetologische Experimente, die die Geburt als Anfang des Lebens, der im Vergessen liegt, aus der Zeit ausschließen und ihr damit den Ereignischarakter entziehen, etwa in Aleksandr ­Vvedenskijs Theorie der Serialität. Für Jampol’skij ist das Vergessen ein „Generator von Antiserialität, von Monogrammatismus“59 und wird so zur „Quelle“ des Texts bei Charms. Exemplarisch kommt die fundamentale Außerzeitlichkeit und Antiserialität des Anfangs in dessen Texten zu den Komplikationen der eigenen Geburt zum Ausdruck (vgl. Jampol’skij 1998, 348). In Teper’ ja rasskažu, kak ja rodilsja.. (Jetzt will ich erzählen, wie ich geboren wurde.., 1935) erlebt der Ich-Erzähler zwei Geburten, weil er nach der Entbindung von der Hebamme wieder zurückbefördert wird, allerdings in die falsche Körperöffnung.60 Der Text Inkubatornyj period (Inkubatorperiode, 1935) erzählt von einer „dritten Geburt“:

56 „Die Verbindung zu Texten von Vorgängern drückt sich in den Werken der Obėriuty nicht selten in Form einer eigentümlichen intertextuellen Aphasie aus – eines unmotiviert entstellten Zitats, das den Prozess der Ersetzung eines älteren Textes durch einen jüngeren ad absurdum führt.“ („Связь с текстами предшественников нередко выражается в произведениях обэриутов в форме своего рода интертекстуальной афазии – немотивированно спутанной цитаты, доводящей процесс замещения старшего текста младшим до абсурда.“ Smirnov, Igor’ P.: Psichodiachronologija. Psichoistorija russkoj literatury ot romantizma do našich dnej, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 1994, 310). 57 Charms, Daniil: Polnoe sobranie sočinenij, T. 2, Sankt-Peterburg: Gumanitarnoe agentstvo „Aka­ demičeskij proekt“, 1997, 336. 58 „[С]жатие памяти до полной ее нечитаемости в настоящем, как переживание жизни, момента ‚теперь‘, в котором память существует как беспамятство“, Jampol’skij, Michail: Bes­ pamjatstvo kak istok. Čitaja Charmsa, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 1998, 168 f. 59 „[Г]енератор антисерийности, монограмматизма“, Jampol’skij 1998, 346. 60 Vgl. zur ‚analen Wiedergeburt‘: Hansen-Löve, Aage A.: „Der absurde Körper und seine Tot-Geburt: Verbale Brachialitäten bei Daniil Charms“, in: Wiener Slawistischer Almanach 57 (2006), 151–230; 195 f.



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В инкубаторе я просидел четыре месяца. Помню только, что инкубатор был стеклянный, прозрачный и с градусником. Я сидел внутри инкубатора на вате. Больше я ничего не помню. Через четыре месяца меня вынули из инкубатора. Это сделали как раз 1-го января 1906 года. Таким образом, я как бы родился в третий раз. Днем моего рождения стали считать именно 1 января. (Charms 1997, 84) Im Brutkasten verbrachte ich vier Monate. Ich erinnere mich nur noch, dass der Brutkasten aus Glas und durchsichtig war und dass er ein Thermometer hatte. Ich hockte mitten in dem Brutkasten auf Watte. Mehr weiß ich nicht. Nach vier Monaten nahm man mich aus dem Brutkasten heraus. Das tat man just am 1. Januar 1906. So wurde ich gewissermaßen zum dritten Mal geboren. Mein Geburtstag war von da an genau der 1. Januar.61

Sobald die Geburt datiert ist, also als zeitliches Ereignis in den Diskurs eintritt, wird sie fälschbar, manipulierbar. Prigov hat sein eigenes Geburtsjahr im Zahlentext Daty roždenija i smerti (Geburts- und Todesdaten; vgl. Kap. 7.2.1) in dieser Weise thematisiert: Das fehlende Geburtsjahr 1940 setzt darin eine Serie der nachfolgenden Jahreszahlen in Gang. Man könnte auch im Hinblick auf das autobiographische Erzählen in Moskau von einer Serialität ohne Anfang sprechen – im Gegensatz zur „Antiserialität“, die Jampol’skij bei Charms beobachtet. Prigov spricht in Moskau nicht vom Anfang (siehe bereits Kap. 4.1). Die Formu­ lierung „Ich wurde geboren“ kommt nicht vor.62 Die Geburt gehört nicht zu einem Horizont, vor dem Prigovs ‚antinatale‘ Poetik sich abhebt. Aus der Perspektive des autobiographischen Romans liegt sie als amnestischer Anfang auch jenseits von Zeit und Diegese. Nicht der Lebensbeginn ist entscheidend. Eine Krankheitserfahrung scheint stattdessen das initiale Lebensereignis zu sein, von dem die Erzählung ausgeht. Als Kind erkrankt der Ich-Erzähler an Poliomyelitis. Dieser Moment löst die serielle, zyklische Dynamik des Erzählens aus. Der Fieberanfall und die darauffolgende Lähmung und Schwäche spielt auch in den Romanen Renat und Katja eine zentrale Rolle für die Genealogie des Erzählersubjekts, sie wird daher in den folgenden Kapiteln weiter diskutiert werden. An dieser Stelle lohnt sich ein detaillierter Blick auf die Vermittlungsformen der konstitutiven Krankheitserfahrung. In ihr zeigt sich die Beziehung zwischen Erzählersubjekt, autobiographischem Gedächtnis und zoegraphischer Beziehung zum Leben musterhaft. Der Moment der Lähmung wird in Moskau an drei Stellen erzählt,

61 Charms, Daniil: Autobiografisches, aus. d. Russ. v. Beate Rausch, Berlin: Galiani: 2011, 15. 62 Prigovs autobiographische Prosaarbeit hat 1982 in der Selbstauskunft zur Auslandspublikation Katalog mit einem solchen Satz begonnen: „[Я] родился давно“ („[I]ch wurde vor langer Zeit geboren“), Prigov, Dmitrij A.: „Ad libitum“, in: Katalog. Berman, Klimontovič, Kozlovskij, Kormer, Popov, Prigov, Charitonov, Ann Arbor: Ardis, 1982, 232–234; 232; dieser Satz wird in Kreatur zitiert, siehe dazu auch Kap. 7.1.

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im zweiten Kapitel, am Beginn und am Schluss des letzten Kapitels. Die erste Referenz führt die Episode in den Text ein, ohne dass sie schon als konkrete Erinnerung greifbar wäre: Вот можно, например, припомнить, как все детство проболел. Как однажды, после войны дело было, вдруг поднялась дикая-дикая температура, прямо как кошка какая набросилась. Тогда вообще температура почти постоянно бродила по Москве. (53) Man kann sich zum Beispiel mal daran erinnern, wie man die ganze Kindheit lang krank war. Wie einmal, nach dem Krieg war das, plötzlich die Temperatur mordsmäßig anstieg, wie eine Katze sprang sie einen an. Damals ging das Fieber sowieso fast ständig in Moskau um.

Die Ambivalenz von „temperatura“ zwischen physikalischer Einheit und Bezeichnung für Fieber lässt offen, ob es um eine allgemeine, buchstäbliche oder metaphorische Erwärmung oder die individuelle Erkrankung geht. Das „Ich“ fehlt an dieser Stelle nicht ohne Grund. Der Fieberanstieg dehnt sich im Folgenden auf ganz Moskau aus, auf „kommunale Wesenheiten“ („kommunal’nye suščnosti“, 54). Die körperliche Ansteckung wird zu einer semantischen und rhetorischen. Als die Lähmung beim kindlichen Ich-Erzähler eintritt, wird die Epidemie kollektiv und total, Kinder werden bewegungslos, Straßen leeren sich. Nicht nur die Amplifikation privater Erlebnisse zu historischen oder metaphysischen Ereignissen ist ein klassisches konzeptualistisches Verfahren. Der Ich-Erzähler nimmt die Position der Ideologie ein und geißelt die PolioEpidemie als vom amerikanischen Feind importierte Seuche. Er benennt damit den Status der physis in der sowjetischen polis, die jegliche niedrigen körperlichen Bereiche mit ihrem Zeichensystem in sich aufnimmt. Aus der kollektiven Lähmung aller Kinder folgt ein in dieser Hinsicht zweifelhaft logischer Schluss: Die Frauen hören auf Kinder zu zeugen, „in der Angst, wenn sie schwanger würden, schwache Wesen zu gebären und sie dem amerikanischen Ungeheuer zum Fraß vorzuwerfen“ („боясь, забеременев, породить слабых существ на пожрание американскому чудищу“, 55). Nicht nur die Menschheit stirbt durch diese Antinatalität bzw. Antigenerativität aus, sondern auch das „Leben“ selbst: Жизнь тем временем принимала образ стремительно, с нарастающим шелестом завершающейся киноленты. Последнее выжившее поколение неумолимо подтягивалось к своим законным могилам, оставляя после себя пустоту, не желая рожать милых сладких детишек на съедение разным там параличам, рахитам и бело-белой немочи. (58) Das Leben nahm unterdessen die Gestalt eines zu Ende rasenden, immer lauter raschelnden Filmstreifens an. Die letzte überlebende Generation kroch unerbittlich zu ihren wohlverdienten Gräbern und ließ hinter sich Leere. Sie hatte keine Lust, kleine, süße Kinderchen zu gebären, damit sie von allerlei Lähmungen, Rachitis und der Blutarmut gefressen würden.

Das Bild des durchdrehenden Filmstreifens impliziert nicht das Ende allen Lebens, sondern ein Leerlaufen. Die Lebendigkeit, die zwischen den zerstörerischen Kataklys-



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men übrigbleibt, ist eine dysfunktionale, sich auf niedrigem, schwachen Niveau ­wiederholende Dynamik. Mit dieser Erfahrung von körperlicher bzw. kosmischer Schwäche ist die Konstitution des Ich-Erzählers als Künstler verknüpft: Die Krankenschwester legt dem Kind Paraffinpackungen auf die gelähmte linke Seite, aus dem Wachs formt sie kleine Figuren. Es werden Tiere, Engel, Menschen, Gegenstände aufgelistet – also eine Art antike scala naturae, eine Stufenleiter des Belebten und Unbelebten. Die Genese des Erzählers als unbewegliches, schwaches Wesen, aus minimaler Lebendigkeit, kommt hier erstmals zur Sprache und wird in den weiteren Romanen weiter oder anders ausgeführt.63 Dem politischen Vitalitäts- und Kraftkult scheinen die schwachen Kinder, „unbeweglich, unfähig zum Leben“ („недвижны, неспособны к жизни“, 62) diametral zu widersprechen – sie stehen ganz unten auf der ideologischen Hierarchie des Lebendigen. Das zeigt sich, wenn die alltagssprachliche Formel der ‚Pyramide‘ der Gesellschaft zu einer kosmischen Hierarchie weitergedacht wird. An ihrer Spitze thront Stalin als neuplatonisch gedachte, göttliche Figur mit unendlichen Verkörperungen, als „zu einer einzigen Wesenheit verflossen, von der Seite in ihrer schimmernden Vielgestaltigkeit nicht erkennbar“ („слившейся единой сущностью, со стороны не различимой в своем мерцающем многообразии“, 63). Dieses triumphal-vitale Gesellschaftsmodell erscheint dem schwachen Ich-Erzähler „wirklicher als jede Wirklichkeit“ („явнее всякой яви“, 64), wie eine entkörperlichte, sakrale Lebenssubstanz: Это как бы немыслимое, невозможное прямо на наших и чужих  – всяческих  – глазах оборачивалось мощной победительной субстанцией жизни. Мне, инвалиду и калеке, все было – ой как! – ясно, видно, внятно и понятно. Просто вдохновляюще! Наполняло восторгом. Особенно меня, калеку. Что и понятно. (64) Dieses geradezu Undenkbare, Unmögliche entwickelte sich direkt vor unseren und fremden – allen möglichen – Augen als gewaltige, siegreiche Substanz des Lebens. Mir, einem Invaliden und Krüppel, war das alles klar, sichtbar und einleuchtend, und wie es das war! Einfach inspirierend! Das begeisterte. Vor allem mich, den Krüppel. Was ja auch einleuchtet.

Hier erfährt der Ich-Erzähler die Poetik des „Sovvitalismus“ (Kap. 3.1.2), die Überschneidung von niedriger und hoher Lebenssphäre, am eigenen Leib. Der Moment der Lähmung wird in Moskau zweimal erzählt, und zwar grob gesagt in zwei Darstellungsformen: in M-3 phantastisch, in M-6 realistisch. Im letzten Kapitel dient sie nicht als Auslöser einer phantastischen Episode und der Genese des Künstlers-Konzeptualisten Prigov, sondern als Ereignis, in dem sich das Ich als Instanz der Autobiographie

63 Die Schwäche des lyrischen Ichs und des Texts hat Prigov bereits in den Zyklen Poėt kak slaboe suščestvo (Der Dichter als schwaches Wesen, 1996) und Slabye stichi (Schwache Verse, 1990) thematisiert.

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­ erausbildet. Das Kapitel M-6 handelt von einer Metrofahrt der Familie zur Datscha h der Großmutter am Stadtrand in Sokol’niki. Am Bahnsteig begegnet der Ich-Erzähler einem Jungen, den zwei Betrunkene als „Judenschweinchen“ („židenok“) beschimpfen. Das Zittern des Jungen geht auf den Ich-Erzähler über, der in ihm seinen „unglücklichen Doppelgänger“ („zlosčastnogo svoego dvojnika“, 312) erblickt. Er hat Schwierigkeiten, ihn von seinem eigenen Spiegelbild zu unterscheiden: Я уже странно не различал себя с мальчиком, который таким же манером ютился, вскидываясь в руках своей матери. Не знаю, чувствовал ли он нечто подобное же, но я как бы ощущал себя единым в двух телесных оболочках. (312) Ich unterschied mich seltsamerweise nicht mehr von dem Jungen, der genauso kauerte und in den Händen seiner Mutter zuckte wie ich. Ich weiß nicht, ob er etwas Ähnliches verspürte, doch ich fühlte mich gewissermaßen in zwei körperlichen Hüllen vereint.

Die Empathie mit dem jüdischen Jungen steigert sich erst zu einer körperlichen, dann zu einer sprachlichen Reaktion: Der Erzähler stottert das Wort „Ich“ („Я, я, я-аа“ – der letzte Ausruf ist eine Umkehrung von Anfang und Ende des Alphabets, А/Я). Mehr kann er in direkter Rede nicht sagen. Die Erfahrung sozialer Dissoziation bzw. Diskriminierung geht in eine physische Dissoziation über. Doch erst im Zustand der fragmentierten physis kann der Erzähler „Ich“ sagen. Was im Kapitel M-1 physikalische Energie war, die zur individuellen Krankheit transponiert wurde, ist hier ein Überschuss von Energie sozialer Ausgrenzung bzw. Solidarisierung. Eine entsprechende Energiemetapher begleitet die Assoziation: Меня мотало и трясло. Тело прямо разрывалось на несоподчиненные куски, которые разлетались по сторонам в неуследимом направлении. Я чувствовал себя обжигающей, перенапряженной осью, наподобие раскаленной электрической спирали внутри лампочки. Все окружающее содрогалось параллельно, пытаясь, но так и не умея облечь меня осмысленной пространственностью или даже прикоснуться ко мне. На следующий день меня разбил паралич. (315) Es schüttelte und rüttelte mich. Mein Körper zerbarst in einander nicht gehorchende Stücke, die nach allen Seiten in unerkennbarer Richtung davonflogen. Ich empfand mich als brennende, überspannte Achse, wie eine durchgebrannte elektrische Spirale in einer Glühbirne. Meine ganze Umgebung erzitterte parallel, versuchte mich in sinnerfüllte Räumlichkeit zu kleiden oder mich gar zu berühren, allerdings vergeblich. Am nächsten Tag war ich gelähmt.

Die Figur des zergliederten, aber unberührbaren Körpers prägt die Subjektivität in Prigovs autobiographischer Prosa. Es ist das Paradox einer fragmentierten Singularität, das im nächsten Kapitel weiter zu beobachten sein wird. Die Abkapselung von der Umgebung, nicht nur von der menschlichen Gemeinschaft, sondern vom gesamten belebten und unbelebten Kosmos, wird in der Lyrik oft als ‚einzelner‘, ‚einziger‘, nicht zu reduzierender oder zu absorbierender Rest ausgedrückt. In Moskau befindet sie sich



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im Fluss der Prosa. Buchstäblich endet die Szene in einem Tränenfluss. Auch die ­Tränen sind bereits in Kapitel M-3 erzählt worden. Es sind die ‚konzeptualistischen Tränen‘, wie Prigov sie bereits in Katalog (1982) beschrieben hat.64 Bei Stalins Tod brechen die Kinder in rituelles Weinen und Zu-Boden-Stürzen aus, bei dem sie zu einer blutigen Fleischmasse verklumpen. In Kapitel M-6 fließen persönliche Tränen: Sie werden als eine flüssige Membran beschrieben, die das Kind visuell von der Welt trennt und ihm die Sicht versperrt. Der Ich-Erzähler verliert die Fähigkeit zu identifizieren, zu unterscheiden und zu vergleichen: Однако всеобщая повязанность мира сейчас настолько обволокла меня, что я готов был принять любого за любого. (333) Doch in der allgemeinen Verwickeltheit der Welt hatte ich mich nun derart verheddert, dass ich bereit war, jeden für jeden zu halten.

Die letzte Lähmungsszene steht am Ende des Romans. Das letzte Kapitel „Moskva-6“ steuert auf sie zu. Zuvor wird die realistische Erzählebene (die Metrofahrt mit den ­Eltern zur Datscha, die Begegnung mit dem jüdischen Jungen) von phantastischen Digressionen aufgehalten (die Vereinnahmung der Stadt durch sich unkontrolliert vermehrende Untote, Pflanzen und Straßenhunde). Die Eltern sind schließlich fort, das Kind alleine auf der Datscha. Der Erzähler bemerkt: „Ich hatte Zeit und war frei in meinen Handlungen“ („Я имел время и был волен в своих поступках“, 346). Dieser Satz widerspricht den bisherigen Kapiteln diametral: Der Ich-Erzähler „hat Zeit“ (im Kontrast zur entzeitlichten Erinnerung) und er besitzt die Fähigkeit zur individuellen Aussage, die in den bisherigen Kapiteln von der Allgemeinheit der Ideologiesprache übertönt worden ist. Die „Tat“, zu der er schreitet, ist keine historische, sondern ein Streich: Auf der Datscha lockt der Ich-Erzähler drei Katzen mit Baldrian an. Als sie näherkommen, scheinen sie ihm eine Masse ohne identifizierbare Einzelwesen zu sein, ein „riesiger, schrecklicher Haufen von Kreaturen, die da unten herumwuselten“ („огромное страшное скопище шевелящихся внизу тварей“, 349), ekelerregend wie „Würmer“. Die Analogie von Tierangriff und Fieberanfall aus Kapitel M-2, in dem den IchErzähler die Krankheit „wie eine Katze anspringt“ („как кошка какая набросилась“,

64 „Если вспоминать дальше, то встает передо мной мое собственное лицо (странная аберрация памяти: почему мое лицо, а не прочие, людские?), полное горькими слезами по поводу и во дни кончины И. В. Сталина. Собственно, многие плакали, и я плакал вместе со всеми, плакал слезами общими, плакал слезами собственными неложными и запомнившимися мне и поныне.“ („Wenn ich mich weiter erinnere, dann entsteht vor mir mein eigenes Gesicht [eine seltsame Aberration des Gedächtnisses: Warum mein Gesicht, und nicht die von anderen Leuten?], voll bitterer Tränen anlässlich und am Tag des Todes von I. V. Stalin. Eigentlich weinten viele, auch ich weinte zusammen mit ihnen, weinte gemeinsame Tränen, weinte eigene ehrliche Tränen, die mir auch heute im Gedächtnis geblieben sind.“ Prigov 1982, 232).

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53) wird nun zu einem buchstäblichen Kampf zwischen Kind und Kreatur. Als „Vergeltung“ („vozmezdie“) für das unheimliche Schauspiel leert er eine Schüssel Wasser in ihre Richtung aus, erreicht aber das Gegenteil: Die Tiere kommen dem Jungen immer näher, er weicht zurück und fällt hin. Es folgt wieder eine Spiegelszene, wie bereits in der Ich-Konstitution durch den Doppelgänger in der Metro: Bevor der Ich-Erzähler die Wasserschüssel ausschüttet, erblickt er in der Wasseroberfläche seine „reine Reflexion“ und erzittert dabei. Erst nach dem Angriff tauschen das Kind und drei Katzen Blicke: „Sie hingen direkt über meinem Gesicht, blickten mit drei schimmernden Pupillen in jedes meiner weit aufgerissenen Augen“ („Они нависли прямо над моим лицом, вглядываясь тремя мерцающими зрачками в каждый мой расширенный глаз“, 350). In der folgenden Ohnmachtsszene fällt das Ich buchstäblich aus Zeit und Raum heraus: Я упал. Возвратившиеся взрослые обнаружили меня валявшимся без сознания на теплом, прогретом солнцем полу возле окна. Меня перенесли в кровать. Меня нельзя было трогать. Наутро меня разбил паралич. (350) Ich fiel zu Boden. Als die Erwachsenen zurückkamen, fanden sie mich bewusstlos auf dem warmen, von der Sonne aufgeheizten Boden am Fenster liegen. Sie legten mich ins Bett. Man konnte mich nicht berühren. Am nächsten Morgen war ich gelähmt.

Die Formulierung „ich war gelähmt“ fällt an zwei Stellen („меня разбил паралич“, 314; 350). Beide Male sind Konfrontationen unmittelbar vor den Moment der Lähmung geschaltet, aber nicht kausal mit ihm verknüpft: Die Doppelgänger-Erfahrung und der Kampf mit den Katzen. Zwischen diesen Konfrontationen und der Lähmung steht eine Ellipse, ein Aussetzer des fiebernden Bewusstseins. Aus diesem Abgrund der Amnesie, so die These dieser Lektüre, entsteht die autobiographische Erinnerung. Es ist eine Erinnerung, die in Konfrontation mit der Kreatur, mit nichtmenschlichem Leben entsteht. Die Eingangsthese lässt sich nach dieser Analyse noch einmal präziser formulieren: Nicht die Geburt, sondern die Unterbrechung des Lebens in der Lähmung ist die Quelle des Erzählens in Moskau. Kein mächtiger Vitalismus, kein „Sovvitalismus“ befeuert die Erinnerung, nein, Schwäche und Selbstvergessenheit tun es. Die Annahme des Erzählers, dass der élan vital („poryv“) der Erinnerung über die Amnesie („bes­ pamjatstvo“) triumphiert, wird in ihr Gegenteil verkehrt: Aus der Amnesie entspringt erst ein Lebensimpuls. Es ist ein schwacher Vitalismus, eine Erinnerung aus der Anabiose, der minimalen Lebensfunktion heraus. Ansteckung, Krankheit und Lähmung geben den Impuls für das autobiographische Schreiben. Im folgenden Kapitel soll diese Figur der Immunität in Kontrast zum infektiösen metonymischen Prinzip von Moskau beleuchtet werden.

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4.2.4 Immunität Die letzten drei Sätze des Romans entfalten eine Mikrostruktur des Romans: „Меня перенесли в кровать. Меня нельзя было трогать. Наутро меня разбил паралич“ (s. o.). Das Ich ist hier dreifach grammatikalisches Objekt: Es steht mit den Prädikaten „fort-“ bzw. wörtlich „übertragen“ („perenesli“), „berühren können/dürfen“ („nel’zja bylo trogat’“) und „zerschlagen“ („razbil“). Es wird in einen Zustand der Unberührbarkeit durch die Außenwelt übertragen, ist abgekapselt, ohne in sich ganz zu sein – das Paradox einer fragmentierten Singularität. Mit dem Fall in Ohnmacht wird das Ich zum Einzel-Fall. Diese Rhetorik der Einkapselung steht im Widerspruch zur meto­ nymischen Struktur von Moskau. Nur in dieser infektiösen rhetorischen Struktur ist es  schließlich möglich, dass eine Feuersbrunst in einen Fieberanfall übergeht (­Ka­pitel M-2, siehe Kap. 4.2.4.). Diese Struktur ansteckender Metonymien ist ein Import aus Prigovs Lyrik: Systematisch bezieht sich Prigov in seinem Moskau-Roman auf den Gedichtzyklus Moskva i moskviči (Moskau und die Moskauer). Der Titel zitiert das im offiziellen Kanon fest verankerte Reportagenbuch über das vorrevolutionäre Stadtleben von Vladimir Giljarovskij (1926/1935).65 Das preduvedomlenie nimmt auf Untersuchungen des „Petersburger Themas“ in der russischen Literatur Bezug. Gemeint sind die Arbeiten Vladimir Toporovs zum „Petersburger Text“, die den mythopoetischen Raum Petersburg in der Literatur zwischen Romantik und Silbernem Zeitalter in seiner Polarität mit Moskau beschreiben. Nicht nur in Prigovs Lyrik, auch im Roman Moskau sind diese Pole einseitig präsent – etwa Moskau als organisch, pflanzenartig, horizontal gewachsener vs. Petersburg als kristallin und vertikal strukturierter anorganischer Raum;66 Moskau als von einem Punkt ‚natürlich‘ konzentrisch ausgehende Landnahme vs. Petersburg als ‚kulturell‘ konzipiertes Linienkonstrukt (vgl. Toporov 2003, 81). Es ist das Prinzip der Versreihe, aus dem Erzählen und Erzähltes im Prosatext entstehen. Obermayr und Witte bezeichnen Moskau daher als „Roman aus Versen“ (in Anspielung auf Puškins „Roman in Versen“ Evgenij Onegin). Die metonymisch in­ fektiöse Struktur der Verse entfaltet ihre Ansteckungskraft in die Prosa hinein. Erst im letzten Kapitel kann sich der prosaische Ich-Erzähler dagegen immunisieren. Das ­serielle Katastrophengeschehen der Verse setzt sich im Roman unter anderen Vor­ zeichen fort. Wenn der Erzähler von Katastrophen erzählt, die er als Kind erlebt und überlebt haben will, dann ist das nur durch einen Kollaps der erzählten Zeit zu garantieren. Wie Witte beschrieben hat, kommt es im Roman zu einer Paradoxie: Seine

65 Giljarovskij, Vladimir A.: Moskva i moskviči. Vospominanija, Moskva: Vserossijskij sojuz poėtov, 1926; deutsch: Giljarowski, Wladimir: Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen: Sittenbilder aus dem alten Moskau, aus d. Russ. v. Manfred Denecke, Berlin: Rütten & Loenig, 1964. 66 Vgl. Toporov, Vladimir N.: Peterburgskij tekst russkoj literatury. Izbrannye trudy, Sankt-Peterburg: Isskustvo-SPB, 2003, 21.

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Struktur der Anhäufung, Aufzählung und Taxierung von „Passiertem“ oder „HalbPassiertem“ (s. o.) lässt die Konstitution eines Ereignisses nicht zu. In der seriellen Dynamik von Zerstörung und Wiederaufbau, Entleerung und Wiederauffüllung, Aussterben und Wachstum bleiben nur zwei Positionen als postapokalyptischer Rest ­bestehen: die Stadt und das Ich. Auch wenn es scheint, als habe sich auch das demiurgische Ich völlig aus der erzählten Realität in einen Bereich des Mystischen zu­rück­ gezogen, fließt das Erzählen weiter: Просто к тому времени уже разрушать-то, уничтожать оказалось практически нечего и некого. Но зрелище само по себе впечатляющее. (225) Allerdings gab es zu dieser Zeit bereits nichts und niemanden mehr zu zerstören oder zu vernichten. Doch das Schauspiel war schon an sich beeindruckend.

Hier komprimiert sich die autobiographische Erzählung auf einen Punkt. Die Differenzen von eigenem und fremden Leben, sogar allgemein von Belebtem und Unbelebtem, Lebendigem und Seiendem erlöschen und ein unmöglicher Beobachterstandpunkt wird möglich – gleich einer mystischen Schau. Der Erzähler rückversichert seine paradoxe Zeugenschaft in einer maximal weit ausgelegten Kategorie des Möglichen: Es sei ja nicht auszuschließen, dass eben doch jemand überlebt habe (vgl. 230). Allenthalben ist der gnostische bzw. neuplatonische Gedanke der Welt als schlechtem Abbild einer ursprünglichen Welt anzutreffen. Er wird in der Dynamik der unaufhörlichen Destruktion und Rekonstruktion der Stadt Moskau materialisiert. Die Kapiteltitel mit dem Schema ‚Moskva-X‘ spielen dabei auf die Struktur von Modellbezeichnungen etwa in der Raumfahrt („Sputnik-1“) an. Offensichtlich bezeichnen die Kapitel nicht aneinander anknüpfende Weiterentwicklungen, verschiedene Genera­ tionen des Modells „Moskau“, sondern ohne Kohärenz emergierende Realisationen, die nur numerisch aufeinander folgen. Die zyklische Überlagerung der Zivilisation mit Naturgeschehen, die Konfrontation der Stadt mit den vier Elementen ist bereits im Gedichtzyklus Moskva i moskviči angelegt – hier kommt die Gleichursprünglichkeit der russischen Begriffe ‚stich‘ (‚Vers‘) und ‚stichija‘ (‚Naturgewalt‘) aus dem Griechischen ‚stoicheion‘ (‚Element‘, ‚Buchstabe‘) voll zur Entfaltung. In Moskau wird diese Dynamik in ihrer Komplikation mit dem Ich erzählt. Im konzeptualistischen, „sovvitalistischen“ Teil des Romans  – damit sind ins­ besondere die Kapitel M-3 und M-4 gemeint – steht ein demiurgisches Ich einer chao­ tischen Welt gegenüber: In der gnostischen Tradition avantgardistischer Lebens-Kunst (žiznetvorčestvo) begegnet der Künstler-Schöpfer einer ‚schlechten‘, ‚falschen‘ materiellen Welt, die für eine ‚gute‘, ‚wahre‘ immaterielle Welt zu überwinden ist. „Das Leben ist nicht gelungen“ („Жизнь не удалась“, 91) – in Moskau, Renat und Katja wiederholt sich ein Satz, der sowohl als Lamento über die Imperfektion des eigenen Lebens als auch über die minderwertige Bauart des Lebens ‚an sich‘ gelesen werden kann. In Moskau betrifft die Klage über das nicht gelungene Leben die Diskrepanz von Lebens- und Weltzeit, wie sie Hans Blumenberg beschrieben hat: Obwohl der Ich-­

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Erzähler zusammen mit großen Vertretern der russischen Kultur in Moskau gelebt hat, wusste er davon nichts, traf sie nicht. Mit Blumenberg gesprochen konnte er seine Lebenszeit nicht in der Weltzeit des Jahrhunderts realisieren, wie es retro­spektiv scheint.67 Der Konflikt des Ich-Erzählers mit dem „misslungenen“, schadhaft-schädlichen Leben ist ein sprachlicher. Es ist eine Art rhetorische Überlebensstrategie. Er wandelt seine lebensfeindliche Umgebung als Eindrücke in Ausdrücke um, in „symbolische Formen“, wie sie Ernst Cassirer als genuine Eigenschaft des animal symbolicum beschrieben hat. Blumenberg hat Cassirers Theorie auf das Verhältnis von Anthropologie und Rhetorik bezogen: Es ist die Tätigkeit metaphorischen Verhaltens, die das Fremde durch Eigenes ersetzt und so die „biologische Indisposition“ des Menschen kompensiert: „Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist“.68 Prigov entwickelt in seiner zoegraphischen Beschreibung des eigenen und fremden Lebens rhetorische Strategien (Metapher, Metonymie, Ironie), um die dem menschlichen bios unfassbare zoe hörbar und lesbar zu machen. Prägnanterweise ist es das biologisch-biographische Leben selbst, das zur rhetorischen Figur wird. In einer Traumszene des Kapitels M-2 begegnet der kindliche Ich-Erzähler einem anderen Jungen, der von der Kinderlähmung gezeichnet zu sein scheint: Помню нависшее надо мной, в непосредственной близости от моего лица, глаза в глаза, нос в нос, дыхание в дыхание, лицо дегенерата (извините, я не в осудительном смысле, но в прямом, квалификационном). […] Он, видите ли, таким вот образом удирал от парт­ нера, не имея ничего конкретного против меня. Но жизнь, сама жизнь была против меня. И это была ее лицо, ее дыхание, ее ухмылка на страшном нечеловеческом лице. (59) Ich erinnere mich an ein in unmittelbarer Nähe meines Gesichts – Auge in Auge, Nase in Nase, Atem in Atem  – hängendes Gesicht eines Degenerierten (mit Verlaub, das meine ich nicht im abfälligen Sinn, sondern im direkten, qualifizierenden). […] Sehen Sie, auf diese Weise rannte er vor seinem Spielkameraden weg, hatte nichts Konkretes gegen mich. Doch das Leben, das Leben selbst war gegen mich. Und dies war das Gesicht dieses Lebens, sein Atem, sein Grinsen auf einem abscheulichen, unmenschlichen Gesicht.

67 Witte hat die Begriffe Blumenbergs auf die „ertragsökonomisch[e] Dimension des Lebens“ im stalinistischen Roman (hier Ostrovskijs Kak zakaljalas’ stal’ / Wie der Stahl gehärtet wurde, 1934) bezogen, „wenn die Diskrepanz zwischen einer – nach anthropomorphen Maßstäben – ‚überdimensionalen‘ Weltzeit und der menschlichen Lebenszeit unbewältigbar geworden ist.“ Vgl. Witte, Georg: „‚Was ich mit wem vergleichen würde …‘. Prigovs Poesie des totalen Tauschs“, in: Weitlaner, Wolfgang (Hg.): Kultur. Sprache. Ökonomie. Beiträge zur gleichnamigen Tagung an der Wirtschaftsuniversität Wien, 3.–5.12. 1999, Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 54, Wien: Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien, 2001, 201–215; 202. 68 Blumenberg, Hans [1971]: „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt: Suhrkamp, 2001, 406–431; 416.

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Die Personifizierung des Lebens vereinfacht hier nicht Verstehen oder Identifikation, sondern erschwert sie. In seinem Text Autobiography as De-facement hat Paul de Man die Figur der prosopopoiia  – buchstäblich das ‚Schaffen‘ eines ‚Gesichts‘, einer ‚Maske‘ – zur Trope der Autobiographie erklärt. In diesem Gedanken zur poiesis des Lebens bleibt ambivalent, ob das Leben die Autobiographie oder die Autobiographie das Leben produziert.69 Das „Grinsen auf dem Gesicht“ dieses Lebens ist unmenschlich, menschenfeindlich. Nicht nur die beschriebene Figur, sondern auch das Leben selbst ist „degeneriert“: Es ist seiner Generativität bzw. seiner biologischen Reproduktivität beraubt.70 In den folgenden beiden Kapiteln wird die Verflechtung des Ich-­ Erzählers mit dem dysfunktionalen, ungeordneten Leben in verschiedenen seriellen Ereignisketten entwickelt. In M-3 steht das Ereignis von Stalins Tod im Mittelpunkt: Dem Tod des Führers geht eine Kälteepisode voraus, in der die materielle Welt erstarrt, auf den Tod folgt eine Episode ekstatischen Trauerns, in der sich Menschen in rituellen Klagebewegungen selbst verstümmeln und zu einer Masse verklumpen. Der Satz „Stalin war/ist gestorben“ („Умер Сталин“, 97) steht dissoziiert in einem eigenen Absatz, wird vom Erzähler wiederholt, als handele es sich um eine apophatische Aussage über Gott. Stalins Name selbst wird als mystische Entität inszeniert, die keinem menschlichen Verständnis zugänglich ist, weil sie die Naturgesetze außer Kraft setzt. In der Kälteperiode verwandelt sich die alltagssprachliche Temperaturmetaphorik von Eiszeit und Tauwetter in ein Naturereignis. Der Ich-Erzähler geht in einen mimikryartigen Zustand minimaler Lebensfunktion über: Внутри напяленных одежонок таился, сохранялся слабенький трепет отдельных теплившихся жизней. Я склонялся, погружал нос в ворох всего одетого, с дрожью ощущая запах еще трепыхавшейся собственной, но уже как бы отдельно воспринимаемой жизни в предельном модусе незаинтересованного выживания. (96 f.) Unter den Klamottenschichten verbarg sich, bewahrte sich ein schwaches Zittern einzelner, glimmender Leben. Ich beugte mich nach vorne, steckte die Nase in den Haufen alles Bekleideten, roch zitternd mein gerade noch zuckendes eigenes, doch gewissermaßen schon als getrennt wahrgenommenes Leben im äußersten Grenzmodus des uninteressierten Überlebens.

69 „We assume that life produces the autobiography as an act produces its consequences, but can we not suggest, with equal justice, that the autobiographical project may itself produce and determine the life and that whatever the writer does is in fact governed by the technical demands of selfportraiture and thus determined, in all its aspects, by the resources of his medium?“ Man, Paul de: „Autobiography as de-facement“, in: MLN 94/5 (1979), Comparative Literature, 919–930; 920. 70 Riccardo Nicolosi bezeichnet Degeneration für den russischen Roman des späten 19. Jahrhunderts und seine Rezeption psychiatrischer Theorien als „ein narratives Grundschema, das durch Segmentierung und Linearisierung von disparaten pathologischen Zuständen eine Erzählkohärenz schafft, die die chaotische ‚Aggressivität‘ des Anormalen bändigt“, Nicolosi, Riccardo: Degeneration erzählen. Literatur und Psychiatrie im Russland der 1880er und 1890er Jahre, Paderborn: Fink, 2018, 14. Bei Prigov lässt sich diese Dynamik als von einzelnen Subjekten entkoppelt beschreiben.

Immunität 

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Das Erzählen in Moskau verläuft als permanentes Trennen, Abgrenzen, Eingrenzen zwischen dem lebendigen Erzählersubjekt und der belebten und unbelebten Umwelt, zwischen Ordnung und Chaos. Es gibt dazu eine scheinbar unverfängliche Aussage: „Ich bin ein einfaches, ins Leben getauchtes menschliches Wesen“ („Я – простое, погруженное в жизнь человеческое существо“, 159). Diese Behauptung wird immer wieder neu auf die Probe gestellt: Wie tief kann der Erzähler ins Leben eintauchen? Wie tief kann die Autobiographie ins fremde, menschenfeindliche, nicht mehr oder noch nicht menschliche Leben eindringen? Der zentrale Erzählstrang im Kapitel M-4 besteht in einer Überblendung von Ereignissen prä- und poststalinistischer Geschichte. Deren Kontrafaktizität rechtfertigt der Erzähler damit, dass sich eben niemand an sie erinnere: Nach Anbruch von Chruščevs Ära werden die Lagerhäftlinge befreit und Stalins Leichnam aus dem Mausoleum entfernt. Eine Lenins Frau Nadežda Krupskaja zugeschriebene Aussage über seine Jugendlichkeit fungiert – wie viele andere Aussagen auch – als Auslöser einer assoziativen Reihe: Nun verjüngt sich Lenins allein in der Totenstätte verbliebener Körper auf wundersame Weise, und eine kollektive Anstrengung ist notwendig, um seine Auflösung ins Nichts zu verhindern: всенародный проект, который бы своей неимоверной энергией, попятной инерцией сначала смог бы стабилизировать, потом бы развернул и направил оболочку вождя по пути стремительного старения, скукоживания, истления, превращения в должный и заслуженный прах. (177 f.) ein alle Völker umfassendes Projekt, das durch seine unglaubliche Energie und beharrliche Rückwärtsbewegung die Hülle des Führers zunächst stabilisieren könnte und sie dann umdrehen und auf den Weg raschen Alterns, Verschrumpelns, Verwesens und Verwandelns in pflichtgemäße und verdiente Asche schicken würde.

Offensichtlich ist die Anspielung auf Nikolaj Fedorovs Filosofija obščego dela (Philosophie des gemeinsamen Werkes, 1906) und von ihm beeinflusste frühsowjetischen Ideen zur Vitalisierung bzw. Immortalisierung des Menschen.71 Auch die seit den späten 1980er Jahren virulente Diskussion um den biopolitischen Aspekt des Totenkults um Lenin findet hier ihren narrativen Niederschlag. Prigov verarbeitet hier nicht die dokumentarisch verbriefte Geschichte des Leninkults, sondern verwandelt den kulturwissenschaftlichen Diskurs, der in Büchern wie Groys’ Gesamtkunstwerk Stalin diese Geschichte in eine Philosophie der Stalinperiode transformiert, zu einer Art Science-Fiction. Für Groys besteht das Wesen des Leninkults darin, den toten Führer als ewig jungen Körper auszustellen und damit zu beweisen, dass es einerseits keine

71 Vgl. zum von Fedorov geprägten „Prometheismus“ der frühen Sowjetzeit, der hier quasi invertiert wird: Hagemeister, Michael: Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung, München: Sagner, 1989, 241–318.

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­ uferstehung und kein Jenseits gibt, andererseits dass der tote body natural nicht mehr A zum body politic werden kann.72 Prigovs invertiert diese kollektive Kraftanstrengung und lässt alle Völker der Union den Beweis antreten, dass es Lenin nie gegeben habe. In Moskau lässt sich so ein Umschlag des sowjetischen Projekts nach dem mystischen Ereignis von Stalins Tod beobachten: Die Energie, die in die Konstruktion des Neuen Menschen, die conservatio vitae Lenins investiert wurde, kommt nun in umgekehrter Richtung zum Einsatz. Das „grandiose Projekt“ der Chruščev-Periode führt zu Erschöpfung und materiellem Niedergang des Menschen selbst: Das geplante Gebäude, soviel wird bei aller digressiven Verschleierung gesagt, besteht in einem gläsernen Turm – eine Anspielung auf den Palast der Sowjets, der nie gebaut wurde und an dessen leerer Stelle zu Chruščevs Zeit ein Schwimmbad entstand. Es wird eine Baugrube ausgehoben, wörtlich ein „kotlovan“. Damit bezieht sich Prigov auf das Genre des Produktionsromans einerseits, andererseits wörtlich auf Andrej Platonovs Erzählung Kotlovan (Die Baugrube, 1930), in der die Teleologie des kommunistischen Aufbaus und ihr möglicher Stillstand erzählt wird. Mit den repetitiven Abschweifungen von der Erzählung des Bauprojekts parodiert der Erzähler die Teleologie des Erzählens selbst. Schließlich enthüllt die kindliche phantastische Erinnerung den ‚wahren‘ Plan des Bauprojekts: eine Landestation für Außerirdische. Platonovs Topoi von Unbeweglichkeit, Langeweile und Entleerung73 werden bei Prigov zu Szenen monströser körperlicher Verausgabung: Von der Bautätigkeit erschöpft, sinken die Subbotnik-Arbeiter zu Boden, verletzen sich, und verfallen in Anabiose, den Nährboden für eine parasitäre, nichtanthropomorphe Kultur bereitend: Aus ihren Verletzungen sprießen „Wundblumen“ („cvety-rany“, 204) und errichten eine eigene Zivilisation. Es ist das erzählerische Experiment von Kapitel M-4, das in der poststalinistischen Sowjetunion heranwachsende Ich innerhalb der Kultur zu verorten – genauer gesagt, in einer zu einer ‚zweiten Kultur‘ gewordenen Wucherung. Die Imagination der „Wundblumen“ schildert eine zoepolitische Situation, in der aus dem pflanzlichen Leben ein parapolitischer Raum geworden ist. Wie bereits in der Kälteperiode vor ­Stalins Tod erzeugt eine rhetorische Referenz die Distanz zur lebensfeindlichen Umwelt: Der Ich-Erzähler bleibt außen vor, nimmt nicht an der parasitären Beziehung zwischen Menschen und Pflanzen teil. Für seine Immunität gibt er zwei Erklärungen, eine biologische und eine ideologische: Entweder es ist die überwundene Poliomyelitis, die ihn mit „unzerstörbarer Immunität“ ausstattet („nesokrušimym immunitetom“, 206). Da er bei einem Freund ebenfalls keine Wunden ausmachen kann, schließt er darauf, dass sie ihre unvergleichliche ideologische Anstrengung davor schütze. Die

72 Vgl. dazu Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, aus d. Russ. v. Gabriele Leupold, München [u. a.]: Hanser, 1988, 75. 73 Zu Platonovs Entropiesymbolik von Unbeweglichkeit, Langeweile und Leere vgl. Baršt, Konstantin: Poėtika prozy Andreja Platonova, Sankt-Peterburg: Filologičeskij Fakul’tet, 2000, 106–114. Zu Seinsstufen von Wachheit, Müdigkeit, Schlaf und Tod vgl. ebd., 259–278.

Immunität 

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Ideologie, so vermutet der Ich-Erzähler, „bedeckte uns mit einem undurchdringlichen Schutzschirm, der jegliches Eindringen der anmaßenden, pervertierten Natur reflektierte“ („покрыла нас непроницаемым защитным экраном, отражающим любые вторжения претендующей развращенной природы“, 207). Der Erzähler und sein Freund wähnen sich ideologisch geschützt vor der niedrigen materiellen Welt, gleichsam „verdrängt aus dem lebendigen, festen Fleisch, der Materie des wahren, intensiven Lebens“ („вытесненные из живого плотного мяса, материи истинной интенсивной жизни“, 207). Die Beziehung zwischen ideologischem bios und biologischer zoe ist hier eine der Immunität: Die ideologisch geschulte Lebensform kann sich von Mensch-Umwelt-Beziehungen abkapseln. Diese Interpretation von Ideologie ist bemerkenswert: Der Kommunismus garantiert in Moskau nicht die communitas, sondern isoliert seine Subjekte in der immunitas. Es lässt sich wie ein selbstverstärkender Kreislauf beschreiben: Die Pflanzen-Wucherungen, die ja ein Ergebnis eines ideologischen Projekts sind,  erzeugen im ideologisch ge­ festigten Bewusstsein selbst einen Immunreflex.74 Mit Peter Sloterdijk könnte man die Struktur „Ko-Immunismus“ nennen, der an die Stelle des Kommunismus, an die Stelle eines Gemeinschaftsprojekts rückt.75 In Kapitel M-5 wird die Immunreaktion der Ideologie anhand eines politischen Würdenträgers gezeigt: Es ist nicht Brežnev, sondern sein Nachfolger Jurij Andropov, während dessen kurzer Amtszeit bis zum Tod 1983 sich Gerontokratie und Stagnation fortsetzen. Der Ich-Erzähler gibt Gerüchte wieder, die über den Generalsekretär in Umlauf sind. Er bezieht sich dabei auf Witze und Anekdoten, ohne sie zu zitieren. Stattdessen initiieren sie metonymische Verfahren, ähnlich wie oben bei Lenin beschrieben: Andropov ist hier eine poetisch überaus begabte Person, die politische Anordnungen in Versen verfasst. Durch seine „unwahrscheinliche Empfindsamkeit“ („neimovernaja čuvstvitel’nost’“, 250) ist sein Körper nicht in der Lage, seine Form zu bewahren, er zerfließt zu einem Fleck. Statt eines Körpers verfügt Andropov deshalb über eine „Körperpfütze“ („telesnaja luža“, 250), die von einem komplexen Containersystem und einer Metallhülle zusammengehalten wird. Diese Konstruktion verleiht ihm „völlig

74 Niklas Luhmann hat die Immunlogik gesellschaftlicher Systeme wie folgt beschrieben: „Das System immunisiert sich nicht gegen das Nein, sondern mit Hilfe des Nein; es schützt sich nicht gegen Änderungen, sondern mit Hilfe von Änderungen gegen Erstarrung in eingefahrenen, aber nicht mehr umweltadäquaten Verhaltensmustern. Das Immunsystem schützt nicht die Struktur, es schützt die Autopoiesis, die geschlossene Selbstreproduktion des Systems. Oder um es mit einer alten Unterscheidung zu sagen: es schützt durch Negation vor Annihilation.“ Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt: Suhrkamp, 1984, 507. 75 Sloterdijk legt seinem Postulat des homo immunologicus ein posttotalitäres Modell des Zusammenlebens zugrunde, „die Einsicht, daß gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe sich nur im einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen, muß sich früher oder später von neuem geltend machen. Sie drängt auf eine Makro-Struktur globaler Immunisierungen: Ko-Immunismus.“ Slo­ terdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt: Suhrkamp, 2009, 713.

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­ nthropomorphe Form und Gestalt“ („удерживавшим его во вполне антропоморфa ном виде и образе“, 251), vor allem, weil sein Körper-Ersatz nur aus der Distanz zu sehen ist. Die Beschreibung ist einerseits Adaption von Anekdoten über Andropovs notorisch angeschlagene Gesundheit, ganz besonders solche, die auf der Ähnlichkeit des Namens mit ‚Android‘ basieren. Andererseits wird in der „Körperpfütze“ die psychoanalytische Figur des „Körpers ohne Organe“ ausbuchstabiert, wie sie in Mille Plateaux (Tausend Plateaus, 1980) von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelt wird, die Prigovs Moskauer Kreis durch Übersetzungen Michail Ryklins rezipiert. Der ‚andropovo­ morphe‘ Körper stirbt – angeblich an „übermäßiger Sensibilität“ („krajnej vpečat­litel’­ nosti“, 250). Der Körper des Führers geht an einer Immunreaktion zugrunde. Für den Erzähler von Moskau werden Immunität, Immunisierung bzw. Berührung und Unberührbarkeit zu Kriterien autobiographischer Vermittlung. Die Andro­ pov-Episode wird mit einem metapoetischen Kommentar abgebrochen: Но все это потом. Гораздо позже. Совсем в другое время, о котором ни вспоминать, ни рассказывать уже невозможно, так как я не рассказчик о событиях своей частной жизни. Но лишь повествователь о мощном общем, общественном бытии, прокатывающемся через меня. (260) Aber das alles später. Viel später. Zu einer ganz anderen Zeit, die sich weder erinnern noch erzählen lässt, da ich kein Erzähler von Ereignissen meines Privatlebens bin. Sondern nur ein Erzähler des mächtigen allgemeinen, öffentlichen Seins, das durch mich hindurchwalzt.

Die Phase, in der das Ich permeabel für die Wirklichkeit, das „Sein“, ist, bezieht sich auf die historischen Ereignisse der Kindheit (Kriegsende, Stalins Tod). In seinem späteren Leben nimmt die Wichtigkeit der Ereignisse und ihre Fähigkeit, das Ich zu penetrieren, ab, der Erzähler geißelt sich gar als „egoistisch, egozentrisch“ („ėgoističnym, ėgocentričnym“, ebd.). Die zunehmende Immunisierung lässt sich auf die Struktur von Moskau übertragen: Sind es Berührung und Durchlässigkeit des bios in den Kapiteln M-1 bis M-5, erfährt das kindliche Ich im letzten Kapitel eine Art Apotheose der Unberührbarkeit. Auf rhetorischer Ebene bedeutet das: Erst mit Kapitel M-6, dem Eintritt des autobiographischen Ichs in die Erzählung, kann der Erzähler der epidemischen metonymischen Reihe entkommen. Was hier als zoegraphischer Modus der Autobiographie bezeichnet wird, lässt sich für den Roman Moskau als ein Erschreiben von Singularität fassen. Die Erinnerung sondert den bios von der zoe ab. Die infektiöse metonymische Struktur der Assoziation wird aufgebrochen. Doch die Subjektivität erhält nicht die Form eines ‚ganzen Lebens‘. Es ist stattdessen nur ein Moment der Lähmung, der Schwäche, der für diesen bios steht. Er ist nur ex negativo ein menschlich qualifiziertes Leben. Der letzte Satz, „Наутро меня разбил паралич“, heißt wörtlich: „Morgens hat mich die Lähmung zerschlagen“. Das Ich wird eine fragmentierte Singularität. Das Fragment wird in Renat die Romanform bestimmen – hier fügt das Ich Prosafragmente aneinander.

5 R  enat i Drakon (Renat und der Drache, 2005): Zoegraphie und Autofiktion Neben dem Projekt der „aufrichtigen“ Gattungen schreibt Prigov einen im engeren Sinne fiktionalen Roman, der nicht den Ich-Erzähler, sondern eine Figur in den Mittelpunkt stellt. Im Roman Renat i Drakon (Renat und der Drache, 2005)1 tritt Autofiktion2 an die Stelle der Erinnerung: Die Hauptfigur Renat wächst in der Sowjetunion der Nachkriegszeit auf, studiert am Gor’kij-Literaturinstitut und später an einem biologischen Institut, um biotechnische Experimente durchführen zu können. Renat ist eine Art postmoderner Wiedergänger von Georg dem Drachentöter. Er benötigt die Experimente nicht, um ein reales Monster zu bezwingen, sondern dazu, in einen virtuellen bzw. körperlosen Zustand zu gelangen, um gegen das Monströse an sich anzutreten. Die Jungfrau, die in der Georgssage vor dem Ungeheuer gerettet wird, ist in Renat keine einzelne Figur, sondern eine unbestimmte weibliche Substanz. Damit entwickelt Prigov Prinzipien des Poems Machrot’ (Kap. 3.2) unter Romanbedingungen weiter. Die Identität des Intellektuellen Renat bleibt offen. Gut möglich, dass er ein alter ego des aus Moskau bekannten Ich-Erzählers ist. Ebenso bekannt aus Moskau kommen dem Leser Kinder namens Dimka und San’ka vor. Es sind Verkleinerungsformen von Dmitrij und Aleksandr, in denen „Dmitrij Aleksandrovič“ verschlüsselt ist und die so auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Autor, Figuren und Namen verweisen. Trotz der autobiographischen Selbstreferenz steht der Erzähler in Renat nicht im Mittelpunkt. Das Verhältnis zwischen bios und zoe soll in der folgenden Lektüre in seinen Ordnungs- und Vermittlungsverfahren analysiert werden: in der enzyklopädischen Organisation des Texts, im Verhältnis von Figuren und Namen, in der mythopoetischen Bearbeitung religiöser und politischer Helden, in der Organisation von Raum und Zeit in menschlichen und nichtmenschlichen Dimensionen und dem ‚Switchen‘ des Erzählens zwischen ihnen.

1 Prigov, Dmitrij A.: Renat i Drakon. Romaničeskoe sobranie otdel’nych prozaičeskich otryvkov, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2005. Zitate in Kapitel 5 folgen mit Seitenangaben im Text. 2 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Bandbreite der Forschung zum Verhältnis von Autofiktion und Autobiographie darzustellen und in einen zoegraphischen Kontext zu stellen. Für diese Arbeit wird der Begriff benötigt, um zwei verschiedene Strategien voneinander abzugrenzen: Moskau steht im Zeichen der fiktionsskeptischen Phantastik der Erinnerung, während in Renat Fiktion und fiktionale Figuren neben dem erinnernden Ich-Erzähler stehen. https://doi.org/10.1515/9783110602494-005

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 Renat i Drakon

5.1 Roman als „Enzyklopädie unverständlichen Lebens“ Renat und Moskau unterscheiden sich nicht nur im Umfang – Renat kommt auf knapp das Doppelte –, sondern auch in ihrer Komposition, insbesondere der Kapitelstruktur. Die Zahlenfolge der Kapitel von „Moskva-1“ bis „Moskva-6“ suggeriert in Moskau eine Sukzession, tatsächlich verlaufen die Ereignisse in einer Art „ewigen Wiederkehr“.3 In Renat dient das kyrillische Alphabet als Ordnungsinstrument: Die 44 Kapitel sind jeweils mit Buchstaben und Überschriften bezeichnet, folgen aber nur teilweise alphabetischen Sequenzen. Eine „unverzichtbare Vorbekundung“ („neobchodimoe preduvedomlenie“) beginnt erst auf Seite 246, ist mit den Buchstaben „A, Б и С“ überschrieben und spielt so mit visuellen Analogien zwischen lateinischem und kyrillischem Alphabet. Im Gegensatz zu Prigovs Alphabetgedichten stehen die Buchstaben in keinem offensichtlichen phonetischen oder semantischen Bezug zu den jeweiligen Kapiteln. Eine Ausnahme bildet das letzte, das mit den drei letzten Buchstaben des russischen Alphabets endet („Э, Ю, Я“; „Ė, Ju, Ja“) und zentral vom Ich-Erzähler (oder schlicht: vom „ja“) handelt. Ähnlich wie in Moskau gibt es mit Zahlen nummerierte Kapitel, die verschiedene Versionen oder ‚Seriennummern‘ desselben Buchstabens implizieren (z. B. „S-1“, „S-2“, „S-3“). Das Prinzip verschiedener Versionen von Figuren, Orten und Handlungen ist im ganzen Roman virulent und wird noch detailliert zu b ­ etrachten sein. Die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten spielenden Episoden stehen oft unverbunden nebeneinander, beziehen sich nicht aufeinander. Sie decken sich nicht mit der Einteilung der Kapitel. Sie sind „Fragmente“ oder „Ausrisse“, wie sie der Untertitel des Romans im Sinn hat: „Sammlung von Prosafragmenten in Romanform“ („romaničeskoe sobranie otdel’nych prozaičeskich otryvkov“). Prigov hat Renat als Experiment mit phantastischen Gattungen angelegt. Er bezeichnet den Roman als „Mischung aus Alltagsrealismus, Fantasy und Science-Fiction. Eine Enzyklopädie dieses unverständlichen Lebens“ („помесь бытового реализма, фэнтези и научной фантастики. Энциклопедия такой непонятной жизни“, Prigov/Ėpštejn 2010, 57). Die epistemologische Perspektive eines Romans als „Enzyklopädie unverständlichen Lebens“ („ėnciklopedija neponjatnoj žizni“) soll die folgende Lektüre begleiten. Es geht nicht um ein Verstehen des Lebens, das in Diltheys Hermeneutik den zentralen Impetus der Biographie ausmacht.4 An seine Stelle ist in Prigovs Autofiktion ein enzyklopädisches Unterfangen getreten, das unverstandene Einheiten kombiniert und präsentiert. Andernorts bezeichnet Prigov den Roman in Anspielung

3 Vgl. dazu Jampol’skij 2010, 235–243. 4 Dilthey bezeichnet die „Biographie als die literarische Form des Verstehens von fremdem Leben“. Dilthey, Wilhelm: „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Bernhard Groethuysen, Leipzig: Teubner, 1942, 246–251; 247. Den Lebensbegriff beschränkt er dabei auf die „Menschenwelt“ (vgl. ebd., 228).



Roman als „Enzyklopädie unverständlichen Lebens“ 

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auf den Untertitel von Puškins Evgenij Onegin als „Enzyklopädie des russischen Lebens“ (vgl. Prigov/Rešetnikov 2005). Wenn Prigov dies sagt, scheinen die drei verschiedenen Bedeutungsebenen von ‚Leben‘, die in Kapitel 3.1 in seinen poetologischen Texten betrachtet wurden, also Leben in Bezug auf Raum, Zeit und Wirklichkeit, ineinander verschränkt. In Renat wird das „russische Leben“ epistemologisch betrachtet, wie es Dichter, Mystiker, Religionsphilosophen, Biokosmisten und Politiker zum Gegenstand gemacht haben. Neben der biographischen Charakterisierung der Figur Renat steht das zoegraphische Registrieren zahlreicher Phänomene des Lebendigen, der spontanen Bildung und dem Verschwinden von Leben. Im Gegensatz zu Moskau hat sich die autobiographische Vermittlungsinstanz in einzelne Kapitel bzw. Fragmente zurückgezogen. Während der Ich-Erzähler in Moskau im virtuellen „Gedächtnisraum“ operiert, mit dessen Energie die Dinge je nachdem entstehen, wie sie erzählt werden, steht das Ich in Renat neben anderen Figuren und Erzählperspektiven. Im ersten Kapitel führt der Ich-Erzähler Renat als Bekannten ein: Er erinnert sich an ein Treffen in der Wohnung von zwei Schwestern – nicht benannte Künstlerinnen des Moskauer Undergrounds, die in verschiedenen Versionen im Roman weiter vorkommen. Erst im preduvedomlenie erklärt der Ich-Erzähler sein Verfahren mit einer Art Manuskriptfiktion: Сочинил, естественно, я сам. Думаю, ни у кого ни на мгновение не возникло ни малейших сомнений по сему поводу. Сам же, понятно, составил рукопись отдельными кусками, главками в произвольном порядке. В той именно заданной последовательности, в которой все здесь как бы перепутано. (259 f.) Geschrieben habe ich es natürlich selber. Vermutlich sind da bei niemandem auch nur für einen Moment geringste Zweifel aufgekommen. Selbstverständlich habe ich auch das Manuskript selbst in einzelnen Stücken zusammengestellt, in Kapiteln in willkürlicher Reihenfolge. In genau jener vorgegebenen Reihenfolge, in der alles hier scheinbar durcheinandergeraten ist.

Der Ich-Erzähler bewegt sich wie in Moskau auch in Renat nicht im Diskurs der Fiktion, der Erzähler hat nichts erfunden, sondern eher komponiert (was in ‚sočinit’‘ wörtlich enthalten ist). Das Wieder-Zusammensetzen der aleatorisch durcheinandergebrachten Textteile obliegt der Leserschaft – eine mühsame Angelegenheit. Störungen der Komposition fallen auf verschiedenen Ebenen vor. Auch Gedächtnisverlust kann die Struktur des Romans beeinträchtigen: По прошествии некотороrо времени я неожиданно вспомнил, что выпала одна существенная глава. Выпала не только из текста, но совершенно изгладилась из моей памяти. И вот вспомнилась. Речь шла там о каких-то неведомых и непереносимых для человеков страшенных существах. Собственно, размера они были невеликого и вида неужасающего, как можно было бы себе, по привычке, представить. Так вспоминается. И вспоминается с моментальным содроганием спинной кожи вдоль всего позвоночника, стремительно промерзающего каждым своим отдельным костистым позвоночком. (261 f.)

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 Renat i Drakon

Nachdem einige Zeit ins Land gezogen war, fiel mir plötzlich ein, dass ein wesentliches Kapitel fehlte. Es war nicht nur aus dem Text verschwunden, sondern völlig aus meinem Gedächtnis entwischt. Und da fiel es mir ein. Es ging darin um irgendwelche unbekannten und für Menschen unerträgliche, schreckliche Lebewesen. Von der Größe her waren sie klein und vom Aussehen her kaum furchterregend, wie man sich das vielleicht üblicherweise vorstellt. So habe ich es in Erinnerung. Und zwar erinnere ich mich daran mit einem momenthaften Erzittern der Rückenhaut entlang der Wirbelsäule, die mit jedem einzelnen ihrer Wirbel zu Eis erstarrt.

Eine „aufrichtige“ Erinnerung scheint umso glaubwürdiger, je fremder das Erinnerte dem menschlichen Gedächtnis ist. In diesem Kontrast stehen „neue Anthropologie“ und aufrichtiges Schreiben in Renat zueinander. Neben der Anthropologie des Gedächtnisses wirkt sich die Politik des Gedächtnisses auf die Romanstruktur aus: Ein Fragment soll zu Sowjetzeiten bei einer Literaturzeitschrift abgelehnt worden sein, im Lichte der politischen Veränderungen hat sich der Ich-Erzähler entschlossen, es doch zu veröffentlichen.5 Prigov hat das Spiel mit der Textfragmentierung bereits vor der Buchveröffentlichung begonnen: Eine erste Fassung des Kapitels erscheint ein Jahr zuvor in der Zeitschrift „Oktjabr’“ unter dem Titel Nevynosimost’ podobnogo (Die Unerträglichkeit von Derartigem, 2004).6 Der Titel bezieht sich auf einen Kommentar des Erzählers, der von einer mythologischen Beschreibung der legendarischen Recken (bogatyri) und ihres charakteristischen Schnarchens zu einer Alltagsszene einer schnarchenden Frau überleitet: „Ich kenne die ganze Unerträglichkeit von so etwas.“ („Я знаю всю невыносимость подобного.“ 282). Ohne diesen Kontext kann die „nevynosimost’ podobnogo“ die Unerträglichkeit des Ähnlichen als solches meinen. Nicht zufällig stößt der Leser von Renat immer wieder auf Verständnisprobleme aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen: die Ähnlichkeit verschiedener Textfassungen, die Ähnlichkeit von Figuren und Orten, über die der Erzähler in einem Panorama von Fragmenten den Überblick verliert, und die Ähnlichkeit zwischen biographischem Autor und fiktionaler Autor-Persona. Sie alle stehen nebeneinander, ohne dass sie der Text zueinander in Beziehung setzen würde. Wenn der Erzähler erklärt, die „Unerträglichkeit des Ähnlichen“ zu kennen, dann lässt sich das auf seine Unfähigkeit oder den

5 „Und nun, im Licht der neuen Zeit und den allseits bekannten liberalen Veränderungen habe ich mich an die vermaledeite Mappe erinnert. Habe sie rausgekramt. Lange die einzelnen Blätter und Kapitel umgedreht, ohne mich entschließen zu können, mit ihnen etwas Konkretes anzustellen. Und unter welchem Namen sollte ich das veröffentlichen? Obwohl sich nur eine einzige Antwort aufdrängt – unter meinem eigenen.“ („И вот, соответственно в свете нового времени и всем известных либеральных перемен, я вспомнил про пресловутый портфельчик. Достал его. Долго вертел разрозненные листки и главки, все не решаясь предпринять с ними что-то конкретное. Да и под чьим именем публиковать? Хотя ответ напрашивается единственный – под собственным.“ 259). 6 Prigov, Dmitrij A.: „Nevynosimost’ podobnogo“, in: Oktjabr’ 6/2004, 129–139. Ein Teil des Kapitels „S-3. Ešče odin propuščennyj kusoček“ („S-3. Noch ein kleines weggelassenes Stückchen“, 272–291) ist eine überarbeitete Fassung des vorab publizierten Texts.



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Unwillen beziehen, die einzelnen Fragmente in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen. Während in Moskau das metonymische Prinzip der Assoziation und Infektion von Nebeneinanderliegendem herrscht, sind die unähnlichen Phänomene in Renat fragmentarisch voneinander getrennt. Insofern ist Renat eine poetologische Fortsetzung von Moskau: Das noli me tangere des Ich-Erzählers an dessen Ende (in Kapitel 4.4 als fragmentierte Singularität beschrieben), ist in Renat der Ausgangszustand. Das Prinzip des Erzählens in Prosafragmenten geht nicht von einer Ähnlichkeit der jeweils beschriebenen Welten aus. Die Erzählperspektive springt von der ersten Person in die dritte, Episoden wechseln bisweilen mitten in einem Absatz. Die enzyklopädische Perspektive lässt sich als Zugriff auf eine Welt unähnlicher Entitäten verstehen. Ihr Motto ist das Epigraph des Romans, ein Pseudo-Aphorismus: „Die Welt ist voller ähnlicher Wesen (anonym)“ („Мир исполнен схожих сущностей [из анонима]“, 5). Die erzählte Welt in Renat ist ein Inventar von Orten, Zeiten und Figuren. Sie können einander hinsichtlich Namen und Charakter ähneln, doch ihre Ähnlichkeit steht unvermittelt, unverglichen da. Die Assoziation von Ähnlichem, z. B. zwischen mythischer Welt und banalen Erlebnissen, ist für den Erzähler problematisch, da sich die anthropologischen Bedingungen der Ähnlichkeit und ihrer Wahrnehmung an sich in einer Krise befinden. Das dem Menschen Unähnliche geht im Roman auf den Menschen über. Zwar stehen sich im Titel Renat i Drakon Mensch und Monster gegenüber, doch auch bei Renat selbst bilden sich monströse Züge. Der Ich-Erzähler mischt sich unter die „unähnlichen Wesen“, von denen die Welt des Romans erfüllt ist. Zwar hat er die Autorität, den menschlichen und unmenschlichen Phänomenen ihren Namen zu geben. Doch er besetzt im fragmentarischen Text keine höhere ontologische Ebene. Der Ich-Erzähler tritt zwar im mitten in den Text eingeschobenen preduvedomlenie als Autor des Romanmanuskripts in Erscheinung. Doch auch eine andere, an den Kreis der Konzeptualisten angelehnte Figurengruppe bespricht dieses Manuskript und erhebt Anspruch auf dessen Bearbeitung: Personen namens Jinegve Voopop (der verkehrt buchstabierte Name des in Moskau bereits auftretenden Evgenij Popov), ein Literat („literator“) und ein Buchhalter („buchgalter“) unterhalten sich an verschiedenen Stellen über die Textkonstitutions. Sie tun dies in einem buddhistischen Kloster in Feldkirch in den österreichischen Alpen, also an einem locus amoenus, der an die Topographien der Kollektivnye dejstvija (Kollektive Aktionen) erinnert und dem Ort einer tatsächlichen Performance entspricht: 1998 trat Prigov mit anderen Künstlern dort bei einem Festival auf.7 Während das reale T ­ reffen

7 Vgl. Sergej Letovs Bericht zur Aktion Shwedagon zur Aktion „Ort der Handlung“: Letov, Sergej: „­Rasskaz učastnika ob akcii ‚Švedagon k akcii »Mesto dejstvija«‘“, 1999, http://conceptualism.letovru/Letov-o-Shvedagone.html. In Renat kommt das Toponym Feldkirch außerdem in zwei Abwandlungen vor („Feldenkirch“ und „Kirchendorf“). Zum „Dreieck der Klöster“ im Roman (dem österreichischen ­Minoritenkloster, dem ehemaligen orthodoxen und dem tibetischen Kloster), die den Westen, Russland und den Osten repräsentieren, vgl. Silard 2014, 206.

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in einem Jesuitenkolleg stattfand, begegnen sich die Figuren in Renat in einem Kloster („monastyr’“). Darin klingt der Name Andrej Monastyrskijs an, spiritus rector der Kollektivnye dejstvija und einer der treibenden Kräfte hinter dem Prozess der Selbstkanonisierung des konzeptualistischen Kreises: 1999 gibt er ein Wörterbuch der ­Begriffe der Moskauer konzeptualistischen Schule (Slovar’ terminov moskovskoj konceptual’noj školy) heraus. Zumindest was Prigov betrifft, ist die Auswahl der Begriffe darin willkürlich und auf wenige Einträge beschränkt. Die Paradoxie der Selbstkanonisierung – also ein Überführen des privaten Texts in eine öffentliche Norm – ist besonders reizvoll für Künstler, die eine Tradition des Samizdat haben, also der Selbst-Ausgabe als Gegenkanon zur offiziellen Kunst.8 Prigov problematisiert diese Praxis im autobiographischen Erzählen: Moskau untertitelt er mit „Rukopis’ na pravach romana“ – eine Anspielung auf die bibliographische Bezeichnung unveröffentlichter Manuskripte „na pravach rukopisi“ (wörtlich: „mit dem Recht eines Manuskripts“) und den juristisch-normativen Aspekt der Gattungstradition (von gr. ‚kanon‘; ‚Messstab‘, ‚Richtschnur‘), die Texten gewisse Rechte und Dignitäten gewährt oder verweigert. In Renat ist das Thema kultureller Kanones (kirchlich, juristisch, literarisch), der Kanonisierung und Entkanonisierung (siehe Kap. 5.2) zentral. Die Figurengruppe der Pseudo-Konzeptualisten agiert so gesehen als Konsortium, das über die Kanonizität einzelner Textbausteine für den Roman entscheidet. Es konferiert an einem geschichtslosen, virtuell über allem schwebenden Ort über ein „Manuskript“, das in verschiedenen Zeiten zu existieren scheint und sich weiterschreibt. Seine Grenzen zum autobiographischen Text sind nicht gezogen  – welche Kapitel zu besagtem Manuskript gehören und welche nicht, bleibt unklar. Verbindungen zwischen der extradiegetischen Figurengruppe und der intradiegetischen Figur Renat werden angedeutet. Möglicherweise ‚taucht‘ Renat nach seiner experimentellen Virtualisierung selbst in die Meta-Welt der Konzeptualisten im Kloster ein (vgl. 320; 634). An anderer Stelle präsentiert der Erzähler den Handlungsstrang als Teil von Renats eigener Erzählung, an deren Ende er zusammen mit seinen Figuren schweigend in den Bergen liegt (127). Die verschachtelten Ebenen machen es unmöglich, einem Erzähler, einer Figur oder einer erzählenden Figur eine ontologisch höhere zuzuweisen. Die drei Pseudo-Konzeptualisten Voopop, Literat und Buchhalter sind Kommentatoren, die der Ich-Erzähler als lesende und wertende Instanz funktionalisiert. Eine klassische Metalepse als Begegnung von erfindender und erfundener Figur ist unmöglich. Ein Erzähler spricht ‚über‘ diese Meta-Figurengruppe, aber es

8 Witte hat verschiedene Strategien der Selbstkanonisierung der Konzeptualisten in den 1990er Jahren ausgemacht: Werkausgaben von Prigov, Sorokin, den Kollektivnye dejstvija u. a., synthetisierende Retrospektiven, die Selbstinszenierung als Sammlung, Sammler oder Archivar und der „dekretistische Akt einer enzyklopädischen Festschreibung der ‚termini‘ einer Moskauer konzeptualistischen ‚Schule‘“. Witte, Georg: „Die Kunst der Selbstkanonisierung“, in: Cheauré, Elisabeth (Hg.): Kunstmarkt und Kanonbildung. Tendenzen in der russischen Kultur heute, Berlin: Berlin Verlag, 2000, 99–117; 100.



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muss nicht der Ich-Erzähler sein, wie der einleitende Kommentar zum Schlusskapitel vermuten lässt: Так вот все и произошло. Да кому это интересно? Практически никому. Ну, разве удаленным обитателям некоего высокогорного буддийского монастыря. (633) Genau so ist das alles passiert. Und wen interessiert’s? Praktisch niemanden. Naja, vielleicht die fernen Bewohner eines gewissen buddhistischen Hochgebirgsklosters.

Nachdem die drei Figuren in dieser Schlussszene zunächst über die Relevanz, Herkunft und Glaubwürdigkeit einzelner Texte diskutieren, scheinen sie zuletzt das Interesse zu verlieren. Auf die Frage von Voopop, was mit dem Manuskript geschehen solle, empfiehlt der Buchhalter, es wegzuwerfen. Die Figur des Buchhalters spielt auf eine Praxis der Kollektivnye dejstvija an: Ein sogenanntes „Buchhalterium“ fixiert anhand von Prozentpunkten, welche Mitglieder wie stark an den jeweiligen Aktionen beteiligt waren,9 bzw. eine „Buchhaltungsbilanz“ („buchgalterskij rasčet“) hält nach Indexpunkten ihren jeweiligen Anteil fest.10 So wird die Idee kollektiver Autorschaft auf Einzelleistungen heruntergerechnet und ironisiert.11 In Prigovs Buchhalter-Figur deutet sich eine Art doppelte Buchführung, ein sekundäres oder parasitäres Erzählen an:12 Mal spekuliert der Erzähler, wie der Buchhalter eine Szene in eigenen Worten beschreiben würde, mal entwendet der Buchhalter einen Roman und gibt ihn als eigenen aus. Das Prinzip der Multiplikation, der Vervielfachung und Übereinanderfaltung von Erzählerstimmen und Figuren dominiert in Renat. Hier hat nicht nur jede Figur, jeder Ort seine Doubles, auch die Perspektive wird durch ein „seitliches“ Sehen und Hören

9 Vgl. den Text Avtorstvo (Autorschaft), Monastyrskij, Andrej/Panitkov, Nikolaj (Hg.): Poezdki za gorod. Kollektivnye dejstvija, Moskva: Ad Marginem, 1998, 778–779; 779. 10 Vgl. dazu die immer wieder aktualisierte Website: Monastyrskij, Andrej / Panitkov, Nikolaj: „Buchgalterija kollektivnych dejstvij. Indeksy KD“, 1997–2011, http://conceptualism.letov.ru/KD-indexes.html. 11 Vgl. dazu Sasse 2003, 180. Denkbar ist ferner eine Referenz auf Ėduard Limonovs Polemik gegen Iosif Brodskij: „Ein Bürokrat in der Dichtung. Als Buchhalter der Dichtung zählt er alle Balken, Haken, Pfeiler, Säulen und Nägel der Welt und trägt sie in den Kostenplan ein.“ („Бюрократ в поэзии. Бухгалтер поэзии, он подсчитает и впишет в смету все балки, костыли, пилястры, колонны и гвозди мира.“), Limonov, Ėduard: „Poėt-buchgalter (Neskol’ko jadovitych nabljudenij po povodu fenomena I. A. Brodskogo)“, in: Muleta. Semejnyj al’bom, Paris: Ed. Vivrisme, 1984, 132–135; 134. Als poetologische Beschreibung liest sich die Kritik umso interessanter, insofern als Prigovs bilanzierende Poesie der 1990er in eine ganz ähnliche Richtung geht (vgl. Kap. 7.2). 12 Die Figur des Buchhalters – eines beliebten Typs der späten sowjetischen Filmkomödie, der in Prigovs Lyrik allerdings nicht vorkommt – steht in der Struktur von Renat für eine bürokratische Archivpraxis, die Sven Spieker in seinen Arbeiten für die europäischen Avantgarden hervorgehoben und für das späte 20. Jahrhundert vor allem anhand von Il’ja Kabakovs Installationen untersucht hat, vgl. insbesondere Spieker, Sven: The big archive. Art from bureaucracy, Cambridge: MIT Press, 2008.

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 Renat i Drakon

stereoskopisch und stereoakustisch. Zwei immer wieder auf- und abtauchende anonyme Schwesterfiguren lassen im Unklaren, ob sie optische Täuschungen sind. „Neben­gerüchte“ („bokovye sluchi“, 176), Kollateralerzählungen, konkurrieren mit anderen Aussagen. Das Prinzip der Nebenfigur wird in der Figur des „seitlichen Hitlers“ oder „Kollateralhitlers“ („bokovoj Gitler“) reflektiert. Der „bokovoj Gitler“ wird sowohl in Moskau (vgl. Moskau, 53) als auch in Renat (47) kurz erwähnt, ist aber nicht Teil der Figurenwelt, ‚streift‘ die Texte also nur. Nach den Romanen widmet ihr Prigov eine eigene Erzählung (Bokovoj Gitler, 2006), die den Untertitel „wahrheitsgetreue Erzählung“ („pravdivoe povestvovanie“) trägt. Hier imaginiert der Ich-Erzähler, wie die gesamte Führungsriege des Dritten Reiches inklusive der sowjetischen Fernsehfigur Stierlitz einen Moskauer Untergrundkünstler in seinem Atelier besucht – dieser trägt eindeutige Züge von Il’ja Kabakov.13 Die hochrangigen Nationalsozialisten finden im Atelier des jüdischen Künstlers „entartete Kunst“ („degenerativnoe iskusstvo“, Prigov 2006, 95). Bei diesem Anblick verwandeln sie sich in Werwölfe und zerfleischen den Künstler. Dass er in der nächsten Szene unversehrt ist, erklärt er sich mit der Virtualität des Ereignisses, das keine realen Auswirkungen habe. Nachdem der historische Hitler nicht in den metaphysisch und ideologisch abgeschirmten Raum der Sowjetunion habe eindringen können, sei er in anderer Form erschienen: Так что пролезть сюда он может только неким слабым малоэнергетийным, но обладающим зато большей проникающей способностью, вышеназванным феноменом Бокового Гитлера, который, в отличие от прямого и единоразового его явления, существует в нескольких модификациях и на значительном временном протяжении (Prigov 2006, 99) Bis hierher konnte er also nur durchschlüpfen als das energetisch schwache, aber dafür ein umso größeres durchdringendes Vermögen besitzende, oben genannte Phänomen des Seitlichen Hitlers, das im Gegensatz zu seiner direkten und einmaligen Erscheinung in einigen Modifikationen und in bedeutender zeitlicher Ausdehnung existiert.

Die Struktur von Renat als „Enzyklopädie unverständlichen Lebens“ versammelt Phänomene, seien sie als „Nebenversionen“ einander ähnlich oder völlig unähnlich. Die nach einem durcheinandergeratenen Alphabet angeordneten Fragmente stehen nebeneinander, ohne dass eine übergeordnete Instanz sie vergleichen würde. Im folgenden Kapitel soll die Spezifik von Prigovs Autofiktion im Verhältnis von Autor, Figur und Name betrachtet werden.

13 Prigov, Dmitrij A.: „Bokovoj Gitler. Pravdivoe povestvovanie“, in: Znamja 1/2006, 78–99.



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5.2 Held, Figur, Name: Vakante Posten Die Kernidee der Figurenkonstellation in Renat hat Prigov bereits Mitte der 1970er Jahre formuliert: [М]еня всегда интересовали кандидатуры на замещение вакантных должностей чина народных героев. Например, пластичное и милое сращение функций Георгия Победоносца и Аники-воина в лице Василия Ивановича Чапаева14 [M]ich haben immer Kandidaturen auf die Neubesetzung vakanter Posten im Rang von Volkshelden interessiert. Zum Beispiel das plastische und niedliche Zusammenwachsen der Funktionen von Georg dem Drachentöter und Anika dem Krieger in der Person Vasilij Ivanovič Čapaevs.

Das Freiwerden eines Rangs, einer Position in der Kultur zeigt Renat am Beispiel des Drachentöters Georg. Historisch ist dessen Dekanonisierung gemeint: 1969 wurde der bis dahin als Heiliger verehrte Georg zusammen mit anderen nur legendarisch überlieferten Figuren aus dem Heiligenkalender der katholischen Liturgie entfernt.15 Renat schlussfolgert: Wenn Georg dekanonisiert ist, dann kann das Ereignis des Drachenkampfs nicht stattgefunden haben, es hat eine „Retronegation“ erfahren (vgl. 565). Zahlreiche Episoden referieren auf Drachen- und Monsterkämpfe an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten. Doch das Monster selbst bleibt abwesend, wird nur von Zeichen, Spuren, Reflexionen, von banalen Symbolen wie Ratten, von menschlichen Grausamkeiten oder in Gerüchten vertreten.16 Renat erklärt die Situation folgendermaßen: Я говорю о ноуменальном уровне. Благодаря деканонизации его как бы изъяли не только из человеческой истории, но и если не с метафизического уровня, то из праистории. То есть дезавуировали сам акт драконоборства. (566) Ich spreche von einer noumenalen Ebene. Durch die Dekanonisierung hat man ihn sozusagen nicht nur aus der menschlichen Geschichte, sondern, wenn auch nicht aus der metaphysischen Ebene, dann aus der Urgeschichte entfernt. Man hat also den Akt des Drachenkampfes selbst desavouiert.

14 Preduvedomlenie k sborniku ‚Istoričeskie i geroičeskie pesni’ i sborniku rasskazov ‚SOV’y‘ (Vorbekundung zum Sammelband ‚Historische und heroische Lieder‘ und zum Erzählungsband ‚SOV’y‘ [etwa: ‚EU’len‘], 1971–1974), SPKRV, 8. 15 Vgl. 565 f. Von einer Dekanonisierung kann im strengen Sinne allerdings nicht die Rede sein, weil Georg in den Kalendern verschiedener Kirchen unterschiedlich verehrt wird, von der Beliebtheit Georgs in der orthodoxen Kultur ganz zu schweigen. 16 Für Lipoveckij ist die „unsichtbare Figur“ des Drachen ein „symbol of the transcendental and sublime (in the Burkean rather than Kantian sense). At the same time, the very process of approaching and seeking the signs of the transcendental appears indistinguishable from the production of phantoms. In other words, the transcendental is treated simultaneously as an unattainable epistemological goal and as a direct (if phantasmic product of intellectual quest).“ Lipovetsky 2015, 161.

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Eine leere Stelle, ein „verdünnter Raum“ („разреженное пространство“, 567) in Geschichte, Urgeschichte und Mythos zugleich ist entstanden. Wie diese Ebenen in den Georgssagen und -ikonen verschränkt sind, hat Vladimir Propp gezeigt.17 Der vakant gewordene Posten des Drachentöters hat die Struktur der Geschichte gestört, wie Renat mit Anleihen aus Science-Fiction und Strukturalismus erklärt: Собственно, тысячи таких вот исторических макро- и микрособытий теперь в виде пустых пузырей плавают и чреваты разной мощности катастрофическими последствиями при столкновении с активными зонами. (567) Im Grunde schweben nun Tausende von solchen historischen Makro- und Mikroereignissen in Form leerer Blasen herum und können bei einem Zusammenstoß mit aktiven Zonen katastrophale Folgen unterschiedlicher Stärke haben.

Renat, so wird in seinen Konfrontationen mit monströsen Phänomenen, aber auch durch Hinweise auf seine übersinnlichen Fähigkeiten deutlich, sieht sich dazu berufen, selbst die Lücke bzw. „Leere“ im Kontinuum der Zeit zu füllen. Die kulturelle Position des Drachentöters als Vertreter und Verteidiger des Menschlichen gegen das Nichtmenschliche ist von der Kirche leergeräumt worden.18 Nun ist es Aufgabe einer Technikutopie, einer Cybermystik geworden,19 den Status des Menschlichen zu verhandeln. Auch die weibliche Figur der Georgssage hat in Renat multiple Versionen: Während es in den gängigen Überlieferungen eine jungfräuliche Königstochter ist, die vom Drachen als Opfer von der Bevölkerung gefordert und schließlich von Georg gerettet wird, fehlt im Roman eine solche konkret handelnde Figur. Sowohl das Monster als auch das weibliche Element des Mythos haben keine Figur, nur einen Namen und ein Wesen: In Kapitel M ist die Rede von einer Art Ur-Ungeheuer in einem Kloster, das zunächst den Körper des Starzen Semeon bewohnt, ihn dadurch tötet und sich in einen Drachen und eine weibliche Substanz aufspaltet (vgl. 179). Renat greift diese Erklärung auf und assoziiert die Substanz mit metaphysischen Vorstellungen der

17 Propp, Vladimir Ja.: Fol’klor. Literatura. Istorija (Sobranie trudov), hg. v. V. F. Ševčenko, Moskva: Labirint, 2002, 94; 114. 18 Smirnov hat beschrieben, wie sowohl die christliche Apokalypse als auch der Sozrealismus die universale Austreibung des Monströsen versprechen, und auf die Bedeutung Georgs für den russischsowjetischen Kontext hingewiesen; vgl. Smirnov 1994, 332. Selbst in Boris Polevojs Roman Povest’ o nastojaščem čeloveke (Die Geschichte vom wahren Menschen, 1948) erhebe sich der Held, der ohne Beine in den Luftkrieg zieht, als Flugwesen in die Lüfte und habe damit den Archetyp des Drachen inkorporiert und unschädlich gemacht; vgl. ebd., 334. 19 Luca di Blasi schlägt diesen Begriff vor, um „die computertechnisch dominierte Gegenwart auf ihren imaginären und mystischen Gehalt hin zu befragen“. Di Blasi, Luca: „Kybernetik und Mystik. Zur Einleitung in diesen Band“, in: ders. (Hg.): Cybermystik, München: Fink, 2006, 7–15; 8.



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Weiblichkeit, insbesondere „ewiger Weiblichkeit“.20 Er sieht sie durch den alltäglichen Namen Mašen’ka repräsentiert, ein Name, der sich auf keine konkrete Figur bezieht  – und gibt damit eine Art postmoderne Antwort auf Nabokovs gleichnamige Erzählung, in der die Figur Mašen’ka mit metaphysischen Eigenschaften belegt ist.21 Der Mythos der Jungfrauenrettung wird in Renat nicht dargestellt, stattdessen geschieht die Vereinigung Renats mit der weiblichen Substanz durch Auf- oder Anrufen des Namens: Bei seinem Experiment deutet sich ein Gespräch zwischen Renats Stimme und Mašen’ka im ‚Off‘ der körperlosen Welt an. Im kurzen Kapitel P, das im Roman vor dem Experiment lokalisiert ist, scheint seine Stimme in einer menschenleeren Urlandschaft anzukommen. Darin ist eine Stimme auf dem „klingenden Hintergrund des allgemeinen Seins“ („звучащий фон всеобщего бытия“, 205) zu vernehmen: – Ма,  – прозвучал голос. Все затихло. Хотя и затихать-то было нечему и некому. Но затихло. Затихло пуще того. – Шень! – голос окутал всю местность, убавив силу свечения, придав ему мягкость и некие переливчатые оттенки. – Ка! (206) – Ma, – erklang eine Stimme. Alles wurde still. Obwohl niemand und nichts da war, um still zu werden. Trotzdem wurde es still. Umso stiller. – Šen’! – die Stimme erfüllte den ganzen Ort, sie dämpfte die Leuchtkraft, verlieh ihm etwas Sanftes und schillernde Schattierungen. – Ka!

Ein pseudo-göttliches Wort legt sich über das paradox „verstummende“ Nichts – darin wird die theologische Dimension der „neuen Anthropologie“ deutlich. Sie ist

20 „Снова какая-то литературщина  – Соловьев, Блок, Вечная Женственность, Премирная Жена, Одеяние Священного Брака“ („Schon wieder so ein literarisches Zeug  – Solov’ev, Blok, Ewige Weiblichkeit, Himmlische Frau, Reiz der Heiligen Ehe“, 575 f.). Hier ist auf den Einfluss von Daniil Andreev und seiner Schrift Roza mira (Die Weltrose, 1950–1958) hinzuweisen. Katja und Kreatur nehmen explizit Bezug auf die Idee „anderer“ Welten des Mystikers (siehe Kap. 7.1.3). Andreev beschreibt die Ewige Weiblichkeit „als transzendentes kosmisches Prinzip, gleich welchen Ausdrucks in der konkreten menschlichen Vielheit oder in der einzelnen Frau“ („как трансцендентного космического начала, какое бы то ни было выражение которого в конкретной человеческой множественности или в отдельной женщине“, Andreev, Daniil: Roza mira, Moskva: Inoj mir, 1992, 447). Ėpštejn hat auf die ideengeschichtlichen Wurzeln dieses „gender mysticism“ in der sozial orientierten russisch-sowjetischen Mystik aufmerksam gemacht (vgl. Epstein, Mikhail: „Daniil Andreev and the mysticism of femininity“, in: Glatzer Rosenthal, Bernice [Hg.]: The occult in Russian and Soviet culture, Ithaca: Cornell University Press, 1997, 325–355; 332). Ėpštejn weist auf Andreevs politische Ambivalenz hin, da er seit seiner vermehrten Rezeption in der späten Sowjetunion sowohl für westlich-liberale Denker als auch für neopagane Strömungen attraktiv ist (vgl. ebd., 330 f.). Andreevs These von den „arischen“ Wurzeln des russischen Volks wird auch im ‚gestrichenen‘ Kapitel von Renat wiedergegeben (vgl. Renat, 276). 21 Der Name Mašen’ka ist eine Figur im Minidrama Stereotipičeskie kartinki častnoj žizni (Stereotype Bilder des Privatlebens, 1995). In einer Talkshow spricht Gott zu ihr: „Und die Lebendigen, Mašen’ka, sind nicht unbedingt fürs Leben, und das Leben, Mašen’ka, ist nicht unbedingt für die Lebendigen da! (Lauter, lauter Beifall.)“ („А живые, Машенька, не обязательно для жизни, и жизнь, Машенька, не обязательно для живых! [Громкие, громкие аплодисменты.]“ IIU, 262).

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 Renat i Drakon

unter der Prämisse von Prigovs radikalem Nominalismus zu sehen: Im Anfang ist der Name, er hat Vorrang vor dem Menschen. Auch in einer Welt virtueller Wesen ohne Körper kann es Programme der Benennung und Umbenennung geben. Während in Machrot’, einem zentralen Gedicht seiner Phase „weiblicher Lyrik“ („ženskaja lirika“), der Name der biblischen Maria nur phonetisch anklingt, ist er in Renat als Mašen’ka und dem Jungfrauen-Mythos der Figur deutlicher präsent. Wie „machrot’“ steht „Mašen’ka“ für eine unpersönliche Vitalität, ein Name mit multiplen Realisierungen, aber ohne Figur. Nahe liegt die Assoziation beider Namen mit Materie, einem Konzept also, dessen Verwandtschaft mit der Figur der Mutter (‚mat’‘) bzw. dem generativen Prinzip der Matrix lautlich präsent ist.22 Die Jungfrau, die in der Drachenlegende als Menschenopfer aus dem Volk kommt und vom Helden erlöst wird, ist in Renat eine abstrakte ‚russische‘ Materie. Renats Utopie zielt auf die Vereinigung mit dieser Vitalität, mit dem „russischen Leben“. Das „Russische“ ist keine nationale Essenz, sondern eine Eigenschaft der Kultur – Prigov hat das „Russische“ („russkoe“) der russischen Kultur in zahlreichen Gedichten zu anderen Phänomenen positioniert und dabei immer wieder neue Grenzlinien zwischen Kultur und Natur erkundet.23 Wenn der Roman eine Enzyklopädie des „unverständlichen“ bzw. „russischen“ Lebens ist, dann kartographiert er die ‚Reise‘ seiner Hauptfigur in dieses Leben. Renats Anspruch auf die vermeintlich leere Position des russischen Gründungshelden ist weder politisch noch theologisch effektiv. Das betrifft übrigens nicht nur den Mythos von Georg als Drachentöter, auf den sich der Roman explizit bezieht, sondern auch die beiden anderen Elemente der Legende: die des Tyrannenmörders und Märtyrers.24 Weder verfängt Renats Lebensexperiment als politische Dissidenz, noch stirbt er den Heldentod. Renats Leben wird nicht zur Heiligenvita, sondern zu virtuellem Leben, zoe. Es gibt in seinen Handlungen keine Beziehung zwischen einem Subjekt des Helden, dem Objekt des Monsters und der geretteten Jungfrau. Dies macht die

22 Toporov hat auf diesen Zusammenhang hingewiesen, der bereits in Platons Timaios angelegt ist (vgl. Toporov, Vladimir N.: „Prostranstvo i tekst“, in: Civ’jan, Tat’jana V. (Hg.): Tekst. Semantika i struktura, Moskva: Nauka, 1983, 227–284; 236 f.). Ėpštejn vermutet in dieser Semantik die ‚weibliche‘ Quelle des russischen Materialismus, die von der marxistisch-leninistischen Auslegung verdeckt worden ist (vgl. Ėpštejn, Michail: „Ėdipov kompleks sovetskoj civilizacii“, in: Novyj mir 1/2006, 113–126; 114 f.). 23 Der kurze Zyklus Russkoe (Russisches, 1997) bezieht sich auf den vorausgegangenen Zyklus zum „Chinesischen“. Das preduvedomlenie schlägt vor, verschiedene nationale Typen mit Punkten auf einer Linie zu vergleichen. Einige mantrische Äußerungen würden genügen, um die Unterschiede zu bestimmen und in eine Art Mendeleev-Tabelle einzutragen. Die folgenden Verse bestehen aus Worten mit gedehnten Vokalen über die schwere Fassbarkeit des Russischen („Нуууу руууускооое оноооо труууудно уууловииииимооооое“, „Naaaajaaaa das Ruuuussischeee iiist schweeeer zu faaasseeeeen“). Prigov, Dmitrij A.: Russkoe, Typoskript, Moskva, 1997. 24 Vgl. dazu Maisuradze, Giorgi: „Der Heilige Georg – Ein Held christlicher politischer Theologie“, in: Weigel, Sigrid (Hg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München: Fink, 2007, 95–100.



Held, Figur, Name: Vakante Posten 

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Lektüre von Renat schwierig und hat sicherlich dazu bei­getragen, dass der Roman bisher kaum rezipiert worden ist, Prigovs „Image“ in der russischen Kultur nicht maßgeblich geprägt hat. Intertextuell lässt sich die komplexe Konstellation von realen und imaginären Figuren zu einem Roman des Silbernen Zeitalters zurückverfolgen: Fedor Sologubs Tvorimaja legenda (Legende im Werden, 1907–1914), ist einer der zentralen Bezugspunkte des Romans. Ähnlich wie der Prosaiker und Biologe Renat führt der Dichter und Chemiker Georgij Trirodov Experimente am menschlichen Leben durch. Allerdings tut er dies aus satanistischen Motiven: Trirodov führt Experimente zur Auferstehung der Toten durch, um die göttlich gegebenen Gesetze des Lebens zu überwinden, er baut ein Raumschiff für eine neue Welt, in der diese Gesetze zur Anwendung gelangen sollen. Dagegen plant Renat eine ‚Digitalisierung‘ menschlicher Körper als „Kartographie“ virtueller Punkte – als Antwort auf eine Krise des Anthropomorphen. Während Trirodov sich mit der Figur Elizaveta zu einer androgynen Gestalt verschmelzen will, versucht Renat die Vereinigung mit Mašen’ka.25 Die Namen Trirodov (von ‚tri‘/‚drei‘ und ‚rod‘/‚Gattung‘, ‚Generation‘, ‚Geschlecht‘) und Renat (‚renatus‘; ‚der Wiedergeborene‘) teilen die namensmythologische Verbindung zu Geburt und Generation. Während in Sologubs theurgischem Denken alle wissenschaftlich-magische Tätigkeit auf die Ewigkeit gerichtet ist, zielt Renats „neue Anthropologie“ auf Virtualität.26 Namen spielen bei der Neubesetzung freigewordener kultureller Positionen eine entscheidende Rolle. Prigov überträgt lyrische Verfahren der Benennung und Umbenennung auf das dramatis personae des Romans zu einem Nominations-Experiment. Fünf mögliche Typen der Benennung von Figuren sind vertreten: 1. Figuren mit mehreren Namen: Die Vatersnamen eines „Fedor“ variieren, während die Figur in ihren Handlungen konsistent bleibt.27 Das Patronym Dostoevskijs scheint sich dem Erzähler an einer Stelle wie die Korrektur eines Versprechers

25 Auch hier gibt es Schwestern, Drachen, eine Hauptfigur mit dem Vornamen Georgij. Auf einige Parallelen zu Sologubs Tvorimaja legenda hat Szilard bereits hingewiesen (vgl. Silard 2014, 220 f.). Eine weitere intertextuelle Referenz auf das Silberne Zeitalter springt ins Auge: In Valerij Brjusovs Ognennyj angel (Der feurige Engel, 1908) heißt die weibliche Hauptfigur Renata, auch in diesem symbolistischen Schlüsselroman spielen Rituale, Klöster und monströse, phantastische Erscheinungen eine wichtige Rolle. 26 Dmitrij Golynko-Vol’fson hat in seinem Aufsatz über das „theologische Projekt“ Prigovs auf die Bedeutung der „neuen Anthropologie“ als kulturelle Utopie hingewiesen, in der es um eine „Verdrängung des Göttlichen durch den Code, des Menschlichen durch das Kybernetische, des sakralen Raums […] durch virtuelle Welten“ geht („вытеснение Божественного кодовым, человеческого кибернетическим, сакрального пространства … виртуальными мирами“), Golynko-Vol’fson, Dmitrij: „Mesto monstra pusto ne byvaet (Božestvennoe i čudoviščnoe v teologičeskom proekte D. A. Prigova)“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 5/2010, 221–236; 223. 27 Es treten folgende Namensvarianten auf: Fedor Prochorovič (nur im Erzählerkommentar, 63), Fedor Petrovič (158), Fedor Ivanovič (162), Feodor/Fedor (181), Fedor Michailovič (183 ff.).

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aufzudrängen: „Und plötzlich ist es Semen, der, Verzeihung, Fedor, Fedor Michajlovič, der sich deutlich vorstellt, dass bei ihm dort in der Kiste eine Pistole versteckt ist.“ („И внезапно Семен, который, извините, Федор, Федор Михайлович, ясно себе представляет, что там, в ящике, у него спрятан пистолет.“ 188); Namen mit mehreren Figuren: Der Erzähler berichtet „viele Mašen’kas“ getroffen zu haben (vgl. 66); namenlose Figuren: Neben dem anonymen Ich-Erzähler tragen zahlreiche  Fi­­ guren nur generische Bezeichnungen: Professor, Schwestern, Gesprächspartner, Freund, Buchhalter; figurenlose Namen: Das Wort „Drakon“ steht im Titel großgeschrieben, deutet also auf einen Figurennamen hin, doch eine Drachen-Figur gibt es nicht; Figuren mit genau einem Namen (z. B. Renat).

Die Mehrdeutigkeit und Unzuverlässigkeit von Namen prägt die kommunikative Struktur innerhalb der Erzählung sowie zwischen Text und Leser. Namen verfehlen ihre benennende Funktion, sie verhallen, werden verwechselt oder akustisch missverstanden. Renat fühlt sich von einem Mann angesprochen, der nicht „Renat“, sondern das vulgäre „chrena“ ruft.28 Renats Identität zwischen Name und Laut, zwischen Form und Formlosigkeit, zwischen Drachenkämpfer und Drache ist instabil. So tritt ein „Georgič“ auf, der Renats tierähnliche Züge bemerkt und ihm damit wiederum selbst monströsen Charakter zuspricht:29 – Как у зверя хребет-то, – с уважением говорил Георгич, сын местного Георгича, порождение некоего удаленного во времени и уже непроглядываемого ряда Георгичей, заканчивающегося и вовсе непредставимым первичным, как сказали бы немцы, Ур-Георгием. (45 f.) – Ein Rückgrat wie bei einem Tier,  – sagte Georgič respektvoll, Sohn des ortsansässigen Georgičs, Nachfahre einer zeitlich weit zurückreichenden und nicht mehr überschaubaren Reihe von Georgičs, die mit einem völlig unvorstellbaren primären, die Deutschen würden sagen: ­Ur-Georgij, endet.

Der nicht mehr zurückverfolgbare „Ur-Georg“ besetzt den verschütteten Anfang einer Kette von Generationen, die durch Namen verbunden sind. Die Stelle verweist darauf, dass auch der Übergang von mythischer in historische Zeit – auch von Georg als russischem National- bzw. Moskauer Stadthelden – in der Erzählung nicht mehr rekonstruierbar ist. Die Bindung von Drache und Drachentöter an die Erde ist gewissermaßen

28 „Хрена (именно это ‚хрена‘ Ренат и принял за обращение к нему) стоишь здесь?“ („Was zum Henker [beim ‚Henker‘ dachte Renat, er sei gemeint] stehst du hier?“, 82). 29 Vgl. Lipovetsky 2015, 162: „Overall, Renat combines two opposite mythological roles; he is a dragon-slayer, a reincarnation of St. George, and, at the same time, the Dragon itself.“



Held, Figur, Name: Vakante Posten 

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verschüttet, aber im Namen Georg noch präsent (von gr. ‚georgos‘‚ ‚Landwirt‘, eigentlich ‚Erd(be)arbeiter‘). Auch die Genealogie der Figur Renat und ihres Namens ist unklar. Der tatarische Name „Renat“ enthält das lateinische ‚renatus‘, ‚der Wiedergeborene“. Nach 1917 entstand eine neue Herleitung von der Abbreviatur „Revolucija, nauka i trud“ („Revolution, Wissenschaft und Arbeit“).30 Das scheint mit den Motiven der Figur konform zu gehen. Doch was die mögliche Wiedergeburt betrifft, ist die Sache nicht so klar. Um die Umstände seiner Zeugung ranken sich verschiedene Gerüchte. Seine Mutter Marfa hat während der deutschen Besetzung einen jüdischen Künstler im Keller ihres Hauses versteckt gehalten, als dort ein deutscher SS-Offizier wohnt. Beide könnten der Vater sein. Vieles scheint ungereimt in Renats Leben, etwa, dass er jünger wirkt, als er sein müsste, sollte er während des Krieges zur Welt gekommen sein. Zeugung und Geburt Renats bleiben in dieser Biographie im Dunkeln. Der Erzähler spekuliert zur Geschichte von Renats Lebensbeginn über die Möglichkeit von „Doppelwesen“: Существа соответственно порождаются от того как бы двойные в одном теле. Двунаправленные. Двуоперенные. Двузаостренные. Двусущные. Двуоткрытые. (408) Wesen entstehen also daraus, gleichsam zweifach in einem Körper. Doppeltgerichtet. Doppelt­ gefiedert. Doppelspitzig. Doppelwesenhaft. Doppeltgeöffnet.

Renat ist so betrachtet ein Doppelwesen zwischen Russland und Deutschland, eine ‚Ausgeburt‘ des totalitären Europas. Davon abgesehen bringt der Erzähler eine nicht-eurozentrische Genese ins Spiel: Unter den Vorfahren könnten Schamanen sein, von einem tatarischen Vater ist die Rede – immer wieder macht Renats Schwester ihn auf sein „­wildes tatarisches Fleisch“ aufmerksam.31 Sein (Halb-)Bruder Čingiz, dessen Name ­wiederum aus einer anderen Kultur stammt, erwähnt ein persisches Adelsgeschlecht, von dem die beiden abstammen könnten. Dazu imaginiert der Erzähler, dass Renat wie in zoroastrischen Schöpfungsmythen von einem Windhauch empfangen wird: И что? В тех же древних персидских легендах порождались от дуновения. От света. От листка, проплывающего мимо томящейся в ожидании девушки. Она кладет его под язык. Поднимается, идет в покои дворца. Ложится. Засыпает. И следом появляется на свет Ренат. (473)

30 Vgl. Petrovskij, Nikandr A.: Slovar’ russkich ličnych imen. Okolo 2600 imen, Moskva: Sovetskaja ėnciklopedija, 1966, 188. Dass Prigov ‚Renat‘ und nicht die ebenso verbreitete Schreibweise ‚Rinat‘ verwendet, lässt diese Deutung zu. 31 „Svirepoe“ oder „dikoe tatarskoe mjaso“ (41; 118; 197; 291; 472). Mit dieser Bemerkung zitiert Prigov auch im Roman Japan die Belyj-Forscherin Lena Szilard, die wiederum die bisher wichtigsten Beiträge zu Renat geliefert hat. Dazu Szilard selbst in Silard [Szilard], Lena: „Poverch bar’erov ili Forma formans contro forma formata: Ot Andreja Belogo k D. A. Prigovu“, in: Dobrenko et al. 2010, 305–327; 323.

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Na und? In denselben persischen Legenden wurde man von einem Lufthauch geboren. Vom Licht. Von einem Blatt, das an einem müden, erwartungsvollen Mädchen vorbeischwebt. Sie legt es sich unter die Zunge. Erhebt sich, begibt sich in die Hofgemächer. Legt sich hin. Schläft ein. Und schließlich kommt Renat auf die Welt.

Diese Vorstellung einer pneumatischen Genese verbindet die Mythopoetik des Romans mit den auf Science-Fiction anspielenden Virtualitätsphantasien.32 Das Leben des Menschen Renat ist undefiniert wie die Grenzen der Romanfigur. Undefiniert ist Renats Leben auch durchaus in einem visuellen Sinn, da der Erzähler immer wieder gestalttheoretische Kontraste zwischen Figur und Hintergrund verschwimmen lässt. Das wird besonders deutlich in ekphrastischen Beschreibungen, bei denen die Grenzen von Bild und Betrachter ineinander verschmelzen. Die Rolle von Bild- und Schriftmembranen, die eine Vorder- und eine Rückseite haben und nach beiden Seiten hin porös werden können, hat Jampol’skij für Prigovs graphisches und lyrisches Werk ausführlich beschrieben (vgl. Jampol’skij 2014b, 52–80). In Moskau sind es Kinoleinwände, die dem kindlichen Erzähler die Figuren so lebendig vor Augen halten, dass sie buchstäblich in den Zuschauerraum springen (vgl. Moskau, 299–304). Renat wird bei der Betrachtung einer japanischen Gravur selbst Teil des Bildes und beginnt darin, Japanisch zu verstehen (vgl. Renat, 85 f.). Dieses Kapitel hat versucht, die verschiedenen „Posten“ des Romans (mythologische Helden, historische Personen, fiktionale Figuren und Namen) zu benennen und zu zeigen, wie er mit ihrer Umbesetzung spielt. Trotz der dezentrierten, fragmentarischen Struktur läuft der Roman auf eine Hauptfigur hinaus. Durch seine Undefiniertheit scheint Renat sich in verschiedene Strukturen integrieren zu können – im nächsten Kapitel sollen diese Strategien unter dem Aspekt des Experiments betrachtet werden.

5.3 Experimentelles Leben erzählen Renat ist ein Prosa-Experiment, das den modernistischen Roman mit postmodernistischen Mitteln erforscht. Das Experiment spielt eine zentrale Rolle – wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Experimente beschäftigen zahlreiche Figuren. Die Hauptfigur Renat ist stellenweise bloßes Vehikel von Prigovs Thesen zur „neuen Anthropologie“: Seine Diskussionen mit verschiedenen Figuren über Entkörperlichung

32 Die Genese durch einen Windhauch ist eine Idee, die konzeptualistische Künstler der Poetik des (Er-)Zeugens entgegengestellt haben. Vgl. dazu Anufriev, Sergej / Pepperštejn, Pavel / Groys, Boris: „Tote Seelen“, in: Schreibheft 41 (1993), 19–24; 19: „Bezeichnenderweise beteuern etwa Kabakov und auch Prigov […] immer wieder, daß sie als Autoren nicht existieren. Das heißt, sie zeugen nichts, sie sind keine Väter. Das erste, was sie tun – sie distanzieren sich von ihrer Vaterschaft und sagen: ‚Ach, das ist irgendwie von allein entstanden, vom Wind angeweht‘“.



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und virtuelle Speicherung des Menschen könnten auch publizistische Äußerungen Prigovs sein. Jedoch finden sich zahlreiche Indizien dafür, dass Prigovs Diskursstrategie der „neuen Anthropologie“ hier selbst als zitierter Text dient. Auch sie ist vor dem Anspruch nicht gefeit, den Menschen total erklären zu wollen. Die erzählerische Rahmung des Dialogs von Renat und seinem anonymen Gesprächspartner über das Verschwinden des Körpers problematisiert den utopischen Anspruch der „neuen Anthropologie“: Während sie über das Virtuelle sprechen, wird im Haus gegenüber ein Kind körperlich misshandelt (vgl. 459). Die Methodologie der neuen Wissenschaft, die Renat propagiert, bleibt im Unklaren. Nur ihr wissensgeschichtliches Desiderat formuliert er klar: Das Konzept des Virtuellen, das er in den Phantomkörpern zu erkennen glaubt, sei „mythopoetisch“ bereits seit langem beschrieben und warte nun auf seine Verwissenschaftlichung (vgl. ebd.). Dabei schwindet die beschreibende Kraft naturwissenschaftlicher Begriffe: Während andere Figuren Renats unkritische bzw. laienhafte Adaption von Diskursen scherzhaft kommentieren, unterlaufen dem Erzähler selbst unsaubere Verwendungen von Termini und Stilbrüche.33 Diese Emphase der Fehlbarkeit der Rede bei der Replikation von Diskursen, der Verzerrung zitierter und medial (akustisch, schriftlich) modifizierter Diskurse lässt sich als Kritik des Anthropozentris­ mus in Potenz verstehen: Spricht der Mensch über sich selbst, über die Bedingungen seines Wahrnehmens und Sprechens, produziert er Fehler. Renats utopische Positionen gelten nicht der Abschaffung des Menschen, sondern der Überwindung seiner psychophysisch bedingten Unzuverlässigkeit. Wie Prigov kritisiert er die Verwendung des Begriffs „virtuell“ für eine bloße Fortsetzung des Körpers mit anderen Mitteln, nicht seiner Überwindung. Renat imaginiert eine Übersetzung von Körpern in Information nach dem Prinzip der Phantomschmerzen. Eine „Kartographie der Phantomschmerzen“ („kartografi[ja] fantomnych bolej“, 573) soll den Körper mitsamt seinem Stoffwechsel ersetzen. Seitenlang stellt er mit seinem ­Gesprächspartner Spekulationen darüber an, wie sich der menschliche Alltag ohne die Last von Nahrungsaufnahme, Verdauung und Defäkation gestalten würde und wie viel Zeit sich dadurch einsparen ließe. Die Lösung des Problems, die Renat auch „­Koprokartographie“ („koprokartografija“, 577) nennt, bekommt eine ästhetische Wendung: Ohne den alltäglichen Gebrauchskontext, so Renat, würde etwa Marcel Duchamps Pissoir anders wahrgenommen werden. In einer Zukunft ohne Körperfunk­ tionen müsste es in die Sammlung eines ethnographischen Museums gehören und dort eher an einen Gegenstand schamanischer Bräuche erinnern (vgl. 463). Was heute Gegenstand der Kunstdebatte ist, kann Forschungsobjekt für zukünftige Theologen

33 Das Wort „anthropologisch“ wirkt z. B. unpassend, wenn der Erzähler eine Kampfszene der bogatyri beschreibt und damit auf die Welt der Bylinen referiert: „Mit einer speziell ausgerichteten anthropologischen Linse fokussierte es all seine zerstörerische Kraft auf den Feind“ („Специально выстроенной антропологической линзой оно фокусировало всю губительную энергию на враге“, 287).

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sein. Renats Spekulation zielt auf die Möglichkeit einer Resakralisierung der Lebenswirklichkeit. Das alltägliche Leben würde auf diese Weise heilig, vita sacra. Das Readymade, das seine ästhetische Dimension aus der Kontextverschiebung zwischen ‚Leben‘ und ‚Kunst‘ bezieht, wird in einer „neuanthropologischen“ Kultur nicht mehr als solches wahrgenommen. Der Impetus der europäischen Avantgarden, Grenzen zwischen Kunst und Lebenspraxis aufzuheben, bekommt unter diesen Vorzeichen eine andere Pointe: Ist die Gesamtheit der Lebensformen weder als ‚Kunst‘ noch als ‚Leben‘ wahrnehmbar, werden neue Differenzen erforderlich. Renat sieht die eigene, zeitgenössische Lebenspraxis unter der Prämisse ihres archäologischen Informa­ tionsgehalts für künftige, vermutlich fremde Zeichensysteme. Implizit lässt sich in diesen Gedanken eine Skepsis gegenüber einer von Michail Bachtin geprägten Kultur­ theorie erkennen. Der groteske Körper, der auf einer Überschreitung zwischen Innen und Außen, auf der Umstülpung der physis beruht, ist in Prigovs Denken der „neuen Anthropologie“ aufgehoben, konserviert oder abgeschafft. So Renat im Gespräch: Не надо, подворачивая брюки по неодолимой и никаким иным способом неудовлетворимой нужде, скакать через лужи мочи и горы говна, чтобы справить позорную, но неотменяемую староантропологическую физиологическую потребность! Нет ее! Не существует! От-ме-не-на! (463 f.) Man muss sich nicht mehr für ein unvermeidbares und auf keine andere Weise zu befriedigendes Geschäft die Hosen hochziehen und durch Urinpfützen und Berge von Scheiße stapfen, um mit dem schändlichen, aber unaufhebbaren altanthropologischen physiologischen Bedürfnis fertig zu werden! Es gibt keines! Es existiert nicht! Es ist ab-ge-schafft!

Die spekulative Wissensordnung der „neuen Anthropologie“ steht und fällt mit dem blinden Fleck des menschlichen Beobachters. Renat formuliert diese Inkongruenz des menschlichen Betrachters mit einem ‚größeren‘ Wissen: Я про линию, проведенную через всю историю антропологического и антропоморфного, выходящую за их пределы. Но и соответственно предшествующую им. То есть про внутреннее разворачиваемое пространство, превышающее мощность наших слабых и краткосрочных в космическом смысле феноменов и имеющее невероятную плотность, подробность разрешения, позволяющее почти любому феномену в его пределах легко совпасть с антропологическим. Именно что совпасть. Быть как бы наложенным на антропологическое. С остатком, конечно. (443 f.) Ich spreche von der Linie, die sich durch die gesamte anthropologische und anthropomorphe Geschichte zieht und über sie hinausgeht. Aber ihnen dementsprechend auch vorausgeht. Das heißt über einen sich entwickelnden Innenraum, der die Kraft unserer schwachen und im kosmischen Sinn kurzlebigen Phänomene übersteigt und eine unglaubliche Dichte hat, eine hohe Detailauflösung, die fast jedem Phänomen darin erlaubt, mit einem anthropologischen zusammenzufallen. Und zwar wirklich zusammenzufallen. Sich gewissermaßen über den anthropologischen Raum zu erstrecken. Mit einem Überrest, natürlich.



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Die geometrische Konstruktion des Erzählens, die in Moskau der „Gedächtnisraum“ ist, wird in Renat zu einem metaanthropologischen Raum. Der blinde Fleck der menschlichen Perspektive kann diesen „inneren Raum“ nicht von den Phänomenen unterscheiden. Er ist immer anwesend, aber nicht von den menschlichen Sinnen registrierbar. Es ist anzunehmen, dass Renats Experiment darauf zielt, in genau diesen Raum vorzudringen. Wie er das tut, wird nicht erklärt – er ergeht sich in Spekulationen, pseudowissenschaftlichen Ausführungen und formuliert allenfalls Desiderate. Aus seinen Ausführungen lässt sich immerhin schließen: Sie zielen darauf ab, durch die Virtualisierung seines eigenen Körpers in den metaanthropologischen Raum vorzudringen – wie und ob das gelingt, bleibt unklar. Der Roman Renat ist die fiktionale Biographie eines experimentellen Lebens.34 Eine mögliche Schreibutopie, das virtualisierte Leben zu porträtieren, wird nur indirekt realisiert. Das Zoegraphische kommt in Prigovs Autofiktion ex negativo zur Darstellung. Renats Tendenz zur Negation des Körpers wird konterkariert von rätselhaften Krankheitssymptomen, schwarzen Flecken an den Händen. Während er nach Möglichkeiten zur Abstraktion der physis sucht, holt ihn deren unkontrollierbare Konkretheit ein. Das Symptom scheint der Krankheit seines Bruders Čingiz zu ­ähneln, die den pseudo-volkstümlichen Namen „černotka“ trägt (wörtlich die Verkleinerungsform von „Schwärze“) und medizinisch nicht erforscht sei. Szilard hat auf den Zusammenhang mit der alchemistischen nigredo, dem ersten Stadium einer Trans­ formation, hingewiesen. Es kommen aber auch griechische Begriffe für ‚schwarze‘ Krankheiten in Frage, etwa Melancholie und Melanom. Ob es nur ein physisches oder nicht auch ein psychisches Symptom ist, bleibt offen: Die schwarzen oder „verkohlten“ Stellen, die sich an Renats Körper bilden, entsprechen in seinen Spekulationen über Literatur Lücken, Leerstellen. Er berichtet von Manuskripten kanonischer Texte, in denen er durchgestrichene Passagen entdeckt zu haben glaubt, so etwa angebliche Stellen aus Abbé Prévosts Manon Lescaut (1731), an denen Manon „verkohlt“ sei (vgl. 454). Die Schwärze schillert zwischen den Ebenen von Text und Körper. Kompression und Kristallisation, die Reduktion von Materie auf ein ‚reines‘ Minimum, haben bei Prigov poetologisch immer eine große Rolle gespielt.35 Die okkulte Philologie, die

34 Dieser Begriff ist angelehnt an Robert Mitchells Studie zu Experimenten mit dem Leben in der Romantik. Darin definiert er den Begriff des „experimentellen Vitalismus“ wie folgt: „‚[E]xperimental vitalism,‘ in other words, denotes something much more historically and conceptually specific than the more general term ‚vitalism.‘ ‚Experimental vitalism‘ implies, for example, a specific history, for ‚experimental‘ generally refers not to any and all attempts to interrogate nature by means of objects or protocols, but rather to that much more specific set of social and technical practices – the so-called experimental life – that emerged in the late seventeenth century around figures such as Robert Boyle and Isaac Newton and institutions such as the Royal Society.“ Mitchell, Robert: Experimental life. Vitalism in Romantic science and literature, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2013, 7. 35 Vgl. Šestidesjataja azbuka (almaznaja) (Sechzigstes Alphabet [Diamantenes Alphabet], 1986), zweisprachig in: Prigow 1992, 164–181.

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Renat hier darlegt, hat einen psychedelischen Aspekt: Die Flecken auf der Haut werden zu Flecken in der Imagination, im imaginierten Archiv. Für die Kommunikation zwischen Figuren, aber auch zwischen Text und Leser entwickelt der Roman experimentelle Anordnungen. Eine sich über verschiedene Fragmente erstreckende Szene illustriert das: Renats „Gesprächspartner“ bleibt ­namenlos („sobesednik“, „gost’“). Er versucht sich nicht nur auf sein Gegenüber, sondern auch auf die Misshandlung eines Kindes im gegenüberliegenden Fenster zu ­konzentrieren, was höchste Bemühungen des peripheren Sehens erfordert (vgl. 466). Renat bittet ihn, nicht hinzuschauen, um das Phänomen nicht unnötig mit Energie zu versorgen. Als die beiden dem Phänomen keine Aufmerksamkeit mehr schenken, verschwindet es. In Kapitel Ch-3 kommt es zu einer Ausnahme der sonst konsequent durchgehaltenen Struktur, bei der verschiedene Handlungsstränge durch Absätze getrennt sind: Die Perspektive springt innerhalb eines Absatzes von Renat und seinem Gesprächspartner zu Voopop und seinen Gefährten in den Bergen. Zudem setzt am Ende des Kapitels ein Erzähler in der ersten Person Plural ein: Гость было приподнялся, желая броситься прочь, но удержался. Удержался. Весь покрылся мельчайшими капельками пота. И все исчезло. Мы перевели дух. (467) Der Gast wollte gerade aufstehen und davonhasten, hielt sich aber zurück. Er hielt sich zurück. Er war vollständig mit winzigen Schweißtröpfchen bedeckt. Und alles verschwand. Wir atmeten auf.

Die Atempause erzeugt hier nicht nur einen Bruch in der Sprache, sondern unterbricht auch die Präsenz des Erzählten, im Russischen idiomatisch durch das ‚Versetzen‘ des Atems (‚perevesti duch‘) ausgedrückt. Offen bleibt, ob mit „wir“ die Metakommentatoren um Voopop gemeint sind, oder der Ich-Erzähler sich in dieser Szene, die so viele Ambivalenzen, Doubles und Binaritäten produziert, selbst verdoppelt. Was Beobachtetes und Beobachtendes ist, lässt sich umso schwerer bestimmen, als das Beobachtete durch die Aufmerksamkeit der Beobachtenden erst erzeugt bzw. ausgelöscht wird. Der Titel des Kapitels führt in diesem Zusammenhang auf eine gattungspoetische Spur: „Ch-3. Tože kakaja-nibud’ očen’ važnaja čast’ kakogo-nibud’ povestvovanija, moguščaja byt’ nazvannoj: Vtoroe prodolženie rasskaza Renata“ („Auch irgendein sehr wichtiger Teil irgendeiner Narration, der heißen könnte: Zweite Fortsetzung der Erzählung ­Renats“, 456–467). Die Substantive „povestvovanie“ und „rasskaz“ lassen sich im Deutschen nur als ‚Erzählung‘ wiedergeben, wobei „povestvovanie“ in seiner Hauptbedeutung den Akt des Erzählens meint, erst in zweiter Bedeutung den Erzähltext. Man könnte also „povestvovanie“ Erzähltext mit Erzähler deuten, sondern als „Erzählen“, als subjektlosen Vorgang. In Renat wird damit eine Unterscheidung aus Moskau weiterentwickelt: Dort heißt es: „[I]ch bin kein Erzähler von Ereignissen meines ­Privatlebens. Sondern nur ein Erzähler des mächtigen allgemeinen, öffentlichen Seins, das durch mich hindurchwalzt“ („я не рассказчик о событиях своей частной жизни. Но лишь повествователь о мощном общем, общественном бытии, про-



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катывающемся через меня“ (Moskau, 260, siehe bereits Kap. 4.2.4). Es scheint, als habe Renat selbst eine narrative Lizenz, die sich im Gegensatz zum globalen „povestvovanie“ auf einen partiellen „rasskaz“ beschränkt.36 Allerdings hebt sich Kapitel Ch-3 bis auf seinen Schluss perspektivisch nicht von den umliegenden ab. Der spontan auftauchende Wir-Erzähler wäre dann erklärbar als Synthese, in der Unterschiede zwischen Autor, Erzähler und Figur momenthaft verschwimmen, in einen ­Zustand der Oszillation übergehen. Die bereits angedeutete Idee der „Löcher“ in der Kommunikation wird greifbar in Gerüchten, die als unbelegbare Versionen von Geschichten nebeneinanderstehen. Je nach Glaubwürdigkeit überzeugen sie mehr oder weniger, können aber nicht verifiziert werden. Es wären der Wirklichkeit alle möglichen erzählten Varianten abzulauschen, um zu der ‚einen‘ Wahrheit vorzudringen. Dieses demographische Erzählexperiment, eine maximale Polyphonie, scheint dem Erzähler nicht machbar: И выходила в результате вроде бы даже и абсолютная неприкрытая правда […]. Но это в неулавливаемом ряду последований, выходящих за пределы слабой человеческой жизни. (378) Und so käme unterm Strich sozusagen gar die absolute und unverstellte Wahrheit heraus […]. Doch das ergäbe sich nur in einer nicht nachvollziehbaren Reihe von Folgen, die die Grenzen eines schwachen Menschenlebens überschreiten.

Erzählen als kulminiertes Zur-Sprache-Kommen aller Menschen – transkulturell, über die Gegenwart in beide Richtungen hinaus – wäre eine utopische Unsterblichkeits­ vision im Sinne von Nikolaj Fedorovs Philosophie des „Gemeinsamen Werkes“. Für den Autor Prigov ist eine solche Transgression nicht von Interesse, im Gegensatz zur Romanfigur Renat, die Fedorov noch überbieten will.37 Die dunklen Flecken, Abgründe, Leerstellen, die den Roman durchziehen, kommen nicht nur an Renats Haut an die Oberfläche. Sie perforieren die Erzählung auf unterschiedlichen Ebenen:

36 Ein „povestvovatel’“ erzählt überwiegend in der dritten Person, während der „rasskazčik“ in ­Anwesenheit des Erzählten und in der ersten Person spricht. Boris Korman unterscheidet in seiner Autor-Theorie in den 1970er Jahren zwischen dem Autor und seinen „Bewusstseinssubjekten“, die er je nach Entfernung vom Autor mit „rasskazčik“ (nah; der „persönliche Erzähler“) und „povestvovatel’“ (entfernt, der „neutrale Erzähler“) bezeichnet. Vgl. Korman, Boris: „Zur Autor-Theorie“, in: Schmid, Wolf (Hg.): Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen, Berlin [u. a.]: de Gruyter, 2009, 227–249; 239; vgl. das Kapitel „Povestvovatel’  – rasskazčik  – narrator“ in Šmid, Vol’f [Schmid, Wolf]: Narratologija, Moskva: Jazyki Slavjanskoj Kul’tury, 2003, 63–66. Zum Unterschied von „povest’“, „rasskaz“ und „povestvovanie“ im Hinblick auf Romangattungen vgl. Di Salvo, Maria: „Povest’“, in: Moretti, Franco (Hg.): The Novel. Volume 1: History, geography, and culture, Princeton/Oxford: Princeton University Press, 2006, 283–288; 288. 37 Renat erklärt den Schwestern: „Das gesamte Potenzial der wissenschaftlichen Errungenschaften in unserer Zeit übersteigt die Zeiten Fedorovs“ („Совокупный потенциал научных достижений в наше время намного превосходит времена Федорова“, 53).

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­ lecken, Wunden und Löcher in Körpern; landschaftliche Abgründe, tiefe Stellen im F Wasser; Leerstellen im Text. In Renats Selbsttransformation fallen die Ebenen von Körper, Raum und Text in eins. Der Kommentator Voopop bemerkt zum Schluss, dass Renat nach erfüllter Mission wieder zurückkehren könnte: – Скоро и Ренатик явится как ни в чем не бывало, – ласково протянул Воопоп и улыбнулся литератору. – Уже все пазухи заполняются. (634) – Und bald ist auch der kleine Renat wieder da, als ob nichts gewesen wäre, – sagte Voopop in gedehntem, zärtlichem Ton und lächelte den Literaten an. – Alle Hohlräume füllen sich schon wieder.

Mit „Höhlen“ sind nicht nur die leeren Räume im Text und in der materiellen Welt gemeint, sondern auch die historisch-metaphysische „Leere“, die der Zusammenbruch politischer Utopien erzeugt hat (vgl. 65, dort ist auch von „pazuchi“ die Rede). Es gibt noch eine andere epistemologisch relevante, ‚experimentelle‘ Figur: Der Schweizer Slawist Christian ist ebenfalls in das buddhistische Kloster eingetreten, allerdings dort angeblich in einen Abgrund gestürzt und ums Leben gekommen, wie die Kommentatoren erklären. Christian spricht mit dem Ich-Erzähler über ein russisches Kloster, in dem magische Experimente durchgeführt werden: Behinderte werden dort geschlagen, um aus ihnen elektrische Energie, „reines Material“ oder „reines Leuchten“ zu gewinnen.38 Wie Renat ist die Figur Christian Träger eines bestimmten Diskurses, allerdings nicht von Prigovs theoretischen Ideen und publizistischen Positionen, sondern der Konzeptualismus-Forschung.39 Seine Gedanken sind angelehnt an eine westliche Kunst- und Kulturwissenschaft, die sich Anfang der 2000er Jahre intensiv mit den anthropotechnischen Experimenten der russischen und sowjetischen Moderne beschäftigt.40 Im Roman schlägt der Forscher Christian eine esoterische Richtung ein: Er propagiert ein Konzept der „Verklärung“, das auf spezifisch russischen bzw. sowjetischen Verhältnissen basiert. Nur der russische Kommunismus verkörpere die Idee der Umwandlung des Menschen in Reinform, während westliche Gesellschaften dies nicht zuließen:

38 „Говорят, из этих калек какой-то чистый материал получали.“ (12); „И быть там избиваемым с нечеловеческой силой до состояния полнейшего преображения плоти в дух и чистое свечение“ (169). 39 Seine Begleiterin trägt den Namen Sil’vija und erinnert damit unweigerlich an Sylvia Sasse, deren hier mehrfach zitierte Dissertation über den Moskauer Konzeptualismus (Sasse 2003) zwei Jahre vor Renat erschien. Die Figurenkonstellation spielt auf eine Tradition der teilnehmenden Beobachtung ausländischer Forscher im Kreis der inoffiziellen Künstler an. 40 Vgl. vor allem Groys, Boris / Hagemeister, Michael (Hg.): Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus d. Russ. v. Dagmar Kassek, Frankfurt: Suhrkamp, 2005.



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Просто у нас в людях нет такого антропологического устройства, подобной предрасположенности. Нет четко агрегатно оформленного и почти антропоподобно персонализированного коммунального тела. Это и есть загадка Руси. Преображение через жестокость! (355) Bei uns haben die Menschen nur keine solche anthropologische Einrichtung, keine solche Prädisposition. Es gibt keinen in einem klaren Aggregatzustand geformten und geradezu anthropoähnlich personalisierten Kommunalkörper. Und genau dies ist das Rätsel der Rus. Verklärung durch Grausamkeit!

Mit der Semantik von „preobraženie“ spielt Prigov auf zeitgenössische Trends religiöser Esoterik an. Im Kloster praktiziert ein „Orden der Geistigen Verklärung der Menschheit“ („ordena Duchovnogo Preobraženija Čelovečestva“, 328), die durch Gewaltausübung erzeugte Elektrizität soll mit der Energie eines „theurgischen Blicks“ (352) fixiert ­werden. Darüber hinaus ist „preobraženie“ als Übersetzung der neutestamentlichen „metamorphosis“ eine Umgestaltung im Sinne der Verklärung Christi.41 In der orthodoxen Tradition ist diese Verklärung mit dem außerbiblisch überlieferten Licht am Berg Tabor verknüpft: Das als ungeschaffen verstandene Taborlicht ermöglicht die Erfahrung Gottes in seinem unmittelbaren Wesen. In der von Gregorios Palamas im vierzehnten Jahrhundert maßgeblich beeinflussten Bewegung des Hesychasmus, in der die körperliche Erfahrung bei religiöser Praxis eine zentrale Rolle spielt, erhält die Schau des Taborlichts eine eschatologische Bedeutung als das Licht der „zukünftigen Welt“, in dem das Wesen der „zukünftigen Götter“ erscheint.42 In Prigovs Roman wirkt diese Heilslehre verzerrt, denn nur durch Gewalt können die Invaliden-Körper buchstäblich „verklärt“ werden.43 Die Transformation von Körpern in Energie oder Licht ist die esoterische Version des Motivs der Entkörperlichung. Ähnliche Phänomene sind bei Renats Experiment zu beobachten, aus seinem Körper scheint ein Strahl zu leuchten (518), er geht den Weg der Entkörperlichung bis zur Auflösung im virtuellen Text-Raum. Die Krankheit seines Bruders wird mit einem „Gen unbestimmter Transformationen“ („gen nedeterminirovannych preobrazovanij“, 119) erklärt.44

41 Vgl. Lachmann, Renate, „Verwandlungen“, in: Hansen-Löve, Aage A. (Hg.): Lebensstadien. Festschrift für Renate Döring, Wiener Slawistischer Almanach 55 (2005), 33–48; 38. 42 Gregorios Palamas, Triade I 3,43; 203,26–205,2.28–31; zitiert nach der Übersetzung von Blum: Blum, Georg Günter: Byzantinische Mystik, Berlin [u. a.]: LIT, 2009, 385. 43 Die rituellen Handlungen im Kloster lassen sich als Referenz auf den Komplex von Gewalt und Ritual in der russischen Postmoderne lesen, etwa die verstümmelten und verkrüppelten Figuren Jurij Mamleevs oder die Prosa Vladimir Sorokins und ihre Ritualformen, man denke etwa an die Bruderschaft des Lichts in Led (Das Eis, 2002), auf die Prigov möglicherweise anspielt. Zum Text als Ritual bei Sorokin vgl. Witte, Georg: Appell – Spiel – Ritual. Textpraktiken in der russischen Literatur der sechziger bis achtziger Jahre, Wiesbaden: Harrassowitz, 1989, 146–168. 44 Lachmann hat bei ihrer Differenzierung der russischen Metamorphose-Äquivalente darauf ­hingewiesen, „preobrazovanie“ könne „Veränderungen und Umwandlungen im Sinne von Re-Organi-

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Es lohnt sich, die Ritualszene der Verklärung bzw. Verwandlung genauer zu betrachten, wie sie der Erzähler durch die Augen der Schweizer Slawisten Christian beschreibt: Der Klostervorsteher beginnt, mit den Hacken seiner Stiefel auf einen Insassen einzutreten, bis dessen Blut nach allen Seiten spritzt. Nach einer Weile erhebt sich der Misshandelte „wie ein Hund vom Boden“ und schaut die Umstehenden mit „reinem Blick“ an.45 Der Raum ist nun von einem Leuchten erfüllt, das auf die anderen Insassen übergeht: И сами они, светясь сначала отраженным светом Преображенного, следом начинали испускать достаточно сильное собственное излучение. Правда, оно уступало в интенсивности свечению первоисточника. (352) Sie selbst leuchteten zunächst vom Widerschein des Lichts des Verklärten, und begannen darauf, eine eigene, recht starke Strahlung zu erzeugen. Allerdings konnte sie sich in ihrer Intensität nicht mit dem Leuchten der Quelle messen.

Der Vorsteher des Klosters, der mit seiner Gewalt das „Ausstrahlen“ („izlučenie“)46 von Licht erzeugt hat, scheint danach nicht mehr am Geschehen teilzunehmen: Он неожиданно показался лишним и посторонним на этом ослепительном празднике преображения. Казалось, неким легким поворотом какого-либо устройства его вообще можно было вычеркнуть из картины этой неузнаваемой жизни. (Ebd.) Auf einmal schien er überflüssig und nebensächlich bei diesem blendenden Fest der Verklärung geworden. Es sah so aus, als hätte man nur an irgendeinem Gerät herumdrehen müssen, um ihn ganz aus dem Bild dieses nicht erschließbaren Lebens herauszustreichen.

In dieser Szene ist das Schöpfungsmodell des entfernten Demiurgen zu erkennen, der nur einen Raum definiert, in dem Formen, Medien, Bilder, Texte entstehen können (siehe Kap. 3.1.1). Das Ritual des „preobraženie“ in Renat wirft Fragen nach dem Prinzip der Metamorphose auf: Was wird verwandelt, wenn in den Menschen eine immaterielle Substanz zum Vorschein kommt? Am Prozess der Metamorphose sind hier nicht einzelne Wesen beteiligt, die sich in andere Wesen verwandeln. Der Prozess zielt auf die Synthese einer Meta-Substanz, die alles und jeden durchfließt.

sation und Reform bedeuten (Puškin nennt Peter I ‚preobrazovatel’ Rossii‘)“, Lachmann 2005, 37. Mit „preobrazovanie“ (wörtlich: ‚Umgestaltung‘, ‚Umbildung‘) liefert Renat das (pseudo-)wissenschaftliche Gegengewicht zum religiösen Transformationsbegriff „preobraženie“. Die Grundübersetzung des griechischen Begriffs „Metamorphose“, „prevraščenie“ (‚Umwandlung‘), kommt dagegen im Text nur als Verb (‚prevraščat’sja‘) vor. 45 „Истязаемый как-то по-собачьи приподнял от пола голову и ясным чистым взглядом ослепительно синих глаз взглянул на своего мучителя.“ (351) 46 Zur neuplatonischen Emanationslehre und ihrer symbolistischen Rezeption mit dem Begriff des „izlučenie“ bei Vladimir Solov’ev vgl. Drubek, Natascha: Russisches Licht. Von der Ikone zum frühen sowjetischen Kino, Wien [u. a.]: Böhlau, 2012, 166–171.



Experimentelles Leben erzählen 

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Das Experiment problematisiert in Renat Relevanz und Kontingenz des Menschen in der Welt, auf der Erde, im Kosmos. Wenn in Kapitel G Wissenschaftler eine felsige ­Küstenlandschaft untersuchen, werden die epistemologischen Grenzen ihrer Perspektive deutlich: Выловили однажды что-то похожее на гигантский клубок женских волос. Да они, как оказалось после лабораторного углеродного и резонансного анализа, к 375 тысячелетию до нашей эры относятся, когда не только женских, никаких волос в природе еще и не существовало. […] Так сказать, рефлектирующего и самосознающего субъекта не наличествовало, чтобы что-то сказывать. (37 f.) Einmal fischten sie etwas heraus, das wie ein gigantisches weibliches Haarbüschel aussah. Allerdings stellte sich nach einer Kohlenstoff- und Resonanzanalyse im Labor heraus, dass es aus dem 375. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung stammte, als in der Natur nicht nur keine weiblichen, sondern überhaupt noch keine Haare existierten. […] Es war sozusagen noch kein reflektierendes und selbstbewusstes Subjekt anwesend, um irgendwas zu erzählen.

Meint der letzte Satz „kein Subjekt“, „das etwas hätte erzählen können“ oder „über das man etwas hätte erzählen können“? Offen bleibt, ob sich das Aussageverb „skazyvat’“, das die Mündlichkeit der Erzählung („skaz“) hervorhebt, auf die Vorzeit oder die Jetztzeit bezieht. Ist das „selbstbewusste Subjekt“, das es zum Zeitpunkt der Entstehung des jetzt nurmehr paläontologisch klassifizierbaren Objekts noch nicht gegeben hat, Subjekt oder Objekt der Aussage? Hier klingt eine philosophische Diskussion an, die Quentin Meillassoux polemisch als eine „korrelationale“ Auffassung der Wirklichkeit beschrieben hat, die er Kant attestiert: Hier kann „nichts Sinnliches – sei es affektiver oder perzeptiver Qualität – […] so, wie es sich mir zeigt, in den Dingen allein existieren, ohne sinnlichen Bezug zu mir oder einem anderen Lebewesen.“47 Mit einer Form der Wirklichkeit, die dem menschlichen Leben vorausgeht, fordert Meillassoux dieses Argument heraus, er nennt sie „anzestral“ und fragt: „Wie den Sinn einer wissen­schaftlichen Aussage begreifen, die sich explizit auf den Sachverhalt einer Welt bezieht, welche der Emergenz des Denkens vorausgeht und selbst dem Leben – d. h. die jeder menschlichen Form der Beziehung zur Welt vorausgeht?“ (Meillassoux 2011, 24). Für Prigov geht es nicht darum, in die von der philosophischen Tradition versperrte anzestrale Wirklichkeit diskursiv vorzudringen. Seine Romanpoetik lotet stattdessen die Effekte aus, die ein Springen des Erzähler-Ichs vom selbstbewussten Subjekt zu seinem absolut äußerlichen Objekt erzeugt. Als Renat sich von den blassen Gesichtern in einem Restaurant an Fotos von Opfern der stalinistischen Repressionen erinnert fühlt, vergleicht der Erzähler die Morde mit dem Aussterben der Dinosaurier:

47 Meillassoux, Quentin: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, aus d. Franz. v. Roland Frommel, Zürich: Diaphanes, 2011, 13.

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Хотя, конечно, прожили бы еще 20–30 лишних унылых размеренных лет. Разница-то по сравнению с мировыми сроками! Динозавры, к примеру, обитали на земле 350 миллионов лет, пока окончательно не вымерли. И ничего – не жалуются. (140) Obwohl sie natürlich auch noch 20 bis 30 weitere trostlose Jahre in Ruhe hätten leben können. Was für ein Unterschied im Vergleich zu globalen Zeitspannen! Die Dinosaurier zum Beispiel haben die Erde 350 Millionen Jahre bewohnt, bis sie schließlich ausgestorben sind. Und kein Mucks – die beschweren sich nicht.

Im Blick auf das Alter des irdischen Lebens wird der individuelle menschliche Erfahrungsschatz bedeutungslos. Das ist kein Relativismus oder gar Zynismus, sondern Ausdruck einer Sicht auf Geschichte, die von ‚großen‘ Einheiten geprägt ist. Als Begriff für große, aber endliche zeitliche Einheiten findet sich in Prigovs theoretischen Schriften, aber auch in den Romanen der Äon. Prigov verwendet dieses Konzept in seiner philosophisch-theologischen Paradoxie als reiner Dauer, die dennoch in sich abgeschlossen ist. Am deutlichsten wird dies in einer eigentümlichen Interpretation des konzeptualistischen Topos der Leere. Leere bzw. ihre Negation und Auffüllung ist für Prigov ein zentrales ästhetisches Motiv.48 In Renat ist nicht nur das nationsstiftende Ereignis des Drachenkampfs ein entleertes. Ähnliches sagt der Ich-Erzähler über das sowjetische Imperium nach dessen Ende: Der historische Raum, in dem es bestand, habe sich entleert. Der Hohlraum halte daher nicht den Veränderungen von außen stand: Экранирующая ее оболочка весьма непрочна, чтобы выдержать давление нарастающих пластов новой отягощенной темпоральности. Ведь рухнет. Как пить дать, рухнет. Не выдержит. Провалится и искривит все последующее, а для нас – предыдущее жизненно­ историческое пространство. Да. Я не говорю уж о бесчисленных пустотах, впоследствии порожденных по причине опростания главной порождающей пустоты, их породившей. Рассосутся как-нибудь сами. А что делать с той, основной, основополагающей? (65) Die ihn abschirmende Hülle ist kaum robust genug, um dem Druck der anwachsenden Schichten einer neuen, belastenden Temporalität standzuhalten. Sie stürzt nämlich ein. Da beißt die Maus keinen Faden ab, die stürzt ein. Das hält die nicht aus. Sie bricht zusammen und verzerrt alles Nachfolgende, bzw. für uns: den bisherigen Lebens- und Geschichtsraum. Ja. Ich rede gar nicht von den unzähligen Leeren, die im Folgenden erzeugt werden durch die Entleerung der elementaren zeugenden Leere, die sie erzeugt hat. Die werden sich schon irgendwie selbst auflösen. Aber was tun mit jener grundsätzlichen, grundlegenden? (Kursivierungen von mir, P. K.)

48 Wie der horror vacui des seriellen Schreibmaschinenarbeiters Prigov unter Bedingungen der großen, aber abgeschlossenen Prosaform (bzw. des potentiell unendlichen, aber immer neue weiße Flächen generierenden Computerdokuments) funktioniert, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Das erste Manuskript von Renat umfasste etwa die doppelte Seitenzahl und wurde auf Anraten des Novoe literaturnoe obozrenie-Lektors Evgenij Šklovskij von Prigov gekürzt.



Skalen des Lebendigen: Die Romanfigur als „transponierende Struktur“ 

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Dass Russland als geschichtliche Matrix seine Zeugungsfähigkeit buchstäblich verloren hat, unterstreicht die dreifache Verwendung des Verbs ‚poroždat’‘/‚porodit’‘. Es geht um eine Art Leerlauf der Genealogie: Fortwährend wird erzeugt, ohne dass sich stabile Strukturen bilden würden. Wenn Prigov über den Roman Renat sagt, nicht faktische oder fiktive Utopien zu beschreiben, sondern die „Mechanismen ihrer Erzeugung“ („mechanizmy poroždenija“49), dann scheinen auch diese Mechanismen im Leerlauf zu arbeiten. In diesem Kapitel wurden die unterschiedlichen Facetten der „neuen Anthropologie“ als Stoff eines Romans betrachtet. Das wurde am experimentellen Leben der Figur Renat veranschaulicht. Er führt nicht nur Experimente der Virtualisierung von Leben durch und theoretisiert darüber, sondern der Erzähler experimentiert selbst mit der Figur, mit Kommunikationssituationen und philosophischen Diskursen. Dass es dabei immer wieder zu krassen Perspektivwechseln kommt, wurde schon angedeutet. Im nächsten Kapitel soll die narrative Vermittlung der unterschiedlichen „Skalen“ des Lebendigen eingehender betrachtet werden.

5.4 S  kalen des Lebendigen: Die Romanfigur als „transponierende Struktur“ Den Roman durchziehen Spannungen zwischen menschlichem und nichtmensch­lichem Leben, kulturellem und natürlichem Raum. Erzähler und Figuren scheinen zwischen diesen Polen zu ‚switchen‘. Als Kategorie solcher Überschreitungen hat Wai Chee Dimock in ihrem Buch American Literature Across Deep Time die Kategorie der „scales“ vorgeschlagen. Sie lenkt damit den Blick auf nichtlineare, interkontinentale, planetarische, ‚lange‘ Maßstäbe in Zeit und Raum. Das erfordert einerseits Aufmerksamkeit für die lange Entwicklung zeichenhafter Praxis des Menschen, andererseits für das Potenzial einzelner Texte, zwischen dem intimen Punkt des Hier und Jetzt und astronomischen, geologischen, prä- oder posthumanen Makroebenen zu wechseln.50 Dimock bezieht sich auf einen ökologischen Begriff der Biosphäre, wie ihn Vladimir Vernadskij in den 1920er Jahren geprägt hat.51 Die neuere Diskussion hat Vernadskijs geobiologische Theorie wiederentdeckt, nach der sich das Leben auf der Erde in „Sphären“ organisiert. Für Vernadskij, dessen Theorie seit den 1970er Jahren auch in die US-amerikanische Debatte eingegangen ist, wirkt menschliches und nichtmenschliches Leben als geo­

49 „Я лично занимаюсь не производством новых утопий, но пониманием механизма их порождения.“ („Ich persönlich beschäftige mich nicht damit, neue Utopien zu produzieren, sondern ihren Entstehungsmechanismus zu verstehen.“) Prigov, Dmitrij A. / Kočetkova, Natal’ja: „Iskrennee vyskazyvanie ušlo v pop-zonu“, in: Izvestija, 16.3. 2005, http://izvestia.ru/news/300635. 50 Dimock, Wai Chee: Through other continents. American literature across deep time, Princeton: Princeton University Press, 2006, 1–7; insbesondere 8. 51 Ohne Vernadskij jedoch explizit zu erwähnen; vgl. Dimock 2006, 166–173.

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logischer Faktor.52 Die Möglichkeit, Bereiche kultureller, biologischer und geologischer Aktivität mit dem durchlässigen Konzept der Sphäre zu begreifen, hat nicht nur in ökonomischen und ökologischen Diskursen, sondern auch in der Diskussion über Weltliteratur und ecocriticism verschiedene Spuren hinterlassen. Im sowjetischen Kontext hat Maksim Gor’kij mit seiner Gründungsschrift für den Verlag Vsemirnaja literatura von 1919 einflussreiche Ideen proklamiert.53 Gor’kij stützt sich auf das planetarische Gefühl der „Einsamkeit des Menschen im Weltall“ („ощущение одиночества человека во вселенной“), das „wie ein finsteres Gespenst“ („темным призраком“) die Kulturen der Welt in ihrem „Bewußtsein der Tragik des Lebens“ („сознание трагизма бытия“) vereine.54 Gor’kij benutzt die Begriffe Bio- und Noosphäre nicht explizit, hält aber einen Bereich kognitiver und künstlerischer Aktivität konstitutiv für Weltliteratur: Кроме атмосферы и фотосферы, вся наша планета облечена еще сферой духовного творчества, многообразной радужной эманацией нашей энергии, из которой соткано, выковано, отлито все бессмертно-прекрасное […]. (Gor’kij 1941, 276) Außer von der Atmosphäre und der Photosphäre ist unser ganzer Planet noch von der Sphäre geistigen Schaffens, von der vielfältigen, verheißungsvollen Ausstrahlung unserer Energie umgeben, die alles unsterblich Schöne gewebt, geschmiedet und gegossen hat […]. (Gorki 1969, 33)

Während für Gor’kij die ‚noetische‘ Energie gegen die Biosphäre gebündelt wird, um „die Kräfte auf den Kampf gegen die geheimnisvollen Naturgewalten zu lenken“ („направить все силы […] на борьбу с таинственными силами природы“, Gor’kij 1941, 279; Gorki 1969, 37), geht es in Prigovs Poetik um einen virtuellen Kräfteaustausch. Änderungen im eigenen Textprinzip sind auf Bio- und Noosphäre, aber auch auf kosmische Ordnungen transponierbar: Если принять во внимание, что […] в системе стих-предуведомление последний несет идеологическо-профетическую нагрузку, то отсутствие предуведомления значило бы слишком серьезную перекомпоновку смыслов, обратно транспонируемые бы в систему

52 Seine Schrift Biosfera von 1926 erschien erst 1998 in englischer Übersetzung (The Biosphere). Im englischsprachigen Raum wurde sie seit George Evelyn Hutchinsons Artikel „The Biosphere“ erstmals breitenwirksam aufgegriffen (vgl. Grinevald, Jacques: „The invisibility of the Vernadskian revolution“, in: Vernadsky, Vladimir: The biosphere, aus d. Russ. v. David B. Langmuir, New York: Copernicus, 1998, 20–32; 20). 53 Die Taschenbuchreihe umfasste Werke zwischen der französischen und der russischen Revolution und war darauf ausgelegt, breiteste Leserkreise im russischsprachigen Publikum zu erreichen. Für Theo d’Haen instrumentalisiert Gor’kij religiöse Energien für eine säkulare Kommunalität aller Menschen. Sein Weltliteraturkonzept „answers to Gorky’s socialist-realist desiderata under the guise of a Goethian Verständniss (understanding) between Europe’s, and later the world’s various peoples“, D’haen, Theo: The Routledge concise history of world literature, London: Routledge, 2012, 23. 54 Gor’kij, Maksim: „Vsemirnaja literatura“, in: ders.: Nesobrannye literaturno-kritičeskie stat’i, Moskva: Gos. Izd. Chudož. Lit., 1941, 274–281; 275; deutsch: Gorki, Maxim: Über Weltliteratur, aus d. Russ. v. Ingeborg Schröder, Leipzig: Reclam, 1969, 32.



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политической жизни как объявление нового режима, в области биологической жизни и ноосферы – как начало новой антропологии, в пределах космогонии – наступление эры Водолея – что было бы слишком уж ответственно и откровенно.55 Wenn man bedenkt, dass […] im System Vers-Vorbekundung letztere ideologisch-prophetisch aufgeladen ist, dann würde das Fehlen einer Vorbekundung eine viel zu starke Sinnveränderung bedeuten, die wiederum ins System politischen Lebens als Ausrufung eines neuen Regimes zu transponieren wäre, im Bereich des biologischen Lebens und der Noosphäre als Beginn einer neuen Anthropologie, im Bereich der Kosmogonie als Anbruch der Ära des Wassermanns – was wiederum allzu schwerwiegend und unverhohlen wäre.

Wenn Renat Prigovs poetische Strategien des scale-switching in Prosaform erkundet, dann müsste das nicht nur am Erzähler, sondern auch an anderen Ebenen des Romans ablesbar sein. Die Romanfigur Renat und der Autor Prigov sollen daher auf narrative scales hin untersucht werden. Renat entwirft sich als „Vermittler“: [Н]ужен посредник. Медиатор со своей феноменальной структурой, как бы вызывающей, провоцирующей и обнаруживающей, обнажающей подобные существования. Они через него являются в наш мир. Он служит транспонирующей структурой их возможности объявиться у нас по нашим законам мерности и материальности. (587) [M]an braucht einen Vermittler. Einen Mediator mit seiner phänomenalen Struktur, die gewissermaßen solche Existenzen hervorruft, provoziert und auffindet, entblößt. Sie erscheinen durch ihn in unserer Welt. Er dient als transponierende Struktur, die ihnen ermöglicht bei uns nach unseren Gesetzen von Maß und Materialität aufzutauchen.

Als „transponierende Struktur“ müsste die Figur Renat menschlichen Sinnen nicht zugängliche Phänomene übersetzen. Er positioniert sich damit als Vermittler ins Virtuelle. Nur in diesem Raum scheint es ihm möglich, den vakant gewordenen Posten des Drachenkämpfers auszufüllen. Das folgt derselben Logik wie der „bokovoj Gitler“, der „Kollateralhitler“, der als virtuelle Erscheinung in der sowjetischen Wirklichkeit auftauchen kann. Man könnte das auch als Mythos bezeichnen. Obwohl es Renats Ziel ist, das virtuelle Leben wissenschaftlich, nicht mythopoetisch zu realisieren (s. o., 459), ist er Teil einer neuen Mythopoetik. In Kapitel M über Renats virtuelle Existenz befindet er sich in einer menschenleeren Urlandschaft und ruft dort als körperlose Stimme (als pneuma ohne hyle) den Namen Mašen’ka (siehe Kap. 5.2). Die Landschaft wird als Ort ohne Zeit beschrieben, markiert von einer drückenden Luftfeuchtigkeit und dem Surren von Insekten: Так сказать, ровно звучащий фон всеобщего бытия. Под поверхностью, на которой все это происходило и имевшей вид полуската земного закругления, чувствовались силы постоянного роста и прорастания, происходивших как бы самих в себе. Но и превосходивших самих себя. (205)

55 Preduvedomlenie k sborniku „Vešči, na kotorye est’ i na kotorye net otveta“ (Vorbekundung zum Band „Sachen, auf die es Antworten gibt und welche, auf die es keine gibt“, 1993), SPKRV, 257.

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Sozusagen der gleichmäßig klingende Hintergrund des allgemeinen Seins. Unter der Oberfläche, auf der das alles passierte und die die Form einer halben Erdkrümmung hatte, waren Kräfte ständigen Wachsens und Erblühens spürbar, die gleichsam in sich selbst geschahen. Sich aber auch selbst überschritten.

Es gibt ein sich selbst erzeugendes Leben, aber niemand außer einer abstrakten Erzählperspektive ist anwesend, um es zu bezeugen. Die Szene der Autogenese thematisiert das Problem der Erzählung von Leben ohne den Menschen. Wie lässt sich dem Menschen vermitteln, was vor ihm liegt? Eine populärwissenschaftliche, umgangssprachliche Version der Evolution gibt Aufschluss über Prigovs Lebensbeschreibung ohne menschlichen bios im Roman Renat: Ведь вот, если показать человеку камень и сказать, что именно от него он произошел, – кто же поверит? Кто же одушевится этой идеей? Но если постепенно, медленно так. Сначала, скажем, камень рассыпался на кусочки. Затем в песочек перетерся. Потом чуть расплавился. Следом какие-то из него сложные химические образования образовались. Потом молекулы. Потом микробы какие-нибудь. Ну, потом, ясно, крупные всякие бактерии. Червяки, жучки, паучки разные. Крупные насекомые и бабочки. Ящерицы уже. Ящеры, крокодилы, динозавры. Потом мыши и крысы всевозможные. Множество разнообразных тварей. И среди них – наши родные обезьяны. Вот мы и достигли финальной точки. Вернее, предфинальной. (385) Ja was ist denn zum Beispiel, wenn man jemandem einen Stein zeigt und sagt, dass er genau davon abstammt  – wer kauft einem das ab? Wer wird sich von dieser Idee schon begeistern lassen? Vielleicht, wenn man es schrittweise und langsam angeht. Zuerst, sagen wir mal, ist der Stein in Stücke zerbröselt. Dann ist er zu Sand zerrieben worden. Und dann so ein bisschen geschmolzen. Daraufhin haben sich aus ihm irgendwelchen komplexen chemischen Verbindungen gebildet. Dann Moleküle. Dann irgendwelche Mikroben. Und dann natürlich alle möglichen großen Bakterien. Würmer, Käfer, Spinnen und dergleichen. Große Insekten und Schmetterlinge. Dann schon Eidechsen. Echsen, Krokodile, Dinosaurier. Dann Mäuse und alle möglichen Ratten. Unmengen verschiedener Lebewesen. Und unter ihnen sind dann schon unsere lieben Affen. So, und jetzt haben wir den finalen Punkt erreicht. Oder besser gesagt den präfinalen.

Bei Prigov kann die Spekulation über das Davor, zu der Kant in seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) ermutigt hat,56 nur eine glaubwürdige Aussage sein, wenn sie in die „Routine“ der Lebenswirklichkeit integriert wird: Наша задача просто представить некий рутинный механизм, облегчающий человеку приспособление к порой абсолютно неприспособляемым обстоятельствам и идеям. (385)

56 Vgl. dazu Neumann, Gerhard: „‚Geschenk des Geschlechtes‘ und ‚Gabe des Gedichts‘. Natalität avant la lettre“, in: Hansen-Löve, Aage A. / Ott, Michael / Schneider, Lars (Hg.): Natalität. Geburt als Anfangsfigur in Literatur und Kunst, Paderborn: Fink, 2014, 97–114; 99.



Autofiktion als Selbsttransposition 

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Unsere Aufgabe ist es lediglich, einen gewissen Routinemechanismus vorzustellen, der dem Menschen die Adaption an zeitweise absolut unadaptierbare Umstände und Ideen erleichtert.

Auf diese mediatorisch-meditative Weise werden in Renat nichtmenschliche Dimen­ sionen erzählt. Der Erzähler vollführt Perspektivwechsel zwischen dem, was das menschliche Leben makroskopisch übersteigt und jenem, was sich in ihm mikroskopisch verbirgt. In einer Passage über Petersburger Intellektuelle inszeniert der Erzähler diese Mikro- und Makroskopie als einen optischen ‚Zoom‘: Глядя в окно снаружи, со стороны легкого обволакивающего незаинтересованного света, можно было бы заметить, как вся эта сцена, оставаясь неподвижной, в тот же миг словно стремительно уносилась вверх и во времени назад, почти в доисторический период ящеров или им подобных мощных неосмысленных существ. И пуще того – в шевелящиеся, медленно образовывающиеся титанические каменноугольные пласты. (109) Bei einem Blick von draußen ins Fenster, von der Seite eines leichten, umhüllenden, lustlosen Lichts, hätte man bemerken können, wie diese gesamte Szene, unbeweglich, wie sie blieb, sich im gleichen Augenblick gleichsam blitzartig nach oben und in der Zeit zurückbewegte, fast in die vorhistorische Periode der Saurier oder ihnen ähnlicher mächtiger, unverständlicher Wesen. Und mehr noch – in raschelnde, sich langsam bildende, titanische Steinkohleschichten.

Diese prähistorische, prähumane Erzählerperspektive scheint selbst zurückzugehen in tiefe Schichten (vgl. dazu die „verkohlten Stellen“, die Renat in der Literatur auszumachen glaubt). Nicht nur die Figur Renat ist eine „transponierende Struktur“, auch im Erzählen bzw. im Ich-Erzähler finden Prozesse der Transposition statt. Während Renat zwischen der wirklichen und der virtuellen Welt transponiert, kann der Erzähler zwischen verschiedenen Mikro- und Makroebenen von Leben und Geschichte transponieren. Diese Verfahren sollen im nächsten Kapitel näher untersucht werden.

5.5 Autofiktion als Selbsttransposition Menschliches und nichtmenschliches Leben, natürlicher und kultureller Raum, ‚Erde‘ und ‚Welt‘ werden in Renat in verschiedenen Kontexten dargestellt. In diesem Kapitel soll versucht werden, die erzählerische Vermittlung zwischen diesen Polaritäten als Transposition zu beschreiben. Damit ist weder Julia Kristevas Begriff der semiotischen Transposition gemeint, mit der sie ihren Intertextualitätsbegriff ersetzt und einen Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen bezeichnet,57 noch Pavel Pepperštejns und Sergej Anufrievs poetologischer Begriff der Transposition, der – an

57 Vgl. Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache, aus d. Franz. v. Reinhold Werner, Frankfurt: Suhrkamp, 1978, 69.

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die formalistische Verschiebung, sdvig, angelehnt – die Verrückung eines Objekts innerhalb der Kultur bezeichnet (vgl. Sasse 2003, 339). Prigovs Transpositionen arbeiten mit den Rändern der Kultur. Seine textuellen Operationen verschieben die schreibende Perspektive an Orte an der Grenze zu dem, was jeweils als ‚Mensch‘ und ‚Welt‘ zu bezeichnen ist. Während die transnationale und transgenerationale Konfiguration von Drachen und Drachentöter auf „fraktale“ Zeit- und Ortsebenen (Szilard) verteilt ist, hat der Roman eine scheinbar unbewegliche Komponente: Der anonyme Ich-Erzähler äußert sich in mehreren „Vor“- und „Zwischenbekundungen“ metapoetisch zu Konzept und Machart des Texts, erzählt aber auch von eigenen Erlebnissen.58 Diese Passagen stehen überwiegend im Präteritum, sie finden in Abwesenheit Renats statt, dessen Episoden im Präsens stehen. Der Name „Prigov“ ist aus dem Roman gestrichen – in einer früheren Fassung findet sich noch eine Figur namens „Prigov“, die als Autor des Romans Moskau erwähnt wird.59 Es gibt jedoch andere Spuren: Phonetisch fällt die wiederholte Verwendung des Verbs ‚prigovarivat’‘ (‚beiläufig sagen‘) in Inquit-Formeln auf. Die Figuren sprechen ‚mit Prigov‘, der Autorname erklingt in dem, wie sie etwas sagen, ‚neben‘ ihnen. Es gibt eine Art Alter Ego namens Dimka in Renats Kindheitserzählungen (hier mit dem geschlechtlich ambivalenten Kosenamen Renatka gerufen). In der früheren Fassung erzählt Renat selbst von dieser Kindheitserfahrung (Prigov 2004, 612), die in der Endfassung dem Ich-Erzähler zugeordnet ist und eindeutige biographische Details über den Autor Prigov verrät: Zusammen mit Freund San’ka vermutet der Ich-Erzähler im Kohlenkeller einen Drachen, beide verbarrikadieren den Eingang mit Gerümpel. Die Ebenen von Traum, alltäglicher und ideologisch erzeugter Angst und organischen Alteritätserfahrungen scheinen hier verschränkt, über den vermeintlichen Hinterhof-Drachen heißt es: внешнее обличье его могло меняться до неузнаваемости, относительно привычного канонического вида и образа. До вида, скажем, мелкого, почти капельного клопа. Или таракана. (610)

58 Die Blässe einer anonymen Figur erinnert den Erzähler an eine eigene Erfahrung: „Как во время серьезного стенокардического приступа. Я знаю. У меня самого было подобное.“ („Wie bei einem ernsten Anfall von Angina Pectoris. Ich weiß es. Ich hatte so etwas selbst“, 362). Prigov hat von einer Nahtoderfahrung nach einem Herzinfarkt 1992 berichtet, bei der er seinen Körper im Krankenhaus verlassen habe und über die Betten anderer Patienten geschwebt sei; vgl. Volček, Dmitrij: „Prigov i uglekislota“, 19.5. 2015, http://www.svoboda.org/content/article/24968114.html. 59 Im Manuskript wird Prigovs Roman im Gespräch zweier Damen erwähnt: „Роман новый вышел – ‚Живите в Москве‘. Недавно опубликован. Может, автор из вашей деревни?“ („Da ist so ein neuer Roman herausgekommen – ‚Lebt in Moskau‘. Kürzlich veröffentlicht worden. Vielleicht ein Autor aus Ihrem Dorf?“), Prigov, Dmitrij A.: Renat i Drakon, Dokument im digitalen Archiv, Dracon-1.doc, 30.3. 2004, 172.



Autofiktion als Selbsttransposition 

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sein äußerer Anblick konnte sich bis zur Unkenntlichkeit verändern, im Verhältnis zu seiner gewöhnlichen, kanonischen Form und Erscheinung. Bis zur Form einer, sagen wir mal, gerade mal tropfengroßen Wanze. Oder Kakerlake.

Die Kakerlake ist als Schwundstufe chthonischer Fabelwesen aus Prigovs sowjetischen Texten wohlbekannt, spielt aber hier keine zentrale Rolle mehr. Stattdessen geht es um das Wesen des Drachen. Es ist keine Hypostase äußerlicher Bedrohungen, sondern der Monstrosität des eigenen Körpers, wie sie der Ich-Erzähler in der Kinderlähmung erfährt. Statt des Ungeheuers übermannt die Jungen das Fieber, sie verlieren das Bewusstsein und erkranken an Kinderlähmung. Auch auf dieser alltäglichen Ebene der Erzählung findet sich eine Ellipse, ein erzählerischer Blackout, der das Ereignis des Drachenkampfs ausblendet. Dieses „entleerte“ Ereignis entsteht hier im Erleben des Ichs selbst: Температура поднималась и поднималась. Я куда-то проваливался стремительно и неотвратимо. Внутрь самого себя, расширяясь там неимоверно, порождая все новые и новые раздувающиеся пузыри бесчисленных пространств, которые обжить не было никаких моих возможностей. Они нарастали, как прозрачные непостигаемого размера икринки. Я летел все дальше и дальше. В то же самое время в обратном направлении сжимался в некую невообразимо тяжелую, бескачественную и уже неопределяемую черную точку. […]. Я оказывался нулевой точкой. (623) Die Temperatur stieg und stieg. Ich war dabei, irgendwohin zu verschwinden, heftig und unabwendbar. In mich selbst, wo ich mich auf unwahrscheinliche Ausmaße weitete, immer neue sich aufblähende Blasen unzähliger Räume erzeugte, die ich unmöglich bewohnen konnte. Sie wuchsen an, wie durchsichtige Kaviarkörnchen unbegreiflicher Größe. Ich flog immer weiter. Gleichzeitig drückte ich mich in umgekehrter Richtung zu einem unvorstellbar schweren, eigenschaftslosen und gar nicht mehr definierbaren schwarzen Punkt zusammen. […] Ich wurde zum Nullpunkt.

Die Urszene des Fieberanfalls und der darauffolgenden Bewegungslosigkeit wird in allen Prigov-Romanen mit jeweils eigenen Verfahren der Reintegration modernistischer und avantgardistischer Ästhetik erzählt.60 In Renat wird sie als Erfahrung des suprematistischen „Nullpunkt“-Phantasmas am eigenen Leib interpretiert. Im Zustand steigender Erhitzung beschreibt das Ich seine eigene Kristallisation, die Kontraktion zu einem „eigenschaftslosen“ Punkt. Sie lässt sich als initiale Dynamik verstehen, von der aus sich der Roman in ein „fraktales Chronotop“61 auffächert, wie es Szilard formuliert hat. Phänomene unterschiedlicher scales  – die prähistorische Hitze, mythische, historische bzw. politische Monster – werden aus dem kindlichen Mikrokosmos generiert. Es ist der scheinbar abwesende Ich-Erzähler, der zwischen

60 Dazu ausführlich: Kukulin 2010, 587–592. Kukulin sieht eine Schlüsselanalogie zur monströsen Erfahrung eines kindlichen Fieberanfalls in Andrej Belyjs Kotik Letaev und Moskau, die aber auch für Renat zu betrachten wäre. 61 Silard 2014, 226. Zu Bedeutung fraktaler Geometrie für das Konzept von scales bzw. die Kategorie der „deep time“ („Tiefenzeit“) vgl. Dimock 2006, 75 f.

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 Renat i Drakon

ihnen transponiert. Er ist explizit kein Lyriker – im Gegensatz zu Moskau und Japan verzichtet Prigov hier auf Passagen mit eigenen Versen. Im ich-zentrierten preduvedomlenie entwickelt Prigov eine visuell-meditative Ästhetik: Die nächtliche Zeichenarbeit des Künstlers Prigov stellt sich hier als mystische Erfahrung dar, in der sich die Grenzen zwischen menschlichem, tierischem und virtuellem Leben verschieben. Die gezeichneten Wesen (es handelt sich um die graphischen Monster-Serien des Bestiariums) werden hier mit dem philosophischen Terminus „suščnosti“ belegt. Sie drängen ihrem Schöpfer förmlich ihre Gestalt auf, verschmelzen mit ihm: К пятому-шестому часу рисования изображения высвобождались и высовывали наружу свои пупырчатые насекомоподобные конечности. Они тянули к моему горлу мощные, ни с чем не сообразные когти, пальцы, наросты, волосатые щупальца и присоски. Я начинал задыхаться. Впадал почти в анабиоз. На пределе сознания, опомнившись, смирял их. Вернее, смирял себя. Свою прыть антропозооморфного восуществления. (249) Nach fünf, sechs Stunden Zeichnen befreiten sich die Abbildungen und holten ihre mit Bläschen übersäten insektenähnlichen Gliedmaßen raus. Sie streckten meiner Kehle ihre mächtigen, mit nichts vergleichbaren Krallen, Finger, Auswüchse, haarigen Fühler und Sauger entgegen. Ich bekam allmählich keine Luft mehr. Fiel fast in Anabiose. Am Rande der Bewusstlosigkeit kam ich zu mir und brachte sie zur Ruhe. Besser gesagt, mich. Mein Ungestüm der anthropozoomorphen Verwirklichung.

Der zeichnende Ich-Erzähler ist hier im Wortsinn der griechischen Übersetzung für Maler ‚zoographos‘, Zeichner von Lebewesen. Doch er zeichnet nicht einzelne Wesen. Mit dem über lange Zeiträume praktizierten, quasi-mönchischen, rituellen Zeichnen monströser Figuren verfolgt er eine Produktionsästhetik des Züchtens. Formveränderungen entstehen nur über viele Generationen hinweg (siehe dazu auch die Ausführungen zur transgenerationalen Kontemplation in Japan, Kap. 6.1). Über die Beziehung des prähistorischen Lebens oder des tellurischen Raums zum Menschlichen im Allgemeinen wurde einiges gesagt. Wie verhält sich nun der Ich-Erzähler zu diesem Leben? Diese Beziehung konstruiert der Roman schon im ersten, mit dem Buchstaben V überschriebenen Kapitel. Hier wird eine „vorhistorische“ Landschaft ohne Menschen beschrieben, in der das Ich auf paradoxe Weise anwesend ist: А то и вовсе покажется, что какие-то доисторические обстоятельства вскрываются  – духота нестерпимая, влажность несусветная. Из этой-то перенасыщенности неизбежно и существа образуются гигантские. Не соразмерные ни с чем и несообразные. Оттого и незамечаемы нашими глазами, привыкшими к другим размерностям, масштабам. К другим способам объявления всего подобного в этом мире. Я знаю. Я там бывал. (8) Überhaupt scheint nämlich, dass sich hier vorhistorische Umstände offenbaren – unerträgliche Schwüle, extreme Feuchtigkeit. Aus einer derartigen Übersättigung bilden sich unweigerlich gigantische Wesen. Die mit nichts in ihren Ausmaßen zu vergleichen und mit nichts vereinbar sind. Die daher auch nicht erkannt werden von unseren Augen, die andere Größenordnungen und Maßstäbe gewohnt sind. An andere Formen der Erscheinung alles Derartigen in dieser Welt. Ich weiß es. Ich war dort.



Autofiktion als Selbsttransposition 

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Die letzten Sätze kommen aus Moskau bekannt vor. Der Ich-Erzähler behauptet ein Wissen über die prä- oder posthistorischen Welten, die innerhalb der Konventionen realistischer Prosa kein Mensch bezeugen kann. Prigov bezieht sich damit auf eine oft verwendete Funktion seines lyrischen Ichs: In Tridcat’ sed’maja azbuka, „Pochoronnaja“ (Siebenunddreißigstes Alphabet, „Beerdigungsalphabet“, 1985) imaginiert es sich nach dem Aussterben aller alphabetisch besungenen Menschen als postapokalyptischer Rest am Ende der Welt bzw. des Alphabet-Gedichts. Der Roman zitiert das Gedicht fast wörtlich: „Alle sind einfach ausgestorben. Allein ich bin geblieben.“ („Все повымерли. Один я и остался.“ 379). Hier jedoch wird eine Umgebung erzählt, in der es retrospektiv noch keine Menschen gibt, oder, auch diese Variante ist möglich, die Welt steht zu menschlichem Leben logisch oder biologisch in keiner Beziehung. Das Ich kann dort nicht körperlich anwesend sein, aber es kann sich als abstrakte ­Position hineinbegeben. Es kann sich von einem eigenschaftslosen „Nullpunkt“ in die prähistorische Hitze einer Landschaft ausdehnen – und das auch wieder rück­gängig machen. Dieses „Ich“ lässt sich weder mit dem biographischen Prigov noch dem kindlichen Ich-Erzähler in Moskau identifizieren. Es ist kein Schöpfer, kein Demiurg, aus dem die Welt emaniert. Es hat die Welt des Romans nicht erfunden, sondern ihre Fragmente zusammengestellt. Renat bezieht sich nicht nur auf das popkulturelle Genre der Fantasy, sondern auch auf Science-Fiction, bzw. das, was in Russland „wissenschaftliche Phantastik“ heißt. Die Wissenschaft, die der autofiktionale Text darstellt, ist keine Naturwissenschaft. Es ist Prigovs Denken der „neuen Anthropologie“, das zwischen den zwei Kulturen von sciences und humanities verläuft. Renats Experiment der Virtualisierung des Körpers ist weniger technologisches als poetologisches Experiment. Die Figur Renat macht den bios zur zoe. Die zoegraphische Darstellung dieser Transformation ist fragmentarisch, insofern als das Leben von Brüchen gekennzeichnet und nicht mit sich identisch ist. Figuren stimmen nicht mit ihren Namen überein, Biographien nicht mit den verschiedenen Versionen über sie. Auch die Identitäten des Autors und Künstlers Prigov, des Ich-Erzählers und der Hauptfigur Renat sind fragmentarisch, verschoben, ineinander verschränkt. Prigovs Autofiktion produziert eine überschüssige Masse des Ichs, die sich zwischen den Ebenen menschlicher und nichtmenschlicher Zeit, kulturellen und natürlichen Raums bewegen kann. Renat, die postmoderne „Enzyklopädie russischen Lebens“, behandelt Vorstellungen des russischen Lebens als einer Substanz, die untrennbar mit der Eigenschaft des ‚Russischen‘ verbunden ist. Diese Behandlung ist keine historische, sondern eine epistemologische: Renat ­erkundet die Trennlinien von Natur und Kultur, die sich im Konzept des „russischen Lebens“ manifestieren. In seinen Romanen über Japan und China setzt Prigov dieser Epistemologie einen Kontrast entgegen: Müssen die Trennlinien zwischen Natur und Kultur in einer fremden Kultur anders gezogen werden? Diese Frage wird das folgende Kapitel beschäftigen.

6 D  ie asiatischen Romane: Zoegraphie und ­kulturelle Räume 6.1 Tol’ko moja Japonija (Nur mein Japan, 2001) Tol’ko moja Japonija. Nepridumannoe (Nur mein Japan. Nichterfundenes), Prigovs zweiter Roman, ist im Jahr 2001 erschienen.1 In der Trilogie der Formen „aufrichtigen Schreibens“ besetzt er das Genre des Reiseberichts („zapiski putešestvennika“). Es ist ein hybrider Text zwischen Prosa und Lyrik, in dem ein Ich-Erzähler als Dichter auftritt und Vers- und Textarbeiten in die Erzählung integriert. Das Ich besetzt zwei Rollen: die des reisenden Erzählers, der Japan beobachtet, und die des lyrischen Sprechers, der Japan denkt. Diesen beiden Rollen sind die folgenden Teilkapitel gewidmet: einer Beschreibung der postnationalen Situation nach dem Ende der Imperien der Sowjetunion und Japans verbunden mit einem anthropologischen Blick auf die Verfassung des Menschen, und einer lyrischen Topopoetik Japans und der Japaner, die jenseits ethnographischer Beobachtung eine Beziehung des Ichs zum „Japanischen“ erschreibt.

6.1.1 Die postnat(ion)ale Situation des Erzählens Im Jahr 2000 verbringt Prigov drei Monate in Japan. Auf Einladung der Universität Tokio nimmt er an Performances und Symposien mit japanischen und russischen Schriftstellern teil – außerdem bereist er das Land. Wie bereits in Moskau ist der Name des Ich-Erzählers in Japan an genau einer Stelle indirekt zu erfahren. Der Erzähler liest ihn in lateinischer Transliteration auf einem offiziellen japanischen Dokument: „Domitori Porigov“2 (13). Er deutet ihn als einen alternativen magischen Geheimnamen und rechtfertigt durch diese Umbenennung seine doppelte Existenz als russischer und japanischer Prigov. Der Ich-Erzähler berichtet von seinen kürzlichen Erlebnissen in Japan und blickt zurück in die Kindheit zu seinen Moskauer Freunden im Hinterhof. Er schildert eine Fülle von Beobachtungen, macht jedoch aus seinem Unwillen zu ­ethnographischer Genauigkeit kein Geheimnis: Von der kognitionswissenschaftlich

1 Prigov, Dmitrij A.: Tol’ko moja Japonija. Nepridumannoe, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2001; Zitate folgen im Kapitel 6.1 mit Seitenangaben im Text. Die deutsche Übersetzung von Christiane Körner erschien 2007 unter dem Titel Moskau–Japan und zurück. Non-fiction, nach ihr wird im Folgenden zitiert. Prigow, Dmitri: Moskau–Japan und zurück. Non-fiction, aus d. Russ. v. Christiane Körner, Wien/Bozen: Folio, 2007. 2 Auf die korrekte Transliteration „Domitorii Arekusandorobiti Purigofu“ und andere Ungenauigkeiten im Umgang des Texts mit Details hat Aleksandr Čancev hingewiesen (vgl. Čancev 2007, 290–294; 290). https://doi.org/10.1515/9783110602494-006



Die postnat(ion)ale Situation des Erzählens 

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belegbaren Feststellung beispielsweise, japanische Gehirne funktionierten anders als europäische, gelangt der Erzähler zur Behauptung, dass japanische Därme doppelt so lang wie europäische seien, dass japanische Exkremente wegen ihrer Härte im Straßenbau zum Einsatz kämen und dass japanischer Harn so ätzend wirke, dass Metallpissoirs in Japan nicht verwendet würden (vgl. 257 f.).3 Damit reiht sich der Text ein in eine Tradition von Reiseberichten, die physiognomische Klischees auf das ‚Wesen‘ des ‚Japanischen‘ bzw. der ‚Japaner‘ beziehen. Prigov hat sich lange vor seiner Reise dichterisch mit dem Thema Japan beschäftigt. Japan ist, wie der Erzähler in der Einleitung mit dem Zitat der Gedichtstrophe V Japonii ja b byl Katull (vgl. Kap. 6.1.2) unterstreicht, durch den Poeten Prigov präfiguriert. Dass Prigov im Jahr 2001 einen Reisetext veröffentlicht, könnte zu einer vorschnellen Annahme verleiten: Wird die virtuelle Position „Japan“ aktualisiert, mit Empirie in Raum und Zeit gefüllt? Diese Annahme enttäuscht der Erzähler bereits in der Einleitung: И вот это основополагающее объявляется как бы в опережающей полноте, силе и порождающей энергии некой сверхяпонскости, где оно мерцательным образом через медиаторное бескачественное поле сообщается со всем таким же остальным. То есть моя Япония и только моя Япония явилась мне гораздо раньше, чем все ныне обстоящее и позднее нахлынувшее. (9) Und dieses Grundlegende nun tritt gleichsam in der alles übertreffenden Fülle, Kraft und Zeugungsenergie einer gewissen Hyperjapanizität zutage, wo es sich mit seinesgleichen flimmernd über ein eigenschaftsloses mediatorisches Feld austauscht. Das heißt, mein Japan und nur mein Japan ist mir viel früher erschienen als alles, was mich später überwältigt hat und heute umgibt. (Prigow 2007, 7)

Das epiphanische Japanbild, buchstäblich und titelgebend „nur mein Japan“, ist dem topographischen Japan immer einen Schritt voraus. Besonderes Wissen beansprucht der Erzähler außerdem, weil er der erste aus seiner Clique der Moskauer Hinterhofjungs sei, der es je nach Japan geschafft habe: Пока никто не доехал и не объяснил, я есть как бы единственный полновластный, в данном узком смысле, ее хозяин. Что хочу — то и пишу. И все правда.4 (11)

3 Hier spielt Prigov auf die Beschreibung von Toiletten in Tempelgebäuden im Essay Lob des Schattens (In’ei Raisan, 1933) von Tanizaki Jun’ichirō an (vgl. Čancev 2007, 292). 4 Hier ähnelt Prigovs konzeptualistische Geste Roland Barthes’ strukturalistischer Geste der Nomination in dessen Japanbuch L’empire des signes (Das Reich der Zeichen, 1970): „Ich kann […] irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen […] aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. Und dieses System werde ich Japan nennen.“ Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen, aus. d. Franz. v. Michael Bischoff, Frankfurt: Suhrkamp, 1981, 13.

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 Tol’ko moja Japonija

Solange niemand dort hingefahren ist und etwas anderes erklärt hat, bin ich sozusagen sein Alleinherrscher im hier gemeinten engen Wortsinn. Was ich will, schreibe ich. Und alles ist wahr. (Prigow 2007, 9)

Da alles wahr ist, kann auch nichts ‚ausgedacht‘ sein. „Sverchjaponskost’“ ist der ­ontologische Joker des Texts. In der Vorsilbe „sverch-“ und dem mystischen Tonfall der Passage klingt wiederum Prigovs Interesse für die apophatische Theologie von Dionysius Areopagita an. Das „Überjapanische“ wäre nach dieser Sprechweise ein verborgenes ‚Wesen‘, eine Privation, die sich nur negativ kommunizieren lässt. Japan ist also kein Buch über „Japan“, sondern hier werden alle vorgefundenen Informationen dem „Überjapanischen“ untergeordnet und transformiert. Der Roman Japan ist darüber hinaus ein re-visiting des asiatischen bzw. eurasischen Texts der russischen Avantgarde,5 wie im nächsten Kapitel noch detailliert in den Referenzen auf Chlebnikov zu sehen sein wird. Prigov benutzt das futuristische Verfahren des sdvig nicht nur in der Lyrik, sondern auch in der Prosa des Romans. In der Leselogik verschobener Wortgrenzen erklingt in „sverchjaponskost’“ auch das „Über-Ich“ („sverch-Ja“), in „Japonija“ auch der Beginn des Prädikats „ja ponjal“ („mir wurde klar“). Solche Formeln der Erkenntnis werden allerdings gerade dann verwendet, wenn es um den Misserfolg, die Unvollständigkeit des autobiographischen Subjekts geht, etwa: „Я понял свою ущербность“ (144).6 Das Wort „Japonija“ wird durch diese Verfahren von seiner Bedeutung als Landesname entfremdet und in den Bereich des Autobiographischen verschoben. Der Untertitel „nepridumannoe“ (wörtlich: „Nichtausgedachtes“) bezeichnet nicht nur das Genre der „Non-fiction“, wie es die deutsche Übersetzung wiedergibt. Es ist auch eine textuelle Geste gemeint: Was der Ich-Erzähler im Besitz des Wissens über das „Überjapanische“ schreibt, kann gar nicht ausgedacht sein. In der oben zitierten Anfangsreflexion heißt es, keine realen „Japans“ könnten jemals das „Begehren nach Japan“ befriedigen. Denn: На то способна только, единственно, умопостигаемая Япония, потому что она сразу уже есть даже Япония в квадрате. То есть все, что есть Япония вместе со всем, что и не есть Япония и вовсе есть не Япония, захватывая рядом и нерядом лежащее. То есть она уже не есть Япония. Вернее, есть не Япония, но — возможность Японии в любых обстоятельствах и точках пространства. (9)

5 Vgl. Vroon, Ronald: „A Russian Futurist in Asia: Velimir Khlebnikov’s Travelogue in Verse“, in: Green, Nile (Hg.): Central Asia in Global History. Writing Travel at a Cultural Crossroads, Bloomington: Indiana University Press, 2013, 170–192. 6 Vgl. auch: „[С]колько же всего я пропустил и упустил в своей жизни“ (53), („wieviel ich im Leben verpaßt und versäumt habe“, Prigow 2007, 46); „я понял, что жизнь прошла даром. В общем, не удалась жизнь“ (54), („habe ich begriffen, daß ich umsonst gelebt habe. Im Grunde ist mein Leben mißglückt“, Prigow 2007, 47).



Die postnat(ion)ale Situation des Erzählens 

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Dazu ist einzig und allein das geistig erfaßte Japan fähig, weil es sofort schon Japan im Quadrat ist. Also alles, was Japan ist, zusammen mit allem, was Japan alles nicht ist und was überhaupt nicht Japan ist, eingeschlossen das, was in der Nähe und nicht in der Nähe so herumliegt. Also ist das schon nicht mehr Japan. Vielmehr, es ist nicht Japan, sondern die Möglichkeit Japans unter beliebigen Umständen und an beliebigen Orten im Raum. (Prigow 2007, 7)

„[R]jadom i nerjadom ležaščee“ – diese topische Vorstellung prägt Prigovs Kreativität ganz grundsätzlich: über etwas schreiben, und das mitbeschreiben, was mehr oder weniger ‚daneben‘ assoziierbar ist. Wenn es um Japan geht, geht es auch um China: z. B. eine alternative history mit der Überlegung, wie Prigovs Leben verlaufen wäre, wenn er wie seine Frau in der chinesischen Emigration aufgewachsen wäre, und nicht sie nach Moskau gekommen wäre (vgl. 291) – dieses Gedankenspiel soll in Katja noch mehr Aufmerksamkeit erhalten (siehe Kap. 6.2). Dabei geht es auch um das „neben“ Japan liegende sowjetische Imperium bzw. seine Überreste. Prigovs Verfahren lässt sich als topopoetisches beschreiben: nicht als literarische Verarbeitung kartographierter Orte oder imaginärer Räume, sondern als poetisches Expandieren von Toponymen auf globale und kosmische Ebenen. So findet ein Topos aus Prigovs Lyrik Eingang in den Roman, in dem sich sein Moskauer Heimatbezirk Beljaevo auf planetarische Größe ausdehnt (vgl. 26). Die Topoi der Japanreise behalten ihre Ambivalenz zwischen realen Orten und Gemeinplätzen, die miteinander verflochten werden. Ein Buch über zwei kulturell ‚große‘ Orte – Russland und Japan – findet in einem großen intertextuellen Feld statt. Als russischer bzw. ex-sowjetischer Schriftsteller in Japan knüpft Prigov an einen frühsowjetischen Vorgänger an: Boris Pil’njak. Pil’njak, der 1926 nach Japan reiste und den Roman Korni japonskogo solnca (Wurzeln der japa­ nischen Sonne, 1927) schrieb, wurde unter anderem wegen seiner Japanreise 1937 als „ausländischer Spion“ verhaftet und später hingerichtet. Pil’njak, der in seinem autobiographischen Text explizit als Vertreter der sowjetischen Gesellschaft auftritt,7 wurde vorgeworfen, den Klassenwidersprüchen nicht genügend Rechnung zu tragen. Das Verhältnis zwischen Autor und Staat thematisiert Prigov in einem Traum: Der Erzähler sieht einen altjapanischen Prinzen, der in Wahrheit Russe ist, und nennt ihn „altjapanischen Stierlitz“ („drevnejaponskij Štirlic“, 102). Zuletzt wird ihm klar, dass er selbst der Spion ist; er wird enttarnt und macht sich zum rituellen Selbstmord bereit – bevor er aufwacht. Wie Prigov in zahlreichen anderen Texten über den Doppelagenten deutlich gemacht hat, verkörpert der Spion ein Doppeldenken (‚dvoemyslie‘), das die Dissonanz zwischen Ideologie und Alltag überbrückt. Für den frühsowjetischen Autor Pil’njak war das eine existenzielle Erfahrung zwischen sowjetischer und nichtsowjetischer Perspektive.8 Prigov denkt das ‚dvoemyslie‘ als kulturelle Dynamik weiter:

7 Vgl. Pil’njak, Boris: Sobranie sočinenij v 6 tomach, T. 3: Povesti. Rasskazy. Korni japonskogo solnca, Moskva: Terra-Knižnyj klub, 2003, 482. 8 Vgl. Kukulins ausführlichen Vergleich von Pil’njak mit Prigov: Kukulin 2010, 595.

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 Tol’ko moja Japonija

Можно только вот этим самым мерцанием быть как бы двусущным, двуличным, дву­ смысленным. Думается, известное советское двоемыслие не есть некий специфический феномен конкретно-исторического и конкретно-географического социокультурного человеческого извращения, но выход все той же основополагающей метаантропологической и онтологической ситуации двойственности и мерцания. (56) Man kann bloß durch dieses Flackern quasi ein Doppelwesen, ein Doppelcharakter, eine Doppeldeutigkeit sein. Mir scheint, als wäre die bekannte sowjetische Doppelgedanklichkeit nicht ein spezifisches Phänomen konkret historischer und konkret geographischer, soziokultureller menschlicher Anomalität, sondern Ausfluß eben jener fundamentalen meta-anthropologischen und ontologischen Situation der Dualität und des Flackerns. (Prigow 2007, 49)

„Mercanie“, Schimmern, Flackern oder Flimmern, wäre hier als kulturelle Basisoperation zu verstehen, als permanente Verschiebung des eigenen Orts zwischen zwei Polen. Die Oszillation, die in Moskau im Diskurs der Aufrichtigkeit zwischen eigener und fremder Erinnerung und Erzähler stattfindet, wird nun auf die Ebene kultureller Räume übertragen. Japan ist die Prosa eines Lyrikers, der auf seiner Reise mit der Wortkunst eines anderen Schriftsystems in Kontakt kommt. Als essayistische Reflexion dieser Situation veröffentlicht Prigov im gleichen Jahr den Text Čto by ja poželal uznat’ o russkoj poėzii, bud’ ja japonskim studentom (Was ich gerne mal über die russische Poesie ­wissen würde, wäre ich ein japanischer Student, 2001).9 Hier erscheint die japanische Lyrik als semiotisch so von der russischen verschieden, dass ihre Wahrnehmung an die Grenzen menschlicher Sinneskoordinaten geht, eine Sprache, die jenseits des „Ähnlichen“ nur noch im „Quasiähnlichen“ operiert.10 Der Essay vermeidet eine essentialistische Sicht auf die russische und japanische Kultur und versucht sein Thema zu beschreiben, „ohne zu gewissen spenglerisierenden Versuchen und effekthascherischen Gesten der prinzipiellen Trennung alles von allem überzugehen“ („не переходя к неким шпенглерианствующим попыткам и эффектным жестам принципиального отделения все от всего“).11 Der Text über Japan gibt Prigov die Möglichkeit, die „neue Anthropologie“ ethnographisch zu perspektivieren: Im Roman fordert die Differenz der „Japaner“ zum

9 Auch Pil’njak spaltet seine Autor-Persona in eine russische und eine japanische. In Korni kommt er zum Schluss: Der hypothetische Roman des „nichtexistenten phantasmagorischen japanischen Schriftstellers Pil’njak“ („несуществующий фантасмагорический японский писатель Пильняк“, Pil’njak 2003, 509) wäre nur von informativem, nicht von ästhetischem Wert. 10 Prigov, Dmitrij A.: „Čto by ja poželal uznat’ o russkoj poėzii, bud’ ja japonskim studentom“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 4/2001, 477–490; 478. 11 Ebd. Pil’njak dagegen bezieht sich in seiner Sicht auf die japanische Kultur auf Spengler, wenn auch negativ: „Япония  – страна, лучше всего опровергающая теории Шпенглера, ибо эта страна существует уже тысячи лет, сверстница Греции, племянница Ассирии и Египта.“ („Japan ist das Land, das am besten Spenglers Theorien widerlegt, denn dieses Land existiert bereits Tausende Jahre, Altersgenosse Griechenlands, Neffe Assyriens und Ägyptens“), Pil’njak 2003, 427.



Die postnat(ion)ale Situation des Erzählens 

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­eigenen Alltag den Ich-Erzähler immer wieder heraus, die Kontingenz der eigenen menschlichen Lebensform zu überdenken. Der Erzähler kann angesichts des unbekannten Alltags in Japan konstatieren, dass Menschen eben überall Menschen seien (vgl. 91). Doch eine solche anthropozentrische Beschwichtigungsformel reicht nicht aus. Eine Begegnung mit Obdachlosen unter einer Brücke mündet in eine Reflexion über die „Penner“ als biologische Sonderform, eine flüssige menschliche Masse, in der sich das Ich als „humanoider Tropfen“ („gummanoidnoj [sic] kaplej“, 101) aufzulösen droht. Immer wieder bleibt der Blick an der Präsenz von Schwäche hängen: Behinderte, Alte oder die Seelen der Toten, die beim Bestattungsritual keinen Kontakt mehr zu den Lebenden aufnehmen können (vgl. 32). Japan als Reich der Gerontokratie (195), des Geburtenrückgangs, wo sogar Pornographie entschärft in Form von „Als-ob-Sex“ („kak by seksa“, 251) dargestellt wird, untermauert Prigovs Sicht auf den Menschen als eine Lebensform, die an ihr Ende kommt, aber noch keine neue Form gefunden hat. Sowohl Tol’ko moja Japonija als auch das Schlussgedicht Japonskaja chrupkost’ (Japanische Zerbrechlichkeit, 1999) enden mit Visionen von Japan als einem Land, in dem die Menschen das Ende der Welt erleben. Gerade östliches Denken spielt bei der Reflexion über virtuelle Existenzweisen eine große Rolle. Nicht zufällig ziehen buddhistische Materialisierungen und Reinkarnationen das Interesse des Ich-Erzählers auf sich, gleichwohl immer in Rollenprosa vermittelt, distanziert und ironisiert. Auf einer Wanderung fällt ein besonders schöner Schmetterling auf, und ein Begleiter wirft beiläufig ein, jener könne ja eine Reinkarnation von El Greco sein: Ну уж … — засомневалась жена моего спутника. А что? Для инкарнаций нету наций, — пошутил ее муж, — нету стран и географии, — уверенно, почти гордо завершил он свою мысль. — Вот я, например, инкарнация … — Знаем, знаем, слыхали — Монтеверди, — отмахнулась его жена. (161) Na, na … –, zweifelte die Frau meines Begleiters. Wieso? Für Reinkarnationen gibt’s keine Nationen –, scherzte ihr Mann, – keine Länder und keine Geographie. – Selbstsicher, fast stolz brachte er seinen Gedanken zu Ende. – Ich zum Beispiel bin die Reinkarnation … – Wissen wir, wissen wir, kennen wir schon – von Monteverdi –, winkte seine Frau ab (Prigow 2007, 139).

Dass „Inkarnationen“, Fleischwerdungen, keine Nationen kennen, ist mehr als ein Kalauer. Es hat den ideengeschichtlichen Hintergrund, dass sich das Konzept „Nation“ im achtzehnten Jahrhundert als Geburtsgemeinschaft entwickelt hat, siehe das lateinische ‚natio‘, ‚was geboren ist‘.12 Die Sprechweise, in der dieser Gedanke bei Prigov vorgetragen wird, verdient nähere Betrachtung. Michail Ėpštejn hat Prigovs Sprache

12 Agamben beschreibt am Beispiel der Menschenrechte und dem Phänomen des Flüchtlings im zwanzigsten Jahrhundert, „daß der Nexus Nativität-Nationalität, auf den die Erklärung der Menschenrechte von 1789 die neue nationale Souveränität gegründet hatte, nicht mehr von selbst funk­ tionierte und seine Macht der Selbstregulation verloren hatte.“ (Agamben 2002, 141).

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 Tol’ko moja Japonija

als „narodnoe ljubomudrie“ bezeichnet, eine spezifisch russische Form des VolksPhilosophierens.13 Es ist gerade der Tonfall des Alltagsgesprächs, der Volksweisheit, in dem das ‚narodnoe‘ thematisiert wird, in dem die ursprüngliche Bedeutung des ‚Volks‘ als etwas ‚(Ein-)Geborenes‘ desavouiert wird. Wenn in einer Zivilisation keine Nachkommenschaft mehr geboren wird, verliert das Konzept Nation sein biologisches Substrat. Zur Erzeugung neuen menschlichen Lebens sind alternative Modelle in den Bereich des Machbaren gerückt. Wie Prigov das poetologisch-ästhetische Konzept der „Natalität“ als nur eine von mehreren Möglichkeiten entblößt, ist bereits in Kapitel 4.1.3 erläutert worden. Japan und seine Formen des Buddhismus üben auch deshalb eine Faszination auf Prigov aus, weil hier andere Übergänge zwischen Nichtleben und Leben als die menschliche Geburt sowie Metaphorisierungen und Umcodierungen von Körperlichkeit eine reiche religiöse, philosophische und künstlerische Tradition haben.14 In einer längeren Passage des Romans wird eine „archaische“ Form der Kunstbetrachtung beschrieben: Ein Menschenleben reiche in der japanischen Tradition nicht aus, um den Sinngehalt eines Werks zu erfassen – erst nach Jahrhunderten akkumulierter Kontemplation könne eine Sache von einer Kultur in ihrer Fülle erfasst werden (vgl. 170 f.).15 Diese transgenerationale Perspektive auf das Leben und den Menschen prägt auch die Vers- und Textarbeiten im Roman, um die es im nächsten Kapitel gehen wird.

6.1.2 Verse in Prosa: Zoegraphie zwischen Ich-Erzähler und lyrischem Ich Tol’ko moja Japonija proklamiert im Untertitel, nicht ausgedacht, keine Fiktion zu sein. Diesen Anspruch erfüllt der Roman auch insofern, als er ein Prosatext mit Lyrikanteilen ist: Der Erzähler erinnert sich an Gedichte, die er zum Thema Japan geschrieben hat. Der Text hat nicht nur einen Ich-Erzähler, sondern auch ein lyrisches Ich. Das ist anders als in den bisher betrachteten Romanen: Moskau entsteht aus dem generativen, metonymischen Prinzip des Verses, enthält aber nur zwei Milizionär-Verse;16 Renat bietet verschiedene Ebenen der Genese der Prosafragmente (die Manuskriptfiktionen des Ich-Erzählers und der Konzeptualisten-Figuren sowie die graphische Genese des Texts aus der monströs-expansiv produzierenden Hand des Zeichners). Japan dagegen

13 Ėpštejn 2010, 254. 14 Schließlich ist das Ziel von Reinkarnationen ein „Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Zusammengesetzten“, wie es in der buddhistischen Schrift Udāna über das „Nichtgeborene“ heißt; vgl. Schäfer, Fritz (Hg. u. Übers.): Verse zum Aufatmen. Die Sammlung Udana, Stammbach-Herrnschrot: Beyerlein u. Steinschulte, 1998, 120. 15 Vgl. Jampol’skij 2014b, 34. 16 Siehe dazu die These vom „Roman aus Versen“ von Witte/Obermayr (siehe Kap. 4.3). Außerdem gibt es eine Textcollage aus Puškins Evgenij Onegin und Majakovskijs Oblako v štanach (Wolke in Hosen, 1915), die Anna Achmatova in den Mund gelegt wird, vgl. 257 f.



Verse in Prosa: Zoegraphie zwischen Ich-Erzähler und lyrischem Ich 

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inkorporiert Gedichte und Textarbeiten eines Dichter-Ichs. Die Verse sind prosaisiert, ihnen fehlen Metrum und Reim, sie haben Überlänge oder sind zu kurz. Bezeichnenderweise gibt es keine Japanismen wie Haikus und Tankas, denen sich Prigov bereits in früheren Zyklen gewidmet hat.17 Die Integration von Vers- und Textarbeiten in die Prosa folgt einem bestimmten Ablauf: Im Vorwort inszeniert der Ich-Erzähler seine Beziehung zu Japan als poetische Epiphanie. Während Moskau eine Poetik der Erinnerung an Prigovs Image und die autobiographische Kindheit entwickelt, erinnert sich der Ich-Erzähler der Gegenwart von Japan an die Arbeit des Schreibens und Zeichnens. Ihm ‚fallen‘ nicht nur eigene Gedichte ein, sondern auch Kinderlieder (vgl. 191). Japan intensiviert eine Poetik des Quasi-Selbstzitats, die bereits in Moskau angelegt ist. Obermayr hat das in Prigovs erstem Roman an den zitierten Versen aus dem Milicaner-Zyklus veranschaulicht, die dem kindlichen Ich-Erzähler auf seinem Schulweg scheinbar spontan in den Sinn kommen. Was als Selbstzitat daherkommt, „erweist sich jedoch auf der Stelle als  Zitat aus etwas Unpersönlichem, als Referenz auf eine Vor-Erinnerung, eine Vorahnung“.18 In Japan zitiert der Ich-Erzähler ein Gedicht, in dem Prigov bereits in den 1980er Jahren seine ästhetisch-topographische Identität entworfen hat: В Японии я б был Катулл А в Риме – чистым Хоккусаем А вот в России я тот самый Что вот в Японии – Катулл Я в Риме чистым Хоккусаем Был бы (10 f.)19

In Japan wäre ich Catull gewesen Und in Rom der reinste Hokusai In Rußland nun bin ich derselbe Der ich in Japan als Catull Und in Rom als der reinste Hokusai Gewesen wäre (Prigow 2007, 8)

Das lyrische Ich denkt sich und seine kulturelle Funktion hier in einem Geflecht von Kulturen bzw. Kanones: Rom-Japan-Russland bzw. Catull-Hokusai-Prigov.20 Das auto­ deiktische „vot“ wird dabei unabhängig von Zeit und Ort. Zwei Jahrzehnte später ergibt das Selbstzitat im Roman eine Tautologie der Selbstkanonisierung. Auf das Gedicht folgt eine Überlegung zur Lyrik im Computerzeitalter:

17 Solche Verfahren finden sich in Russko-japonskie tristišija ili moskovskie ščitaločki (Russisch-japanische Dreizeiler und Moskauer Abzählreime, 1984) und Pjat’desjat kapelek krovi v absorbirujuščej srede (Fünfzig Blutstropfen in einem absorbierenden Milieu, 1990). 18 „Всё начинается с цитаты, которая преподносится как самоцитата, однако она тут же оборачивается цитатой из чего-то безличного, отсылкой к пред-воспоминанию, предчувствию“, Obermajr/Vitte 2016, 28. 19 Das Jahr der Erstveröffentlichung bzw. die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Zyklus ist anhand der verfügbaren bibliographischen Angaben nicht zu ermitteln. Die Strophe ist im Band mit Gedichten bis 1989 enthalten (Napisannoe s 1975 po 1989), vgl. Prigov 1997a, 110. 20 Zu den imperialen bzw. „transkulturellen“ Implikationen des Gedichts vgl. Edmond, Jacob: A common strangeness. Contemporary poetry, cross-cultural encounter, comparative literature, New York: Fordham University Press, 2012, 148–150.

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 Tol’ko moja Japonija

Данный же текст обращен к читателю, который вообще вряд ли когда-либо касался беглыми компьютерными пальцами хрупких и бесцельных страниц тоненьких поэтичес­ ких сборников. Так что вот ему и будет как раз случай ознакомиться с моей стихотворной деятельностью, сделавшей все-таки человека из меня, дворового гонялы. Или же как раз наоборот – сгубившей меня и все человеческое во мне. (11) Der angeführte Text richtet sich an einen Leser, der wohl kaum einmal mit seinen flinken Computerfingern die brüchigen, nutzlosen Seiten schmaler Lyrikbände berührt hat. Also ergibt sich gerade für ihn die Gelegenheit, sich mit meiner dichterischen Tätigkeit bekanntzumachen, die aus mir Hofherumtreiber immerhin einen Menschen gemacht hat. Oder genau umgekehrt – die mich und alles Menschliche in mir zugrunde gerichtet hat. (Prigow 2007, 9)

Der Text ist für Leser geschrieben, deren „Computerfinger“ mit der „brüchigen“ Materialität (auf die Kategorie der „chrupkost’“ wird noch zurückzukommen sein) von ­Gedichtbänden nichts anzufangen wüssten. Die Lyrik, die das Ich gleichermaßen verund entmenschlicht hat, scheint hier als anthropologischer Angelpunkt zu wirken, als Faktor, der positive und negative Valenzen erzeugt. Bereits vor dem Besitz eines Computers, auf dem er die Romane schreibt, hat Prigov sich mit Verfahren automatisierten Schreibens beschäftigt: Für das Projekt Kiber-Puškin (Cyber-Puškin, 1994) lässt er den Text von Evgenij Onegin scannen, von einer Texterkennung verarbeiten und zwischen verschiedenen Sprachen hin- und herübersetzen.21 Reminiszenzen an solche Arbeiten, eine Art copy-&-paste-Verfahren, sind im Roman präsent: In zwei Abschnitten ist ein früherer Prosatext eingeflochten: Stalinskoe  – S’’ezd narodov Dagestana (Stalinistisches  – Kongress der Völker Dagestans, 1993). Dabei handelt es sich um eine von mehreren Textappropriationen Stalins, die Prigov Anfang der 1990er schreibt. Sie beziehen sich auf ein Verfahren, das Prigov in den Arbeiten Evgenij Onegin Puškina (Puškins Eugen Onegin, 1992) erstmals anwendet. Der modifizierte Text ist vom Autor „lermontisiert“ („lermontizirovan“): Т.е. он как бы прочитан глазами последующей (естественно, последующей после Пушкина) превалирующей романтической традиции (в смысле, Чайковского). Техничес­ кий это воспроизводилось как бы записью по памяти, когда память услужливо искажает текст в сторону доминирующих современных стилистических приемов и наиболее употребительных слов, т.е. на место как бы забытого эпитета вставлялось либо „безумный“, либо „неземной“ (в зависимости от количества слогов в заменяемом слове).22 D. h. er ist sozusagen gelesen mit den Augen der folgenden (natürlich der auf Puškin folgenden) vorherrschenden romantischen Tradition (also der Čajkovskijs). Technisch wurde dies gewissermaßen als Gedächtnisabschrift hergestellt, wenn das Gedächtnis den Text dienstbeflissen in

21 Prigov spricht darüber mit dem Designer Artemij Lebedev, vgl. Prigov, Dmitrij A. / Lebedev, Artemij: „Dmitrij Aleksandrovič Prigov“, 1994, http://www.tema.ru/rrr/litcafe/prigov/ (Übersetzung von Sylvia Sasse: http://www.dissense.de/km/prigov.html). 22 Prigov, Dmitrij A.: Evgenij Onegin Puškina, sbornik I, Typoskript, Moskva, 1992.



Verse in Prosa: Zoegraphie zwischen Ich-Erzähler und lyrischem Ich 

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Richtung der dominierenden zeitgenössischen stilistischen Verfahren und der meistverwendeten Wörter verzerrt, d. h. anstelle des scheinbar vergessenen Epithetons wurde entweder „wahnsinnig“ oder „unirdisch“ eingefügt (in Abhängigkeit der Silbenzahl im ersetzten Wort).

Der Reiz dieser Appropriation bestehe unter anderem in der „Aufrichtigkeit des AutorAbschreibers“ („iskrennosti avtora-perepiščika“, ebd.).23 Diese Aufrichtigkeit beruht auf einer scheinbar authentischen Wiedergabe dessen, was das Gedächtnis unter Einfluss der Gegenwart vom vergangenen Text noch weiß. Die im Roman Japan zitierten Appropriationen beziehen sich allerdings nicht mehr auf scheinbar falsch auswendig gelernte Lyrik des Nationaldichters Puškin, sondern auf frühsowjetische Reden Stalins. Diese Texte sind dem russischen Leser im genauen Wortlaut nicht geläufig, jedoch durch ihre starke Formelhaftigkeit vollkommen vertraut. Es ist Prosa, deren Memorisierbarkeit sich durch ihre Bausteinhaftigkeit an jene der Poesie annähert. Die Adjektive „wahnsinnig“ und „unirdisch“ motiviert der Erzähler hier nicht mit der romantischen Lyriktradition, sondern mit dem zeitgenössischen Diskurs über die Stalinzeit als Zustand kollektiven Wahnsinns einerseits und als Herrschaft eines ‚überirdischen‘ Führers andererseits (vgl. 121). Stalins Rede von 1920 trägt im Original den Titel Deklaracija o sovetskoj avtonomii Dagestana (Erklärung über die sowjetische Unabhängigkeit Dagestans).24 Prigov wendet die bekannte Methode nun auf Prosa an, bei der die Silbenzahl keine Rolle spielt: В неземное время безумное правительство России, благодаря победе над безумными врагами, получив неземную возможность заняться безумными делами неземного развития, нашло необходимым объявить вам, что безумный Дагестан должен быть автономным, что он будет пользоваться неземным самоуправлением, сохраняя безумную связь с неземными народами безумной России … (122) In dieser unirdischen Zeit befand es die irrsinnige Regierung Rußlands, die dank des Sieges über ihre irrsinnigen Feinde die unirdische Möglichkeit erhielt, sich den irrsinnigen Angelegenheiten der unirdischen Entwicklung zuzuwenden, für notwendig, euch zu erklären, daß das irrsinnige Daghestan autonom sein soll und bei der Wahrung der irrsinnigen Verbundenheit mit den unirdischen Völkern des irrsinnigen Rußlands eine unirdische Selbstverwaltung einrichten wird … (Prigow 2007, 105).

23 Hänsgen bezeichnet Prigovs Übernahme der Autorposition in seiner Puškin-Abschrift als Appropriation (vgl.: Hänsgen, Sabine: „Noch einmal im Samizdat. Aneignungsstrategien von Bildern, Texten und Büchern im Moskauer Konzeptualismus“, in: Gilbert, Annette (Hg.): Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern, Bielefeld: Transcript, 2012, 265–280; 270 f.) Allerdings unter Vorbehalt: Auf dem Titelblatt des vierten Bandes liest sich die Autorzeile als „Evgenij Onegin Prigova Puškina“. Diese Verschleierung der Usurpation als Druckfehler hat Obermayr als Mystifika­ tion beschrieben (vgl. Obermayr 2001). 24 Stalin, Iosif V.: „Vystuplenija na S’’ezde narodov Dagestana“, 13.11. 1920, in: ders.: Sočinenija, Bd. 4, Moskva: OGIZ, 1947, 394–398.

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Hier tritt der Revolutionär Stalin als Vertreter des sowjetischen Imperiums auf, der für die Integration eines ‚orientalischen‘ Volks und seiner Bräuche (die Passage zur Scharia wird in Japan nicht zitiert) in das Großreich garantiert. Dass der Text von Dagestan handelt, das in Prigovs Gegenwart einer der Schauplätze des zweiten Tschetschenienkriegs ist, hat noch einen weiteren kulturgeschichtlichen Grund: Er teilt den Schauplatz mit Lermontovs Gedicht Son (Traum, 1841). Seine „Lermontisierung“ reflektiert den Orientalismus des sowjetischen Kanons, dessen Wirkung noch auf einen JapanReisenden um die Jahrtausendwende abstrahlt. Die „Lermontisierung“ ist mehr als das Textverfahren der Adjektivsubstitution. Sie ist eine Art Lackmustest, der bestimmten Texten ‚färbendes‘ Material injiziert und eine Reaktion hervorruft. Damit macht er die Wirksamkeit romantischer Topoi in verschiedenen kulturellen Situationen sichtbar. Gemäß der Topopoetik des Romans Japan bezieht sich dieser Test auf Raumkonzeptionen. Die meisten der auf verschiedene Kapitel verteilten Textarbeiten Prigovs sind in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entstanden und im gleichen Jahr wie Japan im Band Isčislenija i ustanovlenija (Berechnungen und Bestimmungen) veröffentlicht worden. In ihnen ist eine neue Poetik der universellen Konvertibilität bzw. Transponierbarkeit konzentriert, wie sie in Kapitel 7 noch näher betrachtet werden soll. In den Text­arbeiten, die in Japan versammelt sind, dominieren Operationen und Prozesse des Denkens. Im Gedicht Raznye dumy (Verschiedene Gedanken, 1997) etwa wird die Selbst­ konversion qua Kognition bis zur kosmologischen Ebene durchgespielt. Hier spekuliert das Ich, was es an seiner Situation ändern könnte: Beschäftigung, Wohnort, materielle Lage, Namen, menschliche Hülle, Aggregatzustand, Umgebung, Kosmos und Chaos, oder die Instanz, die all das geschaffen hat. Das Gedankenexperiment in überlangen Versen stößt schließlich an die Grenze des (Nach-)Denkens selbst: Но потом я подумал: собственно, все изменения и задаются в своей специфической полноте самим актом подумывания Типа: ну, подумай меня! подумай меня измененным! подумай меня длящимся вечно после изменения! и потом не подумай меня! Вот это-то как раз и есть то самое (264). Doch dann dachte ich: Im Grunde glücken alle Veränderungen in ihrer spezifischen Vollendung durch den Akt des Denkens selbst So wie: He, denk mich! Denk mich verändert! Denk mich nach der Veränderung ewig während! Und dann denk mich nicht! Und genau das ist es dann ja auch (Prigow 2007, 219).

Das Sich-verändert-Denken, im Gedicht einem Dialogpartner übertragen („podumaj menja izmenennym“), wird zur Grunderfahrung der Prosa von Japan. Die Operation des Ausdenkens wird in der Textarbeit Čto bylo istinno napisano (Was in Wahrheit geschrieben stand) zentral. Sie macht vom Verfahren des sdvig, hier der buchstäblichen Verschiebung von Wortgrenzen, Gebrauch. Der Anfang sei zitiert:



Verse in Prosa: Zoegraphie zwischen Ich-Erzähler und lyrischem Ich 

Я придумал для японцев два слова: Васл Ова Я придумал про Японию еще два: Юещед Ба (165)

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Ich hab mir was ausgedacht, zwei Wörter an Japan: Ranja Pa Ich hab mir was ausgedacht, noch zwei mit Japan drin: An Dri (Prigow 2007, 140)

Mit diesem Verfahren steht Prigov in einer intertextuell-historischen Beziehung zu Sergej Tret’jakov. In einem Aufsatz für die Zeitschrift Novyj LEF berichtet dieser 1927 von seiner Arbeit als Zeitungsredakteur während der japanischen Besetzung Vladivostoks. Er zitiert Gedichte in Tanka-Form, deren russischen Sinn er mittels sdvig zu einem Geheimcode aus je zur Hälfte japanischen und pseudojapanischen Wörtern verändert hat. Der Vers „Chodzja ina von“ wird so beispielsweise zu „Chozjajna von“ („Weg mit dem Boss“).25 Die japanisch klingende, aber unverständliche Buchstabenreihenfolge ergibt in anderen Sequenzen gelesen ein russisches Pamphlet gegen Japaner und Weißgardisten.26 In Prigovs Gedicht kommt eine ähnliche Montagetechnik zum Einsatz, die ihr Verfahren dem Leser aber offenlegt und die ‚neuen‘ Wörter den „Japanern“ als Geschenk überreicht. In der Mitte des Gedichts wechselt die Eingangsphrase, das Ich hat nichts mehr „ausgedacht“, sondern konstatiert, dass die neuen Wörter „geschrieben standen“: И было написано Японское во мне: Онскоев Омне И было написано японское японское: Онскоеяп онское (166)

Und es stand geschrieben auf japanisch in mir: Schin Mi Und es stand geschrieben Japan-Japan Apanja Pa (Prigow 2007, 141)

Diese Wendung von der Fiktion zur Evidenz der Schrift unterstreicht den Untertitel des Romans, „Non-Fiction“ – auch die pseudojapanischen Wörter sind nicht erfunden, sondern nur Resultat einer Verfremdung. Der Roman endet mit dem Gedicht Japonskaja chrupkost’. Auch hier steht ein Akt des Denkens am Anfang. Die erste der 24 freirhythmischen Strophen beginnt mit einem scheinbar zufälligen Gedanken über die „Japaner“: Вот и подумалось про японцев – Da kam mir also ein Gedanke über die Japaner – Кушают палочками Sie essen mit Stäbchen Какие-то травки Irgendwelche Kräuter Как кузнечики лапками в сухих Wie Heuhüpfer mit ihren Beinchen in trockenen растениях перебирают (315) Pflanzen herumtasten (Prigow 2007, 262).

Titel und erste Strophe beziehen sich auf Verse von Velimir Chlebnikov: „Japonskaja chrupkost’“ zitiert dessen Gedicht Ni chrupkie teni Japonii (Weder die zarten Schatten

25 Tret’jakov, Sergej: „Štyk strok“, in: Novyj LEF 8–9 (1927), 55–75; 58. 26 Vgl. dazu Grübel, Rainer Georg: Russischer Konstruktivismus. Künstlerische Konzeptionen, literarische Theorie und kultureller Kontext, Wiesbaden: Harrassowitz, 1981, 55 f.

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 Tol’ko moja Japonija

Japans, 1915). Der Vergleich der Japaner mit Grashüpfern und ihr Essen von Gräsern referiert auf Kuznečik (Der Grashüpfer, 1908); die „Beinchen“ oder „Pfötchen“ („lapk[i]“) beziehen sich auf die Verse „Муха! нежное слово, красивое, / Ты мордочку лапками моешь“ („Fliege! zartes Wort, schönes / Du wäschst dir das Schnäuzchen mit den Pfötchen“, 1913).27 Damit wird Chlebnikov der klassisch konzeptualistischen Prozedur eines unscharfen Gedächtniszitats unterzogen. Sein Image legt sich über den Text, ohne dass seine Poetik adaptiert wird. Prigovs Text erschöpft sich allerdings nicht in der konzeptualistischen Chlebnikov-Rezeption. Es lohnt sich, seine Struktur noch genauer zu untersuchen: Aus der Analogie „japoncy“/„paločki“ und „kuznečiki“/„lapki“ ergibt sich die titelgebende Eigenschaft der „Japaner“, die onomatopoetische „chrupkost’“, Zerbrechlichkeit. Im weiteren Verlauf überträgt sich die physische Zerbrechlichkeit auf das Denken selbst: А про японцев думается часто Что можно услышать Как мысли их, словно кузнечики лапками Перебирают легко извилины их суховатого мозга (316) Über die Japaner kommt mir nämlich häufig der Gedanke Daß man hören kann Wie ihre Einfälle gleich Heuhüpferbeinchen Leicht in den Windungen ihres trockenen Gehirns herumtasten (Prigow 2007, 263)

Die „Trockenheit“ von Insektengelenken gilt nun für kognitive Vorgänge, die Rede von der „Trockenheit der Entscheidungen“ („суховатостью решений“) überträgt sie metaphorisch in den Bereich des Politischen. Dabei kommt es zu Vergleichen, die geradezu plump wirken („Das Leben zerbricht wie ein trockener Grashalm“ / „Жизнь переломится как сухая травинка“). Das Gedicht reklamiert die totale rhetorische Verfügbarkeit des „Trockenen“ und „Zerbrechlichen“ für sich. Dadurch wird die Bildhaftigkeit der Sprache selbst fragil. Das lässt sich mit Jampol’skijs Deutung der „chrupkost’“ erläutern, ein Wort, das Prigov auch an anderen Stellen verwendet. Jampol’skij entwickelt ein Konzept fragiler Zeichenmaterialität: То, что мгновение назад было хрупким телом, тут становится мыслью. Телесное превращается в умозрительное, потому что обладает способностью проваливаться внутрь себя, прокалывать поверхность тела-симулякра и уходить в глубину. Собственно транзитность понимается как неспособность материальной поверхности удерживать на себе тело знака, который проваливается внутрь себя, проходит сквозь экран и становится мыслью. (Jampol’skij 2014b, 50)

27 Chlebnikov, Velimir: Sobranie sočinenij v šesti tomach, T. 1, Moskva: Nasledie, 287.



Verse in Prosa: Zoegraphie zwischen Ich-Erzähler und lyrischem Ich 

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Was gerade noch ein zerbrechlicher Körper war, wird hier zum Gedanken. Das Körperliche verwandelt sich ins Geistige, da es die Fähigkeit besitzt, in sich selbst zusammenzustürzen, die Oberfläche des Körper-Simulakrums zu durchstechen und in die Tiefe zu verschwinden. Transitivität wird letzten Endes verstanden als Unfähigkeit der materiellen Oberfläche, auf sich den Zeichenkörper festzuhalten, der in sich zusammenfällt, den Schutzschirm durchdringt und zum Gedanken wird.

Zerbrechlich ist nicht nur die Membran des Zeichenträgers, sondern auch die Grenze zwischen buchstäblicher und figurativer Bedeutung. Zerbrechlich scheint auch der anthropozentrische Rahmen, in dem solche symbolischen Prozesse möglich sind. In der letzten Strophe verändert sich das Phänomen der „Japaner“ radikal: Еще мне думалось, подумалось про японцев И придумалось, что они — вовсе не японцы А нечто природообразное Похрустывающее суставами Но лежащее как плоский камень И подтекающее как прозрачная вода (318) Mir kam noch ein Gedanke, eine Idee über die Japaner Und mir kam in den Sinn, daß sie gar keine Japaner sind Sondern etwas Naturförmiges Was mit den Gelenken knackt Doch wie ein flacher Stein daliegt Und wie glasklares Wasser drunterfließt (Prigow 2007, 266)

Die Strophe führt ins Zentrum der Prigovschen Poetik der Vitalität, wie sie sich seit Machrot’ in verschiedenen Substanzen ausdrückt. Das Wort „prirodoobraznoe“, wörtlich „etwas Naturförmiges“, findet sich systematisch in der russischen Übersetzung von Spenglers Untergang des Abendlandes, wobei dort dessen Begriff des „Naturhaften“ gemeint ist.28 Bei Prigov trifft die paradoxe Übersetzung des „Naturförmigen“ jedoch tatsächlich zu. Es stellen sich Fragen: Welche Form hat die Natur, welche veranschaulichende Funktion hat das Bild des „Naturförmigen“? Beschrieben wird die Substanz des „Naturförmigen“ in ihren Aggregatzuständen – gleichzeitig fest und flüssig – und Bewegungen – wie Tiere und Naturphänomene. Die Brüchigkeit der Kategorie „Japaner“ hat die Rede von der empirischen Population Japans weit entfernt, auch die Zeitform des Denkens ist ins Unbestimmte geraten („dumalos’“; „podumalos’“; „pridumalos’“). Von den „gedachten“ Japanern ist das Ich zu einer Reflexion über Formen des Lebens gelangt, die zwischen menschlichem, tierischem, dinglichem und transzendentem Leben angesiedelt sind. Die Form des Lebens löst sich auf, die Japaner werden „naturförmig“. Nachdem der Mensch zu seinem Ende gekommen ist, handelt die letzte Strophe vom Ende der Welt:

28 Vgl. Špengler, Osval’d: Zakat Evropy. Očerki morfologii mirovoj istorii, per. s nem., vystup. st. i prim. K. A. Svas’jana, Moskva: Mysl’, 1993, passim.

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И подумалось о японцах в терминах конца света Что когда он подступит, то они будут уже не японцы А некие, лицом обращенные к концу света К чему, собственно, и были всегда преуготовлены Und es kam mir ein Gedanke über die Japaner in der Terminologie des Weltuntergangs Daß, wenn er naht, sie keine Japaner mehr sein werden Sondern gewisse Leute, das Gesicht dem Weltuntergang zugewandt Worauf sie strenggenommen schon immer vorbereitet waren (Prigow 2007, 266)

In den „Termini des Weltendes“ („termin[y] konca sveta“) kommt das Denken buchstäblich an sein Ende, wird terminiert. Das Gedicht betreibt Termino-logie, wie es Christiane Körners Übersetzung verdeutlicht. Im vorletzten Vers verwischt sie allerdings eine Ambivalenz: Die Nicht-Mehr-Japaner sind nun „nekie“, also nicht zwingend Menschen (anders als die Übersetzung „gewisse Leute“ impliziert). Sie sind schlicht und einfach „welche“ mit Gesicht. Der Topos Japans als katastrophischer Zivilisation scheint hier sein menschliches Antlitz zu verlieren. Die Subjekte des Gedichts leben als „gewisse“ Wesen, die auf die Faktizität ihrer Lebendigkeit reduziert sind. Es scheint sinnvoll, Prigovs poetische Endzeitvision in Japan mit Alexandre ­Kojèves philosophischer zu vergleichen. Agamben entwickelt in seiner Lektüre von Kojèves Hegel-Vorlesungen die Figur vom „Ende des Menschen und Verwandlung des ­Gelehrtenantlitzes in ein animalisches Gesicht“ (Agamben 2003, 16). Dieses „Ende des Menschen“ leitet sich aus einem „Ende der Geschichte“ ab, eine Verknüpfung, die Kojève in einer Fußnote zu Introduction à la lecture de Hegel (Einführung in die Lektüre Hegels, 1947) herstellt: Das Verschwinden des Menschen am Ende der Geschichte ist keine kosmische Katastrophe: Die natürliche Welt bleibt so, wie sie seit Ewigkeiten war. Es ist auch keine biologische Katastrophe: Der Mensch bleibt am Leben als Tier, das im Einklang mit der Natur oder dem gegebenen Sein ist. Was verschwindet, ist der Mensch im eigentlichen Wortsinn, das heißt die negierende Tätigkeit des Gegebenen und der Fehler oder, im allgemeinen, das dem Objekt entgegengesetzte Subjekt.29

Eine Japanreise im Jahr 1959 konfrontiert Kojève damit, dass in dieser „posthistorischen“ Gesellschaft Menschen sehr wohl als Menschen weiterleben können. In einer der Ausgabe der Vorlesungen später hinzugefügten Fußnote argumentiert er, kein Tier könne snobistische Verhaltensnormen entwickeln: So ist im Grenzfall jeder Japaner prinzipiell fähig, aus purem Snobismus völlig ‚umsonst‘ zu einem Selbstmord zu schreiten (das klassische Schwert des Samurai kann durch ein Flugzeug oder einen Torpedo ersetzt werden) der nichts damit gemein hat, wenn man sein Leben im

29 Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit. Réunies et publiées par Raymond Queneau, Paris: Gallimard, 1979, 434 f.; zit. nach Agamben 2003, 15.



Verse in Prosa: Zoegraphie zwischen Ich-Erzähler und lyrischem Ich 

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Laufe eines Kampfes für ‚historische‘ Werte mit sozialem oder politischem Inhalt aufs Spiel setzt. (Kojève 1979 [1947], 437; zit. nach Agamben 2003, 20)

Ohne sich Kojèves Antiamerikanismus, der kruden Pauschalisierung der Japaner und der Prognose einer „Japanisierung“ der Welt anzuschließen, macht sich Agamben den Begriff des Posthistoire zu eigen. Der menschliche Rest bleibt hier nicht „nach“, sondern „über“ der Geschichte. Agambens These lautet, „daß in dieser überhistorischen Franse der menschliche Rest des Menschen das Überleben der Tiere der Gattung Homo sapiens voraussetzt, die als Träger fungieren“ (Agamben 2003, 21). In Prigovs Gedicht Japonskaja chrupkost’ scheinen die „naturförmigen“ Japaner keine Träger einer Lebensform zu sein, ihre „Gesichter“ angesichts des Weltendes sind völlig unbestimmt. Noch eine andere Bemerkung zum Schluss des Gedichts: Das Gedicht schließt mit dem Weltende, nicht mit einem heliozentrischen Untergang, wie ihn etwa die russische Spengler-Übersetzung enthält (Zakat Evropy). Mit Blick auf die postnat(ion)ale Situation des Erzählens scheint auch der Konnex von Orient (lat. ‚oriri‘: ‚aufgehen‘, ‚entstehen‘) und originärer Figuren wie Anfang, Beginn und Ursprung nicht mehr aufzugehen. Wenn es bei Prigov einen Orientalismus gibt, dann wurzelt er im „Ich“. Wie bereits im Anfangskapitel usurpiert das Ich jenes in „Japonija“ enthaltene Phonem „ja“ („я ее хозяйн“ / „ich bin sein Herr/Chef“): „Подумалось про себя – / А не японец ли я?“ („Mir kam ein Gedanke über mich – Bin ich vielleicht ein Japaner?“). Die Epiphanie (siehe Kap. 6.1.1) ist hier ein Kindheitserlebnis: Когда мне впервые в детстве подумалось об Японии Кошачий кашель сотрясал сухонькие переборки моей грудки И воспаленный красный шар бросился в голову: Япония! Als mir zum ersten Mal als Kind Gedanken über Japan kamen Erschütterte ein Katzenhusten die trockenen Wände meiner kleinen Brust Und ein entzündeter roter Ball schoß in meinen Kopf: Japan! (Prigow 2007, 263)

Das Nationalsymbol der Sonne materialisiert sich als „rote Kugel“ in einer fiebrigen kindlichen Erfahrung, eher an einen phantastischen Feuerball als an die aufgehende Sonne erinnernd. Das Gedicht reproduziert mit dieser Epiphanie in gewisser Weise die Struktur des Romans Japan in sich. Dessen Struktur scheint für einen Prigov-Text ungewöhnlich: Das erste Kapitel trägt nicht, wie zu erwarten wäre, den Titel „preduvedomlenie“, sondern „Načalo“ („Anfang“). Es folgen 13 „Fortsetzungen“ („Prodolženie № 1–13“), die nicht durch erzählerische Brüche voneinander getrennt sind, sondern lediglich durch eine Leerseite und eine Graphik. Das erinnert nicht nur an eine serielle Ästhetik von Fernsehformaten, sondern entspricht auch dem Prinzip der Zeichnungen. Es sind 14 ‚japanisierte‘ Versionen eines oft variierten Motivs bei Prigov. Zu sehen sind leere Eier mit Löchern in der Schale, die Szilard als „Welt-“ oder „Philosopheneier“

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 Katja kitajskaja

interpretiert hat (vgl. Silard 2014, 113 f.). In ihrem schwarzen Inneren ist jeweils ein weißes Kanji-Zeichen zu lesen. Diese Bilder mit den Zeichen für Stein, Atem, Leere, Stille, Zeit, Gras, Wasser, Schatten, Lächeln, Mensch, Seele, Vogel und Tod stehen nicht nur leitmotivisch für die Kapitel, sondern sie geben auch zentrale Themen der Gedichte, insbesondere von Pro pustotu (Über die Leere, 1999, 57 f.) und Japonskaja chrupkost’ wieder. Es sind zerbrochene, entleerte Hüllen, in denen statt lebendiger Körper Zeichen, Laute und Konzepte zu sehen sind. Die letzte Strophe des abschließenden Gedichts, das Textende und das Weltende fallen zusammen (siehe Abb. 6). Zusammenfassend lässt sich das Verhältnis von Lyrik und Prosa in Japan wie folgt beschreiben: Die Lyrik gibt die Dramaturgie des Romans vor. Sie erzeugt die Initiation für das Japanbuch, sie unterbricht das autobiographische Erzählen, und sie expandiert die Reisebeschreibung auf eine zoegraphische Sicht auf den Menschen am Ende der Welt, wie ausführlich am letzten Gedicht erläutert wurde.

6.2 Katja kitajskaja (Die chinesische Katja, 2007) Prigovs zweiter asiatischer Roman erscheint kurz nach seinem Tod im Jahr 2007. Während in Japan der Fokus auf dem autobiographischen Schreiben in einer fremden Kultur liegt, geht es in Katja um den Vergleich zweier Biographien in zwei Kulturen – der des Ich-Erzählers mit der Kindheit von Prigovs Frau in China. Die Versuchsanordnung der Parallelbiographie unternimmt der Text konsequent als geometrische Konstruktion. Damit stellt sich die Frage nach der Einfühlung im zoegraphischen Schreiben: Wie ist es möglich, (auto-)biographische Einfühlung vom menschlichen Subjekt zu dezentrieren, sie auf abstrakte Punkte zu konzentrieren?

6.2.1 Parallelbiographie Katja kitajskaja (Die chinesische Katja) trägt den Untertitel Čuzoe povestvovanie (Fremde Erzählung). Er lässt eine Reihe von Deutungsvarianten zu: Die Übersetzung „fremde Erzählung“ im Sinne einer „Fremderzählung“, einer Heterodiegese, leuchtet ein. Hier erzählt jemand eine Handlung, deren Teil er nicht ist. Stattdessen bezieht er seine Information aus Erzählungen der Hauptfigur. Die Fremderzählung geht über eine Narration von Ereignissen aus dem Leben einer anderen Person hinaus. Diese „fremden“ Elemente des Lebens finden sich auch in den anderen Romanen: Zoegraphie als Einfließenlassen oder als Usurpation eines der Erfahrung fremden Lebens, eines pränatalen Lebens (Moskau) oder eines Lebens vor dem Menschen (Renat), als Einfließen des Zoegraphischen in lyrischer Form (Japan). In Katja wird eine „fremde“ Biographie erzählt. Die reale Biographie, die hinter der Hauptfigur steht, ist Prigov keineswegs fremd: Der Roman handelt von der Kindheit seiner Frau Nadežda Burova, die als Tochter eines emigrierten Weißgardisten in der chinesischen Stadt Harbin aufwuchs und

Parallelbiographie 

Abb. 6: Grafik aus Japan zum Anfang des sechsten Kapitels. Verwendet wird das Kanji-Zeichen 草 (‚Gras‘). Abbildung nach: Japan, 123.

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 Katja kitajskaja

nach dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis Anfang der 1960er Jahre ins Land ihrer Vorfahren zurückkehrte.30 Die Stadt wird im Roman zu Tjanjin, der Diminuitiv Nadja zu Katja. Dabei nennt der Erzähler die Figur des „Mädchens“ nie beim Namen.31 Während der Roman Renat die alter-ego-Figur Renat fragmentarisch entfaltet, folgt Katja einer Struktur der Linearität. Wie Renat gehört dieser Roman nicht zur ursprünglichen Trilogie des „aufrichtigen Schreibens“. Zwar gibt es in den beiden Texten Ich-Erzähler, jedoch keine Interaktion mit den Figuren. Der Erzähler von Katja legitimiert sein Wissen aus späteren Erzählungen der inzwischen erwachsenen weiblichen Figur, die sich einerseits an die Kindheit erinnert, andererseits Erzählungen und Nacherzählungen anderer wiedergibt.32 Fremderzählung und -erinnerung sind dem Biographischen in Katja komplex vorgeschaltet. Der Untertitel „čužoe povestvovanie“ kann nicht nur intradiegetisch als Erzählung über eine fremde Figur, sondern noch auf mindestens zwei weitere Arten gelesen werden: Die Ambivalenz von „povestvovanie“ zwischen dem erzählten Text und dem Erzählen (vgl. Kap. 5.3) lassen auch die Bedeutungen „fremde Erzählung“ – Fremdheit als Qualität des Texts – und „fremdes Erzählen“ – Fremdheit als narrative Praxis und Perspektive – zu. Übernatürliche Phänomene, Ungeheuer und Geister prägen die Erlebnisse des Mädchens, aus dessen Perspektive der Ich-Erzähler die Phänomene interpretiert. Im Gegensatz zu Renat sind die Monsterfiguren im Alltag anwesend und nicht in einem transzendentalen oder erhabenen Raum (vgl. Kap. 5.2). So vielgestaltig die mythischen Wesen der chinesischen Kultur, die physischen Monstrositäten und historischen Gewalterscheinungen sein mögen – der Hauptfigur erscheinen sie nicht gefährlich: „Страха не было.“ („Angst hatte sie keine.“ 26).33 Offen bleibt bei der Beschreibung ihrer Furchtlosigkeit das Subjekt – möglich also, dass in der gesamten Welt des Romans Katja keinerlei Angst herrscht. Nicht nur sind die Ungeheuer nicht ungeheuer, auch sind die Wunder nicht wunderbar. Mit ‚čudo‘ wird nicht das extramundane, tief empfundene Wunderbare (‚čudesnoe‘) verknüpft, sondern das „Wundersame“ der physischen Oberfläche („pričudlivoe“; vgl. z. B. 68).34 Katja liegt eine Struktur der Parallelbiographie zugrunde, ein Begriff, der gemeinhin mit Plutarch assoziiert wird. Im Gegensatz zu dessen Gruppierungen von historischen Persönlichkeiten Bioi paralleloi gibt es bei Prigov nur ein „Ich“ und eine „Sie“. Der Ich-Erzähler schildert die chinesische Kindheit des Mädchens und vergleicht sie mit seiner eigenen, sowjetischen. Das Mädchen und ihre Eltern leben ein

30 Vgl. Lipoveckij, Mark (2013): „Praktičeskaja ‚monadologija‘ Prigova“, in: SoSo 1, 10–45; 32. 31 Bereits 1970 hat Prigov eine Erzählung über seine Frau verfasst: Son Nadeždy Georgievny (Nadežda Georgievnas Traum), SoSo 1, 192–196. 32 Vgl. Prigov, Dmitrij A.: Katja kitajskaja. Čužoe povestvovanie, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2007, 5. Alle weiteren Zitate folgen in Kapitel 6.2 in Klammern im Text. 33 Wiederholt: vgl. 51, 95, 196. 34 „Девочка приглядывалась и обнаруживала множество перебегающих с места на место причудливых изменчивых физиономий.“ („Das Mädchen schaute hin und entdeckte zahlreiche wundersame, unstetige Physiognomien, die von einem Ort zum anderen huschten“, 68).

Parallelbiographie 

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„paralleles, sich mit den angestammten örtlichen Einwohnern wenig überschneidendes Leben“ („параллельной, мало соприкасающейся с местными коренными обитателями жизнью“, 16). Das Exilleben in der Enklave verläuft in dieser Deutung „parallel“ zu den Umbrüchen in Europa und Asien. Das Wort ist nicht zufällig ­gewählt, da Beziehungen im Roman auffallend häufig geometrisch ausformuliert werden. So auch die zentrale Stelle zur Poetik des parallelen Erinnerns, die der Ich-Erzähler ausgehend von frühen Kriegserinnerungen formuliert: Было ли в моей жизни что-либо сравнимое с вышеописанным? Стараюсь вспомнить. Вспоминаю. Единственно возникают в памяти медленно проплывающие по сумрачному, постепенно темнеющему до полнейшей черноты небу мрачно-серебристые крестики самолетов. И следом – невообразимый грохот и обвал всего живого, хрупко стоящего на этой сотрясающейся земле, словно уносящегося, вернее, возносимого остаточной своей жизненной силой вверх, к небесам, в виде прямых лучей прожекторов, пересекающихся где-то там, в неопределимой глубине бездонного чернеющего пространства. (16) Gab es in meinem Leben irgend etwas, was sich mit dem oben Beschriebenen vergleichen ließe? Ich strenge mein Gedächtnis an. Ich erinnere mich. Das einzige, was mir ins Gedächtnis kommt, sind die dunkelsilbrigen Kreuzchen der Flugzeuge, die über den nebligen, sich bis zu völliger Schwärze verdunkelnden Himmel ziehen. Und anschließend – ein unvorstellbarer Donner und der Einsturz alles Lebendigen, das wackelig auf dieser bebenden Erde steht, als würde es weggeweht, oder besser gesagt zum Himmel empor­ gehoben wird von der restlichen Lebenskraft, in Gestalt schnurgerader Strahlen von Suchscheinwerfern, die sich irgendwo dort in der undefinierbaren Tiefe des bodenlosen, schwarz werdenden Raums überschneiden.

Das Bild eines Luftangriffs wird zu einer poetologischen Chiffre, die semantische Schichten des „Lebendigen“ enthält: Eine seismische bzw. geologische Schicht von „Einsturz“ und „Beben“; der aufsteigende Impuls des Lebendigen verbildlicht Bergsons élan vital; die „Projektorstrahlen“ lassen sich als eine eigentümlich buchstäbliche Variante des modernen Projektionsdenkens in Expressionismus und Psychoanalyse deuten.35 Sie sind dann nicht nur als bildliche Erinnerung an Flakscheinwerfer zu verstehen, sondern auch als ‚Projektionen‘ überfordernder Eindrücke, als Projektionen der Subjektivität. Darauf, dass die Lichtstrahlen bestimmten geometrischen Regeln folgen, lässt ihr vermutetes Zusammentreffen im Unsichtbaren schließen. Prigov denkt die Struktur der Parallelbiographie geometrisch, und in dieser ­Hinsicht stellt sich die Frage: Wie stehen die Lebenslinien von Ich-Erzähler und Haupt­figur zueinander? Geometrisch gibt es zwei prominente Antworten: Entweder sie treffen sich im Unendlichen, wie es Euklids Parallelenaxiom nahelegen würde, oder sie überschneiden sich durch die Krümmung des Raums, folgt man Lobačevskij.

35 Vgl. dazu Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg: Rombach, 2005.

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Prigov platziert diese konkurrierenden Modelle gewissermaßen in der Struktur seiner Erzählung. Euklid und Lobačevskij lässt er im Zyklus Pobeda s minimal’nym pre­ imuščestvom (Sieg mit minimalem Vorteil, 1999) einen Dialog führen: Две параллельные! – четко говорит Евклид Геометрия искривленного пространства! – отвечает Лобачевский Кто прав? кто победил? оба уже и умерли давно (IIU, 123) Zwei Parallelen! – sagt Euklid entschieden Geometrie des gekrümmten Raums! – entgegnet Lobačevskij Wer hat Recht? wer hat gewonnen? beide sind ja schon lange tot

Der Wettstreit der Mathematiker wird von ihrem Tod beendet, aber nicht entschieden. Ähnlich werden die konkurrierenden geometrischen Konzepte in Katja vom Textende begrenzt, aber nicht entschieden. Auch der Blick auf Geschichte ist ein geometrischer, vom Menschen dezentrierter, auf Punkte und Linien reduzierter: И если было глянуть на Россию сверху, с отстоящей от безумности сиюминутных событий точки, прохладным сканирующим взглядом  – вся она пересекаема и перебегаема мелкими удлиненными ползущими и пыхтящими тельцами различного размера и вида железных существ. Железнодорожных существ. Поездов, в смысле. (108) Und wenn man von oben auf Russland blickte, von einem Punkt fernab von der Wahnsinnigkeit der momentanen Ereignisse, mit kühlem, scannenden Blick – ganz war es durchkreuzt und durchlaufen von kleinen, langgezogenen, kriechenden und keuchenden Leibern unterschiedlicher Größe und Gestalt, von Eisenwesen. Eisenbahnwesen. Also Zügen.

Der „scannende Blick“ sieht die Geschichte als geometrisches Konstrukt aus Punkten, Linien und Kreuzungen. Auch Chlebnikov hat in seinem Gedicht Derevo (Der Baum, 1921) einen solchen Blick auf die transsibirische Eisenbahn geworfen. Darin besingt er sie als mythologisches Wesen, dessen Linien den gekrümmten „Lobačevskij-Raum“ über ganz Russland entfalten.36 Das Erzählen in Katja verläuft also multiperspektivisch. Es gibt genau genommen drei Perspektiven, die der Ich-Erzähler ermöglicht: Einerseits schaut er auf sein eigenes Leben (autobiographisch), andererseits auf das des Mädchens (heterobiographisch), und schließlich auch noch auf beide in der Parallel- bzw. in der von Menschen abstrahierten Perspektive des „scannenden Blicks“ (zoegraphisch). Benötigt der Ich-Erzähler dazu einen gespaltenen, mehr als stereoskopischen Blick? Ist das Leben des Mädchens eine Parallelversion des kindlichen Ichs, bekannt aus Moskau

36 „Воюешь за объем, казалось, в поиске пространства Лобачевского“, Chlebnikov, Velimir: Sobranie sočinenij v šesti tomach, T. 3, Moskva: Nasledie, 2001, 292. Vgl. dazu Banerjee, Anindita: We modern people. Science fiction and the making of Russian modernity, Middletown: Wesleyan University Press, 2012, 37.



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und Renat? Oder macht der Ich-Erzähler die Erlebnisse des Mädchens zu seinen eigenen, ‚usurpiert‘ sie? Das Erzählen der Parallelbiographie wird zu einem Problem der Einfühlung: Wie kann autobiographisches Erzählen aus der Ich-Perspektive vergangene Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle einer anderen Person verstehen? Der Roman Katja geht den zoegraphischen, vom individuellen Erleben dezentrierten Weg. Indem Prigov dem „Ich“ und dem „Mädchen“ in Katja die Eigennamen entzieht, erzeugt er eine Distanz, in der so etwas wie eine namenlose Empathie entstehen kann. Um dies klarer zu sehen, sollte man einen Blick auf den Gebrauch der inneren Rede werfen: Weite Strecken des Romans werden mithilfe interner Fokalisierung erzählt. Der Erzähler paraphrasiert Gedanken der Hauptfigur. Etwa, als ihr plötzlich klar wird, dass das Leben vergänglich sei, dass auch sie sterben müsse. Das setzt eine Ähnlichkeit der Bewusstseine von Erzähler und Figur voraus. In diesem Modus gibt der Erzähler paradoxerweise einen Gedanken über ihre absolute Fremdheit wieder: Все на этой земле однажды станут совершенно ей не известными, чужими и не помнящими ее. На какое-то мгновение ей вдруг представилось, как она стучится в некое абсолютно прозрачное стеклянное ограждение, отделяющее ее от всех остальных, смеющихся, целующихся, бегающих на поляне среди ярких цветов. (41) Alle auf dieser Erde würden ihr einst völlig unbekannt und fremd werden, sie würden sich nicht an sie erinnern. Für einen Augenblick schien es ihr plötzlich, dass sie an eine absolut durchsichtige, gläserne Absperrung hämmert, die sie von allen anderen trennt, die lachen, sich küssen, über ein Feld mit bunten Blumen rennen.

Die Abweichung vom sonst verwendeten Präsens oder Präteritum, ja das Auseinanderdriften der Tempora („stanut“ ist Futur, „predstavilos’“ Präteritum, „stučitsja“ Präsens) lässt nicht auf eine intuitive Vertrautheit des Erzählers mit dem Erzählten, sondern eine dissoziative Vermittlung schließen. Das „fremde Erzählen“ basiert auf einem paradoxen Parallelismus: Im Moment der Nähe entfernt es sich, es oszilliert zwischen zwei Positionen.

6.2.2 Geometrischer Animismus Neben der parallelen Anlage der Erzählung fokussiert sich die geometrische Aufmerksamkeit des Texts vor allem auf Blicke und ihre optischen Achsen. In ihnen, so die Hypothese dieses Kapitels, werden die Beziehungen zwischen Körpern und Dingen hinsichtlich ihrer Lebendigkeit beschrieben. Die ins Leben hineinwirkende Kraft der Geometrie hat Prigov im Zyklus Transcendirujuščaja geometrija (Transzendierende Geometrie, 1998) postuliert. Der Titel bezieht sich auf die transzendentale Geometrie, wie sie Leibniz entwickelt.37

37 Vgl. dazu ausführlich Jampol’skij 2010, 222–228.

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Was Prigov als „transzendieren“ bezeichnet, bezieht sich auf die Fähigkeit geometrischer Konstruktionen, Effekte in der materiellen Welt zu erzeugen. Hier wird die Geometrie jenseits ihrer beschreibenden Dimension als schreibend produktive Kraft betrachtet: Понятно, что мы в данной книжонке занимаемся рассмотрением геометрии не как проекции в некие дву- и многомерные пространства неких первичных, первенствующих чистых закономерностей и интуиций, но геометрии, имеющей силу, власть и желание качественного и даже нравственного внедрения в наш, увы, не обладающий чистотой незаинтересованного умозрения мир. (IIU, 137) Verständlicherweise beschäftigen wir uns in diesem Büchlein nicht mit der Betrachtung der Geometrie als Projektion in bestimmte zwei- oder mehrdimensionale Räume von bestimmten ursprünglichen, vorrangigen, reinen Gesetzmäßigkeiten und Intuitionen, sondern einer Geometrie, die Kraft, Macht und Begehren hat, qualitativ, ja sogar sittlich einzudringen in unsere Welt, die ja leider nicht die Reinheit der uninteressierten Erkenntnis besitzt.

Im Motiv der Bahnfahrt kommen die geometrisch beschriebenen Blickbeziehungen zum Einsatz. Das Eisenbahnmotiv durchzieht den Roman buchstäblich: Zwischen die Kindheitsepisoden sind Szenen montiert, in denen das Mädchen als Jugendliche im Zug nach Taškent sitzt. Am Ende des Romans wird sie dort von ihren Verwandten am Bahnhof abgeholt. Ihre Ankunft in der Sowjetunion beschließt die Biographie, an diesem Punkt tritt sie in die Welt des Ich-Erzählers ein. Die Blicke des Mädchens aus dem Zugfenster werden ausführlich beschrieben. Die Fahrt von einem Land ins andere wird als visuelle Transformation geschildert. Aus dem Exil zurückkehrend, lernt das Mädchen neu zu sehen: Ко всему привыкнуть ведь надо. Оптику соответствующую выработать. Все требует особого труда. Работы души и зрения, на которую так лениво подавляющее население земного шара. (43) Man muss sich eben an alles gewöhnen. Die passende Optik entwickeln. Alles fordert besondere Mühe. Eine Arbeit von Seele und Sehen, zu der ein Großteil der Erdbevölkerung zu faul ist.

In den Zugszenen nimmt der Erzähler die Sichtperspektive des Mädchens ein, überträgt sie aber auf die ganze Welt: Eindrücke von Bewegung und Stillstand, die das Mädchen sieht, übertragen sich auf alles. In einer Szene heißt es: „Der Zug schnaufte und hielt an. Ruckelte noch einmal und blieb endgültig stehen. Alles erstarrte.“ („Поезд засопел и остановился. Дернулся и остановился окончательно. Все замерло.“ 65). Die Szene erinnert deutlich an Albert Einstein und sein Gedanken­ experiment zum individuellen Inertialsystem, das er mit verschiedenen Beobachterperspektiven eines einfahrenden Zuges veranschaulicht hat.38 In Prigovs Roman wird

38 Vgl. Einstein, Albert: „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, in: Annalen der Physik und Chemie 17 (1905), 891–921; 893.



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die Perspektive des Mädchens totalisiert – mit dem Unbeweglichwerden des Sicht­ baren erstarrt die ganze Welt; mit der lebendigen Einbildung können unbewegliche Dinge lebendig werden. Noch eine weitere Parallelbiographie erzählt der Roman: Der Reise des Mädchens in die Sowjetunion ist die Emigration ihres Vaters aus Russland während des Bürgerkriegs gegenübergestellt. Als Soldat auf der Seite der Weißgardisten flieht er nach der Oktoberrevolution und gelangt schließlich nach China, wo er von einem englischen Geschäftsmann aufgenommen wird und dessen Tochter heiratet. Es gibt also jeweils zwei parallele Achsen: die Lebenslinien der Kindheit von Mädchen und Erzähler in China und Russland und die Bewegungslinien zwischen den Ländern, einmal als Emigration, das andere Mal als Rückkehr. In einer Passage wird diese gegenläufige Parallelität in einem Erlebnis mit Tieren beschrieben, das alle drei Figuren auf ihre Weise erleben: Der Vater begegnet auf seiner abenteuerlichen Flucht durch Asien einem wilden Tier, das Mädchen beobachtet einen ähnlichen Fall weit entfernt aus dem Zugfenster, und der Ich-Erzähler berichtet schließlich von einer Fernsehsendung mit einem Hirsch, der von einem Krokodil ins Wasser gezogen wird. Alle Kontakte mit dem Nichtmenschlichen auf verschiedenen ontologischen Ebenen, ob vital bedrohlich, visuell wahrgenommen oder virtuell transportiert, gehen glimpflich aus. Die ‚ungefährlichen‘ Monster konfrontieren die Menschen nur für einen Moment mit dem lebensfeindlichen Fremden. In diesem Moment erstarren die Figuren. Schwäche, Unbeweglichwerden, Erstarren, Gelähmtsein des Körpers, des Blicks und der Sprache sind in Prigovs Werk und in Katja im Besonderen häufig anzutreffen. In Moskau wird der gelähmte Ich-Erzähler zum noli me tangere – man darf ihn nicht berühren. Auch in Katja wird die Lähmungsszene rekapituliert – hier im Modus einer unzuverlässigen Erinnerung, bei der sich der Ich-Erzähler vor dem Krieg auf der Krim wähnt, obwohl sie in Moskau passiert. Die körperliche Wahrnehmung entwickelt hier ein Eigenleben: Кто-то нежными ласковыми руками пробегал по всему телу, порождая мириады всколыхивающихся мурашек. Они, обретая самостоятельную энергию и волю к жизни, вдруг собирались легкой пленкой и отлетали от тела. (132) Jemand fuhr mit zarten Händen meinen Körper entlang und erzeugte dabei Myriaden raschelnder Schauder. Als sie selbständige Energie und einen Willen zum Leben erlangten, sammelten sie sich auf einmal in Gestalt einer leichten Folie und flogen vom Körper fort.

Im Gegensatz zu ihm erfährt das Mädchen Unbeweglichkeit und Isolation ohne körperlichen Schaden. Hier entstehen diese Zustände an den anthropologischen Grenzen der Erfahrung: Entweder das Mädchen blickt ins Fremde, oder sie nimmt ihre eigene Position als fremd wahr, aus der sie ins ‚Eigene‘ blickt (etwa die oben zitierte „gläserne Absperrung“, aber auch ein Teich, in den sie fällt und durch dessen Oberfläche sie blickt). In Szenen der Beobachtung wiederholen sich Verben des „Erstarrens“ (‚zamirat’‘, ‚zastyvat’‘) leitmotivisch: Sowohl das sehende Mädchen als auch die gesehenen Phänomene werden unbeweglich, die Blickbeziehung fixiert die Beteiligten.

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In seiner ersten Szene beschreibt der Roman das Motiv der Unbeweglichkeit zwischen zwei Figuren, die einander wie Skulptur und Betrachter gegenüberstehen. Das Mädchen steht dem japanischen Wachmann vor dem Tor der ausländischen Konzessionen Tianjins gegenüber. Seine Beschreibung basiert wie zahlreiche andere Figuren der „Chinesen“ oder „Japaner“ in Prigovs Lyrik auf physiognomischen Klischees (siehe Kap. 6.1.2): необыкновенно смуглый мальчиковатого вида японский часовой. Неподвижный. Словно застекленевший. Остекленевший. Прямой, чисто очерченный. Его почти мраморно отполированные скулы по-кошачьи широко разнесены в стороны. […] Однако он прямо-таки безумен и устрашающи в своей почти звериной вооруженности и как бы запредельной непричастности этой жизни. (5 f.) ein ungewöhnlich braun gebrannter japanischer Wachmann mit jungenhaftem Aussehen. Unbeweglich. Gleichsam überglast. Erglast. Aufrecht, mit klaren Zügen. Seine fast marmorhaft polierten Wangenknochen ragen katzenhaft zur Seite. […] Jedoch sieht er geradezu wahnsinnig und furchteinflößend aus mit seiner fast schon bestialischen Bewaffnung und der gleichsam jenseitigen Teilnahmslosigkeit an diesem Leben.

Es fällt nicht schwer, in dieser Darstellung die japanische totalitäre Variante des Milizionärs zu erkennen. Während der riesenhafte Moskauer Polizist aus den Milicaner-Gedichten einem kindlichen Blick unerreichbar ist, kann das Mädchen der kleinen JapanerFigur auf gleicher Höhe in die Augen sehen. Im Gegensatz zu Prigovs konzeptualistischer Parodie des sozialistischen Übermenschen ist seine postkonzeptualistische Erzählstrategie – ohne den parodistischen Aspekt zu verlieren – auf eine Deanthropomorphisierung des politischen Körpers fokussiert: Der japanische Soldat wird zwischen Kind, Tier und Jenseitswesen beschrieben. Dieses Wesen partizipiert nicht am irdischen Leben und hat möglicherweise nur temporär eine menschliche Gestalt angenommen. Auch der Status seiner Lebendigkeit ist angesichts der Unbeweglichkeit unsicher, womöglich hat er statt eines Gesichts nur zwei Billardkugeln als Wangen. Er rückt damit in die Nähe der vielgestaltig auftauchenden Geister- und Tier­wesen, die den Blick des Mädchens fesseln. Das mythisch aufgeladene Wesen des japanischen Faschisten fasziniert das Mädchen. Und es löst eine Wendung der Erzählung ins Phantastische aus: Солнце вспыхивало на самом кончике длинного плоского японского штыка. Он высоко возносился над головой часового, намертво застывшего у входа на территорию иностранных концессий. Из-за левого его плеча, медленно покачиваясь, восходила, как огромное желтое солнце его далекой родины, округлая голова какого-то странного человекоподобного существа. Затем и полностью объявлялись страшенное лицо и массивная фигура местного духа благоденствия и процветания. Вернее, не местного, а того, дальнего, прибывшего вместе с солдатом из удаленных отсюда краев его постоянного обитания. (17) Die Sonne blitzte am Ende des langen, flachen japanischen Bajonetts auf. Es ragte weit über den Kopf des Wachmanns hinaus, der zu Tode erstarrt war am Eingang zum Territorium der ausländischen Konzessionen. Hinter seiner linken Schulter kam, langsam schaukelnd, wie die



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riesige gelbe Sonne seiner fernen Heimat, der rundliche Kopf eines seltsamen menschenähnlichen Wesens hervor. Worauf sich das furchterregende Gesicht und die massive Figur des ortsansässigen Geists von Wohlstand und Gedeihen auch vollständig enthüllten. Genauer gesagt, nicht des einheimischen, sondern jenes von weit her mit dem Soldaten aus den von hier abgelegenen Gefilden seines ständigen Wohnsitzes angereisten.

Weil der stillstehende Soldat für das Mädchen weder Anzeichen von Lebendigkeit noch eindeutige Merkmale eines bestimmten Lebewesens zeigt, ist er auch für den Erzähler nicht lebendig, mehr Skulptur als Mensch. Die Bewegung entsteht um ihn herum, Geister oder Doppelgänger-Wesen begleiten seine Erscheinung. Beleuchtung und Lichtsymbolik der Szenerie zeigen, wie sich die fixierten optischen Achsen der Faszination in einem dreidimensionalen Koordinatensystem orientieren: Der Blick des Mädchens trifft auf eine vertikale Waffe und den Horizont. Die Szene schließt mit einem Blick auf die tiefstehende rötliche Sonne: Все это освещалось огромным низким красноватым солнцем поздней осени и обволакивалось смутным чарующим воздухом Срединного китайского царства, однако в момент его неимоверной слабости. Почти умирания. (19) All das wurde beleuchtet von der riesigen, niedrigen, rötlichen Spätherbstsonne und gehüllt in die trübe, berückende Luft des chinesischen Reichs der Mitte, allerdings in einem Moment seiner unglaublichen Schwäche. Seines Dahinsiechens geradezu.

Wie im Roman Japan wird das Land der „aufgehenden Sonne“ mit rotem Licht assoziiert. Geht man davon aus, dass die Sonne ihren höchsten Stand überschritten hat, steht sie im Westen. Damit beschreibt sie nicht nur die Richtung der japanischen Expansion, sondern auch den Weg des Mädchens von China in die Sowjetunion. Der Wohnort der Familie, das Territorium der ausländischen Konzessionen in ­Tianjin, wird während des Krieges zum Mikrokosmos, in dessen Bevölkerung verschiedene Nationen und Ideologien vertreten sind, umringt von einer japanischen Besatzungsmacht. Im Mikrokosmos der ausländischen Konzessionen existieren nicht nur verschiedene Ideologien, sondern auch Religionen nebeneinander. Das Mädchen ­besucht die russisch-orthodoxe Kirche. Hier kommt ein letzter Aspekt von Katja zum Tragen, der in diesem Kapitel unter dem Begriff des geometrischen Animismus diskutiert werden soll. Im Kirchenraum betrachtet das Mädchen eine Ikone, auf der Tiere einen Märtyrer angreifen, wobei die Gesichter der Beteiligten eigentümlich ruhig bleiben. Dem Mädchen erscheinen die Kreaturen nicht in ihrer theologischen Bedeutung, ­sondern als dem Menschen ähnliche, aber dennoch gefährliche Wesen. Als solche ziehen sie den Blick des Mädchens auf sich und stoßen ihn im gleichen Zug ab. Die Blickachsen der Hauptfigur werden in ihren perspektivischen Richtungen beschrieben: Она отходила в сторонку, подальше от страшных чудищ, оставшихся во тьме за ее спиной, и рассматривала строгие лица святых. Отовсюду на нее ответно взглядывали многочисленные внимательные глаза. Девочка замирала и как бы пропадала, раство-

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рялась в перекрещении лучей, идущих от этих глаз. Она постепенно начинала подниматься, подниматься, взлетала под купол и уже оттуда, с неимоверной высоты, видела платки, покрывающие головы женщин, и мужские проплешины. Вверху было светло и свободно, как в прозрачной глубокой покоящейся воде. (77) Sie ging zur Seite, weiter fort von den schrecklichen Ungeheuern, die hinter ihrem Rücken in der Dunkelheit zurückblieben, und schaute sich die strengen Gesichter der Heiligen an. Von allen Seiten blickten unzählige aufmerksame Augen auf sie zurück. Das Mädchen erstarrte und verschwand gleichsam, löste sich in der Kreuzung der Strahlen auf, die von diesen Augen ausgingen. Sie begann sich zu erheben, immer weiter zu erheben, stieg bis unter die Kuppel auf und sah schließlich von dort, aus unwahrscheinlicher Höhe, die Tücher auf den Köpfen der Frauen und das schüttere Männerhaar. Oben war es hell und frei, wie im durchsichtigen, tiefen, ruhenden Wasser.

Paradoxerweise sind es die niedrigen Kreaturen, die das Mädchen erheben. Die von ihren Augen ausgehenden Blick-Strahlen erzeugen ein Geflecht, in dem sich die Betrachterin scheinbar von der Stelle bewegt. Der „scannende Blick“ des Erzählers analysiert die geometrischen Konstruktionen der Welt nicht nur, sondern spricht ihnen eine Wirksamkeit zu. Er beobachtet dabei nicht nur animistische Beziehungen zwischen dem Mädchen und der Welt, sondern ist selbst in diese Beziehungen verstrickt. Es scheint gleichermaßen eine solche abstrakte, distanzierte Beziehung zu sein, in der die biographische Einfühlung geschieht – im Modus eines geometrisch konstruierten Animismus. In dieser Synopsis der geometrischen Erzählkonstruktion von Katja lassen sich zwei grundlegende Parallelismen ausmachen: Die Parallelität von Ich-Erzähler und Hauptfigur und die Parallelität kultureller Räume. Aus diesen Parallelitäten leitet der Roman kein gemeinsames ‚Wesen‘ ab. Aus der Autobiographie des ‚Ich‘ und der Biographie der ‚Sie‘ lässt sich nur ein ‚Es‘, eine zoegraphische Unbestimmtheit herauslesen.

7 T  var’ nepodsudnaja und Konvertierungstexte: Zoegraphie und Selbstobjektivierung Das letzte Kapitel geht an die Grenzen von Prigovs Romanprojekt und darüber hinaus: Im ersten Teil wird der unvollendete Bekenntnistext Tvar’ nepodsudnaja (Die immune Kreatur, 2004) betrachtet, im zweiten Teil die seit Mitte der 1990er Jahre entstandenen „Stratifikations- und Konvertierungstexte“ („stratifikacionnye i konvertacionnye teksty“).1 In diesen Arbeiten setzt sich das Ich mittels einer Vielzahl von Systemen der Kategorisierung, Hierarchisierung, Bewertung, Bezifferung und Umrechnung zur Welt in Beziehung. Kreatur überträgt dieses experimentelle Verfahren auf die autobiographische Bewertung des Lebens mittels Zahlen. Während dieser Text erst 2013 veröffentlicht und von der Forschung noch nicht berücksichtigt worden ist, existieren zu den Berechnungstexten eine ganze Reihe von Arbeiten. Zwar wurde der Zusammenhang dieser Textgruppe mit der zunehmenden Prosaisierung von Prigovs Sprache beschrieben. Doch ihre Bedeutung für die Produktion von autobiographischen Romanen ist noch nicht erklärt worden. Dies soll im ersten Teilkapitel geschehen, und zwar ausgehend von der Frage: Wie lässt sich „aufrichtige“ Prosa von einem Autor produzieren, der sich als Rechenmaschine konzipiert? In der Analyse von Kreatur wird diese Frage im Hinblick auf die darin mehr oder weniger präsenten Gattungen diskutiert: das frühsowjetische Theatergenre des „Literaturgerichts“, das bei Dostoevskij und Charms literarisch sowie bei Bachtin philosophisch behandelte Bekenntnis (ispoved’), der Bildungsroman und die von Prigov eigenständig entwickelte Prosaform einer numerischen Selbstbilanz. Um diese Verfahren genauer zu verstehen und in einem größeren Kontext von Prigovs Werk zu sehen, sollen im darauffolgenden Teilkapitel auch kleine Formen, kurze Prosaarbeiten aus der Gruppe der Stratifikations- und Konvertierungstexte gelesen werden. Angesichts ihrer großen Zahl muss es bei einer Auswahl bleiben. Sie ist entlang der Frage getroffen, welche Genres des „aufrichtigen“ Schreibens, die Prigov nicht in seinem Romanprojekt bearbeitet hat, möglicherweise in diesen Texten in anderer Form auftreten. Im Zusammenhang mit Zahlen, Ziffern und Daten ist dies insbesondere das Tagebuch. Die Konvertierungstexte nähern sich der Lebensbeschreibung antinarrativ. Nicht Ereignisse des Lebens werden fixiert, sondern Programme erarbeitet, realistische und phantastische Operationen durchgespielt. Diese Texte ­sollen als Prosa-Experimente betrachtet werden, die den Romanen nicht nur zeitlich

1 Schon seit Mitte der 1980er spielen Zahlen und Berechnungen eine Rolle (Isčislennye stichi [Berechnete Verse, 1983], Sčitanija [Zählungen, 1989]), zu einer Konjunktur kommt es zwischen 1995 und 1999. Die 2001 veröffentlichte Sammlung Isčislenija i ustanovlenija. Stratifikacionnye i konvertacionnye teksty (Berechnungen und Bestimmungen. Stratifikations- und Konvertierungstexte) umfasst Arbeiten zwischen 1993 und 2001. https://doi.org/10.1515/9783110602494-007

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vorgeschaltet sind. Es geht in ihnen um die poetologische Frage, ob es einen Bereich, eine Instanz, eine Position gibt, die mit keinem Wert zu belegen, nicht zu berechnen, zubewerten oder in Relation zu setzen ist.

7.1 Tvar’ nepodsudnaja (Die immune Kreatur, 2004) 7.1.1 Literaturgericht und numerische Selbstbilanz Den dritten Teil seiner Trilogie „aufrichtiger“ Genres hat Prigov nicht vollendet.2 Der Text, der die Gattung der Confession (ispoved’) realisieren soll, ist posthum publiziert. Ispoved’ meint wie das französische „confession“ sowohl die kirchliche Beichte als auch das literarische Genre des Bekenntnisses, wie es von der russischen Rousseau-Rezeption im späten achtzehnten Jahrhundert durch Karamzin und Fonvizin etabliert worden ist. Prigov, obwohl selbst spät orthodox getauft,3 wählt eine nichtreligiöse Bekenntnisform. Seine Beichte ist als Verteidigungsrede vor einem Literaturgericht formuliert. Literarische Gerichte („literaturnye sudy“) gehören in der Sowjetunion der 1920er Jahre zum Phänomen der Agitgerichte („agitsudy“): Kurze Theaterstücke über Verhandlungen mit Angeklagtem, Ankläger, Verteidiger, Zeugen, Gericht und Publikum werden zu einer Vielzahl von Themen inszeniert, die vom Öffentlichen und Politischen bis in den Bereich des Alltäglichen reichen, etwa Hygiene und Haushalt.4 In Literaturgerichten können Autoren, Werke oder Figuren die Rollen der Angeklagten einnehmen. Die Symbolisten benutzen das Gericht als performative Diskursform, Bachtin macht es zu einem

2 In einem 2005 veröffentlichten Interview sagt er zur Entstehung des Texts: „Исповедь – называется ‚Неподсудный‘ – пока еще не написал, я ее долго пишу, у меня тут как раз сперли лэптоп вместе с написанным – в Лондоне, из открытого окна на втором этаже, лето было, окна не закрывали …“ („Der Bekenntnistext heißt ‚Der Immune‘, ich habe ihn noch nicht fertig, ich schreibe schon lange daran, man hat mir leider ausgerechnet den Laptop mit dem Geschriebenen geklaut – in London, aus dem geöffneten Fenster im ersten Stock, es war Sommer, wir ließen die Fenster offen …“). Prigov, Dmitrij A. / Rešetnikov, Kirill: „Ja živu v ešče ne suščestvujuščem vremeni“, 4.11. 2005, http:// azbuka.gif.ru/critics/ishsho/. Mit Blick auf die Erstellungsdaten der digitalen Dokumente im Archiv ist davon auszugehen, dass Prigov den Text Ende 2002 ein zweites Mal begonnen, aber nicht fertiggestellt hat. Der Text ist auf 75 Seiten im ersten Band der Werkausgabe von Lipoveckij et al. wiedergegeben. Von einer editorischen Leistung kann hier allerdings nicht die Rede sein, da zahlreiche Rechtschreib- und Interpunktionsfehler der Manuskripte nicht korrigiert, ja sogar neue produziert worden sind. Unter Hervorhebung solcher Stellen wird in Kapitel 7.1 mit Seitenangaben im Text zitiert nach: Prigov, Dmitrij A. [2004]: Tvar’ nepodsudnaja, in: ders.: Monady. Sobranie sočinenij v 5-ti tomach, hg. v. Mark Lipoveckij, Moskva: Novoe literaturnoe obozrenie, 2013, 413–488. 3 Evgenij Popov berichtet von Prigovs spontanem Entschluss dazu, als er 1984 die Taufe der Tochter von Bella Achmadulina in Georgien besucht; vgl. Šapoval 2014, 209. 4 Vgl. Cassiday, Julie Anne: The enemy on trial. Early Soviet courts on stage and screen, DeKalb: Nor­ thern Illinois University Press, 2000, 59.



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Werkzeug seiner Theoriebildung, indem er als Verteidiger verschiedener Kunstwerke auftritt und anhand dieser die Stichhaltigkeit seiner Ästhetik unter Beweis stellt.5 Prigovs Gerichtstext handelt nicht, wie zu erwarten wäre, von seinen Aktivitäten als Künstler, von seinem Image. Die Taten, zu denen sich der Angeklagte D. A. Prigov bekennt, sind Kindheitserlebnisse: kleine Demütigungen, Streiche, Bestrafungen, früheste, unspektakuläre erotische Erfahrungen. Wie Harriet Murav in ihrer Studie gezeigt hat, beziehen Literaturgerichte in der frühen Sowjetunion ihre soziale Brisanz aus einer bewussten Ineinssetzung der angeklagten Autoren und ihrer Werke oder Figuren.6 Prigov verwechselt anderes miteinander: Hier steht nicht seine Autorfigur vor Gericht, sondern die vorliterarische Kindheit. Das initiale Konzept, „über mich selbst ein literarisches Gericht abzuhalten“ („устроить надо мной же литературный суд“, 413)7 wird also im weiteren Verlauf bewusst falsch umgesetzt. Obwohl er auch mit dramatischen Formen arbeiten könnte, ist der Text reine Prosarede. Anders gesagt: Das gesamte juristische dramatis personae wird in ein Monodrama verlagert, das Verteidiger, Ankläger, Gericht und Publikum imaginiert. Es handelt sich bei diesem vermeintlichen Literaturgericht also weder um einen Auftritt eines Autors oder einer Figur noch um die polyphone Kommunikationssituation des Gerichts. Die Vorbekundung perspektiviert den Text unmittelbar auf sein Gattungsproblem hin: Mit seiner sozialen Pragmatik – das Publikum von der eigenen Unschuld zu überzeugen  – könne der Text nicht dem „virtuellen Raum“ der Literatur und ihres QuasiSeins („kvazi i pakibytija“, ebd.) angehören. Er sei ein „Anti-Werk“ („anti-proizvedenie“, 413), vergleichbar mit Schiffslisten oder dem Angebot eines Bestattungsunternehmens. Eine im eigentlichen Sinn enumerative Qualität nimmt der Text erst auf den letzten Seiten des Manuskripts an. Hier werden die Argumente für die Unschuld des Angeklagten mit Punkten (die in sowjetischen und russischen Bildungseinrichtungen für die Benotung erforderlichen „bally“) aufgerechnet. Doch bereits vor der Realisierung entfaltet der Text eine antinarrative Struktur des auf- und abzählenden Prinzips der Liste.8 Nicht nur das Literaturgericht, auch weitere Formen inszenierter Gerichte der sow­jetischen Geschichte finden sich im Text. Dazu gehört nicht nur das von Stalin

5 Vgl. Sasse, Sylvia: Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München: Fink, 2009, 333–344. 6 Vgl. Murav, Harriet: Russia’s legal fictions, Ann Arbor, Mich.: University of Michigan Press, 1998, 108. 7 Die Idee dazu geht auf eine Initiative des knapp dreißig Jahre jüngeren Dichters Dmitrij Kuz’min zurück, wie an dieser Stelle erläutert wird. 8 Sabine Mainberger hat die Konkurrenz von Erzählen und Aufzählen in ihrer Studie im Hinblick auf die Lektüre untersucht: „Die Liste will als Fläche wahrgenommen werden, auf der alle Punkte gleichwertig sind und die größere oder kleinere Entfernung zwischen einzelnen Elementen insignifikant ist. Doch das Lesen hat eine Richtung im Raum und wie das Sprechen einen Verlauf in der Zeit; jede beschriebene Fläche hat ein Oben und ein Unten, Ränder und eine Mitte und das Lesen als Tätigkeit ein Zuerst, ein Danach und ein Zuletzt.“ Mainberger, Sabine: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin [u. a.]: de Gruyter, 2003, 30; vgl. insgesamt: 18–36.

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zum politischen Überleben geforderte Genre der Selbstkritik (samokritika), sondern auch die kommunikative Struktur der Schauprozesse. Sylvia Sasse beschreibt in ihrer Studie deren paradoxe Zitatstrukturen: Da die Tat, die dem Beschuldigten vorgeworfen wird, erfunden ist, wird sie durch ihre Leugnung nicht entkräftet, sondern gerade referentiell legitimiert. Wie Sasse anhand von Nikolaj Bucharins Verteidigungsreden zeigt, lässt sich diese Aporie nur durch eine Aufspaltung in verschiedene Sprecher­ positionen umgehen: Als Figur des Revolutionärs bekennt sich Bucharin zu der ihm vorgeworfenen Tat und zitiert die Anklage, als Person Bucharin nicht (vgl. Sasse 2009, 312). Charms’ Liste absurder Vergehen im kurzen Bekenntnistext Reabilitacija (Rehabilitation, 1941) ist in dieser Hinsicht ein Versuch, der juristischen Fingierbarkeit von Taten neues Fiktionspotenzial für das Erzählen abzugewinnen, kurz gesagt: wieder Autor des eigenen Verbrechens sein zu können (vgl. ebd., 389). Prigovs an Charms geschulte Anti-Genealogie des Autobiographischen basiert auf einer Diffusion der Geburt als Anfang des Lebens. Während die publizierten Romane die Geburt ausklammern oder verschleiern, erzählt Kreatur von der Geburt als Ereignis. Das Plädoyer (Überschrift: „Uvažaemyj sud“ / „Verehrtes Gericht“) setzt ein mit dem Argument der Unzurechnungsfähigkeit („nevmenjaemost’“, 420): Wer unter so schwierigen Bedingungen zur Welt gekommen sei, für den müssten mildernde Umstände gelten. Unter der Überschrift „Kindheit“, einer Passage, die Prigov nicht fertig überarbeitet hat und die in der Ausgabe noch Fehler und Dopplungen enthält, werden diese historischen und körperlichen Missstände konkretisiert: Родился я, значится, эдак в районе 1938–1940 годов. Т. е. [м]оя мать родила меня [не] за год – за два, а родила за 7 месяцев […] до начала Великой Отечественной войны. […]. А я как раз ко всему этому родился ужасно недоношенный […] (424) Geboren bin ich sozusagen also im Bereich 1938–1940. D. h. meine Mutter hat mich geboren, [nicht] ein, zwei Jahre, sondern sieben Monate vor […] dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges […]. So bin ich zu all dem auch noch entsetzlich frühgeboren zur Welt gekommen.

Statt eines Geburtsdatums (siehe die Analyse von Daty roždenija i smerti in Kap. 7.2.2) gibt es einen unscharfen Geburtsbereich. Nicht nur der Zeitpunkt ist nicht ‚gegeben‘, auch die Beziehung zwischen biologischem Körper und historischer Existenz scheint unklar. Das Subjekt, das hier Rechenschaft ablegt, verschleiert seinen Anfang. Oder es apostrophiert das verfrühte Geburtsdatum als eine schicksalhafte Latenzphase zwischen persönlicher und historischer Zeit: Так вот, родился я за 7 месяцев до войны и на столько же, на 7 месяцев недоношенный. Такие случаи бывают. Редко, но бывают. Эти семь личных экзистенциальных месяцев и семь месяцев метафизическо-исторического процесса  – совпадение может показаться случайным. Но в жизни великих нет случайностей. (433) Ich wurde also sieben Monate vor dem Krieg geboren und kam genauso lange, sieben Monate zu früh auf die Welt. Sowas kommt vor. Selten, kommt aber vor. Diese sieben persönlichen existen-



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ziellen Monate und sieben Monate des metaphysisch-historischen Prozesses – die Übereinstimmung mag zufällig scheinen. Aber im Leben der Großen gibt es keine Zufälle.

Statt der natürlichen, planmäßigen Geburt bricht der Krieg aus. Der frühgeborene, unfertige, – wörtlich ‚nicht fertig ausgetragene‘ – Körper ist geprägt von einer Schwäche, die als juristisches und ethisches Argument vereinnahmt wird: Unter solchen Umständen sei vieles verzeihlich (vgl. 435). Der juristische Diskurs ist in Prigovs Werk geradezu organisch mit dem Namen „Prigov“ verbunden. Bereits im Gedichtband Kogda umru (Wenn ich sterbe, 1980) erzeugt er gewissermaßen eine kriminelle Überdetermination: Когда умру: Вот – скажут – умер Пригов А как живу – все слышу приговор: Какой он – Пригов?! Этот Пригов – вор! Он жизнь ворует для интригов. Wenn ich sterbe, dann wird man sagen: Prigov ist gestorben Und so lang ich leb – höre ich richten: Welch ein Prigov? Dieser Prigov – gehört zu den Dieben! Er beklaut das Leben für Intrigen9

Die Homophonie von „prigovor“ („Urteil“) und „Prigov vor“ („Prigov ist ein Dieb“) lässt nicht nur den Urteilsspruch, sondern auch den Gegenstand der Anklage als Teil seines Namens erscheinen, Form und Inhalt einer juristischen Aussage. Wir erinnern uns: In konzeptualistischen Poetiken steht die persönliche Aussage unter Verdacht, weil es sprachlicher Gewalt bedarf, Aussagen über die Welt zu treffen und sie mit Wahrheitsoder Referenzansprüchen aufzuladen. Da entpuppt sich „Prigov“ als ein Name, in dem schon immer eine solche Aussage mitklingt. In der oben zitierten Strophe lautet die Anklage auf bio- bzw. zoegraphischen Diebstahl: „Prigov“ entwende „(das) Leben“ für „Intrigen“. Die hier auf „Prigov“ gereimte „Intrige“ hat ähnlich wie das Wort ‚plot‘ in Fiktion und Verbrechen gleichermaßen ihren Platz. Den Vorwurf des Diebstahls behält das Projekt eines postkonzeptualistischen, „aufrichtigen“ Bekenntnistexts im (Gattungs-)Gedächtnis. Auf die semiotische Usurpation, die im Namen an sich (siehe Kap. 4.1.1 zum samozvanstvo) und im Namen Prigov im Besonderen angelegt ist, wird nun mit einer Offenbarung reagiert. In Kreatur erzeugt die Ähnlichkeit von „Prigov“ und „prigovor“ kein innovatives Wortspiel, sondern tritt als Selbstzitat auf, das ein in der Lyrik begonnenes Thema aufgreift.10

9 SoSt 5, 137 (Übersetzung nach Obermayr, ebd., 349). 10 „Обратите внимание на неслучайную  – о, в такие судьбоносные моменты нет ничего случайного! – игру слов, а на самом деле, смыслов: приговор – Пригов вор!“ („Man beachte das nicht zufällige – oh, in solchen schicksalhaften Momenten gibt es nichts Zufälliges! – Wortspiel, oder vielmehr Sinnspiel: das Urteil lautet – Prigov ist ein Dieb!“, 420).

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7.1.2 Die kreatürliche Immunität der „immunen Kreatur“ Das titelgebende Hauptargument des Plädoyers ist „nepodsudnost’“. Wer „nepodsudnyj“ ist, fällt wortwörtlich nicht unter eine Gerichtsbarkeit, ist nicht unschuldig, sondern juristisch nicht belangbar. Eine solche Person untersteht keinem Gericht. In seiner Markierung der Kategorialität unterscheidet sich der Begriff „nepodsudnost’“ von mindestens zwei möglichen Alternativen: ‚Neprikosnovennost’‘ wäre ähnlich wie ‚Unantastbarkeit‘ die Metapher eines physischen Kontakts; ‚immunitet‘ wäre das lateinische Lehnwort, das im römischen Recht zunächst Abgabenfreiheit bedeutet und sich im neunzehnten Jahrhundert auf das heutige Verständnis von juristischer Unbelangbarkeit überträgt. Wenig später nimmt das Wort auch einen biologisch-medizinischen Sinn an.11 In Prigovs Romanen ist Immunität nicht nur als physisches Motiv, sondern auch als rhetorische Strategie präsent (siehe Kap. 4.2.3–4). Der letzte Roman seiner Trilogie stellt sie in einen juristischen und theologischen Kontext. Er sollte ursprünglich Nepodsudnyj heißen. Nachdem das Manuskript abhandengekommen war, erhielt die Neufassung den Titel Tvar’ nepodsudnaja. Damit hat Prigov die Referenz auf einen Diskurs bei Dostoevskij deutlich hervorgehoben. Der Titel spielt auf einen berühmten Satz Raskol’nikovs an: „Ob ich eine zitternde Kreatur bin oder das Recht habe …“12 („Тварь ли я дрожащая или право имею …“).13 Er bezieht sich auf die anthropologische Differenz, als Mensch das Recht zum Mord zu besitzen. Sie scheint bei Prigov keine Rolle zu spielen: Die Taten der „Kreatur“, die zu richten sind, sind schon vollbracht. Verhandelt wird, ob sie unter eine Gerichtsbarkeit fallen. Ebenso nimmt Prigov Bezug auf die im neunzehnten Jahrhundert verbreitete sozialdeterministische Theorie des „Milieus“, die Kriminalität durch gesellschaftliche Faktoren berechenbar machen soll. Wiederholt zitiert Prigov die Parole „Среда заела“ („Vom Milieu gefressen“), eine These der Beeinflussbarkeit des Menschen durch sein Milieu, gegen die Dostoevskij polemisiert (vgl. Nicolosi 2018, 126 f.).14

11 Das geschieht ausgerechnet „durch die üblichen Mechanismen semantischer Ansteckung“, wie Martin von Koppenfels treffend diagnostiziert hat; Koppenfels, Martin von: „Flauberts Hand. Zur Rhetorik der Immunität“, in: Goebel, Eckhart/Lämmert, Eberhard (Hg.): „Für Viele stehen, indem man für sich steht“: Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne, Berlin: Akademie, 2004, 83–105; 88. 12 Dostojewskij, Fjodor: Verbrechen und Strafe, aus d. Russ. v. Swetlana Geier, Zürich: Ammann, 1994, 567. 13 Dostoevskij, Fedor M.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach, T. 6: Prestuplenie i nakazanie, Leningrad: Nauka, 1973, 322. 14 Bei Prigov ist der Satz auf die ‚schädlichen‘ Einflüsse auf die Kindheit bezogen. Er wird auch in anderen Romanen zitiert und in einem Essay in sein Gegenteil verkehrt: „То естъ отсутствие среды заело“ („Also gefressen vom Fehlen des Milieus“), Prigov, Dmitrij A.: „Sčet v gamburgskom banke“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 34 (1998), 114–119; 119.



Die kreatürliche Immunität der „immunen Kreatur“ 

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Prigov stellt die bzw. eine juristisch Immune Kreatur in den Mittelpunkt. Allerdings klingt der Titel mit veränderter Intonation wie eine Beschimpfung: Mistvieh, nicht belangbares. Der Titel verurteilt die nicht verurteilbare Kreatur. Ist sie mit dem Ich des Texts gleichzusetzen? Im Folgenden soll diese Frage mit Blick auf die juristische, theologische und physisch-metaphysische Ebene des sich verteidigenden, beichtenden, sich ergießenden, Rechenschaft ablegenden Ichs untersucht werden. Die biologische Semantik der Immunität ist im russischen Titel „nepodsudnyj“ nicht enthalten, bei der Erzählung der kindlichen Missetaten entfaltet sie sich aber umso deutlicher. Den Diebstahl der großmütterlichen Pension etwa können sich die Eltern der anderen ­Kinder nur mit dem biologistischen Argument erklären, ihnen wäre eine solche „Ausgeburt“ („vyrod[ok]“) nicht passiert: И с облегчением вздыхали, так как заранее знали, что их родное дитя имеет как бы природный иммунитет, унаследованный прямо от них, от своих предков, к подобного рода проказе. С подозрением взглядывали также и на моего отца, не смогшего передать мне этот спасительный ген, или вовсе самого подобного не имевшего. (443 f., Kursivierungen von mir, P. K.) Und sie seufzten mit Erleichterung, da sie im Voraus wussten, dass ihr liebes Kindchen gegen derlei Unfug sozusagen eine natürliche Immunität besaß, direkt von ihnen ererbt, von seinen Vorfahren. Misstrauisch schauten sie auch meinen Vater an, der mir dieses rettende Gen nicht weitergeben konnte, oder noch nicht einmal ein solches besaß.

Immunität ist nach diesem Gedankenexperiment transgenerational disponiert, wie es gehäufte genealogische Formulierungen („rod-“) unterstreichen. Die konkreten sozialen Lebewesen müssen demnach ihre genetisch angelegte Heilspotenz je neu realisieren, wissen aber nicht, ob sie über die „rettenden“ Anlagen dazu verfügen. Auch eine Chance auf ideologische Immunität (siehe Kap. 4.2.4) ist verspielt, nachdem das Kind wegen seines Diebstahls nicht ins Leninmausoleum darf und daher nicht von der „heiligen Aura“ des Leichnams gerettet werden kann (vgl. 444). Offensichtlich ist allein das Minimalziel der „Rettung“ erfüllt: Das angeklagte Ich ist bei seiner Anhörung anwesend, hat die ironisch-pathetisch als übermenschlich geschilderten Prüfungen überlebt und kann Rechenschaft ablegen. Хотя, что это я о высоком. Я же о простом, местном, мелко-местном, намного меньше в размерах масштаба не только родины, но и ближайшего окружения, я о банальном выживании. И вот вам спасся. (457) Aber was rede ich hier hoch daher? Ich spreche von dem, was einfach da ist, von den kleinen Dingen aus der Nähe, viel kleiner im Maßstab nicht nur im Vergleich zur Heimat, sondern auch zur direkten Umgebung, ich spreche vom banalen Überleben. Und seht, ich bin verschont geblieben.

Dass derjenige, der hier spricht, überlebt hat, ist die Voraussetzung dafür, dass das Bekenntnis kommunizierbar ist. In einem zoegraphischen Horizont gelesen (siehe

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Kap. 2.2.2) hieße „banal überleben“: durch eine bestimmte Grenzziehung, einen „Bann“ weiterzuexistieren, der ja in Agambenscher Terminologie die juristische Beziehung zwischen Leben als bios und zoe beschreibt. Die Grenzen verschieben sich in den Figuren und Bildbereichen des Texts jeweils anders. Eine „immune Kreatur“ kann in verschiedenen Räumen existieren, ohne darin vollständig aufzugehen: dem metaphysischen Begriff der Heimat (‚rodina‘; wörtl. ‚Geburts-‘ oder ‚Stamm-Land‘), der ideologischen polis und im sozialen Alltag. Die hier etymologisch und philosophisch zugespitzte Konzeption von Banalität mag gewollt erscheinen. Doch auch ohne sie sollte deutlich werden, dass das Banale nicht das Nichtige ist, oder besser: dass das Banale etwas mehr als das Nichtige ist. Sieht man Prigovs Strategie der Banalität, des „banalen Überlebens“ vor dem Hintergrund der Theorie von bios und zoe, lässt sich eine bestimmte Subjektivität des Autobiographischen deutlicher beschreiben. In seinem als Verteidigungsrede dramatisierten Bekenntnistext sucht das Ich Wege der Selbstrechtfertigung – oder Auswege („vychod[y]“, 419; 432). Eine „immune Kreatur“, deren räumliche und physische Zuordnung sich nicht fixieren lässt, müsste als ein nach der „neuen Anthropologie“ organisiertes autobiographisches Subjekt gedacht werden. Das Leben bzw. Überleben der Kreatur ist auf keine körperliche Konfiguration festgelegt, kann z. B. lediglich die Energie eines Elementarteilchens sein: Я как нейтрино, проходя сквозь все эти пространства, не смог ни совладать с ними, ни овладеть ими ни быть до конца ими овладеваемым. Только в той степени, чтобы держать за все это ответ перед вами. (460) Wie ein Neutrino, das durch all diese Räume dringt, konnte ich weder mit ihnen fertig werden, noch sie beherrschen oder von ihnen vollständig beherrscht sein. Nur soviel, um mich vor euch für all das zu verantworten.

Indem sich das Ich mit einem Neutrino-Teilchen vergleicht, stellt es sich nur physikalisch, sondern auch grammatikalisch als neutral dar. Doch die Neutralität ist keine ethische, schließlich entzieht es sich nicht der Verantwortung, dem Dialog („otvet“) bzw. der Kommunikation. Die geschilderten Handlungen und Widerfahrnisse werden nach Kriterien bewertet, die von diesen Ereignissen selbst beeinflusst sind. So erscheint das Bewerten als von den eigenen Voraussetzungen verzerrter Prozess. Prigov beschreibt das nicht als selbstregulatives, sondern als tautologisches System, das ­Unmengen an rhetorischer Energie verschwendet. Die Argumentation lautet etwa wie folgt: Die Folge der Ereignisse hat den „sittlichen, physischen, intellektuellen und astralen Organismus“ des Ichs zerstört („разрушила мой нравственный, физический, интеллектуальный и астральный организм“, 474). Derart determiniert, kann das Ich vermeintlich nicht anders erzählen und bewerten. Gehört Kreatur denn überhaupt zu Prigovs erzählender Prosa? Wie bereits geschildert, finden sich darin verschiedene Gattungen kombiniert – das Literatur­gericht als Monodrama, Selbstkritik und Bekenntnisse. Der Text inszeniert ein Plädoyer mit ­ iraden, Invektiven einem rhetorischen Aufwand, der übers Ziel hinausschießt. Die T



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und imaginären Dialoge  – hier kommt unweigerlich Venedikt Erofeevs Moskva  – Petuški (Die Reise nach Petuški, 1969/1970) in den Sinn – wirken nicht mehr persuasiv, sondern digressiv. Die Instanz der ersten Person reflektiert im Verlauf des Texts ihre Fluidität zwischen Prigov als Autor und als Kind, zwischen Selbstverteidiger und -ankläger, zwischen sozialem und singulärem „Ich“. Die „immune Kreatur“ soll hier nicht mit diesem Ich gleichgesetzt und stattdessen als poetologische Figur verstanden werden. Im Folgenden soll es darum gehen, inwiefern diese Kreatur gegen die Identifikation mit Gattungen immun ist. Zur Rechtfertigung der kindlichen Taten testet das Ich verschiedene Analogien zum Kreatürlichen durch: Es werde sich noch unschuldig wie ein „Engel“ bzw. ein „kleiner Kastrat“ („angelom-kastratikom“, 428) herausstellen, es sei ein Wesen „ohne Fleisch“, in das es sich nicht zu beißen lohne. Das körperlich schwache Kind könne mit seinem „Körper-Klumpen“ („telesnyj komoček“, 450) dem Leid einer Katze gerade durch die Ähnlichkeit in der physiologischen Unterlegenheit mehr Empathie entgegenbringen als ein erwachsener Mensch. Hier zeigt sich die Ambivalenz der ‚Kreatur‘ zwischen dem niedrigsten Wesen auf der Stufenleiter der Schöpfung und dem Subjekt der Schöpfung schlechthin. Julia Lupton hat in einem Aufsatz skizziert, wie sich die Bedeutung von „creatura“ von einem theologischen Konzept der Natur hin zu jenem wandelt, was von der Natur abweicht: „In modern usage creature borders on the monstrous and unnatural, increasingly applied to those created things that warp the proper canons of creation.“15 Die creatura – lateinisch Partizip Futur Aktiv von ‚creare‘ (‚schöpfen werdend‘) – ist nicht nur dem Prozess der Schöpfung, sondern auch ihren Ein- und Ausschlussmechanismen unterworfen. Eric Santner hat dies in seiner an Agamben und Schmitt anschließenden Studie zum „kreatürlichen Leben“ der Moderne beschrieben, ausgehend von Kafka: When, at his execution at the end of The Trial, Josef K. exclaims, “like a dog,” Kafka is thus referring not only to the pathetic scene of K.’s execution but also to the larger structure of K.’s experience with the law, one that renders him, precisely, “creaturely.” To bring it to a formula, creaturely life is just life abandoned to the state of exception/emergency, that paradoxical domain in which law has been suspended in the name of preserving law. And once again, what is included in the state of exception is not simply outside the law but inside an outlaw dimension internal to the law, subject not to law but rather to sovereign jouissance.16

Prigov gibt der „outlaw dimension internal to the law“ eine autobiographische, selbstreflexive Wendung. Die „keinem Gericht unterstehende Kreatur“ erzählt den Prozess, sich selbst ein Gesetz zu geben und sich ihm zu entziehen. Es ist eine Dynamik zwischen Autonomie und Autoimmunität.

15 Lupton, Julia: „Creature Caliban“, in: Shakespeare Quarterly 51/1 (2000), 1–23, 1. 16 Santner, Eric L.: On creaturely life. Rilke, Benjamin, Sebald, Chicago [u. a.]: University of Chicago Press, 2006, 22.

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In Prigovs Bekenntnis geht es also nicht darum, sich einem Anderen zu offenbaren, sondern sich zu sich selbst neu zu positionieren. Dabei kommen gnostische Metaphern von Licht und Dunkelheit zum Einsatz. Der Bekenntnisprozess kann den Bekennenden von einem Zustand der Dunkelheit ins Licht bringen. Die „selbstentlarvende Erzählung“ („samorazoblačitel’no[e] povestvovani[e]“, 461) wird immer wieder unterbrochen und neu in Gang gebracht: Возвращаясь к прямой последовательности моего повествования. Даже не повествования, а излияния некоего последовательно-подобно выстроенного потока излияний, пытающегося сообразно своей мерности и протянутости проявить и явить бессвязную массу всяческих пакостей и несообразностей, наваленных в куче в невременном углу темной жизни. (473) Zurück zur linearen Abfolge meiner Erzählung. Oder nicht einmal einer Erzählung, sondern dem Erguss eines scheinbar chronologisch angeordneten Stroms von Ergüssen, der seiner Proportion und Ausdehnung entsprechend versucht, die zusammenhangslose Masse von allerlei Gemeinheiten und Sinnlosigkeiten ans Licht zu bringen und zu zeigen, die in einer nichttemporalen Ecke dunklen Lebens aufgehäuft daliegen.

Vom Erzählen abgewichen, stellt das Ich über den bisherigen Text fest: nichts als „Ergüsse“. Hier knüpft Prigov an anthropologische Topoi der Bekenntnisschrift im achtzehnten Jahrhundert an, in denen Flussbewegungen von Seele, Körper und Schrift nach analogen Prinzipien konzipiert werden.17 Das psychische Leben kann an dieser Stelle seine Aggregatzustände wechseln: vom „Haufen“ in die „Masse“ in einen „Strom“. Ermöglicht wird das von einer Phänomenologie des autobiographischen Schreibens, in der Erfahrungen wie materielle Einheiten behandelt werden. Beim ‚Ausschütten‘ der Seele geht es darum, das topisch nebeneinanderliegende Material in eine Abfolge zu bringen, ein Maß für die Masse des ungeformten Lebens zu finden. In dieser Vorstellung klingt die Poetik des Bildhauer-Dichters an, der aus Lehm, dem Reservoir einer Biomasse schöpft (vgl. Kap. 3.1.1). Doch in Prigovs Romanprojekt ist es nicht das Ordnungsprinzip des Verses, sondern der Fluss der Prosa, in dem diese Formung, diese Abfolge stattfindet. Was fließen kann, kann auch ins Stocken geraten. Eine Dynamik von Progression und Digression wird vorgeführt, hier mit anakoluthischem Satzbau: Я понимаю, что всякий, оказавшийся здесь под прессом обвинений, отягощаемых и спрессовываемых в еще пущий ком непроходимости под еще пущим прессом своей совести, образуя нечто такое, что при потугах выйти наружу застревает в так называемых метафорических кишка[х] нравственного пищеварения, порождая своим проходом муки и потуги равные родовым – а правда, ведь должно как бы породиться рождение новой чистой души, как бы некое новое невинное существо, своим появлением отрица-

17 Vgl. dazu Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink, 1999; Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München [u. a.]: Hanser, 1986.



Selbstobjektivierung: Konfession, Konversion und Konvertibilität 

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ющее, убивающее старое отжившее, использованное и достаточно мерзкое … так о чем это я? (445) Mir ist klar, dass jeder, der hier unter dem Druck von Beschuldigungen steht, erdrückt und gepresst zu einem noch schlimmeren Darmverschlussklumpen unter einem noch schlimmeren Gewissensdruck; sie bilden etwas, das beim Versuch herauszukommen in den sogenannten metaphorischen Gedärmen der moralischen Verdauung steckenbleibt und mit seinem Durchgang Anstrengungen und Qualen erzeugt, die Geburtswehen gleichkommen, – und tatsächlich, denn schließlich muss sozusagen die Geburt einer neuen, reinen Seele entstehen, sozusagen ein neues unschuldiges Wesen, das durch seine Erscheinung das Alte, Benutzte und Verfaulte leugnet und tötet … aber wovon rede ich eigentlich?

Das Was und das Wie dieser Aussage könnten entgegengesetzter nicht sein: Eine „Verstopfung“ des psychischen Verdauungssystems wird in Logorrhö beschrieben; der Bildwechsel von Exkretion in Geburt bricht ab, geht nicht weiter, (er-)zeugt keine neue Bedeutung. Hier fallen nicht nur Resonanzen der physiologischen Rhetorik Nietzsches auf, sondern auch eine körperliche Tradition der orthodoxen Beichte. Nicht nur steht dort buchstäblich die leibliche Anwesenheit und die Stimme des Beichtenden im Mittelpunkt, auch spielen Bilder des Ausscheidens, Aus- und Abstoßens eine Rolle. Der Theologe Origenes etwa beschreibt im dritten Jahrhundert die Sünde als etwas Widernatürliches, sodass der Beichte eine natürliche Abwehrfunktion zukommt, vergleichbar mit einem Magen, der unverdauliches Essen wieder ausstößt.18

7.1.3 Selbstobjektivierung: Konfession, Konversion und Konvertibilität Die gegen biologische und literarische Gattungen immune Kreatur des Texts hat im Laufe dieses unabgeschlossenen Texts ein Genre nach dem anderen abgewehrt: Das Plädoyer („opravdatel’noe slovo“, 486) eines bei einem Literaturgericht Angeklagten bzw. die Selbstkritik sind nicht zur Verteidigung faktischer Handlungen, der Reinwaschung von Fehlern da. Sie dienen dazu, Gesetz und Urteil von Gattungen zu entgehen. Nach zwei Dritteln des Texts tritt ein neuer Modus auf den Plan: ein Resümieren, Summieren oder Bilanzieren des Lebens. Nachdem die schlechten Taten (der Diebstahl der großmütterlichen Pension, die Tötung von Hofkatzen) gebeichtet sind, fallen nun „Entschuldigungspunkte“ (izvinitel’ny[e] ball[y], 464) an, die dem fiktiven Gericht das Maß der Unschuld exakt quantifizieren sollen. Die Punktevergabe beginnt unvermittelt, ihre Kriterien gibt der Text nur scheibchenweise preis. Eine Bilanz der bisher aufgeführten Kindheitsepisoden setzt nach einer Verletzung bei einem Fußballspiel ein:

18 Origenes wird zitiert nach Almazov, Aleksandr I.: Tajnaja ispoved v Pravoslavnoj Cerkvi. Opyt vnešnej istorii, T. 1, Odessa 1894, 36: „грех […] как неудобная для желудка пища невольно, через рвоту, сама собою извергается из желудка“.

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[Н]а десятибалльной шкале оценок, я бы дал себе за это 6 баллов. Ну, если прибавить к ним еще 9 баллов за вышеупомянутую недоношенность, 9 баллов за кошмарную доставшуюся мне войну, 8 баллов за ссылку и тамошние, если и не страдания, то утерянные возможные дивные и чудесные возможности тихой облагораживающей жизни и радужные перспективы. 10 баллов за расстрелянных родственников. (462) Auf einer Notenskala von 1 bis 10 würde ich mir dafür 6 Punkte geben. Naja, man kann noch 9 für die oben bereits erwähnte Frühgeburt hinzuzählen, 9 Punkte für den schrecklichen Krieg, der über mich hereinbrach, 8 Punkte für die Verbannung und das Leid, oder zumindest, was an fantastischen und wunderbaren Möglichkeiten zu einem ruhigen, bereichernden Leben und glänzenden Perspektiven verlorenging. 10 Punkte für die erschossenen Verwandten.

Bemerkenswert ist an dieser Parodie einer Auflistung von Karma-Punkten nicht nur, dass die Erlebnisse in keinem Verhältnis zu jenen Grausamkeiten stehen, die zur gleichen Zeit anderen Sowjetbürgern passiert sind: „Verbannung“ („ssylka“) meint in diesem Fall nicht Straflager, sondern ist ein Dysphemismus für die Evakuierung während des Krieges. Bemerkenswert ist auch, dass die angesetzte 10er-Skala bereits mit dem zweiten Posten ihren Sinn verliert. Errechnet wird kein Notendurchschnitt, sondern es wird eine beliebige Anzahl von Noten angehäuft. Derlei überbordende Skalen hat Prigov bereits im Text Ocenki (Noten bzw. Bewertungen, 1996) verwendet, in dem die kulturellen Errungenschaften verschiedener biologischer Generationen bewertet werden und die 5er-Notenskala etwa dann überschritten wird, wenn sie nicht ausreicht, um ein Genie zu erfassen (vgl. IIU, 31–33).19 Verschiedene weitere Werteskalen werden in Kreatur erfunden, gesprengt und ad acta gelegt (etwa die Phantasieskalen „Impls“ [420], „ZPŽ“ [483]). Schließlich interessieren Proportionen zwischen den einzelnen Werten, die sich nach dem Goldenen Schnitt beurteilen lassen (vgl. 482). Der Erfolg im Leben lässt sich prozentual ausdrücken, indem die Ergebnisse eines „lebenslangen Projekts“ („proekt dlinoj v žizn’“, siehe Kap. 3.1.3) durch seine Widrigkeiten dividiert werden (vgl. 487). Wenn die absoluten Zahlenwerte für Handlungen und Erlebnisse arbiträr sind, lässt sich eine Aussage über ihren jeweiligen Relevanzgrad nur in ihrer Relation zueinander treffen. Bei der numerischen Ermittlung von Reife gibt es nicht nur positive Werte. Stehen Punkte für erfahrenes Leid, müssen für erzeugtes Leid Punkte abgezogen werden. Das Ich geht so hart mit sich ins Gericht, dass es nur noch einen Punkt als Minimalwert individueller Moral übrig lässt und kommentiert: „Aber einer gehört mir! Der wiegt schwerer als eure ganzen erbärmlichen Vorwürfe!“ („Но один-то мой! Он перевесит

19 Besonders deutlich wird die Skalensprengung im letzten Abschnitt: „Und da das Gesetz der Umverteilung der Zahl für Familie, der Zahl für Wohlergehen und der Zahl für Territorium, von Recht, Gravitation und Zeit schon niemanden mehr betrifft, wird der Herausgekrochene auf einen Schlag mit 11 Punkten in einem 5-Punkte-System bewertet.“ („И поскольку уже никого не касается закон перераспределения числа семьи, числа блага и числа территории, права, гравитации и времени, то выползший оценивается сразу в 11 баллов по пятибалльной системе.“ IIU, 33).



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все ваши жалкие обвинения!“, 464). Sogleich geht es mit den Punkten wieder steil bergauf, sie werden dreistellig positiv. Zuletzt rechnet das Ich ein paar Punkte hinzu, ohne dass sie eine Entsprechung in Handlungen hätten: Нет, все-таки недостает еще трех до 128. И я сейчас объясню, почему и что это значит. Я открыл, что есть некая закономерность распределения по возрастным периодам. Ну это понятно. Сумма страданий, получаемая, скажем, за 64 года (как мне почти почти почти уже почти есть уже сейчас). (488) Nein, da fehlen immer noch drei Punkte bis 128. Und jetzt erkläre ich warum, und was das bedeutet. Ich habe entdeckt, dass es eine Gesetzmäßigkeit der Verteilung nach Altersperioden gibt. Ist ja klar. Die Summe der Leiden, aus, sagen wir mal, 64 Jahren (so alt wie ich ja fast fast fast schon fast jetzt schon bin).

Das Doppelte von Prigovs Alter im Jahr 2004 steht in einer mathematischen Reihe zwischen 1, 64 und 128. Eine über die Lebensdaten hinausgehende Sinnebene der Zahlen wird nicht eingeführt.20 Die Punkte repräsentieren beim Ergebnis am Ende des unvollendeten Texts keine ethisch oder metaphysisch ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Taten wie im Karma, sondern die schiere Lebenslänge, an der zahlenmäßig nicht zu rütteln ist. Die numerische Valorisierung von Lebenserfahrung stellt sich als nichtige Rechenübung heraus, als biographische Makulatur. Das Ergebnis wird scheinbar ­automatisch in Entsprechung zum biologischen Alter aufgerundet. Dessen Korrespondenz mit dem kulturellen Alter – vulgo: ‚moralischer Reife‘ – gehört zu den bereits in Kapitel 4.1.3 ausgeführten zentralen Interessen von Prigovs Poetik im Kontext der „neuen Anthropologie“. Wenn Prigov mit prophetischer Geste Zahlen als Leidenssumme auf Altersabschnitte bezieht, dann setzt er sich damit auf bestimmte Weise von Chlebnikovs Doski Sud’by (Schicksalstafeln) ab. Während dessen Zahlenmystik historische und kosmologische Gesetzmäßigkeiten der Zeit bestimmt, gibt es in Prigovs Additionsreihe kein höheres Prinzip als die Lebensdaten. Die rationalen, vom Körper abstrahierenden Operationen des Berechnens, Bewertens und Klassifizierens sind in Prigovs Lebensbilanz nicht auf ein ‚besseres‘ Leben im Virtuellen gerichtet. Das Fortschreiten der Ziffern scheint eher Index dessen zu sein, dass der ‚Gang‘ des Lebens nicht manipulierbar ist. Die Frage, wie ein Mensch sich ausgehend von seinen Anlagen verändern kann, beschäftigt christliche Bekenntnistexte, allen voran Augustinus, bevor es das Wort „Anthropologie“ gibt. In Prigovs Fall gehen Konfession und Konversion eine besondere semantische Allianz zwischen Religion und Ökonomie ein. Er schildert nicht einen ­religiösen Lebensweg, eine Bekehrung, sondern analysiert die Bedingungen einer

20 Stellenweise wird ein Zweck der Bezifferung eingeführt, aber nicht weiterverfolgt: als „Bilanz“ („podsčet“, 483) oder „mein existenzielles Verlust-Gewinn-System“ („sistema moego ėkzistencial’nogo uščerba-pribytka“, 487).

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­ onvertibilität des autobiographischen Subjekts.21 Eine geistige oder spirituelle WandK lung wie in christlichen Konversionserzählungen findet in Prigovs Text nicht statt. Sein Bekenntnistext ist eine Bilanz ohne einen erzählten Weg. Was sich wandelt, ist der Weg des Erzählens, auf dem immer neue Gattungen durchschritten werden. Erst gegen Ende des Texts kommt das Genre der ispoved’ (Beichte oder Bekenntnis) zur Sprache, um das es im Romanprojekt der aufrichtigen Genres ursprünglich gehen sollte: Это, скорее, исповедь, развертывание души в ее пустое становление и пробегание по краевым холмам и сырым, гниющим провалам жизни. (486) Es ist vielmehr ein Bekenntnis, die Entfaltung der Seele ins leere Werden und ein Schreiten entlang der hügeligen Reliefs und der feuchten, fauligen Abgründe des Lebens.

Die ispoved’ ist eine Bewegung der Seele über das Leben hinweg, eine Seelen-Wanderung im Wortsinn. Die Metaphorik von Höhe und Tiefe spielt auf Plotins Vorstellung vom Auf- und Abstieg der Seele in den lebendigen Körper an. Die sich entfaltende Seele nimmt hier nicht aktiv am Leben teil – durchaus im Sinne der aristotelischen Konzeption der Seele in De anima: Dort ist sie das Prinzip, nach dem Körper potenziell Leben haben.22 Die Seele in Prigovs Bekenntnistext belebt oder beseelt nicht. Stattdessen wird sie als eine Instanz entworfen, die über das menschliche Leben hinweg existiert und seine Daten liest: Ну, информации поступает очень много, но она неведомого мне формата и конфигурации, так что происходят лакуны в информации, и точная расшифровка требует длительного времени. Времени, возможно, и намного превышающего длительность нормальной человеческой жизни. Возможно, именно этому и посвящена идея и теория метемпсихоза – длительного существования расшифровывающей души в различных агрегатных состояниях и обличиях на протяжении столетий, а то и тысячелетий. (475 f.) Informationen treffen ja sehr viele ein, aber Format und Konfiguration sind mir unbekannt, sodass Informationslakunen auftreten, und eine genaue Dechiffrierung erfordert viel Zeit. Zeit, die möglicherweise die Dauer eines normalen Menschenlebens um ein Vielfaches übersteigt. Gut möglich, dass genau dem die Idee und Theorie der Metempsychose gewidmet ist – der ausgedehnten Existenz einer entziffernden Seele in verschiedenen Aggregatzuständen und Antlitzen über Jahrhunderte hinweg, ja über Jahrtausende.

Mein eigenes Leben bietet in seiner Gesamtheit mehr Information, als ich verstehen und aufschreiben kann – so weit, so topisch in Theorien der Autobiographie. Die über-

21 In Kreatur ist diese Bezifferbarkeit auf positive, ganze Zahlen beschränkt. Negative Lebensdaten gibt es nicht. Im Text Stratifikacii (Stratifikationen, 1995) werden negative Zahlen und Dezimalzahlen auf phantastische Phänomene bezogen (siehe Kap. 7.2.1). Kreatur dagegen könnte man als eine – wenn auch unvollendete – autobiographische Summa bezeichnen. 22 Vgl. Aristoteles: De anima II, 1, 412a19–20.



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schüssigen, ungereimten Informationen werden hier aber nicht von einem Subjekt hermeneutisch „dechiffriert“, sondern auf einer überzeitlichen, die menschliche Existenz überdauernden Ebene. Ihre zeitliche Dimension ist mit dem Bergsonschen Begriff der Dauer („dlitel’nost’“ bzw. „durée“) beschrieben. Statt kultureller Kategorien wie Gedächtnis, Schriftlichkeit oder Archiv bringt Prigov die Seele ins Spiel. Sie ist nicht als immaterielles Wesen zu verstehen, das alle lebenden Körper beseelt. Sie ist eine Metaebene, aber keine metaphysische, sondern eine metempsychotische. Sie kann in verschiedene physische Organisationsformen („Aggregatzustände“) übergehen. Damit ist die Seele in Prigovs Konstruktion nicht Objekt, sondern Subjekt des autobiographischen Bekenntnisses, nicht die zu entziffernde, sondern die entziffernde Seele. Kraft ihrer überzeitlichen Existenz besitzt sie eine größere Kapazität zur Verarbeitung komplexer Lebensinformation. Die Formulierung der „entziffernden Seele“ scheint nicht nur psychologisch, sondern auch theologisch widersprüchlich. Schließlich läuft diese Seele ihrer Rolle in der christlichen bzw. orthodoxen Tradition zuwider. Dort ist die Seele Objekt der Läuterung durch Reue des Beichtenden,23 hier eine der Person übergeordnete Instanz. Das Leben wird bewertet durch eine Bewegung der überpersonalen, überzeitlichen, in abstrakten Operationen dekodierenden Seele über das menschliche Leben hinweg. Es ist nicht das statistische Beziffern des Ichs, sondern ein epistemologisches Dechiffrieren. Die Semantik der „entziffernden Seele“ („rasšifrovyvajuščaja duša“, s. o.) führt in eine andere Richtung als das taxonomische Programm der Stratifikations- und Konvertierungstexte, das nicht auf Erhöhung, sondern auf Reduktion von Komplexität zielt. Beziffern, Berechnen und Umrechnen sind ihre zentralen Operationen. In Kreatur werden sie auf die autobiographische Prosa übertragen: Rechenschaft, der axiologische Selbstbezug des Ich, wird hier buchstäblich als Rechenoperation hergestellt. Prigov nimmt die Semantik von Zählen und Rechnen beim Wort, wie sie in Begriffen wie ‚ščet‘ (‚Rechnung‘, aber auch ‚Verantwortung‘) ‚otčet‘ oder ‚podščet‘ (‚Bilanz‘) enthalten ist.24 Im Gegensatz zu den einfachen Daten und Zahlen, mit denen das Ich das Leben beziffert, verfügt die „entziffernde Seele“ über eine mit menschlichen Mitteln nicht zu bewältigende Informationsfülle. Deren Aus- bzw. Bewertung geschieht nicht „in dieser Welt“ und damit außerhalb der Erzählung. Die Vorstellung einer übergenerationalen Kontemplation hat Prigov als Form ästhetischer Rezeption bereits in Japan beschäftigt (vgl. Jampol’skij 2014b, 34). In Kreatur wird das Leben selbst von der Warte einer kontemplativen Instanz aus gesehen. Dabei handelt es sich nicht um ein schauendes Subjekt, wie es bei Platon als „Auge der Seele“ bezeichnet wird.25

23 Vgl. zu diesem Aspekt bei Tolstoj: Sasse 2009, 163. 24 Während im Deutschen ‚rechnen‘ und ‚reden‘ etymologisch gleichursprünglich und mit ‚ratio‘ (der lateinischen Entsprechung von ‚logos‘) verwandt sind, hängt das russische Verb ‚ščitat’‘ (sowohl ‚rechnen‘ als auch ‚zählen‘) mit ‚čitat’‘ (‚lesen‘) zusammen. 25 Vgl. Platon: Politeia 533d2.

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Die Seele ist hier vom menschlichen Subjekt und seinem Körper unabhängig. Nicht nur in diesem Text nimmt Prigov etwa Bezug auf die Kollektivseele, die im Mittelalter Tieren zugesprochen wird (vgl. 454). Die axiologische Dimension des Bekenntnisses hat Michail Bachtin in seiner Theorie der ispoved’ gattungstheoretisch und ethisch betrachtet. Bachtin entwickelt in seinem in den 1920er Jahren verfassten Werk Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti (Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit) den Begriff des „samootčet-ispoved’“.26 Die deutsche Ausgabe übersetzt ihn mit „Beichte als Selbstzeugnis“, wobei „samootčet“ nicht Zeugnis, sondern Rechenschaft über das Selbst beinhaltet, wie es auch die englische Wiedergabe als „self-account“ nahelegt.27 Die besondere Leistung der Beichte ist für Bachtin eine Objektivierung des inneren Lebens, ohne dass eine wertende Perspektive des Anderen in Betracht käme: Раскаяние из психологического плана (досада) переводится в план творчески-формальный (покаяние, самоосуждение), становясь организующим и оформляющим внутреннюю жизнь началом, принципом ценностного видения и закрепления себя. Там, где является попытка зафиксировать себя самого в покаянных тонах в свете нравственного долженствования, возникает первая существенная форма словесной объективации жизни и личности (личной жизни, т. е. без отвлечения от ее носителя) – самоотчет-исповедь. Для этой формы существенным, конститутивным моментом является то, что это именно самообъективация, что другой со своим специальным, привилегированным подходом исключается; только чистое отношение я к себе самому является здесь организующим началом высказывания. (Bachtin 2003, 208) Die Reue wird von einer psychologischen Ebene (Verdruss) in eine schöpferisch-formale überführt (Buße, Selbstverurteilung) und dabei zur das innere Leben organisierenden und formenden Grundlage, zum Prinzip der wertkonstituierenden Sicht und Festlegung des Selbst. Da, wo es der Versuch ist, sich selbst in reuevollen Tönen im Lichte einer moralischen Pflicht zu fixieren, entsteht die erste wesentliche Form der sprachlichen Objektivierung des Lebens und der Persönlichkeit (des persönlichen Lebens, d. h. ohne von dessen Träger zu abstrahieren). Diese Form ist die Beichte als Selbstzeugnis. Für diese Form ist es ein wesentliches, konstitutives Moment eben, dass es eine Selbstobjektivierung ist, dass der Andere mit seinem spezifischen, privilegierten Zugang ausgeschlossen bleibt. Nur die reine Beziehung des Ich zu sich selbst ist hier organisierende Grundlage der Aussage. (Bachtin 2008, 203)

In Prigovs Fall ist die Bekundung der Reue ein ad absurdum geführtes Stilzitat. Nicht die ‚wahre‘ Persönlichkeit gilt es für Prigov freizulegen. „Aufrichtigkeit“ und Selbstobjektivierung werden nicht durch eine emotionale Nähe des Beichtenden zum Inhalt

26 Bachtin, Michail M.: Sobranie sočinenij v semi tomach, T.: 1: Filosofskaja ėstetika 1920-ch godov, Moskva 2003, 205–215; Bachtin, Michail: Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, hg. v. Rainer Grübel, Eduard Kowalski und Ulrich Schmid; aus d. Russ. v. Hans-Günther Hilbert u. a., Frankfurt: Suhrkamp, 2008, 200–211. 27 Coates, Ruth: Christianity in Bakhtin. God and the exiled author, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press, 1998, 51.



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der Beichte erreicht. Gerade das bewusste Falschverstehen, die Verbuchstäblichung der „Selbstbilanz“ („samootčet“) als Liste von Punkten verweist auf das intrinsisch Tautologische der Selbstbewertung. Die moralisch-existenzielle Werteskala könnte auch mit anderen Zahlen operieren. Was ‚zählt‘, ist der Akt des Wertens an sich. Es ist eine Aufrichtigkeit durch inszenierte Tautologie. Der beichtenden Selbstbilanz attestiert Bachtin eine „wertmäßig reine, einsame Beziehung zu sich selbst“ („[ч]истое ценностно-одинокое отношение к себе самому“, Bachtin 2008, 204; Bachtin 2003, 209). Diese stellt Prigov mittels Monopolisierung der Sprecherrollen her: Das Ich klagt sich an, verteidigt sich, sagt aus und wertet seine Aussage. Das Gericht ist durch seine Fiktivität mit dem Ich verwandt („единоутробного мне, по причине мною же самим и выдуманности его“, 479) – und so letzten Endes eine Extension des Ichs, über die jenes mit einer Öffentlichkeit kommuniziert. Diese Öffentlichkeit ist allerdings nicht mit einer außenstehenden Instanz zu verwechseln, der eine Bewertung obläge. Das kann nur die im Ich verankerte Wertsphäre.28 Bachtin schreibt zur absoluten Selbstbeziehung der Beichte als literarisches Genre: В самоотчете-исповеди нет героя и нет автора, ибо нет позиции для осуществления их взаимоотношения, позиции ценностной вненаходимости (Bachtin 2003, 213) In der Beichte als Selbstzeugnis gibt es weder Held noch Autor, denn es gibt keine Position, die ihr Wechselverhältnis realisieren könnte, es gibt keine Position wertmäßiger Außerhalbbefindlichkeit (Bachtin 2008, 208).

Tatsächlich konstruiert der Text eine Position des Anderen oder Außerhalbbefindlichen, die aus der Beichte ausgeschlossen bleibt: „Ich kenne selbst meinen Preis, und mein Gericht ist nicht von dieser Welt.“ („Я сам знаю себе цену, и мой суд не от мира сего.“ 475). Die ‚ganz andere‘ Wertdimension befindet sich außerhalb der Welt. Sie ist nicht mit einem Jüngsten Gericht zu verwechseln, das Rousseau als ultimativen Rezeptionskontext für seine Bekenntnisse imaginiert.29 Eine Konstruktion von Jenseitswelten hat Prigov nicht im Sinn. Daher grenzt er sich auch von einem sehr einflussreichen Mystiker ab: Der im spätsowjetischen Samizdat stark verbreitete Daniil Andreev, dessen Hauptwerk Roza mira (Die Weltrose, 1950–1958) unter Einbezug buddhistischer Lehren andere bzw. „andersmaterielle Welten“ („inomaterial’nye miry“) entwirft (Andreev

28 Dieser Gedanke ist angelehnt an Rainer Grübels Konzept der „Axiosphäre“, das er von den Begriffen der Bio- und Noosphäre bei Vernadskij und Teilhard de Chardin herleitet: „Alle ästhetischen Wertefelder bilden zusammen die ästhetische Sphäre, die ‚Aisthosphäre‘ genannt werden soll. […] Die Aisthosphäre ist Bestandteil der Axiosphäre, dem universalen Raum von Wertgeltung und Axiose im Werturteil.“ Grübel, Rainer: Literaturaxiologie. Zur Theorie und Geschichte des ästhetischen Wertes in slavischen Literaturen, Wiesbaden: Harrassowitz, 2001, 56. 29 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques [1782/1789]: Bekenntnisse, aus. d. Franz. v. Ernst Hardt, Insel (ohne Ortsangabe), 1955, 7.

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

1992, 33). Prigovs Gericht außerhalb der Welt ist, ganz im Sinne buddhistischer Lehren, nicht transzendent. Die zeitliche Ausdehnung der „entziffernden Seele“ übersteigt das Kalpa (vgl. 476) nicht, den längsten möglichen Zeitabschnitt in der buddhistischen Kosmologie. Die Immunität des Textes davor, in Gattungen aufzugehen, wirkt auch beim Bekenntnis. Einen Absatz nach der Selbstbezeichnung als ispoved’ folgt eine neue Definition als Bildungsroman: В общем ясно, что это роман […] воспитания. Вернее, культурное сознани[е] при первой же попытке явить себя и оправдать попадает в испытанную сетку предлагаемой номенклатуры как и, собственно, зеркальное ему воспринимающее сознание, моментально квалифицирующее любой материал соответственно той же сетке. Так что это – роман воспитания. То есть, в результате, невоспитания. (486) Im Grunde ist ja klar, dass das hier ein Bildungsroman ist. Genauer gesagt: Das kulturelle Bewusstsein gerät beim ersten Versuch sich zu offenbaren und zurechtfertigen in das bewährte Raster der vorgegebenen Nomenklatur, genauso wie das zu ihm spiegelbildlich wahrnehmende Bewusstsein, das momenthaft jegliches Material in Entsprechung zu ebenjenem Raster qualifiziert. Also ist dies hier ein Bildungsroman. Das heißt, letzten Endes, ein Unbildungsroman.

Innerhalb einer Buchseite werden die Kategorien ausgetauscht: Geht es im Bekenntnis um die Aufrichtigkeit der Seele, ist im Roman das Bewusstsein in seinem Formungsprozess gefragt. Der Begriff des Bildungsromans, im Russischen als „Roman der Erziehung“ wiedergegeben, wird hier zum Roman der schlechten Erziehung mit didaktischem Anspruch („vospitatel’noe povestvovanie“, ebd.). Doch für einen Roman fehlen dem Text die Länge und die Einstellung auf das biographische ‚Ganze‘ des Lebens. Dabei ist es genau jenes, das dem Verteidiger-Ich ganz zu Beginn des Texts evident wird: Впервые я оказался на месте отвлеченного созерцателя всего списка печальных и неутешительных событий моей жизни. (419) Zum ersten Mal befand ich mich in der Postition eines unbeteiligten Betrachters der gesamten Liste trauriger und trostloser Ereignisse meines Lebens.

Die enumerative Vergegenwärtigung der „ganzen“ Liste muss scheitern. Die Rechnung kann nicht alle Posten erfassen, sie wird abgebrochen, das Ergebnis gerundet. Weder Literaturgericht noch Bekenntnis finden ihr Ende – es fehlen ein abschließendes Plädoyer und eine Anrufung des Gerichts. Bachtin schreibt zur tendenziell unabschließbaren Form der „Beichte als Selbstzeugnis“: [П]росто самоотчет-исповедь не знает этого задания – построить биографически ценное целое прожитой (в потенции) жизни. (Bachtin 2003, 213)



Lebensdaten: Selbstbilanz zwischen Prosa und Poesie 

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Die Beichte als Selbstzeugnis kennt die Aufgabe einfach nicht, das biographisch wertvolle Ganze des (potentiellen) durchlebten Lebens aufzubauen. (Bachtin 2008, 209)

Bachtins Verdikt erklärt nicht nur, warum Prigovs Bekenntnis nicht mit dem ‚ganzen Leben‘ abrechnen kann und sich die Frage nach der Abgeschlossenheit des Texts in gewisser Weise erübrigt. Es nährt zudem den Verdacht, dass kleine Formen Prigov möglicherweise mehr Erfolg bei der Selbstbilanz versprechen. Die im nächsten Teil­ kapitel betrachteten Texte liegen in ihrer Entstehungszeit vor dem Romanprojekt, sie sind auf ihre Weise Dokumente einer kleinen Prosa der Zoegraphie.

7.2 Konvertierungs- und Stratifikationstexte 7.2.1 Lebensdaten: Selbstbilanz zwischen Prosa und Poesie Für sein Romanprojekt hat Prigov angekündigt, das „aufrichtige Schreiben“ in genau drei Genres zu bearbeiten. Im Ergebnis hat er zudem noch die Genres von Science-­ Fiction oder Fantasyroman (Renat) und Parallelbiographie (Katja) unter autobiographischen Vorzeichen in Angriff genommen. Von einem numerischen Plansoll, wie man es von seiner Poesie kennt, hat er in Bezug auf das Romanprojekt nie gesprochen. Während er seinen Lyrik-Plan (24 000 Gedichte bis 2000) um 50 % (36 000 bis 2007) übererfüllt hat, scheint es in der Prosa etwas anders zu sein. Das Romanprojekt ist unvollendet, und trotzdem entstehen im Resultat mehr Bücher als geplant. Wie hätte schließlich ein Autor, der fünfstellige Gedichtzahlen produziert und unzählige Genres erkundet bzw. erfindet, in der Prosa bei drei Halt machen können? Zur potenziellen Unendlichkeit des Projekts authentischer Romane sind zwei Dinge anzumerken: Einerseits sind die drei anvisierten Genres ohnehin nur ein Ausschnitt aus der europäischen Tradition aufrichtigen Schreibens und könnten beliebig ergänzt werden. Das rastlose Auskundschaften anderer Gattungsmöglichkeiten wird besonders im geplanten letzten Teil der Trilogie, Kreatur, deutlich (siehe Kap. 7.1.2). Weitere Genres, etwa stream of consciousness und Bildungsroman, sind darin angelegt, aber nicht ausgeführt. Andererseits kommen andere „aufrichtige“ Gattungen gar nicht erst zur Sprache. Ein Briefroman oder ein literarisches Testament etwa entstehen ebenso wenig wie ein Tagebuch. Prigov führt kein Tagebuch, er dichtet stattdessen jeden Tag. Und dennoch ist er an den kommunikativen und formalen Aspekten des Tagebuchs interessiert. Es finden sich eine ganze Reihe diaristischer Verfahren in seiner Lyrik. Das tägliche Schreiben von Gedichten hat Prigov seit Anbeginn seiner massenhaften Textproduktion mit verschiedenen Systemen von Textzählung, -nummerierung und -indexierung dokumentiert. Seit Beginn der 1980er Jahre werden Daten und Zahlen  – im Russischen beide mit ‚čislo‘ bezeichnet – in den Gedichten dominant. Obermayr hat sich seiner Praxis der Gelegenheitslyrik ausführlich gewidmet und die datierenden Zahlen hinsichtlich des Verhältnisses von Vers- und Prosasprache in den Blick genommen. Einen Typus von Gedichten

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

bezeichnet Obermayr als „date poems“.30 Beispielhaft für Prigovs diaristische Lyrik soll hier eine Arbeit stehen: Das über mehr als ein Jahr angelegte Zyklenprojekt Grafik peresečenija imen i dat (Diagramm der Überschneidung von Vornamen und Daten, 1993– 1994)31 notiert in Versform Gespräche, deren Datum jeweils im Schlussvers steht. In pred­uvedomlenija zu den zwölf Bänden, die den Stand des Notizprojekts jeweils reflektieren, wird deutlich, wie sehr die Gattungen Datumsgedicht und Tagebuch miteinander in Konflikt geraten. In Abgrenzung zum Tagebuch insistiert Prigov auf einer künstle­ rischen Geste, die den intimen Akt des Notierens nur simuliert.32 Mehrfach weist er auf einen Widerspruch der Texte zu seinem sozialen Verhalten hin: Während Prigov im Alltag Leute distanziert mit Vornamen und Vatersnamen anspricht, nennt das Gedicht Personen ausnahmslos beim Vornamen. Die scheinbare Intimität ist Resultat einer doppelten Verfremdung. Sie wird bezeichnet „als eine gewisse Imitation von Aufrichtigkeit, nicht einmal als Aufrichtigkeit, sondern als Konventionalität“ („некоторой иммитаций [sic] искренности, как бы даже не искренностью, а условностью“33). Vom Tagebuch unterscheidet die Grafiki auch die Rolle der Erinnerung: Das im Jahr 1999 nachträglich bei der Reinschrift entstandene preduvedomlenie zum Band April/Mai konstatiert, dass dem Autor die fünf Jahre zuvor notierten Namen zu diesem Zeitpunkt längst entfallen seien. Es geht hier nicht wie in den Romanen um eine Anstrengung der Erinnerung, sondern darum, das Erlebte im Koordinatensystem von Namen und Daten zu fixieren und damit dem Vergessen zu überantworten. Im Zyklus Kogo ja vstrečal za svoju žizn’ (Wen ich in meinem Leben traf, 1999) bekommt diese Fixierung eine magische Komponente: Nicht festgehaltene Personen könnten Schaden erleiden, weil ihnen so ein „kleines Tröpfchen virtueller Existenz, der Bestätigung der Existenz“ („маленькой толики виртуального существования, подтверждения существования“, IIU, 298) fehlen würde. Vor diesem späteren Text gelesen, lassen sich die Grafiki als ein zoegraphisches Sozialexperiment beschreiben: Notiert werden hier keine Menschen, sondern „Überschneidungen von Vornamen und Daten“, virtuelle Punkte der Existenz.

30 Vgl. Obermayr, Brigitte: „Date Poems, oder: Lyrik, die zur Sache geht“, in: Obermayr 2013b, 162– 209; 195. 31 Die Bibliographie (Dobrenko et al. 2010) verzeichnet drei „Sammlungen“ („nabory“) und neun mit Monatsangaben versehene Zyklen, die einen Zeitraum vom November 1993 bis November 1994 umfassen, wobei der Band März-Februar 1994 auch fiktive Daten wie 1995 und 1944 enthält und so eine faktographische Illusion problematisiert. Herausgeberin Brigitte Obermayr lagen nur zehn Bände vor (vgl. Obermayr 2013a, 195). In der Ausgabe von 2013 sind eine Auswahl von Verstexten und sechs preduvedomlenija abgedruckt (SoSo 2, 378–386). Die ‚grafiki‘ im Titel können als ‚grafik‘ (‚Diagramm‘) sowie als Verkleinerungsform von ‚graf‘ (‚Graph‘), aber auch generell als ‚kleine‘ Einheiten der Schrift (graphe) interpretiert werden. 32 Im Band August-September 1994 scheint der Gattungskonflikt einen Kompromiss im Begriff „Tagebuch­notizen“ erreicht zu haben: „Auch diese Tagebuchnotizen sind wie die geschrumpften Häute der lebendigen Tierchen der Erfahrungen und des Seins.“ („Даже эти дневниковые записи – как съежевшиеся [sic] шкурки живых зверей переживаний и бытия.“) 33 Prigov, Dmitrij A.: Grafik peresečenija imen i dat. Pervyj nabor, Typoskript, Moskva, 1993.



Lebensdaten: Selbstbilanz zwischen Prosa und Poesie 

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Hinter der ironischen Wissenschaftlichkeit eines Titels wie Diagramm der Überschneidung von (Vor-)Namen und Daten verbirgt sich ein unmögliches Experiment – eine unpersönliche Form des authentischen Erlebens zu beschreiben. In ähnlicher Terminologie wird das persönliche Erlebnis im Zyklus Ličnye pereživanija (Persönliche E ­ rlebnisse, 1982) als ein „Aufeinandertreffen“ („vstreča“) von Diskursen definiert. In Obermayrs Worten bereitet Prigov damit den Weg für ein Treffen, ein „Date“ zwischen Lyrik und Prosa (Obermayr 2013a, 181). Daten können so als Scharnierstellen zwischen lyrischem Erleben und autobiographischem Schreiben fungieren. Obermayr spricht von „Verfahren der prosaisierenden Umwertung der semantischen Verhältnisse zwischen Versform und prosaischen Realien innerhalb der lyrischen Texteinheit“ (ebd.). Die Konversionen oder Konvertierungen, um die es in Prigovs Texten geht, finden zwischen Vers und Prosa statt. Umso mehr leuchtet dieses Verfahren ein, wenn man in Betracht zieht, dass ‚Vers‘, ‚Prosa‘ und ‚Konversion‘ die lateinische Etymologie des (Um-)Wendens gemeinsam haben. Schon in den 1970er Jahren hat Prigov in Titeln wie Distrofiki (1974–1975) die Ambivalenz zwischen poetologischen („Zweistropher“) und wissenschaftlichen Termini („kleine Dystrophien“) ausgespielt. Nach der Jahrtausendwende nähert sich Prigov dem Prosatagebuch weiter an, ohne jemals eines zu führen. Es entstehen Gedichtstrophen, über denen Daten stehen. Sie suggerieren damit ein Schreibdatum, eine Referenz des Untenstehenden auf datierbare Erlebnisse.34 Die diaristische Qualität der Lyrik selbst hat Prigov in einem späten Zyklus behandelt: Nekaja dnevnikovost’ čto li (Eine Tagebuchartigkeit oder so, 2006) ­bestimmt das Verhältnis zwischen Lyrik und zeitgenössischer Tagebuchprosa. Obwohl die Lyrik ihre soziale Wirksamkeit weitgehend verloren habe, sei es der intime Charakter ihrer intensiven Kommunikation, der sich in den Textformen des Internets in neuer Form präsentiere.35 Prigov verzichtet in seinem Zyklus auf Datumsangaben, auf die Mischform des poetischen Tagebuchs, und demonstriert stattdessen das Diaristische („dnevnikovost’“), die intime Kommunikation der Lyrik sui generis.

34 Rainer Grübel spricht im Zusammenhang mit diesen Texten von einem „poetischen Tagebuch“, allerdings ohne zu bestimmen, ob es sich dabei um eine generelle Qualität von Prigovs täglicher Schreibarbeit oder spezielle Datums-Texttypen handelt; Grübel, Rainer: „Poėtičeskij dnevnik Dmitrija Prigova: samozaščita ot istorii“, in: Štal’, Chenrike / Ruts, Marion [Stahl, Henrieke / Rutz, Marion] (Hg.): Imidž, dialog, ėksperiment. Polja sovremennoj russkoj poėzii, München [u. a.]: Sagner, 2013, 323–346. Obwohl der Aufsatz den Begriff im Titel trägt, wird das „poetische Tagebuch“ nicht definiert und der Begriff erst am Schluss erwähnt. Grübel bezieht sich dabei auf einen Eintrag auf der Website prigov.ru, der eine mit Datum überschriebene Gedichtstrophe enthält (Grübel 2013, 345 f.). Ihre Herkunft ist jedoch unklar, denn der Titel Voznesenie, den Grübel angibt, bezieht sich auf den Text zu Prigovs letzter Performance auf der gleichen Seite, nicht aber auf die darunter ohne Struktur angeordneten Verse. 35 Prigov, Dmitrij A.: Nekaja dnevnikovost’ čto li, Typoskript, Moskva, 2006. Man denke dabei insbesondere an das in der russischen Netzwelt verbreitete Portal Živoj žurnal (engl. LiveJournal, wörtlich „lebendiges“ Tagebuch). Vgl. dazu Schmidt, Henrike: Russische Literatur im Internet. Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda, Bielefeld: Transcript, 2011, 126–138.

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

Das Tagebuch hat gleichwohl eine Qualität, die weder der Lyrik noch dem Erzählen eigen ist: Es besitzt die Struktur einer Liste von Einträgen. Diese Enumerativität inszeniert der umfangreiche Zyklus Mesjac kvazižizni (Monat eines Quasilebens, 1987, siehe Abb. 7–12). Die Arbeit steht an der Kreuzung zwischen Prigovs Alphabet- und Zahlentexten. Das lässt sich bereits aus dem Untertitel ersehen: „sredi azbuk značitsja pod No. 62“ („in den Alphabeten unter Nummer 62 aufgeführt“). Das klingt so, als gehöre der Zyklus seinem Wesen nach nicht zur Serie der Alphabete und müsse ihnen daher mit Nachdruck zugeordnet werden. Das titelgebende „Quasileben“ wird im preduvedomlenie als rituelle Struktur des Dichteralltags definiert: Месяц, прожитый мной в писании этого сборника, в сущности, является обычным месяцем моей жизни и писания, возведшим принцип ритуализированного природно-ритмического жизнепроявления в пределах урбанистической культурной жизни в некий пр[о]являющийся архетип наступающего эона. […] Чтобы как-то пояснить мое положение между стихом и суточным циклом, замечу, что, скажем, если утреннее стихотворение не было написано до 19.00 часов, то утро и длилось для меня до 19.00 часов, вернее, стихотворение, рождение стихотворения, и было утро.36 Der Monat, den ich beim Schreiben dieses Sammelbandes gelebt habe, ist seinem Wesen nach ein gewöhnlicher Monat meines Lebens und Schreibens, der das Prinzip ritualisierter natürlichrhythmischer Lebensäußerung zu einem sich auf gewisse Weise zeigenden Archetyp eines kommenden Äons erhoben hat. […] Um meinen Standort zwischen Vers und Tageszyklus etwas verständlicher zu machen, möchte ich anmerken, dass, sagen wir, wenn das morgendliche Gedicht bis 19 Uhr nicht geschrieben war, der Morgen für mich dann auch bis 19 Uhr dauerte, besser gesagt, das Gedicht, die Geburt des Gedichts, war der Morgen selbst.

Das Ritual besteht nicht in einer Synchronisation von Lebens- und Schreibzeit. Es besteht auch nicht in Schreibregeln fürs „ganze Leben“, wie sie der junge Tolstoj dokumentiert hat. In einem Eintrag in seinem Žurnal slabostej (Tagebuch der Schwächen) aus dem Jahr 1850 heißt es: Хотелось бы привыкнуть определять свой образ жизни вперед, не на один день, а на год, на несколько лет, на всю жизнь даже; слишком трудно, почти невозможно.37 Ich würde mich gerne daran gewöhnen, meine Lebensweise im Voraus zu bestimmen, nicht für einen Tag, sondern für ein Jahr, für ein paar Jahre, das ganze Leben sogar; zu schwierig ist das, geradezu unmöglich.

36 Prigov, Dmitrij A.: Mesjac kvazižizni, Typoskript, Moskva, 1987. 37 Tagebucheintrag vom 14. Juni 1850, Jasnaja Poljana, Tolstoj, Lev N.: Dnevnik molodosti L’va Nikolaeviča Tolstogo, T. 1, 1847–1852, hg. v. Vladimir G. Čertkov, Moskva: Sytin, 1917, 37.



Lebensdaten: Selbstbilanz zwischen Prosa und Poesie 

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Während Tolstoj laut Boris Ėjchenbaum sein geistiges Leben „in Regeln zu schmieden“ versucht,38 registriert Prigov die Alltagsroutine lediglich. Ihre Regelhaftigkeit besteht allein in der Sukzessivität, notiert in einer unabänderlichen Abfolge von „Verspositionen“ („stichovye pozicii“). Das sind zeitliche Positionen der täglichen Versproduktion, die mit Text zu füllen sind, aber auch leer bleiben können. Die Positionen sind als Abschnitte mit einer Ordnungszahl und einem Buchstaben überschrieben, die ­jeweils Tageszeiten (morgens bis nachts mit 1 bis 4) und Monatstage bezeichnen (7. ­Dezember 1986 bis 5. Januar 1987 mit a bis ja). Die Struktur eines Tages ist so in ­jeweils vier Positionen aus Zahlen und Buchstaben gegliedert, wobei manche unausgefüllt bleiben und nur Tageszeit und Datum enthalten. Mit 29 Buchstaben sind 29 Tage datiert, und so bleibt beim letzten Buchstaben mindestens ein Tag des Monats nicht erfasst. Bei der dritten Position des letzten Buchstabens „ja“ schießt das Aufzählen der Daten weit übers Ziel hinaus, nunmehr im Modus der Katastrophe. Wie in anderen Alphabetzyklen treten mit dem letzten Buchstaben Zerstörung oder Verschwinden der Welt ein. Das in Mesjac kvazižizni überwiegend weiblich auftretende lyrische Ich (homophon mit dem letzten Buchstaben „ja“) vergleicht sich mit der Weltgeschichte und besingt, wie sich die blendende Gestalt der Gloria erhebt und alles „zu Tode verdunkelt“ („насмерть затмевает“). Davon sind alle folgenden und vorausgehenden Daten betroffen: И утро, день, вечер, ночь шестого января / 1987 года / И седьмого и восьмого, девятого, десятого января / 1987 года / И февраль, март, апрель, май, июнь, июль, август, сентябрь / 1987 года / 1988 год, 1989 год, и 1990 год, и 2000 год, и 3000 год, и 4000, и 4000 до нашей эры, и назад, и вперед, и навсегда и повсюду, и все-все-все (Prigov 1987) Auch Morgen, Tag, Nacht des sechsten Januars / 1987 / Und des siebten und achten, neunten, zehnten Januars / 1987 / Und Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, August, September / 1987 / 1988, 1989, und 1990, und 2000, und 3000, und 4000, und 4000 vor unserer Zeitrechnung, und zurück, und vor, und für immer und überall, und alles, alles, alles

Das „Quasileben“ ist nicht an die Daten eines menschlichen Lebens gebunden, die Zahlenreihe hat keine positive oder negative Begrenzung. Wenn das Prinzip der Enumeration über das Prinzip des Alphabets die Oberhand gewinnt, gibt es keine End­ position mehr, wie das in den Azbuki beim letzten Buchstaben ja der Fall ist. Das neue Prinzip des (Auf-)Zählens wird bereits in einem früheren Alphabet­ gedicht sichtbar. Pjat’desjataja Azbuka (minut na sorok) (Fünfzigstes Alphabet [für vierzig Minuten], 1993) zählt die gesamte Menschheit auf. Die Ordnungszahlen stehen hier jeweils vor den Absätzen, in denen Buchstaben nur unregelmäßig auf­treten, das alphabetische Ordnungsprinzip zum Rudiment geworden ist. Der erste Mensch sagt

38 „Свою душевную жизнь Толстой старается заковать в правила“, Ėjchenbaum, Boris M.: Molodoj Tolstoj, Peterburg/Berlin: Izdatel’stvo Z. I. Gržebina, 1922, 17.

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

Abb. 7–12: Typoskriptheft des Zyklus Mesjac kvazižizni (Ein Monat Quasileben, 1987), Seiten 1–4 und 44 f.

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„A“, die Aufzählung geht bis 238 und springt dann zu Mensch Nummer Viermilliarden­ undeins. Er sagt „ja“ – und der Text bzw. die Aufführung ist zu Ende.39 Man könnte grob von einer Verknüpfung zwischen lyrischem Ich und Buchstaben auf der einen Seite und prosaischem Ich und Zahlen bzw. Ziffern auf der anderen sprechen. Die Tendenz zur Prosaisierung in Prigovs Werk ab Mitte der 1990er lässt sich dann mit der Beziehung des Ichs zu Buchstaben und Zahlen erklären: Während das lyrische Ich qua Homophonie bzw. Ambivalenz zwischen Pronomen und Buchstaben („ja“) selbst Teil des Alphabets ist und aus dem ordnenden Zeichensystem heraus spricht, gibt es bei Zahlen keine solche notwendige Verbindung. Als Beleg kann einer der meistzitierten Konvertierungstexte dienen: In Stratifikacii (Stratifikationen, 1995) werden verschiedene Phänomene mit Dezimalzahlen gegeneinander aufgerechnet. Wenn in einer Reihe mit den „Verdiensten“ verschiedener Nationalliteraturen die russische auf 1 angesetzt wird, beziffert sich das Ich auf 0,31 (vgl. IIU, 6). Hier besteht eine Dissonanz zu den mathematischen Utopien der Avantgarde: Während etwa Zamjatin und Chlebnikov mit der imaginären Zahl √−1 etwas Jenseitiges ver­ binden,40 gibt es bei Prigov keine Zahl, mit der das Ich mythologisch konnotiert sein kann. Er führt nur Ziffern auf, die höher oder niedriger ausfallen können, für phantastische oder unnatürliche Phänomene auch negativ. Immer wieder benutzt Prigov für das Ich die Metapher des Kreuzungspunkts bzw. des Koordinatensystems, in dem Kategorien und Phänomene nach bestimmten axiologischen Maßstäben beziffert werden. Schon seit Beginn von Prigovs Projekt steht das alphabetische Ordnungsschema der Verse in Konkurrenz zum Prinzip der Textnummerierung. Nun werden die Zahlen ein eigenständiger Faktor. Bis Ende der 1990er entsteht ein umfangreiches Konvolut an Zahlen-, Listen- und Konversionstexten. Während in Mesjac kvazižizni die Elemente der Liste noch „Verspositionen“ sind, bestehen die neuen Texte gewissermaßen aus Prosapositionen. Die Nummerierung hat hier kein Gewicht mehr, Enumeration, Berechnung und Bezifferung dagegen umso mehr. Der Aspekt der Bezifferung des Lebens steht im Zentrum des Zyklus Daty roždenija i smerti (Geburts- und Todesdaten, 1999). Nicht Zahlen-, sondern Ziffernmagie ist hier am Werk. Prigov listet kontingente Geburts- und Todesdaten auf, Ziffern, aus denen sich keine Sinnhaftigkeit ableiten lässt. В цифрах всегда таилась магия. Тем более в таких экзистенциально основополагающих, как даты рождения и смерти. Почему, кем и зачем они определены именно такими? Могли бы быть они иными? Могли бы мы своими поступками как-то повлиять на их расстановку? кем мы были бы, родись мы до своего рождения? что бы делали мы после даты своей смерти, то есть в посмертной жизни?  – все эти вопросы вечно волновали и еще долго будут, до полной отмены рождения и смерти, волновать человека. А что мы можем

39 Prigov, Dmitrij A.: Pjat’desjataja Azbuka (minut na sorok), Typoskript, Moskva, 1985. 40 Vgl. dazu Niederbudde, Anke: Mathematische Konzeptionen in der russischen Moderne. Florenskij – Chlebnikov – Charms, München: Sagner, 2006, 50–61.



Lebensdaten: Selbstbilanz zwischen Prosa und Poesie 

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ответить на эти вопросы сверх уже имеющихся ответов? – ничего. Только обозначить их в их ноуменальной полноте и значимости, тем самым как бы придвинув к границе их тайны. (IIU, 290 f.) In den Ziffern lag immer schon eine Magie. Umso mehr in solchen existentiell grundlegenden wie den Geburts- und Sterbedaten. Warum, durch wen und wozu sind sie als solche bestimmt? Könnten sie auch andere sein? Könnten wir durch unsere Handlungen irgendwie auf ihre Verteilung einwirken? Wer wären wir, wären wir vor unserer Geburt geboren? Was würden wir nach unserem Sterbetag tun, im Leben nach dem Tode also? All diese Fragen haben den Menschen ewig beschäftigt und sie werden es noch lange tun, bis zur vollständigen Abschaffung von Geburt und Tod. Und was, über die schon vorhandenen Antworten hinaus, können wir auf diese Fragen antworten? Nichts. Wir können sie nur in ihrer ideellen Fülle und Bedeutsamkeit bestimmen, und uns so sozusagen an die Grenze ihres Geheimnisses vorwagen.41

Prigovs Konzept der Lebensdaten bzw. Lebensziffern versucht nicht, eine Grenze ­zwischen asemantischer Ziffer und symbolischer Zahl zu überschreiten. Nicht Transgression der Grenze zwischen Leben und Tod, sondern Transkription der Lebensdauer ist hier das Motto. Im Gegensatz zu Chlebnikov, der aus historischen Daten Gesetz­ mäßigkeiten berechnet, gleitet Prigovs Enumeration über die Lebensdaten historischer Figuren scheinbar achtlos hinweg: Я родился давно Правда, многие родились до меня А многие и после меня появились И в 41, 42, 43, 44, 45 и 55 и 56 и 57 и 67, 68, 77, 87, 88, 89, даже 95 Есть даже родившиеся в 1999 году Очевидно, будут, думается, и в 2000, 2001, 2002, 2003, 2004, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 20, 40, 41, 56, 66, 76, 88, 99 и даже в 2025 году И были ведь родившиеся и в 1820, но они умерли в 1870 Были родившиеся в 1801, но они умерли в 1850 Были родившиеся в 1799, но они умерли в 1837 Но были родившиеся в 1799, но умерли в 1838, 1839, 1840, 50, 53, 60, 64, 67, 80 и даже в 1900 А говорят, родятся (может и врут) в 3002, 3003, 3004 и в 5, и в 7, 11 20, 31, 41, 44, 45 и 98 Но вот если родятся в 3098, то, может, и не помрут уже, и в 4037, 4038, 4059, 4085, 4097, и в 5011, 5035, 5049, 5088, 6013, 6077, а может, и вовсе не будут знать, что такое смерть А может, и не будут знать уже, что такое рождение Все может быть (IIU, 291) Ich wurde vor langem geboren Natürlich wurden viele vor mir geboren Und viele sind auch nach mir aufgetaucht Auch im Jahr 41, 42, 43, 44, 45 und 55 und 56 und 57 und 67, 68, 77, 87, 88, 89, sogar 95

41 Übersetzung nach Obermayr, Brigitte: „Tod und Zahl. Transitive und intransitive Operationen bei Velimir Chlebnikov und Dmitrij Prigov“, in: Wiener Slawistischer Almanach 56 (2005), 211–285; 213.

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

Es gibt sogar solche, die 1999 geboren wurden Offensichtlich werden auch, sollte man denken, 2000, 2001, 2002, 2003, 2004, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 20, 40, 41, 56, 66, 76, 88, 99, und sogar 2025 geboren werden Und es gab doch auch solche, die 1820 geboren wurden, aber die starben 1870 Es gab 1801 Geborene, aber sie starben 1850 Es gab 1799 Geborene, aber sie starben 1837 Aber es gab 1799 geborene, die aber 1838, 1839, 1840, 50, 53, 60, 64, 67 80, und sogar 1900 starben. Und man sagt (kann sein, dass das gelogen ist), es werden welche 3002, 3003, 3004, und 5 und 7, 11, 20, 31, 44, 45, 59 und 98 geboren werden Aber wenn sie 3098 geboren werden, kann doch sein, dass sie schon 4037, 4038, 4048, 4059, 4085, 4097 und 5011, 5035, 5049, 5088, 6013, 6041, 6077 sterben werden, es kann aber auch sein, dass sie überhaupt nicht wissen, was Tod überhaupt ist Und es kann sein, dass sie auch nicht wissen, was Geburt ist Alles kann sein42

Die anfängliche Leerstelle ersetzt das Geburtsjahr 1940, das hier lediglich als „lange her“ („davno“) beschrieben wird. Die Zahl setzt eine Reihe („41, 42, 43, 44“) in Gang, ohne selbst genannt zu werden. Die Lebensdaten Puškins 1799 und 1837 werden nicht als mythologisch beladene Zahlen, sondern als Ziffern mit vertauschbaren Stellen ­behandelt. Das ist nur die erste Stufe der Kontingenzmarkierung, die sich auf einen konkreten Menschen bezieht. Anschließend geht es um die Gattung Mensch: Nachdem die Jahreszahlen in die Zukunft gerauscht sind, werden auch die Bedingungen von Geburts- und Todesdaten in ihrer Kontingenz sichtbar. Lebensdaten sind auch ohne die kulturell definierten Ereignisse von Geburt und Tod denkbar. Selbst wenn das Leben in einer „neuen Anthropologie“ anders beginnt und endet, ist es bezifferbar. In den kleinen Tagebuchformen scheint die Serialität bereits angelegt, die die Struktur der Romane Moskau und Japan prägt. Sie reihen das Ich in Serien ein. Im nächsten Teilkapitel soll es um die Positionalität und Relationalität des Ichs in solchen Listen, Reihen, Berechnungen oder (Selbst-)Konvertierungen gehen.

7.2.2 Experimente der Selbstobjektivierung zwischen Vers und Prosa Die Berechnungs- und Konvertierungstexte sind antinarrative Prosa. Sie erzählen keine Ereignisse, sondern spekulieren über mögliche Operationen und ihre Folgen – nach dem Schema ‚wenn man X tut, dann passiert Y‘. Sie sind nicht biographisch, sondern allenfalls bioprogrammatisch. Es gibt allerdings einige Texte, die diesem Schema nicht entsprechen. Prigov stellt eine ganze Reihe von Todes-Listen auf: Moj spisok umeršich (Meine Liste der Gestorbenen, 1994), Spisok sobstvennych umiranij (Liste der eigenen

42 Übersetzung nach Obermayr 2005, 215.



Experimente der Selbstobjektivierung zwischen Vers und Prosa 

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Tode, 1999); Kogo ja chotel ubit’ v raznye svoi vozrasta (Wen ich in meinen verschiedenen Altern töten wollte, 1997); Kabbalističeskie študii (Kabbalistische Studien, 1997); Desjat’ pokojnikov, kotorye ja znal pri žizni (Zehn Verstorbene, die ich zu Lebzeiten kannte, 1997); Spisok nabljudenij (Liste von Beobachtungen, 1998). An diesen Texten ist einiges anders: Sie stehen im Präteritum, sie listen Ereignisse auf, ohne sie miteinander zu vergleichen oder mittels poetischer Algorithmen ineinander zu übersetzen. Der Tod scheint das einzige Ereignis zu sein, das sich nicht konvertieren lässt – zumindest unternimmt Prigov keine derartigen Versuche. Sehr wohl stellt er sich aber dem Problem, das Ich zum Tod in Beziehung zu setzen. Diese Relationalität trägt der Zyklus Pri mne (Unter mir, 1995) bereits im Titel. Dieser Text listet Ereignisse, darunter auch zahlreiche Tode auf, die zu ‚meiner‘ Zeit geschehen sind. Die Präposition „pri“ lässt sich auf verschiedene Weise verstehen: Alltagssprachlich meint die Formel entweder die persönliche Anwesenheit oder den Zeitraum einer Herrschaftsära (z. B. „pri Staline“). Der Titel hat damit nicht nur eine Ebene poetischer Präsenz, sondern auch eine Ebene politischer Repräsentation. „Pri“ ist zudem phonetischer Bestandteil von „Prigov“ (wie bereits in Kap. 7.1.1 zur Semantik von Gesetz und Urteil, „prigovor“, gesehen). Das indirekte ‚Dabeisein‘ oder ‚-leben‘ ist also mit dem Namen untrennbar verbunden. Im Titel steht das Ich im Präpositiv („mne“). Das Pronomen steht nicht nur grammatikalisch in einer bestimmten Position zum Anderen und sich selbst. Grammatik bezeichnet Prigov an anderer Stelle im Sinn der antiken Disziplin als „Regeln für die Kombinationen und die Erzeugung von Kombinationen bestimmter in der Kultur fixierter Elemente“ („правил сочетаний и порождения сочетаний неких фиксированных в культуре элементов“).43 Die poetische Grammatik des Ichs wird im preduvedomlenie von Pri mne bestimmt als „ein universeller operativer Schnittpunkt gewisser Koordinaten“ („некая универсальная операциональная точка пересечения неких координат“, IIU, 309). Die Liste enthält verstorbene Staatsleute, Kriege, untergegangene Imperien, Tode berühmter Menschen, Künstlerkarrieren, wissenschaftliche Entdeckungen, Gefühle, Krankheiten, politische und künstlerische Ismen. Nicht nur alles Aufgezählte war „praktisch unvermeidlich“ („все-все-все-все-все / При мне было, практически, неминуемо“, IIU, 315), sondern: „Auch ich war unter mir praktisch unvermeidlich“ („И я был, практически, при мне неминуем“, ebd.). Was macht diese ins Tautologische mündende Bilanz kommunikativ ergiebig? Es ist zweifellos der Aufwand, die verschwenderische rhetorische, poetische und prosaische Ökonomie. Ein Experiment der Alltagsbilanz zeigt, in welchem ökonomischen Zusammenhang das Ich und das Leben stehen. In Rasčety s žizn’ju (Abrechnungen mit dem Leben, 1995) werden die Preise von in Museumscafés eingenommenen Mahlzeiten mit dem Wert der Erfahrung verrechnet. So lässt sich eine universelle Konvertibilität des Lebens mittels Geld postulieren:

43 Prigov, Dmitrij A.: Tri grammatiki, Moskva: Logos-Al’tera, 2003, 9.

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

Если отнестись к ним [деньгам, P. K.] как к генеральному мировому медиатору (наподобие средневекового алхимистического камня), то жизнь предстанет нам тотально конвертируемой и совсем в иных стоимостно-оценочных категориях. Жизнь станет на твердое основание. Все станет на свои места. (IIU, 10 f.) Wenn wir uns ihm gegenüber [dem Geld, P. K.] wie gegenüber einem generellen Weltmediator (ähnlich einem alchemistischen Stein im Mittelalter) verhalten, dann wird uns das Leben total konvertierbar und in völlig anderen Preis- und Wertkategorien erscheinen. Das Leben wird auf festem Grund stehen. Alles kommt in Ordnung.

Wie lässt sich das ‚Leben selbst‘ zu einer konvertierbaren Einheit machen? Es wird nicht verwundern, dass Prigov zur Lösung dieser Aufgabe keine komplexe Formel, sondern eine höchst alltägliche Methode wählt – die Auflistung von Aufwendungen des Alltags. Obermayr hat das Verhältnis zwischen Aufzählen und Erzählen in diesem lebensökonomischen Text auf den Punkt gebracht: „Prigov hat eine sehr unökonomische Weise der Haushaltsbuchführung gewählt. In ihr überschneidet sich Finanzbuchhaltung mit Tagebuchführung, Rechnen, Aufzählen und Erzählen werden eine Einheit, führen zur Schriftfülle, zur Buchfüllung“ (Obermayr 2005, 241). Der scheinbar faktographische Notiz-Text Rasčety s žizn’ju steht einer Fülle von Texten gegenüber, deren Objekte nicht notierbar sind, weil sie nicht auf Alltagserfahrung beruhen. Es ist keine biographische, sondern spekulative Prosa. Časy i gradusy (Stunden und Grade, 1997) basiert auf der Spekulation, welche Zeit und Temperatur zum Einfrieren von Phänomenen nötig seien. Das Ich führt hier den Tod gewissermaßen als Rechenergebnis eines Tests herbei. Nach einer „existenziellen Isometrie“ („ėkzistencial’noj izometrii“) wird so Materielles (Menschen, „Etwas“) und Immate­ rielles (Wörter) eingefroren und ihre „Überlebensrate“ oder „-wahrscheinlichkeit“ („vyživaemost’“) beziffert. Jenseits dieser Grenze würden die Phänomene aus der „Zone unserer Beobachtungsmöglichkeiten“ („zony našich vozmožnostej nabljudenija“) verschwinden und in anderen Dimensionen weiterexistieren. Dieses Jenseits ist jedoch nicht Gegenstand des Experiments (vgl. IIU, 95 f.). Pereščety vremeni (Umrechnungen der Zeit, 1997) nimmt Umrechnungen von Zeit auf andere Parameter vor. Dabei verwandelt der Text rhetorische Figuren in quantifizierbare buchstäbliche ­Aussagen. So wird etwa die „Schwere des Lebens“ berechnet: Aus einer näherungsweise bestimmten Zahl aller von Menschen gelebten Minuten und dem geschätzten Gewicht eines archetypischen Menschen wird bestimmt, was es heißt, wenn dieser „Archimensch die gesamte Schwere des Lebens auf sich nimmt“ („архичеловека, принявшего на себя всю тяжесть жизни“, IIU, 105). Der Text Prorastanie aksiologij (Das Anwachsen der Axiologien, 1998) postuliert eine körperliche Bedingtheit von Wertsystemen: Мы обнаруживаем, что как разрушение предыдущих аксиологий, так и возникновение новых тесно связано с неким особым режимом телесного положения и самоощущения, что и приводит к результату. (IIU, 229)



Experimente der Selbstobjektivierung zwischen Vers und Prosa 

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Wir stellen fest, dass die Zerstörung vorheriger Axiologien sowie die Entstehung neuer eng verbunden mit einem besonderen Regime körperlicher Lage und Selbstempfindung ist, was schließlich auch zu diesem Ergebnis führt.

Es folgen neun Beschreibungen physischer Lageveränderungen, die sich wie Trainingsanleitungen oder Performance-Szenarien lesen, darunter etwa: Если беспрерывно падать и подниматься, теряется ощущение смысла, но возрастает ощущение обратимости времени и пространства. (IIU, 230) Wenn man ununterbrochen hinfällt und aufsteht, geht das Gefühl für Sinn verloren, doch es wächst das Gefühl für die Umkehrbarkeit von Zeit und Raum.

Dass es hier Körperpositionen sind, die Wertpositionen beeinflussen, deutet auf eine grundsätzliche Ambivalenz oder ein Oszillieren der Konversion zwischen mathema­ tischer Umwandlung und buchstäblicher Umdrehung.44 Das gilt auch für den Begriff der Position. Der Text Pozicii (Positionen, 1997) spricht etwa über Zahlen im Sinne numerischer Positionen wie über Menschen. Er beurteilt und bewertet ihr Aussehen, ihre Zusammensetzung aus Ziffern. Während in Mesjac kvazižizni die „Verspositionen“ noch im Zusammenhang einer Abfolge, eines Tagesrhythmus standen, geht es hier um die Position schlechthin: Говорится о позиции как таковой, чистой, самодостаточной, само-, так сказать, удовле­ творяющей и удовлетворяющейся, то есть позиции, как она открыта не претендующему на нее. (IIU, 80) Die Rede ist von der Position als solcher, der reinen, selbstgenügsamen, selbst-, sozusagen, befriedigenden und sich befriedigenden, also von einer Position, wie sie dem offensteht, der keinen Anspruch auf sie erhebt.

In den Konvertierungs- und Zahlentexten löst die „Position als solche“ das futuristische „Wort als solches“ („slovo kak takovoe“45) ab. Das Wort wird bei Prigov radikal entwertet. Witte bezeichnet das als den Effekt einer „semiotischen Inflation“ (Witte 2001, 210). Während die Avantgarde das Wort durch Re-Etymologisierung und -Ikonisierung entarbitrarisiert hat, maximiert Prigov die Arbitrarität: „Wenn sich alles miteinander auswechselt, dann ‚entspricht‘ sich im magischen Sinne nichts mehr“ (ebd.). Witte vermutet:

44 Das Motiv des physischen Drehens und Wendens („vraščenie“) korreliert in Renat mit dem Thema von Verwandlung und Umwandlung („prevraščenie“). 45 Kručenych, Aleksandr / Chlebnikov, Velimir [1913]: „Slovo kak takovoe“, in: Markov, Vladimir (Hg.): Manifesty i programmy russkich futuristov. Manifeste und Programmschriften der russischen Futuristen, München: Fink, 1967, 53–58.

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

Vielleicht mußte die Poesie wirklich erst bei nullsemantischer Zahl und nullsemantischem Buchstaben ‚ankommen‘, um den Tausch der Signifikanten in radikalerer Weise als in der bloßen Entgrenzung des assoziativen Potentials zu betreiben. (Witte 2001, 213)

Die „Position als solche“, die sich zu nichts und niemand positioniert, hat ihre Körperlichkeit nicht eingebüßt (sie „befriedigt“ sich schließlich selbst, s. o.). Nicht nur die Texte vollziehen einen Tausch zwischen dem Abstrakten und dem Materiellen. Auch die Begriffe, die für diesen Tausch zum Einsatz kommen, besitzen diese Ambivalenz (Position, Operation, Konversion, Gliederung). In den Konvertierungstexten tritt die Frage in den Vordergrund, auf welchen anthropologischen Voraussetzungen das Funktionieren bildlicher Sprache beruht. Sie erkunden die Grenzen der Konvertibilität von Metaphern, die Konvertibilität von Abstraktem in Konkretes, von Figurativem in Buchstäbliches. Die Relationalität des Prigovschen Ichs führt Sprünge zwischen virtuellem Leben und an Körper, Zeit und Raum gebundenem Leben vor. Der rhetorische Mechanismus, der die Umwertung, Umrechnung, Umbenennung von Geistigem in Körperliches ermöglicht, wird im Zyklus Operacii (Operationen, 1996) erklärt: В нашем случае операции по преобразованию одного в другое, при сохранении преобразуемого субъекта хотя бы в критически-минимальном объеме в субъекте преобразованном, являются описанием разложенного как бы во времени, постадийно, аналога метафоры. (IIU, 131) In unserem Fall dienen Operationen der Umwandlung von einer Sache in eine andere – wobei das umzuwandelnde Subjekt im umgewandelten Subjekt wenigstens zu einem kritisch-minimalen Anteil erhalten bleibt – als Beschreibung eines gleichsam zeitlich, in Stadien zerlegten Analogons zur Metapher.

Wenn die Metapher eine Übertragung zwischen räumlichen Bereichen leistet, verläuft die Umwandlung durch die „Operation“ in der Zeit. Die im Zyklus demonstrierten Operationen sind Wort-Sektionen, die durch Umstellung und Kombination der Buchstaben andere Signifikanten ergeben: Как преобразовать кролика в орла? Очень просто, посредством всего трех операций: 1. Сокращаем необщее, оставляя лишь, общее, получаем – РОЛ и ОРЛ. 2. Делаем перестановки, сводя РОЛ к ОРЛ, или ОРЛ к РОЛ. Добавляем недостающее и получаем либо два кролика, либо два орла, либо орла из бывшего кролика и кролика из бывшего орла. (IIU, 132) Wie wandelt man einen Feldhasen in einen Adler um? Ganz einfach, mittels dreier Operationen: 1. Wir lassen weg, was sie nicht gemeinsam haben, und behalten, was sie gemeinsam haben, bekommen ELD und DLE heraus. 2. Wir nehmen Umstellungen vor, indem wir ELD zu DLE machen, oder DLE zu ELD.



Experimente der Selbstobjektivierung zwischen Vers und Prosa 

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Wir fügen das hinzu, was noch fehlt, und bekommen entweder zwei Feldhasen oder zwei Adler heraus, oder einen Adler aus einem ehemaligen Feldhasen und einen Feldhasen aus einem ehemaligen Adler.

Als seien Buchstaben DNA-Bausteine, lassen sich Lebewesen in ihre Bestandteile ­zerlegen und qua Rekombination in andere verwandeln. Was für eine historische ­Koinzidenz: Im Geburtsjahr von Klonschaf Dolly wird ein Kaninchen („krolik“) zu einem Adler („orel“) umoperiert – wohlgemerkt von einem russischen Dichter, der die Wortverschiebungs-Poetik der Avantgarde nach dem Prinzip von Gensequenzen ­banalisiert. Im Gestus eines theurgischen Schöpfers im Zeitalter des Bioengineering leitet er die Operationen an, überwacht sie und präsentiert mit mathematischer ­Evidenz, was „man herausbekommt“. Doch es kommt nichts anderes heraus als ein neues Wort. Hier wird nichts erschaffen. Es werden lediglich Programme getestet. In den Konvertierungstexten behält sich das Ich vor, die Programme der Operationen zu verändern, zu unterbrechen oder abzubrechen. Es besetzt damit eine Position, die aus dem Relativismus des „totalen Tauschs“ (Witte 2001) ausgenommen scheint. Im Strom der Relationen behauptet das Ich einen Widerstand: Es schließt sich zwar in die Kalkulationen ein, lässt sich aber nicht herauskürzen. Es bleibt ein operatives Zentrum, ohne das ein Projekt einer ‚allumfassenden‘ Taxonomierung nicht denkbar ist. Man könnte demnach von einem autoenzyklopädischen Projekt sprechen, das Prigovs Werk begleitet und das sich von den Alphabettexten auf die Zahlen- und Berechnungstexte ausweitet. Hier knüpft Prigov Ende der 1990er an die Prosa von Jorge Luis Borges an. Podrobnosti podrazdelenij (Details der Unterteilungen, 1998) bezieht sich explizit auf die chinesische Enzyklopädie aus Borges’ Text El idioma analítico de John Wilkins (Die analytische Sprache von John Wilkins, 1942). Im Gegensatz zu dessen „paradoxer Leichtigkeit der Kombination des scheinbar nicht Kombinierbaren“ („парадоксальной легкостью сочетания бы несочетаемого“46) liegt bei Prigov die Betonung auf dem Gewohnten, Alltäglichen: Нет, наш проект сознательно делает установку на усредненное и обыденно[е], а если где и появляются некие знаки и черты слабого парадоксализма, то тут же и тонут в необозримой рутинности, столь покоряющей антропологичности этого успокающего проекта. (Prigov 1998) Nein, unser Projekt richtet sich bewusst auf das Gemäßigte und Alltägliche aus, und sollten sich irgendwo Zeichen und Züge eines schwachen Paradoxalismus bemerkbar machen, dann werden sie auf der Stelle in der unüberschaubaren Routiniertheit ertrinken, der so überwältigenden Anthropologizität dieses beruhigenden Projekts.

Der umfangreiche Zyklus besteht aus Unterteilungen von Lebensformen und Handlungen des Alltags, ausgedrückt in Partizipien:

46 Prigov, Dmitrij A.: Podrobnosti podrazdelenij (1), Typoskript, Moskva, 1998.

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 Konvertierungs- und Stratifikationstexte

Живущие в этом мире подразделяются на живущих просто, живущих в немысленных и обустроенных пространствах[,] живущих по чьей-то воле или по инерции, и живущих самих по себе (Prigov 1998) Die in dieser Welt Lebenden lassen sich unterteilen in einfach Lebende, Lebende in nichtmentalen und eingerichteten Räumen, nach fremdem Willen oder aus Trägheit Lebende, und für sich selbst Lebende

Die Konvertierungs- und Stratifikationstexte gehen von einer scheinbar simplen Paradoxie aus: Das Ich bewertet und konvertiert nicht nur Dinge, sondern bezieht auch sich selbst in den Wertkreislauf ein. Ist das Ich also Subjekt oder Objekt der Texte? Es nimmt eine Selbstobjektivierung vor, deren Kriterien es scheinbar autonom bestimmen und verändern kann. Tomáš Glanc hat die Frage gestellt, welche lebendige Präsenz es sei, die die Texte trotz ihrer scheinbaren Neutralität attraktiv macht. In einem instruktiven, nur als Video publizierten Vortrag beschreibt er die Organisation der Aussagen in den Berechnungstexten mit der Metapher der juristischen Person, wie sie der Finanzmarkt darstellt, der nach der Planwirtschaft das wohl prägende ökonomische Modell für Prigov in den 1990er Jahren ist. Die Börse, eine juristische Person, so Glanc’ Analogie, vereinigt physische Personen in sich, funktioniert aber unabhängig von ­ihnen.47 Bei Prigov sind aufrichtige Aussagen einer lebendigen lyrischen Stimme ­verpackt in einer „korporativen“ Organisation. In der Berechnung und Bewertung von Phänomenen sind sie nicht subjekt-, sondern objektzentriert. Glanc bringt seine „­inszenierte Objektivität“ mit Philosophen der object-oriented ontology wie Graham Harman in Verbindung. In den Akt des universellen Bewertens bezieht sich das Ich mit ein, behält sich aber vor, jenseits der Berechenbarkeit als eine Art Absolutum zu stehen. Witte hat diese Geste als „Paradoxon eines absoluten Relationalen“ bezeichnet (Witte 2001, 213). Ein Wert kann nicht für sich stehen, er ist nur in Bezug auf andere Werte sinnvoll. Im Text Čto by ja s čem sravnil (Was ich womit vergleichen würde, 1999) vergleicht das Ich nicht nur Dinge und Personen miteinander,48 sondern auch sich selbst:

47 Glanc, Tomáš: „Prigov kak inostranec“, Vortrag am 16.10. 2014, Gosudarstvennaja Tret’jakovskaja galereja na Krymskom Valu, Moskva, https://www.youtube.com/watch?v=Y70_BJVP9Hk. 48 „Кашевара я бы сравнил с умным Демиургом или с живородящей рыбой“ („Einen Suppenkoch würde ich mit einem klugen Demiurgen oder einem lebendgebärenden Fisch vergleichen“), Prigov, Dmitrij A.: Čto by ja s čem sravnil, Typoskript, London, 1999. Der „lebendgebärende Fisch“ entstammt Borges’ Enzyklopädie-Text, der in der Sowjetunion bereits im Jahr 1984 in der Übersetzung von Boris Dubin erschien. Auch auf andere Autoren des konzeptualistischen Kreises hatte er eine starke Wirkung. „Lebendgebärend“ ist etwa ein Lieblingswort Vladimir Sorokins, der in seinen Romanen und Erzählungen mit diesem Attribut den Dingen des Alltags eine Art autopoietische agency angedeihen lässt. Es gibt bei ihm lebendgebärende Tapeten und Stiefel (Goluboe salo; Der Himmelblaue Speck, 1999), Samt, Leinen, Haare, eine Peitsche, ein Kästchen und Glas (Ju, 2000), Pelze (Sacharnyj Kreml’; Der Zuckerkreml, 2008) oder Zobel (Manaraga, 2017).



Experimente der Selbstobjektivierung zwischen Vers und Prosa 

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С чем я бы сравнил себя? – себя я сравнил бы со всем! или нет, нет, с чем-то очень частным! нет, нет, с конкретным, но наползающим своими краями на все49 Womit würde ich mich vergleichen? Mich würde ich mit allem vergleichen! Oder nein, nein, mit etwas sehr Privatem! Nein, nein, mit was Konkretem, das aber mit seinen Rändern auf alles draufkriecht.

Die Figur des Ichs als einer privaten, partiellen Instanz wurde in den Romanen bereits ausführlich behandelt. Nun sollte klar geworden sein, wie ihr der Übergang von der Poesie in die Prosa gelungen ist. Im hybriden Experimentierfeld der Konvertierungstexte hat Prigov sie präpariert, um sie in den Romanen narrativ und autobiographisch anzuwenden.

49 Ebd.

8 S  chlussbemerkung: Zoegraphie und Selbstkanonisierung „Prigov ist eine Art Lenin der zeitgenössischen Avantgarde-Kunst!“, schreibt der Literaturwissenschaftler Oleg Lekmanov 2015, acht Jahre nach Prigovs Tod.1 Er meint damit die rapide und spektakuläre Kanonisierung, die der frühere Underground-Dichter posthum im Kulturbetrieb erfährt.2 Über den Spott hinaus macht sein Bonmot auf einen bestimmten Charakterzug des Pantheons bzw. Mausoleums der russischen Kultur aufmerksam: Klassiker werden nicht selten als lebensechte Mumien ausgestellt, damit über ihren endgültigen Tod kein Zweifel mehr bestehen kann. Boris Groys hat diese These zu Lenins einbalsamierter Leiche bereits in den 1980er Jahren formuliert.3 Umso paradoxer muss es wirken, wenn ehemalige konzeptualistische Autoren ähnlichen Mechanismen der Kanonisierung unterworfen sind wie jene Figuren, die sie ihren künstlerischen und theoretischen Analysen unterzogen haben, an denen sie ihren inoffiziellen Kanon entwickelt haben. Von Prigov selbst gibt es einen Ausspruch, der dem oben zitierten als Vorlage gedient haben könnte: „Puškin war der Lenin meiner Zeit.“4 In Prigovs Sicht auf kulturelle Prozesse können ganz unterschiedliche Figuren einander auf ihren Posten ablösen. Sie oszillieren zwischen (pop-)kulturellen Personen und gottgleichen Helden, zwischen kultisch verehrten und wertlosen Gegenständen. Eine ähnlich unheimliche Begeisterung wie jene, die Prigov in seiner Kindheit für Stalin empfunden hat, beobachtet er, wenn sein Enkel Džordžik von Dinosauriern fasziniert ist. Für ihn ersetzt er Wörter in kanonischen Gedichten mit dem Wort „Dinozavr“.5 Wenn man das Leben solcher kultureller Figuren im Diskurs beschreiben wollte, scheint sich der in Kapitel 2 entworfene Begriff der zoe geradezu aufzudrängen: Es ist das Leben, das Göttern wie Pflanzen und Dingen zugeschrieben und

1 „Пригов – это Ленин сегодня авангардного искусства какой-то!“. Lekmanov, Oleg: „Moskov­ skij konceptualizm“, in: Polit.ru, 19.12. 2015, www.polit.ru/article/2015/12/18/conceptualism/. 2 Im November 2018 erscheint eine Biographie des Filmemachers Maksim Gureev im großen Publikumsverlag Ėksmo. Und beim Finale der Fußball-Weltmeisterschaft am 15. Juli 2018 konnte ein Milliardenpublikum sehen, wie vier Mitglieder der Gruppe Pussy Riot in Polizeiuniformen das Spielfeld des Moskauer Olympiastadions stürmten. Eine Erklärung zur Aktion Milicioner vstupaet v igru (Der Milizionär kommt ins Spiel) erinnerte an Prigovs elften Todestag und nahm auf seine Milizionär-Gedichte Bezug. 3 Vgl. Groys 1988, 75. Vgl. zum spätsowjetischen Interesse am „nackten“, biologischen Leben Lenins: Jurčak, Aleksej: „Esli by Lenin byl živ, on by znal, čto delat’: golaja žizn’ voždja“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 83 (2007), 189–204. 4 „Пушкин, это был Ленин моего времени“, sagt Prigov im Gespräch mit Obermayr; vgl. SoSo 4, 216. 5 Prigov, Dmitrij A.: „Stichi dlja Džordžika“, (ohne Jahresangabe), http://www.prigov.ru/bukva/ stixi_djorjika.php. https://doi.org/10.1515/9783110602494-008



Zoegraphie und Selbstkanonisierung 

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immer wieder neu eingegrenzt werden kann, eine Lebendigkeit, die das Menschliche über- und unterschreitet und dabei unzerstörbar ist. Prigov ist teilnehmender Beobachter der biopolitischen Mechanismen von Kanonproduktion. Dass er selbst zu einem „Lenin“ für einen anderen Rezeptionskontext werden kann, ist gewissermaßen einkalkuliert. Wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, liegt es in der Dynamik von Prigovs ­autobiographischer Poetik begründet, dass gerade seine eigenen Images Objekte der Kultur sind, die auf unterschiedlichen Skalen des Lebendigen existieren können. Die Romane sind eine Art Metagenre, das Prigovs Images und seine Ästhetiken verschiedener Medien (Poesie, Bildende Kunst, Performance) in sich aufnimmt. Aus diesen Elementen schöpfend, verfolgen seine Romane eine diskursive Strategie der Selbstkanonisierung: In ihnen inszeniert ein Ich-Erzähler seine Selbsttransposition (Kap. 5) oder Konvertibilität (Kap. 7) innerhalb der Kultur und ihrer Grenzen. Was außerhalb dieser Grenzen liegt, kann nicht erzählt werden. Der Ich-Erzähler wird nicht zur zoe, sondern grenzt den eigenen bios permanent von ihr ab. Das kommt rhetorisch nicht mit einem Pathos der Undarstellbarkeit zum Ausdruck, sondern vielmehr mit einer Art Bathos des Banalen: Die Romane erzählen ein Leben, das potentiell zum Lebensereignis werden kann, aber nicht muss.6 Prigovs Apophatik des Lebens ist kein Nicht-Sprechen-Können. Es wird gerade viel gesprochen, weil es nur eine Option unter anderen ist, vom Unsagbaren zu schweigen.7 Auch die in dieser Arbeit viel diskutierten „aufrichtigen Aussagen“ sind besondere Aussagen ex negativo: Nicht nur die aufwendige Erzählstruktur der Immunisierung (Kap.  4.2.4) und die Bekenntnisstrategie einer „immunen Kreatur“ (Kap. 7.1), die sich auf die Ausdehnung eines Neutrinos reduzieren kann, auch die empathische Aufrichtigkeit einer Biographie der Ehefrau (Kap. 6.2) erfolgt auf indirektem Weg. Die buchstäblich geometrisch gedachte Parallelität der Lebenslinien spekuliert über ihre Kreuzung im Unendlichen. In den Romanen steht nicht ein Erzählersubjekt Objekten gegenüber, die es sich aneignet. Es sind vielmehr Vorgänge des indirekten ‚Übersprungs‘ von einem Zustand in den anderen zu beobachten – wie in Kapitel 3.3.4 anhand der These des Künstlers als „Übersetzungsmodul“ im „Modus der Transitivität“ erläutert wurde. Prigovs genuiner Beitrag zu einer Poetik der Zoegraphie besteht in einer poiesis, die nicht analog zum menschlichen bios mit Geburt, Lebenszeit und Tod strukturiert ist. Es ist eine Weise des Hervorbringens, die nicht auf dem Prinzip der (Er-)Zeugung beruht. In der „neuen Anthropologie“ ist das Konzept eines schaffenden Autors ein „Projekt“, das an sein Ende kommt, aber nicht überwunden ist. In dieser Hinsicht steht Prigov nicht für eine posthumane Ästhetik. Es werden jedoch Alternativen der

6 Vgl. den Abschnitt zum „Vorleben“ (Kap. 3.4.4) und Obermayr 2014, 517–522. 7 Mehrfach wurde die These vorgetragen, Prigov parodiere die negative Theologie. Vgl. GolynkoVol’fson 2010, 224; Smirnov 2013, 60: „Die Prigovsche Parodie, die Prätexte ebenso wie sich selbst bloßstellt, dementiert weniger Sprache als vielmehr die Strategie der negativen Theologie, ist nicht gegen die Aussage gerichtet, sondern gegen ihr Fehlen, das Schweigen, sie fordert ‚Vielrednerei‘.“

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 Schlussbemerkung

Produktion von Leben und Kunst sichtbar, mit denen sich Prigov seit den 1990er Jahren verstärkt beschäftigt. Dabei ist seine poetologische Strategie der „neuen Anthropologie“ alles andere als ein Technoutopismus auf der Suche nach einer künst­ lerischen Ausdrucksform für kybernetische Programme oder Gensequenzen. Igor’ P.  Smirnov hat auf den entscheidenden Unterschied zu naturwissenschaftlicher ­Biotechnologie hingewiesen. Im Gegensatz zu deren angestrebter Optimierung der menschlichen Gattung gehe es Prigov nie darum, mit den produzierten Images, Typen und Programmen identisch zu werden:8 Что касается Пригова, то ему удался эксперимент, гораздо более радикальный, чем тот, который надеются осуществить ученые. Дмитрий Александрович – деантропологизированное существо. Я не шучу – хочу быть понятым буквально. Пригов развоплотил в себе человеческое начало, ни обожившись, ни бестиализировавшись при этом […]. (Smirnov/ Grojs 2003, 88). Was Prigov betrifft, so ist ihm ein wesentlich radikaleres Experiment gelungen als jenes, das die Wissenschaftler zu verwirklichen hoffen. Dmitrij Aleksandrovič ist ein deanthropologisiertes Wesen. Das sage ich nicht im Scherz – ich möchte buchstäblich verstanden werden. Prigov hat in sich das menschliche Prinzip entmaterialisiert, ohne sich dabei zu vergöttlichen oder zu bestialisieren […].

Es ist dieser Akt, der Prigov zu etwas anderem macht als zu einem Wiedergänger des avantgardistischen Demiurgen unter den Vorzeichen einer posttotalitären Kultur. Das Zoegraphische seiner autobiographischen Romane liegt schließlich nicht in der machtvollen Geste, das Selbst in etwas Anderes zu transformieren. Der Ich-Erzähler kann sich der Totalität des Lebens anverwandeln und bewahrt doch eine Partikularität. Das Ich kann über sich als etwas Unbestimmtes sprechen. In der Prosa von Moskau geschieht das in einem Satz, der zum Schluss noch einmal zitiert sei: Я – простое, погруженное в жизнь человеческое существо (Moskau, 159) Ich bin / Das Ich ist ein einfaches, ins Leben getauchtes menschliches Wesen.

8 Vgl. Smirnov, Igor’ P. / Grojs, Boris: „Subject: Prigov (perepisyvajus’ s Borisom Grojsom)“, in: Smirnov, Igor’ P.: Filosofija na každyj den’, Moskva: Fond naučnych issledovanij „Pragmatika kul’tury“, 2003, 76–90; 87.

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Namensregister A Achmadulina, Bella A. 194 Achmatova, Anna A. 172 Adorno, Theodor W. 38, 111 Agamben, Giorgio 5 f., 14, 16, 21, 23–28, 30 ff., 76, 82, 86 f., 107, 111, 171, 180 f., 200 f. Agurskij, Michail S. 79 Andreev, Daniil L. 141, 209 Andropov, Jurij V. 103, 129 f. Anufriev, Sergej A. 146, 162 Arendt, Hannah 23 f. Aristoteles 5, 9 f., 16, 18 f., 24 ff., 31, 76, 86, 110, 206 Aronson, Oleg V. 99 Augustinus 88, 96, 98, 205

C Cage, John 72 Čajkovskij, Petr I. 55, 174 Campe, Rüdiger 9 Čancev, Aleksandr V. 166 Čapaev, Vasilij I. 139 Cassirer, Ernst 125 Castaneda, Carlos 64 Catull 173 Čechov, Anton P. 2 Celan, Paul 84 Charms, Daniil 115 ff., 196 Chlebnikov, Velimir 36 f., 51, 59, 168, 177 f., 186, 205, 222 f., 227 Chruščev, Nikita S. 113, 127 f.

B Bach, Johann Sebastian 55 Bachtin, Michail M. 48, 194, 208 f., 211 Balabanova, Irina 72, 99 Barthes, Roland 167 Becker, Wolfgang 79 Beethoven, Ludwig van 55 Belyj, Andrej 54, 97 f., 105, 145, 163 Benjamin, Walter 25 Berdjaev, Nikolaj A. 66 Bergson, Henri 75, 104 f., 111, 115, 122, 185, 207 Bismarck, Otto von 35 Blanckenburg, Friedrich von 9 Blok, Aleksandr A. 141 Blumenberg, Hans 124 f. Böhme, Jakob 66, 88 Borges, Jorge Luis 110, 229, 230 Boyle, Robert 149 Boym, Svetlana 10, 107 Braidotti, Rosi 17 Brežnev, Leonid I. 33, 112 Brjusov, Valerij Ja. 143 Brodskij, Iosif A. 137 Bruskin, Griša 78 f., 82–86, 89 Bucharin, Nikolaj I. 196 Burke, Edmund 139 Burova, Nadežda G. 169, 182, 184

D Darwin, Charles 35 Deleuze, Gilles 17 f., 30 f., 111, 130 Derrida, Jacques 20, 25, 84 de Vries, Hent 38 d’Haen, Theo 158 Diana, Prinzessin von Wales 94 f. Di Blasi, Luca 140 Dickens, Charles 30 Dilthey, Wilhelm 132 Dimock, Wai Chee 157 Dionysius Areopagita 65, 87, 168 Dobrenko, Evgenij A. 48 Dolar, Mladen 76 Dolly (Schaf) 63, 229 Dostoevskij, Fedor M. 143, 198 Driesch, Hans 43 Dubin, Boris V. 230 Dugin, Aleksandr G. 92

https://doi.org/10.1515/9783110602494-010

E Ėjchenbaum, Boris M. 215 Ėksmo (Verlag) 232 El Greco 171 Erofeev, Venedikt V. 201 Ėtkind, Aleksandr M. 5

Namensregister 

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F Faraday, Michael 104 Fedorov, Nikolaj F. 45, 127, 151 Filippov, Boris A. 79 Fonvizin, Denis I. 194 Foucault, Michel 25, 27 f., 70 Freud, Sigmund 98

J Jakobson, Roman O. 55 Jampol’skij, Michail B. 13 f., 37 f., 43, 65 f., 75, 82, 95, 116 f., 146, 178 Janecek, Gerald 34 Juda ben Samuel 83 Jun’ichirō, Tanizaki 167

G Gagarin, Jurij A. 103 Gandlevskij, Sergej M. 73 Gehlen, Arnold 89 Georg, Hl. 131, 139 f., 142, 144 Giljarovskij, Vladimir A. 123 Glanc, Tomáš 230 Goethe, Johann Wolfgang von 105, 158 Golynko-Vol’fson, Dmitrij Ju. 64, 143 Gorbačev, Michail S. 103 Gor’kij, Maksim 158 Gregorios Palamas 153 Groys, Boris 39, 49, 69, 84, 127 f., 152, 232 Grübel, Rainer 209, 213 Guattari, Félix 18, 111, 130 Gundlach, Sven G. 60 Gureev, Maksim A. 232

K Kabakov, Il’ja I. 137 f., 146 Kafka, Franz 58, 201 Kant, Immanuel 139, 155, 160 Kantorowicz, Ernst 48 Karamzin, Nikolaj M. 194 Kerényi, Karl 21 ff., 28 Kibirov, Timur Ju. 92 Klebanov, Michail 51 f. Kojève, Alexandre 181 Kollektivnye dejstvija (Künstlergruppe) 76, 78, 111, 135 f. Koppenfels, Martin von 198 Korman, Boris O. 151 Körner, Christiane 166 Kristeva, Julia 24, 161 Kručenych, Aleksej E. 69, 227 Krupskaja, Nadežda K. 127 Kukulin, Il’ja V. 2, 64 f., 70, 98, 115, 163 Kuz’min, Dmitrij V. 195

H Haeckel, Ernst 35 Hansen-Löve, Aage 101 Hänsgen, Sabine 7, 76, 175 Haraway, Donna 64 Harman, Graham 230 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 180 Heidegger, Martin 20, 24, 26, 65, 75 Hengel, Louis van den 16 f., 19 Heraklit 23 Hippokrates 48 Hitler, Adolf 29, 138, 159 Hobbes, Thomas 49 Hokusai 173 Horkheimer, Max 109 Hutchinson, George Evelyn 158 Huxley, Thomas Henry 35 I Il’jazd, Ėli Ėganbjuri 69

L Lachmann, Renate 109, 153 Leibniz, Gottfried Wilhelm 75, 104 f., 187 f. Lekmanov, Oleg A. 232 Lenin, Vladimir I. 59, 127 ff., 199, 232 f. Letov, Sergej F. 135 Lévinas, Emmanuel 38 Levi, Primo 28 Liebchen, Jens 78 Limonov, Ėduard V. 137 Lipoveckij, Mark N. 2, 65, 70, 139, 144 Lotman, Jurij M. 100 f. Löw, Judah 83 f. Luhmann, Niklas 129 Lukács, Georg 10 Lupton, Julia 201 Lurija, Aleksandr R. 110

250 

 Namensregister

M Mainberger, Sabine 195 Majakovskij, Vladimir V. 69, 172 Makarova, Antonina M. 59 Malevič, Kazimir S. 69, 102 Mali, Natalija 76 Mamleev, Jurij V. 153 Mandel’štam, Osip Ė. 2, 57 Man, Paul de 126 Meillassoux, Quentin 155 Meister Eckhart 88 Mendeleev, Dmitrij I. 142 Michalkov, Sergej V. 47 Mitchell, Robert 149 Monastyrskij, Andrej V. 111, 136 f. Murav, Harriet 195 N Nabokov, Vladimir V. 96 f., 141 Nancy, Jean-Luc 26 Newton, Isaac 149 Nicolosi, Riccardo 126 Nietzsche, Friedrich 21, 54, 59 Novoe literaturnoe obozrenie (Verlag) 78, 92, 156 O OBĖRIU (Künstlervereinigung) 115 f. Obermayr, Brigitte 50, 71 f., 76, 87, 103, 112, 123, 172 f., 175, 211 ff., 226, 232 Olskaia, Viktoria 52 f. Origenes 203 Ostrovskij, Nikolaj A. 100, 125 P Paperno, Irina 98 Papernyj, Vladimir Z. 69, 78 Pasternak, Boris L. 55 Pepperštejn, Pavel V. 146, 162 Peter I. (Zar) 154 Pil’njak, Boris A. 169 f. Platon 20, 24, 96, 107 Platonov, Andrej P. 128 Plotin 88, 206 Plutarch 184 Polevoj, Boris N. 140 Popov, Evgenij A. 1, 111 ff., 135, 194 Prévost, Antoine-François 149 Prigov, Andrej D. 76

Prochorova, Irina D. 78 Propp, Vladimir Ja. 140 Puškin, Aleksandr S. 35, 76, 123, 133, 154, 165, 172, 174 f., 224, 232 Pussy Riot (Gruppe) 232 Q Quinlan, Karen 29 R Rodčenko, Aleksandr M. 108 Rousseau, Jean-Jacques 200, 209 Rozanov, Vasilij V. 101 Rubinštejn, Lev S. 78 Ruderman, Arkadij A. 79 Rutz, Marion 64 Ryklin, Michail K. 71, 130 S Šalamov, Varlam T. 106 f. Santner, Eric 201 Sasse, Sylvia 152, 196 Schlegel, Friedrich 9 Schmitt, Carl 26, 30 Scholem, Gershom 37, 83 Seneca 48 Sigmund, Corinna 18 f. Šklovskij, Evgenij A. 156 Šklovskij, Viktor B. 77 Sloterdijk, Peter 129 Smirnov, Igor’ P. 10, 42, 101, 116, 140, 234 Smith, Sidonie 17 Sologub, Fedor 58, 143 Solov’ev, Vladimir S. 53, 141, 154 Solženicyn, Aleksandr I. 107 Sorokin, Vladimir G. 3, 14, 58, 60, 92, 106, 113 f., 136, 153, 230 Spengler, Oswald 170 Spieker, Sven 137 Spinoza, Baruch 66 Stalin, Iosif V. 5, 33, 44, 61, 103, 113 f., 119, 121, 126 ff., 130, 155, 174 ff., 195 f., 225, 232 Steiner, Rudolf 105 Sterne, Laurence 9, 101 Stierlitz, Max Otto von (Fernsehfigur) 93, 138, 169 Subletts, Jesse 92 Szilard, Lena 14, 41, 143, 145, 149, 162

Namensregister 

T Tarasov, Vladimir P. 78 Teilhard de Chardin, Pierre 88, 209 Tolstoj, Lev N. 98, 207, 214 f. Toporov, Vladimir N. 123, 142 Turgenev, Ivan S. 77 Tynjanov, Jurij N. 42 U Uexküll, Jakob von 65 V Vasil’ev, Georgij N. 59 Vasil’ev, Sergej D. 59 Vasmer, Max 93 Vernadskij, Vladimir I. 157, 209 Voznesenskij, Andrej A. 51

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Vsemirnaja literatura (Verlag) 158 Vvedenskij, Aleksandr I. 116 W Watson, Julia 17 Weigel, Sigrid 100 Wiener, Norbert 75 Wilson, Edward O. 29 Witte, Georg 7 f., 14, 50, 102, 109, 123, 125, 136, 153, 172, 227–230 Woolf, Virginia 18 Z Zamjatin, Evgenij I. 222 Zinov’ev, Aleksandr A. 79 Zorin, Andrej L. 40