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German Pages 439 [440] Year 2018
Ausleseinstrument, Denkschule und Muttersprache des Abendlandes
Wertewandel im 20. Jahrhundert Band 5 Herausgegeben von Andreas Rödder
Anna Kranzdorf
Ausleseinstrument, Denkschule und Muttersprache des Abendlandes Debatten um den Lateinunterricht in Deutschland 1920–1980
Zugleich Dissertation Universität Mainz 2017
ISBN 978-3-11-042602-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060340-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060020-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im September 2016 vom Fachbereich Geschichtsund Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation mit dem Titel „Ausleseinstrument, Denkschule und Muttersprache des Abendlandes. Debatten um den Lateinunterricht in Deutschland 1920–1980“ angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Veröffentlichungen, die nach der Abgabe erschienen sind, konnten nur zum Teil berücksichtigt werden. Während der Arbeit an diesem Buch wurde ich von vielen Seiten unterstützt und es ist mir ein großes Anliegen und eine große Freude, an dieser Stelle danke zu sagen. Mein Dank gilt vor allem meinem Betreuer Andreas Rödder, der mich als akademischer Lehrer und langjähriger Chef sehr geprägt hat. Seine Unterstützung in schwierigen Phasen ist mir dabei genauso wertvoll gewesen wie die Freiheiten, die er mir bei der Konzeptionierung und Ausarbeitung dieses Buches ließ. Ich danke ihm, dass er mich mit dem faszinierenden und anspruchsvollen Thema der historischen Wertewandelsforschung vertraut gemacht hat. Bei Christine Walde möchte ich mich nicht nur für die Übernahme der Zweitbetreuung bedanken, sondern auch für ihre zahlreichen Anstöße, die Dinge noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Einem Stipendium des DHI London verdanke ich einen zweimonatigen Forschungsaufenthalt in Großbritannien. Dafür möchte ich mich stellvertretend insbesondere bei Felix Römer und beim Direktor Andreas Gestrich bedanken. Eine unersetzliche Hilfe waren meine Kolleginnen und Kollegen am Historischen Seminar in Mainz. Besonders hervorheben möchte ich meine wissenschaftlichen Mentoren im Wertewandelsprojekt Bernhard Dietz und Christopher Neumaier, die stets ein offenes Ohr für die kleinen und großen Sorgen einer Doktorandin hatten. Meinen beiden Büromitbewohnern Thorsten Holzhauser und Andreas Lutsch danke ich herzlich dafür, dass ich trotz Doktorarbeit jeden Tag gerne an die Universität gefahren bin. Das Gleiche gilt für Lisa Klewitz, Sebastian Becker, Lisa Bicknell, Thomas Blank, Wolfgang Elz, Andreas Frings, Andreas Goltz, Raoul Hippchen, Tobias Huff, Markus Raasch, Cathleen Sarti, Jan Turinski, Verena von Wiszlinski und John Wood. Für kritische Hinweise danke ich Michael Kißener, Josef Johannes Schmid, dem Oberseminar von Andreas Rödder sowie meinen Mitdoktorandinnen und -doktoranden. Ich danke Anne Rohstock, Michael Geiss und Norbert Grube, die mich in die Diskurse der historischen Bildungsforschung eingeführt haben. Ich danke Stefan Rebenich, der mir nicht nur in seinem Kolloquium wichtige Hinweise für die Arbeit gab, sondern sich auch bereit erklärte, den Gutachterausschuss zu komplettieren. Ich danke Simone Derix, die den Kontakt zu
6
Vorwort
ihm herstellte. Susanne Popp bin ich sehr dankbar, dass sie im Rahmen eines Mentoringprogramms der Universität meine Mentorin wurde und ich in ihrem Kolloquium ebenfalls meine Arbeit vorstellen durfte. Gedankt sei auch von Herzen Sarah Bernhardt, Thorsten Holzhauser, Lisa Klewitz, Kim Krämer, Michael Rupp, Ann-Kathrin Tauber und Eckard Mandrella, die Teile dieser Arbeit gelesen und mir gleichzeitig kritische Rückmeldungen sowie ermutigende Worte mitgaben. Ich danke den Archivaren des Landesarchives Nordrhein-Westfalens, des Hauptstaatsarchvis Bayern – namentlich Markus Schmalzl –, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, der Bundesarchive Koblenz und BerlinLichterfelde und des Archivs der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschungen – namentlich Bettina Reimers – für ihre wichtigen Hinweise und ihre hervorragende Betreuung. Die zahlreichen Archivbesuche waren auch deshalb stets eine große Freude, weil ich das Vergnügen hatte, bei guten Freunden unterzukommen. Daher danke ich an dieser Stelle Tamara Ginsberg, Christopher Neumaier, Mara Pollak, Sarah Schlüssel, Nicole Schnurrer und Anna-Lena Zintel für ihre Gastfreundschaft. Für viele schöne Stunden nach getaner Arbeit danke ich Jacob Birkenhäger, Sue-Ellen Kast, Anja Kintscher, Raissa Lieber, Corina Maier, Paul Sebastian Moos, Christoph Schmidt und Felix Tauber. Für offene, aber immer liebevolle Worte und manch durchtanzte Nacht danke ich Vanessa Kümhof und Ann-Kathrin Tauber. Ich danke meinen ehemaligen Lateinlehrern Burkard Chwalek und Barbara Challe, dass sie mich auf die Idee gebracht haben, Latein zu studieren, und mich nicht davon abgehalten haben, Historikerin zu werden. Ich danke meinem Partner Michael Rupp, dass er mich in den stressigen Phasen ertragen hat, dass er mir die Freiräume gegeben hat, die das Fertigstellen einer solchen Arbeit benötigt, dass ich ihn stets fragen konnte, wenn mir die passende Formulierung nicht einfallen wollte und dass er mir zur Abgabe dieser Arbeit das erste und einzige Mal Blumen schenkte. Zuletzt danke ich meiner Familie für den Halt und die Unterstützung, die sie mir in den letzten Jahren gaben: meiner Schwester Katharina und meinem Schwager Thomas, die in der Zeit, während ich promovierte, Eltern meiner beiden wunderbaren Neffen wurden, sowie meiner Mutter Thea und meinem „Stiefelvater“ Karl-Heinz. Ihr großes Zutrauen in mich und meine Fähigkeiten sowie die Gewissheit, in kleinen und großen Krisen immer nach Hause kommen zu können, gaben mir die Kraft, dieses Projekt zum Abschluss zu bringen. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Mainz, 5. Juli 2018
Anna Kranzdorf
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
II. Die Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
1 1.1 1.2 1.3
1.4 1.5
1.6
Die Reichsschulkonferenz 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . Die bildungspolitischen Diskussionen vor der Reichsschulkonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allianzen und Frontstellungen im Umfeld der Reichsschulkonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gymnasium und die alten Sprachen: Kritik und Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Der Deutsche Gymnasialverein und seine Werbetätigkeit 1.3.2 Die inhaltliche Auseinandersetzung – Antike, Christentum und deutsche Kultur . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Der altsprachliche Unterricht – Kulturunterricht und formale Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ergebnisse der Reichsschulkonferenz . . . . . . . . . . . . Das Gymnasium und der altsprachliche Unterricht in der Praxis 1.5.1 Die Umwandlung und Zusammenlegung von höheren Schulen am Beispiel Bayerns . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Anfänge des Latinums: Latein an Oberrealschulen . . . 1.5.3 Die Abschaffung des Skriptums . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 31 35 40 42 45 56 66 70 70 72 76 78
2.4
Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens 1924/1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Inhalte der Reform: Die Denkschrift von 1924 . . . . Die Diskussion der Denkschrift . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Latein am Realgymnasium . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Stellung des Gymnasiums: Eine neue Krise? . Der Deutsche Altphilologenverband . . . . . . . . . . . 2.3.1 Gründung und Ausrichtung . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts . . . 2.3.3 Die Bemühungen des DAV nach 1925 . . . . . . Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
80 82 83 84 90 98 98 100 112 114
3 3.1
Ereignisse und Tendenzen bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . Die „Durchsetzung der Schulreform“ . . . . . . . . . . . . . .
116 116
2 2.1 2.2
2.3
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
8
Inhaltsverzeichnis
3.2
3.3
4
Die Bildungspolitik bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Schulchaos und Sparmaßnahmen . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Der altsprachliche Lehrplan des DAV von 1930 . . . . 3.2.3 In Wellenbewegungen: der Kampf um das Humanistische Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Lateinunterricht in der Praxis: ein Beispiel aus Bayern . 3.2.5 Die Entwicklung des „Latinums“ . . . . . . . . . . . . Humanismus, humanistisches Bildungsideal, Allgemeinbildung und die Antike: Versuch der Systematisierung einer begrifflichen Gemengelage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Entwicklung des „Erneuerten“ oder „Dritten Humanismus“ als altphilologischer Fachdiskurs . . . . 3.3.2 Humanismus ohne Antike? . . . . . . . . . . . . . . .
119 119 122 125 129 130
135 140 144
Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146
III. Die Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
1 1.1
1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 2.4
3 3.1
3.2
Reaktion auf die Machtübernahme: Andienen zum Schutz des Gymnasiums und des altsprachlichen Unterrichts . . . . . . . Versuche des DAV und des Philologenverbandes . . . . . . . . 1.1.1 Anti-Liberalismus, Anti-Idealismus, Anti-Intellektualismus, Anti-Individualismus . . . . . 1.1.2 Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bekanntes neu betont: Muttersprache, Auslese und Antibolschewismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auflösung der alten Verbände und neue Pressure-Groups für die alten Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 156 160 165 169 172
Die Einführung der Deutschen Oberschule . . . . . . . . . . . Versuche der achtjährigen höheren Schule in Weimar . . . . . Die neue Gestaltung der höheren Schule: Deutsche Oberschule und Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umwandlung der Gymnasien: Das Beispiel Bayern . . . . Die neuen Lehrpläne 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 „Grundsätzliches“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 „Alte Sprachen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177 177
Die Didaktik der alten Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . Mader/Breywisch und das lateinisch-deutsche Verfahren . . 3.1.1 Kritik an Mader und Breywisch . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Bewahrung einer Tradition: Die deutsch-lateinische Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelpunkt des Unterrichts: Die Lektüre . . . . . . . . . . .
. . .
188 189 190
. .
193 195
178 182 184 185 187
9
Inhaltsverzeichnis
4 4.1 4.2 4.3
Altsprachliche Bildung und Ideologie . . . . Humanismusdiskussion . . . . . . . . . . . Dritter Humanismus und Drittes Reich . . . Nonkonformes Verhalten der Altphilologen
. . . .
200 200 202 206
5
Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
IV. Die Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1
2.2
2.3 2.4 3 3.1 3.2
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
„Rolle rückwärts“: Bildungspolitik in der Nachkriegszeit . . Die Auseinandersetzung mit den Reformvorstellungen der Alliierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Leitidee des „Christlichen Humanismus“ . . . . . . . . . Christlicher Humanismus und altphilologische Fachwelt: Kontinuitäten und Brüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der Restitutionsphase . . . . . . . . . . . . . . .
.
215
. .
216 221
. .
234 237
Im Widerstreit zwischen Modernisierung und Tradition. Die 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reformpolitik der 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Düsseldorfer Abkommen von 1955 . . . . . . . . . 2.1.2 Tutzinger Gespräche und Saarbrücker Rahmenvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule . . . 2.1.4 Der Rahmenplan von 1959 . . . . . . . . . . . . . . . . Fachliche Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Theodor Litt und der Humanismus . . . . . . . . . . . 2.2.2 Adolf Bohlen und die neuen Sprachen . . . . . . . . . 2.2.3 Der Kampf um den Begriff „Gymnasium“ und das humanistische Bildungsideal . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts . . . . . . Das Aufbäumen der Tradition: Das Beispiel Bayern . . . . . . Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1960er Jahre als „Krisenjahre“ des altsprachlichen Unterrichts Bildungsexpansion, Bildungsökonomie und Chancengleichheit Auswirkungen auf das Schulsystem und auf den altsprachlichen Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Latein in Bedrängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Hamburger Abkommen von 1964 und Bildungsexpansion in den Ländern . . . . . . . . . . . 3.2.3 Alte Reflexe: Ein Jahr Griechisch weniger . . . . . . . . 3.2.4 Der Strukturplan 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Oberstufenreform 1972: Latein auf dem „freien Markt“
239 241 241 247 256 258 267 267 269 273 276 282 285 287 287 291 292 296 301 306 308
10
Inhaltsverzeichnis
3.3
311 317 323 329
3.5
Experten als neue Akteure und der Sieg der Reformpädagogen 3.3.1 Hartmut von Hentig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Arbeit des Deutschen Bildungsrates . . . . . . . . . . . 3.3.3 Exkurs: Schulforschung am MPI . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Es wird eng für den altsprachlichen Unterricht: Der DAV und die Curriculumforschung . . . . . . . . . . . . . . Verteidigung und Neuaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Argumentative Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Strategische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Neue Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 4.1 4.2
Zwei Längsschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Latinum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formale Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365 365 379
5
Ausblick: Stabilisierung und alte Reflexe: Die 1970er Jahre . .
382
V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
391
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
3.4
1 1.1
1.2
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) . . . . . . . 1.1.2 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LAV NRW) . . . . 1.1.4 Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz) . . . . . . . . . . 1.1.5 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BA Berlin-Lichterfelde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.6 Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) 1.1.7 Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) . 1.1.8 Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) . . . . . . . . publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Systematisch analysierte Zeitschriften . . . . . . . . . . 1.2.2 Weitere publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . .
331 338 340 348 357 363
399 399 399 400 400 401 401 401 401 401 402 402 402
2
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3
Internetressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
434
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
437
I. Einleitung Was nützt das Latinum in der heutigen Arbeitswelt? Dieser Frage ging die Journalistin Nadine Bös nach und befragte dazu im Jahr 2010 namhafte DaxUnternehmen. Für 95 % der Unternehmen waren Lateinkenntnisse zwar kein formales Auswahlkritierium. Allerdings ließe sich mancher Chef von Lateinkenntnissen beeindrucken, „weil sie Bildung signalisieren“. Latein sei eine „Denkschule“ und erleichtere das Erlernen weiterer Fremdprachen. Wer Latein gelernt habe, habe zudem eine hohe Lerndisziplin. Nicht zuletzt lasse ein Latinum „auf eine humanistische Allgemeinbildung schließen“. Vor allem bei Personalchefs, die selbst Latein gelernt hatten, hatten Bewerber mit Latinum bei gleicher Qualifikation einen gewissen Vorteil. Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, hielt diese Ansichtsweisen für Unsinn: „Ob jemand Latein gelernt hat oder nicht, sagt über einen Bewerber ungefähr so viel aus wie seine Haarfarbe.“ Viele der oben genannten Argumente hielten einer empirischen Überprüfung nicht stand. Dass Arbeitgeber Lateinkenntnisse immer noch positiv werteten, bezeichnete Stern als Aufrechterhaltung einer „Kulturmafia“ und als „international völlig überholt“.1 Das Fach Latein, das älteste Schulfach der westlichen Welt, ist bis heute im deutschen Bildungssystem äußerst präsent. Kaum ein anderes Fach löst solch diverse und teils emotionale Reaktionen aus, wenn über seine Bedeutung und Relevanz diskutiert wird: von Begeisterung bis Abscheu, von Verwunderung bis Unverständnis. Die Debatten um den Lateinunterricht beschränken sich dabei nicht auf die Anzahl von Schulstunden im Curriculum, sondern verhandeln nichts weniger als Konzeptionen und Vorstellungen von angemessener Bildung. Theorie und Fragestellung
Um die Bedeutung des Lateinunterrichts zu verstehen, ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, welche gesamtgesellschaftlichen Funktionen ein Bildungssystem hat. Der Soziologe Helmut Fend hat in seiner „Neuen Theorie der Schule“ vier wesentliche Funktionen bestimmt, welche das Schulsystem für die Gesellschaft erfüllt: eine Enkulturationsfunktion (1), die kulturelle Sinnsysteme der jeweiligen Gesellschaft reproduziert; eine Qualifikationsfunktion (2), die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit einer Gesellschaft sicherstellen soll; eine Allokationsfunktion (3), da das Bildungswesen in seiner Rolle als Prüfungswesen auch gesellschaftliche Positionen zuweist; (4) eine Integrationsfunktion, da Schulsysteme durch die Reproduktion gesellschaftlicher Normen und Leitbilder der 1
Bös: Für die Schule, nicht fürs Leben, FAZ online, 24.06.2010.
https://doi.org/10.1515/9783110603408-001
12
I. Einleitung
Stabilisierung politischer Verhältnisse dienen.2 Wenn man nun erklären möchte, wie Veränderungen im höheren Bildungswesen im 20. Jahrhundert zustande kommen, wirken wiederum vier Faktoren als strukturierende Umwelt auf diese Funktionen des Schulsystems ein.3 Zum einen entstanden durch die Komplexität in Folge der Industrialisierung veränderte Qualifikationsanforderungen (1) an die zukünftigen Erwerbstätigen. Zum anderen ist das Schulsystem, da es staatliche Berechtigungen wie beispielsweise das Abitur vergibt, ein juristisch und bürokratisch hochkomplexes Gebilde.4 Manche Veränderungen oder auch NichtVeränderungen lassen sich daher aus einer gewissen „partiellen Eigendynamik des Bildungssystems“ bzw. Pfadabhängigkeit oder auch institutionellen Logik (2) heraus erklären.5 Der dritte Faktor wird als soziale Distinktion (3) oder auch Selektion bezeichnet. Dabei wurden vor allem die Gymnasiallehrer zu „Hauptexekutoren des meritokratischen Prinzips, das die Erlangung herausgehobener gesellschaftlicher Positionen an den Nachweis von Verdiensten innerhalb des Bildungswesens“ band.6 Die Gymnasiallehrer selbst hatten eine herausgehobene Stellung innerhalb des Schulsystems inne, weswegen sie jede Bildungsexpansion als Bedrohung ihrer eigenen Position interpretierten und eher zu strengerer Selektion neigten.7 Das meritokratische Prinzip wurde allerdings dahingehend unterlaufen, weil gute Leistungen nicht nur von der tatsächlichen Fähigkeit des Schülers, sondern auch stets von Sozialisation und Habitus abhingen.8 Als vierten und letzten Faktor sind gesellschaftliche Leitbilder (4) zu nennen. Da eine Gesellschaft bei der Ausbildung heranwachsender Generationen ihre eigenen Normen und Leitbilder zu reproduzieren versucht, können gerade Debatten um Veränderungen im Bildungssystem Aufschluss über Wandlungsprozesse solcher Leitbilder geben.9 Das Fach Latein kann nun als Schlüssel dienen, die grundlegenden Handlungsmotivationen von Veränderungsprozessen im höheren Bildungswesen 2 3 4 5 6 7
8 9
Vgl. Fend: Theorie, S. 49–51. Lundgreen nennt sie „Triebkräfte“ bzw. „Bestimmungsfaktoren“, Lundgreen: Sozialgeschichte II, S. 19; Lundgreen: Sozialgeschichte I, S. 9f. Vgl. Zymek: Stellenwert, S. 32–34; Führ: Bildungsgeschichte, S. 2. Lundgreen: Sozialgeschichte II, S. 19. Tosch verwendet den Begriff „genetische Eigenlogik“, vgl. Tosch: Gymnasium, S. 14. Vgl. dazu auch Fend: Geschichte, S. 22. Kluchert: Gymnasiallehrer, S. 47. Vgl. ebenda; Zymek: Stellenwert, S. 33. Lundgreen nennt dies „erfolgreiche Lobby für Standesinteressen“, vgl. Lundgreen: Sozialgeschichte II, S. 19. Groppe interpretiert beispielsweise die Einführung des mehrgliedrigen höheren Schulsystems im 19. Jahrhundert als Mittel, um die gesellschaftliche Mobilität einzudämmen und den sozialen Status des Bürgertums zu bewahren. Da es auch andere Wege zum Abitur gab, konnte das Gymnasium mit den alten Sprachen die exklusive Schule des Bürgertums bleiben. Vgl. Groppe: Diskursivierung, S. 28–31. Vgl. Fend: Theorie, S. 50. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 11.
I. Einleitung
13
offenzulegen, weil in den Diskussionen um dieses Fach das Wirken der vier Faktoren aufgezeigt werden kann. So geriet das Fach Latein beispielsweise in Bezug auf die Qualifikationsanforderungen für den zukünftigen Arbeitsmarkt unter Druck, weil Latein im Laufe des 19. Jahrhunderts seine Position als Universalsprache der Wissenschaft eingebüßt hatte und somit das Erlernen der Sprache keinen unmittelbaren Nutzen mehr hatte. In der institutionellen Logik konnte Latein seine Bedeutung jedoch bewahren, war doch das Abitur als Berechtigungsschein für den Zugang zur Universität an gewisse Kenntnisse der lateinischen Sprache geknüpft. Aus diesem Grund bildete sich in den 1920er Jahren ein neuer Berechtigungsschein heraus, das Latinum. Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung dieses Faktors sind die verbeamteten Lateinlehrer, die zum einen bei einer Abschaffung des Faches Latein nicht entlassen werden konnten, zum anderen auch ein persönliches Interesse am Weiterbestehen dieses Faches hatten. Für den Faktor soziale Distinktion spielte das Fach Latein stets eine herausragende Rolle. Es galt als anspruchsvolles Fach, das zudem als einziges auf die Schulart Gymnasium beschränkt war. Darüber hinaus diente die Existenz von Latein als erster Fremdsprache als Mechanismus, um das Gymnasium als eigenständige Schulart ab der 5. Klasse vor der Verschmelzung zu einem Gesamtschulsystem abzuschirmen. Zudem stellt das Latinum eine weitere Hürde für den Hochschulzugang dar. Auch die gesellschaftlichen Leitbilder lassen sich aus den Debatten um den Lateinunterricht gut ableiten. Bis heute hat kaum ein Fach eine so wirkmächtige ideelle Argumentationsebene, denn das Fach Latein ist mit dem Begriff des humanistischen Bildungsideals untrennbar verbunden. Allerdings ist der Begriff des humanistischen Bildungsideals derart undeutlich konturiert, dass sich eine Vielzahl an Argumenten daraus ableiten lassen. Als Beispiele seien hier zum einen kulturelle Argumente angeführt, dass in der Antike die Wurzeln des christlich-europäischen Abendlandes lägen, zum anderen emanzipatorische Argumente, dass die Beschäftigung mit den antiken Sprachen den Schüler zu kritischem und eigenständigem Denken erzöge. Je nachdem nun, wie in den Debatten für oder gegen den Lateinunterricht argumentiert wurde, lassen sich Rückschlüsse auf gesellschaftliche Leitvorstellungen und deren Bedeutung im Spannungsverhältnis von Qualifikationsanforderungen, institutioneller Logik und sozialer Distinktion ziehen. Die Fragestellung der Arbeit lautet also: Wie und warum kamen Veränderungen in Hinblick auf den Lateinunterricht zustande? Handelt es sich dabei um Spezifika des Lateinunterrichts oder sind es übergreifende Mechanismen, die sich auf die Entwicklungen im höheren Bildungswesen übertragen lassen? Welche Rolle spielten dabei gesellschaftliche Leitvorstellungen? Begrifflichkeiten und Untersuchungsgegenstände
Im Folgenden werden deshalb systematisch Reformen und Reformvorschläge von 1920 bis 1980 untersucht, die sich auf das höhere Schulwesen insgesamt,
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I. Einleitung
das Gymnasium im Besonderen bzw. auf den altsprachlichen Unterricht insgesamt oder den Lateinunterricht im Besonderen bezogen. Die beiden alten Sprachen Latein und Griechisch sind nämlich untrennbar mit der Schulform Gymnasium verbunden.10 Ihre Erlernung war der Hauptpfeiler der Anfang des 19. Jahrhunderts von Wilhelm von Humboldt konzipierten Schulform. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich zwei andere Formen der höheren Schule, die mehr Wert auf die sogenannten „Realien“, vor allem auf Mathematik, Naturwissenschaften und neuere Fremdsprachen, legten: das Realgymnasium und die Oberrealschule. Dem Gymnasium wurde daher häufig das Adjektiv „humanistisch“ vorangestellt, auch wenn zumindest in Preußen sein offizieller Name einfach nur „Gymnasium“ lautete. Im Laufe der 1920er Jahre wurde immer häufiger auch vom „altsprachlichen“, „neusprachlichen“ und „mathematischnaturwissenschaftlichen Gymnasium“ parallel neben den offiziellen Bezeichnungen „Gymnasium“, „Realgymnasium“ und „Oberrealschule“ gesprochen. 1955 wurde schließlich von der Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) beschlossen, dass alle Typen der höheren Schule als „Gymnasium“ bezeichnet werden sollten, ihr inhaltlicher Schwerpunkt wurde durch ein vorangestelltes Adjektiv spezifiziert. Die Arbeit orientiert sich bei der Begriffsverwendung an der jeweiligen gängigen Bezeichnung der Zeit. Auf „humanistisches Gymnasium“ als analytischer Begriff wird jedoch verzichtet, da das Attribut „humanistisch“ sowohl unpräzise als auch normativ aufgeladen ist. Für die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur wird daher von „Gymnasium“, „klassischem Gymnasium“ oder „traditionellem Gymnasium“ gesprochen, in der Bundesrepublik von „altsprachlichem Gymnasium“. Die Fächer Latein und Griechisch wurden lange Zeit als Einheit, als die alten Sprachen, betrachtet. Dieser Betrachtung entsprechend, könne nur ein Erlernen beider Sprachen eine wirkliche Einführung in die Kulturwelt der Antike vermitteln. Daher kann eine Untersuchung des Lateinunterrichts nicht gänzlich ohne die Betrachtung des Griechischunterrichts erfolgen. Allerdings war der Lateinunterricht von der Stundenzahl her dem Griechischunterricht immer überlegen und betraf auch mehr Schüler, weil Latein auch an anderen Typen der höheren Schule unterrichtet wurde, Griechisch jedoch ausschließlich auf dem (altsprachlichen) Gymnasium. Der Begriff dreigliedrig oder dreiteilig kann in der Geschichte des deutschen Schulwesens zweierlei bedeuten: Das sogenannte dreigliedrige Schulwesen, das eine Gliederung des gesamten Schulwesens in Volksschule, Mittelschule und höhere Schule (Gymnasium) bezeichnet, bildete sich während der Weimarer Republik heraus und wurde von den Nationalsozialisten perpetuiert. Die Dreiteilung des höheren Schulwesens in Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts und wurde in der Zeit des 10
Vgl. Karg: Rolle, S. 238.
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Nationalsozialismus abgeschafft, in der Bundesrepublik Deutschland aber wieder eingeführt.11 Das Wort „Humanismus“ kennt jeder und jeder gebraucht es. Sein Bedeutungsspektrum jedoch ist – um Ulrich Muhlack zu zitieren – „unendlich“. Das verbindende Element ist, dass der Mensch in den Mittelpunkt gestellt wird, „ein ebenso nichtssagender wie gerade damit beliebig anschlußfähiger Gemeinplatz“. Dennoch ist dieser Gemeinplatz bis heute derart positiv konnotiert, weil er „den ‚Menschen’ zum obersten Wert erklärt“.12 Heute taucht laut Wiersing der Begriff „Humanismus“ in fünf Bedeutungen auf: die Orientierung an der Antike, die Ausübung von Mitmenschlichkeit (Humanität), die Betonung der Würde des Menschen, die Möglichkeit des Menschen, seine Existenz zu deuten, und schließlich ein bestimmtes Bildungsverständnis.13 Auch in dem hier zu betrachtenden Zeitraum war die Begriffsverwendung von Humanismus nicht eindeutig. Stets war der Begriff eine „Allzweckwaffe“14 , ein untadeliger Begriff, hinter dem sich verschiedene Weltanschauungen verschanzten. Daher ist es stets notwendig, die dahinterliegenden Ideen zu betrachten. Erstmals verwendet wurde der Begriff „Humanismus“ im Kontext von Schulbildung 1808 von dem bayerischen Schulreformer Friedrich Niethammer. Er beschrieb damit das sich neu durchsetzende Bildungskonzept, die sogenannte „allgemeine Bildung des Menschen als Menschen“, in dem der Mensch seine eigenen Fähigkeiten an den antiken Klassikern üben sollte.15 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verwendete man den Begriff „Humanismus“ aber auch als Bezeichnung einer Epoche, um etwa die Zeit der Renaissance zu beschreiben, in der die Rückbesinnung auf die Antike zum maßgeblichen europäischen Leitbild wurde. Daher wurde der ursprüngliche Niethammer’sche Humanismus zum „Neuhumanismus“ umdeklariert.16 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat schließlich der sogenannte „Dritte Humanismus“ als altphilologische Erneuerungsbewegung hinzu.17 Alle drei hatten Einfluss auf den altsprachlichen Unterricht – der Neuhumanismus sicherlich den bedeutendsten. Dieser war ein „grundlegend neues Phänomen der klassischen Bildung“, das an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstand und dessen bekanntester Vertreter Wilhelm von Humboldt war.18 Ihm kam es auf zweck11 12 13 14 15 16
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Vgl. dazu Zymek: Schule, S. 198. Muhlack: Humanismus, S. 195. Vgl. Wiersing: Einleitung, S. 21. Paletschek: Erfindung, S. 204. Muhlack: Humanismus, S. 196. Vgl. Wiersing: Einleitung, S. 20; Muhlack: Humanismus, S. 196f.; Blum: Humanismus, S. 1013. Zum Renaissance-Humanismus und dessen Antikerezeption ausführlich Hinz: Humanismus. Vgl. Wiersing: Einleitung, S. 20. Zu einer ideengeschichtlichen Aufarbeitung der Erscheinungsformen des Humanismus im 20. Jahrhundert, vgl. Buck: Humanismus, S. 419–448. Vgl. Rebenich: Klassische Bildung, S. 52.
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freie Bildung an, die vor allem durch das Erlernen der antiken Sprachen und durch die Auseinandersetzung mit der antiken Kultur die eigene Persönlichkeit formen sollte. Die allseitige Förderung und harmonische Entwicklung individueller Anlagen sollte zu Selbstständigkeit und Selbstverantwortung führen. Vor allem sollten nicht mehr Geburt und Herkunft, sondern Bildung und Leistung über den Werdegang eines Menschen entscheiden.19 Allerdings verriet sich das Humboldt’sche Gymnasium in gewisser Weise selbst, denn gerade der altsprachliche Unterricht wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem im Deutschen Kaiserreich, zum Drill- und Exerzierunterricht. Zudem wurde das Abitur als Bildungspatent „zu einem wirksamen Instrument sozialer Exklusion“.20 All dies zeigt auf, welch großes Bedeutungsspektrum Begriffe wie „humanistisches Bildungsideal“ oder „humanistische Bildung“ bereithalten. Daher geht diese Arbeit ohne eigene Definition von Humanismus und humanistischer Bildung in die Analyse. Es ist nämlich eine zentrale Aufgabe der Arbeit zu untersuchen, was Politiker, Schulvertreter, Wissenschaftler oder Journalisten jeweils selbst unter „humanistischem Bildungsideal“ oder „humanistischer Bildung“ verstanden. Die Wertfreiheit dieses Nachvollzugs würde durch das Anwenden eines eigenen Humanismusbegriffs an die Diskurse verunklart. Vorgehensweise und Methode
Reformen scheinen zur vertieften Analyse besonders geeignet, weil sie Ausdruck von gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Veränderung sind und meist Anlass zu kontroversen Diskussionen boten. Außerdem ermöglicht es die Orientierung an Fallbeispielen, den langen Untersuchungszeitraum zu operationalisieren. Die Untersuchung über einen Zeitraum von 60 Jahren wurde gewählt, um Kontinuitäten und Wandel in Bezug auf die Rolle des Lateinunterrichts aufzeigen zu können. Die Untersuchung von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die 1970er Jahre der Bundesrepublik ist besonders reizvoll, da drei unterschiedliche politische Systeme betrachtet werden. Trotz sich wandelnder gesellschaftlicher Leitbilder und trotz unterschiedlicher Akteure blieben das Gymnasium und der altsprachliche Unterricht bestehen. 1920 als Startpunkt der Untersuchung zu wählen, liegt darin begründet, dass in der neugegründeten Weimarer Republik 1920 eine gesamtdeutsche schulpolitische Großkonferenz abgehalten wurde, die sich als Orientierungspunkt anbietet, um den Status quo des bildungspolitischen Diskurses zu identifizieren. Von hier aus lassen sich in den Entwicklungen über die Zäsuren von 1933 und 1945 hinweg viele Kontinuitäten, allmählicher Wandel, aber auch Phasen des beschleunigten Wandels nachweisen.21 Eine Phase des beschleunigten Wandels 19 20 21
Vgl. ebenda. Vgl. ebenda, S. 53. Vgl. Führ: Bildungsgeschichte, S. 1.
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stellen die 1960er Jahre dar. Hier setzten sich viele vorher bereits angedeutete Veränderungen mit voller Wucht durch. Die 1970er Jahre können dann als eine Art Konsolidierungsjahrzehnt verstanden werden, in denen die angestoßenen Reformen politisch, aber auch im Klassenzimmer umgesetzt wurden. Allerdings werden in den 1970er Jahren auch die Grenzen der Reformierbarkeit des deutschen Schulsystems sichtbar. Eine Öffnung der höheren Schule wurde so lange mitgetragen, wie das gegliederte Schulsystem und damit das Gymnasium bestehen blieb. Als Nordrhein-Westfalen Ende der 1970er Jahre versuchte, die kooperative Gesamtschule flächendeckend einzuführen, wurde dies durch einen Bürgerentscheid gestoppt. Da dies im Wesentlichen die „Nachwehen“ der 1960er Jahre sind, werden die 1970er Jahre als abschließender Ausblick behandelt. In diesen 60 Jahren können Durchlässigkeit und Vereinheitlichung als zwei relativ konstante Motivationen für Bildungsreformen genannt werden.22 Zunehmende räumliche Mobilität sowie Vergleichbarkeit der Abschlüsse ließen die Vereinheitlichung des Bildungswesens zu einer wichtigen Forderung werden. Auch erforderte der zunehmende Bedarf an höher qualifizierten Absolventen eine größere Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Schulformen. Gerade das Festhalten an Latein als erster Fremdsprache stellt dann einen reformhemmenden Faktor dar. Methodisch-theoretisch inspiriert ist die Arbeit von der Mainzer Historischen Wertewandelsforschung. Diese zeichnet sich durch lange diachrone Perspektiven, das Arbeiten mit Fallbeispielen und einer diskursanalytisch-qualifizierenden Vorgehensweise aus. Hiernach finden Veränderungen in drei verschiedenen Bereichen statt: diskursiv artikulierte Wertvorstellungen, soziale Praxis und institutionelle Rahmenbedingungen. Werte sind dabei eine streng wertfreie Analysekategorie und werden wie folgt definiert: Werte sind allgemeine und grundlegende normative Ordnungsvorstellungen, die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und kollektiver Ebene Vorgaben machen und die explizit artikuliert oder implizit angenommen werden. Dabei machen Widerspruch und Kontroversen Grenzverschiebungen sichtbar, so dass sich Wertewandel bestimmt „durch die Differenz zwischen dem zu zwei Zeitpunkten Sagbaren bzw. Sanktionierten“.23 Statt dem Begriff „Werte“ wird in der Arbeit jedoch auf den 22
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Vgl. dazu Ringer: Bildung, S. 7f.: Ringer unterteilt die Entwicklung des europäischen Bildungswesens nach 1800 in drei Phasen: eine frühindustrielle Phase (bis 1860/70), in der die schulische Bildung ganz von der klassischen Bildung geprägt war; eine hochindustrielle Phase (bis 1920), in der die „humanistische“ mit der „realistischen“ Bildung und den entsprechenden Bildungseinrichtungen in Konkurrenz trat; sowie eine spätindustrielle Phase (bis 1960 bzw. darüber hinaus), in der die inhaltlichen und institutionellen Barrieren zwischen den Schulen abgebaut wurden. Rödder: Wertewandel, S. 40. Vgl. zur Mainzer Historischen Wertewandelsforschung: Rödder: Wertewandel; Dietz/Neumaier: Nutzen; Dietz: Theorie; Dietz/Neuheiser: Diesseits. Teil der Mainzer Forschung ist auch, den „Wertewandel“ als diskursives Phänomen zu
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Begriff „gesellschaftliche Leitbilder“ zurückgegriffen, weil gerade in den Aushandlungsprozessen um das „humanistische Bildungsideal“ der Begriff „Wert“ einen Quellenbegriff darstellt. Auch das sogenannte „Wertewandelsdreieck“ aus diskursiv artikulierten Werten, sozialer Praxis und institutionellen Rahmenbedingungen wurde für diese Arbeit zu einem Viereck an Faktoren, die Einfluss auf bildungspolitische Veränderungsprozesse nehmen, erweitert. Zudem wurde der räumliche Vergleich auf mehreren Ebenen als weitere methodische Herangehensweise gewählt. Die Vergleiche sind dahingehend nur Methode und nicht Inhalt dieser Arbeit, da keine enzyklopädische Vollständigkeit zur Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts in den jeweiligen Ländern beansprucht wird. Im Hinblick auf die deutsche Entwicklung müssen einzelne (Bundes-)Länder betrachtet werden, da Bildungspolitik traditionell Aufgabe der Länder war und ist. Zwar wurde im Laufe des Untersuchungszeitraums das Bildungswesen zwischen den Ländern immer mehr vereinheitlicht, aber die Umsetzung einheitlicher Richtlinien sowie die konkrete Ausgestaltung blieb den Ländern überlassen. Daher soll zwar in dieser Arbeit einem gesamtdeutschen Diskurs nachgespürt werden, exemplarisch dafür werden aber die Länder Preußen bzw. Nordrhein-Westfalen und Bayern herangezogen. Preußen war während der Weimarer Republik das größte Land und hatte zudem bis 1945 die „bildungspolitische Leitfunktion“ inne.24 Nordrhein-Westfalen ist einer der westdeutschen Nachfolgestaaten Preußens und legte zum einen nach dem Zweiten Weltkrieg besonderen Wert auf Lateinunterricht, zum anderen scheiterte dort 1978 die flächendeckende Einführung der Gesamtschule. Daher wurde es als Bundesland für diese Untersuchung ausgewählt. Bayern bietet sich aus verschiedenen Gründen als Untersuchungsland an. Zum einen vereinfacht seine relative politische und geographische Konstanz als Land eine Längsschnittuntersuchung. Zum anderen kann Bayern als das traditionelle Bollwerk des deutschen Bildungssystems bezeichnet werden. Es ist beispielsweise das einzige Bundesland, das an dem Begriff „humanistisches Gymnasium“ in der BRD nach 1955 festgehalten hat und sich nach Gesamtschulversuchen in den 1970er Jahren gegen die Gesamtschule als vierten Typ der höheren Schule entschied. Die Konzentration auf zwei Länder ermöglicht gelegentliche Tiefenbohrungen, dort wo Probleme auf der Ebene der Verwaltung auftraten, die aber auf ein allgemeines Phänomen bezüglich des altsprachlichen Unterrichts hindeuten. Der Vergleich der Länder
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untersuchen. Bernhard Dietz hat dies in einem Aufsatz über die leitenden Angestellten sehr gut nachgewiesen, vgl. Dietz: Industriegesellschaft. Auf diese „Beobachtung 2. Ordnung“ wird in dieser Arbeit verzichtet, obwohl es auch dafür Material gegeben hätte, vgl. Herbert/ Sommer: Bildungssystem und Wertewandel, 1984; Klages: Bildung und Wertewandel, 1984; Institut für Demoskopie Allensbach, Pressedienst: Haben Latein und Griechisch noch einen Nutzen?, 12.1.1959, BayHStA, MK 52996; Institut für Demoskopie an KMK, 18.2.1959, BA Koblenz, B 304/6470. Führ: Bildungsgeschichte, S. 4.
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insgesamt ermöglicht zum einen, die landesspezifischen Entwicklungen in einen gesamtwestdeutschen Kontext zu stellen, zum anderen ist das föderale Prinzip allgemein ein Erklärungsansatz für die Beharrungskraft des Lateinunterrichts. Eine weitere Vergleichsperspektive ist der Blick in das westeuropäische Ausland. Nur im Vergleich zu den Entwicklungen in anderen Ländern treten die deutschen Besonderheiten hervor.25 In dieser Arbeit wurde England als Vergleichsfolie gewählt. Auch wenn dieser asymmetrische Vergleich im inhaltlichen Teil der Arbeit kaum vorkommt, muss er als konzeptionelle Folie immer mitgedacht werden. Dadurch wurde der Blick auf die deutschen Spezifika geschärft, auch wenn die Arbeit nur genau diese deutschen Spezifika behandelt. Um dies genauer zu erläutern, wird im Folgenden ein kleiner Abriss über die Entwicklungen des englischen Bildungswesens im Allgemeinen und den altsprachlichen Unterricht im Besonderen gegeben. England
Das englische Schulsystem und das deutsche Schulsystem sind in ihrer historischen Entwicklung sehr verschieden. In England bildete sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts – und somit wesentlich später als in Kontinentaleuropa – ein öffentliches, von staatlicher Hand getragenes Schulwesen heraus.26 Generell spielte das Privatschulwesen (public schools) auch danach noch eine viel größere Rolle als in Deutschland.27 Zudem gab es in England bis 1951 keine allgemeinen Abgangszeugnisse; vielmehr bereitete die Schule auf Eingangsprüfungen für Universitäten, Beamtenlaufbahn oder handwerkliche Berufe vor.28 Gemeinsam ist ihnen aber, dass die altsprachliche Bildung lange das Merkmal höherer Schulbildung war. Der Begriff grammar school für die traditionelle Art der höheren Schule in England reicht bis ins Mittelalter zurück und weist auf ihre ursprüngliche Funktion hin: das Lehren von lateinischer Grammatik. Zudem hatten sich die alten Sprachen zu einem Statussymbol bzw. Klassenmerkmal entwickelt: Kenntnisse von Latein und Griechisch gehörten zum Persönlichkeitsmerkmal des Gentleman.29 Allerdings hatte sich das englische höhere Schulwesen im Laufe des 19. Jahrhundert nicht dahingehend ausdifferenziert, dass es neben der klassischen grammar school noch weitere, eher technisch orientierte höhere Schulen gegeben hätte.30 Nach dem Ersten Weltkrieg bestimmte schließlich diese technische Erweiterung die englische Diskussion um das höhere Schulwesen. Dazu forderte gerade die Labour Party unter dem Stichwort „secondary education for 25 26 27 28 29 30
Vgl. dazu Zymek: Stellenwert. Vgl. Glowka: England, S. 57. Vgl. Ahrens: Tradition, S. 526f. Vgl. Fahrmeir: England, S. 388. Vgl. Olschewski: Humanistische Bildung, S. 1–6. Vgl. Kazamias: Politics, S. 107–111, 132–135.
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all“ eine Öffnung des höheren Bildungswesens. So hatte das deutsche dreigeteilte höhere Schulwesen in den 1920er Jahren für England eine Vorbildfunktion.31 Nach mehreren Reformen wurde mit dem „Butler Act“ von 1944 ebenfalls ein dreigeteiltes höheres Schulwesen eingeführt, das neben der grammar school noch die secondary modern school und die technical school vorsah. Allerdings hatte dies nur kurz Bestand.32 Während der Regierungszeit der Labour Party von 1945 bis 1951 wurden vor allem in ländlichen Regionen comprehensive schools als Gesamtschulen gegründet, da dort nicht jede der drei Schulformen angeboten werden konnte. 1965 wurden schließlich fast alle höheren Schulen in comprehensive schools umgeformt, so dass in England mittlerweile die große Mehrzahl aller Schüler diese Schulform besuchen.33 Für den altsprachlichen Unterricht wurde eine weitere Entwicklung entscheidend: Bis 1960 hatten die beiden Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge auf Lateinkenntnisse ihrer Studierenden bestanden, die in Eingangsexamen nachgewiesen werden mussten. Als die beiden Universitäten diese Anforderung in Folge des Sputnik-Schocks und der damit einhergehenden Aufwertung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung 1960 abschafften, fiel der “ultimate institutional guarantor”34 für das Fach Latein. Da allerdings die Antike als kultureller Bildungsinhalt durchaus als vermittelnswert empfunden wurde, wurde das Fremdsprachenfach classics zum Kulturfach classical studies umgewandelt, in dem die Schüler mit englischen Übersetzungen arbeiten sollten.35 Hier setzte sich eine Entwicklung durch, die in England bereits in den 1920er Jahren zu beobachten ist. Der Bildungswert des altsprachlichen Unterrichts speiste sich aus zwei Begründungszusammenhängen: zum einen dem kulturellen Wert der antiken Literatur, zum anderen dem so genannten formalbildenden Wert der altsprachlichen Grammatik. In den 1920er Jahren geriet Letzterer durch Untersuchungen des amerikanischen Psychologen Edward Thorndike in die Kritik, der mit empirischen Tests nachweisen wollte, dass Latein nicht besser als andere Fächer eine allgemeine Denkfähigkeit schule.36 In England konnte sich diese Überzeugung durchsetzen, in Deutschland nicht. Somit fiel in England das Argument fort, dass das Erlernen einer alten Sprache über den eigentlichen Gegenstand hinaus Bildung vermittle.37 So kam die Idee, das Fach classical studies einzuführen auch von den englischen Altphilologen selbst. Latein sei zu schwer für Schüler durchschnittlicher Begabung, aber die griechisch-römische 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. dazu Phillips: German Example. Vgl. Kazamias: Politics, S. 254–257, 285–294; Quesel: Pädagogik, S. 76–78. Vgl. Olschewski: Humanistische Bildung, S. 157–159; Wisby: Bildung, S. 297f.; Glowka: England, S. 59f. Stray: Classics transformed, S. 274. Vgl. Fahrmeir: England, S. 391; Olschewski: Humanistische Bildung, S. 184–189, 193f. Vgl. Kapitel IV.4.2. Vgl. Kazamias: Politics, S. 269f.; Ballard: Changing school, 1925, S. 152–168.
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Kultur habe Schülern jeder Begabung etwas zu bieten, so dass man die Arbeit mit Übersetzungen empfehle.38 Dieser kurze Überblick führt deutlich vor Augen, warum die institutionelle Verankerung des Lateinunterrichts in Form von verbeamteten Lehrern und Berechtigungsscheinen wie dem Latinum in dieser Arbeit besonders betrachtet wird. Außerdem macht dieser Blick auf England deutlich, dass nicht nur die Wertschätzung des kulturellen Erbes der Antike für die Beharrungskraft des Lateinunterrichts von Bedeutung ist, sondern auch die Vermittlung der Sprache an sich. Daher erklärt sich auch, warum diese Arbeit auf die Rolle der Grammatik immer wieder intensiv eingeht. Leitfragen
In der vorliegenden Arbeit werden die ausgewählten Fallbeispiele hinsichtlich folgender Leitfragen untersucht: Welche Akteure versuchen (mit welchen Argumenten) Einfluss auf die Diskussion zu nehmen? Wer kann sich durchsetzen? Lassen sich Mechanismen der Auseinandersetzung feststellen? Mit welchen Argumenten wird dabei für oder auch gegen den altsprachlichen Unterricht argumentiert? Gerade auf die Frage nach den Argumenten wird besonderes Gewicht gelegt. Die Argumente lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: Auf der einen Seite wurden für den altsprachlichen Unterricht ideelle Argumente angebracht, die meist abstrakt und offen formuliert darauf abzielten, altsprachliche Bildung als gute Bildung darzustellen. Dabei wurde beispielsweise betont, dass altsprachliche Bildung zweckfreie Bildung sei und als kulturelles Erbe der Antike zur „Charakterbildung“ beitrage und zu „Wertebewusstsein“ erziehe. Vor allem das Verhältnis von altsprachlicher und humanistischer Bildung wird dabei immer wieder überprüft: Wann werden die Begriffe von wem synonym gebraucht? Wann löst sich diese Gleichsetzung auf und mit welchem Sinngehalt wird der Begriff „humanistisch“ dann gefüllt? Auf der anderen Seite wurden immer auch 38
Vgl. Department of Education and Science, 1977: „The civilisation of this country, as of western Europe as a whole, is based in large measure upon the culture of the Greco-Roman world. [. . .] It needs to be considered how adequate is the place now generally assigned to the study of their culture. Because the Latin and Greek languages present some difficulties to the pupil of average ability, it has come to be assumed that any study of the classics is appropriate only to the academically most able or to those requiring an examination qualification. [. . .] Because it is complete and potent, yet on a small scale compared with that of the modern world, the culture of the Greek and Romans has much to offer to pupils of a wide range of ability, if it is treated in different ways appropriate to their varying capacities. [. . .] Such a course will not usually include any formal introduction to the Greek or Latin languages (Though a knowledge of Greek alphabet and a few words in either language might naturally arise) and access to their literatures will be through translations or the re-telling of stories.“
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praktische Gründe angeführt, die den konkreten Nutzen der alten Sprachen unterstreichen sollten. Training der Muttersprache, Grundlage für das Erlernen weiterer Fremdsprachen oder Kenntnisse von Fremdwörtern sind dafür einige Beispiele.39 Ein wichtiger Indikator für die jeweils dominanten Argumente ist dabei die Entwicklung in der altsprachlichen Fachdidaktik. Hierbei wird besonders die Frage nach der Rolle des Grammatikunterrichts sowie nach dem Verhältnis zu den modernen Fremdsprachen im Mittelpunkt stehen. Wichtig ist dabei zu beachten, ob und wenn ja, wie sich die Argumente für Latein und Griechisch unterschieden. Um die alten Sprachen nicht isoliert zu betrachten, ist der Vergleich zu den anderen Fächern unerlässlich. Daher wird ebenfalls untersucht, wie die Vertreter anderer Fächer für ihre Berechtigung im Lehrplan argumentierten. Hier ergaben sich immer wieder verschiedene Allianzen und Frontstellungen. Zuletzt soll schließlich geschaut werden, wie sich die Leitfragen in diachroner Perspektive entwickelt haben. Wo sind Kontinuitäten festzustellen, wo Brüche? Wann verschwinden Argumentationsstrategien und wann tauchen sie wieder auf? Akteure
Die wesentlichen Akteure in der bildungspolitischen Frage um den altsprachlichen Unterricht ergaben sich durch die Durchsicht der Akten der Kultusministerien. Die Kultusministerien sind die Schaltstelle der deutschen Bildungspolitik: Hier werden neue Gesetze erarbeitet, gesamtdeutsche Absprachen in Länderrecht umgesetzt und an die Schulen weitergeleitet. Hier landen Beschwerden und Eingaben von Lehrern, Eltern, Schülern und Verbänden, Kirchen oder Parteien. Hier wird in Absprache mit den Universitäten die Ausbildung und Fortbildung von Lehrern geregelt. Die wichtigste Pressure-Group für den altsprachlichen Unterricht stellen die Lehrerverbände dar. Hierbei ist in erster Linie der Deutsche Gymnasialverein und seit seiner Gründung 1925 der Deutsche Altphilologenverband (DAV) von Bedeutung. Um der Gefahr vorzubeugen, dass dadurch nur die altphilologischen Selbstbeobachtungen reproduziert werden, wird wenigstens exemplarisch die Position des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes und der Vertreter des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts in den Blick genommen.40 Zu diesen fachlichen Lehrerverbänden treten noch die sogenannten Standesvertretungen der Lehrer hinzu, wie der Deutsche Philologenverband, der die Interessen der Lehrer der höheren Schule vertritt, oder die Vertretungen der Volksschullehrer. Der Deutsche Philologenverband hatte dabei stets großes Interesse am Bestand der altsprachlichen Bildung, konnte man sich dadurch 39 40
Vgl. Domnick/Krope: Student und Latinum, S. 214–227, die 1972 in einer Untersuchung viele gängige Argumente zusammengestellt haben. Vgl. dazu auch Klippel: Verhältnis, S. 41.
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doch von den anderen Schularten absetzen und den eigenen höheren sozialen und ökonomischen Status legitimieren. Als weitere Pressure-Groups können sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche gelten, die für ihren eigenen theologischen Nachwuchs ein Interesse am altsprachlichen Unterricht hatten. Ebenso machten sich die Universitäten dafür stark, dass die Abiturienten Latein erlernt haben sollten. Nicht geringschätzen sollte man darüber hinaus die starke Sympathie für den altsprachlichen Unterricht, die in der Ministerialbürokratie und selbst bei den Ministern vorherrschte. Ebenfalls traten verschiedene Elterngruppen immer wieder für den altsprachlichen Unterricht ein. Diese Arbeit hat zudem eine Art Typologie von Bildungspolitikern identifiziert, die helfen kann, die Akteure weiter zu systematisieren: zum einen diejenigen, die bei der Entwicklung des Bildungswesens langsame Veränderungen im System bevorzugen. Hierzu zählen der Deutsche Altphilologenverband, der Philologenverband, die CDU und die Universitäten. Diese Gruppierungen werden häufig als traditionell oder konservativ bezeichnet. Ihnen gegenüber stehen zum anderen diejenigen Bildungspolitiker, die ein anderes System einführen wollen. Hierzu zählen die Vertreter der Volksschullehrer, die SPD und viele Reformpädagogen. Ihnen wird häufig das Attribut progressiv zugeschrieben. Die Begriffe konservativ und progressiv sind allerdings dahingehend problematisch, da sie häufig mit einem normativen Bias besetzt sind. Daher werden die beiden Typen von Bildungspolitikern als systemimmanente bzw. systemtransformierende Reformer bezeichnet. Damit der Text aber nicht zu theoretisierend wird, wird an einigen Stellen auch von konservativen bzw. progressiven Reformern gesprochen Quellen
Das methodische Kernstück der Arbeit ist eine hermeneutische Quellenanalyse auf drei Ebenen. Auf der politisch-institutionellen Ebene (1) wurden Reformen und Reformvorschläge sowie deren Entstehung analysiert. Hier spielten neben den konkreten Reformschriften die Vorgänge in den einzelnen Kultusministerien und für die Bundesrepublik diejenigen der Ständigen Konferenz der Kultusminister eine Rolle, aber auch Veröffentlichungen von Experten. Hier sind vor allem die Lehrerverbände, besonders der Deutsche Altphilologenverband, der deutsche Gymnasialverein und der deutsche Philologenverband zu nennen, aber auch – und das gerade für die Bundesrepublik – Gutachterausschüsse wie der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen sowie der Deutsche Bildungsrat. Die zweite Ebene stellt die fachwissenschaftlich-didaktische Ebene (2) dar. Da Lehrer an den Universitäten wissenschaftlich ausgebildet wurden, kamen viele fachliche Impulse auch für den Schulunterricht aus der Fachwissenschaft. Gerade durch zwar theoretische, aber dennoch konkrete Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung lässt sich vieles über das Selbstverständnis eines Faches erfahren. Hierbei wurden Veröffentlichungen aus Fachzeitschriften, aber
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auch sonstige Veröffentlichungen zum altsprachlichen Unterricht analysiert. Als dritte Ebene wurde eine lebensweltlich-praktische Ebene (3) untersucht, mit der anhand von Leserbriefen und Eingaben an Ministerien von Eltern, Lehrern oder Schülern den praktischen Bedürfnissen im Schulalltag nachgespürt werden sollte. Die einzelnen Teile des Quellenkorpus lassen sich nicht immer exakt einer dieser Ebenen zuordnen. Meistens können die Quellen mehreren Ebenen zugeschrieben werden. Das Quellenkorpus besteht zum großen Teil aus Akten der preußischen, bayerischen und nordrhein-westfälischen Kultusministerien, die im Geheimen Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz (GStAPK), im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (BayHStA) und im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LAV NRW) gesichtet wurden. Hinzu traten Akten aus dem Bundesarchiv Koblenz und Berlin-Lichterfelde, wo Material zur Ständigen Konferenz der Kultusminister sowie Unterlagen zur Zeit des Nationalsozialismus zu finden sind. Aus dem Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) wurde auf die Akten des Deutschen Bildungsrats, auf Nachlässe verschiedener Bildungspolitiker sowie auf Staatsexamensarbeiten angehender Latein- und Griechischlehrer aus den 1920er und 1930er Jahren zurückgegriffen. Zudem wurden Zeitschriften verschiedener Lehrerverbände oder der Kultusministerien selbst systematisch analysiert. Für die Weimarer Republik waren dies das Deutsche Philologen-Blatt (DPB), die Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, Das humanistische Gymnasium (HG), die Zeitschrift des deutschen Gymnasialverbandes, das Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes (MDAV), das seit der Gründung des Verbandes 1925 erschien, die Neuen Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung (NJfWuJ),41 die Monatsschrift für das höhere Schulwesen (MfHS), die vom preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung herausgegeben wurde, die Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften (UMN), die Zeitschrift des Deutschen Vereins zur Förderung des Mathematischen und Naturwissenschaftlichen Unterrichts sowie Die neueren Sprachen (DNS) als Fachblatt für den neusprachlichen Unterricht. Für die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur wurden die Monatsschrift für das höhere Schulwesen bis zu seiner Einstellung 1938 und Das humanistische Gymnasium (ab 1938 nur noch Das Gymnasium) bis zur Einstellung 1942 weiter analysiert. Alle anderen Fachzeitschriften wurden gleichgeschaltet und durch Zeitschriften der Nationalsozialisten ersetzt. Hier sind neben dem Blatt Die Deutsche Höhere Schule (DDHS), die Beilage zu dieser Zeitschrift für den 41
Von 1831 bis 1897 erschien dieses Periodikum unter dem Titel Neue Jahrbücher für Philologie und Philosophie, von 1898 bis 1924 dann unter dem Titel Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur. Ab 1938 hieß diese Zeitschrift schließlich Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung. Sie ist eine der ältesten pädagogischaltphilologischen Fachzeitschriften.
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altsprachlichen Unterricht Gegenwärtiges Altertum (GA) bzw. Die alten Sprachen (AS) sowie die Neuen Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung (NJfAudB) zu nennen. Für die Zeit der Bundesrepublik wurden das Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes, Das Gymnasium, Der Altsprachliche Unterricht (AU) und Die Alten Sprachen im Unterricht (ASiU) als altphilologische Fachzeitschriften ausgewertet. Zudem die Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Lebendiges Gymnasium (LG) und die des Deutschen Philologenverbandes Die Höhere Schule (HS). Die Positionen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer wurden u.a. durch die Analyse der Denkschriften der Gesellschaft Deutscher Ärzte und Naturforscher berücksichtigt, die der modernen Fremdsprachen durch die Aktivitäten des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes (ADNV). Hinzu kamen Veröffentlichungen von Einzelpersonen, die mit ihren Schriften Einfluss auf den altsprachlichen Unterricht oder das höhere Schulwesen nahmen, wie beispielsweise Werner Jaeger, Josef Schnippenkötter, Wilhelm Flitner, Theodor Litt, Adolf Bohlen oder Hartmut von Hentig. Punktuell ergänzt wurde diese systematische Untersuchung durch Presseberichte, die anhand von Zeitungsausschnittsammlungen des Archivs für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), des Archivs der sozialen Demokratie (AdsD) sowie der Kultusministerien erhoben wurden und keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben. Forschungsstand
Bildungsgeschichte wurde früher häufig als pädagogische Ideengeschichte, später dann als Sozial- und Gesellschaftsgeschichte betrieben.42 Mittlerweile wird sie als eine Mischung aus Kultur-, Sozial- oder Politikgeschichte verstanden.43 So verfolgt auch diese Arbeit das Ziel, sowohl zu zeigen, wie sich Vorstellungen über die Idee des humanistischen Bildungsideals und des altsprachlichen Unterrichts wandelten, als auch darzustellen, wie diese Vorstellungen konkrete bildungspolitische Entscheidungen beeinflussten. Dabei ist das Verhältnis selbstverständlich ein wechselseitiges: Bildungspolitische Entscheidungen konnten durchaus auch Einfluss auf Vorstellungen nehmen. Daher knüpft diese Arbeit an viele verschiedene Forschungsfelder an. Im Folgenden soll darüber ein kurzer allgemeiner Überblick gegeben werden. Essentiell für diese Arbeit sind auch die zahlreichen Forschungsarbeiten zur politischen Kultur und zu gesellschaftlichen Leitbildern der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik. Da auf diese Forschungen in den entsprechenden Kapiteln ausführlich eingegangen wird, finden sie in folgender Beschreibung des Forschungsstands keine Erwähnung. 42 43
Vgl. Brändli: Rezension. Vgl. Fend: Geschichte, S. 24.
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Altsprachlicher Bildung als Forschungsfeld wurde bereits einiges an Aufmerksamkeit zuteil. Zunächst wären hier die Arbeiten von Manfred Landfester und Ute Preuße zu nennen, die beide unter dem Titel „Humanismus und Gesellschaft“ die Bedeutung altsprachlicher Bildung für das 19. bzw. das erste Drittel des 20. Jahrhundert untersucht haben.44 Beide stützten sich dabei hauptsächlich auf die Analyse von Fachzeitschriften und konnten vor allem den Wandel von Einstellungen der „Humanisten“ durch die Wechselwirkung zwischen altsprachlichem Unterricht und politischem System sehr gut nachzeichnen. Hans Jürgen Apel und Stefan Bittner haben mit ihrer Studie über „Anspruch und Wirklichkeit der altertumskundlichen Unterrichtsfächer“ bis 1945 zudem eine Reihe von Schulakten ausgewertet und so die unterrichtliche Praxis stärker in den Fokus genommen.45 Für die geschichtliche Entwicklung des altsprachlichen Schulunterrichts und die Entwicklung seiner Didaktik sind vor allem die Arbeiten der beiden Berliner Altphilologen und altsprachlichen Didaktiker Andreas Fritsch und Stefan Kipf herauszustellen.46 Kipf hat zudem 2006 eine umfassende Darstellung der Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts in der Bundesrepublik publiziert.47 Gerade die ausführlichen Analysen fachdidaktischer Konzepte, Lektürekanons oder Lehrbücher stellen für diese Arbeit eine wichtige Grundlage dar. Da Fachdidaktik und universitäre Wissenschaft aber eng zusammenhängen, muss neben der Erforschung des altsprachlichen Unterrichts im engeren Sinne auch die Geschichte der Altertumswissenschaft im weiteren Sinne beachtet werden. Hierbei konnte sich diese Arbeit vor allem auf die gründliche Aufarbeitung der institutionellen Verstrickungen der deutschen Altertumswissenschaft mit dem Nationalsozialismus stützen.48 Zum fremdsprachlichen Unterricht im Allgemeinen sei auf die Forschungen zur Geschichte der Fremdsprachen und der Fremdsprachendidaktik in München hingewiesen.49 Gerade in den Jahren 2000 bis 2010 waren Gesamtdarstellungen über die Geschichte der lateinischen Sprache bei Ordinarien der klassischen Philologie sehr beliebt. Das Buch des Tübinger Ordinarius Jürgen Leonhardt „Latein. Geschichte einer Weltsprache“ ist dabei ebenso eine Hommage an die lateinische
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Vgl. Landfester: Humanismus und Gesellschaft; Preuße: Humanismus und Gesellschaft. Vgl. zu diesem Thema auch die Aufsätze Groppe: Diskursivierung; Matthiessen: Perspektiven. Vgl. Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung. Vgl. Fritsch: Vom „Scriptum“ zum „Lesenkönnen“; Fritsch: Lateinunterricht; Fritsch: Entwicklung der Didaktik; Fritsch: Lesestücke; Kipf: Historia magistra scholae; Kipf: Aut caesar aut nihil. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht. Vgl. Losemann: Nationalsozialismus und Antike; Wegeler: Gelehrtenrepublik; Wirbelauer: Freiburger Philosophische Fakultät; Hoßfeld: Kämpferische Wissenschaft; Eckart/ Sellin/Wolfgang: Universität Heidelberg; Hausmann: Geisteswissenschaften. Vgl. Doff: Englischdidaktik; Doff/Wegner: Fremdsprachendidaktik; Klippel: Verhältnis; Ostermeier: Sprachenwirrwarr; Ruisz: Umerziehung.
I. Einleitung
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Sprache wie der Bestseller „Latein ist tot. Es lebe Latein. Kleine Geschichte einer großen Sprache“ des Münchener Altphilologen Wilfried Stroh.50 Dies ist unterhaltsam und anregend zu lesen, macht aber auch ein Problem deutlich: Wenn der Untersuchungsgegenstand selbst die eigene berufliche Legitimation darstellt, haben solche Darstellungen – verständlicherweise – auch immer den Auftrag, das Existenzrecht des eigenen Faches zu belegen. Die Geschichte des höheren Schulwesens und des Gymnasiums war, seitdem Friedrich Paulsen seine „Geschichte des Gelehrtenunterrichts“ – ein wahrer Klassiker der Bildungsgeschichte51 – zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat, immer gerne Objekt historischer Untersuchungen. Dabei konzentrieren sich die meisten Werke zwar auf die Frühe Neuzeit oder das 19. Jahrhundert, allerdings ist es bezeichnend, dass die meisten Darstellungen eine für historische Arbeiten außergewöhnlich lange Perspektive in den Blick nehmen.52 Auch das Grundlagenwerk „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“, das von den Pionieren der deutschen Bildungs- und Sozialgeschichte wie Christoph Führ, Bernd Zymek, Heinz-Elmar Tenorth, Karl-Ernst Jeismann, Dieter Langewiesche und Peter Lundgreen herausgegeben und verfasst wurde, betrachtet in insgesamt fünf Bänden das deutsche Bildungswesen in all seinen Facetten vom 15. Jahrhundert bis in die 1990er Jahre.53 Dies weist darauf hin, dass die Entwicklung des Schulwesens eben nur durch seine historische Genese zu verstehen ist. Für das 20. Jahrhundert sind neben Forschungen speziell zur Weimarer Republik54 und zum Nationalsozialismus55 auch einige Darstellungen erschienen, die das ganze 20. Jahrhundert betrachten – häufig sogar bis zur jeweiligen eigenen Gegenwart.56 Dies jedoch stellt gerade für die Zeit der Bundesrepublik dahingehend ein Defizit dar, da häufig noch nicht mit archivalischen Quellen gearbeitet und immer wieder aus bildungsgeschichtlichen Untersuchungen Aufträge für das eigene gegenwärtige Handeln abgeleitet wurden. Exemplarisch dafür soll die Arbeit des Pädagogen Fritz Blättner angeführt werden, der 1960 eine Geschichte des Gymnasiums mit dem Untertitel „Aufgaben der höheren Schule in Geschich-
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Vgl. Leonhardt: Latein; Stroh: Latein ist tot. Ähnlich auch Fuhrmann: Latein und Europa. Vgl. Fend: Geschichte, S. 24f.; Gass-Bolm: Gymnasium, S. 18. Jeismann: Gymnasium, Band 1 und 2; Müller: Sozialstruktur; Kemper: Schule und bürgerliche Gesellschaft; Lundgreen: Sozialgeschichte, Teil I und II; Kraul: Gymnasium; Friedeburg: Bildungsreform; Geißler: Schulgeschichte; Konrad: Geschichte. Vgl. Brändli: Rezension; Zymek: Schulen; Langewiesche/Tenorth: Bildung; Führ: Bildungsgeschichte; Führ: Koordination; Müller-Rolli: Lehrerbildung; Müller-Rolli: Lehrer; Albisetti/ Lundgreen: Höhere Knabenschule. Vgl. Müller: Höhere Schule; Tenorth: Bildungsgeschichte; Führ: Schulpolitik. Vgl. Schneider: Höhere Schule; Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz; Scholtz: Erziehung; Nagel: Hitlers Bildungsreformer; Tenorth: Bildungsgeschichte. Vgl. Kraul: Gymnasium; Kemper: Schule und bürgerliche Gesellschaft; Lundgreen: Sozialgeschichte, II; Friedeburg: Bildungsreform.
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I. Einleitung
te und Gegenwart“ verfasste.57 Eine Ausnahme davon ist allerdings das Buch von Torsten Gass-Bolm von 2005 „Das Gymnasium 1945–1980“, das in genuin historischer Perspektive und quellengesättigt eine wichtige Schneise schlägt, um das Verhältnis von „Bildungsreform und gesellschaftliche[m] Wandel“ – so der Untertitel – herauszuarbeiten.58 Für den Teil über die Bundesrepublik bot dieses Buch eine unverzichtbare Orientierung. Für die institutionelle Entwicklung des höheren Schulwesens und die Rolle der Kultusministerkonferenz (KMK) in der Bundesrepublik war die Arbeit von Hans-Werner Fuchs von Bedeutung.59 Zudem liegen häufig spezielle Forschungen zu einzelnen deutschen Ländern vor, die aus viel Archivmaterial detailreiche, faktengesättigte Studien hervorbrachten.60 Vor allem die unmittelbare Nachkriegszeit nach 1945 stand hier vielfach im Fokus.61 Historische Aufarbeitung von Antikerezeption als Bildungsmodell im Sinne einer konservativ-intellektuellen Ideengeschichte bieten die Studien von Carola Groppe über den George-Kreis – und weit darüber hinaus – sowie die herausragende Arbeit von Barbara Stiewe über den „Dritten Humanismus“.62 Sie waren ein wichtiges Fundament, um im Dschungel der Humanismusdebatten die Orientierung zu bewahren und die wesentlichen Pfade zu identifizieren. Die bisherigen Forschungen zur Bildungsgeschichte stellen den Forschenden allerdings häufig vor ein Problem. Wissen über das Bildungswesen existiert sowohl von einer Innen- als auch von einer Außenperspektive aus betrachtet. Helmut Fend nennt Ersteres Professionswissen („Wissen im System“) und Letzteres Wissenschaft („Wissen über das System“). Gerade das Professionswissen neigt dazu, mit den Darstellungen eigene bildungspolitische Agenden zu verfolgen. Dies gilt selbstverständlich auch für die geschichtliche Aufarbeitung von Lehrerverbänden und ähnlichem. Daher wurde vieles – selbst wenn dazu bereits Literatur vorhanden war – noch einmal eigenständig aus den Quellen erarbeitet. Manche Literatur, die schon etwas älter ist oder in Verdacht stand, dem eigenen Wollen im System wissenschaftliche Schützenhilfe zu leisten,63 wurde daher vernachlässigt.64
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Blättner: Gymnasium. Ähnlich auch Kuhlmann: Schulreform. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung. Für Kaiserreich und Weimar: Flöter: Eliten-Bildung; Ilg: Bildung; Tosch: Gymnasium; für BRD: Lehning: Weg; Müller: Schulpolitik; Eich: Schulpolitik; Ruge-Schatz: Umerziehung; Liedtke: Handbuch. Müller: Schulpolitik; Eich: Schulpolitik; Ruge-Schatz: Umerziehung; Huelsz: Schulpolitik. Vgl. Groppe: Macht der Bildung; Stiewe: Dritter Humanismus. Vgl. dazu Kapitel IV.3.3.3. Bspw. Blättner: Gymnasium; Becker/Kluchert: Bildung der Nation; Kuhlmann: Schulreform.
II. Die Weimarer Republik 1 Die Reichsschulkonferenz 1920 Das erste bildungspolitische Großereignis der Weimarer Republik war die Reichsschulkonferenz, die vom 11. bis 17. Juni 1920 im Reichstagsgebäude in Berlin stattfand. Auch wenn die Konferenz nur beratenden und nicht gesetzgebenden Charakter hatte, waren auf ihr alle wichtigen bildungspolitischen Akteure der Weimarer Zeit versammelt.1 Die ausführlichen und kontroversen Diskussionen, die wortgetreu dokumentiert wurden, geben einen guten Einblick in die bildungspolitischen Leitbilder der Zeit.2 Daher werden die Diskussionen auf der Reichsschulkonferenz als Ausgangspunkt genommen, um den Status quo des bildungspolitischen Diskurses zu Beginn der Weimarer Republik herauszudestillieren. Allerdings werden Archivalien und Zeitschriften von 1916 bis 1923 hinsichtlich dieser Themen ausgewertet, um zeigen zu können, dass es sich tatsächlich um Diskurse und nicht um tagesaktuelle Debatten handelte. Die Konferenz ging zurück auf einen Antrag der SPD-Fraktion im Reichstag vom Frühjahr 1917, der vorgesehen hatte, nach Beendigung des Krieges über die „Gesamtheit der pädagogischen, schulgesetzlichen und schulorganisatorischen Fragen zu beraten“.3 Bereits im Dezember 1918 waren erste Vorbereitungen für solch eine Konferenz getroffen worden. Nachdem die Länder Vorschläge zu inhaltlichen Punkten, die auf einer solchen Konferenz besprochen werden sollten, eingereicht hatten, hatte Reichsinnenminister Erich Koch Länder und Gemeindeverbände zu einer Vorkonferenz im Oktober 1919 eingeladen.4 Insgesamt gab es neun „Beratungsgegenstände“, die sich hauptsächlich mit der äußeren Reform des Schulwesens, also dem generellen Aufbau des Bildungswesens, nicht aber mit einer Reform der Lehrpläne beschäftigten.5 Schularten, methodische Fragen, Rolle von Lehrern, Schülern und Eltern sowie verwaltungstechnische Fragen sollten zunächst in Vollversammlungen besprochen werden. Zu jedem Punkt gab es zwei bis fünf Berichterstatter, die verschiedene Interessensgrup1 2 3
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Vgl. Müller: Höhere Schule, S. 53f. Siehe auch das mediale Echo: Allein in der Vossischen Zeitung erschienen vom 11. bis 20. Juni 1920 zahlreiche Artikel. Vgl. Reichschulkonferenz 1920. Zur Konferenz vgl. auch Führ: Schulpolitik, S. 45–50; Becker/ Kluchert: Bildung, S. 263–277. Reichsschulkonferenz 1920, S. 11; vgl. auch die offizielle Einladung vom Reichsamt des Inneren an sämtliche Bundesregierungen [sic!] außer Preußen vom 4.1.1919, BayHStA, MK 14906. Vgl. Reichsschulkonferenz 1920, S. 12–16. Zunächst sollte die Reichsschulkonferenz im April stattfinden, musste dann aber auf den Juni verschoben werden. Vgl. Müller: Höhere Schule, S. 52f.
https://doi.org/9783110603408-002
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II. Die Weimarer Republik
pen vertraten. Nach den Berichten gab es jeweils eine Aussprache, in der sich dann auch Teilnehmer aus dem Plenum zu Wort melden konnten. Nachdem die Vollversammlung an vier Tagen getagt hatte, wurden die Punkte in 17 Ausschüssen weiterdiskutiert und die Ergebnisse in Leitsätzen zusammengefasst. Diese Leitsätze standen an den letzten drei Tagen wiederum im Plenum zur Diskussion.6 Insgesamt nahmen über 700 Personen an der Reichsschulkonferenz teil.7 Circa ein Viertel davon waren Behördenvertreter von Reich, Ländern und Städten, ein weiteres Viertel waren Einzelpersonen.8 Die restlichen Teilnehmer waren Vertreter von Verbänden und Vereinigungen.9 Den größten Anteil daran wiederum hatten die „Berufs- und Standesvertretungen“10 , also die Lehrerverbände der verschiedenen Schularten und -fächer sowie die Hochschulen.11 Daneben waren die Kirchen12 , die Gewerkschaften13 , Vertreter der Jugendbewegung14 und weitere pädagogische und schulpolitische Vereinigungen15 eingeladen. Die Konferenz war in dieser Form einzigartig. Der Versuch, mit einem so breiten Teilnehmerfeld die Leitlinien einer „reichsweiten“ Bildungspolitik zu diskutieren, wurde danach nicht wieder unternommen. Das weist auf den hohen Stellenwert bildungspolitischer Fragen in der Frühphase der Weimarer Republik hin – vor allem wenn man bedenkt, wie hoch die anfallenden Kosten und wie leer die Staatskassen waren.16 Der betriebene organisatorische und finanzielle Aufwand lässt deutlich werden, wie reformbedürftig den Zeitgenossen das bisherige Schulsystem erschien und wie wenig sie diesem System zutrauten, den sich wandelnden gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Die Kritik an dem bestehenden System war jedoch keine Neuheit. Bereits vor und während
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Vgl. Reichsschulkonferenz 1920, S. 16–18. Vgl. ebenda, S. 19–72. Dort zunächst eine Liste aller Teilnehmer geordnet nach ihren entsendenden Organen, danach nochmals in alphabetischer Reihenfolge. Hierunter waren Professoren wie Otto Immisch oder Ernst Troeltsch, viele Lehrer von staatlichen und privaten Schulen wie Karl Pflug, Helene Lange oder Gustav Wyneken, Mitglieder der Nationalversammlung und Journalisten, vgl. Reichsschulkonferenz 1920, S. 42–45. Vgl. Müller: Höhere Schule, S. 56. Eine genaue Auflistung siehe Reichsschulkonferenz 1920, S. 19–45. Reichsschulkonferenz 1920, S. 26. Vgl. Reichsschulkonferenz 1920, S. 26–34. Vgl. ebenda, S. 38f. Vgl. ebenda, S. 39f. Vgl. ebenda, S. 34f. Vgl. ebenda, S. 35–38. Ähnlich Becker/Kluchert. Bildung, S. 276f. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht gab im Vorfeld sogar ein „Handbuch für die Reichsschulkonferenz“ heraus, vgl. Die deutsche Schulreform.
1 Die Reichsschulkonferenz 1920
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des Ersten Weltkrieges hatten breite Diskussionen zu schulpolitischen Fragen stattgefunden. 1.1 Die bildungspolitischen Diskussionen vor der Reichsschulkonferenz
Schon vor der Reichsschulkonferenz 1920 und auch während des Ersten Weltkrieges hatte – um eine zeitgenössische Formulierung aufzugreifen – „im pädagogischen Walde lebhafte Bewegung in allen Zweigen und Wipfeln“ geherrscht.17 Reformpädagogik, Mädchenbildung und auch die Gestaltung der höheren Schule waren verhandelt worden.18 Dabei hatten sich zwei Reformforderungen herauskristallisiert, die auch die Reichsschulkonferenz bestimmen sollten: die Verwirklichung des „Aufstieges der Begabten“ und die Förderung des „Nationalen“ an den deutschen höheren Schulen. Vor allem bei Reformpädagogen und Sozialdemokraten, die in der Schulpolitik einen Hebel zur Neuordnung der Gesellschaft sahen, hatte bereits vor und während des Ersten Weltkrieges die Vorstellung vorgeherrscht, dass das bisherige Schulsystem mit seinem eher exklusiven Zugang zur höheren Schule einen „Aufstieg der Begabten“19 oder auch einen „Aufstieg der Tüchtigen“20 , vor allem aus niederen Schichten, verhindere.21 Ein Konzept zum Aufbrechen dieser „chinesischen Bildungsmauer“22 sahen sie in der Einführung einer Einheitsschule. Die Idee einer Einheitsschule war zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgekommen23 und war mit der Idee einer „allgemeinen Nationalschule“ ver-
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Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 3. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 42–53; vgl. zeitgenössisch beispielsweise den Sammelband von 1916 Norrenberg: Die deutsche höhere Schule nach dem Weltkriege, darin u. a. Beitrag Fischer: Gedanken, S. 21. Petersen: Aufstieg der Begabten, 1916; Havenstein, Martin: Was kann die höhere Schule durch die Einheitsschule gewinnen?, in: DPB 28 (1920), S. 45–46; Retwisch, E.: Neue Bildungsziele und altes Bildungsgut, in: DPB 27 (1919), S. 216–218; Litt, Theodor: Die höhere Schule und das Problem der Einheitsschule, in: MfHS 18 (1919), S. 280–293, hier S. 283; Korselt: Ein Beitrag zur Frage des Aufstieges der Begabten, in: DPB 27 (1919), S. 354–355. Von sozialdemokratischer Seite eher „Aufstieg der Tüchtigen“, vgl. Wittwer: Sozialdemokratische Schulpolitik, S. 201f. Vgl. dazu auch Drewek: Begabungstheorie, S. 400–408. Zur Unterscheidung siehe Kapitel II.1.3.3. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 55–57. Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 3. Vgl. Oelkers: Gesamtschule, S. 8. Zur Entwicklung des Konzepts im 19. Jahrhundert siehe ebenda, S. 11–33.
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II. Die Weimarer Republik
bunden.24 Statt eines versäulten Schulwesens, in dem Volksschulwesen, mittleres und höheres Schulwesen nebeneinander existierten und der Wechsel zwischen den Systemen so gut wie unmöglich war, wurde ein einheitliches System für alle angestrebt, das sich erst nach einer gewissen Zeit des gemeinsamen Lernens ausdifferenzieren sollte. Die prominentesten Vertreter dieses Konzepts waren neben den Sozialdemokraten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Volksschullehrer.25 Die Vorstellungen allerdings, die sich unter dem Begriff Einheitsschule vereinigten, waren äußerst unterschiedlich.26 Die Minimalforderung der Einheitsschulbefürworter war eine gemeinsame, für alle Schüler verpflichtende, vierjährige Grundschule. Neben der Volksschule bestand nämlich auch die Möglichkeit, sein Kind auf eine meist dreijährige private oder öffentliche Vorschule zu schicken, die die Schüler direkt auf die Aufnahme an den höheren Schulen vorbereitete.27 Von ihren Gegnern wurden die Einheitsschulideen etwa als „radikale Verschmelzung aller Schultypen zu einer einzigen Organisation für alle Kinder während der gesamten Zeit der Schulpflicht“28 diskreditiert, auch wenn dies so in Deutschland nie gefordert wurde. Was die Vertreter der traditionellen höheren Schule jedoch als Bedrohung für ihre Schultypen empfanden, war die Forderung nach einem längeren gemeinsamen Lernen, die fast jedes Konzept einer wie auch immer gearteten Einheitsschule der damaligen Zeit beinhaltete. Dies hätte nämlich eine kürzere Periode der höheren Schulausbildung nach sich gezogen, was die Vertreter des traditionellen Schulwesens
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Ebenda, S. 15. Vgl. Wittwer: Sozialdemokratische Schulpolitik, S. 199–206, 214–217. Vgl. auch Schulforderung des Deutschen Lehrervereins vom 17. November 1918, in: Oppermann: Quellen, S. 182; Das Schulprogramm des Deutschen Lehrervereins, beschlossen auf der 27. Vertreterversammlung vom 10.–12. Juni 1919, in: Oppermann: Quellen, S. 182–186, hier S. 186; zur zeitgenössischen Auseinandersetzung vgl. Behrend: Schulprogramm der Sozialdemokratie. Die Positionen der Sozialdemokraten zum Gymnasium und zum altsprachlichen Unterricht waren nicht so einheitlich wie gerne dargestellt. Von gymnasialer Seite wurde immer wieder auf den österreichischen Sozialdemokraten Engelbert Pernerstorfer hingewiesen, der das klassische Gymnasium verteidigte, vgl. Ritter von Wittek, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 130; Pro gymnasio, Eingabe des Hauptausschusses der vereinigten Elternbeiräte höherer Unterrichtsanstalten München an das Reichsministerium des Inneren, 23.2.1920, in: HG 31 (1920), S. 97–98 (Original auch in BayHStA, MK 14906). Buchenau, Arthur: Die differenzierte Einheitsschule, in: DPB 27 (1919), S. 10–12; Litt, Theodor: Die höhere Schule und das Problem der Einheitsschule, in: MfHS 18 (1919), S. 280–293; Weber, Leo: Gymnasiale Lebensfragen und Einheitsschule, in: HG 31 (1920), S. 31–46; Erzgraeber, R.: Wird die Einheitsschule die höhere Schule von Untauglichen entlasten?, in: DPB 28 (1920), S. 113. Albert Rehm spricht sogar vom Gymnasium als „humanistischer Einheitsschule“, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 165. Vgl. Müller/Zymek: Datenhandbuch II,1, S. 132. Oelkers: Gesamtschule, S. 35; ähnlich auch Wittwer: Sozialdemokratische Schulpolitik, S. 201.
1 Die Reichsschulkonferenz 1920
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verhindern wollten,29 weil sie dadurch einen „Niveauverlust“ befürchteten. Der gängige Vorwurf lautete, eine Einheitsschule bedeute Gleichheit im Sinne von gleich niedrig.30 Die Befürworter einer Einheitsschule taten dem traditionellen Schulwesen in ihrer vehementen Kritik aber nicht weniger Unrecht: Für sie waren die höheren Schulen und darunter vor allem das Gymnasium hermetisch abgeschlossene „Standesschulen“, die den Aufstieg von Schülern aus niederen sozialen Schichten bewusst vereiteln würden,31 was in dieser Vehemenz ebenfalls nicht der Wirklichkeit entsprach. Die sprachlichen Übertreibungen auf beiden Seiten und das bewusste Missverstehen der jeweils anderen Seite zeigen, welche Bedeutung die Frage der äußeren Form des Schulsystems bereits im Vorfeld der Reichsschulkonferenz hatte.32 Die andere zentrale Frage war die nach der inhaltlichen Ausrichtung der höheren Schule. Spätestens seit dem bekannten Ausruf von Kaiser Wilhelm II. auf der Reichsschulkonferenz 1890 „Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen, nicht junge Griechen und Römer“33 stand die Forderung nach stärker „nationalen“, also „deutschen“ Unterrichtsinhalten im Raum.34 Praktisch bezog sich dies darauf, die Stundentafeln dahingehend zu verändern, dass die sogenannten „ethischen Fächer“35 , Deutsch, Geschichte, Religion, Staatsbürgerkunde und Erdkunde mehr Stunden erhielten. Kürzen wollte man dafür beim fremdsprachlichen Unterricht. Immerhin verlangte die Oberrealschule zwei, das Realgymnasium und das Gymnasium sogar drei Pflichtfremdsprachen, so dass die Schüler an Realgymnasium und Oberrealschule ca. ein Drittel, am Gymnasium knapp die Hälfte ihrer Schulstunden mit dem Unterricht in fremden Sprachen zubrachten.36 Die 29 30 31
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Vgl. Berichte Karsen, Kerschensteiner, Voß und Tews, Reichsschulkonferenz 1920, S. 98–158. Einen guten Überblick über die Diskussion gibt Oelkers: Gesamtschule, S. 34–46. Vgl. beispielsweise Ritter von Wittek, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 131: Er spricht u. a. von einem „Sturm der Gleichheitsfanatiker“. Vgl. dazu Zymek/Ragutt: Keine „Stunde Null“, vor allem S. 139f.; Ilg: Bildung, S. 180f. Zeitgenössisch: Korselt: Ein Beitrag zur Frage des Aufstieges der Begabten, in: DPB 27 (1919), S. 354–355. Bewusste Übertreibungen und Stilisierung von Feindbildern als Taktik zur Durchsetzung eigener Interessen hat Friederike Klippel auch für das Verhältnis von Neusprachlern und Altsprachlern Ende des 19. Jahrhunderts ausgemacht, vgl. Klippel: Verhältnis, S. 41f. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin, 4. bis 17. Dezember 1980, S. 72. Dieser Satz zählt zu den am meisten zitierten Sätzen in der historischen Bildungsforschung, vgl. in Auswahl Paulsen: Geschichte des Gelehrtenunterrichts, S. 597; van Bommel: Classical Humanism, S. 16; Stiewe: Der „Dritte Humanismus“, S. 187f.; Flöter: Eliten-Bildung, S. 111; Karg: Rolle, S. 241; Albisetti/Lundgreen: Höhere Knabenschule, S. 258; Tosch: Gymnasium, S. 78. Vgl. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 59; Preuße: Humanismus, S. 104–127. Elpe, H.: Die Philologen und die Schulreform. Zusammenfassung ihrer Vorschläge zur Organisation des höheren Schulwesens, in: DPB 27 (1919), S. 76–79, hier S. 77. Zahlen gelten für Preußen, vgl. Neue Lehrpläne und Lehraufgaben für die höheren Schulen
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II. Die Weimarer Republik
deutlichste Ausprägung dieses deutsch-national ausgerichteten Gedankens war die Forderung nach einem vierten Typ der höheren Schule, dem „Deutschen Gymnasium“. Sie entsprang dem Empfinden, dass keine der drei höheren Schulen die „deutsche Kultur“ in den Mittelpunkt stelle.37 Auf die „ethischen Fächer“ sollten die meisten Stunden entfallen, wohingegen der fremdsprachliche Unterricht gekürzt werden sollte: eine fremde Sprache genüge „zur vollen Bildung“.38 Insgesamt ist jedenfalls zu konstatieren, dass die Betonung des Nationalen – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – partei- und verbandsübergreifender Konsens geworden war.39 Die Verringerung des fremdsprachlichen Unterrichtskontingentes forderten auch die Vertreter des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts, weil sie ihre Fächer ohnehin für unterrepräsentiert hielten. Von der Reduzierung auf nur zwei Pflichtfremdsprachen versprach man sich mehr Kapazitäten für mathematisch-naturwissenschaftliche Inhalte.40 Doch auch wenn die Bedeutung des Nationalen zum Konsens geworden war, bedeutete dies freilich noch nicht,
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in Preußen, 29.5.1901, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 43 (1901), S. 471–544. In Bayern verhielt sich die Aufteilung ganz ähnlich, vgl. Schulordnung für die höhere Schule in Bayern, 30.5.1914, in: Neue Gesetz- und Verordnungen-Sammlung für das Königreich Bayern mit Einschluss der Reichsgesetzgebung 42 (1919), S. 282–341. Richert, Hans: Die Bildungsaufgabe des „deutschen Gymnasiums“, in: DPB 27 (1919), S. 485–486, hier S. 485. Die Idee des deutschen Gymnasiums stammte von Gerhard Budde, der 1915 die Forderung nach einem solchen erhob. Er bezog sich dabei auf den oben zitierten, bekannten Ausruf Wilhelms II. bei der Reichsschulkonferenz 1890. Vgl. Budde: Krieg und höhere Schule!, in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 41 (1914/15), S. 321–324; Fortsetzung S. 329–332. Richert, Hans: Die Bildungsaufgabe des „deutschen Gymnasiums“, in: DPB 27 (1919), S. 485–486, hier S. 486. Vgl. Cauer während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 484: „Daß dabei das Deutsche eine hervorragende Rolle zu spielen hat, ist natürlich auch meine Ansicht“; Goldbeck während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 512: „[. . .] und darum muß der deutsche Mensch hineinkommen in den Mittelpunkt des humanistischen Gymnasiums“; Betonung nochmal während der Diskussion im 2. Ausschuss, Reichsschulkonferenz 1920, S. 707. Bolle (Philologenverband) während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 508; Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Sprengel (Germanistenverband), Reichsschulkonferenz 1920, S. 701. Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Norden (Verband deutscher Hochschulen), Reichsschulkonferenz, S. 706; Neumann, Robert: Politik und Schulreform, in: MfHS 18 (1919), S. 93–106, hier S. 101. Das „Deutsche Gymnasium“ allerdings wurde gerade von den Vertretern der höheren Schule und der Universitäten abgelehnt, unter anderem wegen der Tatsache, dass man mit nur einer Fremdsprache das Abitur erlangen sollte. Darauf wird in Kapitel II.1.2 genauer eingegangen. Vgl. Leitsätze über Stellung und Aufgabe des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts, aufgestellt vom erweiterten Vorstande des Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts, in: UMN 22 (1916), S. 123; Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 7.
1 Die Reichsschulkonferenz 1920
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dass alle mit der Kürzung des fremdsprachlichen Unterrichts einverstanden waren.41 1.2 Allianzen und Frontstellungen im Umfeld der Reichsschulkonferenz
Die Vertreter der höheren Schule waren in verschiedenen Verbänden organisiert. Neben dem „Deutschen Philologenverband“42 , der Lehrer aller Typen der höheren Schule vertrat, hatten auch die einzelnen Typen eigene Verbände. Der „Deutsche Gymnasialverein“ vertrat die Anliegen des klassischen Gymnasiums, der „Allgemeine Deutsche Realschulmännerverein“ die des Realgymnasiums und der „Verein zur Förderung des lateinlosen höheren Schulwesens“ die der Oberrealschulen.43 Einig waren sie sich in der äußeren Gestaltung des Schulwesens: Eine gemeinsame Grundschule sollte höchstens vier Jahre dauern.44 Auf diese habe dann eine neunjährige höhere Schule zu folgen.45 Die höhere 41
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Dieser Vorschlag sorgte innerhalb der Vertreter der höheren Schule für Diskussion. Ende 1919 übernahm sogar der Vereinsverband akademisch gebildeter Lehrer, der sich 1921 in Philologenverband umbenannte, diesen in seine Forderungen, bezog aber ausdrücklich ein, dass freiwilliger Unterricht in weiteren Fremdsprachen angeboten werde. Der regionale Tochterverband in Westfalen stimmte am 8. März 1920 mit nur knapper Mehrheit für eine Beschränkung auf zwei Pflichtfremdsprachen in der Oberstufe. Dies sei nur ein Beispiel dafür, wie strittig und offen die Meinungslage um 1920 selbst innerhalb einer Gruppe war. Vgl. Rietmeyer, O.: Vertretertag des Vereinsverbandes akademisch gebildeter Lehrer Deutschlands, 30.11. bis 1.12.1919, in: DPB 27 (1919), S. 628–629, 642–645, hier S. 644; Zur Schulreform, in: UMN 26 (1920), S. 22; Böhmer, J.: Der Westfälische Philologenverband zur Neugestaltung des höheren Schulwesens, in: DPB 28 (1920), S. 100–102, hier S. 101, 644 zu 574 Stimmen. Bei erstmaliger Nennung werden die Verbände in Anführungszeichen gesetzt. Danach wird darauf verzichtet. Bis 1921 hieß der Verband „Vereinsverband akademisch gebildeter Lehrer“. Aus Gründen der Einfachheit wird im Folgenden grundsätzlich vom Deutschen Philologenverband gesprochen. Zur Umbenennung vgl. Blohn: Der 8. Vertretertag des Vereinsverbandes akad. geb. Lehrer in Jena, vom 17.–19. Mai 1921, in: DPB, S. 249–253, hier S. 249; Fluck: Gymnasium, S. 46; Laubauch: Politik des Philologenverbandes, S. 21. Zur Geschichte des Philologenverbandes vgl. Fluck: Gymnasium; Hamburger: Lehrer; Kunz: Höhere Schule; Laubauch: Politik des Philologenverbandes. Zu den einzelnen Vereinen vgl. die sehr schöne Aufstellung von Dietrich: Friedrich Althoff, S. 74–99. Zum Realschulmännerverein vgl. Schmeding: Entwicklung. Vgl. Vertretertag der akademisch gebildeten Lehrer, 30.11. und 1.12.1919, in: DPB 27 (1919), S. 625; Böhmer, J.: Der Westfälische Philologenverband zur Neugestaltung des höheren Schulwesens, in: DPB 28 (1920), S. 100–102, hier S. 100. Vgl. Diskussion im 2. Ausschuss der Reichsschulkonferenz, Aussage Richard Eickhoff (Allgemeiner Realschulmännerverein), S. 698; Richtlinien für die Reichsschulkonferenz, in: DPB 28 (1920), S. 181. Vgl. Bohlen, Adolf: Bericht über die Reichsschulkonferenz, in: DPB 28 (1920), S. 247–256, hier S. 247; Bericht Binder, Reichsschulkonferenz, S. 81–83, 87; Diskussion im 2. Ausschuss der Reichsschulkonferenz, Aussagen Rudolph Erzgraeber (Philologenverband), S. 697, und
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Schule wurde als Vorbildung zur Universität gesehen. Daher – so die Meinung der Vertreter der höheren Schule – müsse sie von Beginn an einen „wissenschaftlichen Charakter“ haben.46 Mit „wissenschaftlich“ meinte man, dass die höheren Schulen ab ihrer ersten Klasse, der Sexta, ihren Unterricht auf das Ziel einer universitären Ausbildung ausrichten sollten. Würden die Schüler länger gemeinsam lernen, würde diese Ausrichtung auf die Universität erst später beginnen, weil eben auch Kinder beschult werden müssten, die eine berufliche Ausbildung anstrebten. Daher lehnten die Philologen die Idee einer Einheitsschule, in der die wissenschaftliche Ausbildung erst später einsetzen sollte, ab, da in weniger als neun Jahren eine wissenschaftliche Vorbildung nicht erzielt werden könne. Dabei spielte auch der Beginn der ersten Fremdsprache eine Rolle. Für die Vertreter des Gymnasiums kam auch deshalb kein gemeinsamer Unterbau bis zur 7. Klasse in Betracht, da Latein aus ihrer Sicht unbedingt ab der 5. Klasse gelernt werden müsse. Auch hier, so die Argumentation, könne der wissenschaftliche Charakter des fremdsprachlichen Unterrichts ausschließlich durch einen neunjährigen Unterricht gewährleistet werden.47 Für die Zustimmung zur gemeinsamen Grundschule war den Vertretern der höheren Schule folgende Ausnahmeregelung wichtig: Besonders begabte Kinder sollten die Grundschule um ein Jahr verkürzen können.48 Dieser Wunsch resultierte aus der Tatsache, dass die sogenannten „Vorschulen“, die gezielt auf die höheren Schulen vorbereitet hatten und bevorzugt von Kindern ökonomisch
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Felix Behrend (Philologenverband), S. 699; Böhmer, J.: Der Westfälische Philologenverband zur Neugestaltung des höheren Schulwesens, in: DPB 28 (1920), S. 100–102, hier S. 101. Vgl. Behrend, Felix: Die deutsche Schulreform, in: DPB 28 (1920), S. 233–234, hier S. 234: „Wenn dann noch obendrein die neunjährige Schule um ein Jahr verkürzt werden sollte, so kann der Effekt genau vorausgesagt werden: er besteht in einem ganz bedeutenden Rückgang des Bildungsniveaus.“ Vgl. auch Ellenbeck (Verein für lateinloses höheres Schulwesen), Reichsschulkonferenz 1920, S. 701; Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 15, 18; Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 213; Bayerischer Gymnasiallehrer-Verein an Bayerisches Ministerium für Unterricht und Kultus, am 8.5.1920 (BayHStA, MK 14765). Vgl. zu diesem ganzen Komplex Reichsschulkonferenz 1920, S. 460; vgl. J. Böhmer: Der Westfälische Philologenverband zur Neugestaltung des höheren Schulwesens, in: DPB 28 (1920), S. 100–102, hier S. 100. Vgl. Diskussion im 2. Ausschuss der Reichsschulkonferenz, Aussagen Lück, Rein und Deutschbein, S. 701–703. Cauer während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 384; Weber. C.: Leitsätze des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes, in: DPB 28 (1920), S. 504–505. Vgl. Bericht Vereinsverband akademisch gebildeter Lehrer in Deutschland, 16.11.1919, in: DPB 27 (1919), S. 541; Vertretertag des Vereinsverbandes der akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands, 30.11./1.12.1919, in: DPB 27 (1919), S. 625; Reichsschulkonferenz 1920, S. 459; vgl. Diskussion im 2. Ausschuss der Reichsschulkonferenz, Aussage Richard Eickhoff (Allgemeiner Realschulmännerverein), S. 698; Richtlinien für die Reichsschulkonferenz, in: DPB 28 (1920), S. 181.
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leistungsfähigeren Eltern besucht worden waren, nur drei Jahre gedauert hatten. Mit der neunjährigen höheren Schule war man so auf insgesamt zwölf Schuljahre gekommen. Da man aber von der neunjährigen höheren Schule nicht abrücken wollte, verlängerte sich die Schulzeit bei der Einführung der vierjährigen Grundschule bis zum Abitur de facto um ein Jahr.49 Bei der Diskussion um die neunjährige Dauer der höheren Schule zogen die Vertreter der höheren Schulen, die sich in anderen Punkten häufig uneinig waren, an einem Strang.50 Hierzu trug nicht zuletzt das Argument bei, dass eine wissenschaftliche Ausbildung der Schüler nur gewährleistet werden könne, wenn auch die Lehrer wissenschaftlich ausgebildet seien. Gerade durch das wissenschaftliche Studium setzten sich die Philologen von den Volksschullehrern ab. Den Volksschullehrern hingegen ging es bei ihren Forderungen nach einer Einheitsschule auch um einen einheitlichen Lehrerstand, weswegen sie sich unter anderem für eine eigene universitäre Ausbildung einsetzten. Daran war den Philologen aber nicht gelegen, hätte dies doch den Verlust ihrer Sonderstellung und somit einen Statusverlust bedeutet.51 Sie lehnten daher eine wissenschaftliche Ausbildung der Volksschullehrer ab. Einen wichtigen Mitstreiter hatten die Vertreter der höheren Schule bei diesem Thema in den Universitäten, welche darauf bedacht waren, dass die Schulausbildung die „Studierfähigkeit“ der Schüler garantiere.52 Die Universitäten und teilweise auch die Vertreter der höheren Schulen befürchteten nämlich eine vermeintliche Senkung des „Bildungsniveaus“53 durch eventuelle Neuerungen. Nicht nur die „Bildungshöhe“54 der Einheitsschule, auch die des „Deutschen Gymnasiums“ mit nur einer Fremdsprache könne den Zielen der Hochschule nicht entsprechen.55 Auch dürfe „das Loch [. . .], durch das der 49 50
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Vgl. Müller/Zymek: Datenhandbuch II,1, S. 132; Müller: Höhere Schule, S. 212. Vgl. Vorstandssitzung des deutschen Gymnasialvereins am 8.2.1920, Entschließung Paul Cauer, in: HG 31 (1920), S. 1–4, hier S. 3; Vereinbarung zwischen dem deutschen Gymnasialverein und dem allgemeinen deutschen Realschulmännerverein, in: HG 32 (1921), S. 10; Eickhoff, Richard: Eine Arbeitsgemeinschaft der Realschulfreunde, in: DPB 27 (1919), S. 638. Auch nach der Reichsschulkonferenz wurde diese Zusammenarbeit fortgesetzt, vgl. Bielert, E.: Arbeitsgemeinschaft des Realschulmännervereins und des Vereins zur Förderung des lateinlosen höheren Schulwesens, in: DPB 28 (1920), S. 433. Kundgebung des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Gymnasialvereins an seine Mitglieder, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 216: „Die Einheitsschule setzt nicht notwendig einen einheitlich vorgebildeten Lehrerstand voraus. Ob Universitätsbildung aller Lehrer möglich oder auch wünschenswert ist, erscheint uns zweifelhaft.“ Vgl. Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Maier (Universitätsprofessor) und Aussage Victor Michels (Verband der deutschen Hochschulen): „Die vierjährige Grundschule ist das Maximum, nicht das Minimum“, Reichsschulkonferenz 1920, S. 699. Behrend, Felix: Die deutsche Schulreform, in: DPB 28 (1920), S. 233–234, hier S. 234. Referat Karsen, Reichsschulkonferenz, S. 462. Vgl. Rietmeyer, O.: Vertretertag der akademisch gebildeten Lehrer, 30.11. und 1.12.1919, in: DPB 27 (1919), S. 628–629; S. 642–645, hier S. 644; Litt, Theodor: Die höhere Schule
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große Strom der Ungeeigneten und Unfähigen zur Universität gelangte“, nicht größer werden.56 Dass das „Deutsche Gymnasium“ ausdrücklich als weniger anspruchsvolle Schulart konzeptioniert wurde, zeigt ein Zitat Hans Richerts, eines ausgesprochenen Befürworters dieses neuen Schultyps: Das „Deutsche Gymnasium“ sei „die gradlinige Fortsetzung der Volksschule“, die zur Vorbildung der Volksschullehrer und als Mädchengymnasium prädestiniert sei.57 Die Philologenschaft allerdings war in der Frage des „Deutschen Gymnasiums“ sehr gespalten58 – ein weiteres Beispiel dafür, wie vielfältig das bildungspolitische Klima war und wie schwierig deshalb eine nachträgliche Systematisierung ist. Für die Vertreter der höheren Schulen gehörte nicht nur die neunjährige Dauer der höheren Schule, sondern auch das Erlernen von Fremdsprachen zu ihren Kerncharakteristika. So fasste der zeitgenössische Beobachter H. Elpe passend zusammen: Die Reformvorschläge der Philologen zur Verbesserung des Lehrplans der höheren Schulen zeigen demnach ein buntes Bild, wie es nicht anders sein kann, solange die charakteristischen Fächer, insbesondere die Fremdsprachen, unangetastet bleiben.59
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und das Problem der Einheitsschule, in: MfHS 18 (1919), S. 280–293, hier S. 283; Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 2; Reichsschulkonferenz, S. 462; Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Norden (Verband deutscher Hochschulen), Reichsschulkonferenz, S. 705f.; vgl. Schwarz während Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 496. Rietmeyer, O.: Vertretertag der akademisch gebildeten Lehrer, 30.11. und 1.12.1919, in: DPB 27 (1919), S. 628–629; S. 642–645, hier S. 644; ähnlich auch Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Norden (Verband deutscher Hochschulen), Reichsschulkonferenz, S. 705f. Richter, Hans: Die Bildungsaufgabe des „deutschen Gymnasiums“, in: DPB 27 (1919), S. 485– 486, hier 486. Die Geschichte des höheren Schulwesens im Allgemeinen, vor allem aber die des altsprachlichen Unterrichts im Besonderen bedarf gerade unter genderhistorischen Gesichtspunkten noch weiterer Forschung. Vgl. Kipf: Historia, S. 6. In den Leitsätzen vom 16. November sprach sich der Vereinsverband akademisch gebildeter Lehrer noch für diese neue Form der höheren Schule aus, Ende November, nach Rücksprache mit den Landesverbänden, dagegen. Der preußische Landesverband war Befürworter dieser neuen Schulform, vermutlich wurde er aber von den anderen Landesverbänden überstimmt. Vgl. dazu Rietmeyer, O.: Vertretertag des Vereinsverbandes akademisch gebildeter Lehrer Deutschlands, 30.11. bis 1.12.1919, in: DPB 27 (1919), S. 628–629; 642–645, hier S. 629. Bericht Vereinsverband akademisch gebildeter Lehrer in Deutschland, 16.11.1919, in: DPB 27 (1919), S. 541; Vertretertag des Vereinsverbandes der akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands, 30.11./1.12.1919, in: DPB 27 (1919), S. 625; Entschließung des 41. Vertretertages der preußischen Philologenvereine, 11./12. Mai 1919, in: DPB 27 (1919), S. 293. Zur Diskussion innerhalb des Vereinsverbandes akademisch gebildeter Lehrer vgl. auch Hildebrandt, Paul: Wider das „Deutsche Gymnasium“, in: DPB 27 (1919), S. 561–563 sowie eine Erwiderung darauf von Otto Freitag: Für das „Deutsche Gymnasium“, in: DPB 28 (1920), S. 318–320. Elpe, H.: Die Philologen und die Schulreform. Zusammenfassung ihrer Vorschläge zur Organisation des höheren Schulwesens, in: DPB 27 (1919), S. 76–79, hier S. 78.
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Doch gerade die Fremdsprachen gerieten im Vorfeld und während der Reichsschulkonferenz von einer Allianz aus Einheitsschulbefürwortern und dem Deutschen Germanistenverband stark in die Kritik. Der „verfrühte und übertriebene fremdsprachliche Unterricht“ setze die „Lernfreudigkeit der Jugend“ herab60 und bedeute „eine Überschätzung dieser Bildungsgüter“.61 Drastischer ausgedrückt: Der „einseitige [. . .] Sprachenkultus“ sei eine „Mißhandlung unserer Jugend“.62 Dabei stritten sich die Experten, in welchem Alter es aus „jugendpsychologischen Gründen“ ratsam sei, mit dem fremdsprachlichen Unterricht zu beginnen.63 Dass die Kenntnis fremder Sprachen ein wichtiges Bildungsgut sei, stand dabei außer Frage. Ob Sprachunterricht jedoch darüber hinaus eine Funktion habe, daran zweifelten seine Kritiker.64 Der Deutsche Germanistenverband, der die Einführung des „Deutschen Gymnasiums“ forcieren wollte, hielt eine Fremdsprache für völlig ausreichend, denn der vertiefte Deutschunterricht und die tiefere Einführung in die deutsche Kultur ersetze die zweite Fremdsprache. Es sei besser, eine einzelne fremde Kultur richtig zu kennen „als die unvollkommene Kenntnis zweier fremder Sprachen.“65 Dabei schwang ein Vorwurf an den bisherigen fremdsprachlichen Unterricht mit: Weder vermittle er wahre Sprachbeherrschung noch Kulturverständnis. Denn: Nur weil die Schüler „einige Stücke aus der englischen und französischen Literatur mehr oder weniger stümperhaft übersetzt“ hätten, seien sie noch lange nicht in eine fremde – sei es eine moderne oder eine antike – Kultur eingeführt.66 Die Neu- und Altphilologen, die die Gegenallianz bildeten, argumentierten, dass gerade die Auseinandersetzung mit einer Fremdsprache das Deutsche stärke. Die Neuphilologen stellten dabei die komparative Komponente des kulturellen Kontrastes in den Mittelpunkt: „die deutsche Kultur“ könne „ohne eingehende Kenntnis der Nachbarkulturen gar nicht verstanden werden“.67 Die Altphilologen 60 61 62 63
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Diskussion im 2. Ausschuss der Reichsschulkonferenz, Aussage Gansberg (Volksschullehrer), Reichsschulkonferenz, S. 524. Tews, Schlussworte der Berichterstatter, Reichsschulkonferenz 1920, S. 531. Wigge während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 479. Vgl. Spranger: Humanismus und Jugendpsychologie, 1922. Dieses Thema beschäftigte Anfang der 1930er Jahre vor allem die Altsprachler, vgl. Holtorf, Herbert: Das Gymnasium von heute im Lichte der Jugendpsychologie, in: HG 44 (1933), S. 148–152, hier S. 152; Stöcklin, Johann: Kernfragen des altsprachlichen Unterrichts, in: MfHS 33 (1934), S. 175– 184, hier S. 177, 183; Bolle, Wilhelm: Die Sprachenfolge in der Kritik der nationalpolitischen Erziehung, in: MfHS 33 (1934), S. 191–196, hier S. 193; Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginnes in Sexta, in: MfHS 33 (1934), S. 365–369. Zur zeitgenössischen Diskussion vgl. Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in den Neuen Schulen, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, vor allem S. 408–411 und Fußnote 2 auf S. 410. Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Boelitz (DVP), Reichsschulkonferenz 1920, S. 706. Wigge während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 478. Hanf, G./Weber, C.: Vortagung zum Allgemeinen Deutschen Neuphilologentag, in: DPB 27
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argumentierten dagegen eher auf der sprachwissenschaftlich-grammatischen Ebene: „[E]ine tiefere Wirkung des Deutschen“ sei „nur möglich [. . .], wenn man die grammatische Vorbildung an einer fremden Sprache gewinnt“.68 Latein diene nämlich „auch deutschlogischen Zwecken“.69 Auch die Vertreter der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer beanstandeten, dass die höheren Schulen „in erster Linie noch immer Sprachschulen“ seien, die dringend der Ergänzung der Naturwissenschaften bedürften.70 Dabei wolle man den Sprachunterricht nicht gänzlich verdrängen, sondern eine „gleiche Bewertung“ in der Bedeutung erlangen.71 Interessant ist, dass sich die Vertreter der Naturwissenschaften in den Diskussionen über den Sprachunterricht während der Reichsschulkonferenz fast gar nicht einmischten.72 Generell war ihr Auftreten in der öffentlichen Diskussion – vor allem im Gegensatz zu den Vertretern der Gymnasien73 – recht zurückhaltend. Nach eigener Auffassung lag dies daran, dass „die ungeheure Bedeutung der Mathematik und der Naturwissenschaften in diesem Krieg so deutlich vor Augen springt“.74 1.3 Das Gymnasium und die alten Sprachen: Kritik und Verteidigung
Bei aller allgemeinen Kritik am höheren Schulwesen und am fremdsprachlichen Unterricht standen das Gymnasium und der altsprachliche Unterricht besonders in der Schusslinie. So konstatierte Martin Havenstein, Lehrer und Schulreformer, 1919: Noch niemals ist die vielumstrittene Frage nach dem wahren Bildungswert des altsprachlichen Unterrichts und der Daseinsberechtigung des humanistischen Gymnasiums so
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(1919), S. 637–638, hier S. 637. Vgl. auch Weber, C.: Leitsätze des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes, in: DPB 28 (1920), S. 504–505. Cauer während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 484. Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Binder, Reichsschulkonferenz 1920, S. 699. Trinkwalter, L.: Höhere Bewertung der Naturwissenschaften in der Schule, in: DPB 27 (1919), S. 530–531, hier S. 531. Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 7. Ähnlich auch Poske, Friedrich: Zwei Entschließungen, in: UMN 25 (1919), S. 50–53, hier S. 51. Beispielsweise meldet sich Friedrich Poske während der Diskussion im 2. Ausschuss nur ein einziges Mal zu Wort, Reichsschulkonferenz 1920, S. 706. Siehe Kapitel II.1.4. Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 3.
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brennend gewesen wie heute, wo wir zweifellos vor einer gründlichen Umgestaltung unseres gesamten Schulwesens stehen und die Kreise, die bisher das Gymnasium stützten, die politische Macht, die sie besaßen, verloren haben.75
Auch andere Autoren hielten das Gymnasium immer noch für eine „Standesschule“76 , denn „die Philologie mit ihrer Art des Sprachbetriebs“ habe eine „chinesische Mauer [. . .] künstlich errichtet“.77 Zudem sei die überwiegend altsprachliche Bildung am Gymnasium „weltfremd“78 und ohne praktischen Nutzen.79 Die Kritik kam aus allen politischen Lagern: Von konservativer Seite hielt man die Erziehung am Gymnasium für zu wenig national80 , die SPD wiederum empfand die Altsprachler als „nationalistisch und chauvinistisch“81 . Es gab sogar Kritiker, die so weit gingen, den Vertretern des Gymnasiums vorzuwerfen, diese verfehlte gymnasiale Bildung habe die Niederlage am Ersten Weltkrieg verschuldet.82 Die Kritiker wollten aber nicht den altsprachlichen Unterricht per se abschaffen. In den Reformplänen der Einheitsschulbefürworter war beispielsweise ein altsprachlicher Zweig auf einer späteren Klassenstufe vorgesehen, denn als Vorbildung für Theologen und Geisteswissenschaftler schienen die alten Sprachen auch ihren Kritikern wichtig.83 Sie bezweifelten jedoch, dass die alten Spra-
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Havenstein: Die alten Sprachen, S. V. Zur Kritik vgl. auch Stiglmayr: Das humanistische Gymnasium, S. 72–102. Wigge (Deutscher Lehrerverein) während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 478; Bucherer, Fritz: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins, 24./25.9.1921, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier Rede von Boelitz-Soest, S. 103; Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 3; Boll: Sinn und Wert, S. 8. Vgl. Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in den Neuen Schulen, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, hier S. 409; vgl. auch Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 3. Zur Kritik an der Philologie vgl. auch Havenstein, Die alten Sprachen, S. 80f.; Boll: Sinn und Wert, S. 35. Vgl. Hindenburg: Aus meinem Leben, S. 11; Wigge (Deutscher Lehrerverein) während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 478. Vgl. vor allem Havenstein: Die alten Sprachen, S. 5, 7, 89; vgl. auch Hindenburg: Aus meinem Leben, S. 9; Bucherer, Fritz: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins, 24./25.9.1921, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier Rede von Boelitz-Soest, S. 103; Fischer: Gedanken, S. 21. Vgl. Hindenburg: Aus meinem Leben, S. 10f.; Fischer: Gedanken, S. 21. Umschau, in: HG 32 (1921), S. 23–34, hier S. 25 Artikel von Erich Milte im Vorwärts vom 15. Juli 1920: Die Sozialdemokraten und das humanistische Gymnasium; Vogel, F.: Hindenburg und das humanistische Gymnasium, in: DPB 28 (1920), S. 540–541, hier S. 541; vgl. auch Aussage Bolle (Philologenverband) während der Aussprache, S. 508. Wigge (Deutscher Lehrerverein) während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 478. Vgl. beispielsweise Referat Tews, Reichsschulkonferenz 1920, S. 468; Havenstein: Die alten Sprachen, S. 11, 92; Knögel, W.: Kultusminister Haenisch und das Griechische, in: DPB 27 (1919), S. 373–375, 389–391, hier S. 375.
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chen darüber hinaus Fähigkeit zu einer über das Fachwissen hinausgehenden allseitigen Bildung hätten.84 Der Antike als Garantin kultureller Wurzeln der deutschen Nation sprach man dabei ihre Berechtigung als Bildungsinhalt nicht ab.85 Ob dafür aber ein so intensiver Sprachunterricht betrieben werden müsse, das schien den Kritikern fraglich. Leichter wäre doch die Arbeit mit Übersetzungen.86 Bei all dem stand auch nicht die Antike an sich in der Kritik, sondern die Lehrmethoden, die den Schülern die Beschäftigung mit der Antike „verekelt“ habe.87 1.3.1 Der Deutsche Gymnasialverein und seine Werbetätigkeit
Die Vertreter einer gymnasial-altsprachlichen Bildung empfanden die Diskussion um Reformen und die anstehende Neuordnung grundsätzlich als Bedrohung.88 Dieses Phänomen war nicht neu. Bereits bei der ersten Reichsschulkonferenz 1890 fühlten sich die Vertreter des Gymnasiums in der Defensive und gründeten den Deutschen Gymnasialverein.89 Zwölf Vertreter des Gymnasiums hatten sich damals mit dem Ziel zusammengeschlossen, für die Bewahrung des Gymnasiums vielen Reformvorschlägen entgegenzutreten. Dabei stand „das Gymnasium“ synonym für „humanistisches Gymnasium“, das wiederum für die Bedeutung altsprachlicher Bildung stand: Latein und Griechisch waren die Kernfächer, und die Vermittlung der Antike das vornehmliche Ziel.90 Auch wenn die Gymnasialvertreter vielen Reformvorschlägen skeptisch gegenüberstanden, sahen sie doch ein, dass man nicht umhin käme, sich mit den Vorwürfen gegen das Gymnasium produktiv auseinanderzusetzen.91 Dafür gründeten sie 1890 zunächst die Zeitschrift Das humanistische Gymnasium, am 15. Dezember 84 85 86 87 88 89 90 91
Vgl. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 89. Vgl. ebenda, S. 12, 17; Stölting, Alwin: Um die Zukunft des Gymnasiums, in: DPB 28 (1920), S. 316–318, hier S. 316. Vgl. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 45; Referat Tews, Reichsschulkonferenz 1920, S. 468; Stiglmayr: Das humanistische Gymnasium, S. 144–149. Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 156–158. Vgl. Stölting, Alwin: Um die Zukunft des Gymnasiums, in: DPB 28 (1920), S. 316–318, hier S. 316. Zur Geschichte des Gymnasialvereins vgl. Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 2–5. Goldbeck, Ernst, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 11. Vgl. Uhlig, Gustav: Vorwort, in: Humanistisches Gymnasium 1 (1890), S. 1–4. In der Satzung des Vereins, §1, wurde als Zweck angegeben: „die humanistische Schulbildung zu wahren, sowohl durch Abwehr nicht gerechtfertigter Angriffe, als durch Erwägung der Besserungen, deren die Gymnasien hinsichtlich ihrer Organisation oder des Unterrichtsbetriebes etwa bedürfen“, Uhlig, Gustav: Die Gründung des Gymnasialvereins, in: HG 2 (1891), S. 1–8, hier S. 6.
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desselben Jahres schließlich den Deutschen Gymnasialverein.92 Auf regionaler Ebene gründeten sich „Vereinigungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums“, die im deutschen Gymnasialverein eine Art Dachverband fanden. Auch während des Weltkrieges blieben die Vereine aktiv und versuchten Impulse für die Erneuerung des Gymnasiums, vor allem des altsprachlichen Unterrichts zu geben. So hatte zum Beispiel die „Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums für Berlin und Brandenburg“ im Mai 1917 einen Ideenwettbewerb zur Modernisierung des altsprachlichen Unterrichts ausgeschrieben.93 Die größte Bedrohung des Gymnasiums diagnostizierte man schon während des Ersten Weltkrieges in den sozialdemokratischen Forderungen nach einer Einheitsschule und einer erneuten Reichsschulkonferenz.94 Nach der Novemberevolution 1918 verspürte der Gymnasialverein einen akuten Handlungsdruck, da die Sozialdemokraten erstmals in der Regierungsverantwortung waren und man glaubte, die Abschaffung des Gymnasiums – und somit die der altsprachlichen Bildung – stünde bevor.95 So gründete Ernst Goldbeck im Januar 1919 den „Reichsausschuß zum Schutze des humanistischen Gymnasiums“, der sich zur Aufgabe machte, die Anhängerschaft des Gymnasiums zu mobilisieren und für das Gymnasium einzutreten.96 Gemeinsam mit dem Gymnasialverein und den „Vereinigungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums“ wollte man zeigen, dass es eine breite Unterstützerschaft für das Gymnasium im Volk gab. So fand vielerorts „großzügige[. . .] Werbearbeit“97 statt: Vorträge, die den Erhalt des Gymnasiums bewarben, wurden gehalten,98 Unterschriften von 92
Vgl. Uhlig, Gustav: An die Abonnenten, in: HG 1 (1890), S. 97–98; vgl. auch Ostern, Hermann: Zum fünfzigjährigen Jubiläum unserer Zeitschrift, in: Das Gymnasium 50 (1939), S. 2–9; Uhlig, Gustav: Die Gründung des Gymnasialvereins, in: HG 2 (1891), S. 1–8. 93 Vgl. Preisaufgabe der Freunde des humanistischen Gymnasiums zu Berlin, in: HG 28 (1917), S. 35. 94 Vgl. Gesellschaft der Freunde des humanistischen Gymnasiums, Marburg, in: HG 30 (1919), S. 84–86: Während des Krieges war man sich seiner Sache noch relativ sicher, da „keine antihumanistischen Tendenzen“ aus dem preußischen Kultusministerium zu vernehmen waren. Allerdings empfand man, dass von der „Demokratisierung Preußens“ eine gewisse Gefahr ausgehe. Vgl. dazu auch Stiglmayr: Das humanistische Gymnasium, S. 72–127. 95 Vgl. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–70, vor allem S. 65f. 96 Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 13. 97 Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, Versammlung des Vereins Berlin und Brandenburg am 5.2.1919, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 13. Ähnlich auch Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10. 98 Vgl. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23. Beispielsweise Wiede bei der Marburger Ortsgruppe am 31.1.1919: Über die Bedeutung der Antike für unsere Muttersprache (S. 12–13); Rommel beim Verein Berlin und Brandenburg am 5.2.1919: Einheitsschule und humanistische Bildung (S. 13–16); Ortsgruppe Würzburg und Unterfranken am 9.2.1919, Drerup: Kulturwerte des Humanismus;
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II. Die Weimarer Republik
Eltern gesammelt,99 eine Petition an die Nationalversammlung gerichtet.100 Dabei fanden sie in den Kirchen, der Görres-Gesellschaft und den Universitäten tatkräftige Unterstützer.101 Vor allem die katholische Kirche sah „die Ausbildung ihrer Geistlichen gefährdet“.102 Gemeinsam mit dem Teubner-Verlag und dessen „überzeugt humanistische[m] Leiter“ Alfred Giesecke-Teubner103 veröffentlichte der Ausschuss schnell zwei Bücher, in denen sich zum einen viele Zeitgenossen zum Gymnasium bekannten104 und zum anderen die altphilologische Professorenschaft wissenschaftliche Impulse zur Erneuerung des gymnasialen Unterrichts veröffentlichte.105 Theorie und Praxis schienen gut verzahnt: Werner Jaeger, einer der bedeutendsten klassischen Philologen der Weimarer Republik106 , hielt beispielsweise einige Reden bei den Veranstaltungen der „Freunde des humanistischen Gymnasiums“ und steuerte Aufsätze für die Teubner-Veröffentlichungen bei.107 Bei den Veröffentlichungen legte man besonderen Wert darauf, nicht nur diejenigen als Fürsprecher zu gewinnen, die dies beispielsweise als Altphilologen möglicherweise aus „materiell-egoistischen Beweggründen“ taten,108 sondern auch „Männer des praktischen Lebens“,
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Ortsgruppe Frankfurt a.M. 9.3.1919, Geisow: Die neue Zeit und der antike Geist (S. 18–19); Ortsgruppe Hamburg, Werner Jaeger am 21.3.1919: Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Humanismus (S. 19–21). Vgl. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, vor allem S. 13 Petition abgedruckt als Beilage in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 13. Ebenda Zur Stellung der Kirchen vgl. u. a. Bucherer, Fritz: Zeitungs- und Zeitschriftenschau, in: HG 30 (1919), S. 57–60, hier S. 58f. Zusammenfassung der Artikel von Johannes Hermann zum Thema Gymnasium und theologisches Studium in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung vom 10., 17. und 24. Januar 1919. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–70, vor allem S. 66. Weiteres dazu bei Hübinger: Troeltsch, S. 153–156: Editorischer Bericht zum Beitrag von Ernst Troeltsch in „Das Gymnasium und die neue Zeit“. Das Gymnasium und die neue Zeit. Fürsprachen und Forderungen für seine Erhaltung und seine Zukunft, Leipzig/Berlin 1919. Vom Altertum zur Gegenwart. Die Kulturzusammenhänge in den Hauptepochen und auf den Hauptgebieten, Leipzig/Berlin 1919. Vgl. dazu allgemein Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–70, vor allem S. 67f.; Giesecke, Alfred: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 3–6. Vgl. Groppe: Die Macht der Bildung, S. 646. Der andere wichtige Theoretiker ist natürlich Eduard Spranger, vgl. Stiewe: Der „Dritte Humanismus“, S. 204f. Vgl. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23: Ortsgruppe Hamburg, Werner Jaeger am 21.3.1919: Die geschichtlichen Grundlagen des modernen Humanismus (S. 19–21). Zu Jaeger und seiner Humanismusvorstellung siehe Kapitel II.2.3.2 und II.3.3.1. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 18.
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Vertreter der „technischen Berufe, der Künste, der juristischen, medizinischen wie der Naturwissenschaft“.109 Auch auf die unterschiedlichen politischen Standpunkte der Befürworter wies man gerne hin.110 So erhoffte man sich vermutlich den allgemein bildenden Charakter des Gymnasiums zu unterstreichen und den Vorwürfen, das Gymnasium sei eine „Standesschule“111 und „aristokratisch“112 , entgegenzuwirken. Dadurch, dass der Gymnasialverein seit 1890 genau das betrieben hatte, nämlich Argumente und neue Ideen für das Gymnasium zu sammeln, konnte man 1919 relativ schnell inhaltlich fundiert handeln. Die „Werbearbeit“ zahlte sich aus und die Arbeit des „Reichsausschusses“ wurde weithin als Erfolg gewürdigt.113 Immerhin hatte er für seine Petition im Mai 1919 bereits 100 000 Unterschriften gesammelt114 und auch die Elternschaft mobilisieren können.115 1.3.2 Die inhaltliche Auseinandersetzung – Antike, Christentum und deutsche Kultur
Die Befürworter des Gymnasiums wehrten sich nach eigenen Angaben gegen „die alten, verstaubten Schlagwörter gehässiger Gegner, die vom Gymnasium als einer weltfremden, deutschfeindlichen, hochmütigen Standesschule reden“.116 Man sei aber keine hermetisch abgeriegelte Schulform, die den Begabten den 109
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Giesecke, Alfred: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 3–6, hier S. 3. Auch bezüglich des Gewinners des ersten Preises des Wettbewerbs vom Mai 1917, Albert Dresdner, betonte Rezensent Franz Charitius, dass man besonders stolz sei, dass sich Dresdner als Mann, der außerhalb der Schule tätig sei, voll hinter das humanistische Gymnasium stelle. Vgl. auch Charitius, Franz: Drei Preisarbeiten, in: HG 30 (1919), S. 70– 77, hier S. 70. Vgl. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–70, hier S. 68. Man hätte für die Veröffentlichung „Das Gymnasium und die neue Zeit“ auch sehr gerne das Statement eines Sozialdemokraten abgedruckt, aber leider hatte keiner der Angefragten sich dazu bereiterklärt. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 213: „[. . .] haben sich Humanisten aus allen Teilen Deutschlands und allen Schichten seines Volkes [. . .] vereinigt“. Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 3; Boll: Sinn und Wert, S. 8. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–70, hier S. 65. Vgl. Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in der Neuen Schule, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, hier S. 409. Klingt auch in der Diskussion während der Reichsschulkonferenz an, vgl. Aussagen Binder, Reichsschulkonferenz 1920, S. 461, 539. Vgl. Entschließung, vorgelegt von dem Reichsausschuß zum Schutze des humanistischen Gymnasiums, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, [S. 214]. Pro gymnasio, Eingabe des Hauptausschusses der vereinigten Elternbeiräte höherer Unterrichtsanstalten München an das Reichsministerium des Inneren, 23.2.1920, in: HG 31 (1920), S. 97–98 (Original auch in BayHStA, MK 14906). Aus Versammlungen der Freunde humanistischer Gymnasien, in: HG 31 (1920), S. 170– 181, hier S. 180.
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II. Die Weimarer Republik
Aufstieg verweigere.117 Vielmehr begrüße man sehr wohl die verschiedenen Überlegungen, den Besuch der höheren Schulen unabhängig von den finanziellen Verhältnissen des Elternhauses zu ermöglichen. Der „Zugang zu höherer Bildung“ solle „den Tüchtigen und Berufenen aller Stände“ offenstehen.118 Auch die Überlegungen zur Einheitsschule lehnte man nicht per se ab: Wenn das Konzept der Einheitsschule bedeute, dass jeder Begabte ausgelesen und gefördert werden müsse und zudem jedes Kind nach seinen Neigungen zu fördern sei, dann sei das Gymnasium damit sehr wohl vereinbar.119 Diese Äußerungen legen ein Phänomen frei, dass sich in bildungspolitischen Diskussionen immer wieder finden lässt: Nicht im Ziel ist man sich uneins, sondern im Weg dorthin. Den sogenannten „Aufstieg der Begabten“ begrüßten die Gymnasialvertreter sehr, allerdings war die neunjährige Dauer des Gymnasiums nicht verhandelbar. „Die humanistische Bildung“ sei „eines der höchsten Güter des deutschen Volkes“, deren Ideal „nur durch eine lebensvolle Einführung der Jugend in Sprache und Kultur der Griechen und Römer verwirklicht werden“ könne.120 Und eine „lebensvolle Einführung“ in die Antike könne nur durch eine neunjährige altsprachliche Lehrzeit gewährt werden. Denn bei der Bildung am Gymnasium handle es sich nicht um spezielle „Fachbildung, sondern [. . .] um die Entwicklung aller Geisteskräfte [. . .], damit der Geist ein möglichst scharfes Messer werde, um im Leben dem Schüler überall hin den Weg zu bahnen“.121 Das Gymnasium sichere so die beste wissenschaftliche Vorbildung122 , nicht nur 117
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Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 3; Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 16. Vgl. auch Pro gymnasio, Eingabe des Hauptausschusses der vereinigten Elternbeiräte höherer Unterrichtsanstalten München an das Reichsministerium des Inneren, 23.2.1920, in: HG 31 (1920), S. 97–98, hier S. 98, Ende der Eingabe: „Zum Schlusse dürfen gerade wir in Bayern mit Stolz darauf hinweisen, daß bei uns das humanistische Gymnasium niemals eine Standesschule gewesen ist“ (Original auch in BayHStA, MK 14906). Von Bedeutung für diese Auseinandersetzung ist selbstverständlich auch, was unter Begabung verstanden wurde. Siehe dazu Kapitel II.1.3.3. Kundgebung des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Gymnasialvereins an seine Mitglieder, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 214–216, hier S. 215, Leitsatz 3. Vgl. Zymek: Schulen, S. 177. Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 4. Ähnlich auch Weber, Leo: Gymnasiale Lebensfragen und Einheitsschule, in: HG 31 (1920), S. 31–46, vor allem S. 33 und 46, dort Leitsatz 14. Ähnlich auch Eduard Lisco, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 123. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 213. Hillebrandt, Alfred. In: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 96. Der „wissenschaftliche Geist“ könne natürlich ebenfalls nur bewahrt werden, wenn das Gymnasium neun Jahre dauerte, aber so argumentierten ja die höheren Schulen im Allgemeinen. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–79, hier S. 67. Siehe oben Kapitel II.1.2.
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für die Geisteswissenschaften, sondern auch für alle anderen Fächer.123 Ein sehr beliebtes Argumentationsmuster dafür, dass die Befürworter häufig ins Feld führten, war folgendes: Viele Hochschullehrer nicht geisteswissenschaftlicher Fächer berichteten davon, dass ihre besten Studenten „fast ausnahmslos Abiturienten humanistischer Anstalten“ seien.124 Kritische Zeitgenossen hielten diese Beweisführung allerdings für einen Trugschluss: Dieser Sachverhalt erkläre sich „nicht aus der Überlegenheit der humanistischen Ausbildung, sondern einfach daraus, daß die Gymnasien immer noch für die vornehmsten Bildungsanstalten gelten und daher die begabtesten Schüler an sich ziehen“.125 Die Kenntnis der alten Sprachen sei zwar für das Studium der Geisteswissenschaften unerlässlich,126 einen über das fachliche Wissen hinausgehenden Bildungswert hätten sie indes nicht. Die Vertreter des Gymnasiums wiederum wehrten sich vehement dagegen, zur „Fachschule für klassische Philologen“127 oder „Gelehrtenschule für Altphilologen und Theologen“ gemacht zu werden.128 Die Frage, ob Unterricht in den alten Sprachen spezifisches Fachwissen darstelle oder im Schüler eine grundsätzliche Geistesbildung bewirke, ist dabei einer der immer wiederkehrenden Diskussionspunkte. Sehr wichtig war den Befürwortern des Gymnasiums zu zeigen, dass das traditionelle Gymnasium auch ein nationales Gymnasium war. Dem Vorwurf, nicht national zu sein, war es schon im Kaiserreich ausgesetzt gewesen, wobei „humanistisch“ und „national“ von den Kritikern des Gymnasiums zu Gegensätzen stilisiert wurden. Konsequenterweise hatte der Germanistenverband dann während des Ersten Weltkrieges recht engagiert für eine stärkere Betonung des Deutschen an den höheren Schulen auf Kosten der alten Sprachen geworben.129 123
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Vgl. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 213; Meyer, Eduard (Geschichtsprofessor), S. 114f.; Vogt, Friedrich, S. 161; Lietzmann, Hans (Theologieprofessor), S. 171; Stemplinger, Eduard, S. 190; Lamer, Hans, S. 192, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Boll: Sinn und Wert, S. 8, 25. Stutz, Ulrich (Juraprofessor), S. 110f., Zitat S. 111; du Bois-Reymond, A., S. 101; Marcks, Erich (Geschichtsprofessor), S. 134; Diehl, Karl, S. 201; Berger, P. (Ingenieur), S. 206f., alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 86. Beispiel: Diskussion auf Reichsschulkonferenz um das Deutsche Gymnasium, bei der gerade die Universitäten für die historischen Fächer eine „eingehende Kenntnis des Lateinischen und des Griechischen“ verlangten, Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Michels (Verband deutscher Hochschulen), Reichsschulkonferenz 1920, S. 705. Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 4. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 213. Ähnlich auch Eduard Spranger in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 181. Vgl. Wrede, Ferdinand: Der Germanistenverband und seine Eingabe an die deutschen Regierungen, in: HG 27 (1916), S. 147–155; Tagung des Deutschen Germanistenverbandes zu Frankfurt a. M., 26.–29. Mai 1920, in: DPB 28 (1920), S. 303–304. Der Streit mit dem
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II. Die Weimarer Republik
Der Gymnasialverband fühlte sich davon herausgefordert und wurde nicht müde zu betonen, weswegen auch das humanistische Gymnasium ein nationales Gymnasium sei: „deutsche[s] Geistesleben“, „deutsche Bildung“, „Verständnis der Muttersprache“ – all dies lebe von der Auseinandersetzung mit der Antike und ihren Sprachen.130 Als Kronzeugen führten die Befürworter des Gymnasiums häufig Johann Wolfgang von Goethe als den „nationalen Dichter“ par excellence an, der in vielen Zitaten den Wert der Antike pries.131 Zudem sei seit den Lehrplänen von 1901 schließlich im Lateinunterricht der „Germania“ des Tacitus stärkere Bedeutung zugekommen, so dass man „mit besonderer Freude [. . .] den Zug zum Nationalen“ wahrnehme.132 Seine Befürworter waren sich einig: Das Gymnasium sei national und deutsch.133 Auf diese Weise wollte dieses nationale Gymnasium auch eine bedeutende Rolle beim „Wiederaufbau“ der deutschen Nation nach der Niederlage im Weltkrieg beanspruchen. Gerade das hohe wissenschaftliche Niveau, das diese Schulart vermittle, sei das „wichtigste [. . .] Werkzeug [. . .] zum nationalen Neubau“.134 Man wollte die Kritiker davon überzeugen, dass das Gegenteil von „humanistisch“ nicht „national“, sondern „utilitaristisch“ sei: „Die Abkehr vom humanistischen Ideal in unserer Zeit bedeutet nicht eine Hinwendung zum nationalen Gedanken,
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Germanistenverband konnte übrigens 1921 beigelegt werden. Vgl. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–79, hier S. 67 und 70; Immisch, Otto: Gymnasialverein und Germanistenverband, in: HG 32 (1921), S. 136–137. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 212. Ähnlich auch Vorstandssitzung des deutschen Gymnasialvereins am 8.2.1920, Leitsätze zur Reichsschulkonferenz, in: HG 31 (1920), S. 1–4, hier S. 2f. Vgl. dazu auch Cramer, Franz: Der deutsche Gedanke und das Bildungsideal Humboldts, in: HG 30 (1919), S. 29–35. Vgl. auch die Aussage Goldbecks während der Reichsschulkonferenz: „daß der deutsche Mensch das Zentrum des humanistischen Gymnasiums sei“, Reichsschulkonferenz 1920, S. 707. Böhmer, J.: Der Westfälische Philologenverband zur Neugestaltung des höheren Schulwesens, in: DPB 28 (1920), S. 100–102, hier S. 101; Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 162; Collischonn, G.A.D., S. 102; Stutz, Ulrich, S. 112, beides in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 7. Cramer: Der lateinische Unterricht, S. 132f. Umschau, in: HG 32 (1921), S. 23f., hier S. 24. Cramer: Der Lateinische Unterricht, S. 79f.; dazu auch Norden: Bildungswerte der lateinischen Literatur und Sprache, S. 36f. Fischer: Gedanken, S. 21; Lisco: Die alten Sprachen, S. 105; Boll: Sinn und Wert, S. 21–23. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 212. Ähnlich auch Vorstandssitzung des deutschen Gymnasialvereins am 8.2.1920, Leitsätze zur Reichsschulkonferenz, in: HG 31 (1920), S. 1–4, hier S. 2: die neunjährige höhere Schule sei wichtig, „um Deutschlands geistige Weltstellung zu erhalten“; Neubauer: Rede zur Vierhundertjahrfeier des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a.M., am 27.8.1920, in: MfHS 20 (1921), S. 10–18, hier S. 11.
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sondern eine Hinneigung zum Nützlichkeitsprinzip.“135 Gerade die „Überschätzung des Materialismus“ habe zur Niederlage im Krieg geführt, und in der gegenwärtigen Krise stelle die Hinwendung zur Antike einen wahren „Gesundbrunnen“ dar.136 Denn „[m]ehr als sonst wird heute alles Wissen nach dem praktischen Nutzen beurteilt, alles Lernen nach seinem Wert für ein rein äußerlich gefaßtes Leben, mit anderen Worten: nach utilitaristischen Maßstäben“.137 In dieser Situation sei es für die Schüler wichtig, „ohne unmittelbaren Nutzen um Ideale zu ringen“.138 Wenn der Neubau „auf dem Treibsande materieller Grundlagen“139 errichtet werden würde, sei dies „Amerikaner- und Engländertum“.140 Konsequenterweise erblickte man eine Gefahr im „Spezialistentum“,141 weil man befürchtete, dass „Halbheit und innere [. . .] Zersplitterung“142 um sich greifen würden, wenn man das Gymnasium abschaffe. Dies könnte soweit führen, dass „das Menschentum verkümmern“ würde.143 Utilitarismus, Materia135 136
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Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 7, (Grünwald zitiert hier Alfred Hillebrandt). Referat Binder, Reichsschulkonferenz 1920, S. 461. Ähnliche Argumentation auch bei Charitius, Franz: Drei Preisarbeiten, in: HG 30 (1919), S. 70–77, hier S. 77: „Die Gesinnung, zu der die Schüler im Gymnasium am Griechischen und Lateinischen erzogen worden sind, ist es nicht gewesen, die das Vaterland zertrümmert hat; diese Gesinnung hätte uns zum Siege geführt.“ Hillebrandt, Alfred, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 96f. Zum Utilitarismus siehe auch Giesing, F., S. 122; Stemplinger, Eduard, S. 191; Grünwald, Eugen, S. 49, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Aus Versammlungen der Freunde humanistischer Gymnasien, in: HG 31 (1920), S. 170–181, hier S. 172. Vgl. auch Neumann, Robert: Politik und Schulreform, in: MfHS 18 (1919), S. 93–106, hier S. 103 (Vortrag, gehalten im Berliner Philologenverband, Februar 1918); Stemplinger, Eduard: Deutschtum und die alten Sprachen, in: HG 31 (1920), S. 46–55, hier S. 47 und 55; Aus Versammlungen der Freunde humanistischer Gymnasien, in: HG 31 (1920), S. 170–181, hier S. 172. Hillebrandt, Alfred, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 96f. Zum Materialismus siehe auch: Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 162 (Vortrag auf Elternabend); vgl. auch Pro gymnasio, Eingabe des Hauptausschusses der vereinigten Elternbeiräte höherer Unterrichtsanstalten München an das Reichsministerium des Inneren, 23.2.1920, in: HG 31 (1920), S. 97–98, hier S. 98, Leitsätze 5 und 6 (Original auch in BayHStA, MK 14906); von Heydebrand und der Lasa, S. 99; Rathenau, Walter, S. 100; Collischonn, G.A.D., S. 102; Stutz, Ulrich, S. 109, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Giesing, F., in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 121. Ähnlich auch Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 12: die Abschaffung des Gymnasiums führe zu „einem öden Amerikanertum“. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 213; Dresdner, Albert, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 164. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 213. Weber, Max, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 134. Ähnlich auch Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 10. Dresdner, Albert, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 164.
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lismus, Spezialistentum und Zersplitterung waren also die kulturpessimistischen Schreckgespenster, die man bei einer Abschaffung des Gymnasiums aufsteigen sah.144 Es ist hierbei auffällig, dass die Vertreter der Naturwissenschaften, die ja nie ein Problem damit hatte, ihren praktischen Nutzen beweisen zu müssen, diesem Vorwurf entgegentreten wollten: „Es soll nicht einem billigen Utilitarismus gehuldigt werden durch den Hinweis auf den unmittelbar praktischen Nutzen, sondern es sollte die rein geistige Kraft für unser Denken und Wollen [. . .] hervorgehoben werden“. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung bedeute „die Überwindung des naiven Materialismus“,145 wodurch deutlich wird, dass es den Vertretern der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer wichtig war zu betonen, dass sie ebenfalls nicht auf Vordergründiges fixiert waren. Das Stichwort „Zersplitterung“ war ein häufig angeführter Topos, wenn es um die Bewertung der „schulpolitischen Lage“ ging: Der „Zustand der Schulreform“ sei „heillos verwirrt. Wohin wir schauen: Zerfahrenheit und Zersplitterung“.146 Der Begriff „Zersplitterung“ blieb bis in die Bundesrepublik hinein ein wirkmächtiges Bild im bildungspolitischen Diskurs.147 Eine spezifische Ausprägung der politischen Ganzheitsvorstellung jedoch, wie sie beispielsweise der Bolschewismus darstellte, lehnte man aber ab. Der Bolschewismus war für die Gymnasialvertreter ein weiteres Feindbild, gegen das man das Gymnasium verteidigen musste. Wenngleich dieses Feindbild weniger präsent war als andere, tauchte es dennoch immer wieder auf. Sei es in konkreten Meldungen, dass die Bolschewisten das russische Gymnasium mit Latein und Griechisch abgeschafft und durch eine Einheitsschule ersetzt hätten.148 Sei es im Hinweis auf die unsichtbare Bedrohung durch die „geistigen Bolschewisten“, die wie ihre politischen Pendants „alles Bestehende niederreißen [. . .] und unsere Traditionen verleugnen“ würden.149 Diese polemische Verunglimpfung der Einheitsschulbefürworter als Bolschewisten zeigt, dass sich hier gegen die Einebnung aller Differenzen, gegen eine soziale Nivellierung, ausgesprochen wurde. Die Gymnasialvertreter verstanden Ganzheit als eine Einheit des Vielfältigen, nicht als dessen Einebnung. Somit sind bei den Vertretern des Gymnasiums
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Vgl. Landfester: Naumburger Tagung, S. 13–15. Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 3. Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 104. Siehe Kapitel IV.2; IV.3.2.2; IV.5. Vgl. Zeitungs- und Zeitschriftenschau, in: HG 30 (1919), S. 57–60, hier ein Bericht aus der Weser-Zeitung vom 13.2.1919. Stemplinger, Eduard: Deutschtum und die alten Sprachen, in: HG 31 (1920), S. 46–55, hier S. 46, ähnlich auch S. 55; vgl. auch Stutz, Ulrich, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, hier S. 113.
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die typischen national-konservativen Vorstellungen150 der Zwischenkriegszeit wiederzufinden: Auf der einen Seite die Ablehnung westlicher Demokratie- und Liberalismusvorstellungen – der alte Topos Kultur versus Zivilisation –, auf der anderen Seite die Angst vor sozialistisch-bolschewistischen Gleichheitsvorstellungen.151 Das gemeinsame Fundament, auf dem diese Zurückweisung stand, war die Überzeugung, in der Antike ein unverzichtbares Bildungsgut zu besitzen. Es sei als Bildungsgut deshalb unverzichtbar, weil „die gesamte höhere Kultur der Menschheit“ antiken Ursprungs sei.152 Literatur, Kunst, Recht und Philosophie des Altertums hätten die europäischen Völker geprägt und ihre Spuren ragten bis in die Gegenwart hinein.153 Klassisches Altertum, Christentum und die Renaissance oder – etwas weniger häufig – das Germanentum seien „die drei Wurzeln, aus denen der Baum der deutschen Kultur erwachsen ist“.154 Das Christentum wurde dabei auf zwei Arten erwähnt: Einmal standen Antike und Christentum nebeneinander als die beiden Wertegeber, gleichsam als moralischer Kompass der Gegenwart.155 Zum anderen wurde dem Christentum eine Vermittlerrolle zugewiesen, weil es durch die lateinische Sprache quasi das Erbe der Antike angetreten hatte.156 Dieses Erbe, das der „abendländischen Kultur“,
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Die konservativen Strömungen der Weimarer Republik waren sehr vielschichtig. Die Vorstellungen, die in den Aussagen der Gymnasialvertreter deutlich werden, sind vermutlich am ehesten der kulturpessimistisch-konservativen Strömung zuzurechnen, auch wenn einige Vorstellungen denen der Neo-Konservativen oder „konservativen Revolutionäre“ sehr ähnlich sind. Der Unterschied zu den „konservativen Revolutionären“ liegt darin, dass diese teilweise fasziniert von der „Moderne“ waren, was sich bspw. in Technikbegeisterung ausdrückte. Vgl. dazu Dupeux: Kulturpessimismus; Hoeres: Weimar, S. 27–47; Koenen: Russland-Komplex, S. 325f.; Sontheimer: Antidemokratisches Denken, S. 144–156; Jones: German Right; Kolb/Schumann: Weimarer Republik, S. 225–227; Ringer: Gelehrten, S. 385. Vgl. Paletschek: Erfindung, S. 192–195. Zum Antibolschewismus: Wirsching: Antibolschewismus, v. a. S. 146–153; Merz: Schreckbild; Koenen: Russland-Komplex, S. 325f. Zum Antiliberalismus vgl. Hoeres: Weimar, S. 46; Sontheimer: Antidemokratisches Denken, S. 181–188. Meyer, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 116. Vgl. Troeltsch, Ernst, S. 146; Meyer, Eduard, S. 116, beide in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 7. Vogt, Friedrich, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 160. Vgl. auch Harnack, Adolf von, S. 144; Hofmiller, Josef, S. 176; Eucken, Rudolf, S. 186, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Merkle, Sebastian, S. 104; Graf Norck von Wartburg, S. 105; Stutz, Ulrich, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 108–113, S. 113; Boesch, Fritz, S. 194; Immisch, Otto, S. 26–31, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 29 (1919), S. 1–10, hier S. 9. Vgl. Meyer, Eduard, S. 116; Hampe, Karl, S. 136, beide in: Das Gymnasium und die neue
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hätten alle (west-)europäischen Völker gemeinsam.157 Die Antike sei „der gemeinsame Besitz der in Feindschaft verhetzten Völker“.158 Die humanistische Bildung könne die Grundlage einer „internationalen Wiederannäherung“159 bei der „Wiederaufrichtung einer geistigen europäischen Gemeinschaft“160 zu einem „geistigen Völkerbund“161 werden. Ein europäisches Friedens- und Versöhnungsnarrativ klang in solchen Aussagen an. In diesem Punkt ähneln sich die Nachkriegsdiskurse nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.162 Allerdings wurde nach dem Ersten Weltkrieg der Begriff Abendland wesentlich seltener verwendet als nach dem Zweiten Weltkrieg.163 Zudem wurde in den 1920er Jahren durch das Europanarrativ die Nation nicht relativiert, sondern das Deutschtum dadurch in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Es erhielt eine Art europäisches Sendungsbewusstsein.164 In den 1950er Jahren verhielt es sich genau andersherum.165 Was den kulturellen Wert anging, waren die beiden alten Sprachen im Übrigen in der Ansicht der klassischen Philologen nicht gleichgestellt. Obwohl eine „wahrhaft humanistische Bildung in den Kulturkreis der Römer und Griechen einzuführen habe“, hielt man doch das Griechische für „das wahrhaft Wertvolle [. . .] auf dem Gymnasium“.166 Denn nur das Griechische vermittle rein ideelle Werte, die Römer seien nur die Übermittler der griechischen Kultur gewesen.167 Das Erlernen des Griechischen sei „das von jedem Uti-
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Zeit; Rede von Prof. Dr. Stählin am 8.3.1920 bei einer Versammlung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in München, in: HG 31 (1920), S. 96–97. Stutz, Ulrich, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 108–113, hier S. 113; explizit von Westeuropa spricht Troeltsch, Ernst, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 145–148, hier S. 146. Cauer, Paul, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 117–120, hier S. 118. Siebourg, Max, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 125–126, hier S. 126. Lisco, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 122–125, hier S. 125. Edb., S. 124. Ähnlich auch Ilber, Johannes, S. 128–129; Lück, Robert, S. 188; Boesch, Fritz, S. 194, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Siehe Kapitel IV.1.2. Vgl. Rathenau, Walther, S. 100; Stutz, Ulrich, S. 113; Hensel, Paul, S. 141, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 5. Vgl. Pöpping: Abendland, S. 51–53. Siehe Kapitel IV.1.2. Hildebrandt, Paul: Wider das „Deutsche Gymnasium“, in: DPB 27 (1919), S. 561–563, hier S. 561f. Ähnlich auch in der Erwiderung von Otto Freitag: Für das „Deutsche Gymnasium“, in: DPB 38 (1920), S. 318–320. Vgl. Lisco: Die alten Sprachen, S. 105; Knögel, W.: Kultusminister Haenisch und das Griechische, in: DPB 27 (1919), S. 373–375, 389–391, hier S. 374f.; Hensel, Paul, S. 141– 143; Harnack, Adolf von, S. 144f.; Rehm, Albert, S. 171; Eucken, Rudolf, S. 186–187, hier S. 186, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Boll: Sinn und Wert, S. 10. Anders argumentiert Ernst Troeltsch. Für ihn steht Latein und das Römertum an erster Stelle.
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litarismus freie Moment“.168 Der „griechische Humanismus“ sei es, der „die Sitte reinigt, ohne irgendwie echt deutsches Fühlen zu beeinträchtigen“.169 Dahinter verbarg sich auch die Tatsache, dass das Griechische das Fach war, das ausschließlich am Gymnasium unterrichtet wurde170 und daher ein gewisses Alleinstellungsmerkmal darstellte. „Wenn unser Gymnasium seine Aufgabe heute schlechter erfüllt als früher, so liegt das keineswegs daran, daß es zu viel, sondern daß es zu wenig vom Griechentum lebendig macht“171 , konstatierte der Philosophieprofessor Heinrich Rickert. Die Betonung des Griechentums war auch wichtigster Bestandteil des sogenannten „Dritten Humanismus“, dessen Konzeption Werner Jaeger in den 1920er Jahren als „neuen“ oder „modernen Humanismus“172 entwickelte, weil die Humanismusvorstellung des 19. Jahrhundert, der sogenannte „Neuhumanismus“, den Ansprüchen der Gegenwart nicht gerecht zu werden schien.173 Die Vorstellung eines „neuen Humanismus“ findet man auch bei Otto Immisch, der 1919 konstatierte, dass es eine neue Bewegung gebe, die über den Neuhumanismus hinaus „zu einem neuesten Humanismus im besten Sinne [werde], für den sich mit der Zeit der bezeichnende Name schon noch einfinden“ werde.174 Da das Konzept des „Dritten Humanismus“ Anfang der 1920er Jahre aber erst noch ausgebildet werden musste, wird sein Einfluss auf die Bildungspolitik erst in einem späteren Kapitel intensiv diskutiert.175
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Allerdings ist er damit in der Minderheit, vgl. Troeltsch, Ernst, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 146. Hillebrandt, Alfred, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 97. Birt, Theodor, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 164. Vgl. Meyer, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 117: „Dies Gymnasium aber steht und fällt mit dem Griechischen.“ Graf Norck von Wartenburg, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 108: „Auf dem Gymnasium aber muß dem Griechischen die Vormachtstellung eingeräumt werden.“ Zudem hatte es während des Ersten Weltkriegs Überlegungen gegeben, Griechisch als Schulfach abzuschaffen, weswegen als Grund für diese leidenschaftliche Verteidigung die Angst um das Fach vermutet werden kann. Vgl. Lisco: Die alten Sprachen, S. 105; Knögel, W.: Kultusminister Haenisch und das Griechische, in: DPB 27 (1919), S. 373–375, 389–391. Rickert, Hans, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 138–139, hier S. 139. Vgl. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23: Ortsgruppe Hamburg Werner Jaeger am 21.3.1919: Die geschichtlichen Grundlagen des modernen Humanismus (S. 19–21). Vgl. dazu vor allem Stiewe: Der „Dritte Humanismus“; zum altsprachlichen Gymnasium S. 201–206; Groppe: Die Macht der Bildung, S. 646–648. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65–70, hier S. 67. Barbara Stiewe zählt Immisch zu den Vertretern des „Dritten Humanismus“, vgl. Stiewe: Dritter Humanismus, S. 23. Siehe Kapitel II.2.3.2; 3.3.1. Vgl. Stiewe: Dritter Humanismus, S. 201–206. Stiewe interpretiert das Interesse Jaegers und Co. am altsprachlichen Unterricht als Einflusssicherung in bürgerlichen Kreisen. Dies könnte sicherlich eine Motivation gewesen sein, als einzige Erklärung greift sie allerdings zu kurz.
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Das Bildungsgut der Antike sollte allen denjenigen offenstehen, die „Befähigung und Neigung dafür mitbringen“.176 Allerdings bedeutete dies auch, dass „Unbegabte und Unberufene“ „durch größere Strenge“ auszusieben seien.177 Ein „Aufstieg der Begabten“ beinhalte nämlich auch eine „Fernhaltung Unbegabter“ und genau für diese notwendige Auslese sei das Gymnasium prädestiniert.178 Das Gymnasium stelle nämlich „eine Höchstschule für universal Begabte“179 dar, also nicht für jeden, wohl aber für „die künftigen Führer unseres Volkes“.180 Es wäre nicht ratsam, zu vielen eine gymnasiale Bildung zukommen zu lassen, denn man wolle ja nicht „dem handarbeitenden Volke [. . .] alle Intelligenzen“ entziehen und ein „Gelehrtenüberangebot“ schaffen.181 Diese Argumentation taucht bis heute immer wieder in bildungspolitischen Diskussionen auf. Sie steht exemplarisch für die Bewahrung der Exklusivität der höheren Schule.182 Darin wird die Vorstellung von gymnasialer Bildung als Elitenbildung deutlich. Was ebenfalls mitschwingt, ist der Anspruch eines elitären Verständnisvorsprungs: Die Gegner des Gymnasiums könnten seine Bedeutung nur daher nicht verstehen, da sie selbst nie diese Bildung genossen hätten.183 Dass das Gymnasium nach allgemeiner Überzeugung eine anspruchsvolle Schulart war, lag vor allem an den alten Sprachen. Sie seien ein Bildungsstoff „spröder Art“, der „nicht zu geringe Anforderungen an den Verstand und den Fleiß“ stelle.184 Darauf wird in Kapitel II.1.3.3 genauer eingegangen. Manches erlangt auch erst Bedeutung durch seine Nichterwähnung. Das Argument, dass die Kenntnis der Antike, gerade des griechischen Altertums als Wiege der Demokratie, eine besonders gute Vorbildung für die zukünftige Elite in der demokratischen Republik hätte darstellen können, wurde auffallend selten 176 177 178 179 180
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Kundgebung des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Gymnasialvereins an seine Mitglieder, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 214–216, hier S. 215, Leitsatz 3. Ebenda. Aufruf Otto Schroeder, in: Monatsschrift für die höhere Schule 18 (1919), S. 479–480, hier S. 480; ähnlich Lamer, Hans, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 191–192. Petition an die Verfassung gebende Nationalversammlung Deutschlands, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 212. Lisco, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 125; ähnlich auch GieseckeTeubner, Alfred: Zur Einführung, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 3–6, hier S. 4; Cauer, Paul, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 117–120, hier S. 120. Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 3. Ähnlich auch Erzgraeber, R.: Wird die Einheitsschule die höhere Schule von Untauglichen entlasten?, in: DPB 28 (1920), S. 113. Siehe Kapitel IV.2.1.4. Vgl. Rathenau, Walther, S. 100; Meinecke, Friedrich, S. 136; Grünwald, Eugen, S. 44f., alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Cauer, Paul: Die Reichsschulkonferenz, in: HG 31 (1921), S. 145–154, hier S. 147. Ähnlich auch Grünwald, Eugen: Werbearbeit, in: HG 34 (1924), S. 1–9, hier S. 3. Michaelis, Gerhard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. S. 94. Ähnlich auch Boll: Sinn und Wert, S. 25.
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angeführt.185 Im Gegenteil: Das Verhältnis zur Demokratie war eher distanziert. Bei der Begrüßungsrede zur 24. Jahresversammlung des Gymnasialvereins im September 1921 sagte Otto Immisch zwar, dass das Gymnasium zu keiner „geistigen Aristokratenschule“ werden wolle, musste aber explizit betonen, dass dies nicht „aus demokratischer Gesinnung, sondern aus warmer Liebe zum deutschen Volke“ geschehe.186 Hier wird erkennbar, dass die Gymnasiallehrer das Gymnasium zwar zum unverzichtbaren Werkzeug beim Wiederaufbau der deutschen Nation stilisierten, die Demokratie aber doch eher gering schätzten.187 Es statte die zukünftige Elite mit der nötigen ideellen Bildung durch die Berührung mit dem Griechentum aus, damit sie gegenüber den bereits oben erwähnten Gefahren der Gegenwart – Utilitarismus und Materialismus – gerüstet sei. Darüber hinaus vermittle es auch durch die beiden schwer erlernbaren alten Sprachen die zum Wiederaufbau nötige Zucht und Disziplin. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Befürworter des Gymnasiums zunächst in Apologetik übten: Den Vorwurf der Standesschule sowie der Fachschule wollte man widerlegen, indem man immer wieder betonte, dass das Gymnasium allseitig bilde. Gegen den Vorwurf der Standesschule führte man ins Feld, dass das Gymnasium aus allen Schichten die Tüchtigsten auslese und nicht einfach höhere Söhne bevorzuge. Das bedeutete aber nicht, dass man Elitenbildung ablehnte: Man stilisierte das Gymnasium als Anstalt der geistigen Elite. Zudem wehrte man sich gegen den Vorwurf, zu wenig an deutscher Bildung interessiert zu sein, weswegen die Vertreter des Gymnasiums damit warben, dass der Unterricht in den alten Sprachen das Verständnis für die Muttersprache trainiere. Vor allem sei das Gymnasium darin national, dass es in einem utilitaristischen und materialistischen Zeitalter den Schülern die richtigen Werkzeuge für den Aufbau der Nation an die Hand gebe: Das Gymnasium galt als Bollwerk gegen Utilitarismus, Materialismus, Spezialistentum, Zersplitterung und andere Folgewirkungen der „Moderne“, einschließlich des amerikanischen Lebensstils und der bolschewistischen Zerstörungswut. Gerade den beiden Letzteren begegnete man mit dem Hinweis, dass das Gymnasium die kulturellen Wurzeln Europas vermittle, die in der Antike lagen. Und gerade an dieser Vermittlung hänge vieles.
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Vgl. Lisco, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 124. Vgl. dazu Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 182. Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 102, ähnlich S. 106. Vgl. dazu Bispinck: Bildungsbürger, S. 59–66.
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1.3.3 Der altsprachliche Unterricht – Kulturunterricht und formale Bildung
Die „Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums für Berlin und Brandenburg“ hatte im Mai 1917 einen Wettbewerb ausgeschrieben. Der Gewinner sollte 1000 Reichsmark erhalten.188 Es sollten schriftliche Vorschläge eingereicht werden, wie der Latein- und Griechischunterricht seinen „innere[n] Ertrag [. . .] den Bedürfnissen der Zeit entsprechend“ steigern könne.189 Aus dieser Aufgabenstellung spricht die Kritik, der sich der altsprachliche Unterricht seit längerem ausgesetzt sah und die man durchaus ernst nahm: Er habe sich „allzu überwiegend im sprachlichen Drill erschöpft“ und mache den Schülern die Autoren „fremd, tot, ja unerträglich“.190 Diese Selbstkritik enthielt aber auch einen Appell an die Widerstandsbereitschaft der Gymnasiallehrer. Es gehöre heute nämlich teilweise zum guten Ton, wenn man selbst als „fortschrittlich und freisinnig“ oder „liberal“ gelten wolle, das Gymnasium als „rückständig“ zu brandmarken.191 Die Publikation, die schließlich 1918 mit den drei Preisarbeiten erschien, hieß dann auch programmatisch „Neues Leben im altsprachlichen Unterricht“. Die klassischen Philologen wussten sehr genau, dass die Kritik an ihrem Unterricht nicht unberechtigt gewesen war. Doch sie waren zuversichtlich, gegen diese Kritik gewappnet zu sein, da schon nach der Lehrplanreform 1901 wichtige Weichen für eine Besserung gestellt worden waren.192 Generell ist beim Umgang mit Kritik unter Altphilologen immer wieder eine eigenartige Mischung aus Selbstbewusstsein und Existenzangst zu beobachten. Wie sah dieser altsprachliche Unterricht nach dem Ersten Weltkrieg in der didaktischen Theorie aus? Im Groben hatte der altsprachliche Unterricht seit dem 19. Jahrhundert zwei Aufgaben: zum einen Sprachunterricht bzw. Grammatikunterricht, zum anderen Schriftstellerlektüre bzw. Kulturunterricht.193 188
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Vgl. Preisaufgabe der Freunde des humanistischen Gymnasiums zu Berlin, in: HG 28 (1917), S. 35. Bekanntgabe des Gewinners: Ergebnis der Berliner Preisaufgabe, in: HG 29 (1918), S. 114. Vorwort in Neues Leben im altsprachlichen Unterricht; vgl. auch Charitius, Franz: Drei Preisarbeiten, in: HG 30 (1919), S. 70–77, hier S. 70. Dresdner: Erlebniswert, S. 5. Wichmann: Menschheitsgedanke, S. 106. Zur Kritik am Grammatikunterricht s. auch Hohnen: Ovidlektüre, S. 53f. Vgl. Cramer, Der lateinische Unterricht, S. 78–85; Lisco: Die alten Sprachen, S. 109; Boll: Sinn und Wert, S. 6f. Auch mit der recht harten Kritik von Martin Havenstein (siehe Kapitel 1.3.) ging man eher gelassen um, vgl. Stemplinger, Eduard: Deutschtum und die alten Sprachen, in: HG 31 (1920), S. 46–55; Gebhard: Die alten Sprachen und die deutsche Bildung, in: HG 31 (1920), S. 55–60. Vgl. Albisetti/Lundgreen: Höhere Knabenschule, S. 254f.: Sie unterscheiden zwischen sprachlich-logischer und ethisch-ästhetisch-historischer Bildung. Vgl. zeitgenössisch Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919),
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Darüber schwebte die Frage, ob der Grammatikunterricht eine eigene Bildungsfunktion habe – „Selbstzweck“ war die zeitgenössische Formulierung – oder ob er nur das „Mittel zum Zweck des Verständnisses klassischer Schriftsteller“ darstelle.194 Im Hinblick darauf sah man die beiden alten Sprachen voneinander verschieden: Während der Grammatikunterricht im Griechischen nur Mittel zum Zweck war, glaubte man, dass der lateinische Grammatikunterricht sehr wohl einen Wert an sich besitze. Daher konzentriert sich die weitere Analyse auf den Lateinunterricht. Der Selbstzweck des Grammatikunterrichts
Welche Gründe wurden nun ins Feld geführt, um dem Grammatikunterricht oder, um den zeitgenössischen Begriff zu verwenden, dem „Sprachunterricht“195 eine bildende Kraft zuzusprechen? Eine weitverbreitete Meinung war, dass die „grammatische Durchbildung des Schülers [. . .] als Grundlage aller Sprachbildung überhaupt“ diene.196 Folglich sei Latein nicht nur eine hervorragende Grundlage zum Erlernen weiterer Fremdsprachen,197 sondern auch – und das war nach dem Ersten Weltkrieg noch viel wichtiger – ein unersetzliches Instrument zum Verständnis oder gar zur „tieferen wissenschaftlichen Erkenntnis“198 der Muttersprache. Dass Lateinunterricht auch Unterricht im Deutschen und somit „national“ sei, ließ sich gut gegen jene Kritik verwenden, die altsprachlichen Unterricht als undeutsch verbrämte. Denn nur ein Unkundiger könne leugnen, „daß jede Stunde lateinischen und griechischen Sprachunterrichts wirklich auch eine solche des deutschen ist“.199 Dabei eigneten sich die alten Sprachen besonders, da sie dem Deutschen „ferner stehen [. . .] als die Sprachen unserer
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S. 154–163, hier S. 159; Stölting, Alwin: Um die Zukunft des Gymnasiums, in: DPB 28 (1920), S. 316–318, hier S. 316; Cramer: Der lateinische Unterricht, S. X (Inhaltsverzeichnis). Knögel, W.: Kultusminister Haenisch und das Griechische, in: DPB 27 (1919), S. 373–375, 389–391, hier S. 389. Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 155. Dresdner: Erlebniswelt, S. 6. Vgl. Boll: Sinn und Wert, S. 12; Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 161; Immisch, Otto, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 26–31, hier S. 26f.; Aufruf Otto Schroeder, in: Monatsschrift für die höhere Schule 18 (1919), S. 479–480, hier S. 479. Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 3. Ähnlich Lisco: Die alten Sprachen, S. 109; Boll: Sinn und Wert, S. 20; Stutz, Ulrich, S. 112, Lisco, Eduard, S. 123, Scheindler, August von, S. 174f. und Lamer, Hans, S. 192, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 159.
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westlichen Nachbarvölker“.200 Der unausgesprochene Sinn dieses Argumentes war, dass durch die Ferne eine gewisse Bewusstseinsschärfung erfolge. Die Ferne stelle somit einen besonderen Weg zur Nähe da. In der Bundesrepublik taucht dieses Argument im Übrigen auch wieder auf. Uvo Hölscher machte daraus die viel rezipierte Maxime der Antike als das „nächste Fremde“.201 Auch wenn Kritiker dieses Argument bestritten – man könne schließlich „im Gebrauch der Muttersprache auch das höchste [sic!] erreichen, wenn man sich nur an die deutschen oder, wie Thomas Mann, auch an französische Muster“ halte202 –, ist dies eines der wirkmächtigsten Argumentationsfiguren für den altsprachlichen Unterricht. Gerade in einer Zeit, in der der altsprachliche Unterricht seine nationale Ergiebigkeit glaubte beweisen zu müssen, wurde dieses Argument besonders wichtig. Dies trifft auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ebenso zu wie auf die des Nationalsozialismus.203 In der Diskussion um den Eigenwert des Grammatikunterrichts erlangte das Argument, dass die lateinische Grammatik einen „hohen formalen Bildungswert“ habe, besonderes Gewicht.204 Der Begriff „formale Bildung“ lag didaktisch im Trend, obwohl er alles andere als trennscharf definiert war.205 Im Unterschied zu „materialer Bildung“ – die Unterscheidung zwischen diesen beiden Bildungsarten war im 19. Jahrhundert aufgekommen – ging die Theorie der „formalen Bildung“ davon aus, dass Schüler nicht nur Wissen enzyklopädisch erwerben könnten, sondern dass gewisse Bildungsinhalte den Schüler zu einem geistigen Transfer befähigen würden.206 Das bedeutete, dass man über den konkreten 200
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Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 4; ähnlich Stölting, Alwin: Um die Zukunft des Gymnasiums, in: DPB 28 (1920), S. 316–318, hier S. 317. Siehe Kapitel IV.3.4.1. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 26. Die „Fremdwörterei“ hätte der Muttersprache sogar den schlimmsten Schaden zugefügt, S. 27. Siehe Kapitel III.1.2. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 54; vgl. auch Scheindler, August von, S. 174; Kerschensteiner, Georg, S. 177; sowie Immisch, Otto, S. 26, in: Das Gymnasium und die neue Zeit; Lisco: Die alten Sprachen, S. 111; Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 5; Knögel, W.: Kultusminister Haenisch und das Griechische, in: DPB 27 (1919), S. 373–375, 389–391, hier S. 389; Bathe, J.: Der lateinische Unterricht am Realgymnasium, in: MfHS 20 (1921), S. 347–355, hier S. 347. Laut Emil Heusermann bekommt der Lateinunterricht durch die formale Bildung eine neue Begründung, vgl. Heusermann, Emil: Die Vorstellungskraft, das Stiefkind des lateinischen Unterrichts, in: MfHS 19 (1920), S. 344–358, hier S. 344; Spranger: Geisteswissenschaften und Schule, S. 41–43; Stiglmayr: Das humanistische Gymnasium, S. 34–37. Vgl. Bendorf: Bedingungen, S. 31–35; Hasselhorn/Gold: Pädagogische Psychologie, S. 140f. Eine ausführliche Analyse der Konjunktur der Theorie der formalen Bildung folgt in Kapitel IV.4.1 Zeitgenössisch: Havenstein: Die alten Sprachen, S. 53: „Formale Bildung ist Schulung und Entwicklung der Kräfte und Fähigkeiten, der körperlichen wie der seelischen, der sittlichen wie der geistigen.“ Vgl. auch Cramer: Der lateinische Unterricht, S. 100.
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Inhalt eines Bildungsgegenstandes hinaus, allgemeingültige Fähigkeiten erwerben könnte. In Bezug auf den Lateinunterricht wurde dies häufig gleichgesetzt mit der Vorstellung von Latein als einer „Denkschule“, die das „logische Denken“ fördere.207 Diese „systematische Schulung“ könne aber nur durch die alten Sprachen erreicht werden, die neueren Fremdsprachen taugten dafür angeblich nicht.208 Die Vertreter der neueren Sprachen sahen das natürlich anders. Jeder fremdsprachliche Unterricht, also ebenfalls die modernen Fremdsprachen, schule das logische Denken.209 Dennoch lässt sich beobachten, dass im Allgemeinen dem Lateinischen dafür eine bessere Brauchbarkeit zugeschrieben wurde. Der Westfälische Philologenverband etwa, der alle Fächer vertrat, hielt in einem Leitsatz 1919 fest, dass eine „Schulung des Geistes“ zwar durch jede Sprache erreicht werden könne, dass aber das Lateinische dafür „manche Vorteile“ habe. Dazu gehörten neben der „reichere[n] Ausgestaltung der Formen“ und der „größere[n] Gesetzmäßigkeit im Aufbau“, auch die „angemessene Schwierigkeit“ und die gewisse Ferne zur Muttersprache. Darüber hinaus sei Latein durch sein „abgeschlossenes Vorliegen“ eine konservierte Sprache.210 Mit einem anderen Fach konkurrierte man dabei besonders um die Vorherrschaft auf dem Feld der logischen Bildung: mit der Mathematik. Die „beste Propädeutik zu logischem Denken“ sei nach Meinung der Vertreter der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer ihr eigener Unterricht. Die „rein analysierende Denkarbeit“ der Sprachen, die „deduktiv“ vorgehe, könne die Schüler nicht so gut zur „Selbständigkeit des Arbeitens und Denkens“ anleiten, wie die „synthetische [. . .] Denkarbeit“ und die „induktive [. . .] Logik“ des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts.211 Die Altsprachler setzten 207
208 209 210
211
Stölting, Alwin: Um die Zukunft des Gymnasiums, in: DPB 28 (1920), S. 316–318, hier S. 317; Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 156; Boll: Sinn und Wert, S. 20; Enger beklagt, dass man doch seit Ostwald wisse, dass Sprachen keine „Inkarnation der Logik“ seien, aber dennoch hätten sie einen „hohen Wert für die formale Bildung“, vgl. Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in den Neuen Schulen, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, hier S. 417; ähnlich auch die Überarbeitung der Lehrpläne durch den Bayerischen Philologenverband vom 30. Mail 1914, worin steht, dass Latein nicht die Sprache der „immanenten Logik“ sei, BayHStA, MK 14761. Weitere Belege auch im Laufe der 1920er Jahre: Kundgebung von Dozenten der Universität Rostock, in: HG 38 (1927), S. 168. Meyer, Eduard, S. 114–117, hier S. 115; Harnack, Adolf von, S. 143–145, hier S. 143; Lisco, Eduard, S. 122–125, hier S. 123, alle in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Vgl. Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Deutschbein (Deutscher Neuphilologenverband), Reichsschulkonferenz 1920, S. 703. Böhmer, J.: Der Westfälische Philologenverband zur Neugestaltung des höheren Schulwesens, in: DPB 28 (1920), S. 100–102, hier S. 101. Der Bericht erschien zwar erst 1920, die Versammlung fand aber bereits 1919 statt. Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 3–5. Ähnlich auch Havenstein: Die alten Sprachen, S. 85.
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verschiedene Argumente dagegen,212 von denen aber eines ganz besonders interessant ist: Sie adaptierten die Methode der „Induktion“ für ihren eigenen grammatischen Unterricht. Eine induktive Einführung der Grammatik bedeutete, dass die Schüler die grammatischen Regeln in der Auseinandersetzung mit dem Text selbst herausfinden sollten. Das meist vorherrschende deduktive Vorgehen stellte den Schülern zuerst die grammatischen Regeln vor, bevor sie zu übersetzen begannen.213 Damit fingen sie gleichzeitig die Kritik auf, der alte Grammatikunterricht sei „mechanischer Drill“ und von „tödliche[r] Langeweile“ geprägt gewesen. Außerdem begegnete man mit der induktiven Methode dem Vorwurf, dass man mit Fleiß im altsprachlichen Unterricht auch ohne Begabung weit kommen konnte.214 Um dies richtig einordnen zu können, ist es wichtig, sich klar zu machen, dass das Wort „Begabung“ bis heute uneinheitlich verwendet wird. Mit Begabung kann einerseits „Intelligenz“ gemeint sein als allgemein kognitive Fähigkeit oder eine spezielle Begabung hinsichtlich einer „gegenstandsbezogene[n] Fähigkeit“. Für die Bildungspolitik ist darüber hinaus eine weitere Diskussion erheblich, nämlich ob Begabung, wie auch immer verstanden, angeboren ist oder durch entsprechende Sozialisation entsteht.215 In den 1920er Jahren herrschte erstere, die sogenannte „nativistische [. . .]“ Begabungsvorstellung vor. Auch wenn es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Ansichten darüber gab, dass sich Begabung vermutlich sowohl aus angeborenen Anlagen, aber auch aus Sozialisation ergebe, setzte sich diese Vorstellung erst in den 1960er Jahren durch.216 Daher ergibt sich auch ein wichtiger Unterschied, ob in den 1920er Jahren vom „Aufstieg der Begabten“ oder vom „Aufstieg der Tüchtigen“ gesprochen wurde. Erstere Formulierung geht von einer Naturkonstante aus. Wenn Kinder aus Arbeiterfamilien den Aufstieg nicht schafften – so die damalige Auffassung –, waren sie eben nicht ausreichend begabt, und die geringe Zahl der Arbeiterkinder mit Abitur waren kein Ergebnis eines ungerechten Bildungssystems. Es gebe einfach weniger begabte Kinder in den Arbeiterschichten. Letztere Formulierung legte den Fokus auf die Anstrengung des Einzelnen. Wer sich bemühte, solle einen Aufstieg 212 213
214
215 216
Vgl. Cramer: Der lateinische Unterricht, S. 101f.; Dietrich, Waldemar: Das humanistische Gymnasium, in: HG 32 (1921), S. 1–9, hier S. 3. Vgl. dazu Klippel: Verhältnis, S. 49–53. Auf den ganzen Sprachlernprozess bezogen unterscheidet man die analytische von der synthetischen Methode, die der Induktion bzw. der Deduktion sehr ähneln: Das analytische Verfahren nimmt einen ganzen Text als Ausgangsbasis und erschließt ihn erst inhaltlich und dann sprachlich. Das synthetische Verfahren geht von Regeln aus, übt diese ein und wendet sich erst später längeren Texten zu, vgl. Klippel: Verhältnis, S. 47. Dietrich, Waldemar: Neue Bahnen im humanistischen Sprachunterricht, in: HG 30 (1919), S. 154–163, hier S. 156–158; ähnlich auch Ilberg, Johannes, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 128–129, S. 129. Heid/Fink: Begabung, S. 147. Ebenda, S. 150. Vgl. auch Drewek: Begabungstheorien. Siehe dazu Kapitel IV.3.1.
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aus eigener Kraft schaffen können. Die Diskussionen um den Lateinunterricht zeigen aber, dass sich seine Vertreter sowohl daran orientierten, dass begabt war, wer die philologischen Fächer beherrschte (eine Begabung in Sport war hingegen nichts wert), als auch, dass eine angeborene Begabungsvorstellung vorherrschte. Nur durch Fleiß sollte kein Schüler am Gymnasium gute Noten erzielen. Daher war es wichtig, diese vermeintlichen Begabungen früh zu ermitteln und zielgerichtet zu fördern. Latein schien vielen auch aus diesem Grund ganz besonders als erste Fremdsprache geeignet, weil es möglichst schnell zeige, welcher Schüler „sprachlich und weiterhin abstrakt begabt“ sei.217 Denn das Erlernen der lateinischen Sprache sei eine „scharfe Schulung des Verstandes“,218 das zu „Disziplin und Selbstzucht in Gedankenbildung und Sprachgebrauch“ erziehe.219 Latein sei „schwer und fremdartig“220 und zwinge „zur Konzentration“.221 Aber auch hier gab es kritische Stimmen, die das Argument der formalen Bildung und der logischen Schulung für völlig haltlos hielten.222 Als Heinrich Wigge vom Deutschen Lehrerverband auf der Reichsschulkonferenz sagte: „In einer Maschine oder einem Eisenbahnzuge steckt mehr logisches Denken und mehr Wissenschaftlichkeit als in allen Reden Ciceros“, erntete er dafür „[l]ebhafte Zustimmung“.223 In der Tat ist das Argument der logischen Schulung eines der bis heute am häufigsten verwendeten Argumente für den Lateinunterricht, obwohl es bisher keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhalten konnte.224 Wie setzten sich diese neuen Überlegungen in die Praxis um? Am deutlichsten zeigten sie sich bei der Diskussion um das lateinische Skriptum, eine Abiturprüfung, bei der vom Deutschen ins Lateinische übersetzt werden musste.225 War die deutsch-lateinische Übersetzungsprüfung vor dem Ersten Weltkrieg noch eine Forderung, von der die Vertreter des Gymnasiums nicht abrücken wollten, nahmen die klassischen Philologen nun selbst von ihr Abstand. In der Oberstufe 217
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225
Universitätsprofessor Schwarz während Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 495. Ähnlich auch Aufruf Otto Schroeder, in: Monatsschrift für die höhere Schule 18 (1919), S. 479–480, hier S. 480; Havenstein: Die alten Sprachen, S. 29. Diehl, Karl, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 200–201, hier S. 201. Scholz, Hermann, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 173–174, hier S. 173. Immisch, Otto, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 26–31, hier S. 26. Lisco, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 122–125, hier S. 124. Diskussion im 2. Ausschuss, Aussage Tews, Reichsschulkonferenz 1920, S. 698. Wigge während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 479. Vgl. Kipf: Historia, S. 2. Beispielsweise stand bereits im Encyklopädischen Handbuch der Pädagogik von 1906 unter dem Eintrag „Lateinischer Unterricht“, dass Grammatik nicht identisch sei mit Logik und dass es dafür auch keines langen Beweises mehr bedürfe. Allerdings biete der Unterricht in der Syntax „reiche Gelegenheit zum logischen Denken und zu psychologischer Erkenntnis“ (vgl. Schiller: Lateinischer Unterricht, S. 330f.). Hieran erkennt man, wie widersprüchlich das Argument von Latein als logischer Sprache ist. Siehe dazu ausführlich Kapitel II.1.5.3.
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nämlich müsse der Kulturunterricht und die Lektüre im Vordergrund stehen, da bliebe nicht genügend Zeit, das Skriptum zu üben. Früher sollte durch das Skriptum und den Grammatikunterricht das lateinische Schreiben geschult werden, doch dieses Bildungsziel habe ausgedient, für die formale Bildung und den Kulturunterricht brauche man es nicht mehr.226 Dass „das Lateinische auf der obersten Stufe des Gymnasiums wie des Realgymnasiums nur noch zum Zwecke der Lektüre und des Übersetzens ins Deutsche zu betreiben“227 sei, forderten auch die Vertreter des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts sowie Martin Havenstein. Havenstein hatte sich in seinem Werk „Die alten Sprachen“ von 1919 ganz ausführlich damit beschäftigt, wie sehr der lateinische Unterricht formal bilde. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass in deutsch-lateinischer Übersetzung (das sogenannte „Hinübersetzen“) keine, in lateinisch-deutscher Übersetzung (das sogenannte „Herübersetzen“) aber sehr viel formaler Bildungswert stecke.228 Zudem brauche man bei der Übersetzung ins Deutsche Verstand und Begabung, bei der Übersetzung ins Lateinische reiche Fleiß.229 Hier wird noch einmal deutlich, dass es in der damaligen Begabungsvorstellung „echte“ intelligente Schüler gab und solche, die Intelligenz durch Fleiß vortäuschten. Franz Cramer, der 1919 ein grundlegendes Handbuch für Lateinlehrer veröffentlichte, plädierte darin jedoch für die deutsch-lateinische Übersetzung. Er wisse sehr wohl, dass die „Übersetzungsbücher alten Schlages [. . .] die selbstgefällige Eloquenz eines gedankenleeren Scheinhumanismus“ widerspiegelten.230 Aber die deutsch-lateinische Übersetzung müsse kein „peinvolles und künstlich zugespitztes Spiel grammatisch-stilistischer Einzelheiten“ werden.231 Durch freie Nacherzählungen, Sprechübungen und „Selbsttätigkeit des Schülers“ könne sehr wohl auch die Übersetzung ins Lateinische den Unterricht beleben.232 Allerdings wies er ausdrücklich darauf hin, dass man dies nicht übertreiben solle. Jede Lateinstunde solle „eine deutsche Stunde sein“. Doch das dies verfehlt werde, sei für den altsprachlichen Unterricht sowieso weniger zu befürchten „als beim Betriebe der neueren Fremdsprachen, besonders bei gewissen ‚extremen‘ Unterrichtsweisen“.233 Was Cramer damit genau meinte, erklärte er zwar nicht. 226
227 228 229 230 231 232 233
Vgl. Dresdner: Erlebniswelt, S. 6, 10; Boll: Sinn und Wert, S. 31f.; Aus Versammlungen der Freunde des Humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 15; Hölk, Cornelius: Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen?, in: MfHS 20 (1921), S. 329–346, hier S. 335. Poske, Friedrich: Zwei Entschließungen, in: UMN 25 (1919), S. 50–53, hier S. 51. Vgl. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 7, 54–56, 66. Havenstein hatte die Abschaffung des Skriptums schon 1912 gefordert, vgl. Hoffmann: Der Lateinische Unterricht, S. 176–182. Vgl. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 70. Cramer: Der Lateinische Unterricht, S. 80. Pro Skriptum im Übrigen auch Hoffmann: Der lateinische Unterricht, S. 173–199. Cramer: Der Lateinische Unterricht, S. 157. Ebenda, S. 157f. Ebenda, S. 160.
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Es kann aber vermutet werden, dass er auf Bestrebungen des neusprachlichen Unterrichts anspielte, die als Unterrichtssprache die fremde Sprache vorsehen wollten.234 Diese sogenannte „direkte Methode“ sollte sich später flächendeckend durchsetzen und auch den altsprachlichen Unterricht nicht unberührt lassen.235 Braucht Kulturunterricht die Originaltexte?
Generell gab es eine Aufwertung der kulturellen Komponente im fremdsprachlichen Unterricht. Beispielsweise wurde für Lehrer der neueren Sprachen ein Auslandsaufenthalt gewünscht.236 Die Schriftstellerlektüre als Vermittlung der antiken Kultur rückte stärker in den Fokus des altsprachlichen Unterrichts.237 Inhaltlich kam, ganz dem nationalen Unterricht entsprechend, der „Germania“ des Tacitus größere Bedeutung zu,238 eine herausgehobene Stellung erhielt die Lektüre dieses Textes dann aber erst während des Nationalsozialismus.239 Darüber hinaus stellte das „deutsche Mittelalter“ als deutsches Kulturgut einen wichtigen 234
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237
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239
Die Erkenntnis, dass „Sprechbetätigung“ zum Erlernen wichtig sei, wurde von Otto als „neuere Methode“ bezeichnet, vgl. Otto: Methodik und Didaktik des neusprachlichen Unterrichts, S. 10–35; Ehrke, Karl: Grundfragen des neusprachlichen Schulunterrichts, in: DNS 40 (1932), S. 287–299. Er plädiert für die „direkte Methode“, die „grammatisierende Methode“ passe nicht mehr. Darüber hinaus wurde den neueren Sprachen bzw. den Realanstalten eine gewisse „Gegnerschaft [. . .] gegen jeden grammatischen Betrieb“ nachgesagt, vgl. Ehringhaus, Fritz: Der Lehrplan für den Lateinunterricht an Oberrealschulen von 1918, in: MfHS 20 (1921), S. 83–86, hier S. 85. Es kamen auch Hörbücher von Klassikern auf den Markt, die teilweise im Unterricht benutzt wurden, um das Hören zu üben, vgl. Schultze, H.M.: Sprechmaschine und Schule, in: DNS 36 (1928), S. 625–628. Vgl. Pilch, Ernst: Nochmals Mader-Breywisch, in: DPB 42 (1934), S. 245–246, S. 245: „Im Grunde genommen, seien wir ehrlich, haben wir da bei den Neuphilologen eine Anleihe gemacht oder besser gesagt von ihnen gelernt.“ Zur Entwicklung der Methodik des neusprachlichen Unterrichts vgl. Lehberger: Englischunterricht, S. 91f.; Doff: Englischdidaktik, S. 40–43. Vgl. Kapitel III.3.1; IV.3.4.2. Vgl. Reform des neusprachlichen Unterrichts, in: Hamburger Correspondenz, 7.7.1920, zitiert nach DPB 28 (1920), S. 343–344, hier S. 344; vgl. dazu auch Krüper, A.: Die Pflege der neueren Sprache in der künftigen deutschen Schule, in: DPB 27 (1919), S. 189–192; Burger, R.: Neuere Fremdsprachen und Gegenwart, in: DPB 28 (1920), S. 504. Beispielsweise Franke, J.: Neue Ziele im altsprachlichen Unterricht, in: DPB 27 (1919), S. 320; Cramer: Der Lateinische Unterricht, S. 80; Becker, P.: Wie kann die Lektüre der antiken Schriftsteller lebendiger und nutzbringender gemacht werden?, in: MfHS 21 (1922), S. 129–138, hier S. 130; vgl. auch Hohnen: Ovidlektüre, S. 70. Cramer: Der lateinische Unterricht, S. 79f. Cramer war auch Anhänger des Germanentums, vgl. Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 161; vgl. zur Rezeptionsgeschichte der Germania auch Krebs: Ein gefährliches Buch, vor allem ab S. 232. Leider spart Krebs die Entwicklungen in der Weimarer Republik aus. Vgl. dazu auch Krovoza: Tacitus, Sp. 990–994. Zur Frage der Lektüreauswahl im Lateinunterricht in der 1920er Jahren vgl. Hohnen: Ovidlektüre. Siehe Kapitel III.3.2.
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Bezugspunkt dar. Ohne die Kenntnis „der lateinischen Weltkultur“ könne man dieses nicht wirklich verstehen.240 Allerdings konnte sich die Beschäftigung mit dem Mittellateinischen nie gegen die klassischen Autoren durchsetzen.241 Die Forderung nach stärkerer Betonung der antiken Kultur war Anfang der 1920er Jahre eine Forderung vieler Interessensgruppen. So forderte beispielsweise der „Freie Verband für Kultur der Schulen“ in einem Schreiben vom 9. April 1920 an das Bayerische Ministerium für Unterricht und Kultus, dass man eher die antike Kultur in den Vordergrund stellen solle, weil diese in der vielgerühmten grammatisch-logischen Schulung zu kurz käme.242 Die stärkere Betonung des Kulturellen sowie die generelle kritische Haltung gegenüber dem formenbetonten Erlernen der Sprache zog eine weitere Diskussion nach sich: Könnte die Vermittlung der Kultur nicht ohne das mühevolle Lesen der Originaltexte geschehen, indem die Schüler nämlich deutsche Übersetzungen verwenden würden? Kritiker des altsprachlichen Unterrichts hatten dieses seit Längerem vorgeschlagen, das „Verständnis der klassischen Schriftsteller“ sei nämlich auch durch fertige Übersetzungen zu erreichen, zumal man dies mit den griechischen Klassikern an Schulen ohne Griechisch ohnehin bereits praktiziere.243 Neu war, dass auch die Vertreter der alten Sprachen es durchaus in Betracht zogen, mit Übersetzungen zu arbeiten. Albert Dresdner, der Gewinner des bereits erwähnten Wettbewerbs „Neues Leben im altsprachlichen Unterricht“, schlug vor, für die Lektürearbeit Übersetzungen gezielt zu nutzen. Er wisse zwar, dass dies von vielen klassischen Philologen als „unerlaubte Ketzerei“ empfunden werde, aber die Schulpraxis zeige, dass sich die Schüler der Übersetzungen sowieso bedienten. Dann solle man sie lieber gleich „in den Dienst der Schularbeit“ nehmen, um so einige „Durststrecken“ zu überwinden.244 Diese Meinung wurde von einigen Vertretern des Faches geteilt.245 Andere wiederum 240
241 242 243
244 245
Boll: Sinn und Wert, S. 23f.; ähnlich auch Siebourg, Max, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 125–126: „Karl der Große, der kerndeutsche Mann, wußte, warum er seine Franken in die Lateinschule schickte.“ Oder auch Das deutsche Gymnasium, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 16.10.1920, Abendausgabe, S. 2: „Latein müsse beibehalten werden, da es zum Verständnis der deutschen Kultur notwendig sei, weswegen die Schüler auch in das mittelalterliche Latein einzuführen seien.“ Siehe Kapitel II.2.3.2; 3.2; IV.1.3. Vgl. BayHStA, MK 14765. Stölting, Alwin: Um die Zukunft des Gymnasiums, in: DPB 28 (1920), S. 316–318, hier S. 317; Havenstein verwendet ein ganzes Kapitel darauf, vgl. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 29–53. Ähnlich sieht es auch Ernst Rethwisch, Lehrer für Naturwissenschaften und Mathematik, in einer Rezension zu Dresdner: Erlebniswelt, Rethwisch, Ernst: Neue Bildungsziele und altes Bildungsgut, in: DPB 27 (1919), S. 216–218, hier S. 218; Referat Tews, Reichsschulkonferenz 1920, S. 468. Dresdner: Erlebniswert, S. 23f. Vgl. Meyer, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 114–117, hier S. 116; Zeitungs- und Zeitschriftenumschau, in: HG 30 (1919), S. 57–60, hier S. 60; Aus der Versammlung der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23,
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argumentierten, dass es den altsprachlichen Unterricht zu sehr vereinfache. Es gebe zudem eine Reihe von Lektürehilfen, die so viele Hilfestellung bereitstellten, dass sogar Schüler mit „Durchschnittsbegabung“ die Übersetzung schaffen würden. So etwas könne man nicht gutheißen.246 Cramer beispielsweise lehnte die Nutzung von Übersetzungen nicht generell ab: Für Realanstalten könnten sie gute Dienste erweisen. Allerdings müsse am Gymnasium übersetzt werden, da gebe es keine Alternative. Als Begründung führte er einmal mehr ein Zitat Goethes an: „Beim Übersetzen muß man bis ans Unübersetzliche herangehen; als dann wird man erst die fremde Nation und die fremde Sprache gewahr.“247 Bei dieser Diskussion wird einmal mehr deutlich, dass der altsprachliche Unterricht als Elitenbildung konzipiert war. Dies erkennt man besonders in einem Beitrag in der Monatsschrift für höhere Schulen, in welchem der Autor die Meinung vertrat, dass die Vermittlung der Antike anhand von Übersetzungen zwar „für die Mehrzahl des Volkes“ ausreiche, dass der Staat aber ein darüber hinausgehendes Interesse habe, welchem der altsprachliche Unterricht in besonderer Weise dienen könne.248 Havenstein hingegen war ein großer Verfechter der Arbeit mit Übersetzungen. Er sah nämlich die Hauptaufgabe der Altertumswissenschaft in der „Übertragung oder Umdichtung“ der antiken Klassiker in eine lebende Sprache, um so das „halb Erstorbene für die Gegenwart wieder lebendig“ zu machen.249 Die klassischen Philologen sahen darin selbstverständlich nicht ihre einzige Aufgabe. Der Latinist Eduard Fraenkel betonte, dass das „Leben [. . .] unseres deutschen Humanismus“ davon abhänge, „daß abseits der Gelehrtenzunft immer noch Menschen unter uns leben, die den Weg zu den Originalen zu finden wissen“.250 Allerdings stimmten die meisten Altphilologen sehr wohl zu, dass gute deutsche Übersetzungen neben dem Originaltext, also zweisprachige Ausgaben, ein wichtiges Anliegen seien. Leider stünden in der angespannten wirtschaftlichen Lage Deutschlands dafür keine Mittel zur Verfügung. Mit Neid stellte der klassische Philologe Franz Boll fest, dass den Engländern dies seit einigen Jahren durch die Ausgaben von Loebs Classical Library gelinge.251
246 247 248 249
250 251
hier S. 15; Hölk, Cormelius: Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen?, in: MfHS 20 (1921), S. 329–346, hier S. 333. Charitius: Drei Preisarbeiten, in: HG 20 (1919), S. 70–77, hier S. 72. Ähnlich auch Boll: Sinn und Wert, S. 18f. Cramer: Der lateinische Unterricht, S. 129–136, vor allem S. 132f. Vgl. Neumann, Robert: Politik und Schulreform, in: MfHS 18 (1919), S. 93–106, hier S. 103f. Havenstein: Die alten Sprachen, S. 53. Vgl. auch ebenda, S. 89: „die überlieferten Schriftwerke der Alten durch immer bessere Verdeutschungen dem deutschen Volke wahrhaft zugänglich und verständlich zu machen und dadurch die Verwertung des Altertums im Dienste der gegenwärtigen Kultur zu erleichtern“. Fraenkel: Vom Werte der Übersetzung, S. 383. Boll: Sinn und Wert, S. 21.
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1.4 Die Ergebnisse der Reichsschulkonferenz
Die Ergebnisse der Reichschulkonferenz zu bewerten, fällt nicht ganz leicht. Würde man den Zeitgenossen glauben, dann wäre die Konferenz ein Misserfolg gewesen. Die Mängelliste war sehr unterschiedlich, aber alle fühlten sich als Verlierer oder benachteiligt. Viele beschwerten sich über zu viele und zu junge Teilnehmer und die zu hohen Kosten.252 Von konservativer Seite beschwerte man sich über die Auswahl der Teilnehmer. Dahinter habe doch das Kalkül der Sozialdemokraten gesteckt, die Konferenz nach ihren Wünschen zu steuern.253 Der Vorwärts hingegen hielt die Reichschulkonferenz für einen „Verzweiflungsakt der Reaktion“.254 Die süddeutschen Länder fühlten sich von den Sondierungsgesprächen im Oktober 1919 ausgeschlossen und befürchteten eine „Zurücksetzung“ gegenüber dem Norden.255 Nur wenige begrüßten die Reichsschulkonferenz als „Sachverständigenkongreß“, der alle Akteure der Bildungsdiskussion zusammengebracht hätte.256 Das staatliche Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, einer der Veranstalter, wertete die Reichsschulkonferenz natürlich als Erfolg.257 Betrachtet man die Ergebnisse, steht als einzige wirkliche Reform die Einführung der gemeinsamen vierjährigen Grundschule, und dies war bereits im Vorfeld der Reichschulkonferenz im April 1920 durch die Nationalversammlung beschlossen worden. Private und öffentliche Vorschulen sollten sukzessive geschlossen werden, so dass alle Schüler die nun vierjährige gemeinsame Grundschule besuchen sollten, auf der sich dann das mittlere und höhere Schulwesen aufzubauen habe.258 Der Philologenverband hatte sich bereits am 24. Februar 1920 über dieses Vorhaben beim Innenminister beschwert: Dadurch würde man 252
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Vgl. Bohle, Adolf: Bericht über die Reichsschulkonferenz, in: DPB 28 (1920), S. 247– 256; Cauer, Paul: Die Reichsschulkonferenz. Was hat sie gebracht? Und was fordert sie von uns?, in: HG 31 (1920), S. 145–154, hier S. 145–148; Erzgraeber: Ergebnisse der Reichsschulkonferenz, in: Deutsche Zeitung, 1.7.1920, abgedruckt in: DPB 28 (1920), S. 326–327; Die Tagung der 600. Erstaunliches von der Reichsschulkonferenz, in: Vossische Zeitung, 30.5.1920, Morgenausgabe. Vgl. Erzgraeber: Ergebnisse der Reichsschulkonferenz, in: Deutsche Zeitung, 1.7.1920, abgedruckt in: DPB 28 (1920), S. 326–327; Behrend, Felix: Die deutsche Schulreform, in: DPB 28 (1920), S. 233–234. Vgl. Erzgraeber: Ergebnisse der Reichsschulkonferenz, in: Deutsche Zeitung, 1.7.1920, abgedruckt in: DPB 28 (1920), S. 326–327; Lang, Johannes: Die Einheitsschule, in: Arbeiterjugend, 15.7.1920, S. 149–150. Vgl. BayHStA, MK, 14764, Landesverband Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Bayern an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 20.11.1919. Böhme, Fritz: Ergebnisse der Reichsschulkonferenz, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 20.6.1920. Vgl. Die Reichsschulkonferenz in ihren Ergebnissen. Vgl. Oelkers: Gesamtschule, S. 37–39.
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sich der Beratung dieser Frage durch die Reichsschulkonferenz entziehen und den höheren Schulen eine eingreifende Bestimmung über die Vorbildung der Schüler vorsetzen.259 Allerdings konnte man dann auf der Reichsschulkonferenz in Bezug auf die Grundschule recht schnell einen Kompromiss finden.260 Auch die Einigung auf eine vierjährige gemeinsame Grundschule ist in der Rückschau keine Marginalie, sondern eine entscheidende Veränderung des deutschen Schulsystems. Denn dies war definitiv ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Bildungsexpansion.261 Doch auch in Bezug auf die höhere Schule war die Reichsschulkonferenz nicht so ergebnislos, wie die Zeitgenossen es darstellten. Zwar kämpften die Vertreter der höheren Schule für die Beibehaltung des gegliederten Schulsystems und gegen eine wie auch immer gestaltete „Einheitsschule“, doch schließlich war auch der Gymnasialverein zu Veränderungen bereit.262 Solange das klassische Gymnasium als eigenständiger Schultyp bestehen bliebe,263 hatte man gegen „Mischtypen“ oder gegen eine Erhöhung des Deutsch-, Geschichts- und Erdkundeunterrichts nichts einzuwenden, empfand dies alles sogar als notwendig.264 Sogar eine Verminderung der Gymnasien zugunsten von Realanstalten fand dessen Zustimmung, solange in jeder größeren Stadt ein rein klassisches Gymnasium bestehen blieb.265 Auch schlugen die Vertreter der Gymnasien konkrete 259 260
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Vgl. Mellmann an den Reichsminister des Inneren, 24.2.1920, in: DPB 28 (1920), S. 103. Vgl. Reichsschulkonferenz 1920, S. 703: Behrend im Ausschuss zum Schulaufbau: „Nach der Einigung über die Grundschule ist es vielleicht möglich, sich auch über den weiteren Aufbau [. . .] zu einigen.“ Vgl. Hoeres: Kultur, S. 74; Zymek: Schulen, S. 171–176. Auch wenn Müller/Zymek dies stärker aus der „Systemlogik“ heraus erklären als aus einem Bedürfnis „der Verwirklichung größerer Bildungschancen“, Müller/Zymek: Datenhandbuch II, 1, S. 14. Kundgebung des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Gymnasialvereins an seine Mitglieder, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 214–216, hier S. 215, Leitsatz 5; Leitsätze der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Würzburg und Unterfranken, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 216–217, hier S. 217, Leitsatz 8; Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 12, 14; Vorstandssitzung des deutschen Gymnasialvereins am 8.2.1920, Leitsätze zur Reichsschulkonferenz, in: HG 31 (1920), S. 1–4, hier S. 2. Vgl. Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 100f. Vgl. Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 30 (1919), S. 1–10, hier S. 7–8; Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 12; Vorstandssitzung des deutschen Gymnasialvereins am 8.2.1920, Leitsätze zur Reichsschulkonferenz, in: HG 31 (1920), S. 1–4, hier S. 2; Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, Rede Boelitz, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 119. Vgl. Cauer während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 485; Goldbeck (Reichsschulausschuß zum Schutze des humanistischen Gymnasiums) während Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 512. Leitsätze der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Würzburg und Unterfranken, in: Das Gymnasium und die neue Zeit,
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Veränderungen im altsprachlichen Unterricht vor: Selbst Stundenkürzungen im Fach Latein266 oder die Abschaffung des sogenannten Skriptums als Bestandteil der Abiturprüfung267 empfand ein Großteil der Philologen als tragbar. Man müsse eben „zur Rettung der Sache des Gymnasiums einige Opfer“268 bringen. Wichtig war dabei nur, dass das Griechische bewahrt wurde.269 Interessanterweise waren die Vertreter des Gymnasiums beim Thema der Übergangsmöglichkeiten von einer Form der höheren Schule auf eine andere zurückhaltender. Die Schultypen sollten nicht von vornherein auf Durchlässigkeit ausgelegt werden, denn in der Praxis würde das bedeuteten, dass sie alle mit der gleichen Fremdsprache beginnen müssten. Dies wiederum hätte Latein als erste Fremdsprache zur Debatte gestellt. Um dem zu entgehen, argumentierten die Vertreter des Gymnasiums, dass die strukturelle Durchlässigkeit „angesichts der Seltenheit der Fälle [. . .] nicht notwendig“ sei, es sei sogar „schädlich, weil dadurch die Leistungsfähigkeit einer jeden höheren Schule in ihrer Eigenart beeinträchtigt wird“.270 In der weiteren Entwicklung wird sich allerdings immer wieder zeigen, dass gerade die mangelnden Möglichkeiten zum Übergang von einer Schulform auf die andere eine weitergehende Vereinheitlichung erschwer-
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S. 216–217, hier S. 217, Leitsatz 9. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 19. Vgl. bayerischer Gymnasiallehrer-Verein an Bayerisches Ministerium für Unterricht und Kultus, am 8.5.1920 (BayHStA, MK 14765); Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 16. Vgl. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 16; Bayerischer Gymnasiallehrer-Verein an Bayerisches Ministerium für Unterricht und Kultus, am 8.5.1920 (BayHStA, MK 14765). Natürlich gab es auch hier Stimmen, die am Skriptum festhalten wollten, wie bspw. Württemberg, vgl. Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, Rede Boelitz, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 119f. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 16. Vgl. Ebenda: „Aber in entschiedenen Dingen müsse man unnachgiebig sein; so dürfe vor allem vom Griechischen nichts geopfert werden.“ Leitsätze der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Würzburg und Unterfranken, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 216–217, hier S. 217, Leitsatz 6: „In der humanistischen Schule ist das Lateinische die Grundlage des fremdsprachlichen Unterrichts. Neben dieser Grundsprache ist das Griechische, das als Kernstück der humanistischen Bildung gelten muß, als Pflichtfach unentbehrlich.“ Auch hier gab es Gegenstimmen, die das Griechische zugunsten des Lateinischen aufgeben wollten, aber diese konnten sich nicht durchsetzen, vgl. Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 102. Vorstandssitzung des deutschen Gymnasialvereins am 8.2.1920, Leitsätze zur Reichsschulkonferenz, in: HG 31 (1920), S. 1–4, hier S. 1f. Es gab auch Stimmen, die bereit gewesen wären, das Latein ab der Sexta aufzugeben, aber die konnten sich wohl nicht durchsetzen, vgl. Aus Versammlungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 16, Wortbeiträge Siebourg und Michaelis.
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te und somit zum grundsätzlichen Problem einer Bildungsexpansion wurde. Die staatlichen Schulverwaltungen, aber auch ein Großteil der Lehrerverbände setzten auf Schultypen in Reinform. Vor allem die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens 1924 forcierte diese Bestrebungen weiter. Erst in den 1960er Jahren sollte sich dies ändern. Insgesamt ist zwischen den alten Rivalen der „realistischen“ und der „humanistischen“ Fächer eher ein Ausgleich zu erkennen, auch wenn einige Zeitgenossen genau diesen Gegensatz noch immer ins Feld führten.271 Auch die Frontstellung zwischen Einheitsschulbefürwortern und Gymnasialvertretern flaute ab. So konstatierte selbst der Deutsche Gymnasialverein im September 1921, „daß sich gegenwärtig in der Beurteilung der Gymnasialfrage auf gegnerischer Seite eine größere Ruhe und Sachlichkeit bemerklich macht“.272 Auch die Streitigkeit zwischen dem Germanistenverband und dem Gymnasialverein konnte beigelegt werden.273 Wenig diskutiert wurde die Stellung der Naturwissenschaften. Der „Hauptausschuss der vereinigten Elternbeiräte“ höherer Unterrichtsanstalten forderte zwar, dass der naturwissenschaftliche Unterricht auch am Gymnasium erhöht werden müsse, dies ist aber einer der wenigen expliziten Erwähnungen.274 Die gesamtdeutsche Diskussion, wie sie die Reichsschulkonferenz widerspiegelt, soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sehr wohl Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen Ländern gab. Bereits die Zeitgenossen stellten fest, dass sich in Fragen der Schulreform süddeutsche und norddeutsche Auffassungen gegenüberstünden. Dies zielte vermutlich vor allem auf die Sorge der süddeutschen Länder vor einer bildungspolitischen Übermacht Preußens.275 Darüber hinaus spielte die Konfession eine Rolle: Im Laufe der 1920er Jahren ging die Zahl der Gymnasien in protestantischen Ländern stärker zurück als in katholischen.276 Aufgrund der konfessionellen Verteilung in Deutschland 271
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Vgl. Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in den Neuen Schulen, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, hier S. 414f.; Ritter von Wittek, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 131. Zu den Kritikern zählten auch Eugen Grünwald, Emil Waldmann, Fritz Boesch, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 46, 173, 194. Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, Entschließung, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 125. Ebenda, S. 119. Vgl. Immisch, Otto: Im Zeichen der Schulkämpfe, in: HG 30 (1919), S. 65– 79, hier S. 67 und 70; Immisch, Otto: Gymnasialverein und Germanistenverband, in: HG 32 (1921), S. 136–137. Pro gymnasio, Eingabe des Hauptausschusses der vereinigten Elternbeiräte höherer Unterrichtsanstalten München an das Reichsministerium des Inneren, 23.2.1920, in: HG 31 (1920), S. 97–98, hier S. 97 Leitsatz 2 (Original auch in BayHStA, MK 14906). Vgl. Grünwald, Eugen: Die 24. Jahresversammlung des Deutschen Gymnasialvereins zu Jena am 24. und 25. September 1921, Rede Boelitz, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier S. 105. Mitteilungen aus dem DAV. Besprechung im preußischen Unterrichtsministerium, 13.3.1926, in: HG 37 (1926), S. 247; August, W.: Erste Tagung des Landesverbandes Ostpreußen des DAV, 1.10.1925, in: HG 36 (1925), S. 200–220, hier S. 200.
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entstand dadurch ebenfalls ein Unterschied zwischen den südlichen und den nördlichen Ländern. Zudem wird sich im Laufe dieser Arbeit immer wieder zeigen, dass die süddeutschen Länder in Bezug auf den altsprachlichen Unterricht und das Latinum höhere Standards forderten.277 1.5 Das Gymnasium und der altsprachliche Unterricht in der Praxis
Die Diskussionen auf der Reichsschulkonferenz wirkten auch in die schulische Wirklichkeit hinein. Um dies zu verdeutlichen, werden drei Punkte herausgegriffen, die in den Akten der Unterrichtsverwaltungen besonders häufig auftauchen und somit auf einen akuten Regelungsbedarf hinweisen: die Umwandlung und Zusammenlegung von höheren Schulen, die Möglichkeiten für Oberrealschüler, Lateinkenntnisse zu erwerben, und die Abschaffung des Skriptums. 1.5.1 Die Umwandlung und Zusammenlegung von höheren Schulen am Beispiel Bayerns
Aus den bayerischen Akten wird deutlich, dass es in Bayern nach dem Ersten Weltkrieg einen starken Bedarf an Oberrealschulen und Realgymnasien gab.278 Um diesem gerecht zu werden, wählten die Städte verschiedene Strategien. 1922 wurden elf Anträge zum Ausbau von Realschulen zu Oberrealschulen und sechs Anträge für Neubauten in ganz Bayern bewilligt, nachdem in den Jahren zuvor nur München bedacht worden war.279 Die pfälzischen Städte Ludwigshafen und Pirmasens wollten bereits 1919 jeweils ein Realgymnasium gründen, weil das dem Nachwuchsbedarf dieser Industrieregionen besser entsprach. Beide Städte verfügten nur über ein klassisches Gymnasium. Dieses wollte man weder aufgeben noch umwandeln. Da für zwei höhere Schulen jedoch das Geld fehlte, bat man den bayerischen Staat um die Übernahme der klassischen Gymnasien.280 Hier wird deutlich, dass in der Praxis die Beseitigung klassischer Gymnasien nicht forciert wurde, sondern man eine Erweiterung des bisherigen Angebots anstrebte. Für besondere Diskussion sorgte das „Neue Gymnasium“ in Regensburg. Auf Antrag des Stadtrates hatte das Kultusministerium genehmigt, dass sich 277 278
279 280
Siehe Kapitel II.3.2.5; IV.4.1. Vgl. BayHStA, LT 12879, Anträge der Abgeordneten vom 6.10.1920 und 15.1.1921; LT 13182 und LT 13094, Errichtung neuer Oberrealschulen; vgl. dazu auch Müller: Höhere Schulen, S. 281. Vgl. auch Buchinger: Gesamtdarstellung, S. 36f. Vgl. BayHStA, LT 13094, Anträge der Abgeordneten. Vgl. BayHStA, LT 12158, Eingabe des Bürgermeisteramts Ludwigshafen vom 24.11.1919 und des Bürgermeisteramts Pirmasens am 9.11.1919. Dies scheint eine generelle Tendenz der Städte gewesen zu sein, vgl. Müller: Höhere Schule, S. 253.
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das Gymnasium um eine Realklasse erweitern dürfe. Konkret bedeutete dies, dass es neben einem Zweig mit Griechisch und Französisch als zweiter bzw. dritter Fremdsprache auch einen Zweig mit Französisch und Englisch hätte geben sollen. Dazu gab es eine Aussprache im Finanzausschuss des Landtages am 2. Dezember 1919. Der Landtag fühlte sich in dieser Entscheidung nämlich übergangen. Darüber hinaus gab es aber noch ein tiefer liegendes Problem. Viele Abgeordnete vermuteten hinter dieser Maßnahme, dass das Kultusministerium den Plan habe, die „humanistischen Gymnasien mehr und mehr an die Wand zu drücken und dafür die Realunterrichtsanstalten in den Vordergrund zu schieben“.281 Indizien dafür sah man in der Tatsache, dass Fachlehrer vom Neuen Gymnasium abgezogen und dafür fachfremde Lehrer eingesetzt würden.282 Eine ähnliche Beschwerde hatte der Landesverband der „Freunde des humanistischen Gymnasiums“ in Bayern am 20. November beim Kultusministerium eingereicht.283 Der Abgeordnete Hans Hilpert entgegnete, dass man mit den Maßnahmen dringenden Bedarf decke. In Regensburg gebe es beispielsweise zwei klassische Gymnasien, aber kein Realgymnasium. Insgesamt würden in Bayern eher „die realistischen Schulgattungen unterdrückt“. Auch die Eltern würden eine realistische Bildung für ihre Kinder fordern. Vor allem die Vertreter der Ministerialbürokratie sprachen sich im Grundsatz gegen die Umwandlungen der klassischen Gymnasien aus und betonten dabei die „Bildungsvergangenheit“, also die Tradition der Gymnasien. Staatssekretär Alwin Saenger (SPD) berichtete beispielsweise als „begeisterter Anhänger des humanistischen Gymnasiums“, während des Ersten Weltkrieges „habe ihn der griechische Text des Homer im Tornister begleitet“. Man müsse aber erkennen, dass große Bevölkerungsteile die realistische Bildung forderten und dass es sich „nicht mehr um eine vorübergehende Erscheinung“ handle.284 Ein Jahr später wurde die Angliederung von Realschulklassen am Neuen Gymnasium in Regensburg vom Landtag genehmigt.285 Diese Episode zeigt, dass das klassische Gymnasium in der Bildungsvorstellung vieler Politiker und Staatsbediensteter ein unverzichtbarer Bestandteil, wenn nicht der Bestandteil von Bildung war. Allerdings verschloss man sich auch nicht gegenüber den Bedürfnissen der Gegenwart. Insgesamt spricht aus vielen Quellen, dass die Ministerialbürokratie – 281 282 283
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BayHStA, LT 12206, Finanzausschuss 2.12.1919. Vgl. ebenda. Vgl. BayHStA, MK 14764, Landesverband der Freunde des humanistischen Gymnasiums an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 20.11.1919. 1924 legten die Freunde des humanistischen Gymnasiums noch einmal Beschwerde gegen eine Zusammenlegung von Progymnasien und Realschulen ein, vgl. Landesverband der Freunde des humanistischen Gymnasiums an Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 8.3.1924, BayHStA, MK 14904. Vgl. BayHStA, LT 12206, Finanzausschuss 2.12.1919. Vgl. BayHStA, LT 12390.
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vermutlich ihrer eigenen Sozialisation und Bildungsbiographie folgend – dem Gymnasium sehr zugetan war.286 In den frühen 1920er Jahren gab es noch weitere Beschwerden und Befürchtungen bezüglich solcher Umwandlungen und Zusammenlegungen. Die Bezirkssynode Pappenheim beschwerte sich 1922 beim bayerischen Kultusministerium über bevorstehende Aufhebungen klassischer Gymnasien in den evangelischen Gemeinden Bayerns. Konkret bezog sie sich auf die Zusammenlegung des Progymnasiums287 in Weißenburg mit der dortigen Realschule. Der „Vorzug einer humanistischen Anstalt“ ginge verloren, denn das „Lateinische wäre nur ein äußerliches Anhängsel an ein seinem Wesen und Umfang nach rein realistisches Schulganzes“. Dies beunruhigte die Kirchenvertreter, denn man sorgte sich um den theologischen Nachwuchs. Die humanistischen Gymnasien seien nämlich „eine der besten Quellen“ für evangelische Theologen. Darüber hinaus sorgten sie sich aber auch um den gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Klientel. Die meisten Schüler gerade der kleineren Schulen seien Kinder aus dem Kleinbürgertum, das bereits sehr unter der wirtschaftlichen Gesamtsituation leide. Da dürfe ihm „nicht auch noch der bisherige Vorteil in der Ausbildungsmöglichkeit seiner Kinder entrissen“ werden.288 Dieser Exkurs ist exemplarisch für die Haltung sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche, die sich gleichermaßen um ihren Nachwuchs sorgten, aber den Besuch des Gymnasiums auch als Zugang zu besserer Bildung und als Weg zum sozialen Aufstieg würdigten. 1.5.2 Anfänge des Latinums: Latein an Oberrealschulen
Seit 1900 konnten alle drei Typen der höheren Schule das Abitur und somit die Allgemeine Hochschulreife vergeben. Bis dahin hatte der Abschluss des Realgymnasiums oder der Oberrealschule nur zum Studium bestimmter Fächer berechtigt. Allerdings gab es auch nach 1900 für Absolventen dieser beiden Schultypen gewisse Hürden bei der Wahl des Faches: Für viele Fächer wie Jura und Medizin und natürlich die Geisteswissenschaften, vor allem Geschichte und Theologie, mussten umfangreiche Kenntnisse der alten Sprachen nachgewiesen werden, allen voran des Lateinischen. Das Abiturzeugnis eines Gymnasiums oder eines Realgymnasiums bewies automatisch die geforderten Lateinkenntnisse. 286
287 288
Vgl. Landesverband der Freunde des humanistischen Gymnasiums an Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 8.3.1924, BayHStA, MK 14904: „Unterfertigte Vorstandschaft hat das Vertrauen zu dem Ministerium für Unterricht und Kultus zumal bei dessen bisher stets betätigten Wohlwollen gegenüber den humanistischen Lehranstalten[. . .].“ Ein Progymnasium war ein Gymnasium, das nur die ersten sechs Klassenstufen anbot, also keine Oberstufe, vgl. Buchinger, Gesamtdarstellung, S. 71. Vgl. Bezirkssynode Pappenheim an das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 28.[8.] 1922, BayHStA, MK 14904.
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Ein Oberrealschulabsolvent hatte üblicherweise an der Schule keinen Lateinunterricht genossen, konnte aber eine Ergänzungsprüfung ablegen, um die für das gewünschte Studienfach geforderten Lateinkenntnisse nachzuweisen.289 Zur Prüfungsvorbereitung gab es zwei Möglichkeiten: Extraunterricht an der Oberrealschule oder Sprachkurse an der Universität. In Preußen wurde der zusätzliche Lateinunterricht für Oberrealschüler vor 1918 als Privatunterricht angeboten. Bereits seit 1898 gab es zwar Bestrebungen, einen fakultativen Lateinunterricht an Oberrealschulen einzuführen, allerdings wurde dies 1904 nur als Privatunterricht genehmigt. Dieser musste von den Schülern bezahlt werden, weil die Lehrer diese Extrastunden nicht auf ihr Deputat angerechnet bekamen. Zudem war diese zusätzliche Qualifikation der Schüler nicht im Reifezeugnis vermerkt, sondern nur durch ein Zeugnis des Direktors ausgewiesen. Dies erkannten viele Universitäten aber nicht an, weswegen man in Preußen Handlungsbedarf sah. Ein Erlass vom 4. April 1918 stufte den zusätzlichen Lateinunterricht nun als wahlfreien Unterricht ein, an dessen Ende eine schriftliche und eine mündliche Prüfung abzulegen war. Nach erfolgreichem Abschluss stand die zusätzliche Qualifikation in Latein schließlich auch auf dem Reifezeugnis.290 Bereits in den 1920er Jahren hatte sich dieser wahlfreie Unterricht etabliert. Dies lässt sich daran erkennen, dass Pläne des preußischen Kultusministeriums, diesen kostenlosen Zusatzunterricht abzuschaffen, einen Proteststurm von Universitäten, Lehrerverbänden und Kirchen auslösten.291 An preußischen Universitäten fanden regelmäßig „Lateinische Sprachkurse für Absolventen lateinloser Schulen“ statt. Die Teilnehmer waren meist Oberrealschulabsolventen, aber auch Absolventinnen des Lehrerinnenseminars.292 Die 289 290
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Zur genauen rechtlichen Regelung siehe Kapitel II.1.5.2. Vgl. Ellenbeck, Johannes: Der Lateinunterricht auf der Oberrealschule, in: Zeitschrift für das deutsche Real- und Reformschulwesen 2 (1927), S. 92–102, vor allem S. 92–94; Ehringhaus, Fritz: Der Lehrplan für den Lateinunterricht an Oberrealschulen von 1918, in: MfHS 20 (1921), S. 83–86, hier S. 83f.; BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341: Minister Schmidt an den Finanzminister, 25.1.1918 (Bl. 2); Erlaß an Provinzialschulkollegien, 4.4.1918 (Bl. 4). Vgl. Deutscher Realschulmänner-Verein an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 418–419; Deutscher Realschulmänner-Verein an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 418–419; Schmeding, Otto: Zur Rettung des Realgymnasiums!, in: DPB 32 (1924), S. 354; Reisebericht vom preußischen Philologentag in Göttingen, 12.6.1924, GStAPK, Gen. cc, Nr. 1, Bd. 5, Bl. 78–80, vor allem Bl. 79RS; Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: Humanistisches Gymnasium 35 (1924), S. 168–173; hier S. 170; Die Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität zur preußischen Denkschrift, 19.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 173–174, hier S. 173. Das Lehrerinnenseminar war lange Zeit die einzige Weiterbildungsmöglichkeit für Frauen. Hier wurden sie in 3- bis 6-jährigen Kursen auf die Arbeit als Volksschullehrerin oder Lehrerin an einer höheren Töchterschule vorbereitet. Im Laufe der Zeit entwickelten sich
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Studienfächer, die die Teilnehmer des Kurses studierten, waren am häufigsten Fächer der philosophischen Fakultät, gefolgt von Medizin, Rechtswissenschaft und Theologie, obwohl die Theologen hierbei weniger als 1 % ausmachten.293 Die Nachfrage nach solchen Kursen stieg: Waren es im Sommersemester 1918 insgesamt 208 Kursteilnehmer, wuchs die Zahl bis 1922 bereits auf das dreifache an (632 Teilnehmer).294 Nach dem Ersten Weltkrieg boten in Preußen, Bayern, Sachsen, Baden, Hessen, Hamburg und Mecklenburg-Schwerin295 die Universitäten ebenfalls „lateinische und griechische Elementarkurse“296 an, allerdings waren dies spezielle Kurse für Kriegsteilnehmer, die wegen des Krieges das Abitur unter erleichterten Bedingungen hatten erwerben können, denen aber zum Studium nun die Kenntnisse der alten Sprachen fehlten. 1921 beschwerte sich der Reichsminister des Inneren, dass Preußen diese Regelung auf alle „ehemaligen Oberrealschulabiturienten ausgedehnt“ habe und dass die anderen Länder dies bitte unterlassen sollten.297 Auch die bayerischen Universitäten wollten die Kurse nicht aufgeben, selbst als es keine Kriegsteilnehmer mehr gab. Im September 1922 ging zwar ein Schreiben an alle bayerischen Universitäten, dass das Ministerium der Meinung sei, dass die Latein- und Griechischkurse für Kriegsteilnehmer nun ihre Berechtigung verloren hätten, da es kaum mehr ebensolche gebe. Es liege „außerhalb des Aufgabenkreises der Hochschulen“, Kenntnisse zu vermitteln, die die Abiturienten an den Schulen selbst erwerben könnten.298 Die Universitäten allerdings kämpften regelrecht für die Beibehaltung dieser Kurse,
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verschiedene Studienanstalten für Mädchen. Seit 1908 konnten Frauen in Preußen auf verschiedenen weiblichen Studienanstalten schließlich eine allgemeine Hochschulreife erwerben. Seit 1909 waren auch Absolventinnen des Lehrerinnenseminars für das Studium philologischer Fächer zugelassen. Vgl. Huerkamp: Bildungsbürgerinnen, S. 49. Vgl. Kaestner, Paul: Lateinische Sprachkurse für Absolventen lateinloser Schulen, in: MfHS 18 (1919), S. 204; Kaestner, Paul: Lateinische Sprachkurse für Absolventen lateinloser Schulen, in: MfHS 21 (1922), S. 241. Vgl. Kaestner, Paul: Lateinische Sprachkurse für Absolventen lateinloser Schulen, in: MfHS 18 (1919), S. 204; Kaestner, Paul: Lateinische Sprachkurse für Absolventen lateinloser Schulen, in: MfHS 21 (1922), S. 241. Vgl. Reichminister des Inneren an Regierungen von Bayern, Sachsen, Baden, Hessen, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, 6.6.1921, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 140. So bezeichnet in einem Schreiben des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 26.9.1922, BayHStA, MK 40820. Es gibt aber keine einheitliche Bezeichnung. Andere Bezeichnungen lauteten „Ergänzungskurs aus dem Lateinischen“ (Senat der Universität Würzburg an Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 7.3.1919, BayHStA, MK 40820), „Lateinkurse für Kriegsteilnehmer“ (Zwetana Dimitrowa an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 11.4.1921, BayHStA, MK 40820) oder „Lateinkurse für Oberrealschüler“ (philosophische Fakultät der Universität Würzburg an den Senat der Universität Würzburg, 20.9.1921, BayHStA, MK 40820). Reichminister des Inneren an Regierungen von Bayern, Sachsen, Baden, Hessen, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, 6.6.1921, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 140. Staatsministerium für Unterricht und Kultus an die Senate der 5 Landesuniversitäten, 26.9.1922, BayHStA, MK 40820.
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die sie für sehr sinnvoll erachteten, denn „[e]s werden sich stets Studenten finden, die die in einer Erziehung mangelhafte Vorbildung einer Realoberschule oder des Privatstudiums nach der Seite des Lateins hin zu ergänzen wünschen“.299 Nachdem die Universitäten den Bedarf durch Teilnehmerzahlen nachgewiesen hatten,300 gestattete das Staatsministerium für Unterricht und Kultus doch die Fortführung dieser Kurse,301 allerdings nur unter der Voraussetzung, dass „keine erhebliche Mehrbelastung der Staatskasse“ entstünde.302 Daher war man sehr daran interessiert, dass die Kurse von Lehrern der höheren Schulen übernommen würden, die keine Mehrvergütung bekämen, sondern eine Reduzierung ihrer Stunden an der Schule.303 Hatte die bayerische Verwaltung lediglich Einwände gegen die Ergänzungskurse aus Sorge um zu hohe Kosten, gab es aber durchaus auch Stimmen, die aus inhaltlichen Gründen Vorbehalte gegen die Kurse hatten. So schrieb beispielsweise der Kirchenhistoriker Hans Lietzmann in „Das Gymnasium und die neue Zeit“: Latein und Griechisch kann man nicht wie Französisch und Englisch in einem Jahr auch nur annähernd lernen: sie müssen in langjähriger Übung in Fleisch und Blut übergegangen sein und dem Studenten bereits zur Verfügung stehen, bevor er das Studium jener Kulturgebiete ergreift.304
Dieser Exkurs über den lateinischen Ergänzungsunterricht, der die Anfänge des späteren Latinums markiert, zeigt, wie auch in der Entwicklung des Bildungssystems Veränderungen neue Bedürfnisse erzeugen. Auf diese wurde zunächst pragmatisch reagiert, bis schließlich Ende der 1920er Jahre eine gesetzliche Regelung auf den Weg gebracht wurde. Dies zeugt von einem hohen Grad an Anpassungsfähigkeit. Interessant sind bei diesem Exkurs die Reaktionen der Universitäten. Ihr Wille, die Lateinkurse selbst abzuhalten, ist auf der einen Seite Ausdruck der regelmäßigen Beschwerden, dass die Abiturienten zu schlecht vorgebildet seien. Aus diesem Grund übernehme man lieber selbst die Vorbereitungskurse. Auf der anderen Seite konnten bei Diskussionen über die Sinnhaftigkeit von schulischem Lateinunterricht immer wieder Stimmen 299 300 301
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304
Philosophische Fakultät der Universität Würzburg an den Senat, 11.7.1923, BayHStA, MK 40820. Vgl. Senat der Universität Würzburg an Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 9.9.1925, BayHStA, MK 40820. Vgl. Übersicht über Sprachkurse im SS 1925 der Universitäten München, Würzburg, Erlangen, im Umlauf an die Referate des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, 17.9.1925, BayHStA, MK 40820. Ebenda. Vgl. ebenda. Über Vergütung dieser Kurse gab es auch vorher bereits einiges an Schriftverkehr, vgl. Philosophische Fakultät der Universität Würzburg an Senat, 27.7.1920 oder 20.9.1921, BayHStA, MK 40820. Lietzmann, Hans, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 172.
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aus den Universitäten vernommen werden, die diese „Schnellkurse“ für keinen adäquaten Ersatz für einen neun- bis siebenjährigen schulischen Lateinunterricht hielten.305 Es muss daher konstatiert werden, dass die Universitäten keine ganz einheitliche Position bei dieser Thematik einnahmen. Auf der einen Seite wollten sie mit den universitären Kursen kein Einfallstor für die Abschaffung des Lateins als Schulfach bieten. Auf der anderen Seite wollten sie sich aber auch nicht völlig von den Schulen abhängig machen, wenn es um die Ausbildung ihrer Studierenden ging. 1.5.3 Die Abschaffung des Skriptums
Dass eine Übersetzung vom Deutschen ins Lateinische oder ein lateinischer Aufsatz in den Abiturprüfungen nicht mehr zeitgemäß war, hatten auch die Befürwortern des altsprachlichen Unterrichts erkannt und so hatten sie selbst während und nach dem Ersten Weltkrieg die Abschaffung des sogenannten Skriptums gefordert.306 Bis dies aber in das preußische Abiturreglement übernommen wurde, dauert es noch bis 1926. 1922 hatte beispielsweise das Gymnasium in Dorsten (Westfalen) beim Kultusministerium nachgefragt, ob es in der Reifeprüfung statt „der lateinischen Ausarbeitung eine Übersetzung aus dem Lateinischen“ fordern dürfe. Das Kultusministerium in Berlin lehnte dies zwar ab, jedoch nicht, weil man generell dagegen war, sondern weil es noch keine Übereinstimmung darüber gab, inwiefern das „schriftliche Herübersetzen“ in den unteren Klassen geübt werde. Für die grundsätzliche „Veränderung der Zielforderung“ hatte man große Sympathien, denn sie sollte „die Leistungen der Schüler und ihre Freude am lateinischen Unterricht“ erhöhen.307 Die Kehrtwende muss um 1923 vollzogen worden sein, denn der Anfrage des Gymnasiums in Flensburg vom März 1923, „anstelle der lateinischen Ausarbeitung eine Uebersetzung aus dem Lateinischen“ in der Reifeprüfung zu verlangen, wurde „versuchsweise, zunächst auf drei Jahre, von Ostern 1924“ an stattgegeben.308 Auch wenn demnach ab 305
306 307
308
Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: Humanistisches Gymnasium 35 (1924), S. 168–173; hier S. 170; vgl. auch die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, 19.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 173–174, hier S. 173; ähnlich auch Theologische Fakultät der Universität Göttingen an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 15.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 157. Siehe oben Kapitel II.1.3.3. Vgl. dazu allgemein: Liebsch: Die deutsch-lateinische Übersetzung. Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegium in Münster, 27.5.1922, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6. Ähnliche Anfrage aus Lübeck, vgl. BA Berlin-Licherfelde, R 4901/4341, Oberschulbehörde Lübeck an Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 29.11.1921 (Bl. 9–10). BA Berlin-Lichterfelde, R4901/4341, Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegium Schleswig, 28.3.1923 (Bl. 13–14).
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1924 bereits abzusehen war, dass das Skriptum abgeschafft werden würde,309 dauerte es noch bis zum 22. Juli 1926, bis die „Neuordnung der Reifeprüfung an den höheren Schulen in Preußen“ verabschiedet wurde.310 Das Ministerium hatte den Preußischen Philologenverband zur Mitgestaltung der neuen Abiturrichtlinien aufgefordert. Dieser empfahl, dass am Gymnasium neben einem deutschen Aufsatz und einer mathematischen Arbeit wie bisher eine lateinische und eine griechische schriftliche Prüfung stattfinden müsse. Neu war der Passus, dass bei „allen fremdsprachlichen Arbeiten [. . .] von einer Übersetzung in die Fremdsprache oder von einem fremdsprachlichen Aufsatz abzusehen“ sei.311 Dies rief den Widerstand der Neusprachler hervor, die natürlich einen englischen oder französischen Aufsatz für sehr sinnvoll hielten.312 In den Richtlinien lautete die schriftliche Anforderung für das Gymnasium schließlich „eine Übersetzung aus dem Lateinischen und Griechischen ins Deutsche“. Für die schriftlichen Prüfungen in den neueren Sprachen wurde offener formuliert; dort wurde eine „französische und englische Arbeit“ gefordert.313 Damit war das lateinische Skriptum in Preußen Geschichte. In Bayern verhielt es sich etwas anders. Dort war bereits 1914 zusätzlich eine lateinisch-deutsche Übersetzung in den schriftlichen Abiturprüfungen verlangt worden.314 Die Übersetzung ins Lateinische fiel erst 1935 weg.315 Hier sind zwei Beobachtungen wichtig. Zum einen erkennt man an dem langwierigen Prozess, den es scheinbar bedurfte, um das Skriptum endgültig abzuschaffen, das Beharrungsvermögen bzw. die Trägheit der Bürokratie und der Unterrichtsverwaltung. Verschiedene Schulen hatten bereits realisiert, dass die Regelungen nicht mehr zur Schulpraxis passten. Bis daraus aber eine einheitliche Regelung wurde, vergingen einige Jahre. Zum anderen ist die Entwicklung symptomatisch für die Veränderung der Funktion des altsprachlichen 309
310 311 312 313 314 315
Vgl. BA Berlin-Lichterfelde, R4901/4341, Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegien, 28.11.1924: Das Ministerium stellt den Schülern frei, ob sie eine deutsch-lateinische oder eine lateinisch-deutsche Reifeprüfung ablegen möchten; Karl Pflug (MdL) an Hans Richert, 8.4.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Folio 110–120, hier 116; Müller, Heinrich: Die Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche im Gymnasium, in: MfHS 24 (1925), S. 136–144, hier S. 136. Vgl. Ordnung der Reifeprüfung an den höheren Schulen Preußens, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 68 (1926), S. 283–294. Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses, 1. Juli 1925, in: DPB 33 (1925), S. 476–478, hier S. 477. Vgl. Foß, E.: Neuordnung der Reifeprüfung, in: DPB 33 (1925), S. 744–746. Ordnung der Reifeprüfung an den höheren Schulen Preußens, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 68 (1926), S. 283–294, hier S. 286. Vgl. Schulordnung für die höheren Lehranstalten im Königreich Bayern, 30.5.1914, Vollzugsbestimmung zu § 26, S. 159. Vgl. Christ/Rang: Fremdsprachenunterricht, Bd. 6, S. 161; vgl. außerdem Bölling: Geschichte des Abiturs, S. 151.
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Unterrichts, der sich immer stärker auf das Übersetzen aus dem Lateinischen konzentrierte und den aktiven Spracherwerb allmählich ganz ablegte. Auch hierbei zeigt sich, wie sich altsprachlicher und neusprachlicher Unterricht in Vermittlung, Inhalt und Funktion immer weiter auseinanderentwickelten. 1.6 Allgemeine Tendenzen
Die Ergebnisse der Reichsschulkonferenz sind auch für das Verständnis der Entwicklung des deutschen höheren Schulwesens im Gesamten aufschlussreich. Die gemeinsame Grundschule war zwar ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Bildungsexpansion, aber die Beschaffenheit der höheren Schulen blieb weitgehend unverändert. Dies lag unter anderem daran, dass das deutsche Bildungswesen „von oben“ gedacht wurde. Das bedeutet, dass das Ziel, auf das sich das Schulwesen auszurichten hatte, die Universität war. Damit orientierte sich alles auf die Frage, was Schülern beigebracht werden müsse, um auf einer deutschen Universität bestehen zu können. Jede weitere Schulform wiederum orientierte sich an der höheren Schule. Daher ist Jürgen Oelkers ganz zuzustimmen, dass „nicht Chancengleichheit im Zentrum des deutschen Bildungssystems“ stand, „sondern die Selektion für die Höhere Bildung“.316 Dieses System war zwar „strukturell fixiert auf das Prinzip der Gliederung oder Versäulung mit der Grundschule als gemeinsamen Sockel“, aber – und das ist ganz entscheidend – „in sich flexibel“.317 Somit konnte es den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen. Denn der Ausbau der höheren Schulen wurde durchaus betrieben, so dass es dadurch trotzdem zu einer weiteren Bildungsexpansion kam.318 Das galt in ähnlicher Weise auch für das Gymnasium. Es zeigte sich durchaus als „wandlungsfähig und erweiterungsfähig“, gerade weil man ihm den altsprachlichen Unterricht zugestand.319 Dadurch hatten seine Lehrer und Befürworter das Gefühl, ihre Traditionen zu wahren, und waren im Gegenzug bereit, sich auf Neuerungen einzulassen. Diese Beweglichkeit galt ebenso für den altsprachlichen Unterricht. Die führenden Vertreter des altsprachlichen Unterrichts verhielten sich nicht reaktionär, sondern versuchten die geübte Kritik offensiv zu entkräften und begegneten didaktischen Neuerungen durchaus aufgeschlossen. Einige Punkte wie der grundständige Lateinunterricht, die neunjährige höhere Schule oder die Wissenschaftlichkeit der höheren Schulen waren 316 317 318
319
Oelkers: Gesamtschule, S. 43. Oelkers: Gesamtschule, S. 43. Vgl. Zymek: Schulen, S. 171–176; Gass-Bolm: Gymnasium, S. 58–60. Auch zum Ende des Kaiserreiches hin ist eine Bildungsexpansion zu verzeichnen, vgl. ebenda, S. 40f.; Jarausch: Krise, S. 182f. Goldbeck, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 11.
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allerdings nicht verhandelbar. Hier hatten die Vertreter der alten Sprachen Schützenhilfe durch andere Lehrerverbände, die Universitäten und die Kirchen, was darauf hindeutet, dass hier gerade nicht reine Lobbyinteressen der Altsprachler vorlagen, sondern dass es eine breite Allianz für diese Forderungen gab. Dies wiederum ist ein weiterer Hinweis darauf, wie stark das deutsche Schulsystem von der Universität aus gedacht wurde. Die vielfach beschworene existentielle Gefahr für das Gymnasium war demnach um vieles mehr eine empfundene als eine tatsächliche Gefahr, denn sowohl in der Kultusbürokratie als auch in der Politik hatten das Gymnasium und der altsprachliche Unterricht einflussreiche Befürworter. „Die altsprachliche Bildung ist nicht am letzten Blatte ihrer Geschichte angelangt“, schrieb einer der ersten Lateindidaktiker Franz Cramer 1919.320 Dies war eine Kampfansage an alle scharfen Kritiker des altsprachlichen Unterrichts. Aber wie sollte sich diese Erneuerung gestalten? Einer der wichtigsten übergeordneten Inhalte, den die Schulbildung vermitteln sollte, war das Nationale. Dies war bereits vor dem Ersten Weltkrieg gefordert worden, hatte sich aber durch die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg noch einmal verstärkt. So durchzog das nationale Denken auch das Programm des altsprachlichen Unterrichts bis hin zum „Plädoyer für eine germanisierte Antike“.321 Allerdings muss konstatiert werden, dass das Germanentum als Bezugspunkt zwar stärker hervortrat,322 jedoch keine zentrale Stellung einnahm. Die Vertreter des altsprachlichen Unterrichts attestierten ihren Fächern viel mehr per se die Fähigkeit, national bilden zu können. Vor allem Latein schule das Verständnis der Muttersprache und vermittle als „disziplinierteste Sprache der Welt“323 wichtige deutsche Tugenden. Außerdem stelle es als anspruchsvolles Fach ein wichtiges Ausleseinstrument dar, um den Universitäten die begabtesten Schüler zuzuführen. Die Vorstellung von Begabung war dabei bürgerlich-elitär sowie stark normativ und trug sicherlich dazu bei, „die Selektion im Bildungswesen [. . .] und die gesellschaftliche Ungleichheit unter den Menschen zu legitimieren“.324 In der Didaktik des altsprachlichen Unterrichts begann während des Ersten Weltkriegs eine Auseinandersetzung, die die alten Sprachen noch lange beschäftigen sollte. Sollte kulturkundlicher Unterricht und damit die Inhalte der antiken Texte oder der sprachliche Unterricht in Zukunft die dominierende Rolle spielen? Dabei erlangte besonders die Frage Bedeutung, ob Grammatikun320 321 322 323 324
Cramer: Der lateinische Unterricht, S. 85. Stiewe: Der „Dritte Humanismus“, S. 185. Vgl. bspw. Cramer, Franz, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 161. So Oswald Spengler, vgl. DAV: Das Unterrichtsziel der alten Sprachen, in: DG 58 (1951), S. 383–384, hier S. 383. Heid/Fink: Begabung, S. 150. Da bis heute kein wissenschaftlich überzeugendes Konzept zur Begabung vorgelegt werden konnte, sei dieses Phänomen laut Heid/Fink bis heute zu beobachten.
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terricht einen Eigenwert besitze. Daran angeschlossen wurde ganz grundsätzlich diskutiert, ob altsprachliche Bildung über die Vermittlung von Fachkenntnissen hinaus generell die Denkfähigkeit der Schüler verbessere und somit auch auf andere Bereiche anwendbar sei. Für diese These war die Theorie der formalen Bildung die wichtigste „wissenschaftliche“ Grundlage. In Hinblick auf die alltägliche bildungspolitische Praxis, ebenso wie in Hinblick auf den allgemeinen bildungspolitischen Diskurs stellte der Erste Weltkrieg im Gegensatz zu der Zeit nach 1945 alles andere als eine Zäsur dar. Die bildungspolitischen Diskussionen waren während des Krieges nicht eingestellt worden. Daran knüpften die Debatten in der Weimarer Republik nahtlos an. Durch die Kriegsniederlage erschien den Zeitgenossen eine Verbesserung des Schulwesens als eine umso dringlichere gesellschaftliche Aufgabe.
2 Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens 1924/1925 Die größte Bildungsreform der Weimarer Republik war die Einführung neuer Lehrpläne für die höheren Schulen in Preußen 1925. Maßgeblich bestimmt war diese Reform von Ministerialrat Hans Richert, einem Berliner Schuldirektor, der 1923 von Kultusminister Otto Boelitz (DVP) ans Ministerium berufen worden war, um die anstehende Neuordnung des höheren Schulwesens durchzuführen.325 Da Richert die Reformen nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich stark prägte, werden sie häufig auch als „Richert’sche Reformen“ bezeichnet. In der Tat finden sich viele Reformvorstellungen bereits in seiner 1920 erschienen Schrift „Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule. Ein Buch von deutscher Nationalerziehung“ sowie in verschiedenen fachlichen Artikeln.326 Die Reformen und ihr Urheber sind in der bildungsgeschichtlichen Forschung kontrovers beurteilt worden. Während die einen in den Reformen einen großen Wurf sehen, der die notwendige Modernisierung des Schulwesens vorangebracht habe,327 sind sie für andere die Vorstufe hin zum Nationalsozialismus.328
325
326 327 328
Vgl. Margies: Schulwesen, S. 89; Margies hat eine umfangreiche Biographie von Hans Richert vor dem Hintergrund der Schulreform geschrieben, vgl. Margies: Schulwesen. Zum Werdegang Richerts, S. 24–88. Vgl. bspw. Richert: Deutsche Bildungseinheit; Richert, Hans: Die Bildungsaufgabe des „deutschen Gymnasiums“, in: DPB 27 (1919), S. 485–486. Vgl. Margies: Schulwesen. S. 126–128, 138; Müller: Höhere Schule, S. 342f.; Schmodt: Bedeutung. Vgl. Becker/Kluchert: Bildung, S. 370.
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Im preußischen höheren Schulwesen hatten sich einige als Missstände empfundene Strukturen etabliert, die die Kultusverwaltung nun zu beseitigen gewillt war: Zu viele Typen der höheren Schule sowie die Überlastung – „Überbürdung“, wie es zeitgenössisch hieß, – der Schüler stellten dabei die wichtigsten Punkte dar. Dass man in Folge klammer Staatsfinanzen auch hoffte, durch Reformen Geld einzusparen, wurde von verantwortlicher Stelle zwar stets dementiert, war aber sicherlich eine zusätzliche Motivation.329 Nach einigen die Reform vorbereitenden Erlassen330 veröffentlichte das Ministerium im März 1924 die Denkschrift „Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens“, die als Kernstück der Reform angesehen werden kann. Im Prinzip handelte es sich mehr um eine Lehrplanrevision als um eine wirkliche Neuordnung im strukturellen Sinne. Das Besondere an der Denkschrift war, dass Hans Richert die Reformen nicht mit aller Macht von oben durchsetzen wollte, sondern dass er seine Vorschläge ausdrücklich zur Diskussion stellte. Daher geben die Denkschrift selbst und die sich daran anschließenden Diskussionen einen guten Einblick in das bildungspolitische Denken, weswegen sie im Folgenden einer eingehenderen Analyse unterzogen werden sollen. Dafür werden zunächst diejenigen Themen betrachtet, die sich auf die Typen der höheren Schule beziehen. Dabei ist die Frage nach der Stellung des Lateinunterrichts am Realgymnasium ebenso von Bedeutung wie das Selbstverständnis des Gymnasiums. Daran anschließend wird anhand des neugegründeten Deutschen Altphilologenverbandes die Auseinandersetzung um die Ausrichtung der altsprachlichen Didaktik im Zuge der Richert’schen Reform behandelt.
329
330
Beispielsweise wurde wahlfreier Unterricht auf Staatskosten aus Kostengründen gestrichen, vgl. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 35; andere Dokumente zeigen, dass die Staatskasse sehr klamm war, Gross-Berliner Philologenverband, 4.11.1922, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 14, Bl. 184. Die Abschaffung des wahlfreien Unterrichts sorgte im Übrigen ebenso für Proteste verschiedener Lehrerverbände, der Hochschule und der Kirchen, vgl. Deutscher Realschulmänner-Verein an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 418–419; Schmeding, Otto: Zur Rettung des Realgymnasiums!, in: DPB 32 (1924), S. 354; Reisebericht vom preußischen Philologentag in Göttingen, 12.6.1924, GStAPK, Gen. cc, Nr. 1, Bd. 5, Bl. 78–80, vor allem Bl. 79RS; Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: Humanistisches Gymnasium 35 (1924), S. 168–173, hier S. 170; Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, 19.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 173–174, hier S. 173; ähnlich auch Theologische Fakultät der Universität Göttingen an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 15.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 157. Erlaß zur freieren Gestaltung des Unterrichts auf der Oberstufe der höheren Schulen vom 24.1.1922 und Erlaß zur Verminderung der Wochenstundenzahl auf 30 vom 15.8.1923, vgl. Müller: Höhere Schule, S. 216, 272.
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2.1 Die Inhalte der Reform: Die Denkschrift von 1924
Die Denkschrift knüpfte im Wesentlichen an die Gedanken der Reichsschulkonferenz an: die Verstärkung der deutschkundlichen Fächer331 und die Betonung des kulturkundlichen Unterrichts.332 Zudem sollte das Schulwesen „in der geschichtlichen Kontinuität“333 weiterentwickelt werden. Eine völlige Neuordnung des Bildungswesens durch die Einführung einer Einheitsschule war nicht beabsichtigt. Das Kernanliegen der Reform war die Beseitigung des „Schulchaos“.334 Neben den drei Schultypen Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule gab es eine ganze Reihe Reform- und Sondertypen. Diese wollte Richert vereinheitlichen, indem er vier Typen von höheren Schulen schuf, denen allen eine eigene Bildungsaufgabe, ein „Kulturbezirk“ zugesprochen wurde:335 einen altsprachlichen, einen neusprachlichen, einen mathematisch-naturwissenschaftlichen und einen deutschen Typ. Aus vier „Quellbezirken“ speise sich die deutsche Kultur und dem wollte Richert mit seinen vier Typen Rechnung tragen.336 Außerdem sollte sichergestellt werden, dass „alle höheren Schulen deutsche Schulen sein“ würden.337 Dabei blieben die drei traditionellen Schultypen grundsätzlich bestehen und sollten ein ausgefeilteres Profil erhalten. Das „moderne humanistische Gymnasium“ sollte zum „altsprachlichen Gymnasium“ werden und durch die Betonung der alten Sprachen Latein und Griechisch den Quellbezirk Antike und Christentum in den Mittelpunkt stellen.338 An der Oberrealschule sollten die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer im Fokus stehen.339 Das Realgymnasium sollte zum neusprachlichen Gymnasium werden und den „modernen Europäismus“ als weiteren Quellbezirk abdecken.340 Neu geschaffen wurde die Deutsche Oberschule, eine höhere Schule mit nur zwei Fremdsprachen, die sich vor allem auf die Deutschkunde konzentrieren sollte und die bereits als „Deutsches Gymnasium“ während der Reichsschulkonferenz als vierte Form der höheren Schule vorgeschlagen worden war.341 In 331 332 333 334
335 336 337 338 339 340 341
Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 21, 27f. Ebenda, S. 21, 27. Ebenda, S. 4; vgl. auch S. 11–14, Ausführungen zur „elastischen Einheitsschule“, gegen die sich die Denkschrift aber ausspricht. Vgl. Müller: Höhere Schule, S. 216. Bucherer, Fritz: Das deutsche Schulchaos, in: HG 34 (1924), S. 66. Vgl. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 3. Zur tatsächlich äußerst komplizierten Lage der deutschen höheren Schule vgl. Zymek: Schulen, S. 171f. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 21. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 39f. Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 50. Siehe oben Kapitel II.1.2.
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allen Schultypen sollte eine stärkere Betonung der kultur- und deutschkundlichen Fächer erfolgen. Dafür wurden der mathematisch-naturwissenschaftliche und der fremdsprachliche Unterricht gekürzt. Daneben wollte man auch der sogenannten „Überbürdung“ der Schüler entgegenwirken und die Gesamtzahl der Wochenstunden kürzen.342 Gerade in diesem Punkt waren einige Kritiker der Meinung, dass dies rein finanzielle Gründe habe, was das Ministerium allerdings zurückwies.343 All diese Veränderungen bedurften in erster Linie neuer Stundentafeln,344 die dann auch der eigentliche Inhalt der Reform waren. 2.2 Die Diskussion der Denkschrift
Bereits im Vorfeld der Denkschrift zur Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens,345 aber vor allem nach ihrer Veröffentlichung wurde sie vielfach und von vielen Gruppen diskutiert. Dies war auch die Absicht des preußischen Kultusministeriums gewesen: Man hoffte, durch eine breite Diskussion der Denkschrift eine größere Zustimmung für die Lehrpläne zu erhalten, die um Ostern 1925 veröffentlicht werden sollten.346 Lehrerverbände347 , Fach- und Berufsverbände348 , die Hochschulen349 , die Kirchen350 , aber auch die Provinzi-
342 343 344 345 346 347
348
349
350
Ebenda, S. 22f. Ebenda, S. 5f. Ebenda, S. 53–55. Vgl. Müller: Höhere Schule, S. 272. Vgl. ebenda, S. 318. Zum Beispiel der Gymnasialverein: Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35 (1924), S. 168–173. Auch Einzelpersonen kommentierten den Entwurf, z. B. Ott, Karl: Die höhere Schule. Beispielsweise der Reichsbund deutscher Technik oder der Verein deutscher Ingenieure, die in Vereinigung mit dem Deutschen Verband technisch-wissenschaftlicher Vereine, dem Deutschen Ausschuß für mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht und dem Reichsverband deutscher mathematischer Gesellschaften und Vereine eine Entschließung gegen die Neuordnung veröffentlicht haben. Vgl. Bemerkungen zur Neuordnung und zur Schulpolitik, in: UMN 30 (1924), S. 70–72; 108–109. Vgl. Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163; Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, 19.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 173–174. Zum Beispiel Theologische Fakultät Göttingen an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 15.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 157; Der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 2.5.1925, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 352–356.
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alschulkollegien351 , andere preußische Ministerien352 und sogar andere deutsche Länder353 meldeten sich zu Wort und traten in einen teilweise intensiven Dialog mit dem Kultusministerium. Neben zahlreichen Veröffentlichungen und Eingaben veranstalteten die Lehrerverbände auch Tagungen, um die Denkschrift und ihre Auswirkungen zu besprechen.354 2.2.1 Latein am Realgymnasium
Die Neugestaltung des Realgymnasiums als neusprachliches Gymnasium rief die stärksten Diskussionen hervor. Nach Meinung der Denkschrift habe es vor allem dem Realgymnasium in der Vergangenheit an Profilierung gefehlt, stelle es doch einen „Kompromiß [. . .] zwischen den verschiedenen Bildungstendenzen“ dar.355 In der Tat hatte das Realgymnasium auf der einen Seite dem Lateinischen viel Platz im Lehrplan eingeräumt, wurde es doch – als erste Fremdsprache, die bis zum Abitur betrieben wurde – neun Jahre lang gelehrt und somit fast ebenso intensiv wie auf dem Gymnasium. Auf der anderen Seite wurde den neueren Sprachen sowie der Mathematik mehr Beachtung geschenkt. Somit war das Realgymnasium eine Mischung aus Realschule und Gymnasium, wie auch sein Name 351
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Vgl. Ministerialdirektor Jahnke mit Anstaltsleitern der Provinz Niederschlesien, 26.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 269–277; Ministerialdirektor Jahnke mit Schulvertretern, 27.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 212–220. Zudem die Rückmeldungen aus den Provinzialschulkollegien, vgl. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126. Vgl. auch Müller: Höhere Schule, S. 274f. Dabei beschwerten sich die Kirchenvertreter auch über die Abschaffung des kostenlosen zusätzlichen Hebräischunterrichts, vgl. Theologische Fakultät der Universität Göttingen an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 15.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 157; Aufzeichnungen, 31.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 167–168; Der Dekan der theologischen Fakultät Halle Wittenberg an den Herrn Kurator seiner Universität, 9.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 164; Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 2.5.1924, Bl. 352–356, hier Bl. 355; Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, 19.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 173–174, hier S. 173. Zur Entwicklung des Hebräischunterrichts vgl. Flöter: Eliten-Bildung, S. 183–186. Beispielsweise mit Innenminister, Justizminister, Wohlfahrtsminister, Handelsminister, Landeswirtschaftsminister und Staatsministerium, vgl. Kommissarische Besprechung über Grundsätze der Neuordnung des höheren Schulwesens, 26.3.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 86–87. Vgl. dazu auch Müller: Höhere Schule, S. 335–338. Beispielsweise im Ausschuß für das Unterrichtswesen, Besprechung im Reichsinnenministerium, 21.11.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 27–32; Die preussische Schulordnung und ihre Auswirkungen für Bayern, in: UMN 30 (1924), S. 141–142. Beispielsweise die „pädagogische Woche“ in Münster vom 6.–8. Januar 1925, vgl. Bohlen: Auswirkungen, oder die Tagung „Das Gymnasium“ vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht vom 6.–9. April in Berlin, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I., in: HG 36 (1925), S. 127–136. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 43.
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deutlich macht. Die Meinungen zur stärkeren Profilierung des Realgymnasiums als neusprachliches Gymnasium waren uneinheitlich und umfassten „alle Spielarten freundlicher Zustimmung, melancholischer Klage, heller Entrüstung und sachlicher Kritik“.356 Dabei gestaltete sich vor allem „die Frage, welche Stellung im neusprachlichen Gymnasium dem Lateinunterricht zuzuweisen ist“, als „[a]ußerordentlich schwierig“.357 Wenn das neusprachliche Gymnasium seinem Namen gerecht werden wollte, musste der Lateinunterricht zugunsten der neueren Sprachen Französisch und Englisch eingeschränkt werden. Ganz abschaffen wollte ihn die Reform jedoch nicht, da die Geistesbewegung des modernen Europäismus von der Antike und besonders von der römischen Kultur stark beeinflusst ist, da auch die modernen Fremdsprachen sich ohne das Lateinische kaum ganz verständlich machen lassen.358
Zudem seien für viele Berufe Lateinkenntnisse von Nöten. Es ginge daher aus rein pragmatischen Gründen nicht, das Lateinische nur auf das Gymnasium zu beschränken, denn sonst würde „das Gymnasium nur um des Lateinischen willen von Schülern überflutet [. . .], denen mit einer modernen Bildung mehr gedient wäre“.359 Darüber hinaus müsse es eine höhere Schule neben dem Gymnasium geben, die mit Latein in der 5. Klasse beginne, da sonst für Gymnasiasten, die die Anstalt noch einmal wechseln wollten, keine Übergangsmöglichkeit zur Verfügung stände. Die Denkschrift schlug daher zwei Varianten des neusprachlichen Gymnasiums vor: zum einen das „Realgymnasium“, das zwar mit Latein in der 5. Klasse beginnen, in der Oberstufe aber nur noch Englisch und Französisch lehren sollte. Zum anderen sollte das „Reformrealgymnasium“ zunächst in zwei neuere Fremdsprachen einführen und Latein erst ab der 10. Klasse lehren.360 Schon allein die Tatsache, dass es zwei Formen des neusprachlichen Gymnasiums geben sollte, zeigt, dass die von Richert so vehement geforderte Einheitlichkeit in der Praxis sehr schwer zu verwirklichen war. Außerdem zeigt sich einmal mehr, dass das Festhalten an Latein als erste Fremdsprache ein Grundproblem 356 357
358 359 360
Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1925, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 99. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 46. Wie sehr die Reformer mit ihrer Einschätzung richtig lagen, zeigen die vielen Artikel darüber, beispielsweise Hartz, D.: Das Lateinische auf dem Realgymnasium, in: DPB 32 (1924), S. 271–272; Keller, Rudolf: Die preußische Schulreform und das Schicksal des Realgymnasiums, in: DPB 32 (1924), S. 305–307; Schmeding, Otto: Zur Rettung des Realgymnasiums, in: DPB 32 (1924), S. 354. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 46. Ebenda, S. 46f. Ebenda, S. 54. Hier muss Richert schon im Vorfeld Kritik antizipiert haben, denn auf einer internen Besprechung des Ministeriums im Vorfeld waren sich die Anwesenden eigentlich einig, dass Latein „als grundständige Sprache an der neuen Schule keinen Platz mehr hat“, vgl. Besprechung über Schulreform, 14./15.12.1923, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 14, Bl. 348–349.
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bei der Vereinheitlichung des Schulwesens darstellte. Als weitere allgemeingültige Tendenz zeigt dieser Teil der Reform, dass die Argumente für Latein häufig zwischen Nützlichkeitserwägungen und Idealismus changierten: Latein als Studienvoraussetzung wurde als Begründung für den Lateinunterricht ebenso angeführt wie die römische Antike als geistige Wurzel des modernen Europas. Dabei spielte nicht nur die kulturelle Komponente eine Rolle, sondern auch eine sprachwissenschaftliche: Da sich die modernen europäischen Sprachen aus dem Lateinischen entwickelt hätten, dürfe auf die Kenntnis der Ursprache nicht verzichtet werden. Hierbei zeigt sich, wie stark fremdsprachlicher Unterricht von seiner sprachwissenschaftlichen Seite aus gedacht wurde. Die Kürzung des Lateinunterrichts führte „zum begreiflichen Mißvergnügen der Altphilologen, die sich ganz auf die Insel des Gymnasiums zurückgedrängt“ sahen.361 Aber auch die Hochschulen362 , die Kirchen363 , der preußische Philologenverband364 und verschiedene Elternvereinigungen365 betrachteten diesen Vorschlag überaus kritisch. Vor allem dass der Lateinunterricht am Realgymnasium nach der 10. Klasse enden sollte, war für Universitäten und Philologen nicht hinzunehmen. Lateinunterricht am Realgymnasium, der „in den 3 oberen Klassen wegfällt“, verliere „für die Hochschulen jeden Wert“.366 Hieran wird deutlich, dass nicht nur das Fach Latein an sich für Universitäten, Philologen und Kirchen von Bedeutung war, sondern vor allem auch die Intensität des Unterrichts, deren Maßstab die Länge des Unterrichts gemessen in Schuljahren war.367 361 362
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364 365 366
367
Hartz, D.: Das Lateinische auf dem Realgymnasium, in: DPB 32 (1924), S. 271–272, hier S. 272. Vgl. Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes Deutscher Hochschulen, Mai 1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163. Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, in: HG 35 (1924), S. 173– 174. Vgl. Dekan der theologischen Fakultät Halle-Wittenberg an den Herrn Kurator seiner Universität, 9.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 164; Besprechung Ministerialdirektor Jahnke mit Sachverständigen der Fuldaer Bischofskonferenz, 3.9.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 400–408, hier Bl. 407RS. Vgl. Preußischer Philologenverband an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.9.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 328–330. Vgl. PSK Breslau an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 13.9.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 245–347. Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes Deutscher Hochschulen, Mai 1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, hier Bl. 161. Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität hatte beispielsweise an der Neugestaltung des Realgymnasiums „die schwersten Zweifel“, da „der lateinische Unterricht auf die unteren oder auf die oberen Klassen beschränkt werden soll“, vgl. Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, in: HG 35 (1924), S. 173–174, hier S. 173; ähnlich der preußische Philologenverband an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.9.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 328–330. Siehe Kapitel II.1.5.2; IV.4.1.
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Auch bei Direktoren und Lehrern, die ja vom Ministerium aufgefordert worden waren, ihre Meinungen zur Denkschrift zu äußern, wurde das Thema Latein am Realgymnasium intensiv diskutiert. Die meisten wünschten sich, ebenso wie die Kirchen und die Universitäten, dass der Lateinunterricht am Realgymnasium nicht gekürzt werden sollte. Dabei stand hier die Frage nach der Rolle, die Latein und die Antike bei der Vermittlung des „modernen Europäismus“ spielen sollten, im Mittelpunkt. Die meisten kritisierten die Kürzung der Lateinstunden, weil für sie das Realgymnasium nur dann „das treue Abbild der westeuropäischen Kulturbewegung“ darstellen könne, wenn es ausreichend in die geschichtlichen Wurzeln Westeuropas einführe368 und Latein als „geschichtliche [. . .] Grundlage abendländischer Bildung“ ausreichend pflege.369 Ähnlich sah dies auch der DNVP-Politiker und spätere Schulleiter von Ralf Dahrendorf370 Karl Pflug, aus dessen Äußerungen aber noch ein anderer Aspekt für das Lateinische spricht. Er hielt eine reine „Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur“ für verfehlt, da dadurch nur die „Zerrissenheit“ des modernen Menschen zum Ausdruck komme. Erst durch die „feste Gründung in Antike, Christentum und deutsche[m] Volkstum“ sei dies zu überwinden.371 Die Antike fungierte bei Pflug demnach nicht so sehr als einigendes Band zwischen den verschiedenen Ländern Europas, sondern als Bollwerk gegen eine kulturelle Überfremdung, die befürchtet wurde, wenn sich die Schüler nur mit der englischen oder französischen Kultur auseinandersetzten.372 Manche Lehrer argumentierten auch pragmatisch für den Lateinunterricht, denn: „noch ist das Latein nicht zu entbehren für den, der geschichtlich, allgemein gesprochen, arbeiten und denken will“.373 Ob allerdings Französisch, Englisch oder Latein die dominierende Sprache sein sollte und in welcher Reihenfolge sie zu lernen seien, darüber herrschte Uneinigkeit.374 Selbst die Fachvertreter der 368
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Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 99; ähnlich auch Bl. 102; Besprechung des Herrn Ministerialdirektors Jahnke mit Anstaltsleitern der Provinz Niederschlesien, 26.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 269–277, hier 271RS-273RS; Jahnke mit Schulvertretern, 27.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 212–220. Keller, Rudolf: Die preußische Schulreform und das Schicksal des Realgymnasiums, in: DPB 32 (1924), S. 305–307, hier S. 306. Vgl. auch Schmeding, Otto: Zur Rettung des Realgymnasiums, in: DPB 32 (1924), S. 354: Latein müsse „das Herzstück des Realgymnasiums bleiben“. Vgl. Dahrendorf: Über Grenzen, S. 62f. Pflug, Karl: Die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 111–120. Ebenda, Bl. 117. Hartz, D.: Das Lateinische auf dem Realgymnasium, in: DPB 32 (1924), S. 271–272, hier S. 272. Vgl. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 99, 102: nach Meinung des Reform-Realgymnasiums Kiel sollte
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neueren Sprachen, die prinzipiell die Einführung eines neusprachlichen Gymnasiums als „neue, lockende Aufgabe“ begrüßten,375 waren von der Kürzung des Lateinunterrichts nicht begeistert. „Die Einschränkung des Lateinischen ist und bleibt auch vom Standpunkt des neusprachlichen Unterrichts bedauerlich“, schrieb G. Hanf im Deutschen Philologen-Blatt.376 Andere Neuphilologen hielten eine erneute Verstärkung des Lateinunterrichts für den „Todesstoß“377 des noch nicht einmal wirklich geborenen neusprachlichen Gymnasiums, denn so würde es zur „alten Kompromißschule“378 und nicht zum eigentlich gewünschten profilierten neuen Typ. Dabei spielten auch unterschiedliche Einstellungen zu der Frage eine Rolle, ob der Neuphilologe an sich eigentlich Latein können müsse. Die Meinung des Neuphilologen Max Deutschbein war klar: Die Zeiten, in denen Neuphilologen „hauptsächlich Altfranzösisch oder Altenglisch“ studieren, „sind wohl vorbei“. Daher reiche das wenige Latein des neusprachlichen Gymnasiums aus.379 Mit dieser Meinung stand er aber noch ziemlich alleine da. Dass man am Realgymnasium ab der Oberstufe kein Latein mehr lernen sollte, hatte eine von den Reformen nicht bedachte Folge: Schüler der Oberrealschulen beantragten, in der Oberstufe auf ein Realgymnasium zu wechseln. Das war früher undenkbar, weil ihnen ja die nötigen Lateinkenntnisse fehlten.380 Diese Hürde wäre nach den neuen Stundentafeln weggefallen. Kultusminister Boelitz antwortete auf Anfragen der Provinzialschulkollegien, dass er den Übergang trotz Bedenken rein verwaltungstechnisch erlauben müsse, setzte aber eine neue
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Französisch in den Hintergrund treten, wohingegen die realgymnasiale Studienanstalt in Breslau das Französische gerade wegen seiner Nähe zum Lateinischen betont wissen wollte. Insgesamt gab es bezüglich der Fremdsprachen auch bei den „Prkatikern“ viele unterschiedliche Standpunkte, vgl. Jahnke mit Schulvertretern, 27.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 212–220: Studiendirektor Karst aus Neisse hält Englisch und Französisch für wichtiger als Latein und möchte die römische und griechische Kultur durch Übersetzungen vermitteln, was andere wiederum strikt ablehnen. Direktor Hackauf schlägt Vertiefungsstunden im Lateinischen vor. Hanf, G.: Die Stellung der neueren Sprachen in der preußischen Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 160–162, hier S. 160. Ähnlich Deutschbein, Max: Preußische Schulreform und neuere Sprachen, in: DNS 32 (1924), S. 252–262, hier S. 255 („Ein wundervolles Ziel“). Hanf, G.: Die Stellung der neueren Sprachen in der preußischen Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 160–162, hier S. 161. Ähnlich auch die Neusprachliche Gesellschaft in Frankfurt a. M., vgl. Deutschbein, Max: Preußische Schulreform und neuere Sprachen, in: DNS 32 (1924), S. 252–262, hier S. 256. Deutschbein, Max: Preußische Schulreform und neuere Sprachen, in: DNS 32 (1924), S. 252–262, hier S. 259. Ebenda, S. 256. Ebenda. Vgl. PSK Stettin an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 11.4.1924, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 24; Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an PSK Stettin, 5.7.1924, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 30; PSK Brandenburg und Berlin Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 14.5.1924, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 33–34.
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Hürde: Im Reifezeugnis des Realgymnasiums müssten alle Schüler diejenigen Lateinkenntnisse nachweisen, „die für die Versetzung in OII erforderlich sind“.381 Das Provinzialschulkollegium Brandenburg und Berlin hoffte, dass dies eine so „schwere Aufgabe“ und „so abschreckend“ sei, dass es nur in „vereinzelten Ausnahmefällen“ zu einem solchen Übergang käme. Das Provinzialschulkollegium hatte nämlich Bedenken, dass diesen Weg vor allem Eltern schwächerer Schüler wählen würden, die sich durch ihren vermeintlichen Vorsprung in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern erhofften, „möglichst sicher und bequem ihr Schulziel zu erreichen“.382 Obwohl diese Überlegungen im Endeffekt überflüssig wurden, als Latein Ende September 1924 wieder als Pflichtfach bis zum Abitur eingerichtet wurde,383 ist diese Episode insofern sehr aufschlussreich, als dass dieser Kollateralschaden verschiedene Diskussionspunkte andeutet, die für die Frage nach der Bedeutung des altsprachlichen Unterrichts sehr typisch sind. Zum einen wurde Latein als schwere Hürde begriffen, derer sich Eltern und Schüler zu entziehen versuchen würden. Immer wieder tauchen von ministerialer Seite solche Verdächtigungen gegenüber Eltern und Schülern auf. Beiden Gruppen wurde vorgehalten nur an Zugangsberechtigungen und nicht an „wirklicher Bildung“ interessiert zu sein. Daher sei ihnen jeder Trick recht, sich diese unverdient zu erschleichen. Zum anderen zeigt diese kleine Episode, welche unvorhergesehenen Folgewirkungen auch nur kleine Veränderungen im Bildungswesen haben konnten. Die Forderung nach der Erhöhung der Lateinstunden am Realgymnasium wurde am Ende von so vielen Gruppen und Personen an das Ministerium herangetragen,384 dass der Kultusminister im September einem „[v]ielfach geäußertem Wunsch entsprechend“ den Erlass an die Provinzialschulkollegien verschickte, „am Realgymnasium das Lateinische auch in Zukunft bis zur Reifeprüfung fortzuführen“.385 Insgesamt zeigt die Diskussion um die Ausgestaltung 381 382 383 384
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Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an PSK Stettin, 26.4.1924, BA BerlinLichterfelde, R 4901/4341, Bl. 25. PSK Brandenburg und Berlin an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 14.5.1924, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 33–34. Vgl. Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegien, 22.12.1924, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 42. Vgl. Interne Besprechung der Abteilung UII, 20.8.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 305–306. Obwohl man in der Abteilung selbst den ursprünglichen Vorschlag für „tragbar“ hielt, entwickelten die Beamten eine Lösung. Preußischer Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegien außer Koblenz, 30.0.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 390, auch in BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 32. Jahnke hatte gegenüber den Sachverständigen der Fuldaer Bischofskonferenz bereits am 3.9.1924 angedeutet, dass der Lateinunterricht auch in der Oberstufe fortgeführt werden soll, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 407RS. Vgl. Amtlicher Preussischer Pressedienst, 7.10.1924: „Das Lateinische am Realgymnasium bleibt Pflichtfach“, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 393. Für das Reformrealgymnasium
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des neusprachlichen Gymnasiums, dass die Wertschätzung für den Lateinunterricht nicht bloß eine Sache der Altphilologen war. Die Vorstellung eines abendländischen Europas mit seinen kulturellen Wurzeln in der Antike, die einen lateinischen Sprachunterricht nötig machten, war ein weitverbreitetes und allgemein akzeptiertes Argumentationsmuster. Hinzu kamen pragmatische Gründe oder Überlegungen aus der institutionellen Logik heraus, wie die Bewahrung der Übergangsmöglichkeit vom Gymnasium auf das Realgymnasium oder das Argument, dass viele Studienfächer an den Universitäten Lateinkenntnisse bei ihren Studierenden voraussetzten. 2.2.2 Die Stellung des Gymnasiums: Eine neue Krise?
Die Einstellung der preußischen Denkschrift zum Gymnasium war überaus positiv. Sie würdigte das traditionelle Gymnasium, weil es „eine Überfülle starker und ausgeprägter Individualisten hervorgebracht“386 habe, und pries die „antiken Bildungseinflüsse“.387 Diese sollten im Übrigen an allen höheren Schulen vermittelt werden, „da kaum ein Wertgebiet deutschen Lebens ohne innere Beziehung zur Antike zu verstehen ist“.388 Aber nur „die Vertiefung in die Quellen“ gewährleiste, „daß unsere Kultur die in die Antike hinabreichenden Wurzeln nicht absterben läßt“.389 Somit wollte die Denkschrift „die humanistischen Lehranstalten in ihrer Einheit und Ganzheit erhalten“.390 Das Gymnasium war ja mit seiner Ausrichtung auf die Antike bereits ein Schultyp mit eindeutiger Profilierung. Griechisch stellte demnach laut Denkschrift das „Herzstück des Gymnasiums“ dar. Die Variante des sogenannten „Englischen Gymnasiums“, das die Möglichkeit bot, statt Griechisch Englisch als dritte Fremdsprache zu wählen, wollte die Unterrichtsverwaltung nicht mehr gestatten.391 Diese Variante hatte sich als Nebentyp herausgebildet, passte aber nicht zur Maßgabe der Reformer, die Anzahl der Schultypen zu reduzieren. Die Richert’sche Reform war mit dem expliziten Wunsch nach Eindeutigkeit ein Kind ihrer Zeit. Eigentlich stellte nämlich die Flexibilität der Typen der höheren Schule eine wichtige Grundlage zur weiteren Bildungsexpansion und somit eine Stärke des deutschen Bildungssystems dar.392 Das neue „altsprachliche Gymnasium“ sollte ein „moderne[s] humanistische[s] Gymnasium“ sein,393 das vor allem im altsprachlichen Unterricht
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gab es keine Veränderung, vgl. Interne Besprechung der Abteilung UII, 20.8.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 305–306. Ebenda, S. 14. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 37. Ebenda. Vgl. dazu Tosch: Gymnasium, S. 227–308. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 39f.
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mehr Wert auf die kulturkundlichen Inhalte, also die Lektüre, legte statt auf grammatischen Drill.394 Auch dies waren Tendenzen, die sich bereits bei der Reichsschulkonferenz abgezeichnet hatten. In einem offenen Briefwechsel mit dem Vorsitzenden des Gymnasialvereins Otto Immisch betonte Kultusminister Boelitz, ein selbsternannter „[b]egeisterter Freund des humanistischen Gymnasiums“, dass die Reform „das humanistische Gymnasium nicht gefährden“ wolle, sie wolle es erhalten und „ihm einen neuen Inhalt geben“.395 Trotz dieser allgemeinen Wertschätzung und Bestandsgarantie für das Gymnasium, sahen die Gymnasialvertreter die Existenz des Gymnasiums bedroht. Paul Gohlke, Altphilologe und späterer Schriftführer des Deutschen Altphilologenverbandes (DAV), sprach sogar von der „Gefahr einer völligen Vernichtung“.396 Das hatte folgende Gründe: Da die neuen Stundentafeln weniger Gesamtwochenstunden vorsahen und mehr Wert auf die kulturkundlichen Fächer legten, wurden der lateinische, der neusprachliche und der mathematische Unterricht am Gymnasium gekürzt. Interessanterweise beunruhigte die Vertreter des Gymnasiums nicht so sehr die Kürzung der Lateinstunden, die „trotz sicher schädlicher Wirkung in Kauf genommen“ wurden.397 Vielmehr gab die Kürzung der neueren Fremdsprache von 20 auf neun Stunden Anlass zu regelrechter Panik.398 Damit 394 395
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Ebenda, S. 40–42. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 2: Boelitz an Immisch, 24.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 111–115, S. 111. Ähnliches wiederholt auch sein Nachfolger Carl Heinrich Becker, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 127. Gohlke, Paul: Die Verteidigung des humanistischen Gymnasiums, in: DPB 34 (1926), S. 569–572, hier S. 569; Gohlke, Paul.: Die Tagung „Das Gymnasium“ in Berlin vom 6. bis 9. April 1925, in: DPB 33 (1925), S. 265–267, hier S. 265. Ähnliche Aussagen auch von Werner Jaeger und Emil Kroymann, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136; Kranz: Die neuen Richtlinien, S. 1–6. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 1: Immisch an Boelitz, 9.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 110–111, hier S. 110. Diese Zählung der Wochenstunden bei den einzelnen Fächern bezieht sich immer darauf, wie viele Stunden pro Woche ein Fach auf die Gesamtdauer aller Jahrgangsstufen, nicht im Durchschnitt, sondern aufaddiert, gelehrt wird. Vgl. Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, hier Bl. 161; Erklärung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Frankfurt a. M. und den Nachbarstädten, in: HG 35 (1924), S. 115–117, hier S. 116; Der hessische Landesverband der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 35 (1924), S. 118–120; Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, 19.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 173–174, hier S. 173; Bucherer, Fritz: Preußische Reformpläne, in: HG 34 (1924), S. 77–78; Groeger, M.: Die Reform des höheren Schulwesens und das klassische Altertum, in: DPB 32 (1924), S. 174–176, hier S. 176; Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 135. Befürworter der Kürzung des Sprachunterrichts gab es natürlich auch, aber eher selten, bspw. Schwarz, Sebald: Schultypus oder elastische Einheitsschule?, in: DPB 32 (1924), S. 157–160, vor allem S. 159.
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II. Die Weimarer Republik
sei das Gymnasium „nicht mehr konkurrenzfähig“399 , denn „[o]hne moderne Fremdsprache kann heute fast kein Stand und Beruf auskommen“.400 Eine „Abwanderung weiter Schülerkreise“401 sei die Folge. Dadurch werde das Gymnasium „aristokratisch isoliert“ und der „Humanismus“ werde „zum Vorrecht bevorzugter, schöngeistiger Kreise“.402 Paradigmatisch dafür ist folgender Auszug aus einem Protokoll, das die Besprechung verschiedener Schulleiter mit Ministerialdirektor Richard Jahnke dokumentiert: Für Gymnasien in kleinen Städten bedeute die Neuordnung den Todesstoß. [Studiendirektor, AK] Seiffert ist zwar davon überzeugt, daß die Art und Weise, wie der Geist in den alten Sprachen gebildet werde, die beste Vorbereitung für jeden Beruf sei. Aber die Schüler und deren Eltern [. . .] werden das nicht glauben und verstehen, und da der Uebergang von Abiturienten zur Universität in Zukunft wenig in Frage komme, müsse man mit den harten Notwendigkeiten des praktischen Lebens rechnen. Da werde nun bei Bewerbungen um eine Stelle stets der Realgymnasiast oder Oberrealschüler dem Gymnasiasten den Rang ablaufen, da dieser eben nur noch eine neuere Fremdsprache und zwar in unzulänglicher Weise betreibe, noch dazu erst von UII an! Einer solchen Anstalt könnten die Eltern ihre Kinder nicht mehr anvertrauen.403
Für ähnliche Entrüstung sorgte die Kürzung des Mathematikunterrichts.404 Auch am Gymnasium schätze man, „die kulturelle Bedeutung der exakten Wissenschaften und der Technik“.405 Zudem fühlten sich die Vertreter des Gym399 400 401 402 403
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Jahnke mit Schulvertretern, 27.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 212–220, hier Bl. 116. Erklärung des Badischen Landesverbandes der Freunde des Humanistischen Gymnasiums, in: HG 35 (1924), S. 117–118, hier S. 118. Ebenda. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 1: Immisch an Boelitz, 9.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 110–111, hier S. 111. Besprechung des Ministerialdirektors Dr. Jahnke mit den Anstaltsleitern der Provinz Niederschlesien, 26.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 269–277, hier Bl. 271RS272. Fast alle kritisierten beides, Kürzung des fremdsprachlichen und des mathematischen Unterrichts, z. B. Verband Deutscher Hochschulen, Mai 1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–162, hier S. 162; Preußischer Philologenverband an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.9.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 328–330, hier S. 329; Reisebericht vom preußischen Philologentag in Göttingen, 12.6.1924, GStAPK, Gen. cc, Nr. 1, Bd. 5, Bl. 78–80, hier Bl. 79RS; Bolle, W.: Die Stellung des preußischen Philologenverbandes zur Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 221–223, v. a. S. 222; Erklärung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Frankfurt a. M. und den Nachbarstädten, in: HG 35 (1924), S. 115–117, hier S. 116. Kritik an Kürzung der Mathematik u. a. Aussprache über die Neuordnung in Preußen, in: UMN 30 (1924), S. 29–31; Der Minister für Handel und Gewerbe, 24.3.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 81; Behrend, Felix: Organisatorische Grundtendenzen der preußischen Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 109–112, hier S. 111; Winderlich, R.: Der Kulturwert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, in: DPB 33 (1925), S. 17–19. Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35 (1924), S. 168–173, hier S. 170.
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nasiums der Mathematik dahingehend verbunden, da Mathematik ebenso wie Latein „die strenge, logisch formale Erziehung“406 fördere und „zu selbständiger Arbeit und zu eigenem Denken“ zwinge.407 Zumindest die Kritik an der Kürzung der neueren Fremdsprache wurde im Ministerium ebenfalls gehört.408 Der Erlass vom 30. September 1924 enthielt neben den Änderungen des Lateinunterrichts am Realgymnasium auch den früheren Beginn der neueren Fremdsprache am Gymnasium, wodurch dessen Stundenzahl wieder erhöht wurde.409 Deutlich wird hierbei, dass es den Vertretern des Gymnasiums wichtig war, dass das Gymnasium keine Fachschule für Altphilologen darstelle, sondern den Schüler ganzheitlich bilde und somit die beste Vorbildung für jegliche Berufe und Studienfächer biete. Dabei wurde man nicht müde zu betonen, dass gerade die technischen Hochschulen die Absolventen des Gymnasiums den andern Abiturienten vorziehen würden.410 In dasselbe Horn bliesen auch die Hochschulen: Auch wenn alle höheren Schulen zur allgemeinen Hochschulreife führten, seien doch die Absolventen der Gymnasien die am besten präparierten Studieren-
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Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, in: HG 35 (1924), S. 173–174, Zitat S. 173. Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35 (1924), S. 168–173, hier S. 169; vgl. auch Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, Bl. 162. Ähnlich auch Richtlinien, S. 137. Kritik an einer „ungeheuren Überschätzung der Kulturgeschichte“ auch Havenstein, Martin: Der Historismus der preußischen Richtlinien und Lehrpläne, in: DPB 34 (1926), S. 97–100, vor allem S. 100. Nur gelegentlich löste sich diese Allianz und einige Akteure versuchten argumentativ, das Attribut der „formal-logische[n] Schulung“ für das von ihnen präferierte Fach exklusiv zu beanspruchen, vgl. Winderlich, R.: Der Kulturwert der mathematischnaturwissenschaftlichen Fächer, in: DPB 33 (1925), S. 17–19, vor allem S. 18: „Kein einziges Fach kann die Mathematik an logischem Gehalt ersetzen.“ Holst, H.v.: Der griechische Unterricht nach den preußischen Richtlinien, in: DPB 34 (1926), S. 35–38, vor allem S. 37: „Es [Latein] ist durch nichts zu ersetzen, auch nicht durch das mechanische Denkverfahren der Mathematik.“ Vgl. interne Besprechung der Abteilung UII, 20.8.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 305–306, hier Bl. 305RS; Bucherer, Fritz: Nachschrift, in: HG 35 (1924), S. 120; Bolle, W.: Unsere bisherige Stellung zur Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 393–396. Vgl. Latein am Realgymnasium, 30.9.1924, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 66 (1924), S. 266. Vgl. Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35 (1924), S. 168–173, hier S. 170; Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 2: Boelitz an Immisch, 24.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 111–115, hier S. 113.
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den,411 auch für die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer.412 Ähnlich argumentierten auch die Kirchenvertreter.413 Dass dies so stark betont wurde, hatte mehrere Gründe. Zum einen war den Befürwortern des altsprachlichen Unterrichts vermutlich klar, dass das Gymnasium als Fachschule für Altphilologen nur eine Randexistenz führen würde, mit der man die vielen Lehrer für alte Sprachen niemals mit Stellen versorgen könnte. Zum anderen waren die Gymnasialvertreter vermutlich wirklich davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit den alten Sprachen eine besondere Art von allseitiger Bildung vermittle. Dabei verteidigte man das Gymnasium als Hort der zweckfreien Bildung, denn: „In einer Zeit, da auch dem deutschen Volke Mechanisierung und Amerikanisierung droht“414 , „wo Technik und rationale Wissenschaft die Menschen in ihren Bann schlägt“,415 könne nur das humanistische Gymnasium das deutsche Volk „erretten vor der immer stärker anwachsenden Flut des praktischen Materialismus auch im Schulwesen“416 . Das reine Nützlichkeitsdenken, der Utilitarismus, war dabei einer der großen Feinde und er lauerte überall: Bei der Mathematik müsse man aufpassen, dass sich „der Utilitarismus entgeisterter Anwendungsmathematik“ nicht zu breitmache.417 Die französische Sprache könne mit dem gekürzten Stundenkontingent nur noch als „Rest-Französisch“ bezeichnet werden, das man nur „rein utilitaristisch zum Gebrauch für Geschäfts- und Reisezwecke“ behandeln könne.418
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Vgl. Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, Bl. 161; Rektor der Universität Frankfurt a. M. an Bund der Freunde des humanistischen Gymnasiums Frankfurt a. M., 5.8.1924, in: HG 35 (1924), S. 117. Max Deutschbein versuchte dagegen zu argumentieren, indem er sagte, dass die Abiturienten des Gymnasiums die zunehmende Fachliteratur auf Englisch und Französisch nicht verstehen könnten, vgl. Deutschbein, Max: Preußische Schulreform und neuere Sprachen, in: DNS 32 (1924), S. 252–262, hier S. 262. Vgl. Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35 (1924), S. 168–173, hier S. 170; Graef, Gottlieb: Gedanken eines Technikers über humanistische Schulbildung, in: HG 37 (1926), S. 231–237, hier S. 232; Umschau, in: MDAV 4 (1930), S. 55–57, hier S. 55, Zitat aus der Technischen Rundschau. Vgl. Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 2.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 352–356. Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigung, in: HG 35 (1924), S. 168–173, hier S. 171; vgl. auch Jaeger: Antike und Humanismus, S. 5. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 127, Rede Werner Jaeger; vollständige Rede: Jaeger: Antike und Humanismus, hier vor allem S. 6f. Schuster, D.: Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums, in: Deutsche Stimme 37 (1925), S. 195–201, hier S. 201, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 15, Bl. 41–44. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 130, Rede Toeplitz. Bohlen: Auswirkungen, S. 41.
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Man befürchtete zudem den Rückgang der Schülerzahlen, weil „bei der rein utilitaristischen Einstellung vieler Eltern“419 der Weg zur Reifeprüfung über das Gymnasium als zu schwierig empfunden werde. Hier ist wieder dasselbe Misstrauen gegenüber Eltern und Schülern zu spüren wie bei der Diskussion um den Lateinunterricht am Realgymnasium.420 Gerade Eltern aus niederen Schichten, die selbst nie die alten Sprachen gelernt hätten, seien nur am ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Kinder interessiert. Es gehe um Karriereaussichten und Geld, nicht um das Streben nach Bildung. Und obwohl man den Rückgang der Schülerzahlen fürchtete, verstand man das Gymnasium jedoch weiterhin als „Elite-Schule, der die besten jungen Leute zugeführt werden sollen“,421 die in Zukunft „viel sorgsamer gesiebt werden“ müssten.422 Trotz der Wertschätzung, die dem Gymnasium durch die Denkschrift und den Kultusminister entgegengebracht wurde, waren die Vertreter und Befürworter des Gymnasiums also in Sorge um seine Existenz. Dieses Gefühl bestimmte auch die große Tagung des preußischen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht zum Thema „Das Gymnasium“ vom 6. bis 9. April 1925 in Berlin,423 war die Rettung des Gymnasiums doch „einer der Beweggründe zu dieser Tagung“.424 Diese Tagung ist ein gutes Fallbeispiel dafür, dass das Gymnasium trotz allem Einsatz für andere Fächer sich im Kern als altphilologische Schule begriff. Dies zeigt sich schon an der Leitung der Tagung, die mit Werner Jaeger, Emil Kroymann und Walther Kranz drei Altphilologen oblag.425 Auch das Programm entsprach mehr 419
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Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 37. Vgl auch PSK Brandenburg und Berlin Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 14.5.1924, BA BerlinLichterfelde, R 4901/4341, Bl. 33–34. Siehe oben Kapitel II.2.2.1. Schuster, D.: Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums, in: Deutsche Stimme 37 (1925), S. 195–201, hier S. 201, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 15, Bl. 41–44. Pflug, Karl: Die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 111–120, hier Bl. 117, Zitat Boelitz von 1923. Berichte dazu vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136; Gohlke, Paul: Die Tagung „Das Gymnasium“ in Berlin vom 6. bis 9. April 1925, in: DPB 33 (1925), S. 265–267; Grünwald, Eugen: Die Berliner Gymnasialtagung II, in: HG 36 (1925), S. 136–138; Schuster, D.: Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums, in: Deutsche Stimme 37 (1925), S. 195–201, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 15, Bl. 41–44. Auch diese Tagung erhielt recht beachtliche mediale Aufmerksamkeit, vgl. Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Das Gymnasium, in: Vossische Zeitung, 6.4.1925, Abendausgabe; „Das Gymnasium“. Empfang bei Dr. Simons, in: Vossische Zeitung, 7.4.1925, Morgenausgabe; Das humanistische Gymnasium. Die neue Antike, in: Vossische Zeitung, 9.4.1925, Abendausgabe. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 135, Vortrag Kroymann. Ähnlich auch Vorsitzender des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen Kroymann an Zweigvereine, 22.11.1924, in: HG 36 (1925), S. 12–13, hier S. 13. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 127. Walther Kranz war als Mitglied der Lehrplankommission zuständig für das Gymnasium
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einer altphilologischen Fachtagung. Mehr als die Hälfte der Vorträge befassten sich mit der Antike oder dem altsprachlichen Unterricht, alle anderen Fächer, die am Gymnasium gelehrt wurden, wurden durch jeweils nur einen Vortrag repräsentiert.426 Zudem machte ein Besucher der Tagung folgende Beobachtung: Nach dem Vortrag Vom Wert der Übersetzung ins Lateinische strömte die große Mehrzahl der Besucher fort, denn nun kam ja ein Vortrag über ein Nebenfach des Gymnasiums, nämlich über die neueren Sprachen. Diesen Vortrag anzuhören, hielt nur noch ein bescheidener Teil für nötig. Ihm folgte als dritter ein Vortrag über Naturwissenschaften am Gymnasium, der wurde fast zum Privatstudium vor einem kleinen intimen Kreis. Von den sonst 300 Zuhörern mochten 40 bis 50 übriggeblieben sein. Diese Tatsache, rein als äußerer Vorgang, hat mich auf das tiefste erschüttert; denn darin kam, trotz aller Beschönigungsversuche des Versammlungsleiters doch deutlich zum Ausdruck, wie geringen Wert der durchschnittliche Alt-Philologe, der naturgemäß am Gymnasium die herrschende Rolle spielt, auf die neueren Sprachen und auf die Naturwissenschaften legt.427
Ähnliches lässt sich schlussfolgern aus der Äußerung des Deutschen Realschulmännervereins zum Lateinunterricht an der Oberrealschule: Kein Lehrer würde den wahlfreien Lateinunterricht bei nur geringer Vergütung übernehmen, da gerade diejenigen Lehrer [. . .] (Altphilologen und Theologen), vielfach nicht diejenige innere Einstellung zu unserer Schulart haben, daß man von ihnen erwarten könnte, sie würden im Interesse der Schulart über die bei ihnen vorhandenen Bedenken [. . .] hinwegsehen und diesen Unterricht [. . .] freiwillig übernehmen.428
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und die Fächer Latein und Griechisch. Ein weiteres Indiz für die enge Verknüpfung, vgl. Niederschrift über die Sitzung der Lehrplankommission, 7.11.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 70–74, hier Bl. 72. Zu Kranz vgl. auch Mensching: Walther Kranz. Altphilologische Vorträge waren: Jaeger, Antike und Humanismus; Kranz, Die Jugend und die Antike; Fraenkel, Die Stelle des Römertums in der humanistischen Bildung; Hoffmann, Das Gymnasium und die Philosophie; Ottendorf, Antike und moderne Körperkultur; Bruhn, Das Gymnasium als Arbeitsschule [als Beispiel wurde der Lateinunterricht gewählt]; Kappus, Richtlinien und Ideen für die Auswahl griechischer und lateinischer Lektüre; Regenbogen, Original oder Übersetzung?; Jacobsthal, Archäologie; Boesch, Vom Wert der Übersetzung ins Lateinische; Hoffmann, Die Ziele des lateinischen und griechischen Sprachunterrichts; Reinhardt, Wege zur Berücksichtigung der antiken Kunst im Unterricht; Kroymann, Die Lage des Gymnasiums in der Gegenwart, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136. Vgl. auch die Aussage von Otto Regenbogen: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ 4 (1928), S. 144–161, hier S. 151: „[. . .](denn auch hier konvergieren recht verstandene Gymnasialbildung und Vorbildung zum altsprachlichen Unterricht)“. Ähnlich sieht auch das Programm der Versammlungen deutscher Philologen und Schulmänner aus, vgl. 53. und 54. Versammlung 1921 und 1923, GStAPK, Gen. cc, Nr. 1, Bd. 5, Bl. 8–9, 57. Schuster, D.: Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums, in: Deutsche Stimme 37 (1925), S. 195–201, hier S. 199, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 15, Bl. 41–44. Deutscher Realschulmänner-Verein an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbil-
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Auch dass das Ministerium „[v]erhältnismäßig wenig Material“ von den Schulen rückgemeldet bekam, „zu der Frage, welche besonderen Aufgaben die anderen Fächer auf dem Gymnasium zu erfüllen haben“, deutet auf die Einstellung vieler Gymnasiallehrer hin, dass altsprachlicher Unterricht der beste Weg einer allseitigen Bildung darstelle.429 Führende Altphilologen jedoch verwiesen immer wieder darauf, dass auch die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer ausreichend am Gymnasium unterrichtet werden müssten.430 Ihnen war wohl bewusst, dass die Zeiten einer exklusiv altsprachlichen Bildung vorbei und solche Forderungen für die Schulform überaus schädlich waren. Hier erkennt man eine deutliche Diskrepanz zwischen den Eliten des Faches und der breiten Masse der Lehrer. Im Zuge der Tagung gründete sich auch der Deutsche Altphilologenverband (DAV). Die alten Sprachen waren die einzige Fächergruppe, die noch keinen eigenen Fachverband hatte. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wie eng Altphilologie und Gymnasium bislang miteinander verwoben gewesen waren: Die meisten Altphilologen waren nämlich vorher im Gymnasialverband organisiert gewesen.431 Dass sich nun ein Fachverband gründete, deutet darauf hin, dass sich diese Verwobenheit aufzulösen begann. Eckart Mensching erkennt in der Gründung des DAV eine „Abwehrreaktion gegen drohende Gefahren“, wobei er auch das „Vordringen“ der „Nicht-Altphilologen“ in den Lehrervertretungen als Krisenphänomen anführt.432 Auch wenn diese Deutung sicherlich nicht gänzlich
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dung, 5.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 418–419, hier Bl. 418RS. Ähnlich auch Mitteilungen aus dem DAV. Besprechung im preußischen Unterrichtsministerium, 13.3.1926, in: HG 37 (1926), S. 247: „Der neu einzurichtende Lateinunterricht am Reformrealgymnasium wird meist von Neuphilologen mit lateinischer Nebenfakultas mitverwaltet werden, [. . .] und dann auch deshalb, weil kein Altphilologe diesen Unterricht geben will, vielmehr jeder die erste Gelegenheit benutzt, um an einer anderen Anstalt wieder voll in seinen Fächern beschäftigt zu werden.“ Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 98. Vgl. Bemerkungen zur Neuordnung, in: UMN 30 (1924), S. 70–72, hier S. 70: „Für die Leser dieser Zeitschrift dürfte es von Interesse sein, daß der klassische Philologe Werner Jäger [sic!] (Berlin) mit warmen Worten betonte, die Mathematik gehöre zu den Grundpfeilern des humanistischen Gymnasiums“; ähnlich auch Gohlke, Paul: Die humanistische Bedeutung der Mathematik und der Naturwissenschaften, in: UMN 31 (1925), S. 276–279; Schuster, D.: Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums, in: Deutsche Stimme 37 (1925), S. 195–201, hier S. 200, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 15, Bl. 41–44: „Wenn wir den ganzen Menschen bilden wollen, so darf es nicht geschehen, daß der klassische Philologe sich um neuere Sprachen und Naturwissenschaften nicht kümmert, daß er womöglich seine Ehre darein setzt, von ihnen nichts zu verstehen.“ Vgl. beispielsweise die Jahreshauptversammlung des Gymnasialvereins 1921. Dort gab es nach schulpolitischen Beiträgen zwei explizit altphilologische Fachvorträge, vgl. Grünwald, Eugen: 24. Jahresversammlung, in: HG 32 (1921), S. 97–127. Mensching: Festbüchlein, S. 16.
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falsch ist, rekurriert sie doch zu stark auf die Empfindungen der Zeitgenossen. Es spricht vieles dafür, die Gründung des DAV emotionslos als Phänomen der Ausdifferenzierung der einzelnen Fächer zu begreifen. Zudem zeichnet sich hier die Entwicklung des „Gymnasiums“ – sowohl als Institution als auch als Begriff – ab: War lange Zeit das Gymnasium die altphilologische Fachschule, entwickelte es sich zu dem allgemeinen Typ höherer Schule. Die Gründung des DAV ist ein Indiz dafür, dass sich dieser Prozess während der Weimarer Republik verstärkte. 2.3 Der Deutsche Altphilologenverband433 2.3.1 Gründung und Ausrichtung
Die Initiative zur Gründung eines Deutschen Altphilologenverbandes434 hatten Berliner Altertumswissenschaftler und Philologen ergriffen. Sie wollten einen Verband gründen, „der möglichst alle Vertreter der Lehrfächer des antiken Kulturkreises an deutschen Universitäten und Schulen umfassen soll“.435 Hauptaufgabe sollte „die Förderung des altsprachlichen Unterrichts sowie die Verteidigung und Vertiefung des humanistischen Bildungsideals“ sein.436 Bei der Gründungsversammlung im Rahmen der Gymnasialtagung am 6. April 1925 beschloss man, mit dem Aufbau von Ortsgruppen zu beginnen. Hierbei wollte man mit den örtlichen Gymnasialvereinen und Freunden des humanistischen Gymnasiums zusammenarbeiten. Zusammenlegen wollte man sich nicht, denn man sprach eine unterschiedliche Klientel an: Der DAV sollte ein Fachverband werden, die Vereinigungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums hatten auch viele Laien als Mitglieder, die man auf keinen Fall vergraulen wollte.437 Der Vorsitzende des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen und Oberstudiendirektor Emil Kroymann wurde zum ersten Vorsitzenden ge433 434
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Vgl. dazu Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 5–12; Mensching: Festbüchlein, S. 9–16. Die ursprüngliche Schreibweise lautete „Deutscher Altphilologen-Verband“. Da aber die offizielle Schreibweise mittlerweile „Deutscher Altphilologenverband“ lautet, wird diese in dieser Arbeit konsequent verwendet, außer bei zeitgenössischen Zitaten. Grünwald, Eugen: Die Berliner Gymnasialtagung II, in: HG 36 (1925), S. 136–138, hier S. 136. Aufruf zur Gründung eines „Deutschen Altphilologen-Verbandes“, in: DPB 33 (1925), S. 157. Grünwald, Eugen: Die Berliner Gymnasialtagung II, in: HG 36 (1925), S. 136–138, hier S. 137. Zur Zusammenarbeit vgl. Deutscher Altphilologen-Verband, Provinzialverband Niederschlesien, in: HG 37 (1926), S. 76–77; Bottermann: Landesverband gymnasialer Vereinigungen, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenvereins 1 (1927), S. 3–4. Dazu gehört auch die Diskussion, ob die Zeitschrift Das Humanistische Gymnasium das Verbandsorgan des DAV werden sollte. Man entscheid sich aber dagegen, vgl. Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses des deutschen Gymnasialvereins, 28.12.1926, in:
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wählt – und blieb dies bis zur Integration des DAV in den Nationalsozialistischen Lehrerbund 1935.438 Der Universitätsprofessor und wichtigste Altphilologe der Zeit Werner Jaeger war sein Stellvertreter.439 Hieran erkennt man eine zentrale Zielsetzung des DAV, nämlich die Verbindung zwischen Schule und Universität, Erziehung und Wissenschaft zu fördern.440 „Die beste Propaganda“, so der Schriftführer Paul Gohlke, sei „ein guter erfolgreicher Unterricht“. Die Altphilologen dürften nicht müde werden, „an der didaktischen und pädagogischen Vervollkommnung unserer Berufstätigkeit zu arbeiten“.441 Das spiegelt eine Auffassung wider, die in den Diskussionen um das humanistische Gymnasium immer wieder aufschien: Die Kritik an der Schulgattung liege an den schlechten Lehrern.442 Passend dazu wurden auf der Gründungsversammlung vier thematische Kommissionen gebildet: Stellung zur Schulreform, Lehrbücher und Texte, Fortbildung der Lehrer und Lektüreplan.443 Als wichtigste Aufgabe wurde die „Aufstellung eines Ideallehrplans für den lateinischen und griechischen Unterricht auf dem Gymnasium und Realgymnasium“ gesehen.444 Der DAV begriff sich aber auch als Sprachrohr für die von ihm vertretenen Lehrer und trat gegenüber dem Ministerium dafür ein, dass seine Klientel mit Stellen versorgt würde. So bestand er beispielsweise darauf, dass nur wirkliche Altphilologen altsprachlichen Unterricht erteilten.445 In Fragen der Lehrerfortbildung stellten sich auch schnell Erfolge ein. So konnten sich „Ferienkurse für Altphilologen“ beispielsweise in Göttingen schnell etablieren.446
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HG 38 (1927), S. 1. Seit 1928 erscheinen die Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes auch eigenständig und nicht mehr als Beilage zu Das Humanistische Gymnasium, vgl. Verbandstagung in Göttingen vom 25. bis 28. Sept. 1927, in: MDAV 1(1927), S. 72–76, hier S. 73. Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 7. Vgl. Verbandstagung in Göttingen vom 25. bis 28. Sept. 1927, in: MDAV 1 (1927), S. 72–74, hier S. 74. Regenbogen, Otto: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 144–161, hier S. 145. Gohlke, Paul: Die Verteidigung des humanistischen Gymnasiums, in: DPB 34 (1926), S. 569–572, hier S. 571. Vgl. Kroll, W.: Die Schulfrage eine Lehrerfrage, in: HG 37 (1926), S. 75–76, hier S. 75; Grünwald, Eugen: Die Berliner Gymnasialtagung II, in: HG 36 (1925), S. 136–138, hier S. 137, Kroymann bei Sitzung des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen. Vgl. Grünwald, Eugen: Die Berliner Gymnasialtagung II, in: HG 36 (1925), S. 136–138, hier S. 137. Vgl. Gohlke, Paul: Die Lehrpläne für die alten Sprachen, in: DPB 34 (1926), S. 351; Vorstandssitzung des Altphilologenverbandes in Berlin, 9./10.10.1926, in: HG 37 (1926), S. 251–252, hier S. 252. Vgl. DAV an Ministerium, 10.2.1926, in: HG 37 (1926), S. 78–79. Vgl. Regenbogen, Otto: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 144–161, hier S. 144; siehe auch Veröffentlichungen zu den Ferienkursen in Göttingen von Eduard Lisco und Otto
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Insgesamt war die Arbeit des DAV in den ersten Jahren sehr erfolgreich. Er war als Verhandlungspartner im Ministerium anerkannt447 und auch der Aufbau der Ortsgruppen schritt zügig voran,448 so dass der DAV im Oktober 1926 bereits über 4000 Mitglieder verzeichnen konnte.449 Der DAV wurde die führende Instanz, wenn es um die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts ging. 2.3.2 Die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts Kulturkundliche Bildung vs. formale Bildung
Die preußische Denkschrift hatte zwar das traditionelle, humboldtsche Gymnasium und die alten Sprachen außerordentlich gewürdigt und ihm einen wichtigen Platz in der preußischen Schullandschaft zugesichert. Allerdings ging sie mit der Praxis des altsprachlichen Unterrichts, vornehmlich des Lateinunterrichts, hart ins Gericht. Ähnliches war bereits bei der Reichsschulkonferenz zu beobachten gewesen: Der altsprachliche Unterricht habe sich, so die Denkschrift, im Laufe der Zeit „von der Einstellung auf das antike Bildungsideal“ losgesagt, „ja zum Teil ihm bewußt“ entgegengearbeitet. So sei verhindert worden, „daß die Zusammenhänge der Antike mit den großen Gestaltungsepochen des europäischen und deutschen Geistes“ – Christentum, Mittelalter, Renaissance, Reformation, moderner Europäismus und deutscher Idealismus – „dem Schüler lebendig wurden“.450 Schuld daran sei vor allem die starke Betonung des Übersetzens ins Lateinische zu Ungunsten der Schriftstellerlektüre. Daher machte die Denkschrift unmissverständlich klar, dass die „Zukunft des Gymnasiums“ davon abhänge, ob es dem altsprachlichen Unterricht gelinge, das „lustvolle Können“ der wirklichen Lektüre antiker Schriftsteller zu vermitteln.451 Denn: „Das Wesentliche ist [. . .] die kulturkundliche Aufgabe des altsprachlichen Unterrichts[. . .].“452 Im Prinzip setzte die Denkschrift also nur das um, was Wecker (Lisco: Arbeitsunterricht; Wecker: Sprachunterricht auf Sexta; Wecker: Übersetzen als Mittel deutscher Stilbildung). 447 Vgl. Ministerialdirektor Jahnke mit Vertretern des DAV, 22.6.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4358, Bl. 117; Niederschrift zur Reform des altsprachlichen Studiums, Besprechung im Ministerium, 29.6.1928, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 99–110; Mitteilungen aus dem DAV. Besprechung im preußischen Unterrichtsministerium, 13.3.1926, in: HG 37 (1926), S. 247. 448 August, W.: Erste Tagung des Landesverbandes Ostpreußen des Deutschen AltphilologenVerbandes am 1. Oktober in Elbing, in: HG 36 (1925), S. 200–201, auf S. 201, Gründung einer Ortsgruppe in Hamburg. 449 Vgl. Vorstandssitzung des Altphilologenverbandes in Berlin, 9./10.10.1926, in: HG 37 (1926), S. 251–252; Gohlke, Paul: Die Verteidigung des humanistischen Gymnasiums, in: DPB 34 (1926), S. 569–572, hier S. 569. 450 Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 40. 451 Ebenda. 452 Ebenda, S. 42.
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sich bereits bei der Reichsschulkonferenz 1920 als Konsens herausgebildet hatte, nämlich die Verlagerung von der aktiven Sprachbeherrschung des Lateinischen auf die Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche. Als praktische Konsequenz ordnete man die Abschaffung des lateinischen Skriptums, einer Übersetzung ins Lateinische, als Abiturprüfung an.453 Dies kam keineswegs aus dem Nichts, sondern war schon recht lange, auch von einigen Altphilologen, gefordert worden.454 Somit konnte die Unterrichtsverwaltung auch die Stundenkürzung im Lateinunterricht rechtfertigen, weil nun nicht mehr so viel Zeit auf das Einüben stilistischer Raffinessen gelegt werden musste. Diese Entscheidung der Unterrichtsverwaltung traf bei den Vertretern des Gymnasiums weitgehend auf Zustimmung.455 Der Wegfall des Skriptums sei zwar „schmerzvoll“,456 aber man würde ihn, „wenn auch nicht ohne Bedenken“,457 akzeptieren. Auch die Kürzung der Lateinstunden könne unter diesen Umständen toleriert werden.458 Innerhalb der Altphilologenschaft waren „die Ansichten geteilt“, was die Bestimmungen der Denkschrift für ihre Fächer anbelangte.459 Otto Immisch beispielsweise war kein Befürworter der Übersetzung ins Deutsche, weil gerade die Übersetzung von Poesie „zu geradezu barbarischen Produkten Veranlassung gibt, mit denen verglichen auch das fehlerhafteste Skriptum noch erträglich scheint“.460 Auch Bayern und Baden hielten „unter allen Umständen“ am Skrip-
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Vgl. ebenda, S. 41f. Siehe oben Kapitel II.1.3.3; 1.5.3; Besprechung im Reichsschulausschuß, zw. 1920–1922, GStAPK, Gen. b, Nr. 30, Bd. 1, Bl. 319. Vgl. Schuster, D.: Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums, in: Deutsche Stimme 37 (1925), S. 195–201, hier S. 198, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 15, Bl. 41–44; Pflug, Karl: Die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 111– 120, hier Bl. 116; Dr. Rhenius an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 11.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 139–140; Groeger, M.: Die Reform des höheren Schulwesens und das klassische Altertum, in: DPB 32 (1924), S. 174–176, hier S. 175; Holst, H.v.: Der griechische Unterricht nach den preußischen Richtlinien, in: DPB 34 (1926), S. 35–38, hier S. 36; Krüger, Max: Die alten Sprachen, in: Internationale Jahresberichte für Erziehungswissenschaft 1 (1925), S. 69–79, hier S. 71. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 2: Boelitz an Immisch, 24.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 111–115, hier S. 112. Erklärung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Frankfurt a. M. und den Nachbarstädten, in: HG 35 (1924), S. 115–117, hier S. 115. Vgl. Ministerialdirektor Jahnke mit Anstaltsleitern der Provinz Niederschlesien, 26.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 269–277, hier Bl. 274 und 274RS. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 1: Immisch an Boelitz, 9.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 110–111, hier S. 110. Pro Skriptum in Abiturprüfung auch Oberstudiendirektor Boesch bei Gymnasialtagung, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 133. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 1: Immisch an Boelitz, 9.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 110–111, hier S. 110.
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tum fest461 – Württemberg hingegen schaffte es ebenfalls ab.462 Hier tritt der Unterschied zwischen den nördlichen und den südlichen Ländern bei den Forderungen nach vermeintlich härteren Standards deutlich zu Tage. Die Diskussion um das Skriptum spiegelt sich auch in den Wünschen des DAV zur Neuregelung der Reifeprüfung wider, die er Ende 1925 veröffentlichte. Hier hatte man sich für die Prüfungsarbeit im Lateinischen auf folgenden Kompromiss geeinigt: „Eine Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche oder eine Übersetzung ins Lateinische nach Wahl des Prüflings.“ In einer ergänzenden Fußnote wurde vermerkt, dass Bayern und Baden am Skriptum festhielten und dass der Vorstand „[n]ur im Hinblick auf die herabgesetzte Stundenzahl in Preußen [. . .] diese weitergehende Forderung vorläufig unberücksichtigt lassen“ musste.463 Die Hochschulen sahen in der Abschaffung des Skriptums eine „Tendenz zur Erleichterung des Unterrichts“ und konnten dies daher weniger gutheißen.464 Rein didaktisch stellte sich nach der Abschaffung des Skriptums die Frage, ob, und wenn ja, welche Rolle das Übersetzen ins Lateinische im Unterricht haben sollte.465 Die meisten Altphilologen wollten das sogenannte Hinübersetzen beibehalten, denn „für den sicheren und raschen Fortgang der Lektüre“466 sei dies die beste Übung, wenn das Übersetzen aus dem Lateinischen „nicht zum Raten [. . .] statt zum Kombinieren“467 werden solle. Außerdem verlange das Hinübersetzen „Aufhellung eines einzelnen Falles vom Ganzen der Regel her“ und sei somit „ein Denkprozess, der sich in den verschiedensten Lagen des
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Deutscher Altphilologen-Verband, 18.12.1925, in: HG 37 (1926), S. 31; Erklärung Badischer Landesverband der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 35 (1924), S. 117– 118, hier S. 118; Regenbogen, Otto: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 144–161, hier S. 150. Bucherer, Fritz: Zur Lage, in: HG 36 (1925), S. 16–24, hier S. 22. Deutscher Altphilologen-Verband, 18.12.1925, in: HG 37 (1926), S. 31. Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, hier Bl. 160. Vgl. Einzelfragen zu den Fächern, 5.12.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 153–163, hier Bl. 155; vgl. Richtlinien, S. 97, 100. DAV an Ministerium für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft, 25.4.1926, in: HG 37 (1926), S. 122–123, hier S. 123. Vgl. auch Vortrag von Oberstudiendirektor Boesch bei Gymnasialtagung: Vom Werte der Übersetzung ins Lateinisch, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gynasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 133. Groeger, M.: Die Reform des höheren Schulwesens und das klassische Altertum, in: DPB 32 (1924), S. 174–176, hier S. 175. Ähnlich auch Erklärung Badischer Landesverband der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 35 (1924), S. 117–118, hier S. 118: „[. . .] so ist sie als Übungsarbeit [. . .] schlechterdings unentbehrlich, wenn nicht das Übersetzen aus dem Lateinischen allmählich in ein wildes Erraten des ungefähren Sinnes ausarten und damit pädagogisch völlig wertlos, ja schädlich werden soll.“
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geistigen Lebens wiederholt.“468 Das könne die Übersetzung ins Deutsche nicht leisten. Otto Immisch erklärte zudem, es sei etwas durchaus Unnatürliches, daß ein neun- und sechsjähriger Sprachunterricht mit relativ hoher Stundenzahl zum Schlußergebnis haben soll, daß man sich in diesen Sprachen weder schriftlich noch mündlich ausdrücken kann.469
Eine weitere Frage, die hierbei mitschwang, war die Frage nach dem Wert des Grammatikunterrichts. War Grammatik nur noch Mittel zum Zweck, nämlich ein Instrument zur Lektüre, oder hatte sie einen eigenen Bildungswert? Auch wenn der Lateinmethodiker Max Krüger der Meinung war, sie sei nicht „Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck“,470 waren die meisten Altphilologen eher folgender Meinung: Der Betrieb der Grammatik und die planmäßige Hinübersetzung widersprechen dem modischen Irrationalismus, an dessen einseitiger Betonung eben die preußische Schulreform krankt, aber sie lehren die Andacht zum Kleinen, zur Gründlichkeit und schärfen die Urteilskraft.471
Grammatikunterricht sei „Zuchtmittel für das Denken“472 und gerade Wilhelm von Humboldt habe die „Sprache für die zentrale Sonne des humanistischen Unterrichts gehalten“,473 weswegen man auf den Grammatikunterricht nicht verzichten wollte. Auch wenn die deutsch-lateinische Übersetzungsübung fester Bestandteil des Lateinunterrichts, auch am Realgymnasium, blieb,474 hatte sich
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Bericht aus Freiburg, in: HG 37 (1926), S. 120–121: Otto Immisch hielt einen Vortrag „Über das Recht der Grammatik im altsprachlichen Unterricht“, Zitat S. 120. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 1: Immisch an Boelitz, 9.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 110–111, hier S. 110. Vehement gegen Stilübungen ist Kroll, W.: Lateinisches Skriptum und Übersetzung, in: HG 36 (1925), S. 188– 189; als Erwiderung Eugen Grünwald, der sich „den resignierenden Schlußfolgerungen Krolls“ nicht anschließen möchte, in: HG 36 (1925), S. 189–191. Ebenfalls gegen die Übersetzung ins Lateinische Dahms, R.: Die neuen preußischen „Richtlinien“ und die alten Sprachen auf dem Gymnasium, in: DPB 33 (1925), S. 600–602, hier S. 601. Krüger, Max: Die alten Sprachen, in: Internationale Jahresberichte für Erziehungswissenschaft 1 (1925), S. 69–79, hier S. 73. Bericht aus Freiburg, in: HG 37 (1926), S. 120–121: Otto Immisch hielt einen Vortrag „Über das Recht der Grammatik im altsprachlichen Unterricht“, Zitat S. 120. Ähnlich auch Schuster, D.: Die Zukunft des humanistischen Gymnasiums, in: Deutsche Stimme 37 (1925), S. 195–201, hier S. 198, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 15, Bl. 41–44. Holst, H.v.: Der griechische Unterricht nach den preußischen Richtlinien, in: DPB 34 (1926), S. 35–38, hier S. 36. Bericht aus Freiburg, in: HG 37 (1926), S. 120–121: Otto Immisch hielt einen Vortrag „Über das Recht der Grammatik im altsprachlichen Unterricht“, Zitat S. 121; ähnlich auch Bohlen: Auswirkungen der preußischen Schulreform, S. 38f. Vgl. PSK Pommern an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 13.5.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 64–66RS, hier 64–64RS.
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das „Herübersetzen“, also die Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche, als Hauptziel durchgesetzt.475 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Altphilologen durchaus Zugeständnisse für die Stärkung des kulturkundlichen Unterrichts machten, sich aber nicht gänzlich vom formalen Grammatikunterricht lossagten. Exemplarisch für diese Haltung sind die Worte Werner Jaegers, die ein Protokoll einer Besprechung im Unterrichtsministerium dokumentiert: Jaeger riet, die selbstherrliche Stellung des Sprachunterrichts zugunsten der Lektüre zurückzudrängen. Er macht darauf aufmerksam, dass man deswegen aber nicht einseitig werden darf: wenn die Schule auch die Fertigkeit in der Mechanik des sprachlichen Ausdrucks aufgeben muss, so darf sie doch auf ein möglichstes Sprachverständnis nicht verzichten; nur so ist eine wirkliche Erfassung der Kulturwerte zu erreichen; denn besonders im Griechischen ist sprachliche Form und geistiger Gehalt des Kunstwerks unlöslich miteinander verbunden.476
Dabei spielten natürlich auch die Bedenken eine Rolle, dass sich die Einstellung durchsetzen könnte, dass es ausreiche, antike Klassiker in deutscher Übersetzung zu lesen.477 Immerhin machten die Richtlinien klar, dass „[g]ute deutsche Übersetzungen [. . .] als Hilfsmittel reichlich verwendet werden“ könnten.478 Paul Gohlke nannte den „Nachweis, daß man mit Übersetzungen das Ziel [Persönlichkeiten zu formen; AK] nicht erreichen kann“, als „wichtigste Angelegenheit unserer ganzen Verteidigung.“479 Und auch Professor Otto Hoffmann bekundete: „Wir müssen unsere Schüler wieder zu der Erkenntnis führen,
475 476
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Vgl. auch Poske, Friedrich: Schule und Bildungsideal, in: Der pädagogisch-akademische Tag, 19.1.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6. Verhandlung im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volkswissenschaft, 10.12.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 165–181, hier Bl. 179–180; ähnlich auch Aussage Jaeger: „Er möchte verhindert sehen, daß die grammatische Bildung auf der Oberstufe vernachlässigt werde“, Sitzung am 30./31.1.1925: Besprechung über die Stoffverteilung der neuen Lehrpläne, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 213–221, hier Bl. 214. Dass das ganze Thema eine wirklich breite Diskussion erfuhr, sogar in der Tagespresse, siehe Burgstaller: Gedanken über das humanistische Gymnasium, in: Reichspost, 6.6.1926, S. 19. Vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 132f., Vortrag Otto Regenbogen: Original oder Übersetzung?; Regenbogen, Otto: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 144–161, hier S. 153; Dahms, R.: Die neuen preußischen „Richtlinien“ und die alten Sprachen auf dem Gymnasium, in: DPB 33 (1925), S. 600–602, hier S. 602. Alle hier erwähnten sind gegen die Verwendung von Übersetzungen. Richtlinien, S. 104; Kranz kritisiert in seinen Erläuterungen das Wort reichlich, ist aber generell einverstanden, Übersetzungen als Hilfsmittel zu verwenden, vgl. Kranz: Die neuen Richtlinien, S. 62–64. Gohlke, Paul: Die Verteidigung des humanistischen Gymnasiums, in: DPB 34 (1926), S. 569–572, hier S. 571.
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daß das Lesen der Originale unentbehrlich ist, um die Seele eines Volkes zu erfassen.“480 Obwohl das kulturkundliche Element und damit die Betonung der Lektüre im altsprachlichen Unterricht einen außerordentlichen Zuwachs erfuhren, brachte die Auswahl der Lektüre keine revolutionären Neuerungen. Auch die Forderung nach der Lektüre von Tacitus’ Germania war nicht stärker als zu Zeiten der Reichsschulkonferenz.481 Auffälliger war die Forderung nach mehr mittellateinischen Autoren, da man glaubte, so den Gegenwartsbezug besser herstellen zu können.482 Allerdings kritisierte dies bereits 1926 der DAV recht heftig, weil „durch die Einführung der lateinischen Literatur des Mittelalters ein so bedeutsamer Vertreter des Römertums wie Vergil in vielen Anstaltsplänen seinem Nachahmer Ekkehard das Feld hat räumen müssen“.483 Hieran erkennt man, dass die führenden Altphilologen dem klassischen Latein sehr verbunden 480
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Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 134, Vortrag Hoffmann: Die Ziele des lateinischen und griechischen Sprachunterrichts. Dabei bezogen sie sich weitestgehend auf den Griechischunterricht, was darauf hindeutet, dass vor allem dieser in der Gefahr stand, ersetzt zu werden, bzw. sein Dasein rechtfertigen musste, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 132f., Vortrag Otto Regenbogen: Original oder Übersetzung?; Gohlke, Paul: Die Verteidigung des humanistischen Gymnasiums, in: DPB 34 (1926), S. 569–572, hier S. 571. Groeger, M.: Die Reform des höheren Schulwesens und das klassische Altertum, in: DPB 32 (1924), S. 174–176, hier S. 175; Samter, Ernst: Lateinunterricht und Deutschkunde, in: MfHS 25 (1926), S. 41–52, vor allem S. 44f.; Ott: Die höhere Schule; Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier 115. Kappus dagegen hält die Germania für Primaner „fast noch zu schwer“, vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 131; ähnlich auch Sitzung am 30./31.1.1925: Besprechung über die Stoffverteilung der neuen Lehrpläne, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 213–221, hier Bl. 219: Philologenverband hält die Lektüre der Germania in OII für „verfrüht“. Vgl. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 131; Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 98; Reichsschulausschuß, Bemerkungen zu den Stundentafeln, GStAPK, Gen. b, Nr. 30, Bd. 1, Bl. 319; Verhandlung im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volkswissenschaft, 10.12.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 165–181, hier Bl. 180: Prof. Jaeger zu der Frage, ob man mittelalterliches Latein betreiben sollte: „[. . .] ist trotz mancher Bedenken dafür; allerdings wird das klassische Latein wegen der formenden Kraft, die ihm zukommt, immer im Mittelpunkt des Unterrichts stehen bleiben.“ DAV an Ministerium, 25.4.1926, in: HG 37 (1926), S. 122–123; ähnlich auch Bucherer, Fritz: Zur Lage, in: HG 36 (1925), S. 16–24, hier S. 17: Kritik an der Ausdehnung auf das Mittellatein, „wenn der feste Grund des Ciceronianischen Lateins wankt“. Vgl. auch PSK Schleswig an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 24.8.1927: Erklärung der Teilnehmer an der Altsprachlichen Woche in Kiel: stehen mittelalterlichem Latein skeptisch gegenüber; vgl. Mitteilungen aus dem DAV, Sitzung der Großberliner Altphilologen, 22.10.1925, Vortrag Mackensen: Der Anstaltslehrplan im Lateinischen für die Mittelund Oberstufe des Realgymnasiums alten Stils, in: HG 37 (1926), S. 30; Regenbogen: Besprechung, S. 82; Borucki, Joseph: Wozu Latein am Realgymnasium?, in: DPB 39 (1931),
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blieben, denn laut Werner Jaeger sei „entscheidend für den Bildungswert der römischen Antike [. . .] die Augusteische Zeit“.484 Konzentration und Arbeitsunterricht
„Konzentration“ und „Arbeitsunterricht“ waren die beiden methodischen „Grundpfeiler [. . .]“ der neuen Lehrpläne.485 Beide Grundsätze waren nicht neu, setzen sich im Zuge der Reform aber flächendeckend als erstrebenswert durch.486 Die Unterrichtsverwaltung argumentierte damit, dass man vor allem mit Hilfe der Konzentration die Stundenkürzungen in einzelnen Fächern kompensieren könnte.487 Konzentration meinte, thematische „Querverbindungen“ zwischen den einzelnen Fächern zu schaffen, so dass die gemeinsame Arbeit an einem Thema zu Synergieeffekten führen würde.488 Hier gab es zahlreiche Vorschläge, wie der altsprachliche Unterricht zu den neueren Sprachen, zu Geschichte und Religion, zum Deutschen, aber auch zu den mathematischnaturwissenschaftlichen Fächern Verbindungslinien ziehen könnte.489 Auch innerhalb des altsprachlichen Unterrichts könne man beispielsweise den Lektüreunterricht „unter die Einheit einer Idee“ stellen490 oder etwa mit dem Thema „Der Mensch und der Staat“ Griechisch, Latein und Deutsch verbinden, indem man Texte von Cicero, Horaz, Livius, Platon, Aristoteles, Kleist, Hebbel und Keller lese und vergleiche.491 Generell biete sich der Deutschunterricht als Partnerfach zur Konzentration an, denn der altsprachliche Unterricht
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S. 164–167, hier S. 167: „Aber ebenso zweifellos und wenig verwunderlich ist es, daß sehr viele Altsprachler diese Entwicklung innerlich nicht mitgemacht haben und beim Mittelalter nicht das mitschwingen hören, was besonders die Jugendbewegung [. . .] neu erfühlt hat: die Bande des Volkstums und der Volkstümlichkeit, die uns mit ihm verbindet und die der Antike und den Humanisten gegenüber fehlt.“ Sitzung am 30./31.1.1925: Besprechung über die Stoffverteilung der neuen Lehrpläne, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 213–221, hier Bl. 214. Zur Entwicklung des Lektürekanons an den Schulen, vgl. Flöter: Eliten-Bildung, S. 176–183. Siehe dazu auch Kapitel II.3.2.2; III.3.2; IV.1.3. Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 23; Neuordnung der preußischen höheren Schule, S. 10, 22; Richtlinien, S. 4–9; Bohlen: Auswirkungen, S. 36–106. Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 25; vgl. auch Strohmeyer/Münch/Grabert: Der neue Unterricht in Einzelbildern, S. 4; Hartke: Arbeitsunterricht, S. V. Vgl. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 22. Lisco: Arbeitsunterricht, S. 17. Vgl. Bohlen: Auswirkungen, S. 41–43; Einzelfragen zu den Fächern, 5.12.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 153–163, hier Bl. 155: „Wie weit können altsprachlicher Unterricht und Unterricht in der alten Geschichte konzentriert werden?“ Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 130, Vortrag Kappus: Richtlinien und Ideen für die Auswahl griechischer und lateinischer Lektüre. Vgl. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 114.
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diene in kultureller Hinsicht auch „dem besseren Verständnis unseres eigenen Volkstums“ und in formaler Hinsicht durch „strenge grammatische Schulung“ und Übersetzungsübung der Beherrschung der Muttersprache.492 Hier stimmten die Altphilologen größtenteils mit den Vorschlägen in den Richtlinien überein.493 Insgesamt fühlten sich die Altphilologen dem Grundsatz der Konzentration sehr verbunden, denn immerhin ginge er auf Platon zurück494 und das neuhumanistische Gymnasium besäße „in seinem Ursprung eine ideale Konzentration“.495 Das Prinzip des Arbeitsunterrichts wollte sich zur Aufgabe machen, „die selbstschöpferischen Kräfte des Schülers zu wecken“.496 Auch damit verbanden die Altphilologen die Ideen Wilhelm von Humboldts und Platons und konnten sagen, dass sie mit angeblich neuen Methoden „an alte, beste humanistische Überlieferungen“ anknüpfen würden.497 Otto Immisch beschwerte sich überhaupt, dass die Reformer nicht erkannt hätten, welche „fruchtbaren Methoden und Aufgabenstellungen“ die Altphilologen bereits entwickelt hätten, um ihren Unterricht zu modernisieren.498 In der Tat warteten einige Fachvertreter neuerdings mit Ideen auf, ihren Schülern „[v]ergnügte Lateinstunden“ zu bereiten.499 Einer kleinen Umfrage zufolge sei „die ursprüngliche freudige Teilnahme am Lateinunterricht“ zwischen Sexta und Oberprima „von 52 % auf 6 % gesunken“. Dem wollte man entgegenarbeiten.500 In der Tat schrieben die Richtlinien noch stark gegen den altsprachlichen Unterricht des grammatischen und stilistischen Drills an,501 den die Altphilologen aber bereits bei der Reichsschulkonferenz zu bekämpfen versprochen hatten. Dass die Denkschrift immer noch darauf hinwies, deutet darauf hin, dass sich die neuen Ideen der Altphilologen vermutlich noch nicht flächendeckend in der Praxis durchgesetzt hatten. Das Konzept des Arbeitsunterrichts gab kreativen Unterrichtsideen einigen Spielraum. Es verlangte beispielsweise den „weitgehenden Verzicht auf die im eigentlichen Sinne lehrende Haltung des Lehrers zugunsten schöpferischer 492 493 494 495 496 497 498
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Samter, Ernst: Lateinunterricht und Deutschkunde, in: MfHS 25 (1926), S. 41–52, hier S. 41–43; Wecker: Übersetzen als Mittel deutscher Stilbildung, S. 52f. Vgl. Richtlinien, S. 94, 100–112. Vgl. Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 47. Bohlen: Auswirkungen, S. 36. Vortag Georg Rosenthal: Arbeitsunterricht im altsprachlichen Unterricht, in: Bohlen, Auswirkungen, S. 71; vgl. auch Lisco: Arbeitsunterricht, S. 4. Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 47, vgl. auch Lisco: Arbeitsunterricht, S. 5. Vgl. Immisch, Otto: Zur Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 36 (1925), S. 14–15. Ähnlich auch Grünwald, Eugen: Der neue Unterricht, in: HG 39 (1928), S. 226–229. Vergnügte Lateinstunden, in: Königsberg Hartung’sche Zeitung, 15.11.1926, BA BerlinLichterfelde, R 4901/4341, Bl. 59. Lisco: Arbeitsunterricht, S. 6; Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 24. Vgl. Richtlinien, S. 94f., 99.
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Erkenntnisakte des Schülers“, weswegen beispielsweise die „Schülerfrage“ ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts wurde.502 Ein weiterer Vorschlag in diese Richtung war, dass ein Schüler seine Übersetzung samt Interpretation ohne Unterbrechung vorstellen und danach mit den anderen Schülern diskutieren sollte, wobei sich der Lehrer völlig zurückhalten sollte.503 Dem Arbeitsunterricht entsprach auch der Grundsatz der grammatischen Induktion, bei der die Schüler die Regeln der lateinischen Grammatik durch Beispiele selbst entwickelten.504 Gerade in den Anfangsjahren des Gymnasiums seien die Schüler noch im Stadium „des naiven Erlebens“,505 weswegen man den Lateinunterricht „zum fröhlichen Spiel gestalten“ sollte.506 Ein Lateinlehrer veranstaltete beispielsweise regelmäßig ein „Kopfballwettspiel“, denn Sport ginge „den Jungen über alles“. So wurde unter anderem die „Klassenmeisterschaft um das Kapitel ‚Unregelmäßige Verben der 2. Konjugation‘ ausgetragen“.507 Weitere Motivation erhoffte man sich dadurch, dass Latein wie „eine lebende Umgangssprache“508
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Lisco: Arbeitsunterricht, S. 8f., 18: Vorschlag, bei freiwilligen Arbeitsgemeinschaften mit Schülern um einen Tisch zu sitzen. „Denn wie ein rein dozierendes Verhalten des Lehrers sich nur allzu leicht ergibt, wenn es ex cathedra spricht, so pflegt die äußerliche Gleichberechtigung der an einem Tisch Sitzenden am Fortfallen von Schranken zwischen Schülern und Lehrern mitzuwirken.“ Ähnlich auch PSK Pommern an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 13.5.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 64–66RS, hier 65: „Er [der Lehrer] ist nicht ungeschickt, vor allem pflegt er die Schüler selbst viel fragen zu lassen.“ Vgl. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 91. Ähnlich auch Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 130., Vortrag Bruhn: Das Gymnasium als Arbeitsschule; Hartke: Arbeitsunterricht. Dies wurde teilweise auch wirklich umgesetzt, vgl. Strohmeyer/Münch/Grabert: Der neue Unterricht in Einzelbildern, S. 86–92: Unterrichtsstunde von Studienrat Ernst Gerstenberg; Zeichner: Vom Wesen und Wert des lateinischen Arbeitsunterrichts. Vgl. Richtlinien, S. 91; Vortag Georg Rosenthal: Arbeitsunterricht im altsprachlichen Unterricht, in: Bohlen, Auswirkungen, S. 74; Zeichner: Vom Wesen und Wert des lateinischen Arbeitsunterrichts, S. 4. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 128, Vortrag Kranz: Die Jugend und die Antike. Ähnlich auch Hermann Hadlich: Die künftige Verteilung des Geschichtslehrstoffes in den höheren Schule, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 124–135, hier Bl. 135. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 128, Vortrag Kranz: Die Jugend und die Antike. Rühlemann, Martin: Einige Winke für den lateinischen Unterricht in Quinta nach dem Ludus Latinus II, in: MDAV 6, Heft 1/2 (1932), S. 11–13, hier S. 13. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 128, Vortrag Kranz: Die Jugend und die Antike; ähnlich ebenda, S. 134, Vortrag Otto Hoffmann: Die Ziele des lateinischen und griechischen Sprachunterrichts; Borucki, Joseph: Neue Wege der Spracherlernung in Latein und Griechisch?, in: MfHS 29 (1930), S. 670–673.
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gelehrt werde: mittels „Frage-Antwortspiel in lateinischer Sprache“,509 durch das Nacherzählen von zuvor gehörten lateinischen Geschichten510 oder das mimische Vorlesen eines lateinischen Textes.511 Dabei vertrat vor allem Georg Rosenthal die Ansicht, dass die Schüler von Beginn an „zum wirklichen Lesenkönnen“ des Lateinischen erzogen werden müssten.512 Das Lateinische sollte wie „die Muttersprache auf dem naturgemäßen Wege durch das Ohr dem Geist vertraut werden“.513 Auch wenn vielen das Anwenden der „direkten Methode“, das Verwenden der Fremdsprache als Unterrichtssprache, wie es sich bei den Neusprachlern durchzusetzen begann,514 nicht angemessen erschien,515 waren sich die Altphilologen weitestgehend einig, dass das Hauptziel des Unterrichts das Verständnis der Lektüre sein sollte.516 Einige sahen in dieser „Forderung der Lebensnähe“ allerdings „auch eine Gefahr“. Denn das Wichtigste im altsprachlichen Unterricht „ist der Fleiß. Per aspera ad astra.“517 Äußerst kritische Stimmen kamen diesbezüglich auch aus Bayern. Vor allem an den Methoden Rosenthals wurde Kritik geübt.518 Zwei weitere Themen beschäftigten die didaktischen Diskussionen der Zeit. Das eine war die richtige Aussprache des Lateinischen. Hier gaben die Richtlinien zwar wenige Regeln vor, dass aber „c wie k“ ausgesprochen werden sollte, sorgte dafür, dass die Regelung im Allgemeinen ein ungewöhnlich hohes Maß 509 510 511 512
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Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 37 (1926), S. 127–136, hier S. 130, Vortrag Bruhn: Das Gymnasium als Arbeitsschule. Vortag Georg Rosenthal: Arbeitsunterricht im altsprachlichen Unterricht, in: Bohlen: Auswirkungen, S. 73; ähnlich auch Vorschläge in Richtlinien, S. 99, 103. Bericht des Oberschulrats Dr. Wehynand über die Unterrichtsmethoden des Studienrats Breywisch, 1935, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 316–330, hier 318 RS. Rosenthal, Georg: Vom neuen Sinn des Lateinlernens, in: MfHS 25 (1926), S. 52–55, hier S. 54; vgl. auch Lisco: Arbeitsunterricht, S. 6. Vgl. dazu auch Fritsch: Vom „Scriptum“ zum „Lesenkönnen“, S. 11–16. Lisco: Arbeitsunterricht, S. 13; vgl. auch Rosenthal: Lebendiges Latein, S. 8–19; Vortag Georg Rosenthal: Arbeitsunterricht im altsprachlichen Unterricht, in: Bohlen, Auswirkungen, S. 73; vgl. Rosenthal, Georg: Vom Lateinsprechen im Unterricht, in: MfHS 27 (1928), S. 13–18. Vgl. Ehrke, Karl: Grundfragen des neusprachlichen Schulunterrichts, in: DNS 40 (1932), S. 287–299, v. a. S. 296f. Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 46. Vgl. ebenda; Lisco: Arbeitsunterricht, S. 11f.; Krüger, Max: Die alten Sprachen, in: Internationale Jahresberichte für Erziehungswissenschaft 1 (1925), S. 69–79, hier S. 72; Kroymann, Emil: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 129–144, hier S. 132. Becker, Wilhelm: Lebensnähe, in: HG 37 (1926), S. 119; ähnlich auch Ein Vater über die Richtlinien, in: HG 36 (1925), S. 182–183. Vgl. Lurz: Die alten Sprachen und die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen, in: MDAV 1 (1927), S. 21–24. Rosenthals Ideen konnten sich innerfachlich nicht wirklich durchsetzen. Sie erfuhren erst in den 1980er Jahren eine gewisse Renaissance, vgl. Schulz: Lebendiges Latein, S. 2.
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an Reaktionen hervorrief.519 Das zweite war die Frage danach, ob und inwieweit das Arbeiten mit Wörterbüchern im altsprachlichen Unterricht erlaubt werden sollte. Auch hier waren die Richtlinien liberaler als die führenden Altphilologen, weil die Richtlinien den Gebrauch des Lexikons gestatteten.520 Die Altphilologen lehnten dies größtenteils ab.521 Es führe nämlich „zu Zeitverdrödelung durch die Schüler und damit zu Zeitmangel und schlechter Leistung“.522 Diese zahlreichen Beispiele zeigen unter anderem, dass der altsprachliche Unterricht zu didaktischer Innovation fähig war. Die methodischen Neuerungen der Richert’schen Reform wurden nicht per se abgelehnt, sondern – zumindest in der theoretischen Auseinandersetzung – mit Leben gefüllt. Denn viele Ideen waren nicht gänzlich neu, sondern waren schon zu Beginn der 1920er Jahre diskutiert worden. Dass sie immer wieder vorgebracht werden mussten, könnte jedoch darauf schließen lassen, dass sich die neuen Ideen im tatsächlichen Unterricht noch nicht durchgesetzt hatten. Ideelle Grundlagen: Werner Jaeger und der Dritte Humanismus
Die Neuausrichtung des altsprachlichen Unterrichts bedurfte einer ideellen Grundlage. Diese fanden die Altphilologen in Werner Jaegers „Erneuertem“ oder „Drittem Humanismus“. Die intellektuelle Bewegung, die als „Dritter Humanismus“ bezeichnet wird, füllte bereits in Weimarer Zeit Regalmeter und vermutlich füllte die im weitesten Sinne ideengeschichtliche Beschäftigung damit 519
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Richtlinien, S. 95; dazu auch Kranz: Die neuen Richtlinien, S. 72–74. Vgl. Einzelfragen zu den Fächern, 5.12.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 153–163, hier Bl. 155; Verhandlung im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volkswissenschaft, 10.12.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 165–181, hier Bl. 180; Dahms, R.: Die neuen preußischen „Richtlinien“ und die alten Sprachen auf dem Gymnasium, in: DPB 33 (1925), S. 600–602, hier S. 602; Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 47; Lateinische Revolution, in: Der Tag, 29.9.1925, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 53; „Kivilisation“?, in: DPB 36 (1928), S. 76; „Kivilisation“?, in: Schlesische Zeitung, 28.3.1928; Krüger, Max: Die alten Sprachen, in: Internationale Jahresberichte für Erziehungswissenschaft 1 (1925), S. 69–79, hier S. 72; Listmann, Karl: Hessische Altphilologen-Tagung, in: MDAV 2 (1928), S. 39–42, hier S. 40; Oberbürgermeister von Königsberg an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 8.5.1930, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 226; Matthaei, Hans.: Der wahre Sinn der lateinischen Aussprachereform, in: HG 41 (1930), S. 156–160. Vgl. Richtlinien, S. 100. Deutscher Altphilologenverband, 18.12.1925, in: HG 37 (1926), S. 31. Dahms, R.: Die neuen preußischen „Richtlinien“ und die alten Sprachen auf dem Gymnasium, in: DPB 33 (1925), S. 600–602, hier S. 601. Dafür beispielsweise Harries: Der Gebrauch des Lexikons im altsprachlichen Unterricht, in: MDAV 6 (1932), S. 3–6; vgl. Lurz: Die alten Sprachen und die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen, in: MDAV 1 (1927), S. 21–24. Dafür auch Ewald Bruhn in seinen Ausführungen über altsprachliche Didaktik, was Fritz Bucherer in seiner Besprechung dieses Werkes aber strikt ablehnt, vgl. Bucherer, Fritz: Zur Methodik des altsprachlichen Unterrichts, in: HG 42 (1931), S. 208–216, hier S. 208.
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noch einmal so viele.523 Dem „Terminus“ liegt eine ungeheure „Bedeutungsvielfalt“ zugrunde, die für Barbara Stiewe dafür verantwortlich ist, dass er nach seiner Blütezeit in den 1920/30er Jahren in den Geisteswissenschaften kaum mehr verwendet wurde. „Einzig innerhalb der Altertumswissenschaften [. . .] ist er noch präsent, wohl auch, weil es hier zu einer einheitlichen Bestimmung gekommen ist[. . .].“524 Daher spielt für diese Arbeit zunächst nur die spezifisch altertumswissenschaftliche Ausprägung eine Rolle. Dieser altphilologische „Dritte Humanismus“ ist unauflöslich mit dem Namen Werner Jaeger verbunden. Der Berliner Altphilologe hatte seit dem Ersten Weltkrieg eine „politische [. . .] Bildungskonzeption“ entwickelt,525 für die zwei Punkte charakteristisch sind: Zum einen müsse die Bildung des Individuums zurücktreten hinter der Orientierung an Staat und Gesellschaft. Zum anderen hätten die Griechen – „das Bildungsvolk der Menschheit“526 – das Idealbild einer solchen Bildung erreicht, weswegen sie als Maßstab gesetzt wurden.527 Als Referenztext für Jaegers Humanismusvorstellung gilt der Aufsatz „Antike und Humanismus“, den er als Rede auf der Gymnasialtagung gehalten hatte. Jaeger selbst verwendete zunächst gar keinen speziellen Begriff für sein Humanismuskonzept, später allerdings sprach man häufig von „neuem“ oder „erneuertem Humanismus“.528 Der Begriff „Dritter Humanismus“ stammt vom Pädagogen Eduard Spranger, der ihn zum ersten Mal 1921 bei einem Vortrag für die „Freunde des humanistischen Gymnasiums“ gebrauchte.529 Otto Immisch wiederum war vermutlich der erste, der Jaegers Humanismus als „Dritten Humanismus“ bezeichnete.530 Dass viele Referenztexte des „Dritten Humanismus“ im Zusammenhang mit der Verteidigung des Gymnasiums entstanden, deutet darauf hin, dass der „Drit523
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Vgl. Stiewe: Dritter Humanismus; Kipf: Paideia; Follak: Aufblick zur Idee, S. 116–150; Schmidt: Werner Jaegers „Dritter Humanismus“; Mehring: Humanismus; Fritsch: Dritter Humanismus und Drittes Reich; Fritsch: Rückblick; Calder: Werner Jaeger Reconsidered; Groppe: Die Macht der Bildung, S. 640–650. Stiewe: Dritter Humanismus, S. 6f. Die unklare Begriffsbezeichnung hat zeitgenössisch bereits der ehemalige preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker aufgezeigt und seine verschiedenen Bedeutungsfacetten ausgearbeitet, vgl. Becker, Carl Heinrich: Der dritte Humanismus, in: Vossischer Zeitung, 25.12.1932, Morgenausgabe, S. 2–3. Stiewe: Dritter Humanismus, S. 7. Jaeger: Antike und Humanismus, S. 13 Vgl. Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 880. Vgl. Jaeger: Humanismus als Tradition und Erlebnis, S. 10: hier spricht er von „einem neuen lebendigen Humanismus“. Vgl. Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 878; Stiewe: Dritter Humanismus, S. 4. Vgl. Fritsch: Dritter Humanismus und Drittes Reich, S. 161; Stiewe: Humanismus, S. 4. Meister, Richard: Bildungsziel des altsprachlichen Unterrichts, in: MDAV 1 (1927), S. 65– 70, hier S. 67; vgl. Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 878. Albert Rehm verwendete hingegen in seiner Münchner Antrittsvorlesung 1931 nur den Begriff „erneuerter Humanismus“ für Jaegers Konzept, wohingegen Karl Rupprecht, der Rehms Rede rezensierte, beide Begriffe verwendete. Vgl. Rehm: Neuhumanismus, S. 7; Rupprecht: Rezension, S. 183.
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te Humanismus“ gerade für die Entwicklung und das Selbstverständnis des Gymnasiums und seiner Vertreter besonders wichtig war. Die Ordnungszahl ist dadurch zu erklären, dass man nach dem Renaissance-Humanismus des 14./15. Jahrhunderts und dem Neuhumanismus um 1800 nun in ein drittes Stadium der Antikerezeption eintrete.531 Der „Dritte Humanismus“ gehörte mit seinem „elitäre[n] und idealistische[n] Herrschaftsbegriff “532 sicherlich zu „den antimodernen und den – zumindest indirekt – antidemokratischen Strömungen der Weimarer Republik“533 – und somit auch zu den kulturpessimistischen. Allerdings schloss sich Jaeger Oswald Spenglers Unkenrufen vom „Untergang des Abendlandes“ nicht an. Denn er sah im Humanismus „keine vorübergehende Kulturerscheinung, sondern ein dauerndes Aufbauprinzip abendländischer Kultur“.534 Daraus darf jedoch nicht abgeleitet werden, dass Werner Jaeger ein Freund des kulturkundlichen Elements im altsprachlichen Unterricht ohne Spracherwerb gewesen wäre. Denn, eine wirkliche Erfahrung der Kulturwerte sei nur durch die Sprache möglich, wie er ja, wie oben bereits erwähnt, in einer Besprechung im preußischen Kultusministerium betont hatte.535 2.3.3 Die Bemühungen des DAV nach 1925
Die Zusammenarbeit zwischen Universität und Schule, die Frage nach „dem Wesen des neuen deutschen Humanismus“, dem „Bildungsziel des humanistischen Gymnasiums“ und dem „Unterrichtsziel des altsprachlichen Unterrichts“ sowie das Werben für altsprachlichen Unterricht und die Lobbyarbeit für Altphilologen, das alles hatte sich der DAV auf die Agenda geschrieben.536 Und vieles davon setzte er in den Folgejahren auch um.537 Dass der DAV ein Lobbyistenverband war, wird an folgendem Sachverhalt deutlich: Hatte man im Zuge der Reform die Kürzungen der Lateinstunden zähneknirschend akzeptiert, schienen die Altphilologen danach den Kampf um mehr Lateinstunden am Gymnasium
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Vgl. Stiewe: Humanismus, S. 8. Walter Kranz schrieb 1926: „Vielleicht ist die Altertumswissenschaft heute im Begriff in jenes dritte Stadium einzutreten“, in: ders.: Die neuen Richtlinien, S. 23. Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 880. Ebenda, Sp. 881. Jaeger: Humanismus und Antike, S. 20; vgl. Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 880. Verhandlung im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volkswissenschaft, 10.12.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 165–181, hier Bl. 179–180; vgl. auch Aufzeichnungen [ohne Datum], GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd.1, Bl. 241–234, 242RS. Abernetty, Walther: Was ist heute der deutsche Altphilologenverband, und welche Aufgaben hat er in der nächsten Zukunft zu erfüllen?, in: MDAV 2 (1928), S. 2–5. Vgl. Kroymann, Emil: Bericht des engeren Vorstandes über seine Tätigkeit in den Jahren 1929–1931, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes (1931) 5,3/4, S. 3–4.
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wieder aufzunehmen.538 Die Kürzung treffe „das Mark des Gymnasiums“.539 Selbst das Skriptum wollten einige wieder einführen.540 In einer Linie mit den Anliegen während der Reform lag die Bemühung um den Lateinunterricht am Realgymnasium. Auch hier wollte man die Stundenzahl vermehren,541 arbeitete aber auch einen Lehrplan aus542 und legte sehr viel Wert darauf, dass der Lateinunterricht nur von studierten Altphilologen gehalten würde und nicht „von Neuphilologen mit lateinischer Nebenfakultas“.543 Immer wieder gab es darüber hinaus Beschwerden über Lehrerkollegen, die an Gymnasien unterrichteten, aber die Idee des Gymnasiums nicht mittrügen und offen dagegen arbeiteten.544 Hier bat der DAV das Ministerium, bei künftigen Stellenbesetzungen auf die richtige Einstellung der Bewerber zu achten.545 Außerdem forderte er, als Direktoren an Gymnasien nur noch Altsprachler zu berufen, nicht nur wegen deren Haltung, sondern auch, da es aufgrund der weniger werdenden Gymnasien nur noch wenige Möglichkeiten zur Beförderung gebe.546 Es wirkt paradox: Nach der Offenheit der Gymnasialvertreter während der Diskussionen um die preußische 538
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Regenbogen, Otto: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 4 (1928), S. 144–161, hier S. 150; Kranz: Die neuen Richtlinien, S. VI, Kranz hatte bereits am 21.10.1924 gebeten, den Lateinunterricht nicht zu verringern, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 424; Immisch, Otto: Zur Denkschrift des Preußischen Landesverbandes, in: HG 36 (1925), S. 14–15; DAV an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, in: HG 37 (1926), S. 122–123. Der Vorsitzende des Preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, Kroymann, an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 20.11.1924, in: HG 36 (1925), S. 13. Vgl. Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 144–161, hier S. 150; Regenbogen: Besprechung, S. 72. Vgl. PSK Schleswig an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 24.8.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R4901/4341, Bl. 72. Vgl. Mitteilungen aus dem DAV, Sitzung der Großberliner Altphilologen, 22.10.1925, Vortrag Mackensen: Der Anstaltslehrplan im Lateinischen für die Mittel- und Oberstufe des Realgymnasiums alten Stils, in: HG 37 (1926), S. 30. Mitteilungen aus dem DAV. Besprechung im preußischen Unterrichtsministerium, 13.3.1926, in: HG 37 (1926), S. 247; DAV an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 10.2.1926, in: HG 37 (1926), S. 78–79; Besprechung im Ministerium über die letzten Eingaben des DAV, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenvereins 1 (1927), S. 63–64, hier S. 64; Richert an Provinzialschulkollegien, 26.7.1927, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenvereins 1 (1927), S. 64–65. Vgl. Grünwald, Eugen: Die Berliner Gymnasialtagung II, in: HG 36 (1925), S. 136–138, hier S. 137; Schon: Innere Gefahren für das Gymnasium, in: HG 38 (1927), S. 163–165. Vgl. DAV an Ministerialdirektor Jahnke, 19.5.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 17, Bl. 113– 14. Vgl. DAV an preußischen Landtag, 28.2.1929, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 17, Bl. 292–293; Viedebantt: Bericht des engeren Vorstandes von der 4. Vertretertagung des DAV, in: MDAV 4 (1930), S. 11–12.
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Schulreform erscheinen die Bemühungen danach restaurativ. Vielleicht waren die Neuerungen durch die Reform eine schwere Kröte, die die Mitglieder des DAV schlucken mussten, und der Vorstand versuchte nun durch traditionellere Forderungen einen Teil seiner Basis zu beruhigen. Als Changieren zwischen Modernisierung und Tradition liest sich auch der Lehrplan für alte Sprachen, den der DAV im Jahr 1930 herausgegeben hat und der im Kapitel II.3.2.2 genauer analysiert wird. 2.4 Allgemeine Tendenzen
Die preußischen Lehrpläne waren in vielen Bereichen nicht mehr zeitgemäß. Viele Eingaben der Provinzialschulkollegien aus den Jahren 1922 und 1923 zeigen, dass vor allem die hohe Anzahl der Lateinstunden an der Schulwirklichkeit vorbeiging.547 Somit waren die Richert’schen Reformen eine Notwendigkeit. Der Wunsch der Reformer allerdings, das „Schulchaos“ zu beenden und mit einheitlichen Typen mehr Ordnung in die Schullandschaft zu bringen, wurde im Allgemeinen eher kritisiert. Zum einen empfanden viele Gymnasialvertreter die vier Typen als „formalistische Fiktion“.548 Zum andern – und das war noch entscheidender – entsprach dies nicht dem tatsächlichen Bedarf. Die flexible Gestaltung vieler Schulen war gerade für die kleineren Städte, in denen es nur eine höhere Schule gab, essentiell.549 So bat beispielsweise der Magistrat in Arnswalde darum, einen Zweig anbieten zu dürfen, an dem früher mit dem Lateinunterricht begonnen würde. Dies wurde bewilligt, obwohl die Unterrichtsverwaltung eigentlich klarere Typen statt Mischtypen zur Regel machen wollte.550 Dem Bedarf
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Vgl. GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6: Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an PSK Breslau, 2.5.1922, Bl. 171; Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an PSK Magdeburg, 10.4.1922, Bl. 175; Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an PSK Münster, 27.5.1922; Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an PSK BerlinLichterfelde, 19.12.1922, Bl. 242; BA Berlin Lichterfelde 4901/4358, Bl. 101, 106; R 4901/ 4341, Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegien, 19.1.1923, Bl. 12; Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Oberschulbehörde Lübeck, 23.1.1924, Bl. 23. Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35(1924), S. 168–173, hier S. 169. Vgl. auch Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, hier Bl. 160; Pflug, Karl: Die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 111–120, hier Bl. 116. Vgl. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 96. Magistrat in Arnswalde bezüglich des Lateinunterrichts, 10.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 52–53.
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der Praxis schien das jedoch nicht zu entsprechen.551 Daher kritisierten auch viele die Abschaffung des Reformgymnasiums.552 Die Altphilologen allerdings begrüßten die Abschaffung, sollten diese doch in Gymnasien alten Stils umgewandelt werden.553 Allerdings bat der DAV 1927 Ministerialdirektor Jahnke darum, den englischen Ersatzunterricht für das Griechische nicht zu streichen, da dies „in manchen Fällen der einzige Weg zur Erhaltung des Gymnasiums in kleinen Städten ohne eine andere höhere Schule“ sei.554 Gerade wegen seiner Flexibilität galt das preußische höhere Schulwesen beispielsweise in England als Vorbild. Dass man dies nun aus Sehnsucht nach Eindeutigkeit beseitigen wollte, war im Hinblick auf den vermehrten Bedarf an Fachkräften eher kontraproduktiv.555 Daher geriet die Vereinheitlichung in der Praxis an ihre Grenzen und die Richert’sche Reform konnte die „Buntscheckigkeit“ des preußischen Schulwesens nicht wirklich verringern.556 Das Thema „Schulchaos“ blieb folgerichtig ein Dauerbrenner der deutschen Bildungspolitik. Dieses Stichwort erlangte in den 1950er Jahren wieder Hochkonjunktur, als um die Vereinheitlichung zwischen den deutschen Bundesländern gerungen wurde. Bei der Diskussion um die Deutsche Oberschule wurde einmal mehr deutlich, wie sehr das Bildungswesen von der Universität aus gedacht wurde. Die meisten hielten sie für keine geeignete Vorbildung zur Universität.557 Dass dies vor allem 551
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Ähnliches Beispiel auch Direktor der Ernst-Ludwig-Schule in Bad Nauheim an Minister für Wissenschaft, Kunst und Unterricht, 15.6.1927, Ministerialdirektor Jahnke mit Vertretern des DAV, 22.6.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4358, Bl. 113. Vgl. dazu auch Tosch: Gymnasium, S. 227–308. Vgl. Kommissarische Besprechung über Neuordnung am 26.3.1924 mit Ministern, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 86–87, hier 86 RS; Reisebericht von der Hauptversammlung des preußischen Philologentages in Göttingen, 12.6.1924, GStAPK, Gen. cc, Nr. 2, Bd. 5, Bl. 78–80, hier 79RS; Behrend, Felix: Organisatorische Grundtendenzen der preußischen Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 109–112, hier S. 110; Bruhn, Ewald: Die Neugestaltung des Reformgymnasiums, in: DPB 32 (1924), S. 112–113; Deutschbein, Max: Preußische Schulreform und neuere Sprachen, in: DNS 32 (1924), S. 252–262, hier S. 261f. Vgl. Das Gymnasium in der Neuordnung des preußischen Schulwesens. Ein Briefwechsel, Nr. 1: Immisch an Boelitz, 9.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 110–111, hier S. 110; Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 37; zum Verhältnis vgl. Grünwald, Eugen: Die Berliner Gymnasialtagung II, in: HG 36 (1925), S. 136–138, hier S. 138. Ministerialdirektor Jahnke mit Vertretern des DAV, 22.6.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4358, Bl. 117. Vgl. dazu Zymek: Schulen, S. 172–176. Dorner, A.: Die Buntscheckigkeit des preußischen höheren Schulwesens, in: DPB 34 (1926), S. 58–60; Fichte-Korrespondenz. Nachrichtendienst für das Bildungswesen, 12.11.1926, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 16, Bl. 37–39, hier Bl. 37. Vgl. Pflug, Karl: Die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preußen, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 111–120, hier Bl. 111; Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35(1924), S. 168–173, hier S. 173; Potthoff, Richard: Die Stellung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer in der preußischen Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 257–259, hier S. 257; Bemerkungen des Obmanns des
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daran lag, dass die Deutsche Oberschule nur mit einer Fremdsprache zum Abitur führen sollte, zeigt, dass die Vorstellung von Universitätsreife stark philologisch geprägt war. Zudem weist es darauf hin, dass an einer Bildungsexpansion, die durch das Herabsetzen von Standards gewährleistet werden sollte, vor allem die Universitäten kein Interesse hatten. Für den altsprachlichen Unterricht und das Gymnasium zeigt die Diskussion um die Richert’schen Reformen, dass die Ineinssetzung von alten Sprachen und Gymnasium in einer sich ausdifferenzierenden Welt nicht mehr zeitgemäß war. Es galt daher einerseits eine eigene Fachidentität als alte Sprachen zu entwickeln. Andererseits galt es neue Begründungen zu finden, warum Schüler alte Sprachen lernen sollten. Dabei genügte es jedoch nicht, darauf zu verweisen, dass Latein und Griechisch für verschiedene wissenschaftliche Berufe von Nöten seien. Dies hätte über kurz oder lang dazu geführt, dass die alten Sprachen nur noch an bestimmten Fachschulen oder den Universitäten gelehrt worden wären. Um eine Stellung im allgemeinen Schulwesen zu bewahren, mussten die Vertreter der alten Sprachen deutlich machen, dass die Fächer Latein und Griechisch den Schülern Kenntnisse vermittelten, die über reine Fachkenntnisse hinausgingen.
3 Ereignisse und Tendenzen bis 1933 3.1 Die „Durchsetzung der Schulreform“
Auch wenn die Richert’sche Reform im Großen und Ganzen keinen revolutionären Einfluss auf den Aufbau des höheren deutschen Schulwesens hatte, war sie doch auf andere Weise sehr prägend für die Entwicklung der Schulen bis 1933. Die beiden Unterrichtsprinzipien „Arbeitsunterricht“ und „Konzentration“ setzten sich als didaktische Konzepte flächendeckend durch. Keine didaktische Veröffentlichung zum altsprachlichen Unterricht kam mehr ohne die Erwähnung der beiden Begriffe aus.558 Am deutlichsten ist dies bei den sogenannten
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Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, hier Bl. 160; Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zur preußischen Denkschrift, 19.7.1924, in: HG 35 (1924), S. 173–174. Zur „Konzentration“ im altsprachlichen Unterricht vgl. Sellheim, Rudolf: Der Konzentrationsgedanke in der lateinischen Lektüre der Oberstufe, in: DPB 36 (1928), S. 395–396; Allgemeine Konferenz der Kollegen des Realgymnasiums mit Gymnasium und des Lyzeums in Goslar, 27.9.1929, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 60–64, hier Bl. 61; Bach, Johannes: Zur Frage der Konzentration am humanistischen Gymnasium, in: MDAV 5 (1931), S. 7–10; Venatier, Hans: Konzentrationsmöglichkeiten in der Sprachlehre. Deutsch und Latein, in: MfHS 30 (1931), S. 571–580. Zum „Arbeitsunterricht“ im altsprachlichen Unterricht vgl. Tagung des Landesverbandes Hessen, in: MDAV 1 (1927), S. 27–29, hier S. 28, Vortrag Köhm (Mainz): Vom Arbeitsunterricht im Lateinischen und Griechischen;
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„Lehrgängen zur Durchführung der Schulreform“ zu erkennen. Diese Lehrgänge veranstalteten die Provinzialschulkollegien (PSK) im Auftrag des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung seit 1926 regelmäßig, um die Lehrer mit den neuen Unterrichtsprinzipien vertraut zu machen.559 Hier standen bei allen Lehrgängen Arbeitsunterricht und Konzentration im Mittelpunkt.560 Ein wichtiger Bestandteil der Lehrgänge waren Lehrproben, die die Lehrer voreinander hielten und in denen sie zeigten, wie sie die neuen Grundlagen verstanden. „[W]enngleich die Ausgestaltung“ dieser Unterrichtsprinzipien „noch Schwierigkeiten bot“, versuchte doch jeder Teilnehmer „sein Bestes zu geben. Keiner der gebotenen Unterrichtsversuche muß als gänzlich mißglückt bezeichnet werden“, resümierte der Bericht des PSK Oppeln vom Juli 1928.561 Daneben wurden auch verschiedene methodische Fragen diskutiert, die bereits bei den Auseinandersetzungen um die Richert’schen Reformen auf der Agenda gestanden hatten: die Frage des Lateinsprechens,562 der Gebrauch von Wörterbüchern oder Übersetzungen563 und das „Zurückschieben der Grammatik“
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Wolff, Fr.: Ein Beitrag zur Frage des Arbeitsunterrichts in den alten Sprachen, in: DPB 36 (1928), S. 167–169; Hartke, [Vorname unbekannt]: Erfahrungen und Beobachtungen auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts, in: MfHS 27 (1928), S. 280–287; Billen, Alois: Vom Geist und Sinn des altsprachlichen Unterrichts, in: MfHS 28 (1929), S. 441–454; Clausing, Adolf: Altsprachlicher Arbeitsunterricht, in: MfHS 26 (1929), S. 477–484; dazu Erwiderung von Fritz Sommer, in: ebenda, S. 484–491; Zeichner: Vom Wesen und Wert des lateinischen Arbeitsunterrichts. Vgl. Niederschrift über die Beratung mit den Vertretern der PSK am 7. und 8. Juli 1926, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 202–204; Berichte zu Lehrgängen von April 1927 bis November 1927, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 353–384; Berichte der PSK Pommern, Breslau, Oppeln, Magdeburg, Schleswig, Hannover, Münster, Rheinprovinz über Lehrgänge im Juni und Juli 1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 37–85; Ähnliches für das Jahr 1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 9–157. Vgl. PSK Magdeburg an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 18.7.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 47–58, hier Bl. 50; PSK Pommern an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.6.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 37–39; PSK Brandenburg und Berlin an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 9.7.1931, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 9–11, hier Bl. 10; PSK Breslau an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 30.6.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 40–41, hier Bl. 40RS; PSK Oppeln an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.7.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 43–46, hier Bl. 43RS; PSK Koblenz an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 14.8.1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 124–135. PSK Oppeln an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.7.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 43–46, hier Bl. 45RS. Ähnlich auch Plan für den Lehrgang im Lateinischen und Griechischen zur Durchführung der Schulreform, Erfurt 17.–22.11.1930, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 48–49RS. Vgl. PSK Schneidemühle an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 19.1.1927, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 275. Vgl. PSK Oppeln an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 24.5.1927, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 392–395, Bl. 393RS; PSK Oppeln an Ministerium
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zugunsten einer verständlichen Lektüre.564 Auch die Erfahrungen mit verschiedenen Lehrwerken wurden ausgetauscht,565 denn insgesamt gab es in dieser Zeit einen deutlichen Aufschwung bei der Schulbuchproduktion.566 Die Berichte über die Lehrgänge geben aber auch einen Einblick in die Einstellungen, die die altsprachlichen Lehrer zu den neuen Unterrichtsprinzipien hatten. Insgesamt standen die Latein- und Griechischlehrer der Schulreform und den neuen Methoden eher skeptisch gegenüber, auch wenn durch die Lehrgänge die „Einstellung zum Arbeitsunterricht [. . .] sichtlich freundlicher“ wurde.567 Auch zeigen die Berichte, dass zwischen Lateinlehrern am Gymnasium und an den anderen Typen der höheren Schule unterschieden werden muss. Ein Bericht aus Magdeburg beschreibt, dass es in fast allen Gruppen einen Gegensatz zwischen zwei Parteien gegeben habe. Die einen hätten die „Schüler in die Kulturwelt der Erwachsenen durch Vermittlung der Kulturgüter“ einführen wollen und hätten dabei „ein Ausschöpfen der Probleme nach dem Stand der Wissenschaft für das Wertvolle“ gehalten. Die anderen hätten „die Schülerindividuen in den Mittelpunkt“ gerückt und „das Jugendgemäße im Stoff und Problem“ betont. Am wenigsten hätten sich dabei laut Bericht, die „Lehrer, die am Gymnasium alte Sprachen unterrichten, und die Latinisten des Reformrealgymnasiums“ verstanden.568 Der Ruf bezüglich einer leicht autoritären und konservativen Haltung der Altphilologen gerade an Gymnasien scheint demnach nicht unberechtigt gewesen zu sein und deutet darauf hin, dass eine Diskrepanz zwischen moderner didaktischer Theorie und der Unterrichtspraxis gegeben war. Zum kulturkundlichen Schwerpunkt der Lehrpläne von 1925 passte es, dass
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für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.7.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 43–46, hier Bl. 44. PSK Schneidemühle an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 19.1.1927, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 275; PSK Sachsen an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 8.10.1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 38–98, hier Bl. 40. Vgl. PSK Oppeln an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 24.5.1927, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 392–395, Bl. 393RS. Vgl. PSK Schleswig an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 4.6.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 59–66, Bl. 62; vgl. dazu auch Fritsch: Lateinunterricht, S. 31; Fritsch: Lesestücke, S. 18–20. PSK Breslau an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 30.6.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 40–41, hier Bl. 41; ähnlich auch PSK Magdeburg an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 18.7.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 47–58, hier Bl. 57. Zur skeptischen Einstellung siehe auch Billen, Alois: Vom Geist und Sinn des altsprachlichen Unterrichts, in: MfHS 28 (1929), S. 441–454; Clausing, Adolf: Altsprachlicher Arbeitsunterricht, in: MfHS 26 (1929), S. 477–484; dazu Erwiderung von Fritz Sommer, in: ebenda, S. 484–491; Allgemeine Konferenz der Kollegien des Realgymnasiums mit Gymnasium und des Lyzeums, Goslar, 27.9.1929, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 60–64. PSK Magdeburg an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 18.7.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 47–58, hier Bl. 51–52.
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seit Mitte der 1920er Jahre vermehrt Studienfahrten nach Griechenland und Italien von Lehrern der alten Sprachen untergenommen wurden. Diese Fahrten hatten vor dem Ersten Weltkrieg recht häufig stattgefunden, waren dann aber ausgesetzt worden. Nun wurde wieder vermehrt um finanzielle Beihilfe gebeten, denn der „humanistische Unterricht empfängt durch das Erlebnis des geschichtlichen Raumes seiner Bildungswelt [. . .] eine starke Belebung, die gerade heute oft als notwendig bezeichnet wird“.569 3.2 Die Bildungspolitik bis 1933 3.2.1 Schulchaos und Sparmaßnahmen
Anfang der 1930er Jahre bestimmten zwei Themen die Diskussion um die Reform des höheren Schulwesens: eine weitere, diesmal reichsweite Vereinheitlichung und Vereinfachung des Schulwesens sowie Einsparungen, um den staatlichen Haushalt zu entlasten. Für Letzteres reichten die Vorschläge in Preußen von der Zusammenlegung von Gymnasien,570 über die beschränkte Aufnahme neuer Sextaner571 bis hin zur Verkürzung der höheren Schule auf acht Jahre.572 Leidtragender der ersten Maßnahmen war der „Philologen-Nachwuchs“, der nach erfolgreichem zweitem Staatsexamen keine Stelle bekam.573 Aus diesem Grund stellten sich die Lehrerverbände geschlossen dagegen.574 Die „Buntscheckigkeit des höheren Schulwesens“575 wurde schon lange Zeit beanstandet und auch die Richert’schen Reformen konnten die Situation in Preußen nur leicht verbessern.576 Ende der 1920er Jahre tauchte vermehrt die 569
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Lehemann-Hartleben (am archäologischen Seminar der Universität Münster) an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 30.7.1929, GStAPK, Gen. Z, Nr. 221, Bd. 4. Vgl. auch PSK Oppeln an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 24.5.1927, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 392–395, Bl. 393RS; Führungen in Pompeji, in: MDAV 2 (1928), S. 42–43, und 5 (1931), S. 24; Kurseß, H.: Reisebeihilfe für Altsprachler!, in: DPB 37 (1929), S. 72. Vgl. Krause, Arthur: Zur Lage, in: MDAV 5,1/2 (1931), S. 1. Vgl. ebenda. Vgl. Fichte-Korrespondenz, 17.9.1930, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 146–148. Vgl. Staatliche Auskunftstelle für das Schulwesen, Prof. Kullnick an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 24.8.1930, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 19, Bl. 1–38, hier Bl. 2f.; Fichte- Korrespondenz, 4.4.1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 19, Bl. 40–43. Entschließung, in: MDAV 5,3/4 (1931), S. 1. Begründung für Sparzwang vgl. Hubrich, Georg: Sparmaßnahmen im höheren Schulwesen?, in: MfHS 30 (1931), S. 290–295. Zur achtjährigen höheren Schule siehe Kapitel III.2.1. Hans Richert beim Presse-Tee, 19.10.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 17, Bl. 180–181. Vgl. Preußischer Landtag 1928, Gegenstand: Die angeblich verwirrende Mannigfaltigkeit des höheren Schulwesens nach der Schulreform, 13.12.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 3, Bl. 102–103.
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II. Die Weimarer Republik
Forderung auch nach einer deutschlandweiten Vereinheitlichung des höheren Schulwesens auf. Nach der Gründung der Weimarer Republik hatte der Reichsschulausschuss schon einmal einen Versuch unternommen, die bestehenden Situationen der Länder etwas anzugleichen. 1921 war es beispielsweise um eine einheitliche Bezeichnung von Klassen und Schulformen gegangen.577 Ende der 1920er Jahre kamen vermehrt Beschwerden auf, dass die „Zersplitterung“ allein im preußischen Schulwesen die Versetzung von Beamten mit schulpflichtigen Kindern fast unmöglich mache,578 ganz zu schweigen von den Problemen, wenn man in eines der anderen deutschen Länder zog.579 Auch die Politik war sehr geneigt hier zu einheitlicheren Regelungen zu kommen.580 Im Zentrum der Diskussion stand die Frage nach der ersten (neueren) Fremdsprache, denn von Schule zu Schule wurde unterschiedlich geregelt, ob die Schüler mit Englisch oder Französisch begannen.581 Der Streit, welche der beiden Sprachen zuerst gelernt werden sollte, zog sich durch die ganze Weimarer Zeit.582 Auch das Unterrichtsministerium wollte hier 1924 kein Machtwort zugunsten des Englischen sprechen, das sich als weltweite Umgangssprache zu etablieren begann, da sich „[j]ahrhundertealte Kulturzusammenhänge [. . .] nicht in kurzer Zeit ausschalten“ ließen, wie beispielsweise die Bedeutung des Französischen im Rheinland.583 Im Zuge der Bemühungen um eine Vereinheitlichung des deutschen höheren Schulwesens wurde die Frage Anfang der 1930er Jahre sehr intensiv diskutiert, ohne eine abschließende Regelung zu finden.584 Als Argumente für Englisch wurde seine größere Brauchbarkeit als 577 578 579 580
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Vgl. Reichsschulausschuß, Juni 1921, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 13. Vgl. Bundesverband der höheren Beamten Preußens an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 10.9.1928, Bl. 89–91. Vgl. Fichte-Korrespondenz, 12.11.1926, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 16, Bl. 37–39; FichteKorrespondenz, 4.4.1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 19, Bl. 40–43. Vgl. Niederschrift über eine Besprechung mit den pädagogischen Fachverbänden, betreffend Schulaufbau und Berechtigungswesen, im Reichsministerium des Inneren, 13.3.1931, DIPF/BBF, Deutscher Lehrerverein 1.0.00. Vgl. Fichte-Korrespondenz, 4.4.1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 19, Bl. 40–43. Vgl. dazu die gründlichen Arbeiten von Ostermeier: Ostermeier: Sprachenfolge, v. a. S. 52– 90; 181–251; Ostermeier: Sprachenwirrwarr. Auch in den hier bearbeiteten Quellen tritt dies immer wieder hervor, vgl. Verein Deutscher Ingenieure an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.12.1921, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6, Bl. 79; Englisches Seminar der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 17.11.1921, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6, Bl. 83– 84; Besprechung mit PSK Breslau, 30.1.1923, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6, Bl. 266; Minister an Provinzialschulkollegien, 10.2.1922, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6, Bl. 269. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 38. Vgl. Fichte-Korrespondenz, Sept. 1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 19, Bl. 141–143; Niederschrift über eine Besprechung mit den pädagogischen Fachverbänden, betreffend Schulaufbau und Berechtigungswesen, im Reichsministerium des Inneren, 13.3.1931, DIPF/BBF, Deutscher Lehrerverein 1.0.00; Kleeberg, Arthur: Die Fremdsprachenfrage an
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Weltsprache im Geschäftsleben und der Wissenschaft hervorgehoben585 sowie seine Eigenschaft als germanische Sprache.586 Für das Französische sprach, dass es danach leichter wäre, Latein zu lernen, und dass es ein anspruchsvolleres Fach als Englisch sei und somit schneller aussiebe.587 Die klassischen Philologen waren daher größtenteils für Französisch.588 Der Wunsch nach einer wirklichen Vereinheitlichung durch einen gemeinsamen Unterbau, in welchem alle Sextaner mit der gleichen Anfangssprache begannen, wurde von der preußischen Unterrichtsverwaltung als „nicht durchführbar“ bezeichnet. Die Referenten hielten sowohl den Vorschlag, dass alle mit Latein begännen,589 für nicht realisierbar, wollten aber auch „vornehmlich mit Rücksicht auf das Gymnasium“ die Möglichkeit des grundständigen Lateins nicht aufgeben.590 Der Begriff „Zersplitterung“ tauchte hier wieder vermehrt auf, wenn es um die vielen verschiedenen Arten der höheren Schule ging.591 Dabei wird eine gewisse Sehnsucht nach Ganzheit deutlich bzw. eine Verachtung des Kleinteiligen und der Wunsch nach einer großen Lösung. Das Paradoxe daran ist, dass dieser Wunsch
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der Deutschen Oberschule, in: Monatsschrift für höhere Schule 30 (1931), S. 143–148; Die erste neuere Fremdsprache auf den Realanstalten, 3 Beiträge, in: DNS 37 (1929), S. 383– 404; Besser, Reinhold: Bemerkungen zum Bildungswert des Englischen, in: DNS 38 (1930), S. 92–112; Dietrich, Erich: Allgemein Englisch als Anfangssprache, in: DNS 38 (1930), S. 583–589; DAV an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 17.5.1931, in: MDAV 5,2 (1931), S. 2; Entschließung der 5. Vertretertagung, in: MDAV 5,3/4 (1931), S. 11. Vgl. Fichte-Korrespondenz, Sept. 1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 19, Bl. 141–143; Gerlach, Walter: Englischer Kulturunterricht. Von der Anglisten-Tagung in Göttingen, in: DPB 32 (1924), S. 65–67; Vgl. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 101. Vgl. Fichte-Korrespondenz, Sept. 1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 19, Bl. 141–143; Grünwald, Eugen: Zur Lage, in: HG 29 (1919), S. 1–10, hier S. 7; Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136. Vgl. DAV an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 17.5.1931, in: MDAV 5,2 (1931), S. 2; für Englisch Bach, Johannes: Zur Frage der Konzentration an humanistischen Gymnasien, in: MDAV 5,2 (1931), S. 3–7, hier S. 3. Vgl. Bemerkungen des Obmanns des Schulausschusses des Verbandes der Deutschen Hochschulen, 21.5.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 158–163, hier Bl. 162–163; Aufzeichnungen GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 241–243, hier Bl. 241RS; Umschau, in: MDAV 5 (1931), S. 17–19. Besprechung der Abteilung UII, 20.8.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 305–306, hier Bl. 305. Vgl. Verband der Deutschen Hochschulen: Bericht des Schulausschusses und Entschließung zur Schulfrage, 10.1.1928, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 17, Bl. 18–20; Bundesverband der höheren Beamten Preußens an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 10.9.1928, Bl. 89–91; Groeger, M.: Die Reform des höheren Schulwesens und das klassische Altertum, in: DPB 32 (1924), S. 174–176, hier S. 176; Bucherer, F.: Zur Lage, in: HG 36 (1925), S. 16–24, hier S. 16.
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II. Die Weimarer Republik
häufig von kulturpessimistisch-konservativer Seite und den systemimmanenten Reformern angeführt wurde, die aber im Gegensatz dazu die Einheitsschule immer ablehnten. Zudem trug das Festhalten genau dieser Gruppe am Gymnasium und an Latein als erster Fremdsprache zu dieser Zersplitterung bei. 3.2.2 Der altsprachliche Lehrplan des DAV von 1930
Alle Themen, die in den Diskussionen um den altsprachlichen Unterricht während der Weimarer Republik eine Rolle spielten, spiegelten sich in dem Lehrplan wider, den der Deutsche Altphilologenverband 1930 veröffentlichte. Dies hatte sich der DAV von Anfang an auf seine Agenda geschrieben592 und die sogenannte Lehrplankommission hatte insgesamt über fünf Jahre gebraucht, bis das Papier veröffentlicht werden konnte.593 Auf der großen Verbandstagung in Göttingen 1927 stand ein erster Entwurf zur Diskussion, der dort auch intensiv besprochen wurde.594 Nach der nächsten großen Tagung in Salzburg 1929 konnten sich die Altphilologen auf den „Minimalkonsens des endgültigen Lehrplans“ einigen.595 Der größte Streitpunkt war die Bedeutung der Kulturkunde und welchen Stellenwert sie im neuen altsprachlichen Unterricht einnehmen sollte.596 Letztendlich hatten die Vertreter der Landesverbände die Kulturkunde einheitlich als „primäres Bildungsziel“ abgelehnt.597 Dazu berief man sich auf einen Aufsatz von Theodor Litt, in dem er der „kulturkundlichen Theorie“ zwar eine „pädagogische Teilaufgabe“ zusprach, es aber ablehnte, ihr den Vorrang vor anderen einzuräumen.598 Den Altsprachlern ging es konkret darum, dass eine Einführung in das kulturelle Leben der Antike zwar Platz im Unterricht haben sollte, weil aber das kulturkundliche Prinzip „nicht unbedingt einen intensiven und langen sprachlichen Bildungsgang“ benötigte, sei es auch mit gedruckten
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Vgl. Gohlke, Paul: Zur Lehrplanarbeit, in: MDAV 1 (1927), S. 5–6. Vgl. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 149. Vgl. Lehrplanentwurf für Göttingen: Zur Verbandstagung in Göttingen. Aus dem Lehrplanentwurf der Kommission, in: MDAV 1 (1927), S. 37–52; Verbandstagung in Göttingen vom 25. bis 28. Sept. 1927, in: MDAV 1 (1927), S. 72–76, hier S. 75f.; danach Erweiterung der Lehrplankommission, vgl. Von der Lehrplankommission, in: MDAV 2 (1928), S. 22–23. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 149; vgl. auch Viedebantt: 4. Vertretertagung des Deutschen Altphilologen-Verbandes, in: MDAV 4 (1930), S. 5–11; Kroymann, Emil: Zur Lehrplanarbeit, in: MDAV 4 (1930), S. 33–34; Rehm: Neuhumanismus, S. 6. Vgl. dazu stellvertretend die Auseinandersetzung zwischen Weinstock und Herrle: Weinstock, Heinrich: Die innere Krise des Gymnasiums, in: DPB 36 (1928), S. 467–472; Herrle, Theo: Die innere Krise des altsprachlichen Unterrichts. Eine Entgegnung von kulturkundlicher Seite, in: DPB 36 (1928), S. 696–698. Listmann, Karl: Salzburger Eindrücke, in: MDAV 4,1/2 (1930), S. 16–26, hier S. 23; vgl. Altsprachlicher Lehrplan, S. 11. Litt: Gedanken, S. 112.
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Übersetzungen zu erreichen. Dies lehnte man jedoch ab.599 Die Ablehnung der Kulturkunde als leitendes Prinzip zeigt zum einen, dass wiederholt darauf beharrt wurde, dass altsprachlicher Unterricht fremdsprachlicher Unterricht blieb. Zum anderen spiegelt sich darin die Durchsetzung des Jaeger’schen „Erneuerten“ oder „Dritten Humanismus“ als das Verständnis von Humanismus unter den Altphilologen wider.600 Die Ablehnung des rein kulturkundlichen Prinzips zeigt sich auch in den Formulierungen und Gewichtungen des Lehrplans. Der Lehrplan benannte zwar klar den Lektüreunterricht als die „Hauptaufgabe des altsprachlichen Unterrichts auf den oberen Klassen des Gymnasiums“, weil die „Formen und Werte“ durch die „repräsentativen Werke [. . .] der griechischen und römischen Literatur verkörpert“ würden. Allerdings sei dies „gleichbedeutend mit eindringlicher sprachlicher und sachlicher Interpretation der originalen Texte.“ Denn „[s]icheres sprachliches Können und straffe grammatische Schulung sind die Grundvoraussetzung einer Lektüre“.601 Der Sprach- oder Grammatikunterricht verfolge somit ein Doppelziel, nämlich Vorbildung und „Selbstzweck“. Die Grammatik müsse „gründlich gelernt sein“, wer anders handle, betreibe „pädagogisch Schwindel“, aber „Eindrillen“ solle der Lehrer die Grammatik nicht.602 Hier zeigt sich also ganz deutlich der Wille, alten Ressentiments entgegenzuwirken, aber den Sprachunterricht dennoch zu bewahren. Auch das Argument der formalen Bildung wurde wieder ins Feld geführt: Der Sprachunterricht habe „formal bildende Kraft“ und sei „Schulung des Denkens“.603 Und auch die bekannten deutschkundlichen Argumentationen durften nicht fehlen: Vor allem der Lateinunterricht schule auch die Muttersprache.604 Generell sei der altsprachliche Unterricht auch Bildung des „deutschen Menschen“.605 Die unter den Altphilologen nicht einheitliche Meinung bezüglich der Übersetzungen ins Lateinische, der Hinübersetzung, drückte sich ebenfalls in Lehrplänen aus: Die Übersetzung ins Lateinische wurde in Unter- und Mittelstufe als Übung und als Prüfungsleistung gefordert, in der Oberstufe als Übung. Ob ein Skriptum im Abitur gefordert werde, sei den Ländern „freigestellt“.606 Das Unterrichtsprinzip der Konzentration griff man gerne 599
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Listmann, Karl: Salzburger Eindrücke, in: MDAV 4,1/2 (1930), S. 16–26, hier S. 22f.; Zitat S. 23. Auch wenn Herrle betont: „Es kann gar keine Rede davon sein, daß das kulturkundliche Ziel die Erlernung der Sprache ausschließt“, Herrle, Theo: Die innere Krise des altsprachlichen Unterrichts. Eine Entgegnung von kulturkundlicher Seite, in: DPB 36 (1928), S. 696–698, hier S. 697. Vgl. Preuße: Humanismus, S. 150. Vor allem bei der griechischen Lektüre sei der Einfluss Jaegers überdeutlich, vgl. ebenda S. 152; vgl. auch Rehm: Neuhumanismus, S. 6f. Altsprachlicher Lehrplan, S. 3f. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 8f.
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auf: Das klassische Gymnasium stelle „die ideale Lösung der vielumworbenen und erzieherisch tief notwendigen Konzentration der Fächer dar“.607 Ganz klar war die Forderung danach, dass bei der Lektüre „Inhalt und Form“ nicht getrennt werden könnten. Dies war eine Absage an den großflächigen Einsatz von Übersetzungen, die nur als „Notbehelf “ in seltenen Fällen zulässig sein sollten.608 Der Lektürekanon war geprägt von den sogenannten klassischen Schriftstellern: Caesar, Livius, Sallust, Tacitus, Cicero, Seneca, Vergil, Horaz, Phaedrus, Ovid und Catull.609 Die Germania des Tacitus fand keine gesonderte Erwähnung.610 Die viel diskutierte Erweiterung um die mittellateinische Lektüre fand auch Einzug in den Lehrplan: „Es muß indes betont werden, daß ein Ausblick auf die Weiter- und Umbildung, die die Antike durch Christentum und Mittelalter erfahren hat, nicht fehlen darf.“611 Dies muss aber eher als Lippenbekenntnis gewertet werden. Wie schon mehrfach angeklungen, hatte jeder nicht-klassische lateinische Autor, sei er spätantik oder mittelalterlich, im altsprachlichen Lektürekanon einen sehr schweren Stand. Dies sollte sich weder in der Zeit des Nationalsozialismus noch in der Bundesrepublik ändern.612 Der DAV übergab sein Papier Kultusminister Adolf Grimme persönlich.613 Er wurde darüber hinaus nicht müde in den Verbandsmitteilungen diejenigen Stimmen zu präsentieren, die sich freundlich über den Lehrplan äußerten.614 Insgesamt standen die Altphilologen also, auch bei aller immer wieder geäußerten Kritik, zu den Grundlagen der neuen preußischen Lehrpläne. Die 1930 veröffentlichte Methodik des altsprachlichen Unterrichts von Max Krüger beispielsweise widmete dem Arbeitsunterricht, der Konzentration und der Kulturkunde ein 607 608 609 610
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Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 9f. Ebenda, S. 19–25. Nur dass man sie nicht zu früh lesen sollte, Altsprachlicher Lehrplan, S. 22. Allerdings sagt Bucherer, einer der Herausgeber des Humanistischen Gymnasiums, in einer Besprechung über didaktische Werke des altsprachlichen Unterrichts explizit, dass die Germania „von deutschen Schülern ganz zu lesen ist“, Bucherer, Fritz: Zur Methodik des altsprachlichen Unterrichts, in: HG 42 (1931), S. 208–216, hier S. 209. Altsprachlicher Lehrplan, S. 26 Siehe Kapitel III.3.2; IV.1.3. Vgl. Aus der Verbandsarbeit, in: MDAV 4 (1930), S. 38. Vgl. Laienurteile über unseren Lehrplan, in: MDAV 4 (1930), S. 57–58; weitere Stimmen zum „Lehrplan“, in: MDAV 5 (1931), S. 19–23. Es gab auch kritische Stimmen aus den eigenen Reihen, v. a. Paul Gohlke, der die Arbeit an dem Lehrplan ins Leben gerufen hatte, vgl. Gohlke, Paul: Das Bildungsziel des Gymnasiums und die Lehrpläne des Deutschen Altphilologenverbandes, in: DPB 38 (1930), S. 600–603. Im Oktober 1931 wurde ein weiterer Lehrplan für die anderen höheren Schulen vom DAV vorgelegt, vgl. Burgmeister, E.: Ein altsprachlicher Lehrplan für Reformanstalten, in: DPB 39 (1931), S. 672–673. Dies löste eine massive Beschwerde der Neuphilologen aus, die dies als „Bruch des Burgfriedens“ bezeichneten, vgl. Altsprachliche Pläne für die realistischen Anstalten, in: Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht 31 (1932), S. 167–168.
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eigenes Kapitel.615 Das Buch von Krüger war in der Fachwelt sehr angesehen.616 So rühmte Anton Schoy es als „das kostbare Geschenk, das er uns Altsprachlern gemacht hat“.617 3.2.3 In Wellenbewegungen: der Kampf um das Humanistische Gymnasium
Auch nach der Lehrplanreform von 1925 hörte die „Sorge um den Bestand des humanistischen Gymnasiums“ nicht auf.618 Es gab eine Wiederbelebung des „Reichsausschusses zum Schutze des Gymnasiums“, der sich aus Vertretern des Deutschen Altphilologenverbandes, des Gymnasialvereins und der Vereinigungen der Freunde des humanistischen Gymnasiums zusammensetzte. Initiiert wurde das Ganze von dem engagierten Altphilologen und Studienrat Fritz Sommer. Dieser konnte „52 namhafte Persönlichkeiten“ aus Wirtschaft und Politik dafür gewinnen, eine „Kundgebung für das humanistische Gymnasium“ zu unterzeichnen.619 Diese Kundgebung legte zuerst ex negativo dar, was das deutsche Volk verlieren würde, wenn es keine Gymnasien mehr gäbe: Die Kulturgüter, „denen der deutsche Geist seine Weltgeltung“ verdanke, würden verloren gehen, das Verständnis der Muttersprache würde herabgesetzt und das Niveau der Wissenschaft – des „edelsten Werkzeugs zum nationalen Neubau“ – würde sinken. Dabei war scheinbar wichtig zu betonen, dass das Gymnasium weder Gelehrtenschule für Altphilologen und Theologen noch Standesschule sei und dass man seit den Lehrplänen von 1925 „freudig den Anforderungen der modernen Zeit Rechnung“ trage. Die Kundgebung schloss mit folgendem Aufruf: Die humanistische Bildung ist eins der höchsten Kulturgüter des deutschen Volkes. Ihr Ideal kann nur durch eine lebensvolle Einführung der Jugend in Sprache und Kultur der Griechen und Römer verwirklicht werden. Darum fordern wir [. . .] Einstellung aller Maßnahmen, die die Erhaltung des humanistischen Gymnasiums gefährden, und verlangen nachdrücklichste Förderung dieses Bildungsweges und seinen weiteren zielbewußten Ausbau.620 615
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Vgl. Krüger: Methodik, S. 92–124. Ähnlich auch das Werk von Ewald Bruhn, vgl. Bucherer, Fritz: Zur Methodik des altsprachlichen Unterrichts, in: HG 42 (1931), S. 208–216, hier S. 208. Bucherer, Fritz: Zur Methodik des altsprachlichen Unterrichts, in: HG 42 (1931), S. 208– 216, hier S. 211. Schoy, Anton: Wie kann das Uebersetzen aus den alten Sprachen zu einem möglichst wirksamen Bildungsvorgang gemacht werden?, in: MDAV 5,1 (1931), S. 11–13. Krügers Werk wurde 1957 nochmals aufgelegt, vgl. dazu Kapitel IV.2.2.4. Kundgebung für das humanistische Gymnasium, in: MDAV 1 (1927), S. 61–63. Von der Kundgebung wurde auch in der Vossischen Zeitung berichtet: Erhaltung der humanistischen Bildung. Kundgebung für das Gymnasium, in: Vossische Zeitung, 30.10.1927. Kroymann, Emil: Verbandstagung in Göttingen vom 25. bis 28. Sept. 1927, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes 1 (1927), S. 72–76, hier S. 74. Kundgebung für das humanistische Gymnasium, in: MDAV 1 (1927), S. 61–63.
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Dieser Aufruf zeigt, wie stark in der öffentlichen Wahrnehmung humanistische Bildung noch altsprachliche Bildung war. Außerdem zeigt er die Verbundenheit weiter Kreise der politischen und wirtschaftlichen Elite mit dieser Schulform. Dazu entsteht der Eindruck einer Furcht um den Bestand des Gymnasiums. Ob es sich dabei um eine reale Angst oder eine gefühlte Bedrohung handelte, ist heute schwer zu beurteilen. Jedenfalls hatten die Vertreter des Gymnasiums einmal mehr eine sehr gute Marketingaktion für ihre Sache auf die Beine gestellt. Die Werbemaßnahmen strahlten weit: Anträge zum Erhalt des humanistischen Gymnasiums fanden sich auch immer wieder im preußischen Landtag.621 Und in Sachsen gründete sich eine Vereinigung ehemaliger Gymnasiasten, deren Verein eine Werbeschrift für Eltern entwickelte.622 Der Deutsche Philologenverband forderte anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dazu auf, zur Frage Stellung zu beziehen, welche Aufgabe die höhere Schule der Gegenwart zu erfüllen habe.623 Auch in den dort gegebenen Antworten sah der Gymnasialverein eine weitreichende Unterstützung für die gymnasiale Sache.624 Ob tatsächlich die Schülerzahlen stiegen oder ob sich einfach nur der Diskurs änderte, ist schwer zu sagen, jedenfalls gab es immer wieder freudige Meldungen, die die oft alarmistische und pessimistische Stimmung der Vertreter des Gymnasiums in eine verhalten optimistische umschlagen ließ.625 Dies könnte eventuell auch an der intensiveren didaktischen Arbeit des DAV gelegen haben und an dem sich durchsetzenden „Dritten Humanismus“, den viele mit Aufschwung und Erneuerung verbanden.626 621
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Vgl. Preußischer Landtag, Haushaltsberatungen 1930, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 129; Preußischer Landtag, Verhandlungen im Plenum, Haushalt 1931, 20.3.1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 107–108. Vgl. Landesverband Vereinigungen ehemaliger Schüler sächsischer Gymnasien an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 15.12.1932, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 419; Eltern waren auch für die Werbemaßnahmen des DAV eine wichtige Zielgruppe, vgl. [ohne Überschrift], in: MDAV 2 (1928), S. 1; Freye: Eine dringende Aufgabe, in: MDAV 6,3/4 (1932), S. 18–19. Vgl. Welche Aufgaben hat die deutsche höhere Schule der Gegenwart zu erfüllen?, in: DPB 37 (1929), S. 305–320. Vgl. Neue Stimmen für das Gymnasium, in: HG 40 (1929), S. 208–211. Vgl. Aus der Verbandsarbeit, in: MDAV 1 (1927), S. 7; Besprechung im Ministerium über die letzten Eingaben des DAV, in: MDAV 1 (1927), S. 63–64; Vgl. Schoy, Anton: Das Erstarken der humanistischen Welle, in: HG 40 (1929), S. 95–96; Schoy, Anton: Eine dankenswerte Klarstellung des Verhältnisses der Gymnasiasten zu den alten Sprachen, in: Mitteilungen des Altphilologenverbandes 4 (1930), S. 29–30; Bucherer, Fritz: Zur Methodik des altsprachlichen Unterrichts, in: HG 42 (1931), S. 208–216, hier S. 211. Vgl. Schoy, Anton: Das Erstarken der humanistischen Welle, in: HG 40 (1929), S. 95–96; Heibges, Stephan: Die Richtlinien für den lateinischen und griechischen Unterricht, in: MfHS 28 (1929), S. 466–477, S. 473f.; Schoy, Anton: Eine dankenswerte Klarstellung des
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Auch in der preußischen Unterrichtsverwaltung schätze man das Gymnasium und den grundständigen Lateinunterricht sehr und wollte darauf nicht verzichten, wie aus einem Gutachten von 1931 hervorgeht. „Schon ein Versuch“, zugunsten eines einheitlichen Unterbaus das grundständige Latein abzuschaffen, „würde einen Kulturkampf entfesseln, für den die Unterrichtsverwaltung die Verantwortung nicht übernehmen kann“. Hier sah sich die Unterrichtsverwaltung einig mit den Universitäten, Technischen Hochschulen und Kirchen.627 In der Tat setzten sich beide Organisationen stets für den Erhalt der Gymnasien und der alten Sprachen ein. Die Kirchen mahnten die Kultusministerien immer wieder, dass die klassischen Gymnasien die beste Vorbildung für den angehenden theologischen Nachwuchs böten.628 Die Universitäten empfanden die gymnasiale Ausbildung per se als die beste Vorbereitung auf ein wissenschaftliches Studium.629 1932 gingen die Universitäten noch ein Stück weiter. Sie waren so unzufrieden mit der Vorbildung ihrer Studierenden vor allem in den alten Sprachen, dass sie androhten, diejenigen Studierenden von den geisteswissenschaftlichen Fächern auszuschließen, die eine lateinlose höhere Schule besucht hatten. Die Ergänzungskurse, die die Abiturienten der Oberrealschulen belegen konnten, seien nicht ausreichend und könnten einen neun- oder sechsjährigen Unterricht nicht ersetzen. Daher wollte man strengere Ergänzungsprüfungen sowie Aufnahmeprüfungen einführen.630 Die Denkschrift löste eine Welle der Kritik aus. Die Vertreter der Realschulen sowie die Neusprachler sahen darin die Bedeutung ihrer Schulformen und Fächer aufs Schärfste ange-
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Verhältnisses der Gymnasiasten zu den alten Sprachen, in: Mitteilungen des Altphilologenverbandes 4 (1930), S. 29–30. Die achtjährige höhere Schule, vermutl. von 1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 8, Bl. 183– 243, hier Bl. 219f. Vgl. Bucherer, Fritz: Zur Lage, in: HG 36 (1925), S. 16–24, hier S. 17–20; Ev, Oberkirchenrat an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 10.11.1927, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 16; Videbantt, Oskar: Die Bildungswerte des humanistischen Gymnasiums, in: Katholische Schulzeitung für Norddeutschland 46 (1929), S. 311–312; August, W.: Pro gymnasio, in: MDAV 4 (1930), S. 28; An die Generalsynode in Berlin, in: MDAV 4 (1930), S. 38–39; Vorsitzender des Fakultätentages der ev.-theol. Fakultäten Deutschlands an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.11.1933, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 380–381. Vgl. Kundgebung von Dozenten der Universität Rostock, in: HG 38 (1927), S. 168; Entschließung des Großen Senates der Universität Jena, in: MDAV 5,3/4 (1931), S. 19; Rektor der Universität Halle-Wittenberg an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 20.7.1932, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 285–286. Denkschrift des Verbandes der Deutschen Hochschulen über Fragen der höheren Schule, in: Mitteilungen des Verbandes der deutschen Hochschulen 12 (1932), S. 66–69; ähnlich bereits ein Schreiben der Universität Köln an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 4.8.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R4901/4341, Bl. 146–149.
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griffen.631 Aber auch die Vertreter des Gymnasiums lehnten diese Vorschläge ab.632 Die Universitäten beschwerten sich auch über den vierjährigen Lateinunterricht, der seit den Reformen von 1924/25 am Reformrealgymnasium abgehalten wurde.633 Hier wurde Latein als dritte Fremdsprache ab der Untersekunda gelehrt. Dieser Typ hatte sich jedoch in der Praxis als sehr beliebt erwiesen634 und auch der DAV beschäftigte sich immer mehr damit, welche Ziele ein kürzerer Lateinunterricht sinnvollerweise erreichen sollte und wie dies methodisch zu erreichen sei.635 Der DAV hatte sich mit der neuen Situation arrangiert, in der das Gymnasium ein Typ unter anderen war. Und auch wenn sie das Gymnasium noch als ihre eigentliche Heimstätte ansahen, war ihnen doch bewusst, dass es sich lohnen würde, in den Lateinunterricht an nicht-gymnasialen Anstalten zu investieren. Die preußische Unterrichtsverwaltung war im Übrigen sehr zufrieden, dass es an allen Typen der höheren Schule die Möglichkeit gab, Latein zu lernen, auch wenn der Lateinunterricht an den Oberrealschulen verbessert werden müsse. In der Praxis bewährt habe sich zudem das Reformrealgymnasium mit Latein ab der Untersekunda, denn diese Schulform könne so auch Schüler der Oberrealschule aufnahmen.636 Es sei nämlich nicht tragbar, diesen Schülern und Schülerinnen den Zugang zu einer sprachlich und geschichtlich eingestellten Schulart zu versagen. Viele von ihnen bedürfen zudem einer Schulart mit Lateinunterricht in stärkerem Maße, als ihn die Oberrealschule in der Form des wahlfreien Lateinunterrichts von OII an gewähren kann.637
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Entschließung des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes, 3.10.1932, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 202–203; Verein der Freunde des Neusprachlichen Gymnasiums, 29.11.1932, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 259–262; Deutscher RealschulmännerVerein, 14.11.1932, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 257–258; Der Direktor der Oberrealschule Barmen an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 210–214; Elternbeirat der Oberrealschule Barmen, 11.11.1932, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 253–254. 632 Vgl. Bericht eines Referenten, vermutl. Ende 1932, Anfang 1933, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 282–283. 633 Erklärung der philosophischen Fakultät der Universität Jena, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes 5,3/4 (1931), S. 19–20. 634 Vgl. Die achtjährige höhere Schule, vermutl. von 1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 8, Bl. 183–243, hier Bl. 233. 635 Vgl. Hache, Fritz: Betrachtungen zur Weimarer Tagung, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes 5,3/4 (1931), S. 12–15, hier S. 13; Werbung für ein Lehrbuch von Albert Delsner: Der vierjährige Lateinunterricht, in: Mitteilungen des Deutschen Altphilologenverbandes 5,2 (1931), S. 17; Monzel, Heinz: Der Lateinunterricht am neusprachlichen Gymnasium, in: MfHS 30 (1931), S. 692–696. 636 Vgl. Die achtjährige höhere Schule, vermutl. von 1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 8, Bl. 183–243, hier Bl. 232f., 237. 637 Ebenda, Bl. 222.
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Hier deutet sich bereits an, dass für die Unterrichtsverwaltung ein flexibleres System, bei dem die Schularten leichter gewechselt werden und die Schüler eine gewisse Wahlfreiheit wahrnehmen konnten, die beste Lösung zu sein schien. Auch wenn die Denkschrift des deutschen Hochschulverbandes auf wenig Gegenliebe des DAV stieß, war man doch auch dort mit dem akademischen Nachwuchs unzufrieden, weswegen Vertreter des DAV gemeinsam mit Ministerialbeamten eine Reform des Studiums anstrebten. Gute Lehrer seien die beste Werbung für das eigene Fach. Man könne auch getrost das Studium etwas verschärfen, da „der Bedarf an Altphilologen infolge des Zurücktretens des humanistischen Gymnasiums gering sei“ und man „ohne Schwierigkeiten alle nicht hervorragenden Personen abschieben“ könne, wie Ministerialdirektor Jahnke bei einer Besprechung unumwunden bemerkte.638 3.2.4 Lateinunterricht in der Praxis: ein Beispiel aus Bayern
Wie der Lateinunterricht in Bayern Anfang der 1930er Jahre auszusehen habe, zeigt ein interessantes Dokument vom 9. Mai 1931. Hierin gab Ministerialrat Dr. Johann Bauerschmidt im Namen des bayerischen Kultusministeriums „Anweisungen für den altsprachlichen Unterricht“ an alle Latein treibenden bayerischen höheren Schulen. Auch hier zeigten sich die bereits herausgearbeiteten Trends des altsprachlichen Unterrichts: Grammatikunterricht sollte sehr gründlich betrieben werden, wofür die Übersetzung aus dem Deutschen „[u]nentbehrlich“ sei. Beim Lektüreunterricht betonte Bauerschmidt, dass zur „sprachlich-logischen Schulung“ auch „eine inhaltliche Bereicherung des Geistes treten“ müsse. Dies war in der Formulierung etwas zurückhaltender als die starke Betonung des Lektüreunterrichts in Preußen, könnte allerdings darauf hinweisen, dass der bayerische Lateinunterricht immer noch stark grammatisch geprägt war. Allerdings legte Bauerschmidt sehr viel Wert auf die Methode des Vorsprechens, um das Verständnis zu fördern und eine gewisse „Vertrautheit mit der fremden Sprache“ zu gewinnen. In seiner Forderung, dass die alten Sprachen mehr wie lebende Fremdsprachen behandelt werden müssten und dass „mehr mit den Ohren gehört als mit den Augen gelesen“ werden solle, erinnert Bauerschmidt sehr stark an Georg Rosenthal. Ebenso lässt seine detaillierte Beschreibung, wie das Besprechen einer zu Hause von den Schülern vorbereiteten Übersetzung abzulaufen habe, deutliche Anlehnung an den Arbeitsunterricht erkennen: Auch hier sollte ein Schüler ohne Unterbrechung seine Übersetzung vorstellen, die dann von den Klassenkameraden diskutiert werden sollte. Interessant ist auch der Anlass dieses Schreibens: Nicht etwa sei der Unterricht zu unattraktiv, son-
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Vgl. Niederschrift über die Sitzung zur Reform des altphilologischen Studiums, 14.6. und 29.6.1928, BA Berlin Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 99–110.
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dern er erziele zu schlechte Ergebnisse. Daher forderte Bauerschmidt „strenge [. . .] Schülerauslese und Anforderung“.639 3.2.5 Die Entwicklung des „Latinums“
Im Laufe der 1920er Jahre hatte sich in Preußen eine Fülle von Möglichkeiten ergeben, wie Absolventen von lateinlosen höheren Schulen die von den Universitäten geforderten Lateinkenntnisse nachholen und nachweisen konnten. Zum einen gab es seit 1902 eine gesetzliche Regelung, wie man durch „Ergänzungsprüfungen“ in den alten Sprachen das Reifezeugnis des Realgymnasiums oder des Gymnasiums erwerben konnte, da man ja nicht jedes Fach mit einem Zeugnis von der Oberrealschule oder dem Realgymnasium studieren konnte.640 Dabei bestimmten die Universitäten und Fakultäten, welche Art Reifezeugnis sie als Voraussetzung festlegten. Im August 1917 wurde parallel dazu eine gesetzliche Regelung erlassen, die die geforderten Lateinkenntnisse speziell für angehende Philologen in den Fächern Religion, Deutsch, neuere Sprachen und Geschichte festlegte.641 Dabei bezog man sich darauf, dass es diese Möglichkeit seit dem 2. Februar 1917 bereits für Absolventen gab, die Theologie studieren wollten.642 Aufgrund dieser vielen verschiedenen Regelungen setzte sich der preußische Kultusminister 1929 zum Ziel, eine „Vereinfachung und gleichzeitig festere Regelung der Anforderungen“ für die Lateinkenntnisse herbeizuführen.643 Die neue Prüfung sollte als „ausreichend für den Nachweis von Lateinkenntnissen auch für die Promotion in sämtlichen Fächern anerkannt“ werden. Eine Regelung für Griechisch und Hebräisch sollte später folgen.644 In der Tat waren die Regelungen von Fach zu Fach verschieden und nicht leicht zu überblicken: Juristen 639
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Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, an die Direktorate der hum. Gymnasien, Realgymnasien, Progymnasien, Lateinschulen, 9.5.1931, BayHStA, MK 14761; zum Thema schlechte Schülerleistung vgl. auch Heibges, Stephan: Erfahrungen mit der Durchführung der Richtlinien für den lateinischen und griechischen Unterricht, in: MfHS 28 (1929), S. 466–466, hier S. 467. Prüfungen früherer, mit dem Reifezeugnis abgegangener Schüler von Realgymnasien und Oberrealschulen in den alten Sprachen, 22.11.1902, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 45 (1903), S. 195–197. Besondere Prüfungen im Lateinischen und Griechischen für Studierende, 17.8.1917, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 59 (1917), S. 662–665; in diesem Text wurden zwar noch keine Fächer erwähnt, er muss aber irgendwann ergänzt worden sein, vgl. Berechtigungen der Zeugnisse von preußischen höheren Lehranstalten im Reiche und in Preußen, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 68 (1926), S. 370–374, hier S. 370. Besondere Prüfungen im Lateinischen und Griechischen für Studierende, 17.8.1917, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 59 (1917), S. 662–665. Der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Provinzialschulkollegien, Herren Universitätskuratoren, sämtliche betroffene Fakultäten des Landes, 22.10.1929, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 215. Ebenda, Bl. 215RS.
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und Mediziner ebenso wie Apotheker und Tierärzte brauchten Lateinkenntnisse, wie sie ein Absolvent eines Realgymnasiums mit grundständigem Latein nach der Obersekunda, also nach sieben Jahren, hatte.645 Von Bibliothekaren und Archivaren verlangte man solche Lateinkenntnisse, wie sie ein Abiturient eines Realgymnasiums, also nach 9 Jahren, hatte.646 Dafür hatte sich im Laufe der 1920er Jahre der Begriff „großes Latinum“ eingebürgert.647 Der Begriff „kleines Latinum“ oder nur „Latinum“ wurde hingegen für die Regelung von 1917 verwendet, mit der angehende Philologen, wie oben erwähnt, ihre Lateinkenntnisse nachweisen konnten.648 Die strengsten Regelungen hatten die Fakultäten der katholischen Theologie, die nämlich die Latein- und Griechischkenntnisse eines Abiturienten eines klassischen Gymnasiums verlangten.649 Die evangelischen theologischen Fakultäten waren weniger streng: Sie akzeptierten das „kleine Latinum“ sowie die Lateinkenntnisse nach der Obersekunda.650 Diese vielen unterschiedlichen Regelungen führten zu einer Reihe von Verwirrungen sowohl an den Schulen, die nicht genau wussten, wie sie den Schülern ihre Lateinkenntnisse bescheinigen sollten, aber auch an den Universitäten, die mit den Leistungen sehr unzufrieden waren, weswegen sie eigenmächtig Nachprüfungen anberaumten.651 Das preußische Problem weitete sich auf ganz Deutschland aus, als es um die gegenseitige Anerkennung von Reifeprüfungen ging. Auch hier spielte das Lateinniveau, das die Schularten vermittelten, eine wichtige Rolle.652 Im Einzelfall 645
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Berechtigungen der Zeugnisse von preußischen höheren Lehranstalten im Reiche und in Preußen, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 68 (1926), S, 370–374, hier S. 370–372. Ebenda. Vgl. dazu auch Morgenstern: Lateinischer Unterricht, in: Pädagogisches Lexikon, Bd. 3, Bielefeld/Leipzig 1930, Sp. 232–247, hier Sp. 238. PSK Brandenburg und Berlin an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 13.9.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 73–74, hier Bl. 74RS. Ebenda, Bl. 74; Niederschrift über die Verhandlungen in der Sitzung des Provinzialschulkollegiums vom 27. Juli 1928, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 111. Eine völlig andere Erklärung findet sich bei Poppe: Großes oder kleines Latinum?, in: Das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung, 18.8.1926, S. 15. Berechtigungen der Zeugnisse von preußischen höheren Lehranstalten im Reiche und in Preußen, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 68 (1926), S. 370–374, hier S. 370–372. Ebenda; Evangelischer Oberkirchenrat, 9.11.1928, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 112. Wahlfreier Lateinunterricht, in: Zentralblatt für die gesamte preußische Unterrichtsverwaltung 69 (1927), S. 228. PSK Brandenburg und Berlin an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 13.9.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 73–74, hier 74RS; Niederschrift über die Verhandlungen in der Sitzung des Provinzialschulkollegiums vom 27. Juli 1928, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 111. Vgl. Amtliche Auskunftsstelle für Schulwesen an Ministerialrätin Heinemann, Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 12.6.1928, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 130–135.
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konnten solche Probleme zwar immer gelöst werden,653 aber es wurde zunehmend klarer, dass eine einheitliche Regelung geschaffen werden musste. So gab es 1930 eine Anfrage des Württembergischen Kultusministeriums an die anderen deutschen Länder nach „Grundsätze[n] und Praxis“ der Ergänzungsprüfungen in Latein und Griechisch.654 In Bayern musste beispielsweise ein Jurastudent die Lateinkenntnisse eines Realgymnasiumsabiturienten nachweisen. Wer das Lehramt für neuere Sprachen studieren wollte, brauchte nur „Kenntnisse in der lateinischen Sprache, die für das Vorrücken in die 7. Klasse eines Realgymnasiums gefordert werden“. Für das höhere Lehramt in Deutsch, Geschichte und den klassischen Sprachen sowie für das Studium der Theologie brauchten die Kandidaten Lateinkenntnisse eines Gymnasialabiturienten.655 In Bayern hatte sich ebenfalls die Kurzformel „großes“ und „kleines Latinum“ eingebürgert. Allerdings meinte das „kleine Latinum“ hier die Erfüllung der Anforderungen, die Realgymnasiasten beim Übertritt in die 7. Klasse (Obersekunda) im Lateinischen zu erfüllen hatten.656 Interessant ist eine Diskussion in Bayern, die um die Lateinkenntnisse angehender Juristen kreiste, da sie offenlegt, welche Motive die Verantwortlichen für ihr Beharren auf den Lateinkenntnissen hatten. In Preußen hatte man die staatliche Lateinprüfung für Juristen abgeschafft und durch die Empfehlung ersetzt, an einem Quellenkurs teilzunehmen.657 Der Bayerische Philologenverband hatte sich über die Zögerlichkeit Bayerns beschwert, eine ähnliche Vereinfachung herbeizuführen. Sie sahen darin eine Bevorzugung der Gymnasiasten und Realgymnasiasten gegenüber den Oberrealschülern. Damit schädige man „nur seine eigenen Landeskinder“. Man forderte, dass die Lateinprüfung der Oberrealschule für das Jurastudium genügen sollte, dass solche Nachprüfungen in Latein an der Oberrealschule abgelegt werden könnten oder dass an den Hochschulen fachlich ausgerichtete Lateinkurse eingerichtet werden sollten, deren Leiter auch gleich die notwenigen Prüfungen abhalten würden.658 Die Bayerische Unterrichtsverwaltung wollte schließlich im November 1930 nur 653
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Vgl. bspw. die Bitte des Thüringischen Kultusministeriums, die Lateinkenntnisse einer Abiturientin aus Jena anzuerkennen, die gerne in Königsberg studieren wollte, Thüringisches Ministerium für Volksbildung und Justiz an preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 20.12.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 87. Württembergisches Kultusministerium an preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 9.5.1930, BayHStA, MK 14761. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Württembergisches Kultusministerium, 6.6.1930, BayHStA, MK 14761. Bayerische Staatsministerien der Justiz, des Innern und für Unterricht und Kultus an Präsidenten der Landes- und Oberlandesgerichte, Universitäten, Vorstände der Anwaltskammern, 4.11.1930, BayHStA, MK 14761, Einführung des „kleinen Latinums“, BayHStA, MK 14761. Gleichberechtigung der höheren Schularten für das Hochschulstudium, Anlage 2 zur 8. Sitzung des Ausschusses für das Unterrichtswesen, 30./31.1.1931, BayHStA, MK 14761. Verband bayerischer Philologen zum Kultusetat, 12.6.1930, BayHStA, MK 14761.
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noch das „kleine Latinum“ für angehende Juristen verlangen. Dafür holte sie gemeinsam mit den Bayerischen Staatsministerien der Justiz und des Innern die Meinungen der Landgerichte, Oberlandesgerichte sowie Universitäten ein. Sie begründeten ihre Entscheidung wie folgt: Wenn auch der Wert einer eingehenden Kenntnis des Lateinischen für den Juristen nicht verkannt werden soll, so muß doch berücksichtigt werden, daß seit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches ein tieferes, eine vollständige Beherrschung der lateinischen Sprache erforderndes Eindringen in die römischen Rechtsquellen nicht mehr in dem Maße notwendig ist wie früher.659
Mehr als die Hälfte der Angeschriebenen war zwar dafür (17 zu 7), aber die Begründungen der Gegner dieser Regelung sind sehr interessant. Man solle den Oberrealschülern den Zugang zum Jurastudium erschweren, „da sie bei ihrem hauptsächlich auf technisches Wissen ausgerichteten Bildungsgang hiefür [sic!] nicht geeignet“ seien. Und „eine Herabsetzung der Vorbedingungen würde nur einen weiteren Zustrom zum juristischen Studium herbeiführen“.660 Das Latinum als Mittel der Zugangsbeschränkung wird hier nur allzu deutlich. Anfang 1931 wird die Latinumsproblematik schließlich im „Ausschuss für das Unterrichtswesen“ im Reichsinnenministerium auf Reichsebene besprochen.661 Der zuständige Ministerialrat Eugen Löffler fasste die aktuelle Problematik zusammen und übte generelle Kritik an den Ergänzungsprüfungen in den alten Sprachen. Dieses System von Berechtigungen und Ersatzprüfungen sei unehrlich, ungerecht und in dieser Form sachlich nicht notwendig. Es sei unehrlich, weil man die Fiktion aufrecht erhalte, als ob die verschiedenen Formen der höheren Schule gleichwertig und gleichberechtigt seien, während man aber tatsächlich unter ihnen eine Rangordnung aufrichte. Es sei ungerecht, denn es begünstige die Gymnasialabiturienten in besonderem Masse. Der Gymnasiast dürfe Neuphilologie und Geschichte studieren, auch wenn er auf der Schule keinen englischen oder französischen Unterricht genossen habe und keine englischen Quellen lesen könne; ebenso könne er Physik studieren, ohne dass ihm ein Nachweis der für dieses Studium unerlässlichen Kenntnisse in der Chemie vorgeschrieben würde; ferner könne er auch ohne mathematische Ergänzungsprüfung Techniker werden.662
Zur Rechtfertigung seien „Behauptungen und Ideologien“ aufgestellt worden, die einer genaueren Überprüfung nicht standhielten. Er erwähnte dabei beispielsweise den Argumentationsgang, dass Latein das logische Denken fördere. 659
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Bayerische Staatsministerien der Justiz, des Innern und für Unterricht und Kultus an Präsidenten der Landes- und Oberlandesgerichte, Universitäten, Vorstände der Anwaltskammern, 4.11.1930, BayHStA, MK 14761. Einführung des „kleinen Latinums“, BayHStA, MK 14761. Auszug aus Niederschrift über die 8. Sitzung des Ausschusses für das Unterrichtswesen, 30./31.1.1931, BayHStA, MK 14761. Ebenda.
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Heutzutage trete – so Löffler – dafür das ebenso halbseidene Argument in den Vordergrund, dass die alten Sprachen wichtig wären, um die wissenschaftliche Terminologie zu gebrauchen.663 Natürlich wisse er, dass die alten Sprachen für Theologie, Geschichte und Sprachwissenschaft eine wichtige Voraussetzung sei, aber für Jura halte er ein Studium der Originalquellen für überflüssig. Momentan diene also das System der Ergänzungsprüfungen „im wesentlichen zur Abschreckung, zur Beschränkung des Zuganges als numerus clausus“. Das Reichsinnenministerium wünsche sich zum einen eine einheitliche Regelung, in der sich alle Länder auf eine Form des Latinums einigten. Zum anderen, dass es nur in den Fächern gefordert werde, wo es absolut notwendig sei. In der Aussprache stimmten viele mit Löffler überein, dass eine einheitliche Regelung von Nöten sei. Allerdings könnte dies nur erfolgen, wenn Unterrichtverwaltung und Universitäten an einem Strang zögen. Hier wurden Bedenken laut, dass die Hochschuldozenten Einmischungen ungern zuließen, wenn es um die Seminarvoraussetzungen gehe. Vor allem aus Bayern und Sachsen kamen hingegen Einwände, dass eine Regelung nicht nötig sei. Das Gymnasium und die alten Sprachen seien nun einmal die beste Vorbereitung für ein wissenschaftliches Studium. Auch die technischen Hochschulen wünschten sich „mehr formale Schulung und weniger materiales Wissen“ ihrer Studenten. Man sollte die Anforderungen an die Studierenden in den alten Sprachen daher eher erhöhen.664 Diese Episode zeigt zum einen die Bedeutung des Latinums als Instrument der Selektion. Hier hinein spielt der tatsächliche starke Anstieg der Studierendenzahlen zu Beginn der 1930er Jahre.665 Zum anderen zeigt sie die Rivalität zwischen Reich und Ländern: Das Reich hatte Interesse an einer einheitlichen Lösung, aber einige Länder weigerten sich. Auch die bereits häufiger angeklungene Einstellung Bayerns, die Hürden im Bildungswesen höher zu legen als es in anderen Ländern der Fall war, wird an diesem Beispiel ein weiteres Mal deutlich.666 Zudem macht die Diskussion um die Regelung des Latinums deutlich, dass das deutsche Bildungswesen, gerade weil es allgemein gültige Zugangsberechtigungen verlieh, auf juristisch einwandfreie und bürokratisch einheitliche Regelungen
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Ähnlich auch Schwarz, Sebald: Das kleine Latinum, in: Zeitschrift für das gesamte deutsche Real- und Reformschulwesen 5 (1930), S. 147. Auszug aus Niederschrift über die 8. Sitzung des Ausschusses für das Unterrichtswesen, 30./31.1.1931, BayHStA, MK 14761. Vgl. Jarausch: Krise, S. 197–200. Dazu passt auch eine Beschwerde, dass sich Bayern nicht an die am 31. Juli 1931 erlassenen „Vollzugsbestimmungen zur Schulordnung für die höheren Lehranstalten hinsichtlich des Latein-Nachweises“ halte, vgl. Reichsminister des Innern an sächsisches Ministerium für Volksbildung, 28.7.1932, BayHStA, MK 14761.
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angewiesen war.667 Dies ist ein Beispiel dafür, dass die institutionelle Logik für die Beharrungskraft des Lateinunterrichts einen wichtigen Faktor darstellt. 3.3 Humanismus, humanistisches Bildungsideal, Allgemeinbildung und die Antike: Versuch der Systematisierung einer begrifflichen Gemengelage
Bei aller Diskussion um das „Gymnasium“, das „humanistische Gymnasium“, das „altsprachliche Bildungsgut“ oder eine „humanistische Bildung“ wird klar, dass der Begriff „humanistisch“ alles andere als klar definiert war. Diese Problematik war auch vielen Zeitgenossen schon bewusst. Man verwendete den Begriff zum einen, um „humanistische“ und „realistische“ Fächer zu unterscheiden, also als „kurze[n] Ausdruck für sprachlich-geschichtliches und mathematischnaturwissenschaftliches Lehrgebiet“.668 In diesem Sinn konnte „humanistisch“ auch mit „altsprachlich“ gleichgesetzt werden. Zum anderen hatte der Begriff eine eher universelle Bedeutung als „Bildung am Menschen und zum Menschen“,669 oder „im Sinne der Herder-Humboldtschen ‚Humanität‘“ als „Gedanke der allgemeinen Menschenbildung“.670 Um 1920 wurde der Begriff häufig einfach als Synonym für „altsprachlich“ gebraucht. Der „humanistische Schultypus“ war eine höhere Schule, an der Latein und Griechisch gelernt wurde.671 Einige wie Ernst Troeltsch oder Joseph Franke reflektierten die Problematik des Begriffs, indem sie vom „humanistischen und besser altsprachlichen“ Bildungsgut672 oder „vom sogenannte[n] 667
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Es musste daher jedes kleine Detail geregelt werden, bspw. wer die Prüfungen abnehmen sollte und wo diese durchzuführen seien. Vgl. Universität Köln an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 4.8.1927, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341, Bl. 146–149, hier Bl. 149; Pressenotiz [ohne Datum], BayHStA, MK 14761; Einführung des „kleinen Latinums“, BayHStA, MK 14761. Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in der Neuen Schule, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, hier S. 416. Ebenda, S. 417. Cramer, Franz: Der deutsche Gedanke und das Bildungsideal Humboldts, in: HG 30 (1919), S. 27–35, hier S. 28. Vgl. Aus der Versammlung der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, hier S. 17, ähnlich S. 12; Leitsätze der Vereinigung der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Würzburg und Unterfranken, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 216–217, hier S. 217, Leitsatz 6: „In der humanistischen Schule ist das Lateinische die Grundlage des fremdsprachlichen Unterrichts. Neben dieser Grundsprache ist das Griechische, das als Kernstück der humanistischen Bildung gelten muß, als Pflichtfach unentbehrlich.“ Ähnlich auch Aufruf Otto Schroeder, in: Monatsschrift für die höhere Schule 18 (1919), S. 479–480, hier S. 480: wer nicht gut in Latein und Griechisch sei, sei eben „weniger humanistisch begabt“. Troeltsch, Ernst, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 146.
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humanistische[n] Gymnasium“ sprachen.673 Häufig jedoch wurde der Begriff auch so verwendet, dass er beides miteinander verband: Er meinte altsprachliche Bildung, die aber gleichzeitig den Menschen auch in einer Weise bilde, dass er sich in der Welt zurechtfinden könne, also „den Menschen zum Menschen“ bilde. So sagte beispielsweise Eduard Meyer: Die Grundlage des Gymnasiums und der universellen humanistischen Bildung, welche dasselbe vermittelt, bildet das Studium des klassischen Altertums mit seinen beiden Sprachen, dem Lateinischen und dem Griechischen.674
Viele Vertreter des altsprachlichen Unterrichts wussten aber sehr wohl zu differenzieren zwischen „humanistisch im alten Sinn“, also rein altsprachlich, und „im weiteren Sinne des Wortes“, also allgemeiner Menschenbildung.675 So stand auch in der Petition des Reichsausschusses zum Schutze des humanistischen Gymnasiums an die Nationalversammlung, dass die „Anhänger des humanistischen Gymnasiums wissen, daß es viele Wege zur Erlangung einer humanistischen Bildung im weiteren Sinne gibt“.676 Was nun die Unterscheidung zwischen „humanistischen“ und „realistischen“ Fächern betrifft, schwang dabei ein normativer Unterton mit.677 Es stand nämlich die „gute“ humanistische Bildung gegen die „schlechtere“ – materielle, utilitaristische, technische – realistische Bildung.678 Deswegen waren die Vertreter der realistischen Schultypen auch immer bemüht zu belegen, dass auch sie „humanistische Bildung in des Wortes eigentlicher Bedeutung“ vermittelten.679 Vor allem die Vertreter der Naturwissenschaften versuchten zu verdeutlichen, dass auch ihre Fächer keinem „billigen Utilitarismus“ huldigten, sondern dass es „der humanistische Gedanke der harmonischen Ausbildung der geistigen Kräfte“ sei, der diese Bildung leitete.680 Die „großen Welt- und Lebensprobleme“ sollten 673
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Franke, Joseph: Neue Ziele im altsprachlichen Unterricht, in: DPB 27 (1919), S. 320. Eduard Spranger spricht explizit vom „altsprachlichen Gymnasium“, Eduard Stremplinger vom humanistischen Gymnasium „mit Griechisch und Latein“, beide in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 179, 191. Meyer, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 115. Boll: Sinn und Wert, S. 7; ähnlich auch Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 3. Petition, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 212–214, hier S. 213. Siehe Kapitel IV.2.2.1; IV.3.4.1. Theodor Litt und Harald Patzer verwiesen in den 1950er bzw. 1960er Jahren genau auf diese Herabsetzung der naturwissenschaftlichen Bildung und sahen dies als die Ursache dafür, dass ein traditionelles humanistisches Bildungsideal in ihrer Gegenwart nicht mehr zu überzeugen vermochte. Vgl. Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in der Neuen Schule, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, hier S. 417. Eickhoff, Richard: Eine Arbeitsgemeinschaft der Realschulfreunde, in: DPB 27 (1919), S. 638. Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Un-
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behandelt werden und eine „philosophische Vertiefung des Unterrichts [. . .] eine idealistische Weltauffassung“ herbeiführen.681 Von anderer Seite wurde darauf hingewiesen, dass das Gymnasium mit seinem Grammatikdrill keine humanistische Bildung im eigentlichen Sinne vermittle – zahlreiche Karikaturen schon im Simplicissimus des späten Kaiserreichs legen darüber Zeugnis ab.682 Richard Eickhoff schrieb beispielsweise 1919, dass es zwar an „‚humanistischen‘ Schulen“ in Deutschland keinen Mangel gebe, „daß aber in den letzten Jahrzehnten der Geist der Humanität in ihnen besonders gepflegt worden sei, wird man füglich nicht behaupten können“.683 Diese begriffliche Gemengelage spiegelt auch eine Diskussion auf der Reichsschulkonferenz wider. Johannes Tews, ein Vertreter der Einheitsschulidee, fragte in seinem Vortrag, ob es noch zeitgemäß sei, dass sich einzelne Schulen als „humanistische Schulen“ bezeichneten und „Humanismus“ so nur auf Rom und Griechenland bezogen werden werde. Er plädierte daher für deutsche Bezeichnungen der verschiedenen Zweige der höheren Schule, „altsprachliche, neusprachliche, naturwissenschaftliche, deutsche Schule“. Tews fasste den Begriff „Humanismus“ ebenfalls weiter und bezog ihn auf „alles, was in der ganzen Menschheit Hohes und Großes gedichtet und gedacht worden ist“. Die antiken Schriftsteller empfand er ebenfalls als wichtige „Bildungsgüter“, die dem ganzen Volk zugänglich gemacht werden sollten, auch wenn man mit Übersetzungen arbeiten müsste.684 Ernst Goldbeck vom „Reichsschulausschuß zum Schutze des humanistischen Gymnasiums“ stimmte Tews zu: Die Gymnasien wollten
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terrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 3. Maurer, August: Stellung und Aufgaben des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. Betrachtungen zu den Thesen des Vereinsvorstands vom 7. Oktober 1916, in: UMN 23 (1917), S. 2–12, hier S. 9. Ähnlich auch Schmid, Bastian: Vor neuen Aufgaben, in: UMN 25 (1919), S. 2–6, hier S. 5; vgl. auch Enger, Theodor: Sprachen und Sprachunterricht in der Neuen Schule, in: MfHS 19 (1920), S. 408–439, hier S. 417. Vgl. Simplicissimus 4 (1899), S. 20, 276; Simplicissimus 6 (1901), S. 261: Karikatur eines Gymnasiallehrers, der sagt „Sie kennen nicht einmal jenen wenn auch seltenen, so doch berühmten Versfuß, den Proceleusmatikus? Und Sie wollen in einigen Wochen das Gymnasium verlassen und in das praktische Leben hinaustreten?“; Simplicissimus 7 (1902), S. 165: Der Gymnasiast: „So oft ich in der Nase bohr, muß ich dreißig Verse Homer auswendig lernen. Das nennt man dann humanistische Bildung.“; Simplicissimus 9 (1904), S. 63; Simplicissimus 10 (1905), S. 29: Professor zu seiner Tochter „Und wenn du die ganze Nichtswürdigkeit deines Verführers kennen lernen willst, so wisse, daß er stets jubeo [sic!] mit ut konstruiert hat.“; Simplicissimus 12 (1907), S. 57: Simplicissimus 13 (1908), S. 337; Simplicissimus 14 (1909), S. 448. Eickhoff, Richard: Die Humanisierung der Erziehung, in: DPB 28 (1920), S. 78; ursprünglich am 28.12.1919 in einer Zeitung erschienen. Referat Tews, Reichsschulkonferenz 1920, S. 468. Otto Immisch ist mit dieser Ansicht nicht einverstanden, vgl. Immisch, Otto: Die humanistische Bildung und die Gegenwart, in: HG 34 (1924), S. 9–19, hier S. 10.
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kein „Monopol“ auf humanistische Bildung, denn es gebe „viele Wege zur Humanität“.685 Sein Zusatz „[g]ewiß braucht man nicht Lateinisch und Griechisch zu können“ wurde vom Plenum mit einem „Bravo!“ versehen.686 Natürlich sei „Humanität“ auch auf der Volksschule zu „erkämpfen“. Dafür bräuchte man allerdings dort kein Latein oder Griechisch, auch nicht in Übersetzung.687 „Von innen heraus gibt es eine Humanisierung der Volksschule“688 – was auch immer er damit meinte. Wenn der klassische Philologe Engelbert Drerup auf einem Vortrag 1919 sagte, „[g]erade das humanistische Gymnasium aber ist die Pflegestätte der humanistischen Bildung“,689 dann treten die beiden Bedeutungen des Wortes deutlich hervor, aber auch eine gewisse Absurdität der Begriffsverwendung. Diese Tendenz lässt sich auch bei der Diskussion um die preußische Denkschrift von 1924 beobachten. Hier wurde das Gymnasium vermutlich zum ersten Mal offiziell als „altsprachliches“ Gymnasium bezeichnet. Insgesamt wurden die Attribute der Schultypen „altsprachlich“, „neusprachlich“ und „mathematischnaturwissenschaftlich“ zum ersten Mal offiziell verwendet690 – auch wenn die alten Bezeichnungen weiterhin beibehalten wurden.691 Allerdings deutet dies noch nicht darauf hin, dass sich eine verstärkte Ablösung des altsprachlichen Elements vom Begriff „humanistisch“ ergeben hätte. Die Begriffe „humanistisches Gymnasium“, „altsprachliches Gymnasium“ oder nur „Gymnasium“ wurden synonym verwendet für diejenige höhere Schule, die die Antike in den Mittelpunkt stellte. Die Richtlinien bezeichneten diesen Schultyp als diejenige höhere Schule, die „eine humanistische Bildung besonderer Prägung“ vermittle.692 Diese Formulierung zeigt einmal mehr die unklare Definition des Begriffs „humanistisch“. Selbst führende Altphilologen beanspruchten den Humanismus nicht 685
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Goldbeck während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 512; ähnlich auch Aus der Versammlung der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, S. 16. Goldbeck während der Aussprache, Reichsschulkonferenz 1920, S. 512. Ebenda. Ebenda. Interessant ist, dass Goldbeck nicht das Wort „Humanismus“, sondern „Humanität“ und „Humanisierung“ verwendet. Aus der Versammlung der Freunde des humanistischen Gymnasiums, in: HG 30 (1919), S. 12–23, S. 18. Vgl. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 39, 46, 48. Vorarbeiten zur Reform, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 21–22: Die Oberrealschule werde „sich als das mathematische naturwissenschaftliche Gymnasium entwickeln“. Der Begriff wird so auch verwendet in: Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 105. Vgl. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 53–55. Zitat: Richtlinien, S. 276. Zur Verwendung der Begriffe vgl. Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, S. 39–43; vgl. auch Wecker: Sprachunterricht auf Sexta, S. 48: „humanistische Bildung, die zugleich deutsche Bildung ist“, hier ist aber altsprachlicher Unterricht gemeint; ähnlich Bohlen: Auswirkungen, Vortrag Rosenthal, S. 75.
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exklusiv für sich. Laut Otto Regenbogen gab es „auch wahre Humanisten [. . .], die nicht Philologen von Fach sind“, es genüge, sich „den großen Werken des Altertums und den in ihnen beschlossenen Werten [. . .] willig hinzugeben“. Humanismus sei „wohl die europäische Bildungsidee“ und für Humanisten gelte es, „nicht nur ein Schulfach zu unterrichten, sondern zu werben [. . .] für die Bildungsidee des Abendlandes“.693 Theodor Walker beobachtete damals ganz treffend: Die [. . .] Loslösung des Begriffes einer humanistischen Bildung vom Bildungsgut der alten Sprachen und der antiken Kultur und dessen Ausdehnung auf jeden sprachlichgeschichtlichen Unterricht von derselben geistigen Haltung wurden aber von einem Teil der Altphilologen bekämpft; von den Neuphilologen wurden sie nicht bewußt und gründlich erstrebt.694
Darüber hinaus gab es während der 1920er Jahre zwei parallele Humanismusdiskurse. Otto Regenbogen hatte 1927 von einer zweifachen Verwendung des Begriffs „Humanismus“ gesprochen. Der eine meine den „Dritten Humanismus“ nach Werner Jaeger; der andere sei ein „metaphorischer Humanismusbegriff “, der nach Eduard Spranger „alle irgendwie menschenbildenden Werte umgreifen soll“.695 Ersterer stehe für einen internen Diskurs der klassischen Philologie, Letzterer eher für einen bildungspolitischen Gesamtdiskurs. Daher gingen auch bei der Diskussion um die Vermittlung „humanistischer Bildung“ die Positionen auseinander. Die einen waren der Meinung, dass alle höheren Schulen ein humanistisches Ziel verfolgten,696 die anderen meinten, dass humanistische Bildung nur „durch das Ringen um die Aneignung der griechischen und römischen Kulturwerte gewonnen“ werden könne.697 Aufschlussreich ist dafür eine Passage aus der Schrift „Deutscher Geist in Gefahr“ des Romanisten Ernst Robert Curtius von 1932, in der er kritisiert, dass der „Existenzkampf des humanistischen Gymnasiums mit dem Schicksal des Humanismus“ ineinsgesetzt werde. Denn: Mit immer blasseren Abbildern, mit immer dünneren Aufgüssen überholter Erziehungsideale – mögen sie sich auf Melanchthon oder Johannes Sturm oder Wilhelm v. Humboldt berufen – ist das hohe Gut nicht zu retten. Weder eine Schulgattung noch ein wissenschaftliches Einzelfach darf sich anmaßen, der Hüter dieses Schatzes zu sein. Das gilt selbst von der klassischen Philologie.698
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Regenbogen, Otto: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 144–161, hier S. 161. Walker, Theodor: Berechtigung und Notwendigkeit eines neusprachlichen Gymnasiums, in: DPB 32 (1924), S. 396–399, hier S. 397. Regenbogen: Besprechung, S. 81. Vgl. Harnisch, Albert: Ein neuer Aufbauplan für die höhere Schule, in: DPB 1930, S. 389– 393, hier S. 391, FN 1; Rosenthal: Volksgymnasium, S. 17. Nissen: Eine dringende Aufgabe, MDAV 4 (1930), S. 44–47, hier S. 46. Curtius: Deutscher Geist, S. 105.
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3.3.1 Die Entwicklung des „Erneuerten“ oder „Dritten Humanismus“ als altphilologischer Fachdiskurs
Parallel zu der Veränderung eines eher allgemeinen Humanismusbegriffs entwickelten die Altphilologen also ihr eigenes Verständnis von Humanismus weiter. Wesentlich in den 1920er Jahren dafür war, dass sich die Altphilologen von dem Humanismusbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts verabschiedeten, der sich „auf das alte Griechenland und Rom“ richtete699 und der die Antike nachahmen wollte.700 Es ging vielmehr darum, „Lust und Liebe“701 für die Antike zu empfinden und „Lebenskräfte“ aus ihr zu gewinnen, um sich „auf die dringlichsten Gegenwartsprobleme einzustellen“.702 Ihr Referenzpunkt für diese neuen Ansichten war Werner Jaeger.703 Denn Jaegers „Erneuerter Humanismus“ wollte den „Humanismus [. . .] nach der Seite des Erlebnisses“, nicht der Tradition werten.704 In dieser eher ganzheitlichen Ausrichtung des Humanismusbegriffs spiegelt sich eine Entwicklung wider, die auch außerhalb der klassischen Philologie zu beobachten war. In der preußischen Denkschrift von 1924 beispielsweise wurde „die Ablehnung des intellektualistischen Charakters“ der höheren Bildung, also einer rein auf den Geist ausgerichteten Bildung, proklamiert. Die neue Bildung sollte „alle Anlagen im Menschen, auch seinen Körper, den Willen, das Gefühl, das Irrationale [. . .] zu einer Harmonie der Gesamtpersönlichkeit ausgestalten“.705 Diese Erneuerung des Humanismusbegriffs bedeutete allerdings nicht, dass Wilhelm von Humboldt als Bezugsgröße verschwand. Auch in den 1920er
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Immisch, Otto: Die humanistische Bildung und die Gegenwart, in: HG 34 (1924), S. 9–19, hier S. 11. Immisch, Otto: Die humanistische Bildung und die Gegenwart, in: HG 34 (1924), S. 9–19, hier S. 19; vgl. auch Groeger, M.: Die Reform des höheren Schulwesens und das klassische Altertum, in: DPB 32 (1924), S. 174–176, hier S. 175. Groeger, M.: Die Reform des höheren Schulwesens und das klassische Altertum, in: DPB 32 (1924), S. 174–176, hier S. 175. Immisch, Otto: Die humanistische Bildung und die Gegenwart, in: HG 34 (1924), S. 9–19, hier S. 18f. Vgl. Immisch, Otto: Die humanistische Bildung und die Gegenwart, in: HG 34 (1924), S. 9– 19, hier S. 19; Walker, Theodor: Berechtigung und Notwendigkeit eines neusprachlichen Gymnasiums, in: DPB 32 (1924), S. 396–399, hier S. 399; Krüger, Max: Die alten Sprachen, in: Internationale Jahresberichte für Erziehungswissenschaft 1 (1925), S. 69–79, hier S. 70; Kroymann, Emil: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 129–144, hier S. 130. Kroymann, Emil: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 129–144, hier S. 130. Vgl. auch Jaeger: Der Humanismus als Tradition und Erlebnis. Neuordnung der preußischen höheren Schule, S. 9f. Gerade die Ablehnung des Intellektualismus erinnert an Argumentationsformen, die die Nationalsozialisten verwenden sollten. Daraus aber Richert und seine Reformen zu Vorboten des Nationalsozialismus zu machen, wäre unlauter. So geschehen bei Becker/Kluchert: Bildung, S. 370.
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Jahren wurde er durchweg positiv konnotiert.706 Vor allem wird er für „[s]eine Erkenntnis des eigentümlichen Wertes des Sprachstudiums für die Formung des Geistes“ zitiert.707 Dies deutet auch darauf hin, dass für die Altphilologen trotz der Erweiterung um andere körperliche Komponenten wie Gefühle die Bildung des Geistes eine wichtige Bezugsgröße blieb. Otto Immisch beispielsweise hielt diese „schädliche [. . .] Verstandesfeindlichkeit“ für gefährlich, da die „Überschätzung alles Subjektiven und jene Ichverherrlichung“ die Schuld trage „an der Zerklüftung unserer Gesellschaft, an der heillosen Zerfahrenheit des öffentlichen Geistes, an der Stillosigkeit unseres Lebens“.708 Für die Altphilologen hatten die Impulse durch den „Dritten Humanismus“ nach Jaeger eine unglaubliche Tiefenwirkung. Kein Lehrgang,709 kein Vortrag bei den Landesverbänden des DAV710 oder beim Gymnasialverein711 kam ohne einen Bezug zu Jaeger und dem „Dritten Humanismus“ aus.712 Die Vertreter des Gymnasiums waren schon lange um die Modernisierung ihrer Schulart und des altsprachlichen Unterrichts bemüht, und hatten nun endlich im „Dritten Humanismus“ einen theoretisch-ideelle Grundlage gefunden. Sogar die Vossische Zeitung versah ihren Artikel über die Berliner Gymnasialtagung mit dem Titel „Das humanistische Gymnasium. Die neue Antike“.713 Peter Kuhlmann ist der Meinung, dass der DAV wegen seiner Gründungsgeschichte bzw. der hohen Position Jaegers „lange ein Verbreitungsorgan des Jaegerschen Humanismus“ gewesen sei. Dies ist sicherlich richtig, allerdings kommt in dieser Darstellung 706
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Vgl. Bucherer, Fritz: Preußische Reformpläne, in: HG 34 (1924), S. 77–78, hier S. 78; Regenbogen, Otto: Was erwarten Schule und Universität auf dem Gebiete des altsprachlichen Unterrichts voneinander?, in: NJf WuJ4 (1928), S. 144–161, hier S. 151; Kranz: Die neuen Richtlinien, S. 12–15; Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 127, 132; Diedrich, Bruno: Die Idee des Humanismus, in: HG 37 (1926), S. 176–179; Allgemeine Konferenz der Kollegien des Realgymnasiums mit Gymnasium und des Lyzeums, Goslar, 27.9.1929, GStAPK, Gen. Z, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 60–64: Hier wirbt Schulbeamter Becker für eine Erneuerung auch am Gymnasium und vergleicht die momentane Situation mit der Humboldts nach den napoleonischen Kriegen. Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 128, Vortrag Jaeger (s. auch Jaeger: Antike und Humanismus, S.26); S. 129, Vortrag Hoffmann; Kranz: Die neuen Richtlinien, S. 35. Immisch, Otto: Zur Denkschrift des preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 36 (1925), S. 14–15, hier S. 15; ähnlich auch Immisch, Otto.: Die humanistische Bildung und die Gegenwart, in: HG 34 (1924), S. 9–19, hier S.19. Vgl. PSK Sachsen an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 8.10.1931, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 38–98, hier Bl. 40RS-41. Listmann, Karl: Hessische Altphilologen-Tagung, in: MDAV 2 (1928), S. 39–42, hier S. 41. Immisch, Otto: Die Erneuerung des Humanismus, in: HG 39 (1928), S. 1–15, hier S. 1. Einen Einfluss auf die höheren Schulen in Sachsen und Preußen konnte Flöter feststellen, vgl. Flöter: Eliten-Bildung, S. 76–78. Vgl. dazu auch Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 211f. Das humanistische Gymnasium. Die neue Antike, in: Vossische Zeitung, 9.4.1925, Abendausgabe, S. 4.
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etwas zu kurz, dass die Altphilologen geradezu nach einer Grundlage gierten, die ihre Modernisierung wissenschaftlich unterstützte. Dafür, dass sich die Vorstellungen Jaegers noch bis in die 1950er Jahre halten konnten, nennt Kuhlmann zwei Gründe: Zum einen hatten die Schüler Jaegers wie Viktor Pöschl, Richard Harder und vor allem Wolfgang Schadewaldt, „der vielleicht einflussreichste deutsche Gräzist der Nachkriegszeit“, starken Einfluss in der klassischen Philologie. Zum anderen wurde die didaktische Schrift von Max Krüger, die ebenfalls vom „Dritten Humanismus“ inspiriert war, 1959 neu aufgelegt und erschien 1963 sogar in weiterer Auflage.714 Der „Erneuerter Humanismus“ oder auch „Dritte Humanismus“ hatte mit seinen Vorgängern eines gemeinsam: Auch er stellte das Griechische ins Zentrum, weil es nämlich „in Fragen der einen Menschenbildung [. . .] einen bisher unerreichten Gipfel“ darstelle.715 In der Bewertung des Römertums war der Dritte Humanismus aber etwas freundlicher und unterschied sich von der „Römerverachtung mancher Philhellenen“ aus früherer Zeit.716 Die Römer seien die „ersten Humanisten“717 gewesen, die sich zum ersten Mal „mit dem griechischen Stammbild der Kultur“ auseinandergesetzt hätten718 und somit in der Gegenwart als Vorbild „unseres eigenen Ringens um die Antike“ dienen sollten.719 Die römische Literatur wurde neu bewertet. Sie war nicht mehr „griechische Literatur in lateinischer Sprache“, sondern die römische Rezeption der Griechen wurde als „komplexes Phänomen“ begriffen.720 Parallel dazu hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine Bewunderung der Römer herausgebildet, die sie um ihrer selbst willen schätzte. Dies hatte im Zeitalter des Hochimperialismus seinen Ursprung in der „politischen Erfolgsgeschichte der Römer“.721 Die Bewunderung für den Aufbau und den Erhalt des römischen Reiches findet sich beispielsweise
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Kuhlmann: Humanismus, S. 414. Schoy, Anton: Humanistische oder altsprachliche Bildung, in: MDAV 3 (1929), S. 26– 29, hier S. 28. Vgl. auch Jaeger: Antike und Humanismus, S. 12: „Die Griechen sind das Bildungsvolk der Menschheit geworden, weil sie die eigentlichen Schöpfer der Bildung, d. h. der reinen Menschenbildung sind. Alle Völker haben Erziehung, die Griechen Bildung.“ Curtius: Deutscher Geist, S. 112. Sellheim, Rudolf: Der Konzentrationsgedanke in der lateinischen Lektüre der Oberstufe, in: DPB 36 (1928), S. 395–396, hier S. 395. Jaeger selbst spricht 1929 von den Römern als „ersten wirklichen Humanisten“, vgl. Jaeger: Die geistige Gegenwart der Antike, S. 178; ähnlich Jaeger: Antike und Humanismus, S. 20. Vgl. auch Regenbogen: Besprechung, S. 81. Dazu auch Landfester: Dritter Humanismus, Sp. 881. Meister, Richard: Das Bildungsziel des altsprachlichen Unterrichts, in: MDAV 1 (1927), S. 65–70, hier S. 68. Meister, Richard: Die gegenwärtige Problemlage der humanistischen Bildungsidee, in: HG 41 (1930), S. 65–71, hier S. 70. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 154. Ebenda.
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143
auch bei Paul von Hindenburg.722 Im Lehrplan des DAV sind beide Richtungen zu finden, wobei der lateinische Lektüreplan einen Schwerpunkt auf die „Staatlichkeit Roms“ legt.723 Diese Entwicklungen sind wichtig, um nachvollziehen zu können, in welchem Verhältnis die Fächer Latein und Griechisch zueinander standen. Das Paradoxe ist, dass Latein im Hinblick auf die Stundenzahl dem griechischen Unterricht immer überlegen war,724 jedoch nie an dessen argumentative Bedeutung heranreichte. Wenn es um ideelle Argumentationen ging, also um Ästhetik oder Werthaftigkeit, kam dem Griechischen die bei weitem größere Bedeutung zu. In den 1920er Jahren kam immer mal wieder im Zuge der Stundenkürzungen die Frage auf, ob nicht das Griechische zugunsten des Lateinischen in den Hintergrund treten könne.725 Das Problem dabei war aber, dass man nicht wirklich eine „humanistische“ Begründung jenseits der Griechen für das Lateinische hatte. Die praktischen Begründungen und „wohlbekannten Wendungen“, dass das Lateinische logisch und die Römer patriotisch seien, reichten nicht aus.726 Erste Versuche, dem „Römertum eine Stelle innerhalb der humanistischen Bildung“ zu geben, unternahm Eduard Fraenkel auf der Gymnasialtagung 1925.727 Allerdings blieb die traditionelle Aufgabenverteilung der beiden alten Sprachen dominierend.728 Ein Eintrag im Pädagogischen Lexikon von 1930 unter dem 722 723
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Vgl. Hindenburg: Aus meinem Leben, S. 9–11. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 161; vgl. auch Landfester: Naumburger Tagung, S. 35. Zum Verhältnis von Drittem Humanismus und Latinistik vgl. Schmidt: Anpassungsdruck, S. 166–181. Dies hat Bas van Bommel in seiner Studie zur humanistischen Bildung im 19. Jahrhundert eindrucksvoll herausgearbeitet, vgl. Bommel: Classical Humanism, S. 6–12. Vgl. Grünwald, Eugen: 24. Jahresversammlung, in: HG 32 (1921), S. 97–127, hier Ausschnitte aus Rede Boelitz, S. 119f. Regenbogen: Besprechung, S. 68; Curtius: Deutscher Geist, S. 108. In der Tat wird die Aufgabenteilung Latein = Logik, Griechisch = Idealste Schöpfung des Menschengeistes immer wieder angeführt, vgl. Kundgebung von Dozenten der Universität Rostock, in: HG 38 (1927), S. 168. Regenbogen: Besprechung, S. 68; Zusammenfassung von Fraenkels Vortrag bei Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127–136, hier S. 129. Fraenkel war beeinflusst von Friedrich Leo, Richard Heinze und Eduard Norden, vgl. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 154. Vgl. auch Morgenstern: Lateinischer Unterricht, in: Pädagogisches Lexikon, Bd. 3, Bielefeld/Leipzig 1930, Sp. 232–247, hier Sp. 236. Ähnlich äußert sich auch Ernst Robert Curtius: Deutscher Geist, S. 112; Weinrich: Curtius, S. 207. Vgl. dazu auch Schmidt: Anpassungsdruck. Vgl. Norden: Bildungswerte, S. 5: „Daß die griechische Sprache und Literatur das Rückgrat des humanistischen Gymnasiums ist und bleiben muß, darüber gibt es in dem geistigen Deutschland Humboldts keine Meinungsverschiedenheit.“ Ähnlich auch Nissen: Eine dringende Aufgabe, in: MDAV 4 (1930), S. 44–47: „[E]in Gymnasium ohne Griechisch ist ein Messer ohne Klinge“; Georg Rosenthal gab dem Lateinischen eindeutig den Vorzug, Rosenthal: Volksgymnasium, S. 19; Rosenthal wurde dafür aber auch stark kritisiert von Schoy, Anton: Humanistische oder altsprachliche Bildung, in: MDAV 3 (1929), S. 26–29,
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Schlagwort „Lateinischer Unterricht“ versuchte sich an einem Unterpunkt mit dem Titel „Der Bildungswert des lateinischen Unterrichts“. Hier wurde allerdings nur auf die Schulung der Muttersprache durch die Beschäftigung mit dem Lateinischen rekurriert. Dabei nahm im Übrigen der Topos vom Latein als logischer Sprache einen breiten Raum ein: „Das Lateinische gilt mit Recht als eine besonders logische Sprache[. . .].“729 Dies zeigt deutlich, wie sich solche Behauptungen im Diskurs hielten und reproduzierten, auch wenn die Fachwissenschaft bereits darauf verzichtete. Dies änderte sich erst in der Nachkriegszeit, als Latein im Zuge des „christlichen Humanismus“ zur „Muttersprache des Abendlandes“ avancierte.730 3.3.2 Humanismus ohne Antike?
Allerdings ist die Trennung von allgemeinem Humanismus und Humanismus für Altphilologen eine nachträgliche analytische Trennung, um in die Begriffsverwirrung eine Ordnung zu bringen. In der Realität waren die Ebenen häufig miteinander verstrickt, wie folgende Äußerungen Werner Jaegers zeigen: Zwar sei laut Jaeger „[a]lle echte Bildung [. . .] humanistisch“, da sie „Bildung des Menschen zum Menschen“ sei, und „[a]lles andere [. . .] doch nur Ausbildung“.731 Aber da dieses Verständnis von Bildung „das griechische Bildungserlebnis“ sei, sei es eben doch unlöslich mit der Antike verbunden.732 Auch warnte Jaeger davor, die Altertumswissenschaft mit Humanismus gleichzusetzen, da sie zur reinen „Forschungsdisziplin“ geworden sei.733 Dennoch sei der kühnste Gedanke Humboldts, die Zentralstellung der alten Sprachen und die Bewertung des sprachlichen Studiums als geistesformender Kraft [. . .] auch heute noch die tragfähigste Grundlage einer humanistischen Bildung der Jugend.734
Sogar die Mathematik und die Naturwissenschaften stellten ihre Verbundenheit zur Antike heraus, um den ebenfalls humanistischen Charakter ihrer Fächer zu verdeutlichen. Sie verfolgten „kein Fachziel, sondern ein kulturelles Ziel“, gaben sie doch dem Schüler „das Werkzeug [. . .] zum Verständnis der technischen und wirtschaftlichen Grundlage der deutschen Gesamtkultur“.735
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hier S. 28; dies stand nach Meinung Schulz’ auch im Gegensatz zum „Dritten Humanismus“, vgl. Schulz: Lebendiges Latein, S. 6f. Morgenstern: Lateinischer Unterricht, in: Pädagogisches Lexikon, Bd. 3, Bielefeld/Leipzig 1930, Sp. 232–247, hier Sp. 242. Siehe Kapitel IV.1.2. Jaeger, Antike und Humanismus, S. 8. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 11f. Ebenda, S. 26. Potthoff, Richard: Die Stellung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer in der preußischen Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 257–259, hier S. 258. Vgl. auch Aussprache über die Neuordnung in Preußen, in: UMN 30 (1924), S. 29–31, hier S. 30; vgl. Winder-
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Zudem unterstütze gerade die Mathematik am Gymnasium die „Verdeutlichung des antiken Weltbildes“.736 Ebenso könnten auch die Naturwissenschaften „die Schüler philosophisch bilden, nicht bloß das Griechische“.737 Die Vertreter der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer wehrten sich gegen die Annahme, dass die Kenntnisse, die im naturwissenschaftlichen Unterricht erworben würden, eine „überwiegend utilitaristischen Bewertung“ erführen.738 Der naturwissenschaftliche Unterricht erstrebe wie die Geisteswissenschaften ein humanistisches Ziel, wenn er den jungen Menschen im Geist der Selbständigkeit [. . .] in ein Verhältnis zur Umwelt hineinwachsen läßt, wenn er ihn auf diese Weise zu Wirklichkeitssinn und gesunder Kritik erzieht.739
Gerne garnierten sie ihre Aussagen, ebenso wie die Altphilologen, mit Zitaten aus Goethes Faust.740 Für die Altphilologen war ein Humanismusverständnis, das über rein Fachliches weit hinausging, unerlässlich. So hatten sie nämlich ein gutes Argument zur Hand, warum die Fächer Latein und Griechisch Bildung über die spezifische Fachbildung hinaus vermittelten. Die alten Sprachen seien nämlich ein unverzichtbares Instrument zur „allgemeinen Menschenbildung“. Wichtig ist dabei aber zu unterschieden zwischen dem Begriff „Allgemeinbildung“, so wie er in den 1920er Jahren verstanden wurde, und eben dem der „allgemeinen Menschenbildung“. Denn dies war nicht dasselbe. Bei den Diskussionen um die Vorstellung von Bildung tauchte der Begriff Allgemeinbildung kaum auf und wenn, war er negativ konnotiert. Dies deutet auf eine semantische Veränderung des Begriffs Allgemeinbildung hin. Dies wird besonders bei der preußischen Denkschrift von 1924 deutlich. Der „Kampf um das Bildungsideal der höheren Schule“ werde „mit der Leidenschaft und Inbrunst eines Religionskrieges geführt“, konstatierte die Denkschrift gleich zu Beginn. Dies sei der beste Beweis, dass es „anders als nach dem Zusammenbruch nach 1806“ kein einheitliches
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740
lich, R.: Der Kulturwert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, in: DPB 33 (1925), S. 17–19. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 99; ähnlich auch ebenda, Bl. 98. Ebenda, Bl. 104. Ähnlich auch Jahnke mit Schulvertretern, 27.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 212–220. Bl. 218. Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 104. Potthoff, Richard: Die Stellung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer in der preußischen Schulreform, in: DPB 32 (1924), S. 257–259, hier S. 258. Ähnlich auch Lehrpläne und Stoffverteilung an Richert, 14.10.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 84–126, hier Bl. 104f.; Klatt, Willibald: Die Berliner Gymnasialtagung I, in: HG 36 (1925), S. 127– 136, hier S. 134, Vortrag Poske. Vgl. Winderlich, R.: Der Kulturwert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, in: DPB 33 (1925), S. 17–19, hier S. 19.
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II. Die Weimarer Republik
Bildungsideal mehr gebe.741 Daher sei man gewillt, den „Bildungsgrundsatz der allgemeinen Bildung“ aufzugeben und in „bewußter Arbeitsteilung“ der Schulen „die Gesamtbildung zu berücksichtigen“,742 ohne ein „Spezialistentum auszubilden“.743 Dies war die Abkehr von einem Allgemeinbildungsbegriff, der die „Bekanntschaft mit der ganzen Summe unseres heutigen Wissens“ meinte744 und auf Johannes Schulze zurückging.745 Die Ablehnung einer so verstandenen Allgemeinbildung wurde allseits begrüßt.746
4 Zwischenfazit Das Schulsystem in der Weimarer Republik stand vor vielen verschiedenen Herausforderungen: Durch die sich ändernden Anforderungen an eine höhere Schulausbildung, denen das deutsche Schulsystem mit flexiblen, pragmatischen Lösungen begegnet war, war bis in die 1920er Jahre ein vielgestaltiges – Zeitgenossen sagten chaotisches – Schulwesen entstanden, das es zu vereinheitlichen galt. Zunächst war diese Vereinheitlichung eine länderinterne Forderung gewesen, aber mit der erhöhten Mobilität von Beamten und Akademikern weitete sich die Forderung auf das ganze Reich aus. Hinzu kam, dass eine deutschlandweite Anerkennung des Abiturs auch einheitliche Standards verlangte. Die Entwicklung des Latinums ist ein Beispiel für diese Standardisierungsprozesse. Es zeigt zugleich, welche Bedeutung dem Faktor der institutionellen Logik im deutschen Schulwe741 742 743 744
745
746
Neuordnung der preußischen höheren Schule, S. 3; Jahnke mit Schulvertretern, 27.6.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 1, Bl. 212–220, hier Bl. 213 RS. Neuordnung der preußischen höheren Schule, S. 9. Richtlinien, S. 112. Denkschrift des Preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35 (1924), S. 168–173, hier S. 169; dazu auch Neuordnung der preußischen höheren Schule, S. 3–8; Sprengel, Johann Georg: Die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens und der deutsche Bildungsgedanke, in: DPB 32 (1924), S. 133–135, hier S. 133f.: Besser als „eine blutlose Allerweltsbildung“ sei „der biologische Gedanke einer im Wesen des eigenen Volkstums verwurzelten allgemeinen deutschen Geistesbildung“. Vgl. Neuordnung der preußischen höheren Schule, S. 9. Schulze war ein preußischer Bildungspolitiker zur Zeit der preußischen Reformen und arbeitete ab 1818 unter Freiherr vom Stein im neu geschaffenen preußischen Kultusministerium. Er nahm maßgeblich Einfluss auf die Gestaltung des Gymnasiums. Vgl. Varrentrapp: Johannes Schulze; Schneider-Taylor: Johannes Schulze, bes. S. 225–266; 300f. Paulsen kritisierte Schulze scharf und auch zu Lebzeiten gab es bereits den „Vorwurf des Enzyklopädismus“. Des Weiteren findet sich auch hier das Zitat der Denkschrift. Vgl. Reisebericht von der Hauptversammlung des preußischen Philologentages in Göttingen, 12.6.1924, GStAPK, Gen. cc, Nr. 2, Bd. 5, Bl. 78–80, hier Bl. 79; Denkschrift des Preußischen Landesverbandes gymnasialer Vereinigungen, in: HG 35 (1924), S. 168–173, hier S. 169.
4 Zwischenfazit
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sen zukam. Hinsichtlich der Diskussion über die Verbesserung des Schulsystems in Preußen ist dabei bemerkenswert, dass auf ministerialer Ebene versucht wurde, Lehrerverbände und Schulen in die Reformprozesse einzubinden. Vor allem die Lehrerverbände hatten dabei maßgeblichen Einfluss. Für den altsprachlichen Unterricht waren beispielsweise Otto Immisch und Werner Jaeger, die beide wichtige Positionen im Gymnasialverein und im DAV innehatten, wichtige Ansprechpartner für die preußischen Schulreformer. Allerdings muss bei aller Bereitschaft zu Reformen konstatiert werden, dass diese Bereitschaft immer dann an ihre Grenze gelangte, wenn die Eigenständigkeit der höheren Schule zur Disposition stand. Alle Versuche, das Schulwesen von der Grundschule über die Volks- und Mittelschulen bis zum Abitur einheitlich zu organisieren, scheiterten am Widerstand einer Allianz aus Gymnasialeltern, Philologen, Universitäten und Kirchen.747 Dies ist ein Zeichen dafür, dass diese Gruppen bereits in der Weimarer Republik zu den systemimmanenten Reformern zu zählen sind. Die Frage der Fremdsprachen war für die Ordnung des höheren Schulwesens auf mannigfache Weise von Bedeutung. Die verschiedenen Regelungen, welcher höhere Schultyp wann welche Fremdsprache lehrte, machte eine Vereinheitlichung schwer. Dabei hing auch vieles an der Einstellung derjenigen Akteure, die die Position vertraten, dass der wissenschaftliche Charakter der höheren Schule mit dem Fremdsprachenunterricht stehe und falle. Die strittige Frage danach, wie lange ein Abiturient Latein gelernt haben müsse, um ohne zusätzliche Lateinprüfung jedes Fach studieren zu können, ist Ausdruck einer Bildungsbürokratie, die in dem schwer objektiv messbaren Bereich des tatsächlichen Wissens und Könnens von Schülern versucht, einheitliche Zugangsstandards für ein wissenschaftliches Studium festzulegen. Darüber hinaus zeugt diese Tatsache davon, wie stark die deutsche Vorstellung von Wissenschaftlichkeit geisteswissenschaftlichphilologisch geprägt war. Das Gymnasium wurde in der Weimarer Republik von weiten Kreisen als beste Vorbildung zur Universität empfunden, was vor allem daran lag, dass es die Schule der alten Sprachen war. Hieran lässt sich ablesen, wie wirkmächtig die Tradition der Lateinschule und des humboldtschen Gymnasiums fortwirkten. Dabei ist ebenfalls festzuhalten, dass sich die exklusive Verbindung von Gymnasium, alten Sprachen und Humanismus langsam aufzulösen begann. Die Gründung des DAV ist ein Symptom dafür. Es sollte aber noch bis in die 1960er Jahre der Bundesrepublik dauern, bis die Trennung wirklich vollzogen wurde. Denn wie verschiedene Quellen aus den Lehrerfortbildungen zeigen, empfanden sich Latein- und Griechischlehrer eigentlich nur am Gymnasium als passend aufgehoben. Der zunehmenden Kritik am altsprachlichen Unterricht versuchte man mit einer Modernisierung der Methoden zu begegnen. Zwar waren die Altphilologen sicherlich nicht die Avantgarde der Modernisierer, aber die Köpfe der Verbände 747
Vgl. dazu auch Langewiesche/Tenorth: Bildung, Formierung, Destruktion, S. 14.
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II. Die Weimarer Republik
zeigten sich durchaus zu Änderungen bereit. Zeitgemäßere Methoden auf der einen Seite, aber auch Stundenreduzierung, die Abschaffung des Skriptums und die stärkere Betonung des kulturkundlichen Unterrichts auf der anderen Seite sind durchaus einschneidende Reformen, die von den Altphilologen mitgetragen wurden. Wie und ob diese Änderungen allerdings im Klassenzimmer umgesetzt wurden, steht auf einem anderen Blatt. Den häufigen Klagen über den Unterrichtsstil der altsprachlichen Lehrkräfte nach zu urteilen, wurden viele Veränderungsvorschläge wohl erst einmal nicht in die Praxis umgesetzt. Solange altsprachlicher Unterricht noch fremdsprachlicher Unterricht blieb, also mit Spracherwerb einherging, waren die Altphilologen zu vielen Konzessionen bereit. Die Grammatik – und die durch sie vermittelte formale Bildung748 – blieb daher neben der Lektüre die zweite Säule des altsprachlichen Unterrichts. Als Argumente für den altsprachlichen Unterricht führte man vornehmlich diejenigen an, die den altsprachlichen Unterricht als „national“ auswiesen: Schulung der Muttersprache, Auslese der zukünftigen führenden Kräfte des Vaterlandes und geistige Zucht gegen den vermeintlich verweichlichenden Zeitgeist. Das „Nationale“ kann hierbei als das dominante gesellschaftliche Leitbild gesehen werden, an das sich auch der altsprachliche Unterricht anpasste. Die Themen „Demokratie“ und „Republik“, zu denen die Antike vieles hätte beitragen können, spielten im Übrigen fast überhaupt keine Rolle. Dies passt jedoch zu den Einstellungen des konservativ-akademischen Milieus, zu dem die Altphilologen und Gymnasiallehrer größtenteils zu zählen sind.749 Auch wenn gerade dieses Milieu vielschichtiger und facettenreicher war, als es auf den ersten Blick erscheinen könnte,750 waren viele Positionen der Altphilologen an die intellektuelle Richtung der sogenannten „konservativen Revolution“ anschlussfähig.751 Gerade die Abgrenzung gegen den Bolschewismus, aber auch gegen den westlichen Liberalismus lässt darauf schließen. Die Altphilologen aber als Republikfeinde einzustufen, wäre nicht richtig: Als Beamte waren sie zu sehr in die staatlich-bürokratischen Strukturen eingebunden. Zudem waren sie 748
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751
Auch Anfang der 1930er Jahre wurde das Argument der formalen Bildung noch häufig gebraucht, vgl. Schoy, Anton: Wie kann das Übersetzen aus den alten Sprachen zu einem möglichst wirksamen Bildungsvorgang gemacht werden?, in: MDAV 5 (1931), S. 11–13; Oeckel, Fritz: Alte und neue formale Bildung als Denkschule, in: MfHS 30 (1931), S. 558– 571. Kritisch: Wahnschaffe, Oskar: Grammatik, Logik und Sprache, in: DNS 37 (1929), S. 192–207. Vgl. Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 215f.; Preuße: Gesellschaft und Humanismus, S. 182. Dazu auch Paletschek: Erfindung, S. 192–195. Vgl. Dupeux: Kulturpessimismus; Jones: German Right; Kolb/Schumann: Weimarer Republik, S. 225–227; Bussche: Konservatismus, S. 1–20; Schildt: Konservatismus, S. 131–150; ders.: Konservatismus. Kontinuitäten und Brüche, S. 36–38. Zum Begriff „Konservative Revolution“ vgl. Hoeres: Weimar, S. 27f.; Kolb/Schumann: Weimarer Republik, S. 225–227; Weißmann: Vorwort; Weiß: Moderne Antimoderne, S. 18–20.
4 Zwischenfazit
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vor allem auch von ihrem Selbstverständnis her Akademiker. Und es ist Fritz Ringer ganz zuzustimmen, wenn er sagt, dass „die nationalistischen, völkischen und neokonservativen Bewegungen am Rand der akademischen Welt, nicht in ihr“ wuchsen.752 Zum Milieu der „konservativen Revolution“ sind daher eher die Wandervogelbewegung und Personen wie Stefan George zu zählen als die Weimarer Altphilolgenschaft.753 Dass sich jedoch elitäre Ganzheitsvorstellungen Werner Jaegers sowie Stefan Georges aus ähnlicher Quelle speisten, zeigt auf, warum eine klare Einordnung schwierig ist. Es deutet außerdem darauf hin, dass es durchaus geistige Bezugsfäden zwischen altsprachlichem Unterricht und nationalsozialistischen Ideologieelementen gab. Wo diese bestanden, aber auch wo die Grenzen lagen, soll unter anderem im folgenden Kapitel erläutert werden.
752 753
Ringer: Gelehrten, S. 385. Vgl. Hoeres: Weimar, S. 43–46.
III. Die Zeit des Nationalsozialismus Über das Verhältnis des Nationalsozialismus zur Antike ist bereits sehr viel geforscht worden. Dabei wurde sowohl das Verständnis der Antike wichtiger NS-Größen untersucht,1 als auch die Entwicklung der Altertumswissenschaft zur Zeit des Nationalsozialismus sowie das Verhältnis ihrer Vertreter zum nationalsozialistischen Regime.2 Die Instrumentalisierung einzelner Autoren oder geschichtlicher Zusammenhänge stand ebenfalls häufig im Interesse der Forschung.3 Auch die Entwicklung des Schulwesens wurde vielfach thematisiert.4 Dabei kann konstatiert werden, dass die Nationalsozialisten dem System der höheren Schulen der Weimarer Zeit zwar sehr kritisch gegenüberstanden – schon vor der Machtübernahme 1933 hatte das beispielsweise der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) deutlich gemacht5 –, die Kultur der Antike allerdings durchaus verehrten. Der altsprachliche Unterricht und das Gymnasium waren von dieser ambivalenten Haltung in besonderer Weise betroffen. In ihrer Kritik knüpften die Nationalsozialisten auf der einen Seite an viele Punkte an, die bereits während der Weimarer Republik aufgekommen waren. Auf der anderen Seite stellten sie gänzlich neue nationalsozialistische Leitlinien auf, an denen sich Bildungspolitik von nun an zu orientieren habe. Dies soll im folgenden, einleitenden Kapitel kurz dargelegt werden. Die „liberalen Ideen von dem absoluten Wert des Einzelmenschen“, wie man das Bildungsideal der höheren Schule Weimarer Prägung verstand, stand dem Ziel der „Erziehung zur Volksgemeinschaft“ ebenso entgegen wie die Vorstellung einer „übervölkischen Menschengemeinschaft“.6 Statt der verpönten „Allgemein-
1
Vgl. Kroll: Utopie als Ideologie; Chapoutot: Nationalsozialismus; Longerich: Himmler. Vgl. Losemann: Nationalsozialismus und Antike; Wegeler: Gelehrtenrepublik. Wichtig auch der Sammelband von Näf: Antike und Altertumswissenschaft mit zahlreichen Einzeluntersuchungen. Außerdem haben viele Universitäten ihre nationalsozialistische Vergangenheit aufgearbeitet, bspw. Freiburg, Jena und Heidelberg, vgl. Wirbelauer: Freiburger Philosophische Fakultät; Hoßfeld: Kämpferische Wissenschaft; Eckart/Sellin/Wolfgang: Universität Heidelberg. Verwiesen sei auch auf Hausmanns Aufarbeitung der Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“. 3 Beispielsweise zur Rezeption Spartas, vgl. Roche: Sparta’s German Children, v. a. S. 203– 232, zur Rezeption der Schlacht bei den Thermopylen in der Unterrichtswirklichkeit. Zum Lektüreunterricht und der Neuinterpretation von Schriftstellern vgl. Kipf: Aut caesar aut nihil; Doms: Titus Livius. Historikerlektüre unter dem Hakenkreuz. Zu Horaz vgl. Chapoutot: Nationalsozialismus, S. 143–147. 4 Vgl. Schneider: Höhere Schule; Nagel: Hitlers Bildungsreformer; Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz. 5 Vgl. Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz, S. 20. 6 Preussisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Notwendige Refor2
https://doi.org/9783110603408-003
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
bildung“7 sollten „rassen-biologische [. . .] Kenntnisse“ die Grundlage der neuen „Erziehung“ – nicht Bildung! – sein.8 Den stark wissenschaftlich geprägten Charakter des Gymnasiums und seiner Lehrer kritisierten die nationalsozialistischen Schulpolitiker scharf.9 Außerdem sollte die „wirklichkeitsfremde Überschätzung der akademischen Ausbildung“ ein Ende haben, die es als „eine liberalistischdemokratische Grundeinstellung“ zu stoppen gelte.10 Hierbei spielte es natürlich auch eine Rolle, dass durch das rasche Anwachsen der Studierendenzahlen die Verarmung der Studenten sowie der Akademiker zu Beginn der 1930er Jahre von vielen Bildungspolitikern als großes Problem empfunden wurde.11 Vor allem die „Verbreiterung des höheren Schulbesuchs“ sei eine „Fehlentwicklung“ gewesen, denn dadurch sei die Volksschule ein „Sammelbecken des geistigen Rückstandes und der Minderwertigkeit“ geworden.12 Daher müsse der Zugang zur höheren Schule durch scharfe Auslese stark beschränkt und dadurch die Mittel- und Volksschule aufgewertet werden. Diese Punkte waren entschiedene Neuausrichtungen zu den Entwicklungen der Weimarer Republik. Dabei war es besonders wichtig, dass jede Schulausbildung gleich viel wert war, weil man das alte System auch gerade deshalb kritisierte, da es „das Volk immer wieder in zwei Schichten, die gebildete und ungebildete“, trenne.13 Hier wiederum knüpften die Nationalsozialisten an die Kritik der Einheitsschulbefürworter der Weimarer Zeit an, die vor allem das Gymnasium häufig als Standesschule beschimpft hatten.14 Und sie bedienten noch eine weitere Forderung vor allem sozialdemokratischer Schulpolitik. Die Auslese an den höheren Schulen finde nicht nach Talent, sondern nach sozialem Status der Eltern statt. So schrieb bereits Adolf Hitler in
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men im höheren Schulwesen, August 1933, zitiert nach Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz, S. 15. Eine genaue Analyse des Papieres bei Schneider: Höhere Schule, S. 333–343. Wie Allgemeinbildung bewertet wurde, ist nicht ganz einheitlich. Hitler schätze sie in „Mein Kampf “ recht hoch (vgl. dort S. 415). Preussisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Notwendige Reformen im höheren Schulwesen, August 1933, zitiert nach Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz, S. 15. Vgl. auch Gass-Bolm: Gymnasium, S. 71. Vgl. Grundsätzliches zur Trierer Tagung, in: DDHS 1 (1934), S. 50–52. Nagel: Hitlers Bildungsreformer, S. 170. Vgl. Jarausch: Krise, S. 198–200. Reichsminister des Inneren Wilhelm Frick, an Unterrichtsministerien der Länder über den gegenwärtigen Stand der höheren Schule, 29.5.1933, BayHStA, MK 53200, S. 2–7. Brachmann: Der „humanistische“ Gedanke, 1937, S. 492; ähnlich auch Zorn, Walther: Englisch oder Französisch – Inhalt oder Form? Eine rassenbiologische Erziehungsfrage, in: Monatshefte für höhere Schulen 33 (1934), S. 172–175, hier S. 174; Krieck: Volk im Werden, S. 47: „Es ist aus der deutschen Bewegung, zumal dem Neuhumanismus, die neue Universität und das Gymnasium hervorgegangen. Mit deren Hochbildung entstand ein neuer Riß im Volkstum: die Elite der ‚Gebildeten‘ war zur Führung des Volkstums, zur Gestaltung der völkischen und politischen Wirklichkeit nicht imstande und ist jetzt im Verfall.“ Gieselbusch: Gymnasium in dieser Zeit, S. 2.
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„Mein Kampf “, „daß es eine Versündigung am Willen des ewigen Schöpfers ist, wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen im heutigen proletarischen Sumpf verkommen“ ließe.15 Bildung im „völkischen Staat“ habe nicht „die Aufgabe, einer bestehenden Gesellschaftsklasse maßgebenden Einfluß zu wahren, sondern [. . .] aus der Summe aller Volksgenossen die fähigsten Köpfe herauszuholen“.16 Dass die Nationalsozialisten dabei ebenso auf einen biologischen Begabungsbegriff rekurrierten, soll nicht unerwähnt bleiben.17 Darüber hinaus sollte diese Begabtenauslese natürlich nur für Mitglieder der arischen Rasse gelten.18 Auch in anderen Punkten knüpften die Nationalsozialisten an Kritik und Tendenzen der Weimarer Zeit an. Wenn sie die „äußere Zerrissenheit“ des höheren Schulwesens kritisierten,19 trafen sie damit den Nerv vieler Zeitgenossen, war doch die Uneinheitlichkeit des höheren Schulwesens ein Dauerthema während der Weimarer Republik gewesen. Ebenso prangerten sie an, dass die Schule der Weimarer Republik mit ihrer Stofffülle zu „Zersplitterung“ führe,20 auch dies ein Begriff, der, wie schon mehrfach erwähnt, in den Weimarer Diskussionen häufig eine Rolle gespielt hatte.21 Für die grundlegenden „rassen-biologischen Kenntnisse“ sollten Biologie und deutschkundliche Fächer in den Mittelpunkt des Lehrplans rücken,22 was zumindest hinsichtlich der deutschkundlichen Fächer eine der wichtigsten bildungspolitischen Ausrichtungen der Weimarer Republik gewesen war, auch wenn damals die explizite „Pflege des germanisch-deutschen Bildungsgutes“ noch nicht gefordert worden war.23 Die ersten konkreten Forderungen für die Umsetzung der neuen Leitlinien finden sich beispielsweise in einem Papier von Rudolf Benze und Wilhelm Stuckart vom August 1933.24 Sie riefen bei den Vertretern der Gymnasien und den 15 16 17 18 19
20 21 22
23 24
Hitler: Mein Kampf, S. 423f. Ebenda, S. 424. Vgl. Schneider: Höhere Schule, S. 409f. Hitler: Mein Kampf, S. 423–426. Preussisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Notwendige Reformen im höheren Schulwesen, August 1933, zitiert nach Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz, S. 15. Ebenda, S. 17. Siehe oben Kapitel II.1.3.2. Preussisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Notwendige Reformen im höheren Schulwesen, August 1933, zitiert nach Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz, S. 16. Ebenda, S. 18f. Ebenda, S. 15–20. Diese „erste Stellungnahme der neuen Machthaber“ war ein internes Papier der preußischen Schulverwaltung mit dem Titel „Notwendige Reformen im höheren Schulwesen“, vgl. Scholz: Schule unterm Hakenkreuz, S. 20. Die Verfasser Wilhelm Stuckart und Rudolf Benze waren beide Mitglieder der NSDAP und 1933 auf Ministerialposten im preußischen Kultusministerium berufen worden, vgl. Schneider: Höhere Schule, S. 333, FN 2.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
Altphilologen große – und durchaus bekannte – Ängste hervor:25 Die „Oberschule“ sollte als einzige Form der höheren Schule bestehen bleiben, mit Englisch als erster Fremdsprache beginnen und je nach Zweig, der aber erst ab Klasse 10 gewählt werden konnte, sollte eine Fremdsprache zur Erlangung der Hochschulreife genügen.26 Damit knüpften die Nationalsozialisten, ohne es so zu nennen, an die Tradition der Einheitsschule an. Zwar sollte es für „einen kleinen Teil deutscher Jugend, der sprachlich besonders veranlagt ist und sich Berufen zuwenden will, für die das Lateinische noch unentbehrlich erscheint“, die Möglichkeit geben, Latein und sogar Griechisch zu wählen,27 aber die Geringschätzung der sprachlichen Bildung wurde doch allzu deutlich. Auch diese Einstellung deckte sich mit denen der Gymnasiumkritiker auf der Reichsschulkonferenz. Das Gymnasium ganz abzuschaffen trauten sich die Nationalsozialisten aber trotzdem nicht. Wenige Gymnasien – „in jeder Provinz höchstens eins“ – sollten als Internatsschulen bestehen bleiben.28 Die Einschränkung des altsprachlichen Unterrichts bedeutete auch nicht, dass die Nationalsozialisten die Antike als Bildungsinhalt ablehnten – im Gegenteil: Allen Schülern der höheren Schule sollte „das uns gemäße der antiken Kultur in stärkerem Maße als bisher“ nahegebracht werden, „jedoch ohne den Umweg über die alten Sprachen“.29 Dieser knappe Einblick erklärt, warum führenden Vertreter des altsprachlichen Unterrichts nach der Machübernahme der Nationalsozialisten durchaus besorgt waren.
1 Reaktion auf die Machtübernahme: Andienen zum Schutz des Gymnasiums und des altsprachlichen Unterrichts Das Gymnasium und der altsprachliche Unterricht gerieten unter Druck, wollten sie doch in einigen Punkten so gar nicht zur nationalsozialistischen Ideologie und Bildungspolitik passen.30 Das starke Gewicht, das der gymnasiale Lehrplan auf die fremden Sprachen legte, stand hier wieder einmal im Kreuzfeuer der Kritik. 25
26
27 28 29 30
Vgl. Fritsch: Lateinunterricht, S. 22. Beispielsweise Bucherer, Fritz: Humanistische Bildung im nationalsozialistischen Staate, in: HG 45 (1934), S. 1–7, der sich auf einen Bericht Rusts im Völkischen Beobachter bezieht. Preussisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung: Notwendige Reformen im höheren Schulwesen, August 1933, zitiert nach Scholtz: Schule unterm Hakenkreuz, S. 16. Ebenda. Ebenda, S. 17. Ebenda. Vgl. Ringer: Gelehrten, S. 389.
1 Reaktion auf die Machtübernahme
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Darüber hinaus lehnten die Nationalsozialisten „jede Form der intellektualistischen Bildung“ ab, die sie vor allem mit dem Sprachunterricht verbanden.31 Der Intellektualismus sei „ein Überrest der liberalistisch-ästhetischen Weltanschauung“, die es zu überwinden gelte.32 Hinzu kam, dass die neuhumanistische Bildung das Individuum in den Mittelpunkt stellte. Ein „[l]iberalistischer Individualismus“33 war mit einer Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ nicht zu vereinbaren. Ebenso fiel der „deutsche Idealismus“ in Misskredit.34 Es gab jedoch auch viele Gesichtspunkte in der nationalsozialistischen Ideologie, auf denen eine altphilologisch-gymnasiale Rechtfertigungsstrategie sehr gut aufbauen konnte. Die Vertreter des altsprachlichen Unterrichts und der Gymnasien mussten also beweisen, dass sie auch für den neuen Staat eine staatstragende Bedeutung hatten. Den Altphilologen kam dabei zupass, dass sich Hitler in „Mein Kampf “ positiv gegenüber „den humanistischen Fächern“35 und der Antike geäußert hatte. Für ihn war nicht das Germanentum, sondern die griechisch-römische Antike die „Idealzeit“:36 Insbesondere soll man im Geschichtsunterricht sich nicht vom Studium der Antike abbringen lassen. Römische Geschichte, in ganz großen Linien richtig aufgefaßt, ist und bleibt die beste Lehrmeisterin nicht nur für heute, sondern wohl für alle Zeiten. Auch das hellenische Kulturideal soll uns in seiner vorbildlichen Schönheit erhalten bleiben.37
Ein erstes Beispiel für die Anpassung der Altphilologen und Gymnasiallehrer an den nationalsozialistischen Staat stellten die neuen Leitlinien des DAV und des Bayerischen Philologenverbandes dar, die nun genauer betrachtet werden sollen.
31 32 33 34 35 36
37
Bolle, Wilhelm: Die Sprachenfolge in der Kritik der nationalpolitischen Erziehung, in: MfHS 33 (1934), S. 191–196, hier S. 191. Schlossarek, Max: Humanismus und alte Sprachen auf nationalsozialistischer Grundlage und der Mader-Breywischianismus, in: DPB 42 (1934), S. 136–139, 148–149, hier S. 138. Stenzel: Nationale Aufgabe des humanistischen Gymnasiums, 1933, S. 318; vgl. auch Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 51, 55. Schröder, Josef: Zwischenbilanz, in: MfHS 32 (1933), S. 21–39, hier S. 29; Krieck: Volk im Werden, S. 46f. Hitler: Mein Kampf, S. 415. Kroll: Utopie als Ideologie, S. 72–77, Zitat S. 73. Kroll schlüsselt sehr schön auf, wie unterschiedlich führende nationalsozialistische Ideologen Antike und Germanentum interpretierten und politisch einsetzen wollten. Heinrich Himmler beispielsweise war ein Verehrer des Germanenkultes, vgl. Longerich: Himmler, S. 279–284. Zur Entwicklung der Germanenideologie vgl. Puschner: Bewegung, S. 92–99. Hitler: Mein Kampf, S. 415. Zu Hitlers positivem Bild der Antike vgl. Demandt: Klassik als Klischee.
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1.1 Versuche des DAV und des Philologenverbandes
Der DAV erkannte die Gefahr für die eigene Sache sofort, die aus der Machtübernahme der Nationalsozialisten erwachsen könnte. Als Bernhard Rust 1933 zum preußischen Kultusminister ernannt wurde, übermittelte der Vorstand des DAV ihm seine Glückwünsche und versäumte es nicht, in dem Schreiben für die eigene Sache zu werben. Die „preußischen Altphilologen“ hofften, „die hohen, in der klassischen Antike beschlossenen Bildungskräfte [. . .] für die Erneuerung unseres Volkes und Staates im Sinne der nationalen Erhebung wirksam machen zu können“. Denn man habe „niemals Griechen und Römer, sondern immer Deutsche“ erziehen wollen. Im September 1933 verabschiedete der DAV während seiner Vertretertagung „Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens“. Auch hier wurde gleich im ersten Leitsatz betont, dass das Ziel der Erziehung „innerhalb der deutschen Volksgemeinschaft [. . .] der deutsche Mensch“ sei.38 Besonders wichtig war dem DAV zu betonen, dass der Staat und die Politik, nicht das Individuum im Mittelpunkt einer richtig verstandenen „allgemeine[n] Bildung“ stünden:39 So erfaßt die politische Bildung den Menschen als Ganzes im Ganzen der Gemeinschaft und steht dadurch im unaufhebbaren Gegensatz zu aller bloß spezialistischen Zweckdressur wie zu jeder bloß individualistischen Selbstbildung.40
Hier reagierten die Altphilologen also auf den Vorwurf des Individualismus. Dass „der Staat früher ist als der Mensch“ und dass der Mensch „‚das politische Wesen‘ schlechthin“ sei, führten sie auf Platon zurück.41 Diese Gedanken stammten aus der Feder Werner Jaegers, der mit seinem Aufsatz „Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike“ versuchte, den „Dritten Humanismus“ mit dem Nationalsozialismus in Einklang zu bringen. Dieser Aufsatz wurde allen Mitgliedern zur Lektüre empfohlen, in Werbeanzeigen sogar offensiv darauf hingewiesen.42 In den Leitsätzen wurden außerdem „die beiden schweren alten Sprachen“ als Instrument zur „geistigen Auslese“ angepriesen, die die „Exaktheit und Sauberkeit“ sowie die „Geisteszucht“ besonders schulen würden.43 Die rassistische Argumentation, dass Griechen und Germanen artverwandte, nordische Völker 38 39 40 41 42
43
Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens, in: MDAV 7,2 (1933), S. 1–3, hier S. 1. Ebenda, S. 2. Ebenda. Ebenda. Krause, Arthur: Bericht über die auf den 30. September nach Berlin einberufene 6. Vertretertagung, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 8–9, hier S. 8; Krause, Arthur: Zur Lage, in: MDAV 7,2 (1933), S. 12; Werbung in: MDAV 7,2 (1933), S. 19. Siehe dazu ausführlich Kapitel III.4.2. Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens, in: MDAV 7,2 (1933), S. 1–3, hier S. 3.
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seien, stellte in späteren Jahren eine der wichtigsten Legitimationsgründe für den altsprachlichen Unterricht dar. Hier tritt sie nur ganz am Rand auf.44 Ein anderes Argument wiederum erinnert an die Weimarer Zeit und verschwindet im Laufe der 1930er Jahre aus dem Diskurs, nämlich dass die „christliche Religion und die Antike“ die kulturellen Wurzeln des deutschen Volkes seien.45 Dies zeigt, dass der DAV zwar versuchte, sich den neuen Machthabern anzudienen, dass dies aber nicht in völliger Aufgabe alter Prinzipien geschah. Auch wenn gerade der „Dritte Humanismus“ einige Parallelen zur nationalsozialistischen Ideologie bot,46 kann keine Rede davon sein, dass die Altsprachler im DAV durchweg überzeugte Nationalsozialisten gewesen wären. Denn schon wenige Jahre nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten muss beispielsweise ein personeller Bruch konstatiert werden. Im Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, das nach der Auflösung des DAV die altphilologische Fachvertretung übernahm, war in den Führungspositionen keiner der führenden Altphilologen aus der Weimarer Zeit vertreten.47 Das Verhalten zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur lässt sich als Opportunismus bezeichnen, den man proaktiv betrieb, um Gymnasium und den altsprachlichen Unterricht zu bewahren. Diese Haltung zeigt sich deutlich in einer Rede des Vorsitzenden Emil Kroymann auf der Vertretertagung des DAV. Mit den neuen Leitsätzen wolle man „eine möglichst enge Verbundenheit der Altphilologenschaft mit den leitenden Gedanken der nationalsozialistischen Bewegung“ zeigen.48 Allerdings beabsichtige man keine wesentlichen Änderungen im Lehrplan, sondern lediglich eine „Akzentverlagerung der Werke“.49 Realistisch schätzte Kroymann ein, dass die Erhaltung des Gymnasiums „im autoritären Staate jedenfalls nicht von Fachverbandstagungen und ihren Beschlüssen“ abhänge, sondern davon, dass man „an den maßgebenden Stellen“, also bei den nationalsozialistischen Machthabern, Gehör fände. Dies solle „unter voller Ausnutzung der wirksamen Ideen“ geschehen.50 Dass die Haltung des DAV zwar opportun, aber nicht direkt andienend war, wird deutlich, wenn man die Leitsätze des DAV mit denen des Bayerischen Philologenverbandes vergleicht. Der Bayerische Philologenverband machte es 44 45 46 47 48
49 50
Ebenda, S. 2. Ebenda, S. 1. Siehe dazu ausführlich Kapitel III.4.2. Siehe dazu ausführlich Kapitel III.1.3. Krause, Arthur: Bericht über die auf den 30. September nach Berlin einberufene 6. Vertretertagung, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 8–9, hier S. 8; vgl. auch Krause, Arthur: Zur Lage, in: MDAV 7,2 (1933), S. 12. Krause, Arthur: Bericht über die auf den 30. September nach Berlin einberufene 6. Vertretertagung, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 8–9, hier S. 8. Krause, Arthur: Bericht über die auf den 30. September nach Berlin einberufene 6. Vertretertagung, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 8–9, hier S. 8.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
sich ebenfalls zur Aufgabe, das klassische Gymnasium im nationalsozialistischen Staat zu bewahren. Hier stand die „Art- und Rassenverbundenheit des antiken und des germanisch-deutschen Menschen“ allerdings an oberster Stelle der Argumentationslinie.51 Das Gymnasium sehe „den deutschen Menschen nicht als Einzelerscheinung nordisch arischer Prägung, sondern hineingestellt in die artgebundene Dreieinigkeit der abendländischen griechisch-römisch-germanischen Kultur“.52 Auch belegte der Philologenverband seine Argumente häufig mit Zitaten Adolf Hitlers, worauf der DAV gänzlich verzichtete.53 Auch hier standen Staat und Politik im Mittelpunkt. Vor allem die Römer seien „das große politische Volk“, das fremde Staaten unterworfen hatte.54 Für den DAV war „römischer staatsbildender Geist“ ganz in der Tradition des „Dritten Humanismus“ nur Griechenrezeption.55 Für den Bayerischen Philologenverband war die Antike „ein warnendes Menetekel“, denn „Demokratie und Rassenverfall“ hätten „Griechenland und Rom zugrunde gerichtet“. Dies könne der „deutschen Jugend nicht eindringlich genug vor Augen geführt werden“.56 Am Ende ihres Appells setzten sich die bayerischen Philologen für die Erhaltung des neunjährigen Gymnasiums und gegen Englisch als erste Fremdsprache ein.57 Hieran erkennt man, dass eine Andienung an nationalsozialistische Ideen durchaus eindeutiger getätigt werden konnte und getätigt wurde, als es der DAV getan hatte. Im Jahr 1933 erschien in der Reihe „Neue Wege zur Antike“ des TeubnerVerlages ein Band mit dem Titel „Humanistische Bildung im Nationalsozialistischen Staate“.58 Dieser Band nahm sich ebenfalls der Aufgabe an zu belegen, dass der altsprachliche Unterricht für die nationalsozialistische Ideologie durchaus bedeutsam sei und somit eine gesellschaftspolitische Aufgabe erfülle und nicht 51 52 53 54 55 56 57 58
Leitsätze des Vereins Bayerischer Philologen, S. 572. Ebenda. Ebenda, S. 572f. Ebenda, S. 573. Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens, in: MDAV 7,2 (1933), S. 1–3, hier S. 2. Leitsätze des Vereins Bayerischer Philologen, S. 573. Ebenda, S. 573f. Vgl. Humanistische Bildung im Nationalsozialistischen Staate, 1933. Die Frage nach der Verlagspolitik des Teubner-Verlags während des Nationalsozialismus ist bisher in der Forschung kaum beachtet worden. Allerdings würde eine genauere Untersuchung der Publikationspolitik gerade auch in Bezug auf den altsprachlichen Unterricht einigen Erkenntniswert versprechen. Eine kurze Abhandlung über den Teubner-Verlag und die Altertumswissenschaft hat Heinrich Krämer verfasst, allerdings wird die Zeit des Nationalsozialismus bis auf wenige Seiten vernachlässigt, vgl. Krämer: Altertumswissenschaft, S. 55–57. Den TeubnerVerlag im Allgemeinen behandelt Dürkop: Archiv für Religionswissenschaft, S. 214–232. Zu historischen Untersuchungen von Verlagen vgl. Forschungsstand bei Wesolowski: Verleger, S. 16–20, sowie seine Ausführungen zum Oldenbourg-Verlag im Nationalsozialismus, S. 263–366.
1 Reaktion auf die Machtübernahme
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abgeschafft werden dürfe.59 Mitwirkende an diesem Band waren einige ausgewiesene Nationalsozialisten, wie beispielsweise Fritz Schachermeyr, Professor für alte Geschichte in Jena, oder auch Hans Oppermann, der damals noch als Professor in Heidelberg tätig war.60 Fritz Schachermeyr führte in diesem Band mit seinem Aufsatz „Die nordische Führerpersönlichkeit im Altertum“ seine Thesen weiter aus, die er am 13. April 1933 im Völkischen Beobachter breitenwirksam dargestellt hatte: Im Großen und Ganzen ging es Schachermeyr darum zu beweisen, dass alle großen Führerpersönlichkeiten im Grunde arischer Abstammung seien und somit zur nordischen Rasse gehörten.61 Hans Oppermanns Aufsatz behandelte den „erzieherischen Wert des lateinischen Unterrichts“, indem er den „augusteischen Staat“ in den Mittelpunkt rückte und sich gegen den „liberalistischen Individualismus“ der „verflossene[n] Periode“ abgrenzte.62 Der Band wirkt als eine Art Gegeninitiative zum DAV, dem man anscheinend nicht zutraute, den altsprachlichen Unterricht nationalsozialistisch auszurichten. Zumindest wurde in einer kurzen Mitteilung im Einband darauf hingewiesen, dass die Artikel bereits vor der Veröffentlichung der neuen Leitlinien abgeschlossen waren, dass man sich aber freue, dass die „Neugestaltung“ dort „in der gleichen Richtung gesucht“ werde. Allerdings würden die Artikel dieses Bandes „eine noch weit stärkere Ausrichtung nach den nationalsozialistischen Prinzipien der Rasse und des Volkstums“ empfehlen.63 Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die führenden Mitglieder des DAV keine überzeugten Nationalsozialisten waren, zumindest in den Augen der nationalsozialistischen Altertumsforscher. Die Haltung vieler Altphilologen in den ersten Jahren der NS-Diktatur wurde von Andreas Fritsch passend mit „Apologetik und Anbiederung“ beschrieben.64 Es ist dabei zwar zu differenzieren zwischen der proaktiven Nazifizierung des 59 60
61 62 63 64
Vgl. Gieselbusch: Gymnasium in dieser Zeit, S. 1f. Schachermeyr hatte sich schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten für die NSPAD engagiert, bei Oppermann kam die „Begeisterung“ erst 1933, vgl. zu Fritz Schachermeyr: Pesditschek: Karriere des Althistorikers Fritz Schachermeyr; Pesditschek: Schachermeyr; Gottwald: Jenaer Geschichtswissenschaft, S. 930–932; Losemann: Nationalsozialismus und Antike, v. a. S. 47f., 98–100; Chaniotis/Thaler: Altertumswissenschaften, S. 403f.; zu Hans Oppermann vgl. Malitz: Römertum im „Dritten Reich“: Hans Oppermann, S. 520, 524; Losemann: Nationalsozialismus und Antike, S. 95–98, 109–11, 225–227; Chaniotis/Thaler: Altertumswissenschaften, S. 413. Weitere Autoren waren Hermann Gieselbusch, ein Prokurist des Teubner-Verlages, vgl. dazu Dürkop: Archiv für Religionswissenschaft, S. 139; 225–232. Die Gymnasiallehrer Benno von Hagen, Kurt Sachse und Gustav Klingenstein waren durch einige fachdidaktische Publikationen in Augenschein getreten, fielen aber ansonsten nicht weiter auf. Über die Gymnasiallehrer Gerhart Salomon und Adolf Rusch ist kaum etwas zu finden. Vgl. Schachermeyr: Nordische Führerpersönlichkeit; Gottwald: Jenaer Geschichtswissenschaft, S. 930–932, hier auch FN 124. Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 55. Humanistische Bildung im Nationalsozialistischen Staate, S. II*. Fritsch: Lateinunterricht, S. 22.
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altsprachlichen Unterrichts wie bei Oppermann und Schachermeyr und der verhalteneren Andienung durch den DAV. Allerdings sind hier die Grenzen fließend und viele Artikel, die im Mitteilungsblatt des DAV erschienen, waren weit stärker rassenideologisch gefärbt als die Leitlinien.65 Auch finden sich bereits 1928 in den Mitteilungen einige Anzeigen für Neuerscheinungen, deren Bezug zur Rassenkunde mehr als offensichtlich ist: So steht die Werbung für „Apollon und Dionysos. Nordisches und Unnordisches innerhalb der Religion der Griechen. Eine rassenkundliche Untersuchung von Dr. K. Kynast“ gleich neben der Anzeige für ein neues Buch von NS-„Rassepapst“66 Hans F. K. Günther mit dem Titel „Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes. Mit einem Anhang: Griechisch-römische Köpfe nordischer Rasse“.67 1.1.1 Anti-Liberalismus, Anti-Idealismus, Anti-Intellektualismus, Anti-Individualismus68
Wie bereits oben erwähnt, gab es einige Punkte, in denen nationalsozialistische Erziehungs- und alte gymnasial-altsprachliche Bildungsvorstellungen nicht zusammenpassten. Die höhere Schule der Weimarer Republik und vor allem das Gymnasium verstanden sich als wissenschaftliche Vorschule zur Universität. Dass die höhere Schule ihren wissenschaftlichen Charakter behalten müsse, waren wichtige Argumente, wenn es um die Frage der Dauer des gymnasialen Lehrgangs oder die Art der Lehrerausbildung ging. Diese Einstellung änderte sich mit der nationalsozialistischen Schulpolitik. Im Gegensatz zur Einstellung des „liberalistischen Zeitalters“69 lege man nun „den Hauptton auf die Erzie-
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Vgl. Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13; Wundt, Max: Die Erneuerung der klassischen Bildung in der Gegenwart, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 1–4; Scharold, Hans: Vererbungslehre und Rassenfrage im altsprachlichen Unterricht, in: MDAV 8,1/2 (1934), S. 8–12. Ähnlich auch: Gohlke, Paul: Humanismus und nationale Erziehung, in: DPB 41 (1933), S. 162: Gohlke war einige Jahre Schriftführer des DAV gewesen, vgl. MDAV, Beilage zum Humanistischen Gymnasium 38 (1927), S. 1; MDAV 2 (1928), S. 1. Holtorf, Herbert: Humanismus und völkischer Staatsgedanke, in: DPB 41 (1933), S. 539–541: Referat beim DAV Sachsen-Anhalt am 26.4.1933; Holtorf wurde später der Stellvertreter von Friedrich Eichhorn als Reichssachbearbeiter für Alte Sprachen, vgl. Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 14. Der Philosophieprofessor Max Wundt zählte zu den frühen Sympathisanten des Nationalsozialismus, vgl. Dahms: Jenaer Philosophen, S. 723, hier grundlegend Sluga: Heidegger’s Crisis, S. 7, 112–119. Benz: Rasse, S. 564. MDAV 2 (1928), S. 15. Zu Hans F. K. Günther vgl. Hoßfeld: Jenaer Jahre, biographisches, v. a. S. 51–58; Hoßfeld: Von der Rassenkunde, Rassenhygiene und biologischen Erbstatistik, v. a. S. 524–531; Hasenauer: Rassenkunde. Diese Kategorisierung ist ganz ähnlich zu finden bei Nickel: Angepaßte Didaktik, S. 91–96; ähnlich auch Kuhlmann: Humanismus, S. 424f. Grundsätzliches zur Trierer Tagung in: DDHS 1 (1934), S. 50–52, hier S. 50.
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hung“.70 Der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) kritisierte den letzten Philologentag „im alten Stil“, der 1934 in Trier stattfand, gerade deshalb, weil er zu wissenschaftlich gewesen sei. Man sehe Lehrer „heute nicht in erster Linie als Wissenschaftler und Forscher, sondern vor allem als Erzieher der deutschen Jugend“.71 So ist dann auch in manchen Publikationen der Zeit nicht mehr vom Altphilologen, sondern vom „altsprachlichen Erzieher [. . .]“ die Rede.72 Ein weiteres Erbe des verhassten „liberalistischen Zeitalters“ waren aus Sicht der Nationalsozialisten Liberalismus, Individualismus, Intellektualismus und Idealismus. Sie seien Grundlage des Schulsystems von Weimar gewesen und darin habe auch die Ursache seiner Dysfunktionalität gelegen.73 Allerdings konnte nicht jeder dieser vier Begriffe von den Altphilologen zum Zweck der Anpassung des altsprachlichen Unterrichts an nationalsozialistische Ideologie einfach abgelehnt werden. Gerade fremdsprachlicher Unterricht war ohne „Intellekt und Geist“ kaum vorstellbar. Daher versuchten die Altphilologen, das intellektuelle Moment des altsprachlichen Unterrichts zu retten, indem man die Charakterbildung hervorhob: Wenn nämlich „Intellekt und Geist“ mit einem „willensstarken Charakter [. . .]“ und „einer völkischen und rassischen Gesinnung“ verbunden würden, könnte vermieden werden, dass sie sich „mit ihrer Gefahr der Intellektualisierung und der Tendenz eines hemmungslosen Individualismus volksfremd und gemeinschaftsschädigend“ auswirkten.74 Zur Festigung willensstarker Charaktere konnte der altsprachliche Unterricht, da waren sich die Altphilologen sicher, sehr wohl etwas beitragen: Die alten Sprachen, aber vor allem das Lateinische, hatten seit jeher den Ruf, das Denken zu fördern und zu „geistiger Zucht“, Disziplin und Ordnung zu erziehen. Diese Schlagworte passten gut zur nationalsozialistischen Ideologie, denn „Züchtigung
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Kruschka, Otto: Erziehung und humanistische Bildung, in: DDHS 3 (1936), S. 121–123, hier S. 122. Grundsätzliches zur Trierer Tagung, in: DDHS 1 (1934), S. 50–52, hier S. 50; vgl. auch Kurseß, Hans: Nationalpolitische Bildungswerte im altsprachlichen Unterricht, in: DDHS 2 (1935), S. 8–14, hier S. 9; vgl. Hitler: Mein Kampf, S. 414. Illig, Leonard: Gymnasium und altsprachlicher Unterricht im nationalsozialistischen Erziehungsplan, in: DDHS 5 (1938), S. 396–404, hier S. 398. Vgl. Calliebe, Otto: Neue Aufgaben des Lateinunterrichts an den höheren Schulen, in: DDHS 2 (1935), S. 409–412, hier S. 409; Brachmann: Der „humanistische“ Gedanke, 1937, S. 490–493, 503; Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 55; Kruschka, Otto: Erziehung und humanistische Bildung, in: DDHS 3 (1936), S. 121– 123, hier S. 122; Bolle, Wilhelm: Die Sprachenfolge in der Kritik der nationalpolitischen Erziehung, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 191–196, hier S. 191; Schilling, Harald: Inhaltliches Konstruieren, in: GA 1 (1936), S. 57–63, hier S. 59. Bolle, Wilhelm: Die Sprachenfolge in der Kritik der nationalpolitischen Erziehung, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 191–196, hier S. 191. Zum willensstarken Charakter, vgl. auch Hitler: Mein Kampf, S. 409, 415.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
ist eines der großen Mittel zum Neubau des Staates“.75 So kam beispielsweise dem Sportunterricht im Nationalsozialismus eine herausgehobene Stellung zu.76 Die „Züchtigung von neuen, besseren, tüchtigeren deutschen Menschen“ wurde nun von den Altphilologen über die körperliche auf die geistige Zucht ausgeweitet77 und die „geistigen Schulungsmittel“ sollten auch im Nationalsozialismus „neben der Mathematik in erster Linie Latein und Griechisch“ darstellen.78 Zudem habe der Schüler im altsprachlichen Unterricht „immer wieder nicht unerhebliche Schwierigkeiten zu überwinden“ und gerade an solchen Hürden könne ein Charakter gebildet werde.79 Die alten Sprachen und die Mathematik würden ein „Optimum an charakterbildender Schwierigkeit erreichen.“80 Der „charakterologische [. . .] Wert des Lateinunterrichtes“81 und die „geistige Zucht“82 wurden zu den wesentlichen Argumenten vor allem für den Lateinunterricht.83 Dieses Argument war zwar nicht neu, erhielt aber eine andere Ausrichtung: Nicht mehr der logische Bau der lateinischen Sprache oder die „formale Bildung“ begründeten die „zuchtbildende Kraft“ der Sprache, sondern das Wesen des römischen Volkes: „Zucht und Disziplin sind Züge altrömischen Wesens, die sich wie die Wesenszüge jedes Volkes in der Sprache ausdrücken. Daher hat denn auch die lateinische Sprache ihre zuchtbildende Kraft.“84 Das „Ideal einer gedanklichformalen Bildung durch die logischste aller Sprachen“ lehnten führende NSPädagogen wie Alfred Baeumler oder der nationalsozialistische Altphilologe
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Oppermann: Der erzieherische Wert des Lateinunterrichtes, 1933, S. 57. Vgl. Kliem: Sport, S. 12–16. Weitere Forschung zum Thema Sport im Nationalsozialismus: Bernett: Sportunterricht; Moosburger: Ideologie und Leibeserziehung, v. a. S. 126–160; Joch: Leibeserziehung; Schneider: Höhere Schule, S. 363–371. Oppermann: Der erzieherische Wert des Lateinunterrichtes, 1933, S. 57. Vgl. dazu auch Hitler: Mein Kampf, S. 400f. „Der völkische Staat muß dabei von der Voraussetzung ausgehen, daß ein zwar wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von Entschlußfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling.“ Klingenstein: Humanistische Bildung als deutsche Waffe, S. 34. Eichhorn, Friedrich: Zum lateinischen und griechischen Sprachunterricht, in: AS 2 (1937), S. 66–68, hier S. 68. Oppermann, Hans: Warum heute noch Gymnasium?, in: AS 4 (1939), S. 161–171, hier S. 167. Oppermann: Der erzieherische Wert des Lateinunterrichtes, 1933, S. 57. Matthaei, Hans: Der Lateinunterricht auf der Oberschule nach seinen Bedingungen und Voraussetzungen, in: DDHS 7 (1940), S. 163–170, hier S. 163. Vgl. Bolle, Wilhelm Die Sprachenfolge in der Kritik der national-politischen Erziehung, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 191–196, hier S. 191; Schilling, Harald: Inhaltliches Konstruieren, in: GA 1 (1936), S. 57–63, hier S. 59; Lundius, B.: Konstruierendes Übersetzen, in: AS 2 (1937), S. 31–35, hier S. 32; Hagen: Wege zu einem Humanismus im Dritten Reich, 1933, S. 20. Beyer, Karl: Von der Zucht der lateinischen Sprache, in: DDHS 7 (1940), S. 406–410, hier S. 406.
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Hans Oppermann als veraltet und falsch ab,85 die Vorstellung vom formalbildenden Wert des Lateins wurde sogar kategorisch abgelehnt.86 Der Mythos der logisch-formalen Bildung des Lateins wurde dennoch auch während der Zeit des Nationalsozialismus weiter tradiert.87 Hitler selbst hatte der Erlernung des Lateinischen noch „eine Schulung des scharfen logischen Denkens“ attestiert.88 Für die Umdeutung des altsprachlichen Unterrichts ist folgendes Zitat des Lehrbuchautors Max Krüger, der sich während der NS-Zeit neutral verhielt, symptomatisch: Es ist unendlich bedauerlich, daß immer wieder betont werden muß, daß ein solches Tun, richtig betrieben, nichts gemein hat mit ‚Intellektualismus‘ und daß eine solche Schulung des Geistes zugleich eine ebenso kräftige des Willens und Charakters ist.89 85
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Oppermann: Der erzieherische Wert des Lateinunterrichtes, 1933, S. 57. Vgl. auch Baeumler: Die Grenzen der formalen Bildung; Calliebe, Otto: Neue Aufgaben des Lateinunterrichts an den höheren Schulen, in: DDHS 2 (1935), S. 409–412, hier S. 411; Illig, Leonard: Gymnasium und altsprachlicher Unterricht im nationalsozialistischen Erziehungsplan, in: DDHS 5 (1938), S. 396–404, hier S. 403; Zorn, Walther: Englisch oder Französisch – Inhalt oder Form? Eine rassenbiologische Erziehungsfrage, in: Monatshefte für höhere Schulen 33 (1934), S. 172–175, hier S. 174; Wecker, Otto: Anleitung zum Sprachdenken im Lateinunterricht, in: AS 4 (1939), S. 312–323, hier S. 313, 322. Calliebe, Otto: Neue Aufgaben des Lateinunterrichts an den höheren Schulen, in: DDHS 2 (1935), S. 409–412, hier S. 411; Illig, Leonard: Gymnasium und altsprachlicher Unterricht im nationalsozialistischen Erziehungsplan, in: DDHS 5 (1938), S. 396–404, hier S. 403; Zorn, Walther: Englisch oder Französisch – Inhalt oder Form? Eine rassenbiologische Erziehungsfrage, in: Monatshefte für höhere Schulen 33 (1934), S. 172–175, hier S. 174; Wecker, Otto: Anleitung zum Sprachdenken im Lateinunterricht, in: AS 4 (1939), S. 312– 323, hier S. 313, 322. Zur Kritik an dem Prinzip der formalen Bildung ganz allgemein vgl. Baeumler: Die Grenzen der formalen Bildung. Z. B. Matthaei, Hans: Der Lateinunterricht auf der Oberschule nach seinen Bedingungen und Voraussetzungen, in: DDHS 7 (1940), S. 163–170, hier S. 163: „gründliche formallogische Schulung durch Latein und Griechisch“; Lundius, B.: Konstruierendes Übersetzen, in: AS 2 (1937), S. 31–35, hier S. 32; Kirchner, Ernst: Latein als Auslesefach, in: AS 7 (1942), S. 98–100, S. 98: dem Lateinschüler „eröffnen sich [. . .] die Pforten der Logik“. Darüber beschwert sich auch Georg Ludwig auf einer Tagung des Reichssachgebietes Alte Sprachen Ende April 1936: „Man spricht zwar nicht mehr offen von formal-logischer Schulung oder ‚Vorbildung für wissenschaftliches Denken‘, ‚Mittel der Erziehung der geistigen Zucht‘, aber Begriffe wie ‚Geistesarbeit‘, ‚Können‘, ‚Verstandestätigkeit‘, ‚Lesefertigkeit‘ zeigen deutlich, daß die Verstandesbildung noch bei vielen im Vordergrund steht. Man hat sich noch nicht zu einer klaren Stellungnahme durchgerungen.“ Vgl. Ludwig: Bericht über die beiden Lehrproben aus dem griechisch-lateinischen Sprachunterricht, 1937, S. 86f. Die Beobachtungen Ludwigs sind nur zum Teil richtig, denn, wie oben gezeigt, sprach man sehr wohl nach wie vor von „geistiger Zucht“. Hitler: Mein Kampf, S. 412. Im November 1937 nimmt Friedrich Eichhorn genau darauf Bezug, als es um die Bedeutung des Spracherwerbs im altsprachlichen Unterricht geht, vgl. Schulungslager für Latein in Kettwig, 25.10.–1.11.1937, Bl. 295–319, hier Bl. 307, BA Berlin Lichterfelde, R 4091/12467. Hitler selbst hatte im Übrigen nie Latein gelernt, vgl. Hitler. Mein Kampf. Eine kritische Edition, S. 1068. Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginns in Sexta, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 365–369, hier S. 366.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
Die Ablehnung des Idealismus hatte zur Folge, dass die „ästhetische oder historische Betrachtungsweise“ als Grundlage für den altsprachlichen Unterricht nicht mehr in Frage kam. Stattdessen sollte „eine neue heroische Auffassung des Altertums“ den inhaltlichen Schwerpunkt legen.90 Die antiken Autoren boten ein reiches Arsenal, um Themen wie „Heroismus und Opfertod im Kriege“ oder „Nationalgefühl, vaterländischer Opfersinn, Rassenstolz“ im Unterricht zu behandeln.91 Dass sich der „Individualismus“ mit der nationalsozialistischen Ideologie überhaupt nicht vereinbaren ließ, bedarf wohl kaum einer weiteren Erläuterung: Die Bildung des einzelnen Menschen hatte in einer Ideologie, deren Grundlage die „Volksgemeinschaft“ war, keine Berechtigung mehr. Statt des Individuums rückten Staat und Politik ins Zentrum der Erziehung, so auch beim altsprachlichen Unterricht. So schrieb Hans Oppermann beispielsweise: „Nach einem Jahrhundert der Mechanisierung, der Atomisierung, der Individualisierung“ komme nun „die erneute Hinwendung zur Totalität des Lebens“.92 Im Politischen heiße dies eine „Wendung zu einem Staate, der in den biologischen Voraussetzungen des Volkstums einen unabdingbaren Bestandteil seines Wesens sieht“.93 Und das „größte geschichtliche Beispiel“ dafür sah Oppermann im römischen Staat, denn auch dort seien „Volk und Staat [. . .] zur Einheit verbunden“.94 Somit gab es auch in Hitlers Weltanschauung „nicht den geringsten Raum für den unpolitischen Menschen“95 und es erklärt, dass der DAV in seinen Leitlinien viel
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Eichhorn, Friedrich, in: GA 1 (1936), S. 1; zur Ablehnung des Idealismus, vgl. Krieck: Volk im Werden, S. 46f. Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 7, 9; vgl. auch Humanistische Bildung im nationalsozialistischen Staate, 1933, S. II*; Schnick, Otto: Zur Auswahl der lateinischen Lektüre, in: Monatsschrift für höhere Schulen 36 (1937), S. 162–172, v. a. S. 163–165; Klingenstein: Humanistische Bildung als deutsche Waffe, 1933, S. 32. Zu nationalsozialistischen Tugenden vgl. Hitler: Mein Kampf, S. 408f. Hierauf wird im Einzelnen im Kapitel III.3.2 über die Bedeutung des Lektüreunterrichts näher eingegangen, der im Nationalsozialismus gegenüber dem Sprachunterricht die dominantere Position einnahm. Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 52; vgl. auch Haug: Die griechisch-römische Altzeit, 1937, S. 25. Otto Haug hatte bis 1940 die Schriftleitung Der Alten Sprache inne und darf als strammer Nationalsozialist bezeichnet werden. In diesem Artikel im Übrigen auch absolut antisemitisch, S. 46. Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 52f. Ebenda, 1933, S. 51. Später konkretisiert er dies noch einmal (S. 55): In der „gesamten abendländischen Geschichte“ gebe es „keine Zeit, die bei allen Unterschieden [. . .] uns so verwandt anspricht“ wie der augusteische Staat. Ähnlich auch Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 9. Betonung des Staates auch bei Bohne, Detlev; Berve, Helmut: Mit dem Jahrgang 1938 beginnen die Neuen Jahrbücher, in: NJfAudB 113 (1938), S. 1–2, hier S. 2. Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 52.
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Wert auf das politische Moment gelegt hatte.96 Hierbei konnten sich die Altphilologen auf Platon berufen, „der erste große Staatsdenker Europas“ und „auch der erste Verkünder der völkischen Idee“.97 Auch die „Theorie des Führertums und der Führerauslese“ gebe es in Platons Politeia.98 Darüber hinaus biete die Antike eine Reihe an Beispielen für „[e]chtes Führertum“.99 Gerade in der Betonung des Politischen lag der Bezugspunkt, mit dem Werner Jaeger versuchte, seinen „Dritten Humanismus“ mit der NS-Ideologie in Einklang zu bringen.100 Besonders diese Denkmodelle, die auf Anti-Liberalismus, Anti-Individualismus und Anti-Intellektualismus fußten, waren sehr anschlussfähig an die Gedankenwelt der rechtskonservativen Denker der „Konservativen Revolution“.101 1.1.2 Rassismus
In der Passage in „Mein Kampf “, in der Hitler die Antike als Lehrmeisterin rühmt, bezeichnet er Griechen und Germanen als „größere Rassegemeinschaft“, deren Kultur um ihr Dasein kämpfe und „die Jahrtausende in sich verbindet und Griechen- und Germanentum gemeinsam“ umschließe. Dies war zwar recht vage formuliert, legte aber den Grundstein für eines der wichtigsten Argumente für den altsprachlichen Unterricht im Nationalsozialismus: die rassenkundliche „Erkenntnis“, dass Griechen und Germanen artverwandt seien. Die Hellenen wurden somit als Angehörige der nordischen Rasse deklariert. So sagte Paul Babick, Vorsitzender des DAV-Landesverbandes Pommern,102 1933: „Hellenen und Germanen, Söhne einer Rasse, sind Brüder mit Familienähnlichkeit, die
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Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens, in: MDAV 7,2 (1933), S. 1–3, hier S. 2; vgl. auch Humanistische Bildung im nationalsozialistischen Staate, S. II*. Wundt, Max: Die Erneuerung der klassischen Bildung in der Gegenwart, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 1–4, hier S. 4. Vgl. auch Rusch: Plato als Erzieher zum deutschen Menschen, 1933. Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 11. Ebenda, S. 10. Siehe Kapitel III.4.2. Vgl. Hoeres: Weimar, S. 26–47; Sontheimer: Antidemokratisches Denken; Kolb/Schumann: Weimar, S. 225–227. Über Paul Babick ist kaum etwas in Erfahrung zu bringen. Im Aufsatz selbst wurde er als „Vorsitzender“ deklariert. Da er aber nicht der Vorsitzende des DAV sein konnte, weil dies auch zu diesem Zeitpunkt Emil Kroymann war, wird vermutet, dass er einem Landesverband vorsaß. Im Protokoll der 6. Vertretertagung am 30.9.1933 in Berlin wurde er als Vertreter des Landesverbandes Pommern aufgeführt, vgl. Krause, Arthur: Bericht über die auf den 30. September nach Berlin einberufene 6. Vertretertagung, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 8–9, hier S. 8.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
gewiß nicht immer auf den ersten Blick erkannt wird, sich aber doch dem geübter gewordenen Auge erschließt.“103 Diese „nordische Herkunft des hellenischen Volkes“ hielt man für wissenschaftlich bewiesen104 und berief sich dabei auf die Arbeiten von Hans F. K. Günther105 , Alfred Rosenberg106 und Hans Bogner107 . Nicht ganz sicher war man sich, ob dies auch auf die Römer zutreffe,108 allerdings hielt dies die meisten Altphilologen nicht davon ab, dieses rassistische Argument auch auf den Lateinunterricht anzuwenden. So schrieb Otto Calliebe 1935: Die völkischen Hochziele des Römertums flossen aus dem Urwesen nordischen Blutes. Der Lateinunterricht erfüllt eine wichtige Aufgabe, wenn er immer wieder darauf hinweist, daß der Aufbau des römischen Reiches nicht Kräften zu verdanken ist, die im
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Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 8; ähnlich auch Hagen: Wege zum Humanismus im Dritten Reich, 1933, S. 19. Scharold, Hans: Vererbungslehre und Rassenfrage im altsprachlichen Unterricht, in: MDAV 8,1/2 (1934), S. 8–12, hier S. 9; vgl. auch Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 8; Rehm, Albert: Der Gegenwartswert der Antike, in: GA 1 (1936), S. 2–4, hier S. 2; Wundt, Max: Die Erneuerung der klassischen Bildung in der Gegenwart, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 1–4, hier S. 3; Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, S. 7–11; Sellheim, Rudolf: Die griechische Kunst als Ausdruck der nordischen Rasse, in: GA 1 (1936), S. 5–10; Schenk, Johannes: Die Behandlung von Homers Odyssee in der Obersekunda des humanistischen Gymnasiums, 1934, DIPF/BBF/Archiv: GUT ASS 1302. Vgl. Haug, Otto: Der altsprachliche Unterricht – ein Stück nationalsozialistische Erziehung, in: AS 3 (1938), S. 1–10, hier S. 8. Schachermeyr lehnte sich auch an Günther an, vgl. Gottwald: Jenaer Geschichtswissenschaft, S. 931. Vgl. zur Geschichtsdogmatik Rosenbergs und Günthers: Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 244–266. Vgl. auch Hoßfeld: Jenaer Jahre. Günther war auch einer der Herausgeber der Zeitschrift „Rasse. Monatsschrift der Nordischen Bewegung“, die in den Mitteilungen des DAV mit folgenden Worten warb: „Die neue Rassezeitschrift für alle Gebiete der Wissenschaft, des völkischen und des staatlichen Lebens. [. . .] Sie ist in ihrer einfachen fremdwortreinen Sprache und mit ihren vorzüglichen Bildern für jeden volksbewußten Deutschen von unschätzbarem Werte!“ Richard von Hoff, Nationalsozialist und Bildungssenator in Bremen, unterstützte ihn dabei, vgl. MDAV 8,1/2 (1934), S. 17. Vgl. dazu: Benz: Rasse, S. 563f. Vgl. Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 9. Hier ist vor allem Rosenbergs programmatisches Buch „Der Mythus im 20. Jahrhundert“ zu nennen, in dem er ebenfalls darlegt, dass die Hellenen eine nordische Rasse gewesen seien, vgl. Rosenberg: Mythus, S. 34f., 143, 165 uvm. Vgl. Kroll: Utopie als Ideologie, S. 101–153. Vgl. Haug, Otto: Der altsprachliche Unterricht – ein Stück nationalsozialistische Erziehung, in: AS 3 (1938), S. 1–10, hier S. 4; Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, S. 2; Malitz: Römertum im „Dritten Reich“: Hans Oppermann, S. 528. Vgl. Rehm, Albert: Der Gegenwartswert der Antike, in: GA 1 (1936), S. 2–4, hier S. 4: „Ob aber die Römer vor dem Forum der Rassenforschung so bestehen werden wie die Griechen?“
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rassischen Gegensatz zum Germanentum standen, sondern daß diese Kräfte aus der selben Quelle flossen.109
Und so würden sich die „Wesenszüge des Nordens“110 – beispielsweise Führerqualitäten111 – nirgends besser zeigen lassen, als in den „Männern und Dichtern der Griechen und Römer“, denn in ihren Werken spiegele sich der Bau einer Gesellschaft, der „artgemäß, naturgesetzlich, vordemokratisch, vorchristlich“ und darüber hinaus ein „unverfälschtes nordisches Urbrauchtum“ sei.112 Und da „das Endziel“ darin bestehe, „den Deutschen der Gegenwart zu einer Haltung“ zu erziehen, die „dem nordrassischen Geist aller Zeiten und Länder entspricht“,113 könne der altsprachliche Unterricht hier ganz Wesentliches beitragen. Die Verwandtschaft spiegle sich darüber hinaus in der Sprache wider. So argumentierte Georg Rathke, der 1938 die offiziellen Leitlinien für den Griechischunterricht verfasste, dass gerade „in ihrer Bildhaftigkeit“ die griechische und die deutsche Sprache sich sehr ähnelten. Eine „Übereinstimmung in Bildern und Begriffen“ könne „ein Zeichen der Verwandtschaft der Seelen sein“, wohingegen rein sprachliche Übereinstimmung kein Beweis sei.114 Dies war ein wichtiges Argument für das Exotenfach Griechisch. So stellte Rathke den Griechischunterricht nämlich „mitten hinein in die Aufgaben der neuen deutschen Schule“.115 Die lateinische Sprache aber hatte diesbezüglich rassenkundlich ein Problem, denn die romanischen Sprachen waren rein sprachlich dem Lateinischen viel näher als das Deutsche. Die romanischen Völker, die „Mittelmeermenschen“116 wie Italiener und Franzosen, hielt man aber für rassig minderwertig,117 so dass man das römische Reich in mehrere Phasen einteilte: Die Urrömer waren nordisch.118 Ihr Verdienst waren der römische Staat und andere „geschichtliche [. . .] Gross-
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Calliebe, Otto: Neue Aufgaben des Lateinunterrichts an den höheren Schulen, in: DDHS 2 (1935), S. 409–412, hier S. 410. Haug, Otto: Der altsprachliche Unterricht – ein Stück nationalsozialistische Erziehung, in: AS 3 (1938), S. 1–10, hier S. 5. Vgl. Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 10: „[A]lle Führer haben etwas Nordisches“. Haug, Otto: Der altsprachliche Unterricht – ein Stück nationalsozialistische Erziehung, in: AS 3 (1938), S. 1–10, hier S. 5. Ebenda, S. 10. Rathke: Griechisch, 1938, S. 9. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 11. Dies war auch ein Rechtfertigungsproblem für den Französischunterricht, der als erste neuere Fremdsprache kaum noch Fürsprecher fand, vgl. Bolle, Wilhelm: Die Sprachenfolge in der Kritik der nationalpolitischen Erziehung, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 191–196, hier S. 196. Schick, Otto: Zur Auswahl der lateinischen Lektüre, in: Monatsschrift für höhere Schulen 36 (1937), S. 162–172, hier S. 163.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
taten“.119 Allerdings verletzten sie die „Gesetze [. . .] von Blut und Boden“,120 indem sie sich mit den orientalischen Völkern mischten.121 Der „nordische Bestandteil der Römer“ rieb sich „in den unaufhörlichen Kriegen beinahe“ auf „und nur der minderwertige Nachwuchs orientalischer Herkunft“ blieb erhalten.122 Dies führte zum Untergang des römischen Reiches, dem erst wieder durch die Völkerwanderung der Germanen und somit wiederum durch nordischen Einfluss „[n]eues Leben“ eingehaucht werden konnte.123 Von den römischen Traditionen „der orientalischen und der unnordischen Mittelmeerwelt“, versuchte man sich also abzugrenzen.124 Allgemein kann man sagen, dass das Griechische den Nationalsozialisten näher war als das Römische, und auch dabei stellten sich die Nationalsozialisten, allen voran Hitler selbst, in die deutsche Tradition der Antikerezeption.125 Insgesamt nahmen rassenkundliche Motive in der Argumentation für den altsprachlichen Unterricht zu.126 Auf Fortbildungen für altsprachliche Lehrer gab es beispielsweise Vorträge mit Titeln wie „Das rassische Schicksal des römischen Volkes“127 oder „Römische Porträts rassenkundlich gesehen“.128 Bei der rassenkundlichen Argumentation für den altsprachlichen Unterricht vermischte sich Bekanntes mit Neuem: Dass man seine Wurzeln in der Antike 119 120 121 122 123 124
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Schulungslager für Latein vom 13.12.–20.12.1937 in Kettwig, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467, Bl. 91–121, hier Bl. 94. Ebenda. Vgl. Schick, Otto: Zur Auswahl der lateinischen Lektüre, in: Monatsschrift für höhere Schulen 36 (1937), S. 162–172. Schick, Otto: Zur Auswahl der lateinischen Lektüre, in: Monatsschrift für höhere Schulen 36 (1937), S. 162–172, hier S. 163. Ebenda, S. 165; dazu auch Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, S. 11, 13, 18. Schulungslager für Latein vom 3.12.–10.12.1937 in Kettwig, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467, Bl. 187–219, hier Bl. 189; vgl. auch Schulungslager für Latein vom 13.12.– 20.12.1937 in Kettwig, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467, Bl. 91–121, hier Bl. 94; Rathke: Griechisch, 1938, S. 11. Es änderte sich die Blickrichtung: Vom „Norden“ breitete man sich in den „Süden“ aus und nicht umgekehrt. Somit überwanden die Deutschen ihre „kulturelle Abhängigkeit“ vom „Süden“, vgl. Salomon, Gerhard: Fragen des altsprachlichen Unterrichts, in: Deutsches Philologenblatt 41 (1933), S. 309–311, hier S. 310. Vgl. Baeumler: Der Kampf um den Humanismus, 1935, S. 63. Vgl. Demandt: Klassik als Klischee, S. 295. Vgl. Scharold, Hans: Vererbungslehre und Rassenfrage im altsprachlichen Unterricht, in: MDAV 8,1/2 (1934), S. 8–12; Kirchner, E.: Klassische und rassische Stoffauslese. Mit besonderer Berücksichtigung der Antike, in: AS 4 (1939), S. 139–141; Vorwahl, Heinrich: Darwin und die Antike, in: AS 4 (1939), S. 138–139. Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.- 20.12.1937, Bl. 91–121, hier Bl. 103–105, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Ähnlich auch der Vortrag von Wolfgang Aly: Der rassische Aufbau des römischen Volkes, vgl. Schulunsglager für Latein in Kettwig, 25.10– 1.11.1937, Bl. 295–319, hier Bl. 318–319, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier Bl. 211–212, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467.
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suchte, war natürlich keineswegs neu, aber man ersetzte das kulturelle durch das rassische Argument. Man ersetzte dabei die Römer und Griechen nicht einfach durch die Germanen, sondern erklärte Hellenen, Römer und Germanen zu nordischen Völkern. Bezeichnend dafür ist ein Zitat Hans Drexlers129 , Latinistikprofessor und Nationalsozialist, von 1939: Wenn man also von dem Erbe der Ahnen spricht, das wir als etwas Heiliges hüten wollen, so sind uns Ahnen nicht allein das frühe Germanentum, sondern auch, keineswegs nur auf Grund irgendeiner historischen Kontinuität, vielmehr nach dem Erbrecht des Blutes, Griechen und Römer.130
1.2 Bekanntes neu betont: Muttersprache, Auslese und Antibolschewismus
Neben geistiger Zucht und Charakterschulung konnten auch andere aus Weimarer Zeit bekannte Argumente für den altsprachlichen Unterricht der nationalsozialistischen Ideologie angepasst werden: Um der nationalen und deutschkundlichen Ausrichtung Rechnung zu tragen, wurde das Argument wieder verstärkt verwendet, dass der altsprachliche Unterricht und Latein im Besonderen die Beherrschung der Muttersprache, also des Deutschen, fördere.131 Den Vorwurf, dass der Lateinunterricht den deutschen Stil der Schüler verderbe, sah man durchaus ein, erklärte aber, dass das nicht am Lateinischen lag, sondern an der Art des Unterrichtens. Vor allem die Übersetzung ins Lateinische sei schuld daran.132 Im Laufe der 1930er Jahre geriet die deutschlateinische Übersetzung (das Hinübersetzen) immer mehr in die Defensive, 129 130
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Zu Drexler vgl. Wegeler: Gelehrtenrepublik, S. 244–249, 261–236. Drexler, Hans: Die Antike und wir, in: AS 4 (1939), S. 1–18, hier S. 17f. Ein weiteres Argument in diesem Zusammenhang war, dass man durch die Lektüre der römischen Schriftsteller etwas über die Germanen erfahre, vgl. Leonard: Gymnasium und altsprachlicher Unterricht im nationalsozialistischen Erziehungsplan, in: DDHS 5 (1938), S. 396–404, hier S. 402f. Vgl. Matthaei, Hans: Lateinunterricht und deutsche Sprachpflege, in: DDHS 4 (1937), S. 737–740; Lundius, B.: Konstruierendes Übersetzen, in: AS 2 (1937), S. 31–35, hier S. 32; Zwenmüller, August: Der Lateinbetrieb ein Deutschunterricht, in: AS 4 (1939), S. 18– 28; Brachmann: Der „humanistische“ Gedanke, S. 501; Stenzel: Nationale Aufgabe des humanistischen Gymnasiums, 1933, S. 324; Holtorf: Ziele und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 11. Vgl. Skutella, Martin: Der altsprachliche Unterricht und die Aufgabe der Gegenwart, in: DPB 42 (1934), S. 51–54, hier S. 54; Matthaei, Heinrich: Lateinunterricht und deutsche Sprachpflege, in: DDHS 4 (1937), S. 737–740, hier S. 737; Matthaei, Heinrich: Der Lateinunterricht auf der Oberschule nach seinen Bedingungen und Voraussetzungen, in: DDHS 7 (1940), S. 163–170, hier S. 165; Wecker, Otto: Das Übersetzen als Weg zum Deutschen, in: AS 4 (1939), S. 49–61, hier S. 50; Stenzel: Nationale Aufgabe des humanistischen Gymnasiums, 1933, S. 325.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
weil die Lektüre in den Mittelpunkt gerückt und der Grammatikunterricht endgültig Mittel zum Zweck wurde.133 Der Schwerpunkt des Lateinunterrichts lag letztendlich auf der Übersetzung ins Deutsche. Wenn die Schüler sich nun abmühten, einen lateinischen Satz „in mustergültiges Deutsch zu kleiden [. . .], dann lernen sie, sich in der Muttersprache gewandt zu bewegen“.134 Ein weiteres kam hinzu: Der Deutsche Sprachverein betrieb mit Elan „die Reinigung des Deutschen von Fremdwörtern“.135 Neigte nicht gerade der Altsprachler zu einer überbordenden Verwendung von Fremdwörtern? Aber auch diese neue Bewegung machten sich die Altsprachler zu Nutze: Gerade wer Latein kann, ist allein in der Lage, dem furchtbaren Mißbrauch entgegenzutreten, wenn er es will. Denn weiß denn der einfache Volksgenosse überhaupt, daß er Fremdwörter gebraucht, wenn er spricht: [. . .] ‚momentan‘, ‚direkt‘, ‚extra‘, ‚egal‘, ‚speziell‘?“136
Darüber hinaus könne ja nur der Latein- oder Griechischkenner ohne Hilfe das Fremdwort durch ein korrektes deutsches Wort ersetzen, da er ja wisse, was es bedeute.137 Die Reduzierung des Zustroms an die höheren Schulen war von Beginn an ein wichtiges Anliegen der nationalsozialistischen Erziehungspolitik. Auch für dieses Problem konnten die Altsprachler eine Lösung anbieten: „[D]ie beiden schweren alten Sprachen“,138 besonders das Lateinische, würden einen „großen Auslesewert“139 besitzen und seien daher ein hervorragendes Instrument, den Zugang zur höheren Schule zu beschränken.140 Vor allem als erste Fremdsprache eigne sich Latein daher besonders gut, sei es doch „ein einzigartiges Mittel zur Schülerauslese“.141 Gerade bei den „Durchschnittsschüler[n]“ sei Latein nicht
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Siehe dazu ausführlich Kapitel III.3.1. Matthaei, Heinrich: Der Lateinunterricht auf der Oberschule nach seinen Bedingungen und Voraussetzungen, in: DDHS 7 (1940), S. 163–170, hier S. 165. Matthaei, Heinrich: Lateinunterricht und deutsche Sprachpflege, in: DDHS 4 (1937), S. 737–740, hier S. 739; Matthaei selbst war Mitglied des Deutschen Sprachvereins, vgl. Matthaei, Heinrich: Der Lateinunterricht auf der Oberschule nach seinen Bedingungen und Voraussetzungen, in: DDHS 7 (1940), S. 163–170, hier S. 167. Vgl. dazu auch die Werbung in den MDAV 8,1/2 (1934), S. 17, für die Zeitschrift „Rasse. Monatsschrift der Nordischen Bewegung“. Matthaei, Heinrich: Lateinunterricht und deutsche Sprachpflege, in: DDHS 4 (1937), S. 737–740, hier S. 739. Ebenda. Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens, in: MDAV 7,2 (1933), S. 1–3, hier S. 3. Bucherer, Fritz: Humanistische Bildung im nationalsozialistischen Staate, in: HG 44 (1933), S. 1–7. Vgl. auch Neumann, Ernst: Vom lateinischen Anfangsunterricht in der Oberschule, in: AS 7 (1942), S. 138–145, hier S. 145; Klenk: Lateinisch-deutsche Lehrweise, 1936, S. 13.
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gerade beliebt, denn „Latein ist fraglos ein schweres, ein Arbeitsfach, [. . .] ein Auslesefach“. Aber gerade deshalb, weil es zeigen könne, „was an dem Jungen dran ist – nicht nur an Intellekt, sondern an Arbeitswillen, Tiefe, Kraft, Sauberkeit“,142 sei es für die „Führerauslese“143 besonders geeignet. Auch dieses Argument war nicht neu, wurde nun aber wieder vehementer vertreten, hatte man doch davor versucht, Latein möglichst attraktiv zu machen und von seinem Image als Drillfach zu befreien. Reste davon waren auch während des Nationalsozialismus noch zu spüren, wenn beispielsweise Krüger sagt, „die Jungen müssen gerne lernen, und Latein muß ihnen ein liebes, ja das liebste Fach sein“.144 Die Angst vor dem „Bolschewismus“ hatten die Nationalsozialisten von Anfang an geschürt. Die „asiatische Flut“ drohe „immer wieder über das Abendland hereinzubrechen“ und es gelte „die Vernichtung durch den asiatischen Bolschewismus, die Zersetzung durch das asiatische Judentum abzuwehren.“145 Und auch dafür schien die Antike ein gutes Vorbild zu sein, denn: Die ersten aber, die diesen Kampf nicht nur militärisch durchfochten haben, sondern die zugleich diese abendländischen Werte in ihrem Leben verwirklicht und damit Europa im eigentlichen Sinne gestiftet haben, sind Griechen und Römer gewesen.146
Auch wenn die Argumentationsfigur, dass alte Sprachen wichtig seien, da sie das kulturelle Fundament des abendländischen Europas darstellten, kein dominantes Argument im Diskurs um die alten Sprachen darstellten, tauchten die Begriffe „Abendland“ und „Europa“ nicht nur in Bezug zum Antibolschewismus und Antisemitismus auf. Vor allem Hans Oppermann argumentierte häufig, dass die besondere deutsche Stellung in Europa nur durch die Kenntnis 141 142 143 144
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Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginnes in Sexta, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 365–369, hier S. 366. Kirchner, E.: Latein als Auslesefach, in: AS 7 (1942), S. 98–100, hier S. 98. Ostern, Hermann: Das Gymnasium als Auslese-Schule, in: HG 46 (1935), S. 26–28, hier S. 27. Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginnes in Sexta, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 365–369, hier S. 367. Ähnlich auch Kirchner, E.: Latein als Auslesefach, in: AS 7 (1942), S. 98–100, hier S. 99. Dieser Ausspruch zeigt noch einmal deutlich, wie sehr das Fach Latein als männliches Fach gesehen wurde, siehe FN 121. Auch das Argument, dass Latein eine gute Grundlage zum Erlernen weiterer Sprachen sei, tauchte in der Diskussion auf, allerdings nicht sonderlich dominant, vgl. Oppermann, Hans: Die alten Sprachen in der Neuordnung des höheren Schulwesens, in: NJfAudB113 (1938), S. 127–136, hier S. 129; ders: Warum heute noch Gymnasium?, in: AS 4 (1939), S. 161–171, hier S. 163; Leitsätze des Bayerischen Philologenverbandes, 1933, S. 574. Oppermann, Hans: Warum heute noch Gymnasium?, in: AS 4 (1939), S. 161–171, hier S. 170; vgl. auch Haug, Otto: Der altsprachliche Unterricht – ein Stück nationalsozialistische Erziehung, in: AS 3 (1938), S. 1–10, hier S. 1; Brachmann: Der „humanistische“ Gedanke, 1933, S. 493; Hagen: Wege zu einem Humanismus im Dritten Reich, 1933, S. 18. Oppermann, Hans: Warum heute noch Gymnasium?, in: AS 4 (1939), S. 161–171, hier S. 171.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
der Grundlagen „der abendländischen Kultur“ zu erkennen sei, „die in Hellas und Rom liegen“.147 Wie sehr dies allerdings in den Hintergrund rückte, zeigt die Formulierung des Ziels des altsprachlichen Unterrichts, wie es der Reichssachbearbeiter Alte Sprachen, Friedrich Eichhorn, formulierte: Ziel sei es, „rassenbewußte deutsche Menschen heranzubilden, die zu tat- und opferbereitem, d. h. heroischem Kampfe um die Erhaltung der Urkraft des uns schicksalhaft aufgegebenen völkischen Gemeinschaftsstaates bereit sind“.148 Irmscher sieht in der Haltung der Nationalsozialisten, vor allem der Hitlers, zur Antike ein Gemenge aus „Machtstaatsgedanke, Abendlandideologie, Antikommunismus und ein relativ gemäßigter Rassismus mit pädagogischer Reaktion“, das „für jene konservativen Kreise voll akzeptabel war“.149 Zumindest würde dies erklären, warum man sich anfänglich auch auf Seiten des DAV bemühte, mit dem Nationalsozialismus übereinzustimmen. Dass sich letztendlich die Humanismusvorstellungen der Altphilologen mit dem Nationalsozialismus nicht vertrugen, wurde erst im Laufe der 1930er Jahre deutlich. 1.3 Auflösung der alten Verbände und neue Pressure-Groups für die alten Sprachen
Die Vielfalt der bildungspolitischen Interessensgruppen, die zur Zeit der Weimarer Republik geherrscht hatte, wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten radikal abgebaut. Die Statusvereinigungen wie der Deutsche Philologenverband oder der Realschulmännerverein, ebenso wie die Fachverbände wie der Allgemeine Deutsche Neuphilologenverband und natürlich auch der DAV wurden sukzessive in den NSLB eingegliedert.150 Dabei lief die Gleichschaltung nicht jedes Verbandes reibungslos: Der Philologenverband bestand bis zu seiner Selbstauflösung 1936 weiter, weil die Philologen der Eingliederung in den NSLB kritisch gegenüberstanden. Sie fürchteten um den Fortbestand der höheren Schule und damit um die eigene sozial herausgehobene Stellung.151 147 148 149 150
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Oppermann, Hans: Die alten Sprachen in der Neuordnung des höheren Schulwesens, in: NJfAudB113 (1938), S. 127–136, hier S. 130, ähnlich auch S. 131. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, S. 6. Irmscher: Altsprachlicher Unterricht, S. 231. Zur Bewertung des Verhaltens vgl. auch Nickel: Angepaßte Didaktik, S. 86–90. Vgl. Feiten: Nationalsozialistischer Lehrerbund, S. 55–66; Bölling: Sozialgeschichte, S. 136– 142. Der Allgemeine Deutsche Neuphilologenverband bestand sogar bis 1937 weiter. Zur Geschichte der ADNV vgl. Lehberger: Englischunterricht, S. 23–27; Zur Geschichte des Realschulmännervereins vgl. Schmeding: Entwicklung, S. 280–282. Vgl. Hamburger: Lehrer, S. 294–315; Feiten: Nationalsozialistischer Lehrerbund, S. 65f.; Eilers: Schulpolitik, S. 76–85; Fluck: Gymnasium, S. 117–122. Diese Widerständigkeit darf allerdings nicht mit einer Ablehnung des Nationalsozialismus durch die Philologen verwechselt werden. Das Verhalten des Philologenverbandes wurde in der Forschung als
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Der Allgemeine Deutsche Lehrerverein, die Hauptvertretung der Volksschullehrer, hatte sich recht schnell mit dem NSLB arrangiert und hoffte in der Tat auf die lang ersehnte „reale Egalisierung“ der Lehrerstände bzw. die Aufwertung ihrer eigenen sozialen Stellung.152 Im DAV hatte man 1933 noch gehofft, seine Eigenständigkeit bewahren zu können und hatte zwar den Mitgliedern auch die Mitgliedschaft im NSLB empfohlen, aber die vorschnelle Auflösung oder Überführung von Ortsgruppen und Landesverbänden verboten.153 Im März 1935 wurde der DAV schließlich unter Druck in den NSLB integriert.154 Die letzte Ausgabe der Mitteilungen des DAV erschien bereits im ersten Halbjahr 1934. Der NSLB bestand als Parteiorganisation der NSDAP seit 1929 und wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zum alleinigen Lehrerbund ausgebaut. Der NSLB gliederte sich in verschiedene „Reichsfachschaften“, die die verschiedenen Schularten abbildeten. Die Reichsfachschaft 2 war zuständig für die höheren Schulen und hatte seit 1934 eine eigene Zeitschrift „Die Deutsche Höhere Schule“, die damit alle anderen Verbandszeitschriften wie das Deutsche Philologen-Blatt ablöste.155 Die Reichsfachschaften hatten wiederum fachliche Unterabteilungen, die Reichssachgebiete. Im November 1935 wurde schließlich auch das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“ unter der Leitung von Friedrich Eichhorn geschaffen.156 Sein Stellvertreter wurde Herbert Holtorf, beide waren Mitglieder der NSDAP157 und waren in der Weimarer Republik nicht bildungspolitisch in Erscheinung getreten. Neben der Aufgabe, einen „Beitrag zur nationalsozialistischen Ausrichtung des altsprachlichen Unterrichts“ zu
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„aktive Anpassung“ charakterisiert, vgl. Furck: Gymnasium, S. 70; Hamburger: Lehrer, S. 314; Müller-Rolli: Lehrer, S. 254f. Dafür spricht beispielsweise auch, dass der langjährige jüdische Vorsitzende Felix Behrend zum Rücktritt gezwungen wurde, vgl. Fluck: Gymnasium, S. 108–111. Hamburger: Lehrer, S. 309; vgl. auch Feiten: Nationalsozialistischer Lehrerbund, S. 58f. Zu dem Verhalten der Volksschullehrer vgl. Küppers: Katholischer Lehrerverband; Bölling: Volksschullehrer, S. 203–225. Vgl. Krause, Arthur: Bericht über die auf den 30. September nach Berlin einberufene 6. Vertretertagung, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 8–9, hier S. 9. Vgl. Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 12f.; Abkommen zwischen dem NSBL. und dem Deutschen Altphilologenverband vom 20.3.1935, in: DDHS 2 (1935), S. 306–307. Vgl. dazu Feiten: Der Nationalsozialistische Lehrerbund, S. 87f. Das Philologenblatt erschien im Februar 1935 zum letzten Mal, ohne dass die Einstellung angekündigt wurde, vgl. Hamburger: Lehrer, S. 310. Für die neusprachliche Fachpresse vgl. Lehberger: Englischunterricht, S. 35–38. Vgl. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, S. 1. Vgl. dazu auch Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 284–291. Das Pendant dazu war die Reichssachschaft Neuere Sprachen unter Heinrich Fischer, die ihre Arbeit im Sommer 1935 aufnahm, vgl. Lehberger: Englischunterricht, S. 28–30. Vgl. Mitteilungen, in: DDHS 2 (1935), S. 863; Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 14.
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leisten, sah Eichhorn den Auftrag auch darin, den altsprachlichen Unterricht gegenüber Anfeindungen zu verteidigen. So wolle das Reichssachgebiet „auch Nichtfachgenossen davon“ überzeugen, „daß ein so ausgerichteter altsprachlicher Unterricht für die Erziehung unserer Schüler zu deutschen Menschen von nationalsozialistischer Haltung Werte enthält, deren Ausschaltung einen schweren Verlust bedeutete“.158 Das Reichssachgebiet verfügte ebenfalls über eine eigene Zeitschrift, die als Beilage zur Deutschen Höheren Schule erschien und zunächst den Titel Gegenwärtiges Altertum, dann den Titel Die Alten Sprachen trug.159 Eichhorn betonte in der ersten Ausgabe, wie sehr er die Mitarbeit des eingegliederten DAV begrüße.160 Somit kann das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“ als neue Lobbygruppe des altsprachlichen Unterrichts und des Gymnasiums gelten, wenn es natürlich auch eine starken Unterschied zu den Verbänden der Weimarer Republik aufwies, da es ja nicht vom Staat unabhängig agieren konnte, sondern seinen verlängerten Arm darstellte. Laut Eichhorns Aussage war das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“ als eine der letzten fachlichen Untergruppen gebildet worden. Seine Erklärung für diesen Sachverhalt verweist noch einmal auf den Stand des altsprachlichen Unterrichts im Nationalsozialismus. Die späte Gründung sei nämlich kein Zufall, weil „die Daseinsberechtigung im neuen Deutschland von breiten Kreisen abgesprochen wurde“.161 Dieser schwere Stand sei unter anderem dadurch zu erklären, daß die Altsprachler so unbegreiflich hartnäckig daran festhalten, das von ihnen verfochtene Bildungsideal als ‚humanistisch‘ zu bezeichnen, und es den Gegnern altsprachlicher Bildung dadurch selbst ermöglichen, das altsprachliche Bildungsideal in die verdächtige Nachbarschaft des neuhumanistischen zu bringen, das seine starke Durchdringung mit teils individualistisch-liberalistischen, teils menschheitlich-weltbürgerlichen Anschauungen nicht verleugnen kann. Dazu kommt, daß das Schrifttum des ‚erneuerten‘ oder, wie man auch sagt, ‚politischen Humanismus‘ [hier ist der ‚Dritte Humanismus‘ gemeint, A. K.] im letzten Grunde doch einen rein intellektualistischen Charakter trägt und nicht auf den Grundgedanken unserer blutbedingten Weltanschauung fußt.162
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Vorwort von Friedrich Eichhorn, in: Ziele und Wege des altsprachlichen Unterrichts im Dritten Reich, S. III. Vgl. Titelblatt, in: AS 2 (1937). Die Schriftleitung hatte bis 1940 Otto Haug inne, vgl. Innenseite des Titelblatts, in: AS 2 (1937); Innenseite des Titelblatts, in: AS 5 (1940). Ab dem 4. Jahrgang wirkt der NSD-Dozentenbund mit, vgl. Titelblatt, in: AS 4 (1939). Die Namensänderung könnte sich dadurch erklären lassen, dass die entsprechende Zeitschrift bei den Neuphilologen Die Neueren Sprachen hieß. Diese Zeitschrift war allerdings keine Neugründung, sondern bestand bereits seit 1893 und war ab 1936 das offizielle Organ der Reichssachschaft Neuere Sprachen (vgl. Lehberger: Englischunterricht, S. 36). Die Umbenennung könnte also aufgrund von Bestrebungen nach Vereinheitlichung veranlasst worden sein. Eichhorn, Friedrich, in: GA 1 (1936), S. 1. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, S. 1. Ebenda
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Hieran wird zweierlei deutlich: zum einen wird die antiindividualistische, antiliberalistische und antiintellektualistische Einstellung des Nationalsozialismus nochmals betont und welche Probleme dies für die Rechtfertigung des altsprachlichen Unterrichts darstellte. Dass dies eine Neuverhandlung des Begriffs Humanismus beinhaltete, wird im Kapitel III.4.1 thematisiert. Zum anderen wird hierin deutlich, dass die Altsprachler als Gruppe sich eher widerwillig in die nationalsozialistischen Strukturen eingliedern ließen.163 Der Gymnasialverein allerdings wurde weder aufgelöst noch in den NSLB integriert, was erstaunlich ist und wofür die Forschung bisher keine zufriedenstellende Erklärung finden konnte.164 Auch wenn seine Kompetenzen im bildungspolitischen Bereich vage und sehr begrenzt waren, konnte er seine Zeitschrift Das Humanistische Gymnasium, ab 1937 nur noch Das Gymnasium, bis 1944 publizieren.165 Personell finden sich dort am ehesten jene Altphilologen, die bereits in der Weimarer Republik aktiv gewesen waren, wie beispielsweise Albert Rehm oder Fritz Sommer.166 Die Umbenennung der Zeitung erfolgte in der Zeit, als der Humanismus durch Hans Drexler endgültig diskreditiert worden war.167 Vielleicht verzichtete man deshalb auf das Adjektiv „humanistisch“. Auffällig ist in der Tat, dass kaum personelle Kontinuitäten zu verzeichnen sind. Viele der bekannteren Vertreter des altsprachlichen Unterrichts, die in der Weimarer Republik den öffentlichen und fachlichen Diskurs bestimmt hatten, wurden aus ihren Ämtern verdrängt oder gingen scheinbar in die „innere Immigration“. Auf der Ebene der Professoren wurden beispielsweise Eduard Norden und Eduard Fraenkel – beide jüdischstämmig – zunächst beurlaubt und dann 1934 mit dem „Gesetz zu Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ihrer Lehrstühle enthoben oder in den Ruhestand versetzt.168 Viele andere emigrierten nach Großbritannien, in die USA oder die Schweiz.169 Werner Jaeger und Otto Regenbogen, die durchaus versucht hatten, sich bzw. ihr Fach mit dem 163 164 165 166
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Siehe Kapitel III.4.3. Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 11. Die Autoren geben als mögliche Begründung an, dass der Verein „von Privatpersonen getragen“ worden sei. Vgl. ebenda, S. 16. Vgl. Burck/Clasen/Fritsch führen als Erklärung an, dass der Gymnasialverein „von Privatpersonen getragen“ wurde, vgl. Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 17. Allerdings würde sich eine genauere Untersuchung dieses Phänomens lohnen. Siehe Kapitel III.4.1; 4.2. Vgl. Wegeler: Gelehrtenrepublik, S. 106–112, 190f.; Losemann: Nationalsozialismus und Antike, S. 43. Vgl. allgemein zum Thema Losemann: Nationalsozialismus und Antike; Wegeler: Gelehrtenrepublik, v. a. S. 115–219. Die einzelnen Universitäten haben die Entwicklungen während des Nationalsozialismus sehr gründlich aufgearbeitet, vgl. Wirbelauer: Freiburger Philosophische Fakultät; Hoßfeld: Kämpferische Wissenschaft; Eckart/Sellin/Wolfgang: Universität Heidelberg; Hausmann: Geisteswissenschaften.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
neuen System in Einklang zu bringen, verschwanden 1936 bzw. 1937 aus der deutschen Universitätswelt.170 Auch die frühen Fachdidaktiker Walther Kranz und Max Krüger nahmen kaum noch an fachlichen Diskussionen teil.171 Emil Kroymann publizierte nichts in den neuen nationalsozialistisch-altsprachlichen Fachblättern. Das „wissenschaftliche“ Fundament für den neuen, nationalsozialistischen altsprachlichen Unterricht legten andere. Über die Verstrickung von Wissenschaft und Nationalsozialismus ist bereits vieles erforscht worden.172 Hier seien vor allem die Freiburger Altphilologen Hans Oppermann und Wolfgang Aly genannt.173 Ihre Verbundenheit zum System zeigen nicht nur zahlreiche Veröffentlichungen, sondern auch ihre häufigen Vorträge bei Fortbildungen und Tagungen des NSLB.174
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Otto Regenbogen wurde aufgrund seiner jüdischen Ehefrau zwangspensioniert, vgl. Wegeler: Gelehrtenrepublik, S. 191; Chaniotis/Thaler: Altertumswissenschaft, S. 399; Irmscher: Altsprachlicher Unterricht, S. 234. Werner Jaeger kam einer Entlassung zuvor, indem er einen Ruf an die Universität Chicago annahm, vgl. Solmsen: Werner Jaeger. Losemann vermutet allerdings, dass die Nationalsozialisten aufgrund von Jaegers internationalem Ruf eine Entlassung nicht gewagt hätten, vgl. Losemann: Nationalsozialismus und Antike, S. 43. Walther Kranz wurde ebenfalls wegen seiner jüdischen Frau zwangspensioniert, vgl. Wegeler: Gelehrtenrepublik, S. 191. Vgl. dazu auch Mesching: Walther Kranz, S. 146. Max Krüger publizierte zwar noch einige Artikel, war aber längst nicht mehr so präsent wie in der Weimarer Republik, vgl. Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginnes in Sexta, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 365–369; Krüger, Max: Alte Geschichte und altsprachlicher Unterricht, in: AS 7 (1942), S. 151–152. Losemann: Nationalsozialismus und Antike; Wegeler: Gelehrtenrepublik. Zur klassischen Philologie im Nationalsozialismus vgl. Hausmann: Geisteswissenschaften, S. 389–401. Eine Auswahl an Publikationen: Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933; Oppermann, Hans: Vom erzieherischen Wert des römischen Schrifttums, in: GA 1 (1936), S. 33–41. Oppermann war einer der wichtigsten Ideologen für den Lateinunterricht, vgl. Schnick, Otto: Zur Auswahl der lateinischen Lektüre, in: Monatsschrift für höhere Schulen 36 (1937), S. 162–176, hier S. 162f.; Aly, Wolfgang: Das griechischrömische Altertum im Rahmen der nationalsozialistischen Erziehung, in: Volk im Werden 2 (1934), S. 226–235. Zum Thema vgl. auch Malitz: Römertum im „Dritten Reich“: Hans Oppermann; Malitz: Klassische Philologie. Eine Auswahl an Vorträgen; Aly: Bericht über die beiden Lehrproben aus dem griechischen Lektüreunterricht, 1937; Oppermann: Bericht über die beiden Lehrproben aus dem lateinischen Lektüreunterricht, 1937; Schulungslager für Latein in Kettwig, 25.10.–1.11.1937, Bl. 295–319, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467: Bl. 303–306 zwei Vorträge von Oppermann; Bl. 318–319 Vortrag Aly: Der rassische Aufbau des römischen Volkes.
2 Die Einführung der Deutschen Oberschule
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2 Die Einführung der Deutschen Oberschule Die konkrete Umgestaltung des höheren Schulwesens brauchte auch im Nationalsozialismus einige Zeit. Die Reformen von Reichserziehungsminister Rust im Jahr 1937 waren dann aber in gewissem Sinne revolutionär: Sie verkürzten die Dauer der höheren Schule um ein Jahr. Dieser Vorschlag war auch in der Weimarer Republik immer wieder aufgetaucht, aber am Widerstand der Universitäten und der Philologen gescheitert. An einer anderen deutschen Tradition biss sich aber auch Rust die Zähne aus: am Gymnasium. Obwohl die Nationalsozialisten die neue Deutsche Oberschule zum Haupttyp erklärten und alle anderen Typen der höheren Schule abschafften, durften Gymnasien mit grundständigem Latein im Einzelfall erhalten bleiben. 2.1 Versuche der achtjährigen höheren Schule in Weimar
In der Weimarer Republik gab es verschiedene Versuche, die höhere Schule um ein Jahr zu verkürzen, so dass sie acht statt neun Schuljahre umfasst hätte. Nachdem solch ein Antrag auf der Reichsschulkonferenz 1920 abgelehnt worden war, machte der Deutsche Städtetag 1922 einen ähnlichen Vorschlag, der aber nicht weiterverfolgt wurde.175 Ernst machte im Jahr 1924 Hamburg, das die achtjährige höhere Schule versuchsweise einführen wollte. Zunächst war dies noch am Widerstand Preußens, Bayerns und Badens gescheitert, weil kein Land an seinen Universitäten die Hamburger Reifezeugnisse anerkennen wollte.176 Ein Jahr später erklärte sich Preußen schließlich doch bereit, die Hamburger Reifezeugnisse im Ausnahmefall anzuerkennen.177 Paradoxerweise war es Anfang der 1930er Jahre der preußische Finanzminister, der in seiner fiskalischen Not vorschlug, die höhere Schule Preußens um ein Jahr zu verkürzen.178 Gerade die
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Preußischer Städtetag an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 19.10.1922, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6, Bl. 327–231. Vgl. Auszug aus dem Protokoll der ersten Sitzung des Ausschusses für das Unterrichtswesen im Reichsministerium des Inneren, 21.11.1924, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 211– 212. Vgl. auch dort Bl. 206. Vgl. Zweite Sitzung des Ausschusses für das Unterrichtswesen im Reichsministerium des Inneren, 19.3.1925, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 273. Zum ganzen Sachverhalt: verschiedene Dokumente in GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 7, Bl. 182, 190–193; GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 2, Bl. 27–32; Der Versuch mit der achtjährigen höheren Schule in Hamburg, in: DPB 33 (1925), S. 155–157; Kessler, Kurt: Zur Frage der achtjährigen höheren Schule, in: DPB 33 (1925), S. 216; Müller: Höhere Schule, S. 212, 262–266. Vgl. Fichte-Korrespondenz, 17.9.1930, GStAPK, Gen. 7, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 146–148; Preußischer Landtag, Verhandlungen im Plenum, Haushalt 1931, Sitzung, 17.–20.3.1931, GStAPK, Gen. 7, Nr. 4, Bd. 18, Bl. 98–106.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
Versuche in Hamburg sollten als Vorbild dienen.179 Das preußische Unterrichtsministerium hatte diesbezüglich bereits eine lange Strategieschrift verfasst, in der es die Position bezog, dass eine Verkürzung der Schulzeit durchaus denkbar wäre, aber nur, wenn die verschiedenen Typen der höheren Schule erhalten blieben.180 Vor allem sorgte man sich im Unterrichtsministerium um den fremdsprachlichen Unterricht, allen voran um den Lateinunterricht. Hier wurden ähnliche Argumente laut, wie bei den Diskussionen während der Reichsschulkonferenz: Wie könne der Lateinunterricht mit einem verkürzten Lehrgang seine volle Wirkung entfalten? Allerdings unterbreitete man auch direkt Vorschläge, wie eine Verkürzung zu verschmerzen wäre.181 Dass die Verkürzung erst 6 Jahre später durchgeführt wurde, liegt vermutlich an den personellen Veränderungen, die durch den Preußen-Schlag 1932 zu verzeichnen waren. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass die Widerstände in der Lehrerschaft, in den Universitäten, in der Elternschaft und auch in den anderen Ländern zu stark waren.182 2.2 Die neue Gestaltung der höheren Schule: Deutsche Oberschule und Gymnasium
Helmut Bojunga, Chef des Amtes für Erziehung und der „maßgebliche Mann am Schulreformwerk“,183 hatte sich 1934 zur Aufgabe gemacht, ein Schulaufbaugesetz zu entwerfen, das dem gesamten deutschen Schulwesen von der Grundschule über die höheren Schulen bis zur Berufsschule einen einheitlichen Rahmen geben sollte. Der Entwurf war recht weit gediehen, als im Herbst 1935 das Gesetzesvorhaben auf Eis gelegt wurde – sehr zum Ärger von Bojunga. Die Schulformen sollten nun doch einzeln verhandelt werden.184 Um die Reform der höheren Schule zu besprechen, lud Reichsminister Rust die Vertreter aller Länder am 22. November 1935 zu einer Besprechung nach Berlin ein.185 In der Diskussion 179 180 181 182
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Vgl. Die achtjährige höhere Schule, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 8, Bl. 183–243, hier S. 206. Ebenda, S. 225. Ebenda, S. 236. Vgl. Deutscher Philologen-Verband an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.11.1930, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 8, Bl. 46–47; Verkürzung der Dauer des Lehrgangs der höheren Schule von 9 auf 8 Jahre, 9.1.1931, BayHStA, MK 53200; Börsenverein des deutschen Buchhandels an preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5.1.1931, BayHStA, MK 53200; vgl. auch GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 6, Bl. 248–251, Philologenverband im Dezember 1922; verschiedene Schreiben von Elternbeiräten, alle im Juni 1921, GStAPK, Gen. Z, Nr. 174, Bd. 5; Grünwald, Eugen: 24. Jahresversammlung, in: Humanistisches Gymnasium 32 (1921), S. 97–127, hier S. 115. Nagel: Hitlers Bildungsreformer, S. 169. Vgl. ebenda, S. 169–175. Vgl. Der Reichs- und preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 14.11.1935, BayHStA, MK 53200.
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stellte sich schnell Einigkeit darüber ein, dass man das Gymnasium mit grundständigem Latein und Griechisch als einer von drei Fremdsprachen auf keinen Fall abschaffen wollte.186 Daneben einigte man sich auf eine weitere Form, die als erste Fremdsprache Englisch und als zweite Fremdsprache Latein lehren sollte.187 Verfolgt man die Diskussion während des Treffens, von dem glücklicherweise ein Wortprotokoll existiert, befinden sich weder das Gymnasium noch die alten Sprachen in der Defensive. Die Mehrzahl der Länder betonten, dass sie am Gymnasium festhalten wollten, denn es sei kein „Schreckmittel“ und stehe ebenso „im Dienste des Deutschen“.188 Ein Teilnehmer schlug Latein sogar als generelle erste Fremdsprache vor, was aber nicht ernsthaft diskutiert wurde.189 Interessant ist, wie hier bereits die neuen Argumentationsstrategien Anwendung fanden. Schulsenator von Hoff aus Bremen argumentierte ganz rassenbiologisch für den altsprachlichen Unterricht im Sinne Günthers, mit dem zusammen er die Zeitschrift „Rasse. Monatsschrift der Nordischen Bewegung“ herausgab.190 Man brauche heute noch die alten Sprachen, nicht aus irgendwelchen mindestens zum Teil heute veralteten humanistischen Beweggründungen heraus, sondern weil die klassischen Sprachen die Vor- und Frühgeschichte unserer eigenen Rasse aufzeichnen, für die uns im Norden die schriftliche Ueberlieferung fehlt. [. . .] Diese Vor- und Frühgeschichte [. . .] bringt uns das griechische und lateinische Schrifttum, denn es stammt von unseren Brüdern, die unseres Blutes sind, und die so gedacht und gefühlt haben wie wir.191
Auch die „Charakter- und Willensstählung“, die man durch Latein erfahren könne, wurde ins Feld geführt.192 Als zweite Fremdsprache an der anderen höheren Schulform setzte sich Latein gegenüber Französisch mühelos durch. Gegen Latein wurden nur zwei Argumente angebracht. Zum einen stellte Oberschulrat Walther Etterich aus Münster die Frage, ob der „Kulturwert“ nicht „auch durch Übersetzungen erschlossen werden“ könne.193 Zum anderen stand Ministerialrat und NSDAP-Mitglied Rudolph Benze dem Lateinischen als „Sprache des Mittelmeers“ und seinen Befürwortern sehr skeptisch gegenüber.194 Diesem Einwurf
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Vgl. Besprechung über die Gestaltung des höheren Schulwesens, S. 7 (von Hoff, Bremen), 13 (Weber, Mecklenburg), 14 (Ebert, Magdeburg), 15 (Rammelt, Kassel), 16 (Löffler, Württemberg, und Fritzek, Oppeln), 17 (Müller, Braunschweig). Vgl. Besprechung über die Gestaltung des höheren Schulwesens, S. 18–22. Ebenda, S. 13 (Pusch, Hannover). Vgl. ebenda, S. 13, 16, 18–20. Vgl. MDAV 8,1/2 (1934), S. 17. Besprechung über die Gestaltung des höheren Schulwesens, S. 7. Ebenda, S. 16 (Pusch, Hannover). Ebenda, S. 14f. Ebenda, S. 29. Obwohl Benze ein studierter Altphilologe war, hatte er schon 1933 einen Vorschlag unterbreitet, der fast komplett auf fremdsprachlichen Unterricht verzichtete, vgl. Nagel: Hitlers Bildungsreformer, S. 62.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
wurde man dahingehend ein wenig gerecht, dass man für das Gymnasium eine Verstärkung des Griechischen forderte.195 Die Besprechung zog einige Reaktionen aus den Kultusministerien der Länder nach sich.196 Der Senator der Kultusverwaltung in Lübeck zeigte sich besorgt, „daß das humanistische Gymnasium“ durch die Schulreform „in immer stärkerem Maße isoliert und schließlich zugrundegerichtet“ würde.197 Die neue Schulform mit grundständigem Englisch würde größeren Zulauf erhalten, „weil rein praktisch die Brauchbarkeit des Englischen gegenüber dem Lateinischen [. . .] eine erheblich größere sein wird“ und weil die Eltern sich für die leichtere Schule, also gegen das grundständige Latein entscheiden würden. Dieses Beispiel zeigt, dass es vielen Befürwortern des altsprachlichen Unterrichts nicht nur um das Fach Latein ging, denn dies war bei der neuen Regelung sehr gut weggekommen, sondern um die Schulform Gymnasium. Der erste Erlass zur „Vereinheitlichung des höheren Schulwesens“ vom April 1936 begann, die im November 1935 besprochenen Maßnahmen umzusetzen. Er verpflichtete alle höheren Schulen, mit Englisch als erster Fremdsprache zu beginnen. Die Gymnasien waren davon ausgenommen, sofern sie nicht die einzige höhere Schule am Ort waren.198 Zu Ostern 1937 wurden schließlich alle Typen der höheren Schule außer den Gymnasien in die neue „grundständige Hauptform“, die „Deutsche Oberschule“ umgewandelt. Diese sollten – wie im November 1935 besprochen – mit Englisch beginnen und ab Quarta (7. Klasse) Latein lehren. Eine dritte Fremdsprache sollte erst in Obersekunda (11. Klasse) als Wahlpflichtfach zur Option stehen.199 Hier ist eine gewisse Kontinuität zu den Reformdiskussionen der Weimarer Republik zu erkennen. Dabei wurde eine zu große Betonung der Fremdsprachen ebenfalls kritisiert, weil sie zu wenig Raum für die deutschkundlichen Fächer ließen. Die neuen Bestimmungen 1937 kürzten
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Besprechung über die Gestaltung des höheren Schulwesens, S. 32f. Vgl. Kultusministerium von Württemberg an Rust, 28.11.1935; Präsident der Landesunterrichtsbehörde Hamburg an Rust, 17.1.1936, BayHStA, MK 53200. Senator der Kultusverwaltung Lübeck an Rust, 27.12.1935, BayHStA, MK 53200. Lübeck hatte sich bereits 1933 als Verteidiger des Gymnasiums positioniert, vgl. Abschrift Denkschrift des Lübecker Senats, 21.11.1933. Dagegen hielt das Württembergische Kultusministerium, das die bisherige soziale Selektion, gerade durch den Lateinunterricht kritisierte, Württembergisches Kultusministerium an den Reichsminister des Inneren, 24.11.1933, beide Dokumente aus BayHStA, MK 53200. Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 20.4.1936, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 2 (1936), S. 210. Vgl. zur Umgestaltung insgesamt Scholtz: Erziehung, S. 86–92. Zur Wahl von Englisch als erster Fremdsprache, vgl. Nagel: Hitlers Bildungsreformer, S. 195f. Übergangsbestimmungen zur Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 20.3.1937, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 3 (1937), S. 155–156, hier S. 155.
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den fremdsprachlichen Unterricht und ließen die frei gewordenen Stunden der „deutschkundlichen Gruppe“ zu Gute kommen.200 Eine weitere wichtige Veränderung war die Verkürzung der Zeit zum Abitur auf 12 Jahre. Hier stand die Frage im Raum, ob die Grundschule oder die höhere Schule um ein Jahr gekürzt werden sollte.201 Auch hier brachte der neue Erlass Klarheit. Allerdings wurde in diesem Punkt anders entschieden als in der Besprechung im November 1935 ausgehandelt: Während der Besprechung hatte sich die überwiegende Mehrheit für die Kürzung der Grundschule um ein Jahr ausgesprochen bzw. für die Beibehaltung der neunjährigen höheren Schule.202 In dem Erlass wurde nun aber die Oberstufe um ein Jahr gekürzt.203 Das bedeutete die Einführung der achtjährigen höheren Schule, die sich während der Weimarer Republik nie hatte durchsetzen können und auch bei den Vertretern der höheren Bildung im Nationalsozialismus eher einen schweren Stand hatte.204 Die Kürzung wurde mit „bevölkerungspolitischen Rücksichten“ begründet, denn die Elite sollte früher mit ihrer Ausbildung fertig sein, um früher eine Familie zu gründen.205 Will man bewerten, ob die Reform eine Zurückstellung des altsprachlichen Unterrichts darstellte, kommt man zu einem ambivalenten Ergebnis. Auf der einen Seite wird dem altsprachlichen Gymnasium eine Randstellung zugewiesen. Auf der anderen Seite lernten nun alle Schüler der höheren Schulen Latein, was vorher nicht der Fall gewesen, da die Oberrealschule ohne Latein ausgekommen war. Für das Fach Latein bedeutete die Schulreform also durchaus eine Aufwertung, für das Fach Griechisch, das ja nur am Gymnasium gelehrt wurde, eine Abwertung. Das Gymnasium blieb als Schulform erhalten und erhielt mit Latein (ab Klasse 5), Griechisch (ab Klasse 7) und Englisch (ab Klasse 9) eine neue Sprachenfolge.206 Allerdings gab es eine Bedingung für den Erhalt eines 200 201
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Übergangsbestimmungen zur Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 20.3.1937, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 3 (1937), S. 155–156, hier S. 155. Vgl. Nagel: Hitlers Bildungsreformer, S. 193f. Dazu auch Staatsministerium für Unterricht und Kultus an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 13.10.1936, BayHStA, MK 53200. Besprechung über die Gestaltung des höheren Schulwesens, S. 5, 7–10. Übergangsbestimmungen zur Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 20.3.1937, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 3 (1937), S. 155–156, hier S. 155. Vgl. Sachse: Vorschläge zum altsprachlichen Lehrplan, S. 63. Der Erlass rief auch einige Kritik hervor, vgl. Rundschreiben des Reichs- und preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 6.11.1936; Reichsstatthalter in Sachsen an Rust, 14.11.1936; Regierender Bürgermeister von Bremen an Rust, 28.11.1936, alle Dokumente BayHStA, MK 53200. Vgl. Nagel: Hitlers Bildungsreformer, S. 193f. In den Übergangsbestimmungen war zwar noch davon die Rede, dass Englisch erst in der Obersekunda, also in der 11. Klasse als Fach dazukomme, aber im Einführungserlaß vom 29.1.1938 ist der Beginn des Englischen auf die 9. Klasse vorverlegt, vgl. Übergangs-
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
Gymnasiums: Es durfte nicht die einzige höhere Schule an einem Ort sein.207 Über den Erhalt des Gymnasiums waren nicht alle glücklich. Der Kultusminister von Württemberg, Christian Mergenthaler, beschwerte sich beispielsweise scharf darüber.208 Ganz anders verhielt es sich in Bayern. 2.3 Die Umwandlung der Gymnasien: Das Beispiel Bayern
Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hatte ein Interesse daran, möglichst viele Gymnasien in Deutsche Oberschulen umzuwandeln. Im Juli 1936 meldete das Bayerische Kultusministerium an das Reichsministerium, welche Schulen in Bayern zu Deutschen Oberschulen umgewandelt werden könnten. 15 Gymnasien kämen demnach in Frage, wobei Ordensschulen und „Lehranstalten, in denen ausschliesslich der Nachwuchs von Ordenspriestern und Weltgeistlichen herangezogen“ wurden, „vorerst“ ausgenommen wurden. Zur Begründung würde hinzugefügt: „Die Umstellung würde hier zur Auflösung der Anstalten und zu scharfem Konflikt mit den obersten Kirchenbehörden führen.“ Insgesamt brachte das Bayerische Ministerium recht viele Gründe vor, weswegen Gymnasien doch nicht umgewandelt werden könnten.209 Referent Bauerschmidt empfahl in seiner „Vormerkung“ zwischen den Zeilen, die Umwandlungen nicht zu überstürzen.210 Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass das Bayerische Kultusministerium die Umwandlungen nicht mit vollem Elan betrieb. Im Januar 1937 meldete das Bayerische Kultusministerium, dass man 19 Gymnasien halten wolle.211 Referent Bauerschmidt versah dies wieder mit einer Bemerkung, in der er den Wert des Gymnasiums für den nationalsozialistischen Staat darlegte und Vorschläge für weitere zu erhaltende Gymnasien vornahm. Bauerschmidt argumentierte einerseits ganz im nationalsozialistischen Sinne mit Zitaten Hitlers und Rosenbergs, mit der Artverwandtschaft von Griechen und Germanen und mit Platon als „erste[m] Verkünder der völkischen Idee“.
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bestimmungen zur Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 20.3.1937, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 3 (1937), S. 155–156, hier S. 155; und Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 3. Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 20.4.1936, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 2 (1936), S. 210. Der Kultusminister von Württemberg an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 29.6.1936, BayHStA, MK 53200. Staatsministerium für Unterricht und Kultus an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 1.7.1936, BayHStA, MK 53200. Vgl. Vorbemerkung des Referats 4a, Referent Bauerschmidt, 30. Mai 1936, BayHStA, MK 53200. Staatsministerium für Unterricht und Kultus an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Januar 1937, BayHStA, MK 53200.
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Andererseits argumentierte er ungewohnt traditionell und sprach davon, dass das „humanistische Gymnasium [. . .] eine der besten Vorbereitungsstätten für das Studium der Geisteswissenschaften“ sei. Auch die Begriffe Humanismus und humanistisch verwendete er oft. Von Antiintellektualismus ist bei Bauerschmidt nichts zu spüren.212 Das Verhalten Bauerschmidts könnte dafür sprechen, dass die Begeisterung für die nationalsozialistische Bildungsreform sich in der Kultusbürokratie eher in Grenzen hielt. Aber selbst bei Reichserziehungsminister Rust scheint eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Umwandlungen geherrscht zu haben. Am 8. Juli 1936 veranlasste er nämlich per Erlass, dass die Kultusministerien bei Fragen der Schulreform „der Öffentlichkeit gegenüber größte Zurückhaltung zu üben“ hätten.213 Ein ähnliches Dekret sandte der bayerische Kultusminister am 27. Februar 1937 an alle Direktorate: „[J]ede öffentliche Erörterung der im Gang befindlichen Reform der höheren Schule auf die einzelnen Schulorte“ habe zu unterbleiben. Denn: „Die Frage, ob eine Stadt eine höhere Schule verliert oder gewinnt und ob eine Schule umgewandelt werden soll oder nicht, berührt [. . .] in hohem Maße und erhitzt die Gemüter[. . .].“214 In der Tat müssen die Maßnahmen der Umwandlungen „zur Beunruhigung in Schul- und Elternkreisen geführt“ haben, denn Rust schickte am 2. Februar 1939 ein Schreiben an die Unterrichtsverwaltungen der Länder, in dem er beteuerte, dass keine Abschaffung des Gymnasiums geplant sei.215 Eine Gruppe machte sich aber zu Recht Sorgen um ihre Lehranstalten, und das waren die Kirchen. Viele der humanistischen Gymnasien in Bayern waren in kirchlicher Trägerschaft bzw. Ordensschulen. Referent Bauerschmidt hatte dies als Begründung herangezogen, warum diese Schulen nicht umgewandelt werden könnten. Bereits Ende 1936 erging allerdings eine Anordnung Rusts, dass der „Wunsch kirchlicher Stellen, eine Schule wegen der Vorbereitung für das Theologiestudium als Gymnasium zu behalten, [. . .] kein ausreichender Grund“ für die Bewahrung des Gymnasiums sei.216 Obwohl sich die Kirchenobersten von Bayern, wie der Erzbischof von München und 212
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Bemerkung der Referats 4a, Bauerschmidt, zu Staatsministerium für Unterricht und Kultus an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Januar 1937, BayHStA, MK 53200. Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an die Unterrichtsverwaltung der Länder, die Herrn Oberpräsidenten für höheres Schulwesen, Reichskommissar für das Saarland, 8.7.1936, BayHStA, MK 53200; ähnlich auch Besprechung über die Gestaltung des höheren Schulwesens, S. 6, 8. Staatsministerium für Unterricht und Kultus an die Direktorate der staatlichen und nichtstaatlichen höheren Schulen, 27.2.1937, BayHStA, MK 53200. Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 2.2.1929, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 5 (1939), S. 81–82. Vereinheitlichung des höheren Schulwesens, 28.12.1936, in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 3 (1937), S. 11.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, mehrfach für den Erhalt verschiedener kirchlicher Gymnasien einsetzten,217 erging Ende 1937 der Erlass an alle kirchlichen Schulen, dass sie zum nächsten Schuljahr hin keine neuen Schüler mehr aufnehmen dürften, was einer Auflösung gleichkam.218 Die Kirchen, deren Stimme in bildungspolitischen Fragen in der Weimarer Republik starkes Gewicht hatte, wurden im Nationalsozialismus nicht mehr beachtet. Ob nun Zufall oder ein Akt der Rache: Als die bayerische Kultusverwaltung bei der Kirche nachfragte, ob man deren leerstehende Schulräume mieten dürfe, um die Anstalten aus öffentlichen Mitteln weiterzuführen, bekam man eine Absage: Man stehe bereits mit anderen Interessenten in Verhandlung.219 Einige traditionsreiche Gymnasien wurden allerdings auch in NS-Eliteanstalten, sogenannte Napolas, umgewandelt. Helen Roche hat die Gymnasien Schulpforta und Ilfeld dahingehend untersucht, ob sie sich wegen ihrer altsprachlichen Vergangenheit von anderen Napolas unterschieden. Auch wenn es an diesen beiden Schulen mehr altsprachlichen Unterricht gegeben habe als an anderen Napolas, könne dennoch kaum ein Unterschied zu Napolas ohne altsprachliche Vergangenheit festgestellt werden.220 2.4 Die neuen Lehrpläne 1938
Die „erste umfassende Regelung“ des höheren Schulwesens im Nationalsozialismus, die sowohl die strukturellen Veränderungen als auch die ideologischen Grundlagen zusammenfasste, war die Schrift des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung „Erziehung und Unterricht in der höheren Schule“ von 1938.221 Neben einem „Einführungserlaß“ und „Grundsätzliche[m]“ 217
218
219 220 221
Vgl. Erzbischof von München. Kardinal Faulhaber, an Rust, 9.1.1937; Generalvikar Buchwieser an Rust, 25.2.1937; Das Ordinariat des Bistums München und Freising an das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.12.1937; Bischof von Würzburg, Matthias Ehrenfried, an das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 23.1.1937. Ehrenfried setzte sich für die Erhaltung des staatlichen Progymnasiums in Miltenberg ein, das aber schließlich auch umgewandelt wurde. Alle Dokumente aus BayHStA, MK 53200. Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Direktorate, 29.12.1937, BayHStA, MK 53200. Die Auflösung der kirchlichen Schulen stellte die bayerische Kultusverwaltung vor einige Probleme: beispielsweise waren 70 % der Mädchenschulen in kirchlichen Händen gewesen, für deren Versorgung nun der Staat aufkommen musste, vgl. Boepple an Rust, 5.11.1936, BayHStA, MK 53200. Vgl. auch Weigand: Schule und Widerstand, S. 415f.; Fürohr: Schulwesen, S. 189–204; Lehning: Weg, S. 67–70. Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Rust, 31.12.1937. Vgl. Roche: Wanderer. Vgl. dazu Schneider: Höhere Schule, S. 390–397.
2 Die Einführung der Deutschen Oberschule
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enthielt sie die neuen Stundentafeln für die deutsche Oberschule und das Gymnasium sowie die Lehrpläne für die einzelnen Fächer.222 2.4.1 „Grundsätzliches“
In den grundsätzlichen Anmerkungen finden sich alle Gesichtspunkte wieder, die schon 1933 als Grundgedanken sichtbar geworden waren. Vor allem versuchte sich das „nationalsozialistische Erziehungssystem“ vom Schulsystem der Weimarer Zeit abzugrenzen.223 Das war teilweise gar nicht so leicht, hatte doch bereits die Reform von 1925 gefordert, „daß die Schule in den Dienst der deutschen Nationalerziehung zu treten habe“.224 Allerdings habe die Reform von 1925 „im deutschen Idealismus“ die Grundlage für die Neuordnung des Schulwesens gesucht.225 Es sei eine „Illusion, daß geistige Bildung einem Volke das schenken könne, was nur durch die politische Tat einer großen Persönlichkeit dem Schicksal abgetrotzt“ würde.226 Daher sehe der Nationalsozialismus den „Vorrang der Politik vor der Pädagogik“.227 An die Stelle „des Trugbildes der gebildeten Persönlichkeit“ setze der Nationalsozialismus, den „durch Blut und geschichtliches Schicksal bestimmten deutschen Menschen“.228 Denn dieser Intellektualismus habe das Volk in „Gebildete“ und „Ungebildete“ getrennt. Im neuen System seien alle Schularten gleich wichtig, so dass auf diesem „Boden [. . .] eine neue völkische Bildung erwachsen“ könne.229 Hier richtete sich nun 222
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Im Übrigen gab es auch nach der Reform mindestens fünf verschiedene Formen der höheren Schule: Oberschule für Jungen, Oberschule in Aufbauform für Jungen, Oberschule für Mädchen, Oberschule in Aufbauform für Mädchen und das Gymnasium. Das Gymnasium durfte nur in absoluten Ausnahmefällen und mit Genehmigung von Mädchen besucht werden. Die Oberschule gab es für Jungen in naturwissenschaftlich-mathematischer und sprachlicher Form, für Mädchen in hauswirtschaftlicher oder sprachlicher Form. Vgl. dazu Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 2f., 23–31. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 11. Ebenda, S. 9. Zur Auseinandersetzung mit der Reform von 1925 vgl. Holtorf, Herbert: Das Gymnasium von heute im Lichte der Jugendpsychologie, in: HG 44 (1933), S. 148–152, hier S. 149. Holtorf äußert sich hier allerdings noch positiv über die Reform, was daran liegen könnte, dass er diesen Vortrag noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, nämlich am 11.4.1932, hielt. Die Reform als Negativfolie bei Schröteler, Josef: Zwischenbilanz, in: Monatsschrift für Höhere Schulen 32 (1933), S. 21–39, hier S. 28f.; Illig, Leonhard: Gymnasium und altsprachlicher Unterricht im nationalsozialistischen Gesamterziehungsplan, in: DDHS 5 (1938), S. 396–404, hier S. 398, 401; Oppermann, Hans: Die alten Sprachen in der Neuordnung des höheren Schulwesens, in: NJfAudB113 (1938), S. 127–136, hier S. 127. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 9; vgl. auch Schröteler, Josef: Zwischenbilanz, in: Monatsschrift für Höhere Schulen 32 (1933), S. 21–39, hier S. 28f. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 9f. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 12. Ebenda, Zitat S. 13, vgl. auch S. 14, 20.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
die nationalsozialistische Schulpolitik auch offiziell gegen das „Schlagwort der ‚Allgemeinen Bildung‘“ und gegen die „humanistische [. . .] Bildungsideologie“ – letztere war in Hitlers „Mein Kampf “ noch gelobt worden.230 Wie konnte nun aber die Beibehaltung der höheren Schule und vor allem die des Gymnasiums gerechtfertigt werden, zumal das Gymnasium Symbol all dessen war, was man nun kategorisch ablehnte? Das „Kennenlernen fremden Volkstums“, so argumentierten die Lehrpläne, wecke im Schüler „die Fähigkeit zu eigener, selbstverantwortlicher Entscheidung“.231 Zudem fördere gerade die „Auseinandersetzung mit dem Fremden“ das Verständnis für „die Lebensfragen des eigenen Volkes und Staates“.232 Damit begründete man den fremdsprachlichen Unterricht und sah darin „zugleich eine der wichtigsten Begründungen für die Erhaltung des Gymnasiums als Sonderform“.233 Denn es gelte, „die fruchtbare Spannung zwischen Abstand und Nähe, die unser Verhältnis zu Hellas und Rom kennzeichnet, der Erziehungsaufgabe der Höheren Schule nutzbar zu machen“.234 Es fällt auf, dass diese Begründungsstrategien nicht so weit entfernt sind von dem, was man in der Weimarer Republik zur Begründung des fremdsprachlichen Unterrichts schrieb. Am Grundsatz des Arbeitsunterrichts hielt man im Übrigen auch fest.235 Ebenso lehnte man die „Lernschule alten Stils“ ab. Allerdings betonte man – und in dieser Deutlichkeit geht es über die Formulierungen Weimarer Prägung hinaus –, dass sich der „Charakter [. . .] nur an Widerständen“ bilde. Solche Widerstände stellten „der Zwang der Logik und das unerbittliche Gesetz der Sachlichkeit“ dar.236 Zudem sei „wirkliche Erkenntnis“ keine rein verstandesmäßige Angelegenheit, sondern erziehe „zu Gehorsam, Bescheidenheit und geistiger Zucht“.237 Diese Passagen zeigen also, wie die Argumentationsmuster für altsprachlichen Unterricht für den fremdsprachlichen Unterricht im Allgemeinen herangezogen wurden. Antiidealismus, Antiintellektualismus, Nationalerziehung, Charaktererziehung und geistige Zucht waren die Inhalte, mit denen man die höhere Schule im Allgemeinen und das Gymnasium im Besonderen rechtfertigte. Somit waren die ideologischen Grundlagen, die seit 1933 in verschiedensten Publikationen ausdifferenziert worden waren, in die offizielle Politik übergegangen. Verwunderlich bleibt, dass die höhere Schule trotz ursprünglich anderer Pläne bestehen blieb und nicht in ein alle Schularten umfassendes Erziehungssystem einge230 231 232 233 234 235 236 237
Ebenda, S. 13; zu „Mein Kampf “ siehe oben Kapitel III.1. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 16. Ebenda, S. 16. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 19f. Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 17, auch S. 18.
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gliedert wurde. Barbara Schneider wertet dies „als Zeugnis für den geringen Durchdringungsgrad der ideologischen Maßgabe der Egalität in der politischwirtschaftlichen und gesellschaftlich-sozialen Wirklichkeit“.238 Diese Interpretation ist sicherlich nicht falsch, waren die Nationalsozialisten letztendlich in vielen Bereichen eher pragmatisch als ideologisch. Allerdings kommt dabei etwas zu kurz, dass die Bewahrung des Gymnasiums sicherlich auch daran lag, dass diese Schulart zu sehr mit positiven Bildungsvorstellungen bei Verwaltungsbeamten und Eltern besetzt war. Deren Aufbegehren wollte man vermeiden. Allerdings ist Schneider zuzustimmen, dass sich die nationalsozialistische Bildungspolitik nicht so sehr gegen das Gymnasium als gegen die Begriffe „Bildung und Humanität“ richtete.239 2.4.2 „Alte Sprachen“240
Die Lehrpläne für die alten Sprachen standen in der Schrift des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an vorletzter Stelle, nur noch gefolgt von den „Fächer[n] des Frauenschaffens“. Ob in dieser Tatsache eine Wertung liegt, bleibt offen. Zunächst wurde klargestellt, welche Inhalte der Antike eine Rolle für den Unterricht spielen sollten. Nur die „nordischhellenischen und nordisch-römischen Träger“ der antiken Kultur sollten im Unterricht behandelt werden, denn sie sollten „dem nordisch-germanischen Menschen verwandten Züge wiedererkennen lehren“.241 Dies war eine Warnung, der romanischen Tradition der Antike zu viel Raum im Unterricht einzuräumen. Gerade beim Lateinischen ging es um „eine eigenständige, vom Westen und Süden unabhängige Auseinandersetzung mit dem alten Rom“.242 Vielleicht genoss gerade deshalb das Griechische auch in diesen Lehrplänen den Vorrang vor dem Lateinischen, das den jungen Deutschen „zum gymnastisch und musisch gebildeten Zoon politikon“ erziehen sollte.243 Um durch diese Bevorzugung des Griechischen nicht in die Nähe des Neuhumanismus gerückt zu werden, grenz238 239 240 241 242
243
Schneider: Höhere Schule, S. 408. Schneider hat den ganzen Lehrplan in Bezug auf NSErziehungssystem und -vorstellungen untersucht, vgl. ebenda, S. 397–444. Schneider: Höhere Schule, S. 444. Zur Entstehung und Diskussion der Richtlinien vgl. Irmscher: Altsprachlicher Unterricht, S. 258–262. Darauf wird später noch einmal Bezug genommen, siehe Kapitel III.4.3. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 231. Ebenda, S. 233. Ganz ähnlich auch Hans Oppermann: Die alten Sprachen in der Neuordnung des höheren Schulwesens, in: NJfAudB113 (1938), S. 127–136, hier S. 132: „Dabei muß er [der Lateinunterricht, A. K.] durch eine eigenständige, vom Westen und Süden unabhängige Betrachtung des alten Rom die einzigartige Stellung des Deutschen in der Gesamtheit der nationalen Kulturen Europas herausarbeiten, damit nicht die Ausdehnung des Lateinunterrichts auf alle höheren Schulen eine undeutsche Verwestlichung unserer Bildung nach sich ziehe.“ Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 232.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
ten sich die Verfasser der Lehrpläne ausdrücklich davon ab.244 Dennoch zeigt sich gerade in der Griechenbegeisterung der Nationalsozialisten, allen voran Hitlers, dass sie in gewisser Weise auch an deutsche humanistische Traditionen anknüpften.245 Im Lateinunterricht sollte es vor allem darum gehen, dem Schüler zu vermitteln, dass „dieses nordisch bestimmte Volk in einer bedrohenden Umwelt durch Schaffung seines Staates sich selbst behauptet hat“.246 Dies sei dem römischen Volk aber erst nach und nach bewusst geworden, und genau diese Bewusstwerdung, die ihren Höhepunkt unter Augustus erreichte, sollte der Schüler „nacherleben“, damit ihm zur Stellung des eigenen Volkes „eigene Erkenntnisse und Kräfte wachsen“.247 Besonders ertragreich sei der Lateinunterricht durch die Darstellung Germaniens, wie sie bei Caesar und Tacitus zu finden sei.248 Im Mittelpunkt sollte im nationalsozialistischen altsprachlichen Unterricht die inhaltliche Arbeit, also die Lektüre, stehen. Auch wenn „[g]ute Übersetzungen“ als Hilfe bei sprachlich zu schwierigen Stellen oder „[z]ur Abrundung und Ergänzung“ verwendet werden sollten,249 bleibe die „Erlernung der alten Sprachen unerläßliche Voraussetzung“, um zu „einer tieferen Erfassung der antiken Kulturwerte“ zu gelangen.250 Der dafür notwendige Sprachunterricht hatte laut Lehrplan drei Aufgaben: die „Erlernung der fremden Sprache“, um zur Lektüre zu gelangen, „die Erziehung zur Muttersprache“ sowie „geistige Zucht“.251 Damit sind schon die Themen gesetzt, die die altsprachliche Didaktik in den 1930er Jahren beschäftigten und auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.
3 Die Didaktik der alten Sprachen Rein praktisch bedeuteten die neuen Lehrpläne eine weitere Verkürzung des altsprachlichen Unterrichts. Im Vergleich zu 1925 wurde der Griechischunterricht um 6 Wochenstunden252 auf nun 30 gekürzt, was allerdings zu verschmerzen 244
245 246 247 248 249 250 251 252
Ebenda, S. 231. Vgl. auch S. 232: Das lateinische Schrifttum stehe zwar „im Schatten des hellenischen Geistes“, eine „einseitig philosophisch-ästhetische [. . .]“ Wertung sollte aber nicht im Mittelpunkt des Lateinunterrichts stehen. Vgl. Demandt: Klassik als Klischee, S. 295. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 233. Ebenda. Ebenda. Vgl. dazu auch Chapoutot: Nationalsozialismus, S. 147f. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 234. Ebenda, S. 233. Ebenda, S. 235. Diese Zählung der Wochenstunden bei den einzelnen Fächern bezieht sich immer darauf, wie viele Stunden pro Woche ein Fach auf die Gesamtdauer aller Jahrgangsstufen, nicht im Durchschnitt, sondern aufaddiert, gelehrt wird, siehe Kapitel II.2.2.2.
3 Die Didaktik der alten Sprachen
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war. Wesentlich stärker rückte man dem Lateinunterricht zu Leibe: Auf dem Gymnasium sollte es nur noch 35 statt 53 Wochenstunden Latein geben.253 An der Deutschen Oberschule entfielen auf den Lateinunterricht je nach Zweig 16– 24 Wochenstunden.254 Dies entsprach ungefähr der Größenordnung an Stunden, die auch die verschiedenen lateintreibenden höheren Schulen neben dem Gymnasium nach der Reform 1925 zur Verfügung hatten.255 Deswegen hatten auch bereits während der Weimarer Republik verschiedene Überlegungen stattgefunden, wie man didaktisch auf einen verkürzten Lateinunterricht reagieren sollte und wie die Schüler auch mit weniger Stunden auf ein brauchbares Niveau gebracht werden könnten.256 Allen voran gab es Überlegungen, den Lateinunterricht nur noch vom Lateinischen aus zu gestalten und auf die Übersetzung ins Lateinische komplett zu verzichten. Diese methodischen Überlegungen kamen während des Nationalsozialismus auch auf dem Gymnasium voll zum Tragen. 3.1 Mader/Breywisch und das lateinisch-deutsche Verfahren
Die Diskussion um den Wert der deutsch-lateinischen Übersetzung hatte die altsprachliche Didaktik während der Weimarer Republik bereits beschäftigt. Wie das vielgerühmte Werk von Max Krüger zur lateinischen Methodik aus dem Jahr 1930 nahelegt, hatte man sich auf den Kompromiss geeinigt, dass die deutsch-lateinische Übersetzung zu Übungszwecken durchaus noch Platz im Lateinunterricht haben sollte.257 Ludwig Mader und Walter Breywisch hatten bereits Ende der 1920er Jahre begonnen, programmatische Aufsätze zu verfassen, in denen sie einen Lateinunterricht vorschlugen, der nur vom Lateinischen ausging und auf die deutsch-lateinische Übersetzung komplett verzichtete.258 Zu einem wahren „Methodenstreit“259 kam es, als Mader und Breywisch 1934 ihr grundlegendes Werk „Zur Eingliederung des altsprachlichen Unterrichts in die nationale Schule“ herausbrachten. Hierin stellten sie die Lektüre in den Mittelpunkt, verzichteten auf eine Übersetzung aus dem Deutschen und sahen 253 254 255 256 257
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Vgl. Fritsch: Lateinunterricht, S. 24. Vgl. Fritsch: Lateinunterricht, S. 24. Vgl. Die Stundentafeln zur Neuordnung des höheren Schulwesens, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 66 (1924), S. 285–289, vor allem 286. Siehe oben Kapitel II.2.3.2 zu den neuen Methoden der Konzentration und des Arbeitsunterrichts. Vgl. Krüger: Methodik, S. 80f. Vgl. auch das Werk von Ewald Bruhn, vgl. Bucherer, Fritz, in: Zur Methodik und Didaktik des altsprachlichen Unterrichts, in: HG 42 (1931), S. 208–216, hier S. 210. Vgl. Mader, Ludwig: Die Aufgabe der Grammatik im heutigen Lateinunterricht, in: 250 Jahre Weidmannsche Buchhandlung. Beilage zur Monatsschrift für höhere Schulen 29 (1930), S. 30–37. Fritsch: Vom „Scriptum“ zum „Lesenkönnen“, S. 26.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
die Grammatik nur noch als „Mittel zum Zweck“. Die „direkte Methode“ hatten die beiden zwar für das Gymnasium entwickelt, betonten aber: „Schultypen, die weniger Latein haben, werden sie [die Methode, AK] besonders begrüßen.“260 Die wenigen Auszüge genügen schon, um zu begreifen, dass diese Methode für den altsprachlichen Unterricht im Nationalsozialismus wie gemacht zu sein schien. Und so wundert es nicht, dass sich diese Methode durchsetzte und in den Lehrplänen von 1938 ausdrücklich empfohlen wurde.261 Interessanterweise wurde zwar das lateinisch-deutsche Verfahren von allen Seiten als das richtige angesehen, allerdings wurde die Methodik in Reinform nach Mader und Breywisch eher kritisch betrachtet. 3.1.1 Kritik an Mader und Breywisch
Das Erscheinen des Buches löste eine kontroverse Diskussion im Deutschen Philologen-Blatt aus. Vor allem der Breslauer Studienrat Max Schlossarek übte heftige Kritik am „Mader-Breywischianismus“, wie er ihn abfällig titulierte.262 Allerdings beschwerte sich Schlossarek am meisten darüber, dass Mader und Breywisch in ihren Ausführungen zu wenig nationalsozialistisch seien und dass ihre Methode nichts anderes darstelle „als den Ausfluß eines vollendeten individualistischen Intellektualismus“.263 Die weiteren Reaktionen waren durchaus moderater, nahmen Mader und Breywisch in Schutz,264 übten aber auch Kritik, „das Alte nicht zu schnell über Bord zu werfen“.265 Die beiden Hauptkritikpunkte, die immer wieder auftauchten, waren, dass die Methode der beiden zum einen nicht wirklich neu sei.266 Im Griechischen gehe man schon 260 261 262
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Mader/Breywisch: Eingliederung, S. 95. Vgl. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 236f. Schlossarek, Max: Humanismus und alte Sprachen auf nationalsozialistischer Grundlage und der Mader-Breywischianismus, in: DPB 42 (1934), S. 136–139, 148–149; Erwiderung darauf: Mader, Ludwig, in: DPB 42 (1934), S. 221–224. Schlossarek hatte bereits auf den ersten Artikel von Breywisch 1933 sehr heftig reagiert, vgl. Breywisch, Walter: Humanistische Bildung deutscher Jugend nach neuerprobter Lehrweise, in: DPB 41 (1933), S. 356–357; Schlossarek, Max: Deutsch-humanistische Bildung nach alterprobter Lehrweise, in: DPB 41 (1933), S. 405–408. Schlossarek, Max: Humanismus und alte Sprachen auf nationalsozialistischer Grundlage und der Mader-Breywischianismus, in: DPB 42 (1934), S. 136–139; 148–149, hier S. 138. Die ganze Diskussion ist in der Forschung sehr gut aufgearbeitet, vgl. Fritsch: Vom „Scriptum“ zum „Lesenkönnen“, S. 18–25; Liebsch: Die deutsch-lateinische Übersetzung, S. 198–201. Vgl. Pilch, Ernst: Nochmals Mader-Breywisch, in: DPB 42 (1934), S. 245–246. Spanke, Hans: Zur Methodik des Lateinunterrichts, in: DPB 42 (1934), S. 284. Vgl. Pilch, Ernst: Nochmals Mader-Breywisch, in: DPB 42 (1934), S. 245–246; ebenso Otto Wecker, der Mader und Breywisch ganz zustimmte, aber die Methode als nicht neu, sondern als die „natürliche“ Methode deklarierte, vgl. Fritsch: Vom „Scriptum“ zum „Lesenkönnen“, S. 26–28.
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lange so vor.267 Zum anderen waren die meisten Altphilologen skeptisch gegenüber der starren Anwendung einer Methode. Sie bevorzugten einen gewissen Freiraum, wann das deutsch-lateinische oder lateinisch-deutsche Verfahren anzuwenden sei.268 Die lateinisch-deutsche Methode wurde unter den Fachkollegen intensiv diskutiert und im Allgemeinen von allen akzeptiert.269 Auch vom Reichssachgebiet Alte Sprache wurde sie gefördert. So war Ludwig Mader ständiger Gast bei den sogenannten „Schulungslagern für Latein“, die seit 1937 als verpflichtende Fortbildungsmaßnahme für Lehrer regelmäßig abgehalten wurden.270 Dass hier allerdings ein wenig Überzeugungsarbeit bei den Teilnehmern geleistet werden musste, zeigt der Umstand, dass die Leitung des Schulungslagers nach einem Vortrag Maders deutlich darauf hinwies, dass „die Umstellung des Lateinunterrichts auf die Herübersetzung die wichtigste praktische Frage des Lehrgangs“ sei. Der Schulungsleiter wies darauf hin, dass man eigentlich schon seit 1890 das Ziel des Lateinunterrichts auf das Verständnis der Schriftsteller ausgerichtet habe, was aber immer wieder daran gescheitert sei, dass das „fest haftende alte Ziel [Latein schreiben] bei den meisten Kollegen die Methode und den Lehrinhalt des neu geforderten Zieles getrübt habe“.271 Auf dem Lehrgang danach beispielsweise, auf dem Mader zwar nicht sprach, seine Thesen aber dennoch diskutiert wurden, vertrat kein Teilnehmer laut Bericht die Meinung, dass die Übersetzung ins Lateinische komplett abgeschafft werden sollte.272 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Gutachten über Breywischs Tätigkeiten als Lehrer. Oberschulrat Rudolf Weynand war seit 1929 mit Breywisch 267 268
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Vgl. Bericht des Oberschulrats Dr. Weynand über die Unterrichtsmethode des Studienrats Breywisch, 25.1.1935, Bl. 329, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341. Vgl. Eichhorn, Friedrich: Zum lateinischen und griechischen Unterricht, in: GA 2 (1937), S. 66–68, hier S. 66. Eichhorn gibt hier die Meinung des bayerischen Ministerialrats Bauerschmidt wieder. Vgl. Stöcklein, Johann: Kernfragen des altsprachlichen Unterrichts, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 175–184, v. a. S. 176; Schiling, Harald: Inhaltliches Konstruieren. Ein Beitrag zur Methodik des altsprachlichen Unterrichts, in: GA 1 (1936), S. 57–63; Rabenhorst, Max: Der neue Lateinunterricht, in: AS 2 (1937), S. 20–31, v. a. S. 21. Vgl. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219; Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.11.1937, Bl. 264–294; Schulungslager für Latein in Kettwig, 25.10.–1.11.1937, Bl. 295–319, alle Dokumente aus BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Auch Otto Wecker sprach dort als Referent, Schulungslager für Latein in Kettwig, 12.– 20.11.1937, Bl. 244–263, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Zu den Schulungslagern allgemein Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 291–298. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier Bl. 197, BA BerlinLichterfelde, R 4091/12467. Diese Schulungslager waren mehr als fachliche Lehrerfortbildungen, denn sie enthielten auch „formativ-repressive [. . .] Elemente“ wie einen strikten Tagesablauf mit Wecken, Frühsport und „Ausmärschen“. Ebenso mussten die Teilnehmer eine Lageruniform tragen, vgl. dazu ausführlich Kraas: Lehrerlager, S. 201–219. Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.12.–20.12.1937, Bl. 91–121, hier Bl. 105, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
und seinen Methoden bekannt. Breywisch und seine Kollegen hatten gebeten, das lateinisch-deutsche Verfahren testweise an ihrer Schule in Schleusingen einführen zu dürfen. Weynand hatte dies genehmigt.273 Nachdem sich allerdings einige Eltern über die Lehrmethode Breywischs beschwert hatten, stattete Weynand ihm im November 1934 einen ausgiebigen Unterrichtsbesuch ab.274 Das Urteil, das Weynand über die „Methode Breywisch“ fällte, war vernichtend: „[W]as gut an ihr ist, ist nicht neu, was neu an ihr ist, ist bedenklich und hat bisher die Probe nicht bestanden“.275 Die Fortführung des Versuchs hielt Weynand für „bedenklich, ja unmöglich“. Die Fachkollegen hätten „ihm die Gefolgschaft gekündigt“.276 Vor allem die Einseitigkeit der Methode wurde abgelehnt.277 Der Leiter der Abteilung für Höhere Schulen, Ministerialdirigent Martin Löpelmann, entschied daraufhin, „dem Studienrat Breywisch seine Schluderei und Schaumschlägerei gründlich abzugewöhnen“, andernfalls sei ihm der Lateinunterricht zu entziehen.278 Es ist paradox, dass der Vorreiter einer Methode, die drei Jahre nach dem Gutachten durch die Lehrpläne vorgeschrieben wurde, hier so abgekanzelt wurde. Weitere Akten legen nahe, dass Breywisch auch in späteren nicht Jahren vom NSLB als Berater angefragt wurde – im Gegensatz zu seinem Mitstreiter Ludwig Mader.279 Als Erklärung wären persönliche Aversionen Weynands denkbar oder ein etwas schwieriger Charakter Breywichs – wofür sich durchaus Andeutungen im Gutachten finden.280 273 274 275 276 277 278
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Bericht des Oberschulrats Dr. Weynand über die Unterrichtsmethode des Studienrats Breywisch, 25.1.1935, Bl. 316f., BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341. Ebenda, Bl. 317, 327–328. Ebenda, Bl. 329. Ebenda, Bl. 328. Vgl. Metzener [Vorgesetzter von Weynand] an Ministerialrat Benze, 14.2.1935, Bl. 330, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341. Metzener [Vorgesetzter von Weynand] an Ministerialrat Benze, 14.2.1935, Bl. 330RS [handschriftlicher Kommentar von Martin Löpelmann], BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/ 4341. Vgl. Oberpräsident der Provinz Sachsen, Abteilung für höheres Schulwesen an Reichsund preußisches Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 8.7.1938, Bl. 371, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341. Bericht des Oberschulrats Dr. Weynand über die Unterrichtsmethode des Studienrats Breywisch, 25.1.1935, Bl. 316RSf., BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341: „Ich habe aber im Laufe der Zeit bedauert, dass Breywisch für die von ihm vertretene Anschauung, ehe von ‚Ergebnissen‘ die Rede sein konnte, geradezu Reklame gemacht hat[. . .].“ Ähnlich auch Oberpräsident der Provinz Sachsen, Abteilung für höheres Schulwesen an Reichs- und preußisches Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 8.7.1938, Bl. 371, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341: Hier vertrat Weynand die Ansicht, Breywisch wolle sich nur deshalb im NSLB engagieren, um sein eigenes Buch zu verkaufen. Vgl. auch Bericht des Oberschulrats Dr. Weynand über die Unterrichtsmethode des Studienrats Breywisch, 25.1.1935, Bl. 329, BA Berlin-Lichterfelde, R 4901/4341: „Zudem ist Dr. Breywisch zwar ein sehr fleissiger, eifriger und ehrgeiziger Lehrer; es ist aber mehr das Empfindungsleben bei ihm ausgebildet als Führereigenschaften.“
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Insgesamt konnte Andreas Fritsch aber bei der Analyse von Schulbüchern zeigen, dass sich die „direkte Methode“ seit 1938 in den Schulbüchern durchzusetzen begann.281 Und auch die didaktischen Themen in den Fachjournalen gaben ab 1938 einiges an praktischen Hinweisen, wie mit dem neuen Verfahren gute Ergebnisse zu erzielen seien.282 Im Endeffekt war der Nationalsozialismus mit der Stundenverkürzung und seiner konsequenten Ausrichtung auf die Lektürefähigkeit der Schüler nur der Katalysator, der die Tendenzen der Weimarer Zeit mit Schwung durchsetzte. 3.1.2 Bewahrung einer Tradition: Die deutsch-lateinische Übersetzung
Wie bereits erwähnt, war trotz der generellen Akzeptanz des lateinisch-deutschen Lehrverfahrens bei den didaktischen Veröffentlichungen der Zeit zu spüren, dass sich viele Altphilologen nur sehr schwer von der Übersetzung ins Lateinische trennen konnten.283 Die meisten trieb die Sorge um, ob die neue Methode die grammatischen Grundlagen gründlich genug legte,284 denn dass der altsprachliche Unterricht nicht auf eine „gute grammatische Grundlage“ verzichten könne, darin waren sich alle einig.285 Dies berührte natürlich in höchstem Maße die Frage nach dem Eigenwert des Grammatikunterrichts. Konnte er sich in der Weimarer Republik trotz vieler Anfeindungen seinen Selbstzweck noch bewah-
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Vgl. Fritsch: Lateinunterricht, S. 31–45. Vgl. Breywisch, Walter: Die schriftlichen Arbeiten im Lateinunterricht, in: NJfAudB114 (1939), S. 381–391; Habenstein, Ernst: Lateinische Wortkunde im Schulunterricht, in: NJfAudB115 (1940), S. 57–64; Wolff, Friedrich: Die neue Latein-Methode in der CaesarLektüre, in: NJfAudB115 (1941), S. 101–105; Klenk: Die lateinisch-deutsche Lehrweise, 1936: Klenk war Lehrer am Mainzer Adam-Karrillon-Gymnasium, an dem seit 1934 eine der beiden Sexten nach der deutsch-lateinischen Lehrweise unterrichtet wurde. Hier gibt er einen Erfahrungsbericht. Vgl. Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginnes in Sexta, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 365–369, hier S. 368: „[I]ch habe dieses radikale lateinischdeutsche Verfahren für den Lateinunterricht der Unterstufe abgelehnt“; Sachse: Vorschläge zum altsprachlichen Lehrplan, 1933, S. 65f. Heiter, Karl: Latein als zweite Fremdsprache an der Deutschen Oberschule, in: DDHS 4 (1937), S. 519–522, hier S. 521. Vgl. dazu auch Fritsch: Vom „Scriptum“ zum „Lesenkönnen“, S. 29–31. Vgl. Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginnes in Sexta, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 365–369, hier S. 369; Rabenhorst, Max: Der neue Lateinunterricht, in: AS 2 (1937), S. 20–31, hier S. 21; Holtorf: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 7, 10; Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.–20.12.1937, Bl. 91–121, hier Bl. 100, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Heiter, Karl: Latein als zweite Fremdsprache an der Deutschen Oberschule, in: DDHS 4 (1937), S. 519–522, hier S. 521; Calliebe, Otto: Neue Aufgaben des Lateinunterrichts an den höheren Schulen, in: DDHS 2 (1935), S. 409–412, hier S. 411; Kirchner, E.: Latein als Auslesefach, in: AS 7 (1942), S. 98–100, hier S. 99.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
ren, wurde er während des Nationalsozialismus fast ausschließlich Mittel zum Zweck.286 Dem Grammatikunterricht und der deutsch-lateinischen Übersetzung wurden seit jeher verschiedene Eigenschaften wie Auslesevermögen und Schulung des logischen Denkens zugeschrieben, die der altsprachliche Unterricht gerne als Argumente für seine Berechtigung verwendete. Konnten diese Argumente noch gelten, wenn fast kein expliziter Grammatikunterricht und keine deutschlateinische Übersetzung mehr betrieben wurden? Interessanterweise versuchten die Vertreter der neuen Methode immer wieder zu beweisen, dass das lateinischdeutsche Verfahren schwerer sei als die deutsch-lateinische Übersetzung und somit eine schärfere Auslese garantiere.287 Die Herübersetzung sei zudem ein „geeignetes Mittel zur Schulung der geistigen Kräfte“.288 Generell kann keine Rede davon sein, dass das Übersetzen ins Lateinische verboten wurde. Selbst Friedrich Eichhorn scheute davor zurück, es komplett zu untersagen. Er warne „vor jeder starren Einseitigkeit in methodischer Hinsicht. Es gibt keine bestimmte, alleinseligmachende Methode.“289 Der Grund dafür war allerdings ein pragmatischer: Bei ihm herrschte die Sorge vor, dass „die Fachgenossen durch diesen Methodenstreit von den viel wichtigeren Weltanschauungsfragen, die ihnen die Schriftstellerlektüre aufgibt, abgelenkt werden“.290 Allerdings sollten die Zeiten des „Skriptums“ endgültig vorbei sein291 – auch wenn dies nicht von allen Lehrern geteilt wurde. So sah sich Eichhorn genötigt, auf einer Tagung zu betonen, dass zwar gelegentlich ins Lateinische übersetzt
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Vgl. Bolle, Wilhelm: Die Sprachenfolge in der Kritik der nationalpolitischen Erziehung, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 191–196, hier S. 192; Eichhorn, Friedrich: Zum lateinischen und griechischen Unterricht, in: AS 2 (1937), S. 66–68, hier S. 66; Gieselbusch: Gymnasium in dieser Zeit, 1933, S. 3. Trotzdem gab es auch während des Nationalsozialismus zahlreiche didaktische Veröffentlichungen, die sich mit der Vermittlung von Grammatik beschäftigten, z. B. Röttger, Gerhard: Die Stellung der konsonantischen Konjugation im lateinischen Anfangsunterricht, in: NJfAudB114 (1939), S. 114–127; Muth, G.F.: Stamm und Endung im lateinischen Anfangsunterricht, in: AS 7 (1942), S. 130–131. Vgl. Klenk: Die lateinisch-deutsche Lehrweise, 1936, S. 13. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, 1937, S. 21. Eichhorn, Friedrich: Zum lateinischen und griechischen Unterricht, in: AS 2 (1937), S. 66–68, hier S. 66. Ebenda. Vgl. Holtorf: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 7, 10; ähnlich auch Ludwig: Bericht über die beiden Lehrproben aus dem griechisch-lateinischen Sprachunterricht, 1937, S. 86: „Wenn auch Ostern 1936 die letzte deutsche Schulbehörde vom lateinisch-deutschen Skriptum Abschied genommen hat, so ist doch die logisch-formale Bildungsidee noch nicht verschwunden. Man stellt immer noch Betrachtungen über die Bedeutung der lateinischen Komposition als Selbstzweck an. Über diese Frage sollte man endlich die Akten schließen.“ Haug, Otto: Der altsprachliche Unterricht. Ein Stück nationalsozialistische Erziehung, in: AS 3 (1938), S. 1–10.
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werden könne,292 die „Hinübersetzung“ aber „tunlichst einzuschränken“ sei.293 Es sollen „stellenweise noch die merkwürdigsten Vorstellungen herrschen, [. . .] daß die Schüler einen deutschen Text [. . .] auch stilistisch einwandfrei ins Lateinische übersetzen“.294 Die Richtlinien des Lateinunterrichts während des Nationalsozialismus fasste folgende Maßgabe zusammen, die auf einer Arbeitstagung des Reichssachgebiets Alte Sprachen 1938 ausgegeben wurde: „[E]rstes Ziel des Unterrichts sei Verständnis des Textes, grammatisch-logische Schulung komme erst an zweiter Stelle; die Hinübersetzung dürfe nie Selbstzweck werden.“295 Für diese Akzentverlagerung gab es zwei Gründe: Zum einen waren es rein praktische Überlegungen, da weniger Stunden zur Verfügung standen und dies der beste Weg schien, ein einigermaßen passable Ergebnisse zu erzielen. Zum anderen schien es für eine nationalsozialistische Ideologisierung des altsprachlichen Unterrichts wie gemacht, wenn der Inhalt im Mittelpunkt des Unterrichts stünde. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. 3.2 Mittelpunkt des Unterrichts: Die Lektüre
Wie schon mehrfach betont, stand im Nationalsozialismus der Lektüreunterricht erstmals unangefochten im Fokus des altsprachlichen Unterrichts. Auch wenn die Betonung der inhaltlichen Arbeit gegenüber dem Sprachunterricht bereits in der Weimarer Republik im Zuge des Erstarkens der Kulturkunde zugenommen hatte, war eine Dominanz des Lektüreunterrichts ausgeblieben. Die nationalpolitische Erziehung verlieh nun dem altsprachlichen Unterricht „gegenüber früheren, stark formalen Aufgaben ein Schwergewicht an inhaltlichweltanschaulicher Bestimmtheit“. Dabei trat die Lektüre „als praktisch bedeutsamstes Unterrichtsziel hervor“.296 Die Lektüre wiederum sollte ausgerichtet 292
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Vgl. Eichhorn, Friedrich: Zum lateinischen und griechischen Unterricht, in: AS 2 (1937), S. 66–68, hier S. 67. Vgl. auch Holtorf: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 8: „Warum läßt man dem Sextaner nicht seinen Spaß, eine deutsche Geschichte ins Lateinische zu übersetzen?“ Ähnlich auch Krüger, Max: Über die Berechtigung des Lateinbeginnes in Sexta, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 365–369, hier S. 368f.; Gerhards, Josef: Der Lateinunterricht auf der Oberschule, in: AS 3 (1938), S. 10–15, hier S. 12; Borst, Joseph: Bessere Erfolge im altsprachlichen Unterricht, in: AS 6 (1941), S. 55–57, hier S. 56; Stach: Hinübersetzen im Lateinunterricht der Unterstufe, 1936, S. 23, 26. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, 1937, S. 21. Ebenda, S. 3. Arbeitstagung des Sachgebiets Alte Sprachen im NSLB, in: AS 3 (1938), S. 31–32, hier S. 31. Illig, Leonard: Gymnasium und altsprachlicher Unterricht im nationalsozialistischen Erziehungsplan, in: DDHS 5 (1938), S. 396–404, hier S. 403; vgl. auch Stöcklin, Johann:
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werden „auf die Erziehung zum deutschen politischen Menschen“.297 Bei der Auswahl der lateinischen Autoren war es besonders wichtig, dass durch sie Tugenden wie „Heroismus, Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft in unserer Jugend lebendig“ gemacht werden konnten.298 Zudem sollte immer ein Bezug zur Politik hergestellt werden.299 Dies war vor allem durch die „Historiker“300 unter den römischen Schriftstellern zu erreichen. Caesar, Livius, Sallust und Sueton erlangten die absolute Dominanz im Lehrplan von 1938.301 Die Dichter waren mit Ausnahme Vergils und Horaz’ nicht mehr vertreten, allerdings wurden diese beiden auch eher stiefmütterlich behandelt.302 Besonders wichtig waren römische Zeugnisse über die Germanen, so dass Caesar und Tacitus ganz in den Mittelpunkt der Beschäftigung rückten.303 Caesar galt darüber hinaus als Paradebeispiel der nordischen Führerpersönlichkeit.304 Vor allem die Germania des Tacitus wurde nun ein Hauptwerk im Lateinunterricht.305 Im Gegensatz zu
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Kernfragen des altsprachlichen Unterrichts, in: Monatsschrift für höhere Schulen 33 (1934), S. 175–183, hier S. 176, 180; Eichhorn: Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, 1937, S. 22; Eichhorn, Friedrich: Zum lateinischen und griechischen Unterricht, in: AS 2 (1937), S. 66–68, hier S. 66f.: „Der Stoff des lateinischen und griechischen Sprachunterrichts ist nunmehr endlich auf das für die Lektüre unbedingt erforderliche Maß zu beschränken.“ Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.–20.12.1937, Bl. 91–121, hier Bl. 94, BA BerlinLichterfelde, R 4091/12467. Ebenda. Ebenda. Holtorf: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, S. 9. Vgl. Fritsch: Lateinunterricht, S. 47f.; Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule, S. 238–250. Vgl. den Vortrag: Nationalpolitische Ausbeute aus Sallusts Catilina, Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier S. 208–210, BA BerlinLichterfelde, R 4091/12467; Steeger, Theodor: Zur Auswertung der römischen Geschichte des Livius im Sinne einer Nationalpolitischen Erziehung, in: AS 2 (1937), S. 87–97. Zur Rolle Ciceros, vgl. Töchterle: Ciceros Staatsschrift, S. 50–64. Vgl. Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.–20.12.1937, Bl. 91–121, hier Bl. 95, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467: Ovid und Catull finden keine Beachtung mehr. So stellt beispielsweise die Assessorenarbeit von Helmut Plewka zum Thema „Ovid-Lektüre in der UII eines Realgymnasiums“ von 1936 eine Ausnahme dar. Plewka schreibt aber auch selbst, dass er „eine Betrachtung des Dichters unter politischen Gesichtspunkten“ ausschloss, „die bei Ovid ja kaum zu einem nennenswerten Ergebnis führen würde“ vgl. DIPF/BBF/Archiv: GUT ASS 986. Kurseß, Hans: Nationalpolitische Bildungswerte im altsprachlichen Unterricht, in: DDHS 2 (1935), S. 8–14, hier S. 10; Heiter, Karl: Latein als zweite Fremdsprache an der Deutschen Oberschule, in: DDHS 4 (1937), S. 519–522, hier S. 521. Vgl. Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 56; Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.–20.12.1937, BA Berlin-Lichterfelde, Bl. 91–121, hier Bl. 95, R 4091/12467; Ebeling, Rudolf: Unbeachtetes Heldentum. Ein Beitrag zur Lesung von Cäsars „Gallischem Kriege“, in: AS 2 (1937), S. 79–86. Vgl. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier S. 189,192, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467; Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.–20.12.1937, Bl. 91–121, hier Bl. 99–100, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467: Vortrag: Die Germa-
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der „Vielfalt und Wahlfreiheit“, die die Lehrpläne von 1925 geboten hatten, war die Vorgabe von 1938 „ein scharf abgezirkelter Kanon von Autoren und Textstellen“, die sich auf irgendeine Weise nationalsozialistisch ausschlachten ließen.306 So gab es beispielsweise Vorträge auf den Schulungslagern für Latein, die Titel trugen wie „Die 1. Pekade des Livius in Völkischer Sicht“307 oder „Vorschlag für einen lateinischen Lektüreplan der Oberschule unter dem Geschichtspunkt der Rassenkunde und Erbpflege“.308 Die Anknüpfungspunkte der nationalsozialistischen Ideologie zur Antike waren mannigfach.309 Kaum Beachtung fand hingegen wie schon in der Weimarer Republik die mittellateinische Literatur. Obwohl man annehmen könnte, dass im Nationalsozialismus mit seiner Verklärung des deutschen Mittelalters auch dem Mittellatein größerer Raum im Lehrplan eingeräumt worden wäre, hatte es auch hier keine Chance, in den regulären Lehrplan aufgenommen zu werden.310 Ein Punkt ist bei den inhaltlichen Diskussionen besonders interessant. In den neuen Lehrplänen stand ausdrücklich, dass bei der Auswahl der Inhalte „[b]illige Parallelisierungen“ zu vermeiden seien.311 Ein Zitat von einer Arbeits-
306 307 308 309
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nia des Tacitus deutsch gesehen; Schulungslager für Latein in Kettwig, 24.11.–1.12.1937, Bl. 222–243, hier Bl. 232–233, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467; Gerhard, Röttger: Die Taciteische Germania im heutigen Lateinunterricht, in: NJfAudB114 (1939), S. 267–289; Dirlmeier, Franz: Die Germania des Tacitus. Versuch einer Deutung, in: AS 2 (1937), S. 37– 48; Oppermann, Hans: Arminus bei Tacitus, in: AS 2 (1937), S. 69–75; Hagen: Wege zum Humanismus im Dritten Reich, 1933, S. 18; Mattes, Elisabeth: Die Lektüre von Tacitus Germania in der Oberstufe des humanistischen Gymnasiums (1935), DIPF/BBF/Archiv: GUT ASS 903; Schlossarek: Die Taciteische Germania als Künderin eines urdeutschen Heroismus. Zur Verwendung der Germania im Nationalsozialismus vgl. Krebs: Ein gefährliches Buch, v. a. S. 245–281; Krovoza: Tacitus, Sp. 994. Fritsch: Lateinunterricht, S. 49. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier Bl. 212–214, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Schulungslager für Latein in Kettwig, 24.11.–1.12.1937, Bl. 222–243, hier Bl. 227–229, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Zu der Instrumentalisierung der Alten Geschichte und der antiken Autoren ist bereits viel geforscht worden, vgl. Chapoutot: Nationalsozialismus; Roche: Sparta’s German Children; Kroll: Utopie; Longerich: Himmler; Doms: Titus Livius. Historikerlektüre unterm Hakenkreuz; Kipf: Aut caesar aut nihil?, v. a. S. 31. Vgl. Eichhorn: Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, 1937, S. 16. Unermüdliche Kämpfer für das Mittellatein waren Hans Walther und Karl Langosch, vgl. Walther, Hans: Mittellatein und Schulreform, in: DDHS 3 (1936), S. 15–21; einige Eingaben von Karl Langosch im BA Berlin-Lichterfelde, Bl. 347–353, R 4901/4341. Siehe auch Fritsch: Lateinunterricht, S. 49; Irmscher: Altsprachlicher Unterricht, S. 258. Vehement dagegen beispielsweise Holtorf: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 9: „Mit mittelalterlichem Latein wird man die Gymnasien hoffentlich verschonen.“ Vgl. dazu auch Hausmann: Geisteswissenschaften, S. 517–521. Erziehung und Unterricht in der höheren Schule, S. 232.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
tagung des Reichssachgebietes Alte Sprachen verdeutlicht die Absichten, die dahinterstanden: Die Behandlung der Lesestoffe müsse zu einer Vertiefung der nationalsozialistischen Weltanschauung führen, die Deutung dürfe aber nicht bloß äußerlich angeklebt sein, sondern müsse aus den rassischen Werten der Altzeit abgeleitet werden.312
Es genüge nämlich nicht, die antiken Schriftsteller „mit national-moralischen Farben“ zu übermalen.313 Otto Kruschka befürchtete gar, dass die Altsprachler belächelt werden könnten, „wenn man nun auf einmal den Nachweis zu erbringen versucht, daß große Teile antiken Gedankengutes eigentlich nationalsozialistisch seien“.314 Vorsicht sei vor allem deswegen geboten, da man „die Antike auch anderen politischen Zielsetzungen hat dienstbar machen wollen“.315 Eichhorn und andere NS-Altphilologen hatten nämlich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ein großer Teil der Altphilologen ihren traditionellen Humanismus nur „in neuem Mäntelchen“ präsentierten316 und keine „wirklich nationalsozialistische Durchdringung des Stoffes“ vorherrsche.317 Einen „völkische[n] oder politische[n]“318 oder gar „nationalsozialistischen Humanismus“319 könne man nicht brauchen. Dass sich „Humanismus“ und Nationalsozialismus nicht vereinen ließen, war das Ergebnis eines Prozesses, der im Kapitel III.4.1 genauer betrachtet wird. Bemerkenswerterweise hatten die Nationalsozialisten die Taktik der Altphilologen, die auf Scheinanpassung beruhte, ziemlich genau durchschaut. Weil das inhaltliche Arbeiten so im Vordergrund stand, sollte der Schüler „so früh wie möglich Originale“ lesen. Dafür sollte der Lehrer den „schnellste[n] 312 313 314
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Arbeitstagung des Sachgebiets Alte Sprachen im NSLB, in: AS 3 (1938), S. 31–32, hier S. 31. Illig, Leonard: Gymnasium und altsprachlicher Unterricht im nationalsozialistischen Erziehungsplan, in: DDHS 5 (1938), S. 396–404, hier S. 400. Kruschka, Otto: Erziehung und humanistische Bildung, in: DDHS 3 (1936), S. 121–123, hier S. 123. Kruschka kritisiert dabei den Aufsatz eines Kollegen. Diese Kritik kann wiederum Holtorf nicht nachvollziehen, der den Vergleich zwischen Perikles und Adolf Hitler begrüßt, vgl. Kruschka: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 7, FN 1. Kruschka, Otto: Erziehung und humanistische Bildung, in: DDHS 3 (1936), S. 121–123, hier S. 123. Ludwig: Bericht über die beiden Lehrproben aus dem griechisch-lateinischen Sprachunterricht, 1937, S. 87. Eichhorn: Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, 1937. S. 20; ähnlich auch Schlossarek, Max: Humanismus und alte Sprachen auf nationalsozialistischer Grundlage und der MaderBreywischianismus, in: DPB 42 (1934), S. 136–139, 148–149, hier S. 138. Ludwig: Bericht über die beiden Lehrproben aus dem griechisch-lateinischen Sprachunterricht, 1937, S. 87. Eichhorn: Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, 1937, S. 20. Vgl. dazu auch die Kommentare Eichhorns zum neuen Lehrplan bei Irmscher: Altsprachlicher Unterricht, S. 260: Die weltanschauliche Ausrichtung der Lektüre „wäre aber um so notwendiger, als sehr viele Fachgenossen noch immer einem rein äußerlich gleichgeschalteten, im Wesen aber noch unveränderten Humanismus oder Historismus huldigen“.
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und einfachste[n] Weg“ wählen.320 Dies befeuerte einmal mehr die Frage, ob für eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht auch das Lesen deutscher Übersetzungen ausreichte. Zudem hatte der Lehrplan von 1938 die Verwendung von Übersetzungen ausdrücklich gefordert. Hatte eine ähnliche Formulierung in den Lehrplänen von 1925 den Widerstand vieler Altphilologen erregt, waren diesmal die meisten damit sehr einverstanden. Allerdings betonten sie dabei auch immer, dass auf das Erlernen der Sprachen nicht verzichtet werden könne.321 Auch Eichhorn betonte: „Die Kenntnis der Sprache ist für das Erleben der Rassegemeinschaft wesentlich.“322 Abschließend kann durchaus davon gesprochen werden, dass in der Didaktik des altsprachlichen Unterrichts während des Nationalsozialismus „wichtige Weichenstellungen in der Methodik“323 erfolgt sind, die während der Weimarer Republik bereits angedacht worden waren. Diese methodischen Umstellungen waren notwendig geworden, da der Lateinunterricht massive Stundenkürzungen kompensieren musste. Andreas Fritsch spricht von einer „realpolitischen Wende“, die „zu einer dauerhaften Reduktion der Lateinkenntnisse“ geführt habe,324 allerdings waren die alten Sprachen bis zur Zeit des Nationalsozialismus überproportional vertreten. Daher war die Stundenkürzung samt methodischer Veränderung vielleicht die Radikaldiät, die der altsprachliche Unterricht brauchte, um in einem Bildungssystem Geltung zu behalten, das mehr Fächern gerecht werden musste. Die „eindeutige Ausrichtung des Unterrichts auf die Lektüre, das entschiedene Abrücken von der aktiven Beherrschung des Lateinischen als Lernziel [. . .], neuartige Übersetzungsmethoden, Neugestaltung der Unterrichtswerke, stärkere Einbeziehung der Kulturkunde“325 waren methodische Neuerungen, die sich während des Nationalsozialismus durchzusetzen begannen und die auch in der Bundesrepublik Deutschland zu den bestimmenden didaktisch-methodischen Fragen gehören sollten. 320 321
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Eichhorn, Friedrich: Zum lateinischen und griechischen Unterricht, in: AS 2 (1937), S. 66–68, hier S. 66. Calliebe, Otto: Neue Aufgaben des Lateinunterrichts an den höheren Schulen, in: DDHS 2 (1935), S. 409–412, hier S. 412; Borst, Josef: Schulpraktische Bedeutung und Verwendung gedruckter guter Übersetzungen im altsprachlichen Unterricht, in: DDHS 6 (1939), S. 672– 674; Lundius, B.: Konstruierendes Übersetzen, in: AS 2 (1937), S. 31–35, hier S. 32; Haug, Otto: Der altsprachliche Unterricht. Ein Stück nationalsozialistische Erziehung, in: AS 3 (1938), S. 1–10, hier S. 3; Gieselbusch: das Gymnasium in dieser Zeit, 1933, S. 5; Salomon: Humanismuswende, 1933, S. 14; Oppermann: Der erzieherische Wert des lateinischen Unterrichts, 1933, S. 56; Sache: Vorschläge zum altsprachlichen Lehrplan, 1933, S. 61; Haug: Die griechisch-römische Altzeit, 1937, S. 32. Schulungslager für Latein in Kettwig, 25.10.–1.11.1937, Bl. 295–319, hier Bl. 307, BA Berlin Lichterfelde, R 4091/12467. Fritsch: Entwicklung der Didaktik, S. 220. Ebenda. Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 18.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
4 Altsprachliche Bildung und Ideologie 4.1 Humanismusdiskussion
Die Idee des Humanismus hatte in der nationalsozialistischen Ideologie einen schweren Stand. Gerade der NS-Chefpädagoge Ernst Krieck lehnte den Humanismus, ein „aufklärerisches, bürgerlich-demokratisches Gedankengut“, als Erziehungsgrundlage ab.326 Dies war den Altphilologen bereits bei der nationalsozialistischen Machtübernahme klar.327 Allerdings versuchten sie den Humanismus als ideelle Grundlage für den altsprachlichen Unterricht zu retten. Bezeichnend dafür ist ein Ausspruch Paul Babicks, der sich während einer Rede rechtfertigt, das Wort „Humanismus“ zu gebrauchen: [I]ch bitte, diesen Ausdruck einmal gelten zu lassen, wenn er auch für nationalsozialistische Ohren leicht den üblen Nebenklang des Individualistisch-Liberalistischen und im polaren Gegensatz dazu des International-Weltbürgerlichen hat, beides zu Unrecht“.328
Man versuchte also den „liberalistischen Individualismus“ als falsche Interpretation des Humanismus zu erklären.329 Wilhelm Brachmann erläuterte beispielsweise, dass es notwendig sei, „zwischen Humanismus und Humanismus zu unterscheiden“.330 Es gebe einen „westeuropäischen liberalistischen Humanismus“331 und einen „deutschen Humanismus“,332 die sich nicht vereinen ließen. Und so wurden verschiedene Versuche unternommen zu beweisen, dass im Mittelpunkt des Humanismus nicht das Individuum, sondern die „staatliche 326
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Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 177. Eine ähnliche Haltung hatte auch Alfred Baeumler, vgl. Baeumler: Der Kampf um den Humanismus, 1935. Zur NS-Pädagogik vgl. Ortmeyer: Mythos und Pathos; Giesecke: Pädagogen. Ortmeyer kritisiert die Studie Gieseckes heftig, vgl. Ortmeyer: Mythos und Pathos, S. 160f.; Tenorth: Pädagogisches Denken, S. 135–145. Vgl. Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 4; Stenzel: Nationale Aufgabe, 1933, S. 316. Einige Altphilologen sahen das anders, sie hatten die Aussagen Hitlers in „Mein Kampf “ über die humanistische Bildung als „eindeutiges Bekenntnis [. . .] zum humanistischen Bildungsideal“ gedeutet, vgl. Holtorf, Herbert: Humanismus und völkischer Staat, in. MDAV 7,2 (1933), S. 13. Babick, Paul: Der Humanismus und die nationale Erhebung, in: MDAV 7,2 (1933), S. 3–13, hier S. 5. Vgl. Stenzel: Nationale Aufgabe, 1933, S. 318f. Brachmann: Der „humanistische“ Gedanke, 1937, S. 496. Ebenda, S. 500; ähnlich auch Matthaei, Hans: Lateinunterricht und deutsche Sprachpflege, in: DDHS 4 (1937), S. 737–740, hier S. 737. Matthaei, Hans: Lateinunterricht und deutsche Sprachpflege, in: DDHS 4 (1937), S. 737– 740, hier S. 737. Ähnlich auch Hagen: Wege zu einem Humanismus im Dritten Reich, 1933, S. 22; Klingenstein: Humanistische Bildung als deutsche Waffe, 1933, S. 24; Schlossarek, Max: Humanismus und alte Sprachen auf nationalsozialistischer Grundlage und der Mader-Breywischianismus, in: DPB 42 (1934), S. 136–139, 148–149, hier S. 149.
4 Altsprachliche Bildung und Ideologie
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Ganzheit“ stünde.333 Auch die Leitsätze des DAV von 1933 hatten die „humanistische Erziehung“ als „deutsche Angelegenheit“ deklariert.334 Gerhard Salomon hatte dies bereits 1933 als „Humanismuswende“ propagiert.335 Ein weiterer Punkt, den der Nationalsozialismus am Humanismus nicht akzeptieren konnte, war die Vorstellung, dass die Antike das ideale Vorbild für die eigene Gegenwart darstelle. Oppermann ersetzte die Vorbildfunktion durch eine Vorstellung, dass Griechen und Römer „als geschichtliche Beispiele artverwandter Völker“ fungierten.336 Diese Vorstellung konnte sich im Nationalsozialismus losgelöst vom Humanismus durchaus durchsetzen. Auch ein Blick zu den Neuphilologen zeigt, wie sehr der Humanismus von den Nationalsozialisten angegriffen wurde. So sagte Heinrich Fischer, der Reichssachbearbeiter Neuere Sprachen, im Jahr 1935: Die Begründung der unentwegten ‚Humanisten‘, daß das Bildungsziel der ‚harmonisch ausgeglichenen Persönlichkeit‘ die Beschäftigung mit fremden Sprachen erfordere, hat keinerlei Durchschlagskraft mehr. Das humanistische Bildungsziel ist abgetan.337
Trotz aller Kritik auch am Neuhumanismus wurde Humboldt als Gewährsmann angeführt, wenn es um den Wert des Sprachunterrichts für den „nationalen Aufbau“ ging.338 Und dies obwohl der Neuhumanismus im Nationalsozialismus
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Stenzel: Nationale Aufgabe, 1933, S. 319: „Keine Philosophie hat klarer als die attische den Besitz des Geistigen dem individuellen Ich bestritten [. . .] und dem Wir übergeben.“ Vgl. Brachmann: Der „humanistische“ Gedanke, 1937, S. 500. Ähnlich auch Wundt, Max: Die Erneuerung der klassischen Bildung in der Gegenwart, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 1–4, hier S. 4: „Endlich der Gedanke der Volksgemeinschaft. Hier meinen oberflächliche Beurteiler wohl, zwischen dem nationalen und dem humanistischen Ideal bestünde ein Gegensatz.“ Bogner, Hans: Der Humanismus als Politicum, in: AS 2 (1937), S. 76–78. Die Gegenwartsbedeutung des deutschen Gymnasiums, in: MDAV 7,3/4 (1933), S. 4–6, hier S. 6. Zur Umdeutung des Humanismus auch: Holtorf: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 5; Gieselbusch: Gymnasium in dieser Zeit, 1933, S. 8. Salomon: Humanismuswende, 1933, S. 8, 12, 16. Oppermann, Hans: Warum heute noch Gymnasium?, in: AS 4 (1939), S. 161–171, hier S. 171. Ähnlich auch Brachmann: Der „humanistische“ Gedanke, 1937, S. 504: „[. . .] daß in einer fernen Zukunft einmal der große Mensch der Antike in den Schatten tritt vor dem deutschen Menschen.“ Vgl. auch Salomon: Humanismuswende, 1933, S. 13; Drexler, Hans: Die Antike und wir, in: AS 4 (1939), S. 1–18, hier S. 1, 3; Drexler: Dritter Humanismus, 1942, S. 109. Fischer, Heinrich: Aus den neusprachlichen Arbeitsgemeinschaften des N.S.L.B. Anregungen zur Einordnung des neusprachlichen Unterrichts in die nationalsozialistische Erziehung, in: Die Neueren Sprachen 43 (1935), S. 510–518, hier S. 511. Wecker, Otto: Das Übersetzen als Weg zum Deutschen, in: AS 4 (1938), S. 49–61, hier S. 60; Hagen: Wege zu einem Humanismus im Dritten Reich, 1933, S. 20f., Stenzel: Nationale Aufgabe, 1933, S. 317.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
eigentlich negativ konnotiert war. Ebenso kann man auch nicht beobachten, dass das Wort Humanismus aus den Fachjournalen verschwände.339 Ende der 1930er Jahre hatten sich schließlich die Humanismusfeinde durchgesetzt und der Begriff Humanismus wurde auch für die Altertumskunde als unbrauchbar erklärt.340 Für die Berufung auf die Antike müsse ein ganz neuer Begriff gefunden werden wie beispielsweise „indogermanische [. . .] Geistesgeschichte“.341 Vor allem Hans Drexler war sich der Beharrungskraft des Humanismus bewusst. Man habe zwar seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten „seinen äußeren Einfluß brechen“ können, „nicht aber seine tiefe Verwurzelung in unserem gesamten geistigen Leben“.342 Er resümierte: „Geben wir uns keinen Täuschungen hin: ein jeder von uns steht noch irgendwie in diesem Bann. Ich könnte typisch humanistische Äußerungen von sehr nationalsozialistischen Altphilologen anführen.“343 In der Zeit des Nationalsozialismus wurde erstmals versucht, die Verbindung zwischen humanistischer und altsprachlicher Bildung aufzulösen. Dass dies sehr schwierig war und den Nationalsozialisten nur teilweise gelang, zeigt sich beispielsweise daran, dass die Nationalsozialisten Detlev Bohne und Helmut Berve im Vorwort ihrer neuausgerichteten Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung vom „Wert humanistischer Bildung“ schrieben und damit die „Schöpfung der rasseverwandten Völker bei Griechen und Römer“ meinten.344 4.2 Dritter Humanismus und Drittes Reich
Besonders verhasst war den Humanismusfeinden um Drexler der „Erneuerte“ oder „Dritte Humanismus“, der sich in der Weimarer Republik um den Altphilologen Werner Jaeger herausgebildet hatte und zum Leitbild des altsprachlichen Unterrichts avanciert war. Dabei hatten die Vertreter des „Dritten Humanismus“ und ganz besonders Werner Jaeger zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft noch versucht, ihre Humanismusvorstellung mit der nationalsozia-
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Vgl. Meißner, Paul: Humanismus und Muttersprache (Ein Beitrag zur Sonderentwicklung des englischen Geistes), in: Die Neueren Sprachen 50 (1942), S. 65–76. Drexler: Dritter Humanismus, 1942, S. 10; Baeumler: Der Kampf um den Humanismus, 1935, S. 57f., 64f. Vorwahl, Heinrich: Politischer und gegenwärtiger Humanismus, in: AS 7 (1942), S. 112– 116, hier S. 116, der Begriff ist ein Zitat von Brachmann; ähnlich auch Bogner, Hans: Der Humanismus als Politicum, in: AS 2 (1937), S. 76–78, hier S. 76. Drexler: Dritter Humanismus, 1942, S. 10. Ebenda. Bohne, Detlev/Berve, Helmut: Mit dem Jahrgang 1938 beginnen die Neuen Jahrbücher, in: NJfAudB113 (1938), S. 1–2, hier S. 2.
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listischen Ideologie in Einklang zu bringen.345 Als programmatisch kann der Aufsatz von Werner Jaeger verstanden werden, den er unter dem Titel „Erziehung des politischen Menschen und die Antike“ in der Zeitschrift von Ernst Krieck Volk im Werden veröffentlichen durfte. Dies wirkt zunächst verwunderlich, da Krieck sich als starker Humanismuskritiker ausgezeichnet hat. Allerdings konnte Stiewe darlegen, dass sich Krieck erst später von den Ideen des „Dritten Humanismus“ distanzierte.346 Jaeger entwarf hier ebenfalls die Idee vom „Doppelsinn des Begriffes“ Humanismus und kritisiert die Lesart des Humanismus, dessen Ziel „die ästhetische und formale Selbstbildung des Individuums“ sei.347 Dieser Humanismus fand seine Verbreitung als „Durchschnittsbildung, die als antikisch-deutscher ‚Idealismus‘ jahrzehntelang vor allem auf höheren Schule“ gepflegt worden sei.348 Das Problem an diesem Humanismus liege im „gänzlich unpolitischen Charakter“ seiner Entstehungszeit, nämlich der Weimarer Klassik.349 Der „Dritte Humanismus“ jedoch stelle Staat und Politik in den Mittelpunkt. Der antike Mensch sei ein politischer Mensch und von „dieser Tatsache muß ein Humanismus, der seinen Namen von der griechischen Idee der allgemeinen Menschenbildung hat, seinen Anfang nehmen“.350 In der Tat war die Betonung des Politischen ein Kernelement des „Dritten Humanismus“ der 1920er Jahre gewesen351 und so konnte Jaeger relativ leicht seine Humanismusvorstellung dem neuen Regime andienen.352 Am Ende seiner Schrift setzte sich Jaeger für den Erhalt des Gymnasiums ein, was auch ein Indiz dafür ist, dass es den führenden Altphilologen darum ging, „ihre“ Schulart zu retten.353 Dass diese Diskussion bei den Fachkollegen durchaus wahrgenommen wurde, zeigt eine Passage aus einer Assessorenarbeit354 von 1934: Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, daß das Verhältnis der Forderungen des Nationalsozialismus zum sogenannten dritten Humanismus, wie ihn Werner Jaeger in
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Die Leitsätze des DAV von 1933 können auch in diese Richtung gedeutet werden, vgl. Preuße: Humanismus und Gesellschaft, S. 174. Vgl. auch Holtorf, Herbert: Humanismus und völkischer Staatsgedanke, in: DPB 41 (1933), S. 539–541, hier S. 540. Zu Jaeger im Nationalsozialismus vgl. Rösler: Werner Jaeger. Vgl. Stiewe: Dritter Humanismus, S. 297; dazu auch Näf: Werner Jaegers Paideia, S. 128– 132. Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen, 1933, S. 1. Ebenda, S. 1f. Ebenda, S. 2. Ebenda, S. 3. Dazu ausführlich Preuße: Humanismus, S. 162–179. Preuße zeigt vor allem die antidemokratischen Tendenzen des Jaeger’schen Humanismus auf. Ähnlich auch Heinrich Weinstocks Versuche eines „politischen Humanismus“, vgl. Nickel: Angepaßte Didaktik, S. 92f.; Preuße: Humanismus, S. 176; Stiewe: Der „Dritte Humanismus“, S. 285; Fritsch: Dritter Humanismus und Drittes Reich, S. 164f. Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen, 1933, S. 6f. Heute besser bekannt als zweite Staatsexamensarbeit.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
seiner Paideia neuerdings bahnbrechend vertritt, zur Zeit noch umstritten ist, zumal die Klärung der Ziele dieser Bewegung noch nicht als abgeschlossen gilt, und somit für die Behandlung der Schullektüre ein Ausrichten nach ihm verfrüht erscheint.355
Die stärkere Ausrichtung des Lektüreunterrichts auf die Kulturkunde passte allerdings nur bedingt zu den Einstellungen Jaegers. Dieser hatte bei der Diskussion um die Richert’schen Reformen den sprachlichen Aspekt des Lektüreunterrichts gegenüber dem kulturkundlichen stärker betont und hielt auch nun daran fest.356 Trotz dieser Versuche wurde der „Dritte Humanismus“ letztendlich von den Nationalsozialisten abgelehnt. Als stärkster Kritiker tat sich Hans Drexler hervor, der den „Dritten Humanismus“ „wissenschaftlich gesehen“ als eine „okkulte Ideologie“ verunglimpfte. Nach Drexler habe der Nationalsozialismus den „Dritten Humanismus“ regelrecht bekämpft und seinen Einfluss „an den deutschen Universitäten gewaltsam gebrochen“. Allerdings sei er noch nicht „mit Stumpf und Stil [sic!] ausgetilgt“.357 Drexler beschwert sich beispielsweise, dass 1937 noch Vorträge von Jaeger beim Verlag De Gruyter veröffentlicht wurden.358 Es gibt weitere Indizien, die belegen, dass Drexler mit seiner Einschätzung richtig lag: Bei einem Schulungslager für Latein wurde beispielsweise ein Vortrag gehalten, in dem folgender Satz auftauchte: „Es muß jedem Altphilologen über allen Zweifel erhaben sein, daß dieser Kreis ein geschlossenes Ganzes ist im Sinne Diltheys und Werner Jäger [sic!] (Paideia)[. . .].“.359 Dass allerdings die Gegnerschaft gegen den „Dritten Humanismus“ die Leitlinie der führenden nationalsozialistischen Altphilologen war, zeigt auch die fundamental ablehnende Haltung eines Friedrich Eichhorn.360 Sein Amtsvertreter Herbert Holtorf nahm 355 356 357
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Schenk, Johannes: Die Behandlung von Homers Odyssee in der Obersekunda des humanistischen Gymnasiums (1934), DIPF/BBF/Archiv: GUT ASS 1302, S. 8. Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen, 1933, S. 7. Siehe oben Kapitel II.2.3.2. Drexler: Dritter Humanismus, 1942, S. 10. Noch 1939 schrieb Drexler allerdings, dass „[d]iese Bewegung [. . .] heute mit Recht tot und verschollen“ ist, Drexler, Hans: Die Antike und wir, in: AS 4 (1939), S. 1–18, hier S. 1. Drexler: Dritter Humanismus, 1942, S. 10. Von Beginn an sehr kritisch gegenüber Jaegers Humanismus war Paul Gohlke, der aber auch schon deswegen seinen Schriftführerposten beim DAV Ende der 1920er Jahre niedergelegt hatte, vgl. Gohlke, Paul: Humanismus und nationale Erziehung, in: DPB 41 (1933), S. 162. Ebenso eher kritisch war Gerhard Salomon, vgl. Skutella, Martin: Der altsprachliche Unterricht und die Aufgabe der Gegenwart, in: DPB 42 (1934), S. 51–54, hier S. 52. Vgl. zur kritischen Haltung Gohlkes gegenüber Jaeger auch Fritsch: Dritter Humanismus und Drittes Reich, S. 175, FN 100. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier Bl. 189, BA Berlin Lichterfelde, R 4091/12467. Vgl. Schnick, Otto: Zur Auswahl der lateinischen Lektüre, in: Monatsschrift für höhere Schulen 36 (1937), S. 162–172, hier S. 163; vgl. auch Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 288. Oppermann positioniert sich nicht eindeutig. Er bespricht zwar sein Buch im „Fachbericht Klassische Altertumswissenschaft“, sagt aber nur, dass dieses Thema die Gemüter bewege, da es schon in der zweiten Auflage erschienen sei, vgl. Oppermann, Hans:
4 Altsprachliche Bildung und Ideologie
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demgegenüber eine Mittlerposition ein, indem er auf der einen Seite den „Dritten Humanismus“ verteidigte, immerhin wolle dieser den deutschen Menschen zu einem verantwortungsbewussten Mitglied der Volksgemeinschaft erziehen. Jedoch sei man heute schon einen Schritt weiter.361 Neben ausgewiesenen Nationalsozialisten wie Drexler kritisierte auch der Hamburger Professor Bruno Snell, der von der Forschung von jedweder Verstrickung in den Nationalsozialismus freigesprochen wurde, Jaegers Vorstellung vom „Dritten Humanismus“, zumindest wie er ihn in seinem Werk Paideia vertrat. Gegen Jaegers Vorstellung, „daß das Vorbildliche der Griechen [. . .] im Politischen und Ethischen liege“ erhob er „die schwersten Bedenken“.362 Wie nationalsozialistisch der „Dritte Humanismus“ war, ist eine in der Forschung viel beachtete Frage. Schon allein die semantische Ähnlichkeit zwischen „Drittem Reich“ und „Drittem Humanismus“ ließ vielen den letzteren Begriff verdächtig erscheinen. Hinzu kommt, dass der Schriftsteller Wolfgang Frommel alias Lothar Helbig, der dem George-Kreis nahestand, 1932 ein Buch mit dem Titel „Der Dritte Humanismus“ veröffentlichte. Der Dichter Stefan George, der, auch wenn er sich selbst gegen die Vereinnahmung seines Werkes durch die Nationalsozialisten wehrte, durch seine Gedichte Phantasien an ein neues Reich mit geistigem Führertum beflügelt hatte, steht ebenso unter Verdacht, ein Wegbereiter des Nationalsozialismus zu sein. Auch wenn HelbigsVorstellungen vom „Dritten Humanismus“ eine andere Ausprägung haben als die Jaegers, greifen doch die Humanismusvorstellungen Jaegers und die als „Neohumanismus“ bezeichneten Vorstellungen der Georgeaner auf dieselben Wurzeln zurück, nämlich auf Nietzsches Kulturkritik. Daher wäre es nicht richtig, die beiden Bewegungen völlig isoliert voneinander zu betrachten.363 Auch wenn letztendlich, wie oben gezeigt, „Dritter Humanismus“ und Nationalsozialismus nicht miteinander in Einklang zu bringen waren – nicht zuletzt weil der nationalsozialistische Rassis-
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Fachbericht Klassische Altertumswissenschaft, in: Antike. Alte Sprachen und deutsche Bildung 1 (1943), S. 37–40. Holtorf: Ziel und Praxis des altsprachlichen Unterrichts, 1936, S. 4f.; Holtorf war 1933 noch vom Dritten Humanismus überzeugt, Holtorf, Herbert: Humanismus und völkischer Staatsgedanke, in: DPB 41 (1933), S. 539–541, hier S. 540; Holthorf, Herbert.: Das Gymnasium von heute im Lichte der Jugendpsychologie, in: HG 44 (1933), S. 148–152, hier S. 150. Snell: Besprechung, S. 51. Seine Kritik breitet er auf den Seiten 50–54 aus. Dazu detailliert Schmidt: Werner Jaegers „Dritter Humanismus“, S. 209–211; Näf: Werner Jaegers Paideia; Mehring: Humanismus. Zu Snell vgl. Ernst: Snell; Lohse: Klassische Philologie; Rebenich: Altertumswissenschaften, S. 263. Vgl. Stiewe: Dritter Humanismus, S. 11–13; Fritsch: Dritter Humanismus und Drittes Reich, S. 156f.; Kuhlmann: Humanismus, S. 414–416; Groppe: Neohumanismus. Zum Verhältnis Georges und seines Kreises zum Nationalsozialismus, vgl. Groppe: Macht der Bildung, S. 651–676.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
mus mit einer humanistischen Weltanschauung nicht zu vereinbaren war –,364 ließen Jaeger und George und „ihr permanentes Oszillieren zwischen geistigem Reich und empirischem Staat die Grenzen der geistigen Utopie zur nationalen Realität bedrohlich verschwimmen“.365 So gab es zwischen beiden „frappierende Gemeinsamkeiten bzw. gegenseitige Anknüpfungsmöglichkeiten“, die Jaeger anfangs auch versuchte zu nutzen.366 4.3 Nonkonformes Verhalten der Altphilologen
Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die altphilologische Lehrerschaft eine Lehrergruppe war, die auf die Veränderungen im Schulsystem und in Anschauungsfragen eher abwartend oder gar widerwillig reagierte. Dies zu belegen ist selbstverständlich recht schwer, allerdings konnten im Archiv einige Akten gefunden werden, die die These stützen. Als Begriff für dieses Verhalten scheinen Resistenz oder Nonkonformität am geeignetsten.367 Ein besonders lebhaftes Beispiel ist ein Bericht des Amtes der Erzieher aus dem Gau Franken vom 30. August 1935. Der Berichterstatter beschwerte sich über den Lateinlehrer Ludwig Geisenfelder. Dieser war Studienrat am Gymnasium in Eichstätt und unterrichtete auch stundenweise an der neuen Deutschen Aufbauschule. Der Berichterstatter habe gehört, dass Geisenfelder demnächst komplett an die Deutsche Aufbauschule wechseln sollte. Dagegen habe er schwerste Bedenken. Es gebe nämlich eine Reihe von Beschwerden über Geisenfelder, der sich im Unterricht lieber „lang und breit [. . .] über Angelegenheiten unterhalte, die mit Latein nicht das geringste zu tun hätten“. Der Stand der Klassen sei mäßig und die Zeugnisnoten schlecht. Man könne doch nicht „ausgerechnet an jene Schule, die der nationalsozialistische Staat geschaffen“ habe, eine Lehr364 365 366
367
Stiewe: Dritter Humanismus, S. 297. Stiewe: Dritter Humanismus, S. 285. Ebenda, S. 289. Vgl. auch ebenda S. 295–297. Stiewe führt beispielsweise an, dass Jaeger erst ab 1933 selbst den Begriff „Dritter Humanismus“ verwendete, um eine gewisse Nähe zum „Dritten Reich“ zu suggerieren, vgl. ebenda, S. 306. Zum Thema vgl. auch Ulf: Ideologie, S. 327–334; Schmidt: Werner Jaegers „Dritter Humanismus“. Das Verhalten der Lehrer im Nationalsozialismus ist häufig Gegenstand der Forschung gewesen und wie sooft zeichnet sich auch hier ein sehr differenziertes Bild. Lehrer im Widerstand gab es auch, aber sie waren in der Minderheit. Da sich aber das Verhalten der Altphilologenschaft auch nicht als systemkonform beschreiben lässt, allerdings über die Gründe des Verhaltens keine Aussage getroffen werden kann, wurde der Begriff „Nonkonformität“ gewählt, um das Verhalten zu beschreiben. Zur Begrifflichkeit vgl. Peukert: Volksgenossen, S. 96–98. Zur Resistenz vgl. Kershaw: NS-Staat, S. 301f. Zur begrifflichen Diskussion vgl. Merlio: Widerstand. Zum Verhalten der Lehrer vgl. Dick: Lehrerverhalten; Lehberger: Englischunterricht, S. 20–22; Schnorbach: Lehrer, u. a. S. 20–26; Weigand: Schule und Widerstand, v. a. S. 401f.
4 Altsprachliche Bildung und Ideologie
207
kraft berufen, die so schlecht beurteilt werde. Für die Deutsche Aufbauschule „dürften die besten Lehrer gerade gut genug sein“. Seine Beschwerde schließt er mit der Bemerkung, dass er das Gefühl habe, dass der Leiter des Gymnasiums absichtlich „minderwertige Lehrkräfte“ für die Deutsche Aufbauschule vorschlage, „um diese Schule vielleicht in Mißkredit zu bringen“.368 Natürlich kann diese Vermutung nicht überprüft werden, aber diese Beschwerde macht zumindest deutlich, wie die NS-Funktionäre die Gymnasialvertreter wahrnahmen: Sie waren ihnen nicht ganz geheuer. Ähnlich äußerte sich Ministerialrat Benze in der Besprechung über die Gestaltung der höheren Schule im November 1935 über die Befürworter des Lateinunterrichts. Er sei gegen Latein als zweite Fremdsprache an der Deutschen Oberschule, da sich gerade die „Gruppe von Männern“ am meisten darüber freuen würde, „die unserem Staat unfreundlich gegenüberstehen“. Man könne den Unterricht „noch so völkisch gestalten, er ist und bleibt die Sprache des Mittelmeeres und der Gruppe, die sich heute noch so schwer mit dem Nationalsozialismus abfinden kann“.369 Auch die verschiedenen „Schulungslager für Latein“ erwecken einen ähnlichen Eindruck. Die Einführungsrede von Lagerleiter Schmidt bei einem Kurs in Kettwig vom 3. bis 10. Oktober 1937 ist sehr bezeichnend und soll daher im Folgenden etwas ausführlicher besprochen werden. Der Zweck des Schulungslagers bestehe darin, „den Lateinunterricht in das nationalsozialistische Erziehungsprogramm einzugliedern“. Gerade die nach der Reform verkürzte Stundenzahl stelle den Lateinunterricht vor besondere Herausforderungen. Schmidt ging explizit darauf ein, dass die Stundenkürzung von den Lateinlehrern kritisch aufgenommen worden war. Diese Kritik komme nur zustande, weil sie die Neuerungen „vom Standpunkt des alten Gymnasiums aus“ betrachteten. Ihnen müsse bewusstwerden, „daß künftig alle Schulen pflichtmäßig Latein treiben“, was bedeute, „daß man gerade in der Gestaltung des Lateinunterrichts den Angelpunkt der neuen Schulform [der Deutschen Oberschule, A. K.] gesehen habe“. Zudem spreche Hitler selbst mit „höchst anerkennenden Worten“ über die Antike. Daher sei „die vielfach in Kreisen der Altsprachler anzutreffende Resignation“ unberechtigt. Hier erkennt man, dass die Schulreform bei den Altsprachlern kritisch aufgenommen wurde, so dass sich der NSLB richtig um sie bemühen musste. Interessanterweise erklärte Schmidt im weiteren Verlauf seiner Ansprache, dass es durchaus stimme, dass die Altsprachler „Angriffe und Zurückhaltung“ von Seiten des Nationalsozialismus erlebten. Dies könne aber dadurch erklärt werden, „daß eine revolutionär-kämpferische Bewegung mancherlei Vorbehalte machen mußte gegenüber einer Schulart, die in ihren Augen doch mehr rückwärtsgewandt war“. Das Gymnasium habe häufig „zu einem literarisch-ästhetischen Humanis368 369
NSDAP Amt für Erzieher an die Gesamtleitung des NSLB, Gau Franken, 30.8.1935, BayHStA, MK 42274. Besprechung über die Gestaltung des höheren Schulwesens, 1935, S. 29.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
mus erzogen“, der als „weltfremd“ wahrgenommen worden sei. Dabei biete doch gerade der altsprachliche Unterricht „die staatlich-völkischen Bildungsmittel“, die die „Erziehung zum deutschen, nordischen Menschen“ möglich machten. Diese gelte es nun voll auszuschöpfen. Latein sei zudem „ein einzigartiges Mittel der Willensbildung und der geistigen Auslese“ und die römische Literatur gebe beste Beispiele „für die Gestaltung des heldischen Menschen und die Ein- und Unterordnung in die Staatengemeinschaft“. Wenn man dies alles herausstelle, gebe es auch sicherlich mehr Verständnis dafür, „daß wir die Sprache als solche dabei nicht entbehren“ könnten.370 Es wird deutlich, dass sowohl den Lateinlehrern der nationalsozialistische Staat etwas suspekt war, dass aber auch der nationalsozialistische Staat und seine Ideologie Probleme mit den alten Sprachen und seinen Vertretern hatten.371 Vor allem der „weltfremde“ Humanismus war ihnen dabei ein Dorn im Auge. Hier konnten die Nationalsozialisten an nationalkonservative Stereotype der 1920er Jahre anknüpfen. Über die „Weltfremdheit“ des Gymnasiums hatte sich bereits Paul von Hindenburg 1920 beschwert und stattdessen seine Ausbildung im preußischen Kadettenkorps gepriesen.372 Statt humanistischem Idealismus, Liberalismus und Individualismus forderten sie die „Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft“ – auch dies war ein Denkmuster der „konservativen Revolution“.373 Latein als Auslesefach, als Mittel zur geistigen Zucht sowie die heldischen und machtstaatlichen Inhalte der antiken Texte passten aber sehr wohl zur nationalsozialistischen Ideologie. Davon mussten sich Altsprachler und Nationalsozialisten aber erst gegenseitig überzeugen. Die Schulungslager bieten noch andere Beispiele, aus denen sich herauslesen lässt, dass die altsprachlichen Lehrer noch an alten Ansichten hingen. So brach beispielsweise der Vortragende Marx eine Lanze für die Wissenschaftlichkeit des altsprachlichen Unterrichts.374 Wenn man bedenkt, dass der Nationalsozialismus den Lehrer eigentlich als Erzieher statt als Wissenschaftler sehen wollte, dann ist eine solche Äußerung während einer staatlichen Veranstaltung schon beachtlich. Ähnlich verhält es sich mit dem Vortrag von Hempel, der „die allzu enge Auswahl“ der Lektüre „unter völkisch-rassischen Gesichtspunkten“ bemängelt. Dies berge die Gefahr in sich, „dass der Altphilologe zu einem alt370 371
372 373 374
Vgl. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier Bl. 187, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Dies vermutet auch Kuhlmann, der zur nationalsozialistische Schulungslagerpolitik resümiert, „dass also noch 1937 ca. 40 % der Altphilologen vom NS-Staat als politisch unzuverlässig bis gefährlich eingestuft wurden“, Kuhlmann: Humanismus, S. 427. Hindenburg: Aus meinem Leben, S. 11. Rohlfes: Einstellungen, S. 210. Vgl. auch Langewiesche/Tenorth: Bildung, Formierung, Destruktion, S. 20. Schulungslager für Latein in Kettwig, 24.11.–1.12.1937, Bl. 222–243, hier Bl. 225, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467.
4 Altsprachliche Bildung und Ideologie
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sprachlich geschulten Historiker und Kulturkundler“ werde. Der altsprachliche Unterricht dürfe nicht vergessen, die „Verstandeskräfte“ zu bilden, dass der Schüler lerne, „klar, treffsicher und folgerichtig zu denken, zu sprechen und zu schreiben“.375 Diese Aussage könnte darauf hinweisen, dass die Altphilologen sich der ideologischen Lektüre durch unideologischen Grammatikunterricht zu entziehen versuchten.376 Ein weiteres Beispiel dafür ist eine Beschwerde Friedrich Eichhorns, der sich über „hie und da wieder auftretende Versuche“ empört, die Altphilologen „in heuchlerischer Scheinheiligkeit“ unternähmen, um „das ‚bewährte Alte‘ zu ‚retten‘“. Da werde beispielsweise „gegen die von einem Gausachbearbeiter befürwortete Beschränkung der Horazlektüre“ opponiert, dass die politischen Gedichte doch nicht der „ganze Horaz“ seien. Dieselbe Gruppe würde „zur Abrundung des Bildes der Antike“ auch die Lektüre des Catull fordern. Darüber fällte Eichhorn ein vernichtendes wie bezeichnendes Urteil: Wer noch nicht eingesehen hat, daß es heute nicht um den ‚ganzen Horaz‘, auch nicht um die ‚Abrundung des Bildes der Antike‘, sondern um Deutschland geht, der beweist nur, daß er noch nicht in die Idee des Nationalsozialismus eingedrungen ist.377
Die Schulungslager für Latein schienen aber ihren Zweck, nämlich die Lateinlehrer für die nationalsozialistische Sache zu gewinnen, zumindest in dem Maße erreicht zu haben, dass die Lateinlehrer die Schulungswoche genossen. Dies legen zumindest launige Gedichte nah, die am Ende der Schulungswochen verfasst wurden und Titel trugen wie „Abschiedsgedan-
375 376
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Ebenda, Bl. 237–238. In diese Richtung interpretiert Kuhlmann die im gewissen Sinne resistente Haltung der Altphilologen: „Zudem sperrten sich die antiken Texte und Inhalte angesichts des wissenschaftsorientierten Zugriffs im Unterricht gegen eine rassistisch-ideologische Umdeutung.“ Kuhlmann: Humanismus, S. 431. Er schreibt weiter, dass dies paradox sei, da ja auch Jaeger mit seinem Humanismus eher wissenschaftsfern war. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, 1937, S. 4. Einer dieser „Scheinheiligen“ dürfte Albert Rehm gewesen sein, der in seinem Beitrag zur altsprachlichen Tagung des NSLB Gau München-Oberfranken am 13.7.1937, „Platon im Gymnasium“, zwar den Anschein erweckte, „zur Einrichtung des nationalsozialistischen Unterrichts beitragen zu wollen“, die Rede aber eigentlich „eine scharfe Absage an die bisher vom NSLB gesetzten Inhalte“ darstellte. U. a. nahm er auch stark auf Horaz Bezug, vgl. Rehm, Albert: Platon im Gymnasium, in: DG 49 (1938), S. 53–63. Diesen Sachverhalt hat bestens aufgeschlüsselt Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 289–291. Bei Rehm auch noch Bezug auf Werner Jaeger, was ihn als Anhänger des Dritten Humanismus outete. Da er zur Tagung offiziell eingeladen war, zeigt dies die Beharrungskraft auch des Dritten Humanismus. Dass Rehm ein Vertreter des Dritten Humanismus war, zeigt auch seine Äußerung, „daß die Römer die ersten Humanisten gewesen sind“, welches eine Formulierung eben dieses gewesen ist (siehe oben Kapitel II.3.3.1), vgl. Rehm, Albert: Der Gegenwartswert der Antike, in: GA 1 (1936), S. 2–4, hier S. 3.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
ken eines klassisch gebildeten Teddybären“378 oder „Der Nikolaus an das 8. Latein-Lager“.379 Das nonkonforme Verhalten der Altphilologenschaft könnte verschiedene Ursachen gehabt haben. Zum einen muss die Gruppe der Altphilologen generell eher in dem Sinn als konservativ beschrieben werden, als sie radikalen Neuerungen generell eher zurückhaltend und skeptisch gegenüberstand. Dies hatte sich auch bereits in der Weimarer Republik gezeigt. Darüber hinaus war der Humanismus für die Altphilologen eine der wichtigsten Wurzeln ihres Selbstverständnisses. Die Ablehnung des Humanismus durch die Nationalsozialisten muss den neuen Staat für viele noch suspekter gemacht haben. Hans-Jürgen Apel und Stefan Bittner attestieren beispielsweise Eichhorn ein eher „zögerliches Handeln“, das sie durch den „noch immer starke[n] Einfluß des Altphilologenverbandes sowie die nachhaltige Auswirkung der humanistischen Bildung der Jahrhundertwende auf die altsprachliche Lehrerschaft“ erklären.380 Hinzu kommt, dass die Gymnasiallehrer generell eine nicht leicht zu politisierende Gruppe waren. Gerd Kluchert hat das Selbstverständnis der Gymnasiallehrer untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass sich diese stets eher als Fachwissenschaftler denn als Pädagogen begriffen.381 Daher zogen sie sich in der Zeit des Nationalsozialismus eher auf die fachliche Ebene zurück. Dies wurde auch bei einigen Altphilologen deutlich, wenn sie sich beispielsweise auf ihre Rolle als Sprachwissenschaftler besannen und keine „altphilologisch geschulten Historiker und Kulturkundler“ sein wollten. Die Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes war allerdings vermutlich eher habituell bedingt, als dass sie die nationalsozialistische Ideologie komplett abgelehnt hätten. Daher wäre es übertrieben, die Altphilologenschaft als widerständig zu beschreiben, zumal die Angst vor Arbeitslosigkeit und dem Verlust der sozialen Stellung, die drohen konnte, wenn man sich zu sehr gegen die Veränderungen wehrte oder wenn das eigene Fach tatsächlich gestrichen worden wäre, nicht unterschätzt werden darf.382
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Schulungslager für Latein in Kettwig, 13.–20.12.1937, Bl. 91–121, hier Bl. 118–121, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Der Begriff „Teddybär“ war ein zeitgenössischer „Spottbegriff “ für die Schulungsteilnehmer, der auf die unvorteilhaften Uniformen zurückzuführen ist, vgl. Kraas: Lehrerlager, S. 214. Schulungslager für Latein in Kettwig, 3.–10.12.1937, Bl. 187–219, hier Bl. 215–219, BA Berlin-Lichterfelde, R 4091/12467. Insgesamt erfreuten sich die Lager wohl einer gewissen Akzeptanz, auch wenn es durchaus auch Kritik gab, vgl. Kraas: Lehrerbildung, S. 211–215. Apel/Bittner: Humanistische Schulbildung, S. 289. Vgl. Kluchert: Gymnasiallehrer, S. 46. Beispielsweise hatte sich der Philologenverband zwar lange geweigert, in den NSLB eingegliedert zu werden. Als aber ihr langjähriger Vorsitzender Felix Behrend wegen seiner jüdischen Herkunft sein Amt verlor, wehrte man sich nicht dagegen. Vgl. Fluck: Gymnasium, S. 108–11; siehe auch Kapitel III.1.3, FN 969.
5 Zwischenfazit
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5 Zwischenfazit Das durchaus ambivalente Verhältnis zwischen altsprachlichem Unterricht, Gymnasium und der nationalsozialistischen Ideologie versinnbildlichen die autobiographischen Schilderungen des Schriftstellers Horst Krüger. Krüger besuchte während des Nationalsozialismus das Grunewald-Gymnasium in Berlin, ein klassisch-humanistisches Gymnasium, auf dem das Grunewalder Großbürgertum seine Kinder erziehen ließ. In seinen Erinnerungen stellt er die Veränderungen im Schulalltag dar, die die nationalsozialistische Herrschaft brachte. Bis zum Sommer 1933 wurde das Grunewald-Gymnasium von Oberstudiendirektor Vilmar geleitet, einem älteren Herrn aus bildungsbürgerlicher Familie, dem Wesen nach preußisch-protestantisch: sein schmales, scharf geschnittenes Gesicht mit den dunklen Augen hinter dem blitzenden Kneifer, sein hoher Vatermörder. Im Grunde ein liberaler, ja gütiger Mann, dessen überwältigende humanistische Bildung uns Schülern aber eher Schrecken einjagte. Jeder Blick, jedes Wort war eine Zurechtweisung. Ich habe ihn immer gefürchtet, doch war in dieser Furcht auch Ehrfurcht gemischt.“
Der neue Direktor hieß Wilhelm Waldvogel und war „von höchster Parteistelle in diese Brutstätte des protestantischen Humanismus abkommandiert worden“. Waldvogel war laut Krüger „ein Nazi, wie er im Buche steht: dümmlich, aber sehr stramm“, der der „humanistischen Gefühlsduselei“ ein Ende setzen wollte, „die diese Schule lange genug der nationalen Revolution entfremdet habe“. Auch im Kleidungsstil war er das Gegenteil von Vilmar, denn er trug weder Kneifer noch Vatermörder. Krüger resümiert: „Irgendwie wirkte er in diesem feudalen Gymnasium komisch. Jedenfalls spürten wir Schüler vor ihm keine Furcht wie früher vor Dr. Vilmar. Der Mann roch nach Schweiß.“ Der Schulalltag und die Anforderungen des nationalsozialistischen Gymnasiums kamen Krüger und seinen Schulkameraden allerdings entgegen: Vieles wurde jetzt leichter. Der Lehrplan wurde einfacher. Wir brauchten nun nicht mehr zu Hause so unerbittlich lateinische Grammatik oder griechische Hexameter zu büffeln. Turnen und Sport waren jetzt wichtiger. [. . .] Statt Seneca genügte es, mit wenigen Sätzen aus der ‚Germania‘ des Tacitus zu prunken, die die hohe Tugend, vor allem des germanischen Weibes, schon damals priesen. Später wurde uns sogar ein Schuljahr geschenkt: Unter- und Oberprima wurden zu einem Jahr vereint. Wie sollte uns Pennäler so etwas bedrücken?“383
Die habituelle Fremdheit und das institutionelle Arrangement in der Praxis, die Krüger hier eindrücklich beschreibt, sind zwei Komponenten, die für das Verhältnis von altsprachlicher Bildung und Nationalsozialismus typisch waren. Hinzu trat – auch das stellt Krüger heraus – die Unvereinbarkeit von 383
Krüger: Grunewald-Gymnasium, S. 43–46.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
Humanismus und nationalsozialistischer Ideologie auf der einen Seite, die gute ideologische Anschlussfähigkeit des altsprachlichen Unterrichts, vor allem des Lateinunterrichts, jedoch auf der anderen Seite. Dafür musste der Lateinunterricht aber aus der Tradition des Humanismus herausgelöst werden. Bezeichnend dafür ist das Zitat aus einem Artikel in der Zeitschrift Die Deutsche Höhere Schule von 1940: Man soll sich also durch kein gedankenloses Gerede von der Einsicht abbringen lassen, daß ein gestraffter und disziplinierender Lateinunterricht gut nationalsozialistisch ist, wie auch das alte Gymnasium, nicht in seiner humanistischen Theorie, wohl aber in der Denkzucht seines Sprachunterrichts gut preußisch war.384
Der Lateinunterricht passte als Art Exerzierfach des Geistes gut zur nationalsozialistischen Vorstellung des soldatischen, strammen jungen deutschen Mannes. Ebenso konnte die Antike durch die Betonung des römischen Machtstaatsgedankens und der antiken Tugenden von Vaterlandsliebe bis Opferbereitschaft mit den Zielen des Nationalsozialismus in Einklang gebracht werden. Nur mit dem Humanismus als ideeller Grundlage dieser Bildung hatten die Nationalsozialisten ein Problem. Diese Haltung ist vor allem auf ministerieller Ebene, beispielsweise bei Bernhard Rust und Friedrich Eichhorn zu finden, ebenso bei den einflussreichen nationalsozialistischen Altertumswissenschaftlern Hans Drexler und Hans Oppermann.385 Oppermann und Eichhorn waren zudem, das zeigt das obige Zitat ebenfalls, trotz ihrer Verachtung des Humanismus ebenso für den Erhalt des Gymnasiums,386 es sollte nur seine humanistische Tradition ablegen: „Das Bildungsideal des neuen Deutschen Gymnasiums ist also nicht mehr das humanistische oder historische, sondern allein das rassischvölkische.“387 Hieran erkennt man, dass das Humboldt’sche Gymnasium auf zwei Traditionsstränge zurückgreifen konnte: zum einen auf einen idealistischhumanistischen, zum anderen auf einen preußisch-autoritären. Auch wenn bei vielen Gymnasiallehrern die Zurückdrängung des Humanismus dafür gesorgt haben mag, dass die nationalsozialistische Ideologie ihnen eher suspekt erschien, war dies kein Grund, in den Generalwiderstand zu treten. Die Haltung der führenden Altphilologen der Weimarer Zeit ist nicht leicht zu fassen. Hier ergibt sich, wie so oft in der Geschichte, kein schwarz-weiß Gemälde, sondern eines – um mit Thomas Nipperdey zu sprechen – in „unendlichen 384 385
386 387
Beyer, Karl: Von der Zucht der lateinischen Sprache, in: DDHS 7 (1940), S. 406–410, hier S. 408. Vgl. Kuhlmann: Humanismus, S. 421f. Helen Roche geht in ihrer Studie intensiv auf Rusts Griechenbegeisterung ein. Ebenso schildert sie, wie Rusts Mitarbeiter Joachim Haupt die Napolas in bewusster Anlehnung an preußische Kadettenschulen im Geiste des „Spartanertums“ entwickeln wollte. Vgl. Roche: Sparta’s German Children, S. 189–194. Oppermann, Hans: Warum heute noch Gymnasium?, in: AS 4 (1939), S. 161–171; Arbeitstagung des Sachgebiets Alte Sprachen im NSLB, in: AS 3 (1938), S. 31–32. Eichhorn: Das Reichssachgebiet „Alte Sprachen“, S. 7.
5 Zwischenfazit
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Schattierungen von Grau“. Manfred Fuhrmann arbeitet eine Gruppe heraus, für die – geprägt von Wilamowitz und dem Historismus – die alten Sprachen in ihrer „Dreiheit Deutschtum – Antike – Christentum“ das wichtigste Element abendländischer Bildung darstellten. Sie hätten sich dem System angedient, um ihre Fächer zu retten. Davon unterscheidet Fuhrmann die Vertreter des „Dritten Humanismus“, die aufgrund ihrer „antidemokratische[n] Einstellung“ und ihres „positive[n] Verhältnis[ses] zur Gemeinschaft“ versuchten, „mit dem NS-Regime zu paktieren“.388 Diese Kategorisierung ist sicherlich nicht falsch, allerdings muss konstatiert werden, dass diese beiden Gruppen analytisch nicht allzu stark voneinander getrennt werden können. Auch den Vertretern des „Dritten Humanismus“ ging es vornehmlich darum, das Gymnasium und die alten Sprachen zu retten.389 Zudem sind diejenigen Altertumswissenschaftler, die sich explizit dem nationalsozialistischen System verschrieben hatten, gerade keine Vertreter des „Dritten Humanismus“. Insgesamt kann auch nicht wirklich von einem Bedeutungsverlust der alten Sprachen während des Nationalsozialismus gesprochen werden. Auf der einen Seite gab es zwar drastische Stundenkürzungen, auf der anderen Seite sollten nun mehr höhere Schüler als zuvor Latein lernen. Die Nationalsozialisten hatten Latein zur Pflichtfremdsprache an der deutschen Oberschule gemacht, so dass alle höheren Schüler Latein lernen mussten. Dies war in der Weimarer Republik nicht der Fall gewesen, da die Oberrealschule ohne Latein zur Hochschulreife geführt hatte. Dies zeigt auch der vermehrte Bedarf an Lateinlehrern, der zunehmend zum Problem wurde.390 Betrachtet man die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, muss man sich auch immer die Frage stellen, inwiefern 1933 eine Zäsur darstellt. Diskursiv kann man sicherlich von einer Zäsur sprechen, da mit der Gleichschaltung der Lehrerverbände und ihrer Publikationsorgane die breite Diskussion der Weimarer Republik sofort verebbte. Alles wurde von nun an nationalsozialistisch begründet, auch wenn konstatiert werden muss, dass diese stark ideologische Begründung in den späten 1930er Jahren nachließ.391 Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sich der altsprachliche Unterricht mit der Schulreform von 1938 388 389 390 391
Fuhrmann: Bildungstradition, S. 151f. Vgl. Stiewe: Der „Dritte Humanismus“, S. 285–287; Kuhlmann: Humanismus, S. 430. Vgl. Referat 4a zum Lateinunterricht an der Deutschen Aufbauschule, 11.4.1935, BayHStA, MK 42226; Kirchner, Ernst: Latein als Auslesefach, in: GA 7 (1942), S. 98–100. Vgl. vor allem die Veröffentlichungen von Joseph Borst: Vom Vokabellernen im Lateinischen, in: DDHS 7 (1940), S. 19–21; Joseph Borst: Bessere Erfolge im altsprachlichen Unterricht, in: GA 6 (1941), S. 55–57; Joseph Borst: Altsprachliche Vertretungsstunden, in: GA 6 (1941), S. 165–167; Joseph Borst: Ratschläge für unsere kleinen Lateiner und Griechen, in: GA 7 (1942), S. 57–59. Ähnlich auch Matthaei, Hans: Der Lateinunterricht auf der Oberschule nach seinen Bedingungen und Voraussetzungen, in: DDHS 7 (1940), S. 163–170.
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III. Die Zeit des Nationalsozialismus
wieder vollends auf institutioneller Ebene etabliert hatte und um seinen Bestand nicht mehr fürchten musste. Zu grundlegenden, dauerhaften Veränderungen des deutschen Bildungswesens kam es indes nicht. Auch die Nationalsozialisten scheiterten mit der Abschaffung des gegliederten höheren Schulwesens. Die nur achtjährige höhere Schule wurde nach 1945 wieder rückgängig gemacht und auch die alten Weimarer Typen der höheren Schule wurden wieder eingeführt. Eine vorübergehende ideologische Großwetterlage konnte zwar Veränderungen durchsetzen, aber das Bildungssystem nicht nachhaltig umstrukturieren.
IV. Die Bundesrepublik Deutschland 1 „Rolle rückwärts“: Bildungspolitik in der Nachkriegszeit Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 waren die Zustände der deutschen höheren Schulen „katastrophal“.1 In den letzten Kriegsjahren hatte der Unterricht nur unregelmäßig stattgefunden, weil Schulgebäude zerstört oder die Lehrer an der Front waren.2 Als man nach Kriegsende begann das Schulwesen wieder aufzubauen, war die Diskussion um seine Gestaltung in ähnlicher Weise offen wie bereits nach 1918.3 Auch wurden ähnliche Themen diskutiert: Sollte man zurück zum gegliederten Schulwesen der Weimarer Zeit oder die von einigen Gruppen seit Jahren geforderte Einheitsschule einführen? Wie lange sollte die Grundschule dauern? Vier oder sechs Jahre? Und sollte man die achtjährige höhere Schule, die die Nationalsozialisten eingeführt hatten, beibehalten oder zurück zu neun Jahren? Im Groben verliefen die Frontlinien folgendermaßen: Für ein irgendwie geartetes Einheitsschulsystem mit sechsjähriger gemeinsamer Grundschulzeit traten die SPD, die Volksschullehrer und die Alliierten ein. Für die Beibehaltung der vierjährigen Grundschulzeit und die Wiedereinführung der neunjährigen höheren Schule setzen sich die CDU, der Philologenverband, die Kirchen und die Universitäten ein. Im Vergleich zu den Frontstellungen der Weimarer Zeit hatte sich also nichts geändert.4 Einig waren sich die Diskussionsteilnehmer nur darin, dass sich die neue Schule vom Nationalsozialismus abgrenzen musste. Anders als 1920 gab es aber nach 1945 keine große Konferenz, auf der versucht wurde sich auf Leitlinien zu verständigen. Im Gegenteil: Die verschiedenen Verwaltungsbezirke entwickelten jeweils eigene Pläne. Zudem wollten die jewei1 2 3
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Gass-Bolm: Gymnasium, S. 81. Vgl. auch Furck: Entwicklungstendenzen, S. 247. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 81. In den Akten des bayerischen Kultusministeriums finden sich beispielsweise viele Vorschläge zur Neugestaltung, die engagierte Bürger, aber auch Verbände und Politiker eingesandt hatten, vgl. Studienrat Leinhos an Ministerpräsidenten der Bayerischen Regierung, 27.12.1945, BayHStA, MK 53201; Felix Fleischer an Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 20.7.1946, BayHStA, MK 53201; Vorschlag des politischen Arbeitskreises der Jungen Union im Bezirksverband Mittelfranken zu einem Unterrichtsgesetz für das höhere Schulwesen in Bayern, Mai 47, BayHStA, MK 53202; Kurt Rugenstein: Gedanken zu einer Neugestaltung des deutschen Schulwesens, April 1947, BayHStA, MK 53202; Reformplan des Bayerischen Lehrervereins, 15.9.1947, BayHStA, MK 53202. Eine ganz ausführliche Beschreibung der schulischen Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland ist bei Fuchs: Gymnasialbildung, S. 31–128, zu finden. Vgl. auch Furck: Entwicklungstendenzen, S. 249f.
https://doi.org/9783110603408-004
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
ligen Besatzungsmächte beim Neuaufbau des deutschen Schulwesens mitreden. Letztendlich wurde in allen westdeutschen Bundesländern das traditionelle gegliederte Schulsystem wieder eingeführt. Außer in Berlin dauerte die Grundschule überall vier Jahre, die höhere Schule neun.5 Somit wurden nicht nur die Zustände von vor 1933 wiederhergestellt, in gewisser Hinsicht ähnelte das Schulsystem im Nachkriegsdeutschland der Zeit um 1900.6 Dies zeigte sich vor allem in der großen Bedeutung des Lateinunterrichts und des „humanistischen Gymnasiums“. Dies sollen zwei Beispiele verdeutlichen. 1.1 Die Auseinandersetzung mit den Reformvorstellungen der Alliierten
Am Beispiel Bayerns lässt sich zeigen, wie sich das gegliederte Schulwesen sogar gegen die Widerstände der Alliierten durchsetzen konnte. In Bayern hatte man zunächst diejenigen Schultypen wieder eingeführt, die vor der Reform 1938 existiert hatten. Im Jahr 1947 kam der Wiederaufbau des traditionellen Schulsystems aber ins Stocken, denn die amerikanische Militärregierung hatte große Vorbehalte dagegen.7 Ein wichtiger Baustein der alliierten Politik im besetzten Deutschland war – neben Entnazifizierung und Entmilitarisierung – die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Die angloamerikanische „ReeducationPolitik“ wollte die deutsche Jugend im Geist von Demokratie und Völkerverständigung erziehen.8 Das traditionelle gegliederte Schulsystem im Allgemeinen und das traditionelle Gymnasium im Besonderen waren vor allem für die Amerikaner Sinnbild der sozialen Ungleichheit und des autoritären Erziehungsstils. Im Elitecharakter der höheren Schule sahen sie eine der Grundlagen, „auf denen das Führerprinzip gedieh“, so stand es im Bericht der United States Education Mission to Germany vom Herbst 1946, die nach ihrem Leiter George F. Zook als „Zook-Kommission“ in die Geschichte einging.9 Im Januar 1947 wurde es für die bayerische Bildungspolitik ernst, da ein Telegramm der amerikanischen Militärregierung keinen Zweifel daran ließ, dass die Amerikaner wünschten, dass das bayerische höhere Schulwesen die undemokratische „Standesschule“ ab-
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Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 121f. Vgl. Eich: Schulpolitik, S. 57f. Vgl. Müller: Schulpolitik, S. 138–142. Zur Entwicklung insgesamt vgl. Lehning: Weg, S. 71– 96. Vgl. Ulshöfer: Entwicklung, S. 88; Fuchs: Gymnasialbildung, S. 32; Kleßmann: Staatsgründung, S. 92. Zur amerikanischen Reeducation-Politik auch über die Bildungspolitik hinaus vgl. Gerund/Paul: Reeducation-Politik. Der gegenwärtige Stand der Erziehung in Deutschland, S. 27. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 82.
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schaffte und im Sinne einer differenzierten Einheitsschule umgestaltet würde.10 Das bayerische Kultusministerium unter Minister Alois Hundhammer hatte nun die Möglichkeit, ihrerseits einen „Erziehungsplan auf lange Sicht“ vorzulegen.11 In diesem Erziehungsplan wurde eine Angleichung an das amerikanische System abgelehnt, denn dies sei ein „völliger Bruch mit einer in jahrhundertelangem Wachstum gewordenen Schulkultur“.12 Hundhammer bestand auf die „Wahrung der berechtigten Eigenart und des Eigenwertes unserer deutschen Kultur“.13 Die Einführung eines Einheitsschulsystems hätte nämlich die Abschaffung des „humanistischen Gymnasiums“ bedeutet und das konnte Hundhammer nicht akzeptieren. Demokratisierung bedeute „nicht Beseitigung und äussere Gleichschaltung der verschiedenen, bildungstheoretisch begründeten Schultypen“,14 zumal das humanistische Gymnasium sehr wohl seinen Beitrag dazu leiste. Denn: „Dem Humanismus verdankt die übernationale europäische Geistigkeit ihre Formung. Er ist eine völkerverbindende Macht.“15 Hundhammer versuchte zu belegen, dass die alte höhere Schule keine „Standesschule“ gewesen war und dass auch ihr der „Grundsatz der sozialen Gleichberechtigung“ oberste Maxime sei.16 Allerdings sei „Begabung für höhere Bildungsziele von der Natur nun einmal einem zahlenmäßig begrenzten Personenkreis vorbehalten“.17 Diese biologische Begabung sei auf alle „Stände und Klassen“ verteilt, man wolle sie durch eine scharfe Auslese herausfiltern.18 Allerding müssten Wege gefunden werden, um Hindernisse zu beseitigen, die der Förderung der „Begabten in den sozial und wirtschaftlich wenig begünstigten Volksschichten bisher noch im Wege stehen“.19 Schulgeldbefreiung, Lehrmittelfreiheit sowie mehr Schulen und Schülerheime für die ländlichen Regionen waren seine Vorschläge.20 Gerade bei der Diskussion um die Chancengleichheit ist ein fundamentaler 10 11 12 13 14 15 16
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Vgl. dazu ausführlich Oelkers: Gesamtschule, S. 46–55. Vgl. Müller: Schulpolitik, S. 142f. Stellungnahme zu den Schulreformvorschlägen der amerikanischen Militärregierung, März 1947, S. 9, BayHStA, MK 53202. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 10. Stellungnahme zu den Schulreformvorschlägen der amerikanischen Militärregierung, März 1947, S. 4, BayHStA, MK 53202. Vgl. auch Hundhammer an Militärregierung für das Land Bayern, Abt. f. Erziehung u. religiöse Angelegenheiten, 8.6.1947, BayHStA, MK 53202; Hundhammer: Erziehungsplan auf weite Sicht, S. 74. Stellungnahme zu den Schulreformvorschlägen der amerikanischen Militärregierung, März 1947, S. 5, BayHStA, MK 53202. Ebenda; Hundhammer an Militärregierung für das Land Bayern, Abt. f. Erziehung u. religiöse Angelegenheiten, 8.6.1947, BayHStA, MK 53202. Stellungnahme zu den Schulreformvorschlägen der amerikanischen Militärregierung, März 1947, S. 6, BayHStA, MK 53202. Vgl. Hundhammer an Militärregierung für das Land Bayern, Abt. f. Erziehung u. religiöse Angelegenheiten, 8.6.1947, BayHStA, MK 53202.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
Unterschied zwischen den Vorstellungen der Amerikaner und der bayerischen Regierung zu erkennen: Die Amerikaner argumentierten sozialkulturell. Ein langes gemeinsames Lernen bedeute spätere schulische Determinierung, so dass mit sozial-kulturellen Einflüssen auch außerhalb des Herkunftsmilieus gerechte Bildungschancen für alle ermöglicht werden sollten. Hundhammer folgte der biologischen Begabungsargumentation der 1920er Jahre: Begabung sei demnach angeboren und es gelte Begabungen aller sozialen Schichten zu finden.21 Dies sollte bis Ende der 1950er Jahre in Deutschland noch wissenschaftlicher Konsens bleiben.22 Mit seiner Einstellung stand Hundhammer keineswegs alleine da. Die Kirchen sowie die Universitäten setzten sich massiv für den Erhalt des humanistischen Gymnasiums und gegen die Einführung einer Einheitsschule ein.23 Dabei waren sie sich einig, dass Chancengleichheit nur durch schärfere Auslese zu ermöglichen war24 und dass aus „entwicklungspsychologischen“ Gründen die Grundschule nicht länger als vier Jahre dauern sollte.25 Neben diesen Argumenten, die eher praktischer Natur waren, sprachen aber nach Meinung der Verteidiger noch viel mehr ideelle Gründe für den Erhalt des humanistischen Gymnasiums. Die Ursache für den Nationalsozialismus sahen die Befürworter des traditionellen Schulsystems im „Fortschrittsglauben“
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Vgl. Müller: Schulpolitik, S. 145. Siehe Kapitel II.1.3.3. Vgl. Müller: Begabung und soziale Schichtung, 1956, v. a. S. 19f. Josef Schnippenkötter war beispielsweise der Meinung, dass es in höheren Schichten auch prozentual mehr Begabte gebe, vgl. Schnippenkötter: Plan, S. 16, FN 1. Vgl. Katholische Kulturgemeinde Erlangen an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Stellungnahme zur Schulreform, 14.4.1947, BayHStA, MK 53202; Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202; Universität München an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 14.6.1947, gutachtliche Gedanken zu den Schulreform-Vorschlägen, S. 2, BayHStA, MK 53202; Erzbischof von München an den Bischof Aloysius Muench, 7.1.1948, MK 53203; Evangelischlutherischer Landeskirchenrat an die Militärregierung für das Land Bayern, 26.1.1948. Vgl. zum Einfluss der Kirchen auf die westdeutsche Bildungspolitik in der Nachkriegszeit auch Jasper: Schulreformdiskussion. In der Forschung stand bisher dabei jedoch eher die Wiedereinführung der Bekenntnisschule im Mittelpunkt, vgl. bspw. Rödel: Streit; Gatz: Kirche, S. 132f.; Müller: Schulpolitik, S. 190–226; Ruge-Schatz: Umerziehung, S. 91–99. Zum Einfluss der Kirchen generell auf die deutsche Nachkriegspolitik vgl. Gatz: Kirche, S. 126–133; Buchna: Jahrzehnt. Vgl. Katholische Kulturgemeinde Erlangen an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Stellungnahme zur Schulreform, 14.4.1947, BayHStA, MK 53202; Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202; Universität München an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 14.6.1947, gutachtliche Gedanken zu den Schulreform-Vorschlägen, S. 2, BayHStA, MK 53202. Vgl. Stellungnahme zu den Schulreformvorschlägen der amerikanischen Militärregierung, März 1947, S. 9, BayHStA, MK 53202; Hundhammer: Erziehungsplan auf weite Sicht, S. 74; Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202.
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und in der „Entfesselung geistiger, technischer und wirtschaftlicher Kräfte“,26 denen man nun mit der „zur Selbstbesinnung ladende[n] geistig-seelische[n] Komponente“ des Humanismus entgegenarbeiten müsse.27 Entgegengesetzter konnten die Positionen kaum sein: Für die Amerikaner war das humanistische Gymnasium die Ursache allen Übels, für den bayerischen Kultusminister das Heilmittel für alle Übel. Für die Einstellung der Amerikaner zu den von bayerischer Seite vorgeschlagenen Schulplänen ist ein Artikel vom 28. November 1947 aus der New York Times interessant, der sich in einer Übersetzung in den Akten des bayerischen Kultusministeriums findet. Der Vorschlag von Kultusminister Alois Hundhammer unternehme „keinen Versuch, ‚das Kasten‘- oder zweizügige System in der Erziehung aufzuheben“. Stattdessen schlage er ein dreizügiges System vor, „das einen Schultyp für die niedrigen Stände, einen für den unteren Mittelstand und einen für die oberen Stände in Aussicht“ stelle. Zudem sei der Zugang zur Universität „mit wenigen Ausnahmen für die oberen Stände reserviert und Kinder müssen mit 10 Jahren schon entscheiden, ob sie an einer Hochschule studieren wollen und in diesem Alter mit dem lateinischen Studium anfangen“.28 Hieran wird deutlich, wie groß die kulturellen Unterschiede in bildungspolitischen Fragen waren und wie wenig Verständnis jeweils für die Position des anderen aufgebracht werden konnte. Dass Latein mehr sein konnte als ein Handwerk für Altphilologen, war den Amerikanern ein besonderes Rätsel. Allerdings stand gerade dieses Fach in den Nachkriegsjahren für das wirkmächtigste Leitmotiv, das deutsche Bildungspolitik je für sich in Anspruch nahm: den christlichen Humanismus. Besonders deutlich wird dies, wenn man die Entwicklung in NordrheinWestfalen betrachtet. Hier wurde nach Kriegsende an allen Typen der höheren Jungenschule als erste Fremdsprache Latein eingeführt.29 Das hatte es in der Geschichte der deutschen höheren Schule noch nie gegeben, da die Oberrealschule gänzlich ohne Latein ausgekommen war. Dieses Beispiel für die Wirkmächtigkeit des „christlichen Humanismus“ war untrennbar verbunden mit den Agitationen Josef Schnippenkötters, einem seiner aktivsten Vertreter. Die Auseinandersetzungen in Nordrhein-Westfalen um die Sprachenfolge waren heftig. Josef Schnippenkötter, der in der Kulturabteilung Nordrhein (später Schulkollegium Düsseldorf) für die höheren Schulen tätig war,30 kämpfte äußerst intensiv um die Einführung bzw. Beibehaltung des Lateinischen als erster Fremd26 27
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Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202. Universität München an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 14.6.1947, gutachtliche Gedanken zu den Schulreform-Vorschlägen, S. 4, BayHStA, MK 53202. BayHStA, MK 53202, Übersetzung aus „New York Times“ vom 28.11.1947. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 85. Schnippenkötter strebte eigentlich eine Position im Kultusministerium an, die ihm aber,
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
sprache an allen Typen der höheren Schule. Verbündete fand er dabei in der katholischen Kirche, im Philologenverband und in Teilen der CDU. Ein wichtiger Fürsprecher für Schnippenkötters Pläne war beispielsweise Konrad Adenauer.31 Anfangs standen die britischen Besatzer dem Vorhaben skeptisch gegenüber, aber anders als Franzosen und Amerikaner zogen sie sich recht schnell aus der Bildungspolitik zurück.32 Die SPD, aber auch der liberalere Teil der CDU, zu dem auch die spätere Kultusministerin Christine Teusch gehörte, kritisierten die Sprachenfolge. Latein sollte erste Fremdsprache an den altsprachlichen Gymnasien bleiben, aber die neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien sollten mit Englisch beginnen – in Nordrhein-Westfalen hatte man sich für diese Schulbezeichnungen entschieden.33 Schnippenkötter war ein unerlässlicher Agitator. So konnte er beispielsweise viele Direktoren von seinen Plänen überzeugen.34 Die Akten zeigen jedoch auch, dass es einige Beschwerden darüber gab, dass keine höhere Schule mehr mit Englisch begann. Wenigstens ein Zug pro Schule sollte mit Englisch als erster Fremdsprache beginnen, weil es ansonsten große Schwierigkeiten für Schüler aus anderen Landesteilen bei einem Schulwechsel geben würde und darüber hinaus keine Übergangsmöglichkeiten für gute Mittelschüler auf das Gymnasium.35 Die Kultusministerin Christine Teusch erließ daraufhin, dass ab dem 1. März 1949 in Ausnahmefällen am neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium einige
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auch aufgrund seiner aggressiven Agitation für seine Pläne, verwehrt wurde, vgl. Eich: Schulpolitik, S. 65f. Vgl. Eich: Schulpolitik, S. 53–70. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 121. Vgl. Eich: Schulpolitik, S. 63f., 140f. Ähnliches hatte auch ein Referentenentwurf aus dem Kultusministerium vorgesehen, den der damalige Kultusminister Heinrich Konen (CDU) nicht zur Kenntnis nehmen wollte, vgl. Denkschrift des Kultusministeriums NRW, 1947, S. 6, 13; Eich: Schulpolitik, S. 70f. Vgl. Schnippenkötter 1950 über die Gestaltung des höheren Schulwesens nach 1945, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99, Bl. 47–49; Schnippenkötter vor Lehrer- und Elternversammlung in Düsseldorf am 23.3.1950, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99; Besprechung mit Herrn Regierungsdirektor Schnippenkötter, 2.5.1950, LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 33–41; Zur Schulreform in Rheinland-Westfalen [ohne Datum, vermutl. 1946/47], LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 45–48; Dr. Karl Schümmer, Oberschuldirektor, an Kultusministerin Teusch, 9.1.1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108, Bl. 114–115. Vgl. Abwicklungsstelle des früheren Oberpräsidenten der Nordrhein-Provinz, Abteilung Höhere Schulen an Kultusminister Konen, 30.6.1947, LAV NRW, NW 19, Nr. 108; Oberstadtdirektor von Köln an Kultusministerin Teusch, 22.3.1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108; Rudolf Massion an Landtagsabgeordneten Peter Hensen, 10.5.1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108. Ähnliche Beschwerden von der Stadt Düsseldorf am 25.3.1949, der Stadt Wuppertal am 13.3.1948, der Stadt Gelsenkirchen am 4.5.1949, der Stadt Münster am 4.3.1948, der Stadt Dortmund am 8.3.1948, vom Velberter Schulverein am 4.5.1949, der Hollenbergschule Waldbröl am 11.4.1949, alle Schreiben in LAV NRW, NW 19, Nr. 108.
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Klassen mit Englisch beginnen dürften.36 Auf diesen Kompromiss einigte sich auch der nordrhein-westfälische Landtag, als er 1952 das „Gesetz zur Ordnung des Schulwesens“ beschloss.37 Interessanterweise hatten bis 1951 nur 27 von 414 höheren Schulen diese Möglichkeit genutzt.38 Dies könnte darauf hindeuten, dass Latein als erste Fremdsprache an allen höheren Schulen durchaus Rückhalt bei Lehrern und Eltern hatte. Dies zeigen auch die Ergebnisse einer Abstimmung aus dem Jahr 1949, die das Schulkollegium Düsseldorf unter Eltern und Lehrern der höheren Schulen durchführen ließ. Hier sind zwar lediglich die genauen Abstimmungsergebnisse von drei nicht-altsprachlichen Schulen in Wuppertal dokumentiert, bei denen sich aber bei zwei Schulen Eltern und Lehrer mit starker Mehrheit für Latein aussprachen.39 1.2 Die Leitidee des „Christlichen Humanismus“
Nordrhein-Westfalen ist ein extremes Beispiel für ein gesamt-westdeutsches Phänomen. Das Festhalten am traditionellen Schulsystem, das sich in der Bedeutung des Lateinunterrichts und des altsprachlichen Gymnasiums manifestierte, war in allen westdeutschen Ländern zu beobachten.40 Auch in Ländern wie Niedersachen, Schleswig-Holstein und Hamburg, wo Besatzungsmacht und SPD-geführte Regierungen für eine verlängerte Grundschulzeit eintraten, regte sich Widerstand in weiten Teilen der Bevölkerung gegen die „schulstrukturellen Veränderungen“.41 In Rheinland-Pfalz hatte die französische Besatzungsmacht zunächst das grundständige Latein durch Französisch ersetzt. Sobald die Franzosen die Souveränität über die Kultuspolitik an die Deutschen übergeben hatten,
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Vgl. Stellungnahme der Kultusministerin Christine Teusch zur Sprachenfolge an höheren Knabenschulen, 1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108, Bl. 66–68. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 85f. Vgl. Eich: Schulpolitik, S. 149. Vgl. Schulkollegium Düsseldorf an Kultusministerin Teusch, 9.4.1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108, Bl. 36–38. Vgl. Katholische Kulturgemeinde Erlangen an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Stellungnahme zur Schulreform, 14.4.1947, BayHStA, MK 53202; Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202; Universität München an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 14.6.1947, gutachtliche Gedanken zu den Schulreform-Vorschlägen, S. 2, BayHStA, MK 53202; Erzbischof von München an den Bischof Aloysius Muench, 7.1.1948, BayHStA, MK 53203; Evangelisch-lutherischer Landeskirchenrat an die Militärregierung für das Land Bayern, 26.1.1948. Direktorenvereinigung Deutscher Ordensgymnasien und Internate an Kultusministerin Teusch, 30.6.1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108; Geleitwort, in: DG 56 (1949), o. A.; Rüstow, Alexander: Gymnasium perpetuum, Festrede von 1955, in: MDAV 4,3 (1961), S. 2–7. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 89.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
machten die verantwortlichen Schulpolitiker diese Maßnahme rückgängig.42 Allerdings scheint die Erfahrung während der französischen Besatzung und die Sorge um den Verlust der altsprachlichen Bildung so immens gewesen zu sein,43 dass Artikel 38 der 1947 verabschiedeten rheinland-pfälzischen Verfassung einen Bestandsschutz für das altsprachliche Gymnasium enthält44 – eine Besonderheit, die sich bis heute in keiner anderen Landesverfassung findet.45 Die bildungspolitische Leitvorstellung, die die Bevorzugung des traditionellen Schulsystems und auch den hohen Stellenwert von „humanistischem Gymnasium“ und Latein erklärt, ist der „christliche Humanismus“.46 Nach Torsten Gass-Bolm beruhte gute Bildung in der Vorstellung vieler Bildungspolitiker auf der „Trias von Antike, Christentum und deutscher Kultur“.47 Dabei handelt es sich um eine zeitgenössische Formel, die auch Schnippenkötter unablässig als ideelle Grundlage seiner Bildungsvorstellungen verwandte.48 Alle bisherigen Bildungsideale hätten versagt, weswegen man sich auf ein neues Bildungsideal berufen müsse, nämlich das Bildungsideal der echtesten Freiheit des Menschen und seiner höchsten Würde [. . .], kurz das Bildungsideal, das die Antike grundgelegt hat und das das Christentum in der überreichen seinsfrohen Welt einer geordneten Wertehierarchie überhöht und gekrönt hat. Es ist das Bildungsideal [. . .] das man meist mit dem kurzen Wort ‚christlicher Humanismus‘ zu bezeichnen pflegt.49 42 43 44
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Vgl. Ruge-Schatz: Umerziehung, S. 83f. Vgl. Bölling: Abitur, S. 96. Vgl. Rheinland-pfälzische Verfassung, Artikel 38: „Bei der Gestaltung des höheren Schulwesens ist das klassisch-humanistische Bildungsideal neben den anderen Bildungszielen gleichberechtigt zu berücksichtigen.“ Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 57, FN 108. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 84–90. Ähnlich auch Brelie-Lewien: Abendland, S. 208–212. Zum Begriff eines „christlichen Humanismus“ in Theologie und Philosophie im 20. Jahrhundert vgl. Buck: Humanismus, S. 441–448. Dazu zwei Veröffentlichungen von 1948: Balthasar, Christlicher Humanismus und Bultmann: Humanismus. Hier wurde allerdings keine Verbindung zum altsprachlichen Unterricht gezogen, ein Anklang am ehesten bei Bultmann: Humanismus, S. 77. „Christlicher Humanismus“ auch als Leitvorstellung der Universitätsbildung, vgl. Hoffmann: Anfänge. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 84. Vgl. auch Schnippenkötter: Übergangslehrpläne, 1945, S. 14–16, in denen er nach Werten fragt, auf die das neue Bildungswesen nach der Zerstörung aller materiellen und fast aller geistigen Werte noch aufbauen könne. Er nennt drei, die zwar „noch lebendig, wenn auch schwer bedroht“ seien: „Die christliche Lebenshaltung“, die „deutsche Haltung“ und die „abendländische Haltung“. Ähnlich auch Kock: Das altsprachliche Gymnasium heute, S. 44. Vgl. Schnippenkötter, Josef: Vom christlichen Humanismus als Grundlage der deutschen Bildungsreform [ohne Datum], LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99; Schnippenkötter 1950 über die Gestaltung des höheren Schulwesens nach 1945, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99, Bl. 47–49; Schnippenkötter: Plan, S. 6, 9–13, 27; Schnippenkötter: Rede, S. 8. Schnippenkötter, Josef: Bildungsideal und schulische Wirklichkeit, Entwurf einer Rede, gehalten am 30.4.1951, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99.
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Auch wenn Alois Hundhammer in seinem „Erziehungsplan auf weite Sicht“ den Begriff „christlicher Humanismus“ nicht verwendete, wird deutlich, dass sein Plan ebenfalls darauf fußte: Für ihn sollte das Bildungsziel aller Schulen „echte Humanitas, d.i. Erziehung zu echtem Menschentum“ sein, welches wiederum aus „christlichen Quellen“ stamme und nur von diesen weiterhin genährt werden könne.50 Der „geographisch-ideelle Ort“51 dieses „christlichen Humanismus“ sei das „Abendland“ als „Synonym für die Verschmelzung von Antike und Christentum“.52 Das „Abendland“, der politisch-kulturelle Topos der frühen Bundesrepublik, wie Axel Schildt dargelegt hat,53 war auch in der Bildungspolitik eines der prägenden Schlagworte der 1950er Jahre.54 Die Jugend im Sinne „charakterliche[r] Menschenbildung“ zu erziehen, sollte sie immun machen gegen die „Gefahren der Gegenwart“55 und somit gegen folgende „drei Gegner“56 : den Nationalsozialismus, den Sozialismus und die „Moderne“. Die Abgrenzung gegenüber dem Nationalsozialismus war sowohl bei Schnippenkötter als auch bei Hundhammer deutlich spürbar. So formulierte Schnippenkötter bei der Rede zur Wiedereröffnung des höheren Schulwesens in der Nordrhein-Provinz: Wenn man das Wort Humanismus ausspricht, so wird für den Kenner eine ganze Welt lebendig [. . .]. [. . .] Humanismus ist uns das besinnliche Bekenntnis zu ewigen Werten, zu bewährten Erkenntnissen, zu gesunder Geistigkeit. Humanismus ist uns nicht formlose und nebelhafte Mythik aus dem Norden, sondern geprägte Form und heilige Heiterkeit aus dem Süden [. . .]. Wenn man das betrachtet, so weiß man, daß mit dieser gesunden Rückbesinnung auch der Heilungsprozeß für die so schwer erkrankte und außerdem brutal verwundete Seele des deutschen Volkes eingeleitet werden kann. Dann weiß man, daß damit auch die Erziehung der deutschen Jugend [. . .] für eine lange Zukunft am besten und erfolgreichsten eingewiesen werden kann.57
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Hundhammer: Erziehungsplan, S. 68f. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 84. Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 197–199. Ebenda; Schildt/Siegfried: Kulturgeschichte, S. 65. Vgl. Schnippenkötter: Plan, S. 10f., 19, 26f.; Schnippenkötter: Rede, S. 7–10. Des Weiteren: Bahrdt, Hans Paul: Das Erbe der Antike, in: Neuer Vorwärts, 11.9.1950; Das geht die Eltern von 20000 Schülern an. Wollen Sie bei der Diskussion über die neuen Lehrpläne mitreden? Versuch einer Einführung in die wichtigsten Einzelheiten, in: Stuttgarter Nachrichten, 22.10.1955; Lenz: Höhere Schule; Flitner, Wilhelm: Hochschulreife und Gymnasium. Vom Sinn wissenschaftlicher Studien und von den Anfängen einer gymnasialen Oberstufe, Heidelberg 1959, S. 19. In Baden-Württemberg wird 1954 beispielsweise ein Geschichtsbuch zugelassen mit dem Titel „Erbe des Abendlandes“, vgl. Kultus und Unterricht. Amtsblatt des Kultusministeriums Baden-Württemberg 3 (1954), S. 409–410, LAV NRW, NW 383, Nr. 119. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 85. Ebenda, S. 87. Schnippenkötter: Rede, S. 7.
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Dies wurde auch in praktischen Forderungen deutlich: Schnippenkötter drang beispielsweise auf die „[s]ofortige Abschaffung der Nazi-Oberschule“ sowie die „Wiederfreigabe des gewaltsam unterdrückten humanistischen Gymnasiums“.58 Auch Hundhammer betonte die Bedeutung des Christentums gerade mit dem Hinweis darauf, dass die Nationalsozialisten es auszurotten versucht hätten.59 Die Aussage, dass die Nationalsozialisten das Christentum hätten ausrotten wollen und das humanistische Gymnasium unterdrückt hätten, ist aus der Rückschau betrachtet zwar nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig, da sich die Verhältnisse während des Nationalsozialismus doch vielschichtiger gestalteten, als es diese Äußerungen nahelegten. Allerdings wurden in Bayern in der Tat die meisten kirchlichen Schulen, und darunter auch viele Gymnasien, geschlossen, weswegen man hier eine gute argumentative Position gegenüber den Alliierten einnehmen konnte.60 Die Kirchen galten im Allgemeinen als „vom Nationalsozialismus nicht korrumpiert“ und waren in vielen Bereichen erste Ansprechpartner für die Alliierten.61 Im „humanistischen Gymnasium“ trafen sich die Anliegen der Kirche und der Gymnasialvertreter, die sich beide als Opfer des Nationalsozialismus darstellen konnten, auch wenn dies die komplexe Gemengelage während der NS-Diktatur nachträglich stark vereinfachte. Schnippenkötter argumentierte im Übrigen auch gegen die Einheitsschule mit dem Nationalsozialismus, denn die „nur äußeren organisatorischen Einheitsformen erinnern allzu sehr an die Gleichschaltung in der NS-Zeit und sind schon mehr Einerlei als Einheit und damit das Abträglichste für das Kulturleben“.62 Ähnlich argumentierte man aber auch gegen den zweiten Gegner, den Sozialismus. Vor allem nachdem die Sowjetzone die sozialistische Einheitsschule eingeführt hatte, wurde das Konzept der Einheitsschule – und alles, was dazu eine Ähnlichkeit aufwies, wie beispielsweise eine längere gemeinsame Grundschulzeit – auf das vehementeste bekämpft.63 Man kämpfte eben „gegen Kollektivismus
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Schnippenkötter: Plan, S. 4. Vgl. auch Zur Schulreform in Rheinland-Westfalen [vermutl. 1946/47], LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 45–48, hier Bl. 45, Wortlaut hier: „Wiederfreigabe des humanistischen Gymnasiums, das zwangsmäßig unterdrückt war“; Schnippenkötter 1950 über die Gestaltung des höheren Schulwesens nach 1945, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99, Bl. 47–49, hier Bl. 48; Schnippenkötter, Josef: Bildungsideal und schulische Wirklichkeit, Entwurf einer Rede, gehalten am 30.4.1951, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99. Vgl. Hundhammer: Erziehungsplan, S. 69. Ähnlich auch Schnippenkötter: Rede, S. 9. Vgl. Müller: Schulpolitik, S. 141f. Großbölting: Himmel, S. 22. Schnippenkötter vor einer Lehrer- und Elternversammlung in Düsseldorf, 23.3.1950, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99. Vgl. Schnippenkötter: Plan, S. 14; Leserdiskussion, in: FAZ, 18.10.1954; vgl. Hahne: Die Schule ist kein Rummelplatz, in: FAZ, 25.9.1954; Oelkers: Gesamtschule, S. 67. Zur Schulentwicklung in der DDR vgl. Droit: Menschen.
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und Totalitarismus in jeder Form“.64 Hierzu passt es auch, dass der „Elternwille“ oder das „Elternrecht“ ein weiteres Merkmal in den Bildungsvorstellungen der „christlichen Humanisten“ war. Nach dem „Staatstotalitarismus“ des Nationalsozialismus sollten nun wieder „die Eltern die oberste Pflicht und das natürliche Recht auf die Erziehung und Bildung der Jugend im ganzen Umfang haben“.65 Die Erziehung sollte weg vom Staat hinein in die Familien.66 Der dritte Gegner war die „Moderne“, die durch „Technisierung“, „Materialismus“ und „Utilitarismus“ den Menschen entseele und „die tiefste Ursache für die Katastrophe unseres Volkes“ darstelle.67 In „stolzem Fortschrittsglauben“ habe man „über der Entfesselung geistiger, technischer und wirtschaftlicher Kräfte die Kultur des inneren Menschen“ vergessen.68 Das „klassische Bildungsideal“ sollte nun als „ausgleichende und zur Selbstbesinnung ladende geistigseelische Komponente unserer Kultur“ das deutsche Volk vor weiterem Unheil bewahren.69 Der „Spezialist“ wurde das Sinnbild des materialistischen und utilitaristischen Menschen. Der „Spezialist“ strebe nur nach „zweckhafte[n], nützliche[n] Wissenskenntnisse[n]“, nach „Fähigkeiten“, die man „im Leben und im Beruf gebrauchen kann“ und „nach einem Berechtigungsschein“.70 Dem könne man nur entgegenwirken durch allseitige Bildung und „[z]weckfreie Geistigkeit“.71 Die Ablehnung der Moderne sowie des „Bolschewismus“ waren bis in die Verwendung von Begriffen fast identisch mit denjenigen in der Weimarer Republik. Als neues Element kam die Abgrenzung zum Nationalsozialismus
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Hundhammer: Erziehungsplan, S. 69. Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202. Vgl. Schnippenkötter: Bildungsideal und schulische Wirklichkeit. Entwurf einer Rede, gehalten am 30.4.1951, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99; Schnippenkötter vor Lehrer- und Elternversammlung in Düsseldorf am 22.3.1950, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99; Schnippenkötter: Plan, S. 19; Erzbischof von München an den Bischof Aloysius Muench, 7.1.1948, BayHStA, MK 53202. Vgl. dazu auch Großbölting: Himmel, S. 51. Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202; Katholische Kulturgemeinde Erlangen an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Stellungnahme zur Schulreform, 14.4.1947, BayHStA, MK 53202; Schnippenkötter: Plan, S. 14, 26. Stuttgarter Treffen katholischer Schulleute der süddeutschen Länder, 1947, BayHStA, MK 53202. Universität München an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 14.6.1947, gutachtliche Gedanken zu den Schulreform-Vorschlägen, S. 2, BayHStA, MK 53202. Schnippenkötter vor einer Lehrer- und Elternversammlung in Düsseldorf, 23.3.1950, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99; Wenke, Hans: Humanistische Bildung und modernes Berufsleben. Abdruck aus der Festschrift „Wilhelm-Gymnasium Hamburg 1881–1956“, in: DG 64 (1957), S. 386–391, v. a. S. 387f. Vgl. dazu auch Gass-Bolm: Gymnasium, S. 88. Schnippenkötter: Plan, S. 13.
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hinzu, dessen Ursachen man wiederum in Modernisierung und Säkularisierung vermutete.72 In diesen ganzen bildungspolitischen Ideenkreis passte kein Fach so gut wie Latein. Ein Auszug aus der Rede Schnippenkötters zur Wiedereröffnung der höheren Schulen in der Nordrhein-Provinz verdeutlicht dies: Mit Humanismus bekennen wir uns aber auch zu einem sachlichen Zusammenhang innerhalb der ganzen abendländischen Kultur, die ohne dieses Fundament edlen Griechenund Lateinertums nicht denkbar ist. [. . .] Und so bekennt sich auch die neue deutsche höhere Schule wieder zum Humanismus. Der Weg dazu führt über das Griechische, zum mindesten aber über das Lateinische.73
So sei es nur folgerichtig, dass „nach dem völligen Bankrott des Englischen als einführender erster Fremdsprache“74 – hier bezieht sich Schnippenkötter auf die Deutsche Oberschule des Nationalsozialismus – Latein an allen höheren Jungenschulen als erste Fremdsprache eingeführt wurde. Latein galt Schnippenkötter und seinen Zeitgenossen als „Muttersprache des Abendlandes“,75 denn es sei auf der einen Seite „der gemeinsame Urgrund“ für die Kulturen Europas.76 Zudem könne man nur durch Latein verstehen, welche Beziehungen „die westeuropäischen Wörterbücher untereinander“ hätten.77 Somit stellte Latein eine 72
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Zu konservativen Erklärungsmodellen zur Entstehung des Nationalsozialismus, vgl. Scholchany: Antimodernismus. Interessanterweise finden sich trotzdem in manchen Äußerungen Schnippenkötters erstaunliche Kontinuitäten zum Nationalsozialismus wieder: Als „Ziel und Weg der höheren Schule“ wurden in einer kurzen Notiz mit dem Titel „Zur Schulreform in Rheinland-Westfalen“ unter anderem folgende drei Punkte notiert: „Beseitigung der intellektualistischen Schulung“, „stärkste Betonung des charakterlichen“ sowie „Erziehung zu sozialer Volksgemeinschaft“, vgl. Zur Schulreform in Rheinland-Westfalen [vermutl. 1946/47], LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 45–48, hier Bl. 46. Schnippenkötter: Rede, S. 7. Ebenda; Schnippenkötter: Plan, S. 20. Schnippenkötter, Plan, S. 21. Wer Latein zuerst als „Muttersprache des Abendlandes“ bezeichnet hat, lässt sich schwer nachprüfen. Laut einer Aussage des DAV von 1950 geht es auf T.S. Eliot zurück, vgl. Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband. Tagung vom 2.–4. Juni in München-Gladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 317. Ähnlich Kanz, Heinrich: Der Bildungswert des Lateinischen und die moderne Pädagogik in: Gymnasium 64 (1957), S. 425–444, vor allem S. 443f.: „Die Weltansicht des Lateins umfaßt wie keine andere abendländische Sprache den Ideenkreis des Abendlandes.“ Zur Schulreform in Rheinland-Westfalen [vermutl. 1946/47], LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 45–48, hier Bl. 47: „Latein ist die gemeinsame Mutter der abendländischen Kultur“. Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 259; Weinstock: Ordnung, S. 17. Vgl. auch Gass-Bolm, Gymnasium, S. 84. Schnippenkötter: Plan, S. 21. Vgl. auch Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 259: „Das Latein knüpft die Bande kultureller Einheit vor allem mit Westeuropa.“ Vgl. Snell: Entdeckung, 1947/48, S. 257. Schnippenkötter: Plan, S. 21.
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Art sprachlicher Westbindung dar, verbunden mit einem gewissen europäischen Versöhnungs- und Friedens-Narrativ.78 Auf der anderen Seite war Latein die Sprache des christlichen Mittelalters und vor allem die Sprache der katholischen Kirche.79 Außerdem sei gerade Latein ein wirksames Mittel gegen die Ausbildung von Spezialisten, weil es zweckfreie und allgemeine Bildung, oder „echte humanitas“, vermittle.80 Charakteristisch ist dafür die Niederschrift eines Gesprächs zwischen Schnippenkötter und den englischen Alliierten bezüglich der Wahl der ersten Fremdsprache: Die englische Auffassung bevorzugt die modernen Sprachen, um den Menschen möglichst schnell für den Beruf, für’s ‚Geldverdienen‘ auszubilden, während die Vorschläge des deutschen Gesprächspartners von den Gedanken getragen waren von der Sorge um eine echte, vertiefte Bildung, die zum wahren Menschentum führt und ein wirkliches Fundament für Leben und Beruf bedeutet.81
Hier klingen natürlich auch die alten Stereotypen vom „Amerikanertum“ und „Engländertum“ durch, wie in der Weimarer Republik das Streben nach Nützlichkeit häufig spotthaft genannt worden war. Diese Begriffe konnten in der Nachkriegszeit nicht mehr offen verwendet werden, zu sehr war man auf das Wohlwollen der westlichen Partner angewiesen, aber eine Kontinuität der Kultivierung kultureller Unterschiedlichkeit ist zu erkennen. Andererseits versuchte man auch auf die antike Tradition der Engländer zu verweisen und auf deren Hochschätzung der classical education.82 Mit dem „christlichen Humanismus“ verband sich noch eine weitere Aufgabe, die die höhere Schule erfüllen sollte: die Bildung einer geistigen Elite. Dafür war eine strenge Auslese der „Begabten“ von Nöten, wie sie generell – das bayerische Beispiel hat es gezeigt – von vielen deutschen Bildungspolitikern als Instrument der sozialen Gerechtigkeit gefordert worden war.83 Auch Schnippenkötter war der Meinung, dass die höhere Schule „die Schule der Aristopädie, 78 79
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Zum Europadiskurs und Europa als Bildungsziel vgl. Lüth: Bildungsziel. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 84; Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 259. Schnippenkötter vor einer Lehrer- und Elternversammlung in Düsseldorf, 23.3.1950, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99. Besprechung mit Herrn Regierungsdirektor Schnippenkötter, 2.5.1950, LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 33–41, hier Bl. 35f. Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 259; Schnippenkötter: Plan, S. 21f. Siehe Kapitel IV.1.1. Vgl. auch Niederschrift von den Verhandlungen über Schulfragen zwischen Bayern, Württemberg, Baden, Hannover, Hessen, Karlsruhe, 22.–25.10.1946, BayHStA, MK 53201; Schnippenkötter vor einer Lehrer- und Elternversammlung in Düsseldorf, 23.3.1950, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99; Schnippenkötter: Plan, S. 15f.
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der Auslese der Besten“ sein und bleiben müsse.84 Er bedauerte, dass sich statt eines „Leistungsprinzips“ ein „Berechtigungsprinzip“ entwickelt habe, das nicht mehr einen „vertieften, zweckfrei geistigen Einblick [. . .]“ suche, sondern am „materialistisch orientierten praktischen Nutzen für den engeren Beruf oder innerhalb der Berechtigungsmaschinerie des Lebens“ interessiert sei.85 Daher komme die „Vermassung“ der höheren Schule, der Universitäten und schließlich des Akademikertums.86 Den alten Sprachen, insbesondere Latein, kam dabei als Ausleseinstrument eine herausragende Rolle zu. Latein als ein „durchaus charakteristische[s] Leistungsfach“87 galt als anspruchsvoller als Englisch und wurde daher von vielen als Anfangssprache bevorzugt. Englisch mache es den Schülern in der Unterstufe zu leicht: „[D]as Ausleseprinzip, auf dem doch das zukünftige Gymnasium beruhen soll und beruhen muß, wird auf der Unterstufe nicht genügend zur Auswirkung kommen,“ schrieb beispielsweise Schuldirektor Karl Schümmer 1949 an Kultusministerin Christine Teusch.88 Darüber hinaus sollte so „das Niveau der höheren Schule“ gehoben werden, so dass sie wieder als wirkliche „Vorstufe zur Universität“ gelten konnte.89 Neben diesen Argumenten, die sich im Dunstkreis des „christlichen Humanismus“ verorten lassen, wurden aber noch weitere angebracht, die Latein als erste Fremdsprache rechtfertigen sollten – viele dieser Argumente waren bereits in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus verwendet worden. Latein verleihe eine „unersetzbare formale Schulung“,90 sei eine gute 84
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Schnippenkötter: Plan, S. 14. Ähnlich auch Schnippenkötter als Leiter des Schulkollegiums Düsseldorf an Leiter sämtlicher höherer Schulen, 29.11.1950, LAV NRW, NW 19, Nr. 213: Schnippenkötter beschwert sich über die schlechten Ergebnisse einer vergleichenden Lateinarbeit: „Die Arbeiten beweisen, daß unsere Gymnasien noch immer viel zu sehr durch Schüler belastet sind, die nicht auf eine höhere Schule [. . .] gehören. Der Gedanke der Auslese muß unsere Schulen in stärkerem Maße beherrschen.“ Schnippenkötter: Plan, S. 14. Ebenda. Auch Schnippenkötter wehrte sich gegen den Vorwurf des „Standesschule“ und versuchte mit Statistiken zu belegen, dass im Rheinland und Westfalen eine soziale Mischung vorherrsche, vgl. ebenda S. 15f.; ähnlich auch Zur Schulreform in Rheinland-Westfalen [ohne Datum, vermutl. 1946/47], LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 45–48, hier Bl. 45. Abteilung für höhere Schulen an alle höheren Schulen: Beurteilung der einheitlichen lateinischen Aufgabe, 2.9.1948, LAV NRW, NW 19, Nr. 213, Bl. 6–14, hier Bl. 8. Schümmer, Karl, Oberschuldirektor an Kultusministerin Teusch, 9.1.1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108, Bl. 114–115, hier Bl. 114. Vgl. auch Schnippenkötter vor einer Lehrer- und Elternversammlung in Düsseldorf, 23.3.1950, LAV NRW, RWN 12, Nr. 98–99; Gutachten der Landesschulkonferenz, Anfangssprache Latein [vermutl. 1949], LAV NW 19, Nr. 108, Bl. 151; Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 260. Besprechung mit Herrn Regierungsdirektor Schnippenkötter, 2.5.1950, LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 33–41, hier Bl. 35. Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der
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Grundlage zur Erlernung weiterer Fremdsprachen91 und „die beste, fast unumgänglich notwendige Vorbereitung auf das Universitätsstudium“.92 Denn sogar für ein technisches oder naturwissenschaftliches Studium seien die Abiturienten der „humanistischen Gymnasien“ besser vorgebildet als die anderen.93 Sogar Anglisten und Naturwissenschaftler würden Latein als Anfangssprache fordern.94 Auch die „Jugendpsychologie“ wurde wieder bemüht: Wenn Latein erst zweite Fremdsprache wäre, läge ihr Beginn nach dem Eintritt des Schülers in die Pubertät, was keine guten Erfolgsaussichten verspreche.95 Ein letztes Argument für Latein als erste Fremdsprache betraf die Organisation des höheren Schulwesens: Wenn alle Typen der höheren Schulen mit Latein begännen, würde dies eine größere Einheitlichkeit herstellen und es wäre leichter, vom einen auf den anderen Typ zu wechseln. Außerdem hätten die Schüler länger Zeit herauszufinden, ob ihre Neigung und Begabung im altsprachlichen, neusprachlichen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich lägen.96 Denn in der momentanen politischen Lage Deutschlands sei Latein die einzige neutrale Sprache, die in allen Besatzungszonen eingeführt werden könne, ohne die jeweiligen Besatzungsmächte zu diskreditieren.97 Diese Argumentation zeigt deutlich, wie Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 258; Schnippenkötter: Rede, S. 7. 91 Schnippenkötter: Plan, S. 20; Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 258; Gutachten der Landesschulkonferenz, Anfangssprache Latein [vermutl. 1949], LAV NRW, NW 19, Nr. 108, Bl. 151. 92 Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 259. 93 Vgl. ebenda, S. 260; Universität München an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 14.6.1947, gutachtliche Gedanken zu den Schulreform-Vorschlägen, S. 2, BayHStA, MK 53202; Kock: Das altsprachliche Gymnasium heute, S. 43. 94 Vgl. Schnippenkötter: Plan, S. 20; Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in M.-Gladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 317. 95 Vgl. Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258– 261, hier S. 260; Gutachten der Landesschulkonferenz, Anfangssprache Latein [vermutl. 1949], LAV NW 19, Nr. 108, Bl. 151. Zur Diskussion dazu in der Weimarer Republik s. Kapitel II.1.2. 96 Vgl. Schnippenkötter: Plan, S. 20; Schröder, Hatto: Warum fordern wir Latein als erste Fremdsprache? Referat gehalten in der Sitzung des Philologenvereins, Ortsgruppe Menden, 9.2.1948, in: DG 56 (1949), S. 258–261, hier S. 260; Gutachten der Landesschulkonferenz, Anfangssprache Latein [vermutl. 1949], LAV NW 19, Nr. 108, Bl. 151; Besprechung mit Herrn Regierungsdirektor Schnippenkötter, 2.5.1950, LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 33–41, hier Bl. 35; Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in M.-Gladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 317. 97 Vgl. Schnippenkötter: Plan, S. 20; Gutachten der Landesschulkonferenz, Anfangssprache Latein [vermutl. 1949], LAV NW 19, Nr. 108, Bl. 151; Besprechung mit Herrn Regierungs-
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sehr auch im Nachkriegsdeutschland das Bildungswesen noch „von oben“ gedacht wurde: Der Übergang von einer auf die andere höhere Schule wurde zwar bedacht, nicht aber die vertikale Durchlässigkeit zwischen den Schulformen.98 Gesellschaftlicher Konsens war auch die Forderung nach Elitenbildung, was sich beispielsweise in Leserbriefen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 1954 wiederfindet: Wenn die intellektuelle Kraft im Weiterschreiten eines Volkes führen soll, kann nur die Elitenbildung gefordert werden. Sinkt aber das ‚Kulturelle‘ zum Appendix irgendwelcher Belange ab, wird es zur Dekoration, zur Begleitmusik des zivilisatorischen Fortschritts, so primitiviere man getrost und sinngemäß auch die Schulen und ihre alten, sinngemäßen Aufgaben.99
Dies stellte auch der Lehrer Karl Glöckner heraus, als er in einer Festschrift zum 350-jährigen Jubiläum des altsprachlichen Gymnasiums in Gießen hervorhob, man wolle „keine leichte Schule sein; die Mathematik ist hier nicht leichter als anderswo, Latein und Griechisch aber sind schwerer“.100 Und so sollten die Schüler des altsprachlichen Gymnasiums auch jene jungen Menschen sein, „die auf Grund ihrer besonderen geistigen Fähigkeiten einmal zu der geistig führenden Schicht des Volkes gehören wollen“.101 Dass die Vorstellungen vom christlichen Abendland und Elitenbildung eng zusammenhingen, zeigt ein Auszug aus einem Artikel der Rheinischen Volksblätter, in dem der Autor über die Ursachen „des allgemeinen Absinkens des europäischen Bildungsniveaus“ sinniert: [L]ateinische Bildung ist und kann immer nur die Bildung von wenigen sein. Sie ist nun einmal keine Volksbildung in einem allgemeinen Sinn des Wortes, sondern muß ihrem Sinn und Wesen nach Bildung einer geistigen Elite bleiben. Wir glauben, daß wir wieder
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direktor Schnippenkötter, 2.5.1950, LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 33–41, hier Bl. 35; Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in M.-Gladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 317. Vgl. Oelkers: Gesamtschule, S. 43. Hahne, Heinrich: Die Schule ist kein Rummelplatz, in: FAZ, 25.9.1954; dazu einige Leserbriefe in FAZ vom 18.10.1954: „Es gehört zu den größten Gefahren der heutigen parlamentarischen Demokratie, daß sie die Elitenbildung nicht nur nicht fördert, sondern vielfach direkt verhindert durch ihre gefährliche Neigung zu geistloser Gleichmacherei.“ (Friedrich Henner [Oberstudienrat)]; „Nach psychologischen Erhebungen Prof. Huths, München, sind nur fünf Prozent der heutigen Jugend so begabt, daß sie zum Abitur reif werden können. Zehn Prozent kämen [. . .] für die mittlere Reife in Frage. Aus diesen Feststellungen ergeben sich wichtige Folgerungen für das Ausleseverfahren.“ (Alfred Roedl [Schulrat]) Karl Glöckner, Rückblick auf 75 Jahre Landgraf-Ludwig-Gymnasium, in: Charisteria. Festschrift zum 350jährigen Bestehen des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums Gießen, Gießen 1955, S. 37–71, hier S. 65. Krüger, Max/ Hornig, Georg: Methodik des altsprachlichen Unterrichts, Frankfurt a. M., Berlin/Bonn 1959, S. 22.
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intensiv Latein lernen müssen, wenn wir die europäische Kulturkrise überwinden wollen und wenn wir wieder eine abendländische Einheit im Geiste antiker und christlicher Kulturwerte werden wollen. Aber diese Einheit kommt nicht von den Massen, sondern von den Wenigen, die erkannt haben, daß es ohne Sokrates und ohne Christus kein Abendland und kein neues Europa geben wird.102
Die Forderung nach Elitenbildung im Sinne des „christlichen Humanismus“, die Angst vor „Vermassung“ sowie die kulturpessimistische Ablehnung der Moderne stellten das dominante geistige Klima der Nachkriegszeit in Deutschland dar. Im konservativen Denken der Nachkriegszeit waren Modernisierung und Säkularisierung Schuld für die Katastrophe des Nationalsozialismus, die „Vermassung“ stand paradigmatisch für die Vorgehensweise der Nationalsozialisten.103 Dem „in der Moderne beginnenden Zerfall eines einheitlich christlichen Wertekonsenses“ lastete man „den Aufstieg der totalitären Ideen an“.104 Nur wenn eine „christlich geprägte [. . .] abendländische [. . .] Elite“ die Führung im neuen Staat übernehme, könne weiteres Unheil abgewendet werden.105 Damit knüpfte man fast nahtlos an die konservativen Denkfiguren der 1920er Jahre an. Vor allem in katholischen und protestantischen Kreisen hatte in den 1920er Jahren eine starke „Abendland-Ideologie“ vorgeherrscht, die durchaus Ähnlichkeiten mit dem Denken der „konservativen Revolution“ hatte.106 An diese Mischung aus Konservatismus und Religiosität knüpfte der „christliche Humanismus“ nun an. Diese Kontinuitäten werden auch im begrifflichen Umfeld des „christlichen Humanismus“ deutlich. Die „Trias von Antike, Christentum und deutscher Kultur“ bildete sowohl in der Weimarer Republik als auch in der frühen Bundesrepublik die ideelle Grundlage für die Bedeutung des altsprachlichen Unterrichts. Selbst in den Leitlinien des DAV von 1933 wurde noch ausdrücklich betont, 102
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Latein und die Bildungskrise unserer Zeit, in: Rheinische Volksblätter, 2. Aprilheft 1949. Diese Meinungen bestimmten zwar den öffentlichen Diskurs, dennoch gab es vereinzelt Gegenstimmen, vgl. Ahrens, Ernst: Latein als zweite Fremdsprache an Oberschulen, in: AU 2, Heft 8 (1956), S. 43–68, hier 44: „Die Sprache selbst verlangt schon Härte genug; wir brauchen diese nicht auch durch unsere Unterrichtsweise zu steigern. Denn wohl in keinem Fach liegt die Gefahr der Entmutigung so nahe wie gerade hier.“ Vgl. auch Snell, Neun Tage Latein, 1955, S. 8: „[. . .] es ist nicht zu leugnen, daß der Lateinunterricht die Schüler in mancherlei Fallgruben gelockt hat, als da sind: Pedanterie, Weltfremdheit, Rhetoreneitelkeit, Bildungsstolz und so fort.“ Leserbriefe in FAZ vom 18.10.1954 zum Artikel Heinrich Hahne: Die Schule ist kein Rummelplatz, in: FAZ, 25.9.1954: „Warum sollen in Zukunft nicht alle Kinder auf die höhere Schule gehen dürfen?“ (Kersten Trautner [Student]); „Es mag möglich sein, daß der überdurchschnittliche Schüler durch seine mittelmäßigen Mitschüler ‚gebremst‘ wird. Sollte er deswegen aber, wie von Herrn Hahne gesagt, in der mit mittelmäßigen Anlagen versehenen Schülermenge untergehen, dann wird ihm das sicherlich auch im öffentlichen Leben geschehen. . . “ [Helmut Ringe (Schüler)]. Vgl. Solchany: Antimodernismus, S. 380–382; Pöpping: Abendland, S. 269. Pöpping: Abendland, S. 269. Schildt: Vorwort, S. 7. Vgl. Pöpping: Abendland; Schildt: Vorwort, S. 7f.
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dass die beiden „großen geschichtlichen Mächte“ neben dem deutschen Volk „die christliche Religion und die Antike“ seien.107 Allerdings kam es zu einer Akzentverschiebung, denn der nationale Gedanke, der im konservativen Denken der 1920er Jahre dominant gewesen war, konnte „durch die Blamage des illusionären Bündnisses mit den Nationalsozialisten“ nicht mehr so stark betont werden.108 Stattdessen wurde das christlich-abendländische Denken der dominante Aspekt. Dies könnte auch erklären, warum der Begriff „Abendland“ in der Nachkriegszeit viel häufiger verwendet wurde als während der 1920er Jahre. Es passt zu einer allgemeinen Rechristianisierung, die Thomas Großbölting für das Nachkriegsdeutschland herausgearbeitet hat. Die Kirchen garantierten „Kontinuität in einer Phase extremen Wandels“ und boten gleichzeitig „einen geistigen Neuanfang, eine umfassende Erklärung sowie eine Lösung gesellschaftlicher Probleme“. Letzteres sollte durch „die Orientierung an überzeitlichen Werten und christlichen Gottvorstellungen“ erreicht werden109 – oder anders ausgedrückt durch die Orientierung am „christlichen Humanismus“. So verwundert es kaum, dass der Begriff „christlicher Humanismus“ seine Wurzel ebenfalls im katholischen Milieu der Weimarer Republik hatte. Doris von der Brelie-Lewien verortet den Ursprung der Leitvorstellungen vom „christlichen Humanismus“ in den frühen 1930er Jahren. Dies sei der katholische Versuch gewesen, in die Humanismusdebatte rund um den „Dritten Humanismus“ einzusteigen.110 Der Begriff findet sich auch wieder in einer „Denkschrift über die Vereinfachung des höheren Schulwesens“ vom 27. Dezember 1932, die von verschiedenen katholischen Organisationen verfasst worden war. Darin wurde gefordert, dass alle höheren Schulen die Schüler „zum konkreten christlichen Humanismus führen“ müssten.111 Während des Nationalsozialismus entwickelte sich der „christliche Humanismus“ bei den Katholiken, die die innere Emigration wählten, zum „Gegenakzent“ gegen die nationalsozialistische Ideologie.112 Dies erklärt, warum die Idee des „christlichen Humanismus“ gerade bei Hundhammer und Schnippenkötter, die beide dem katholischen Milieu entstammten, so wirkmächtig war.113 Ein weiteres Beispiel für einen Katholiken, Humanisten und NS-Gegner stellt Leo Wohleb dar, Altphilologe und späterer Staatspräsi107 108 109 110 111
112 113
Leitsätze zur Neugestaltung des humanistischen Bildungsgedankens, in: MDAV 7,2 (1933), S. 1–3, hier S. 1. Schildt: Vorwort, S. 8. Vgl. auch Schildt: Konservatismus. Kontinuitäten und Brüche, 44f. Großbölting: Himmel, S. 25. Vgl. Brelie-Lewien: Abendland, S. 211; als Referenztext dazu: Schümmer: Humanismus, 1932, S. 40f. Verwendung des Begriffs auch bei Rupprecht: Neuhumanismus, 1932, S. 184. Denkschrift über die Vereinfachung des höheren Schulwesens, 27.12.1932, GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 270–274, hier Bl. 271. Ähnlich auch Bericht eines Referenten [ohne Datum], GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 282–283. Brelie-Lewien: Abendland, S. 211. Schnippenkötter war während der Weimarer Republik in einer Gruppe katholischer Lehrer aktiv, vgl. Bericht, 19.8.1925, GStAPK, Gen. cc, Nr. 1, Bd. 5, Bl. 214–214RS; Treffen
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dent von Baden. Wohleb war während der Weimarer Republik Lehrer für alte Sprachen an einem humanistischen Gymnasium gewesen. Durch seine regelmäßige Teilnahme an altphilologischen Fortbildungskursen hatte er unter anderem Kontakt zu Otto Immisch.114 Wegen politischer Unzuverlässigkeit war Wohleb 1934 an ein kleines humanistisches Gymnasium in Baden-Baden zwangsversetzt worden.115 Allerdings entwickelte sich diese Schule zu einer Anstalt, auf die vor allem katholische Eltern ihre Kinder schickten, die dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden.116 Wohleb beteiligte sich darüber hinaus an Gesprächskreisen, die wiederum Kontakte zu den Verschwörern des 20. Juli 1940 hatten.117 Als Wohleb 1945 zunächst die Stelle des Hochschulreferenten in Baden übernahm, gestaltete er seine Politik ganz im Sinne des „christlichen Humanismus“.118 Interessanterweise war diese konservativ-christliche Denkrichtung kein rein deutsches Phänomen. In Großbritannien beispielsweise – so zeigen die neuesten Forschungen von John Carter Wood – entwickelte sich am Ende der 1930er Jahre ein konservatives Intellektuellen-Netzwerk, das die Erneuerung der britischen Gesellschaft auf der Basis des Christentums erreichen wollte.119 Dabei ähneln sich nicht nur die Feindbilder wie der Materialismus oder die Säkularisierung, teilweise orientierten sich die britischen Intellektuellen auch an ihren deutschen Kollegen. So wurde beispielsweise die Rede des deutschen Philosophen Karl Jaspers, der seine hochschulpolitischen Reformvorschläge ideell ebenfalls aus dem „christlichen Humanismus“ zog, anlässlich der Wiedereröffnung der medizinischen Fakultät in Heidelberg 1945 in der christlichen Zeitschrift Christian News-Letter in englischer Übersetzung veröffentlicht.120 Auf der anderen Seite zitierten die deutschen „christlichen Humanisten“ häufig T.S. Eliot, der angeblich als erster behauptet hatte, dass Latein die Muttersprache des Abendlandes sei.121
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zwischen Ministeriumsvertretern und Kirchenvertretern [ohne Datum, vermutl. 1932/33], GStAPK, Gen. Z, Nr. 291, Bd. 4, Bl. 282–283. Vgl. Hochstuhl: Leo Wohleb, S. 25f. Vgl. ebenda, S. 35–41. Vgl. ebenda, S. 42f., 50. Vgl. Kißener: Nationalsozialismus und Widerstand, S. 218. Vgl. Hochstuhl: Leo Wohleb, S. 58–63. Vgl. Wood: Re-orientation [im Druck]; Wood: Rock [im Druck]. Vgl. Jaspers: The Renewal of the University, 15.8.1945. Zu Jaspers vgl. Rohstock: „Rotes Hessen“ – „schwarzes Bayern“, S. 403; Rohlfes: Einstellungen, S. 199f. Vgl. Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband. Tagung vom 2.–4. Juni in MünchenGladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 317; Faber: Reich, S. 23f.
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1.3 Christlicher Humanismus und altphilologische Fachwelt: Kontinuitäten und Brüche
Auch die altphilologische Fachwelt war in den Nachkriegsjahren diskursiv ganz bestimmt vom „christlichen Humanismus“. So trugen beispielsweise im 61. Jahrgang der Zeitschrift Das Gymnasium von 1954, die zwischenzeitlich das Verbandsorgan des wiedergegründeten DAV geworden war, sehr viele Beiträge den Begriff „Abendland“ im Titel.122 Auch die Vorschläge zur Lektüre waren unter „dem Gesichtspunkt der abendländischen Kultur“123 ausgewählt. Ebenso war der Begriff „christlicher Humanismus“ in der Fachwissenschaft präsent.124 Dabei ging es allerdings häufig nicht um das eher abstrakte Leitbild eines „christlichen Humanismus“, sondern ganz konkret um antike christliche Literatur. Hier hatte der altsprachliche Unterricht nämlich ein Defizit. So sehr man auch beteuerte, dass auch das altsprachliche Gymnasium die Schüler „an die christlichen Geistesschätze des Mittelalters“ heranführen könne und „das Erbe der großen christlichen Klassiker für unsere Zeit fruchtbar“125 machen könne, sah man die Vermittlung der spätantiken und mittelalterlichen Literatur nicht als die Aufgabe der Altsprachler an, denn: „Unser eigentlicher Raum, in erster Linie die vorchristliche Antike [. . .] ist überreich an unvergänglichen Werten zu unserem geistigen und sittlichen Wiederaufbau.“126 Und so wollte zwar auch der DAV „die auf unersetzliche Werte der Antike mitgegründete Idee eines christlichen Humanismus“ weiterhin im deutschen Bildungswesen „fruchtbar [. . .] erhalten“,127 verzichtete allerdings in seinen neuen Leitsätzen von 1951 explizit auf den Begriff „christlicher Humanismus“. Er zog die Verbindung zwischen Antike und Christentum durch die Drehung mehrerer Pirouetten: Die Griechen und 122
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Vgl. Baty, Charles W.: Der griechische Unterricht als Mittler abendländischer Kulturtradition, in: DG 61 (1954), S. 65–72; Davison, A. J.: Die homerischen Gedichte und die vergleichende Literaturforschung des Abendlandes, in: DG 61 (1954), S. 28–36; Mäder, Ernst: Die abendländische Aufgabe des Lehrers der alten Sprachen, in: DG 61 (1954), S. 37–46; Ralfs, Günter: Platon und Aristoteles im abendländischen Bewußtsein, in: DG 61 (1954), S. 93–134; Schefold, Karl: Pompeji als Zeuge der Begründung lateinisch-abendländischer Kultur, in: DG 61 (1954), S. 135–140; Kroymann, Jürgen: Auswahl der griechischen Lektüre unter dem Gesichtspunkt der abendländischen Kulturtradition, in: DG 61 (1954), S. 155–156. Bornemann, Eduard: Auswahl der lateinischen Lektüre unter den Gesichtspunkten der abendländischen Kultur, in: DG 61 (1954), S. 158–159; Kroymann, Jürgen: Auswahl der griechischen Lektüre unter dem Gesichtspunkt der abendländischen Kulturtradition, in: DG 61 (1954), S. 155–156; ähnlich auch Kanz, Heinrich: Der Bildungswert des Lateinischen und die moderne Pädagogik, in: DG 64 (1957), S. 424–444, hier S. 438–444. Vgl. Mehmel: „Christlicher Humanismus“ in der Antike. Kock: Das altsprachliche Gymnasium heute, S. 45. Ebenda. Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in M.-Gladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 318.
1 „Rolle rückwärts“: Bildungspolitik in der Nachkriegszeit
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Römer würde eine „Bezogenheit auf eine transzendente Welt des Göttlichen“ auszeichnen, wodurch der Schüler empfänglich gemacht werde für den „religiösen Wertbereich“ und somit auch für das Christentum, „das in spannungsreicher Verbundenheit mit Antike und Volkstum den abendländischen Menschen“ geformt habe.128 Diese umständliche Formulierung könnte daran liegen, dass man zwar an sich den „christlichen Humanismus“ als Leitlinie empfand, aber der Lektürekanon eben vorchristlich war und auch bleiben sollte. Dies deutet auf ein Spezifikum des altsprachlichen Lektürekanons hin, der bereits in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus gezeigt werden konnte: Alles NichtKlassische, also spätantike und mittelalterliche lateinische Literatur, hatte es im altsprachlichen Unterricht schwer. Stefan Kipf konnte zeigen, dass zwar das Lektürespektrum in den 1960er Jahren erweitert wurde, dass in der Unterrichtsrealität aber immer noch die Klassiker Cicero, Caesar und die augusteische Zeit dominierten.129 Dass die Nachkriegszeit ein mitunter merkwürdiges Gemisch an Kontinuitäten und Brüchen hinsichtlich der Zeit des Nationalsozialismus darstellt, lässt sich auch an der Geschichte des DAV zeigen. Wiedergegründet wurde er während der ersten gemeinsamen Tagung deutscher Altphilologen vom 2. bis 4. Juni 1950 in Mönchengladbach,130 nachdem sich bereits 1949 der Landesverband Nordrhein-Westfalen konstituiert hatte.131 Das passt insofern ins Bild, als dass Nordrhein-Westfalen während dieser Zeit als „altphilologisches Schlaraffenland“ galt,132 was natürlich zum einen an Schnippenkötters Engagement für den Lateinunterricht lag, aber auch an den überaus regen Altphilologen. Die Zeitschrift Das Gymnasium, die als ehemalige Verbandzeitschrift des Gymnasialvereins fast die komplette NS-Zeit überstanden hatte und ab 1949 wieder erschien, wurde die Verbandszeitschrift des DAV.133 Seit 1958 erschien zudem die Zeitschrift Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes, die die Mitglieder über „aktuelle schulpolitische Fragen“ unterrichten sollte.134 128 129 130 131 132 133
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DAV: Das Bildungsziel des altsprachlichen Gymnasiums, in: DG 58 (1951), S. 383. Ähnlich auch Haag/Spranger: Sinn, 1960, S. 28f. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 130–148; dazu auch Gass-Bolm: Gymnasium, S. 84. Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in MünchenGladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318. Vgl. Wiederbegründung, S. 76. Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in MünchenGladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 312. Vgl. Ohne Titel, in: DG 57, (1950), S. 248; Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in München-Gladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 317; Deutscher Altphilologenverband. Vorstandssitzung in Frankfurt a. M. vom 24.–26. August 1950, in: DG 58 (1951), S. 88–89, hier S. 88. Vgl. An die Mitglieder des DAV, in: MDAV 1 (1958), S. 1–2, Zitat S. 1. Hier hätte man auch an das alte „Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes“ anknüpfen können,
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
Ebenso gab es personelle Kontinuitäten zu der Zeit vor 1945.135 Zum ersten Vorsitzenden des DAV wurde der aus Duisburg stammende Lehrer Bernhard Kock gewählt, der sowohl in der Weimarer Republik als auch während des Nationalsozialismus nicht sonderlich in Erscheinung getreten war. Anders verhielt es sich mit Herbert Holtorf, der in den Vorstand des DAV gewählt wurde, obwohl er während der nationalsozialistischen Diktatur als Stellvertreter des Reichssachbearbeiters Friedrich Eichhorn fungiert hatte.136 Ebenfalls nennen könnte man in diesem Zusammenhang Georg Radke und Leonhard Illig, die zwar keine Ämter bekleidet, sich aber in ihren Veröffentlichungen zumindest systemtreu gebärdet hatten.137 Wie sehr man in der Nachkriegszeit über die Zeit des Nationalsozialismus den Mantel des Schweigens breitete, zeigt sich auf fast absurde Weise bei einer Tagung der Klassisch-Philologischen Gesellschaft Hamburg am 29. und 30. September 1950. Organisiert wurde sie von Herbert Holtorf. Als Redner traten unter anderem Bruno Snell, Hans Oppermann und Eduard Fraenkel auf. Diese Kombination ist recht auffällig, trafen hier doch mit Bruno Snell ein Resistenter, mit Hans Oppermann ein nationalsozialistischer Opportunist und Ideologe sowie mit Eduard Fraenkel ein rassistisch Verfolgter aufeinander.138 Dass die „Systemtreuen“ keineswegs aus dem Fach ausgegrenzt wurden, zeigt sich auch daran, dass Hans Oppermann139 und Hans Drexler140 im „Gymnasium“ publizieren konnten – von Drexler wurde sogar ein Vortrag
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das 1934 zuletzt erschienen war, oder zumindest mit dem Hinweis „Neue Folge“ daran erinnern können, aber hierfür sind keine Anknüpfungspunkte zu finden. Stefan Rebenich hat das komplexe Unterfangen der Wiederaufnahme von wissenschaftlicher Verbandstätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel der neugegründeten altertumswissenschaftlichen Mommsen-Gesellschaft nachgezeichnet. Er konstatiert: „Für die erfolgreiche internationale Reintegration der Altertumswissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg wurde einerseits die demonstrative Exklusion einiger weniger Belasteter aus der Organisation betrieben, die andererseits aber die Wiederaufnahme der vermeintlich oder tatsächlich weniger Belasteten in die nationale und internationale Gemeinschaft der Forschenden ermöglichte.“ Vgl. Rebenich: Altertumswissenschaften, S. 264–271, Zitat S. 270. Vgl. Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in MünchenGladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 318. Illig war zwar anders als Radke nicht im Vorstand, wurde aber als Landesvertreter für Schleswig-Holstein genannt und später in den Bundesvorstand gewählt, vgl. Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in München-Gladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 318; DAV, Neuwahl des engeren Vorstandes, in: DG 62 (1955), S. 177. Tagung der Klassisch-Philologischen Gesellschaft Hamburg am 29. und 30. September 1950, in: DG 58 (1951), S. 89–92. Vgl. Oppermann, Hans: Die Thermopyleninschrift und ihre Übersetzungen, in: DG 60 (1953), S. 121–127; Oppermann, Hans: Schiller und Vergil, in: DG 58 (1951), S. 306–322. Vgl. bspw. Drexler, Hans: Gerundivkonstruktion und ablativus absolutus, in: DG 58 (1951), S. 288.
1 „Rolle rückwärts“: Bildungspolitik in der Nachkriegszeit
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mit dem Titel „Die Germania des Tacitus“ gedruckt, den er 1944 gehalten hatte.141 Von seinem Aufgabenfeld her knüpfte der DAV an die Traditionen der Weimarer Zeit an. Neben einer allgemeinen Werbearbeit für das Gymnasium142 und den altsprachlichen Unterricht sah man vor allem in der Weiterbildung der Lehrer „seine vornehmste Aufgabe“, da man davon überzeugt war, dass die Zukunftsfähigkeit der alten Sprachen von der „Leistungsfähigkeit seiner Lehrer“ abhänge.143 1.4 Ergebnisse der Restitutionsphase
Spätestens mit der Einführung der sozialistischen Einheitsschule in der DDR gaben die Alliierten ihre Pläne auf, eine wirkliche Neugestaltung des deutschen Schulwesens in Form eines Einheitsschulsystems zu erreichen. In allen westdeutschen Bundesländern wurde das dreigliedrige Schulwesen wiederhergestellt.144 Alle Versuche auch von deutscher Seite, systemtransformierende Änderungen herbeizuführen, wie beispielsweise die sechsjährige Grundschule, scheiterten, 141
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Drexler, Hans: Die Germania des Tacitus, in: DG 59 (1952), S. 52–70. Dies sind nur einige wenige Beispiele, die sich leicht vermehren ließen. Ein weiteres Beispiel ist der Nachruf auf Hans Bogner, in dem seine Zeit während des Nationalsozialismus einfach ausgeklammert wird: Hommel, Hildebrecht: Nachruf auf Hans Bogner, in: DG 56 (1949), S. 77–79. Zum Thema insgesamt s. auch Malitz: Römertum im „Dritten Reich“: Hans Oppermann, S. 540– 543. Zur Wiedereinsetzung nationalsozialistischer Professoren in der Altertumskunde vgl. exemplarisch Kißener: Kontinuität oder Wandel, S. 119f. Vgl. Geleitwort, in: Gymnasium 56 (1949): „Einstweilen versucht sie [die Zeitschrift] voranschreitend dem humanistischen Gedanken ein Werkzeug zu sein und das Bekenntnis zum Gymnasium als der bewährten Bildungsform des Abendlandes werbend hochzuhalten.“ Deutscher Altphilologenverband, Vorstandssitzung in Frankfurt a. M. vom 14.–16. August 1950, in: DG 58 (1951), S. 88–89, hier S. 89: „Äußerungen angesehener Männer des öffentlichen Lebens über humanistische Bildung sollen gesammelt und dem Verband mitgeteilt werden; es ist beabsichtigt, sie in Zeitschrift, Rundfunk oder in einem besonderen Heft der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“ Bömer, Franz: Deutscher Altphilologenverband, Tagung vom 2.–4. Juni in MünchenGladbach, in: DG 57 (1950), S. 312–318, hier S. 317. Vgl. Oelkers: Gesamtschule, S. 51, 67. Die Studie von Ruisz zum Englischunterricht in Bayern von 1945 bis 1955 kommt zu dem Ergebnis, dass selbst im Englischunterricht die eigentlichen Ziele der Reeducation-Politik der Amerikaner nicht umgesetzt wurden. Auch hier wurde an deutsche Traditionen aus der Weimarer Zeit angeknüpft, vgl. Ruisz: Umerziehung, S. 291–300. Zum System der Dreigliedrigkeit: Ein in drei Bildungshöhen unterschiedenes Schulsystem (Volkschule, Mittelschule, höhere Schule) hatte sich in der Weimarer Republik herauszubilden begonnen, war aber erst von den Nationalsozialisten konsequent eingeführt worden. Daher knüpfte man in Bezug auf die Dreiteilung des höheren Schulwesens an die Entwicklung vor 1933 an, in Bezug auf die Dreigliedrigkeit schrieb man die Kontinuitäten fort. Vgl. Zymek: Schule, S. 198.
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wenn es politische Mehrheiten dafür gab, letztendlich am Widerstand der Eltern – mit Ausnahme in Berlin. Diese Versuche scheiterten vor allem daran, dass für viele im geistigen Klima des „christlichen Humanismus“ das altsprachliche Gymnasium einen scheinbaren Neuanfang garantierte.145 Auch wenn dies ein westdeutsches Gesamtphänomen darstellte,146 war die Bedeutung des altsprachlichen Unterrichts vor allem in den katholisch geprägten Bundesländern dominant.147 Dabei schreibt sich eine Tendenz fort, die bereits in der Weimarer Republik mit den Unterschieden zwischen nord- und süddeutschen Ländern aufgetreten war. In der Bilanz ist es zwar richtig, dass bezüglich der Ausgestaltung des Bildungssystems die Nachkriegspolitik eher als „Rolle rückwärts“ bezeichnet werden muss. Allerdings kann man nicht davon sprechen, dass es keine Weiterentwicklung gegeben habe. Denn die Abschaffung des Schulgeldes sowie der Beginn der Schülermitverantwortung können durchaus als demokratisierende Elemente betrachtet werden.148 Allerdings bestätigt sich auch hier ein Trend der Weimarer Zeit: Veränderungen wurden im bestehenden System vorgenommen. Dem Lateinunterricht kam in der Nachkriegszeit eine außerordentlich große Bedeutung zu. Als „Muttersprache des Abendlandes“ stellte es das Musterfach dar, wenn man die Schüler im Sinne des „christlichen Humanismus“ erziehen wollte. Daneben wurden weitere bekannte Argumente für den besonderen Bildungswert des Lateinischen angeführt. Einmal mehr wurde seine Fähigkeit zur Auslese und seine formale Bildung bemüht. Latein sei außerdem die beste Vorbereitung für jedes Universitätsstudium und diene als Grundlage zur Erlernung weiterer Fremdsprachen. Wichtig ist, dass dabei die Betonung des Sprachunterrichts zurückkehrte, während die der Kulturkunde zurücktrat. Außerdem trat das Latein erstmals aus dem Schatten des Griechischen heraus. War zuvor fast ausschließlich das Griechische angeführt worden, wenn es um den kulturellen Wert der alten Sprachen ging, dominierte in der Ideologie des „christlichen Humanismus“ das Lateinische den Diskurs.149 Die neue Bedeutung des Faches Latein zog auch eine praktische Konsequenz nach sich. Vor allem in Nordrhein-Westfalen 145 146
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Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 83. Vgl. dazu Führ: Bildungsgeschichte, S. 6–8; Overesch: Konferenz, S. 252, v. a. FN 10, in der ein Brief Werner Jaegers an Eduard Spranger zitiert wird, in dem Jaeger empfiehlt, das deutsche Schulwesen im Sinne des „christlichen Humanismus“ aufzubauen, und dafür die Beibehaltung des altsprachlichen Gymnasiums als essentiell beschreibt. So setzte sich beispielsweise in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen die katholische Kirche besonders stark für den Erhalt des klassischen Gymnasiums ein, vgl. Ruge-Schatz: Umerziehung, S. 84f.; Eich: Schulpolitik, S. 53–56. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 128. Vgl. dazu Dahlmann: Römertum, 1948, S. 83: „Lassen wir die Römer also zu uns sprechen als Römer, nicht in einer Einstellung als Schöpfer des an die Griechen anknüpfenden Kulturideals, [. . .]: es [das Verhältnis zum Römertum, A. K.] ist in eben dem gleichen unmittelbaren Sinne humanistisch wie das zum Griechischen.“
2 Im Widerstreit zwischen Modernisierung und Tradition. Die 1950er Jahre
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gab es einen großen Lehrermangel, weswegen Stunden ausfielen oder Latein von Nicht-Fachlehrern oder sogar Abiturienten unterrichtet werden musste.150 Ein Zeitgenosse prophezeite, dass „sich zahlreiche Studenten auf das lateinische Studium stürzen und unter den wahrscheinlich veränderten schulpolitischen Bedingungen nach 4 oder 5 Jahren merken, daß sie mit ihren Spekulationen reingefallen sind“.151 In der Tat wurde der Überschuss an Lateinlehrern in den 1960er Jahren in Nordrhein-Westfalen zu einem Problem.152 Der in der Nachkriegszeit so dominante Begriff „christlicher Humanismus“ verschwand bereits in den 1950er Jahren aus der gesellschaftlichen und bildungspolitischen Diskussion.153 Allerdings blieben seine Denkfiguren noch lange Zeit präsent, wie das folgende Kapitel zeigen wird.
2 Im Widerstreit zwischen Modernisierung und Tradition. Die 1950er Jahre Auch wenn die höheren Schulen recht zügig wieder einen geregelten Betrieb aufnehmen konnten und größere Umstrukturierungen durch die Alliierten, zumindest in der Bundesrepublik, nicht zustande kamen, kehrte keine Ruhe in der deutschen Schulpolitik ein. Zwei Sorgen lagen den Reformbemühungen der 1950er Jahre zugrunde: Zum einen das sogenannte „Schulchaos“, zum anderen die Sorge um den Nachwuchs an Fachkräften. Durch unterschiedliche Traditionen und unterschiedliche Besatzungsmächte in den Bundesländern waren die Formen der höheren Schulen im Vergleich zur Weimarer Republik nicht gerade weniger geworden. Vor allem die unterschiedlichen Regelungen zur Folge und zum Beginn des fremdsprachlichen Unterrichts trugen zur „Zersplitterung des deutschen Schulwesens“ bei, wie es die Zeitgenossen gerne nannten und 150
151 152 153
Vgl. Oberschulrat Bohlen (Münster) an Ministerialrat Koch, 9.5.1950, LAV NRW, NW 19, Nr. 213; Abteilung für höhere Schulen an alle höheren Schulen. Beurteilung der einheitlichen lateinischen Aufgabe, 2.9.1948, LAV NRW, NW 19, Nr. 213, Bl. 6–14; Elternversammlung Burggymnasium Essen an Kultusminister, 23.5.1955, LAV NRW, NW 19, Nr. 213, Bl. 114–116; Schulkollegium Düsseldorf an Leiter sämtlicher Schulen, 17.1.1951, LAV NRW, NW 19, Nr. 213; Schulkollegium Münster an Leiter sämtlicher höherer Schulen, 10.1.1952; LAV NRW, NW 19, Nr. 213; Schulkollegium Düsseldorf an Leiter sämtlicher höherer Schulen, 29.11.1950, LAV NRW, NW 19, Nr. 213; Kock. Das altsprachliche Gymnasium heute, S. 47; Niederschrift über die 26. Sitzung des Schulausschusses der KMK am 11./12.9.1953, LAV, NW 383, Nr. 15. Oberschulrat Bohlen (Münster) an Ministerialrat Koch, 9.5.1950, LAV NRW, NW 19, Nr. 213. Siehe Kapitel IV.3.4. Fritz Blättner hielt den Begriff 1960 für „eine nichts besagende Tautologie [. . .] oder ein Mißverständnis“, vgl. Blättner: Gymnasium, S. 32.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
so mit einem weiteren Schlüsselwort an die Diskussion der 1920er Jahre anknüpften.154 Die Forderung nach bundesweiten Vereinheitlichungen wurde laut. „Vater versetzt, Sohn sitzengeblieben!“ wurde zum „inhaltsschwere[n] Scherzwort“.155 Die Sorge um den Nachwuchs an Fachkräften speiste sich daraus, dass sich das deutsche Bildungswesen nach dem Krieg stark an den geisteswissenschaftlichen Fächern orientiert hatte. Die naturwissenschaftlichen Fächer seien unterrepräsentiert, so könne man den Bedarf vor allem an Ingenieuren nicht decken. Zudem gebe es zu wenige Übergangsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Typen der höheren Schule, aber auch zwischen den höheren Schulen und den Volks- und Mittelschulen. Mehr höher gebildete Schüler würden mehr Fachkräfte bedeuten. Daher war die Forderung nach einer Vereinheitlichung des Bildungswesens und dabei vor allem nach einer einheitlichen Fremdsprachenregelung auch für den Fachkräftenachwuchs von Interesse. Denn auch bei den Übergangsmöglichkeiten zwischen Schulformen und -arten war die uneinheitliche Fremdsprachenregelung die „Achillesferse“. Charakteristisch für diese Phase in der bildungspolitischen Debatte war das Gefühl der Bedrohung, das sowohl die Vertreter systemimmanenter Bildungsreformen als auch die systemtransformierender Bildungsreformen empfanden. Besonders die Lehrerverbände der höheren Schulen sowie die Universitäten wirkten dabei tiefgreifenderen Veränderungen entgegen. Als Motor der Reformpolitik erwies sich die Verwaltung, vor allem die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK), die 1948 als Gremium gegründet worden war, um die Bildungspolitik der Länder halbwegs aufeinander abzustimmen.156 Diese Gemengelage aus allmählich voranschreitender Modernisierung, Beharrung traditioneller Elemente und empfundener Bedrohung auf allen Seiten soll im Folgenden zunächst an den verschiedenen Reformen und Reformvorschlägen und deren Diskussion, anschließend an den Auseinandersetzungen und Entwicklungen der Fachwissenschaft gezeigt werden. Dabei fällt vor allem auf, welche Beharrungskraft die Leitlinien des „christlichen Humanismus“ hatten, obwohl der Begriff nun fast nicht mehr verwendet wurde.
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Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. V; vgl. auch Denkschrift des deutschen Philologen-Verbandes: Die Zersplitterung des höheren Schulwesens in der westdeutschen Bundesrepublik, in: HS 4 (1951), S. 1–4; Klenk, Heinrich: Das Satzbild als methodische Grundlage des Lateinunterrichts, in: AU 1, Heft 3 (1953), S. 37–53, hier S. 37; Stellungnahme der Referate zum Antrag des Philologenverbandes, Sept. 1957, BayHStA, MK 52996; Hentig: Regelkreis, S. 58. Denkschrift: Schulschwierigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Denkschrift der Vereinigung der Regierungsbaumeister und des Eisenbahn- und Maschinenwesens, 14.5.1959, BayHStA, MK 53213. Vgl. dazu Fuchs: Gymnasialbildung, S. 129–151; Führ: Koordination, S. 71–74.
2 Im Widerstreit zwischen Modernisierung und Tradition. Die 1950er Jahre
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2.1 Die Reformpolitik der 1950er Jahre 2.1.1 Das Düsseldorfer Abkommen von 1955
Das erste verbindliche „Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens“ vom 17. Februar 1955 war der erste Schritt, eine Vereinheitlichung des westdeutschen höheren Schulwesens herbeizuführen. Im so genannten „Düsseldorfer Abkommen“157 unterzeichneten die Ministerpräsidenten der Länder einen Vertrag, der die großen Unterschiede zwischen den Ländern zu verringern suchte, die eben dadurch entstanden waren, dass in der Nachkriegszeit jeder Regierungsbezirk, später jedes Bundesland seinen eigenen Weg bei der Wiederherstellung des Schulwesens beschritten hatte. Allein ein Vergleich der verschiedenen Bezeichnungen der Bildungsgänge oder der Sprachenfolge zwischen den Bundesländern verdeutlicht, warum Anfang der 1950er Jahre so oft vom deutschen „Schulchaos“158 die Rede war: Wer in Rheinland-Pfalz auf einem neusprachlichen Gymnasium mit Französisch begann, hätte in Bayern ein Realgymnasium besucht und mit Latein begonnen. Wer in der 7. Klasse von Nordrhein-Westfalen nach Hamburg gewechselt wäre, hätte zwei Jahre Englischunterricht nachholen müssen, wäre seinen Klassenkameraden im Lateinunterricht jedoch weit überlegen gewesen.159 Auch wenn im Vorfeld schon einige Vereinbarungen zur Angleichung getroffen worden waren, nahm sich die KMK erst im Sommer 1953 dem Thema Vereinheitlichung an.160 Schnell kristallisierte sich heraus, dass nur eine einheitliche Sprachenfolge – „Anfangssprachenwirrwarr“161 war auch ein beliebtes Schlagwort der Zeit – an einheitlich bezeichneten Typen der höheren Schule dem „Schulchaos“ wirkliche Abhilfe schaffen konnte. Zugleich zeichnete sich ab, dass aber vor allem die Regelung der Sprachenfolge zu einem „Politikum allerersten Ranges“162 werden könnte – und tatsächlich wurde. 157 158
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Sobald in den jeweiligen Kapiteln der in der Öffentlichkeit geläufige Name gefallen ist, wird auf die Anführungszeichen verzichtet. Antwort auf Schreiben der SPD, 16.7.1957, BayHStA, MK 53212. Vgl. auch Görlitz, Walter: Wider das Schul-Chaos, in: Die Welt, 16.2.1955; Endlich Schluss mit dem Schulchaos?, in: Freie Presse, 15.2.1955; Schulbeginn und Schultyp einheitlich, in: General-Anzeiger, 18.2.1955: Untertitel: „Westdeutsche Ministerpräsidenten beseitigen das Schulchaos“; Schulwirrwarr wird beseitigt, in: Die Welt, 18.2.1955. Vgl. dazu Hahn: Re-education, S. 169. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 217f. Vgl. ebenda, S. 220–232. Hier sind als wichtige Vorstufe des Düsseldorfer Abkommens die Beschlüsse der Plenarsitzung vom 30.6./1.7.1954 in Feldafing zu nennen, vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 235f. Besprechung mit Herrn Regierungsdirektor Schnippenkötter, 2.5.1950, LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 33–41, hier Bl. 35. So der nordrhein-westfälische Vertreter im Schulausschuss der KMK Bergmann am 28./29.5.1954, zitiert nach: Fuchs: Gymnasialbildung, S. 234.
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Als die Ministerpräsidenten aller westdeutschen Bundesländer – außer Bayern163 – im Februar 1955 das Düsseldorfer Abkommen unterzeichneten, hatten sie sich auf folgende Bestimmungen für die höhere Schule geeinigt: Die Bezeichnung aller Schulen, die zur Hochschulreife führen sollten, lautete Gymnasium.164 Dies war ein Novum und historisch betrachtet fast revolutionär. Daher wird darauf später noch einmal eingegangen.165 Es schloss in der „Normalform“ an eine vierjährige Grundschule an166 und bot jeweils einen neunjährigen altsprachlichen, neusprachlichen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Typ.167 Das neusprachliche und das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium waren auch als siebenjährige „Kurzform“ zugelassen, sofern in dem jeweiligen Bundesland eine sechsjährige Grundschulzeit üblich war.168 Außerdem sollten die Schuljahre nun von 1 bis 13 durchgezählt werden. Die alte Zählung am Gymnasium von Sexta bis Oberprima durfte in Klammern dazu gesetzt werden.169 Am altsprachlichen Gymnasium legte das Düsseldorfer Abkommen Latein als erste Fremdsprache in der 5. Klasse fest. Eine moderne Fremdsprache trat in der 7. Klasse hinzu und Griechisch wurde ab der 8. Klasse gelehrt. Die Schüler des neusprachlichen und des mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasiums sollten mit Englisch beginnen und in der 7. Klasse zwischen Französisch und Latein wählen können. Dass ausnahmsweise „ein Gymnasium oder ein Zug eines Gymnasiums mit Latein oder Französisch beginnen“ konnte, „wenn im Schulbezirk eine ausreichende Zahl von Schulen des Normaltyps vorhanden ist“, wurde als Passus hinzugefügt.170 Zudem regelte das Abkommen die gegenseitige Anerkennung von Prüfungen171 und war für zehn Jahre unkündbar.172 In der Forschung wird das Düsseldorfer Abkommen häufig als „Abschluss der Wiederaufbauphase des höheren Schulwesens“ bezeichnet,173 da es das dreigliedrige Schulsystem wieder vollständig etablierte und die Zukunft des neunjährigen Gymnasiums zunächst sicherstellte. Zudem wird es als Sieg für das traditionell-konservative Lager gewertet,174 denn es orientierte sich in weiten 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174
Vgl. zur bayerischen Diskussion Lehning: Weg, S. 575–585. Vgl. Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens vom Februar 1955 („Düsseldorfer Abkommen“), § 4, S. 29. Siehe Kapitel IV.2.2.3. Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens vom Februar 1955 („Düsseldorfer Abkommen“), § 8, S. 29. Vgl. ebenda, § 9, S. 30. Vgl. ebenda, § 8, S. 29. Vgl. ebenda, § 5, S. 29. Ebenda, § 10, S. 30. Vgl. ebenda, § 14, 15, S. 31. Vgl. ebenda, § 19, S. 32. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 241. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 95; Wolter: Elitenbildung, S. 35. Vgl. Ulshöfer: Entwicklung, S. 93; Gass-Bolm: Gymnasium, S. 95f.
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Teilen an den Vorschlägen des Deutschen Philologenverbandes von 1954.175 Auch in Bezug auf den altsprachlichen Unterricht ist im Düsseldorfer Abkommen die Nachwirkung seiner starken Stellung in der Nachkriegszeit zu spüren, denn es festigte seinen Status im Bildungssystem nicht nur, sondern baute ihn sogar aus. Das Abkommen schrieb den grundständigen Lateinunterricht als Pflichtfach im altsprachlichen Gymnasium vor – was in Hamburg, Bremen, Berlin und Niedersachsen zuvor nicht der Fall gewesen war.176 Außerdem konnte nun auch am mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium Latein als zweite Fremdsprache gewählt werden. Dies war an der alten Oberrealschule, die ja auch „lateinlose höhere Schule“ genannt worden war, nicht möglich gewesen.177 Insgesamt war zu dieser Zeit die Zahl der Schüler, die Latein und Griechisch lernten, „die höchste, die jemals in Deutschland erreicht wurde“.178 Dies sahen die Zeitgenossen anders. Vor allem der Deutsche Philologenverband hatte sich vehement dafür eingesetzt, dass Latein an allen höheren Schulen erste Fremdsprache werde.179 Entsprechend enttäuscht zeigte man sich, als klar wurde, dass sich dies nicht würde durchsetzen lassen. Dann müsse Latein aber wenigstens verpflichtende zweite Fremdsprache werden.180 Insgesamt empfanden die typischen Vertreter einer traditionellen höheren Bildung die Sprachenregelung des Düsseldorfer Abkommens als Einschränkung des Lateinischen: Neben Philologen- und Deutschem Altphilologenverband beschwerten sich die Hochschulen und die Kirchen über die Regelung. Die Auslesefunktion des Englischen sei zu gering, argumentierten die Hochschulen,181 die Kirchen machten sich Sorgen um ihren theologischen Nachwuchs.182 Gegenüber dem Englischen herrschten deutliche Ressentiments vor: Mit Englisch als erster Fremdsprache sei man „im wesentlichen wohl den Wünschen der Wirtschaft“ nachgekommen. Zudem würden die Kultusminister diesem nur aus „organisatorischen und praktischen Erwägungen den Vorzug“ geben.183 Aus „pädagogisch-methodischen Gesichtspunkten“ müsse man eigentlich dem Lateinischen den Vorzug geben.184 Hierbei ergab sich eine argumentative Allianz mit dem Französischen. Vor allem die Vertreter von Rheinland-Pfalz kämpften um die Möglichkeit, auch 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184
Vgl. Deutscher Philologenverband: Grundsatzentschließung, 28. Mai 1954, 68f. Vgl. ebenda, S. 217. Vgl. Geißler: Schulgeschichte, S. 401f.; Zymek/Ragutt: Keine „Stunde Null“, S. 135. Matthiessen: Perspektiven, S. 173. Vgl. Deutscher Philologenverband an KMK, 8.6.1954: Regelung zur Sprachenfolge, BayHStA, MK 53211. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Philologenverbandes zu Vorschlägen der KMK vom 1. Juli 1954 in Feldafing, 18.10.1954, BayHStA, MK 53211. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 236. Vgl. Eich: Schulpolitik, S. 161. Beer, Brigitte: Kulturpolitik im Sprachunterricht, in: FAZ, 24.2.1955. Ebenda. Ähnlich auch Deutscher Ausschuss: Zu der Entschließung der Ministerpräsidenten vom 5. und 6. Februar 1954, 26. Juni 1954, S. 53.
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mit Französisch als Fremdsprache beginnen zu dürfen. Dabei hatten sie sich auf das deutsch-französische Kulturabkommen berufen.185 Das Düsseldorfer Abkommen gestattete aber nur in Ausnahmefällen den Beginn mit Französisch. Und in der Tat war einer der Hauptkritiker des Düsseldorfer Abkommens das französische Nachbarland. In Frankreich sei man „verbittert“186 und „ärgerlich“,187 dass an deutschen höheren Schulen nicht Französisch, sondern Englisch erste Fremdsprache sein sollte. Der französische Botschafter soll – so berichtete es der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Walter Hallstein im September 1955 der KMK – das Düsseldorfer Abkommen gar „in eine Linie mit nationalsozialistischen Vereinheitlichungsmaßnahmen“188 gesetzt haben. Neben diesen polemischen Äußerungen gab es aber auch „pädagogische“ Argumente für das Französische: Zum einen könne „eine auf die Schulung des Geistes eingestellte Anstalt“ auf die französische Sprache und Literatur nicht verzichten; zum anderen könne „Europa“ als gemeinsames Projekt nur gelingen, wenn Frankreich und Deutschland enger zusammenrückten – doch wie solle das gelingen, „wenn an deutschen Schulen Französisch kaum gelehrt“ werde?189 Es ist bezeichnend, wie diese Argumente denen ähneln, die häufig für eine Ausweitung des Lateinunterrichts angebracht wurden. Hieran erkennt man die in den 1950er Jahren noch weit verbreitete Gegenüberstellung von Französisch und Latein als die „schweren“ Bildungssprachen einerseits und dem „leichten“ und „utilitaristischen“ Englisch andererseits.190 Für Nordrhein-Westfalen war das Abkommen eine große Umstellung. Die Vertreter des Landes hatten anfangs während der Beratungen der KMK versucht, Latein als generelle erste Fremdsprache durchzusetzen.191 Dies war aus ihrer Sicht verständlich, weil seit Schnippenkötter dort ja an allen höheren Schulen Latein erste Fremdsprache war. Allerdings schloss man sich letztlich doch der Mehrheitsmeinung an und unterzeichnete das Abkommen. Die Auswirkungen 185 186 187
188 189
190
191
Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 238f. Zum Kulturabkommen im Allgemeinen vgl. Lappenküper: Genese. Verbitterung in Frankreich, in: Die Welt, 30.5.1955. Wollf: Französisch in der deutschen Schule?, in: Frankfurter Rundschau, 5.4.1955. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Görlitz, Walter: Wider das Schul-Chaos, in: Die Welt, 16.2.1955. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 245. Wollf: Französisch in der deutschen Schule?, in: Frankfurter Rundschau, 5.4.1955. Vgl. auch Magnus-Kreis: Memorandum zur Frage der Fremdsprachen an den Höheren Schulen, 1955, BayHStA, MK 53212. Dieses Argument taucht immer wieder auf, siehe Kapitel IV.2.2.2; IV.2.3; IV.3.4.2 Vgl. auch Schmidt, Kurt: Übersetzen als geistige Schulung, in: AU 2, Heft 8 (1956), S. 5–32, hier S. 13f.; Oberstudiendirektor des staatlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums Köln an Schulkollegium Düsseldorf, 12.12.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 235. Zeitgenössisch übte bereits Adolf Bohlen daran Kritik, vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 92.
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des Abkommens waren an den nordrhein-westfälischen Gymnasien stark zu spüren192 und lösten ein großes Echo in den Lokalzeitungen aus. Eine Glosse im christlich-konservativen Rheinischen Merkur193 vom März 1957 titelte „Und Bernhard Rust hat doch gesiegt“.194 Damit bezog sich der Autor auf die Einführung der Deutschen Oberschule 1938 mit Englisch als erster Fremdsprache und rückte das Düsseldorfer Abkommen in die Nähe des Nationalsozialismus. Auch wenn dieser Vorwurf sicher polemisch gemeint war, erkennt man daran, wie emotional auf das Düsseldorfer Abkommen in Nordrhein-Westfalen reagiert wurde. Tatsächlich gab es auch an den Schulen Widerstand gegen die Durchführung195 und das Kultusministerium musste mehrfach betonen, dass eine Umstellung an den neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaften Gymnasien unbedingt erforderlich sei.196 Auch musste man mit Nachdruck erklären, dass dabei keineswegs Latein an diesen Schulen abgeschafft, sondern lediglich um zwei Jahre verkürzt werde.197 Zudem blieb ein Zug mit Latein als Anfangssprache erlaubt, sofern die Schule mehrere Züge anbieten konnte.198 Viele Schulleiter versuchten Ausnahmegenehmigungen zu erhalten, die ihnen doch zwei Züge mit Latein als erster Fremdsprache zugestanden. Obwohl man mit hohen Anmeldezahlen argumentierte, wurden diese Gesuche abgelehnt.199 Dass man im Kultusministerium auch betonen musste, dass „das altsprachliche 192
193 194
195
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197 198 199
Vgl. Hungenroth, Hermann: Das Düsseldorfer Ministerpräsidenten-Abkommen vom 17. Februar 1955 und seine Auswirkungen für den altsprachlichen Unterricht in NordrheinWestfalen, in: MDAV 2,4 (1959), S. 1–7; Vgl. Haag, Erich: Die gegenwärtige schulpolitische Lage, in: MDAV 1 (1958), S. 3–7, hier S. 4. Vgl. zum Rheinischen Merkur den Aufsatz von Müller: Rheinischer Merkur. Vgl. Leserbriefe zur Glosse „Und Bernhard Rust hat doch gesiegt“, in: Rheinischer Merkur, 29.3.1957, gefunden: LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Vgl. auch Englisch statt Latein, in: Neue Rhein-Zeitung, 17.2.1955. Vgl. Telegramm vom 15.3.1957: Beschwerde des Gymnasiums Solingen gegen EnglischBeginn, LAV NRW, NW 135, Nr. 565; Dr. Christian Wiegand (für die Elternschaft des Naturwissenschaftlichen Gymnasiums Wuppertal-Vohwinkel) an Kultusminister Luchtenberg, 4.3.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565; Dr. Keller als Leiter der Schulpflegschaft des Humboldt-Gymnasiums in Dortmund an Kultusminister Luchtenberg, 7.5.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Vgl. Kultusminister Luchtenberg an Schulkollegium Düsseldorf, 18.2.1957: Durchführung des Düsseldorfer Abkommens, LAV NRW, NW 135, Nr. 565; An die Mitglieder des Kulturausschusses des Landtages von NRW: Zur Durchführung des Düsseldorfer Abkommens, 9.4.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Vgl. An die Mitglieder des Kulturausschusses des Landtages von NRW: Zur Durchführung des Düsseldorfer Abkommens, 9.4.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Vgl. Kultusminister Luchtenberg an Schulkollegium Düsseldorf, 18.2.1957: Durchführung des Düsseldorfer Abkommens, LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Vgl. Direktor Linke des Städtischen Gymnasiums Mühlheim an Kultusminister Luchtenberg, 12.4.1957, Ablehnung 17.4.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565; Stadt Aachen an Kultusminister Luchtenberg, 4.4.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565; Antrag der städtischen Leibniz-Schule in Essen-Altessen zur Beibehaltung eines Lateinischen Zuges, 9.4.1957,
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Gymnasium in seinem Bestand“ nicht angetastet werde,200 zeigt, welche Reflexe und Emotionen das Düsseldorfer Abkommen auslöste. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Leserbrief an die Rheinische Post vom 24. März 1957. Der Leser begrüße die neue Regelung sehr und sei verärgert, dass die Rheinische Post „Stimmung“ gegen das Düsseldorfer Abkommen gemacht habe. Er schließt seine Ausführungen mit den aufschlussreichen Worten: „Ich bin allerdings überzeugt, daß Sie bei Ihrer stets einseitig CDU-humanistischen Einstellung diesen Leserbrief nicht veröffentlichen werden.“201 Dies unterstreicht, wie das Thema Latein als erste Fremdsprache auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung mit Humanismus, mit der CDU und dem konservativen Lager assoziiert wurde. Dass sich verschiedene Vertreter der höheren Schule so stark für Latein und Französisch als erste Fremdsprache engagierten, lag auch daran, dass man das Gymnasium gegenüber den Volks- und Mittelschulen abgrenzen wollte. Ein späterer Übergang von einer Mittelschule auf ein Gymnasium wäre ja nur möglich, wenn die Schüler die gleiche Fremdsprache, also Englisch, gelernt hätten. Genau diese Übergangsmöglichkeit war ein Anliegen der KMK und des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ gewesen, eines unabhängigen Beratungsgremiums, das 1953 vom Bund gegründet worden war.202 Dies zeigt, dass die KMK sehr wohl bereits in den 1950er Jahren an einer Bildungsexpansion interessiert war, vor allem aber diejenigen Lehrerverbände, die die höheren Schulen vertraten, den Zugang zum Gymnasium drosseln wollten. Ein weiterer Kritikpunkt am Düsseldorfer Abkommen unterstreicht diesen Befund, denn der Philologenverband sah in einem Punkt des Abkommens eine schleichende Einführung der verhassten Einheitsschule: Die siebenjährige „Kurzform“. Damit würden nämlich die 5. und 6. Klasse der Volksschule mit der Sexta und Quinta des Gymnasiums gleichgestellt. Die Unterstufen seien aber selbst mit fremdsprachlichem Unterricht qualitativ nicht zu vergleichen.203 Diese „wesensfremde Verzahnung“ bereite „den Weg zur Einheitsschule“.204 Dies deute auch die Durchzählung der Klassen von 1 bis 13 an, die „aus der Konzeption der
200 201 202 203
204
Ablehnung 27.4.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565; Direktor aus Bergisch-Gladbach an Schulkollegium Düsseldorf, 23.4.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Vgl. An die Mitglieder des Kulturausschusses des Landtages von NRW: Zur Durchführung des Düsseldorfer Abkommens, 9.4.1957, LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Leserbrief an die Rheinische Post, 24.3.1957, Kopie ans Kultusministerium, LAV NRW, NW 135, Nr. 565. Deutscher Ausschuss: Zu der Entschließung der Ministerpräsidenten vom 5. und 6. Februar 1954, 26. Juni 1954, S. 53. Zum Deutschen Ausschuss siehe auch Kapitel IV.2.1.4. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Philologenverbandes zu Vorschlägen der KMK vom 1. Juli 1954 in Feldafing, 18.10.1954, BayHStA, MK 53211; Stellungnahme des Deutschen Philologenverbandes zu den Verlautbarungen über die Beschlüsse der KMK in Bonn am 27./28.1.1955, BayHStA, MK 53212. Stellungnahme des Deutschen Philologenverbandes zu den Verlautbarungen über die Beschlüsse der KMK in Bonn am 27./28.1.1955, BayHStA, MK 53212.
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Einheitsschule“ stamme und der „Eigenständigkeit der höheren Schule“ nicht entspreche.205 Diese Argumentationen erinnern in starkem Maß an diejenigen, die schon beim „Kampf gegen der Einheitsschule“ in der Weimarer Republik bemüht worden waren. In der Rückschau betrachtet ist es sicherlich richtig, dem Düsseldorfer Abkommen eine konservative Ausrichtung zuzusprechen. Allerdings war es in erster Linie die Absicht der Ministerpräsidenten, das Schulwesen zu vereinheitlichen. Da der Großteil der Bundesländer ein eher traditionelles Schulwesen aufwies, wie realistisch wäre es gewesen, das Schulwesen radikal zu verändern? Spürbar war auch die Wertschätzung für die alten Sprachen und das altsprachliche Gymnasium. Dies zeigt, wie der Leitgedanke des „christlichen Humanismus“ sich auch im Düsseldorfer Abkommen widerspiegelt. Allerdings zeigen Details wie die Anerkennung der siebenjährigen Kurzform, die durchgehende Klassenzählung und die einheitliche Bezeichnung der höheren Schulen als Gymnasien, dass vor allem die KMK an einer Weiterentwicklung des Schulsystems interessiert war. In der öffentlichen Wahrnehmung bedeutete das Düsseldorfer Abkommen eine Beschneidung des Lateinunterrichts, obwohl das Gegenteil der Fall war.206 2.1.2 Tutzinger Gespräche und Saarbrücker Rahmenvereinbarung
Will man die Teilnehmer am bildungspolitischen Reformdiskurs in systemimmanente und systemtransformierende Reformer einteilen, standen die Universitäten auf der Seite der systemimmanenten. Dies wird besonders deutlich in der Auseinandersetzung um die Reform der Oberstufe und des Abiturs. Als sich im Jahr 1958 Vertreter der Schulausschüsse der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK) und der KMK in Tutzing trafen, ging es darum zu klären, welche Kompetenzen Studienanfänger mitbringen müssten, um ein Studium erfolgreich zu bestreiten. Auslöser dafür war die Frage nach der Regelung des Hochschulzugangs von Absolventen des Zweiten Bildungsweges und der Fach- und Wirtschaftsober205
206
Stellungnahme des Deutschen Philologenverbandes zu Vorschlägen der KMK vom 1. Juli 1954 in Feldafing, 18.10.1954, BayHStA, MK 53211. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Philologenverbandes zu den Verlautbarungen über die Beschlüsse der KMK in Bonn am 27./28.1.1955, BayHStA, MK 53212. Dass tatsächlich eher das Gegenteil der Fall war, zeigt folgendes Beispiel: Bei einer Sitzung der KMK im Mai 1961 erklärte der Kultusminister von Schleswig-Holstein, dass es in den meisten Bundesländern neusprachliche Gymnasien gebe, die auch Züge mit Latein als erster Fremdsprache anböten, was nach dem Düsseldorfer Abkommen auch gestattet sei. Schleswig-Holstein habe solche Schulen nicht, allerdings sei man bereit, ebenfalls solche Züge einzuführen, um für Kinder, die aus einem anderen Bundesland zugezogen seien und dort einen solchen Schultyp besucht hätten, eine problemlose Weiterführung ihrer Schulausbildung zu ermöglichen. Vgl. Kultusminister Schleswig-Holstein: Vorlage für die 70. Sitzung des Schulausschusses der KMK am 4./5. Mai 1961 in Lindau, BA Koblenz, B 304/6470, II. Ordner.
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schulen.207 Insgesamt gab es zu diesem Thema drei Arbeitstagungen, die – wenn sie auch nicht alle in Tutzing stattfanden – im internen Sprachgebrauch häufig als „Tutzing I–III“ bezeichnet wurden.208 Schnell zeigte sich auf den drei Tagungen, dass WRK und KMK hinsichtlich der Ausrichtung des Schulunterrichts grundlegend divergierende Ansichten vertraten: Während die Hochschulvertreter die Auslesefunktion der höheren Schule stärken wollten, um so den Zugang zur Universität zu begrenzen, waren die Vertreter der KMK davon überzeugt, dass es unbedingt notwendig sei, die Abiturientenzahl zu steigern.209 Fuchs argumentiert, dass die Vertreter der KMK zwar teilweise bereits 1957 erkannt hätten, dass eine Steigerung der Abiturientenzahl notwendig war, wenn man den wirtschaftlichen Anschluss nicht verpassen wollte. Allerdings nutzten sie dies „nicht konsequent als Argument“, weil es auch Positionen in der KMK gab, die sich wie die Universitäten gegen eine Verbreiterung des Hochschulzugangs aussprachen.210 Trotz unterschiedlicher Ansichten konnten sich beide Gremien auf gewisse Kernkompetenzen der Hochschulreife einigen, die – wenn auch nicht unumstritten – als „Tutzinger Maturitätskatalog“ auch in späteren Diskussionen um die Reform der Oberstufe und den Ausbau der Wege zur Hochschulreife als Referenzgröße eine Rolle spielten. Aus den vielen Diskussionen sollen zwei Punkte herausgehoben werden, die symptomatisch sowohl für die Zeit, also auch für die Einstellung der Universitäten waren: zum einen die Ressentiments gegen den Bildungswert des Englischen, zum anderen die Betonung des altsprachlichen Gymnasiums als beste Vorbildungsanstalt zur Universität. Ersteres trat bei den Verhandlungen zu „Tutzing I“ deutlich zu Tage, als die Diskussion um die Fremdsprachen eine zentrale Rolle einnahm.211 Dabei ging es den Teilnehmern um zwei Fragenkomplexe. Zum einen fragten sie nach der „Gebrauchsfunktion“, also die Fremdsprache als „praktische Studienhilfe, um Quellen oder ausländische wissenschaftliche Literatur lesen“ zu können. Zum anderen ging es um die „Bildungsfunktion“. Damit meinte man Fremdsprachen „als Medien der distanzierenden Bewußtmachung des Sprachbaus, [. . .] der Durchdringung der inneren Sprachform“.212 Diese Trennung erinnert stark an die Auseinandersetzungen während der Weimarer 207
208 209 210 211 212
Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 185. Vgl. dazu auch Anlage IV zur Niederschrift Tagung Tutzing, 28.–30.4.1958: Diskussion über Begriff und Inhalt der Hochschulreife, BA Koblenz, N1225/270. Ich danke Wilfried Rudloff dafür, dass er mir seine Kopien zur Verfügung gestellt hat. 28.–30.4.1958 in Tutzing (I); 29.6.–1.7.1959 in Freudenstadt (II); 4.7.–5.7.1960 in Bad Homburg, vgl. Scheuerl: Probleme der Hochschulreife, S. 14f. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 312, 316. Hier auch eine zusammenfassende Darstellung der Abläufe und Ergebnisse der Tutzinger Gespräche, S. 306–317. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 317. Zum ganzen Sachverhalt ebenda, S. 312, 316f. Scheuerl: Probleme der Hochschulreife, S. 52. Ebenda, S. 53.
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Republik, bei denen es den Vertretern des altsprachlichen Unterrichts vor allem darum ging, dass Latein nicht nur eine Gebrauchs-, sondern eben vor allem eine Bildungsfunktion habe. So wundert es nicht, dass auch in den Tutzinger Verhandlungen in Bezug auf die Bildungsfunktion Latein ganz maßgeblich ins Spiel gebracht wurde – mit ähnlichen Argumenten wie in den 1920ern: für die „Einführung in ein vertieftes kritisches und nuancenreiches sprachlichen Denken [. . .] ist die lateinische Sprache besonders gut geeignet“.213 Dieses Argument wurde generell auf die romanischen Sprachen – und hier vor allem auf Französisch – wegen ihrer Verwandtschaft zum Lateinischen ausgeweitet. Auch hier warfen die Hochschulvertreter das Argument Europa in die Waagschale: „Latein und Französisch öffnen zudem einen sprachlichen Zugang zu den wichtigen inhaltlichen Grundlagenbereichen der europäischen Geisteswelt.“214 Die englische Sprache hingegen sei dafür „weniger tragfähig“.215 Da selbst das Studium der Anglistik der Ergänzung „durch lateinische und romanische Sprachgrundlagen“ bedürfe, seien im „Interesse des akademischen Studiums [. . .] Latein und Französisch an die erste Stelle zu rücken“.216 Die Vertreter der WRK gingen sogar so weit, Latein oder Französisch verbindlich als erste Fremdsprache der höheren Schule zu fordern, obwohl ihnen die Aussichtslosigkeit dieses Appells bewusst war.217 Die KMK stellte sich entschieden gegen diese Forderung und betonte, dass die „Bildungssprachen [Latein und Französisch, A. K.] [. . .] in den meisten Fällen nur auf dem Platz der zweiten Fremdsprache in Betracht“ kämen.218 Die Bevorzugung des altsprachlichen Gymnasiums war bei den Tagungen „Tutzing II und III“ zu beobachten. Die versammelten Vertreter waren sich einig: Es komme, wenn es auch ausreichend die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer berücksichtige, „dem in Tutzing gemeinten Kernbestand der Hochschulreife am nächsten“.219 Über Abiturienten des altsprachlichen Gymnasiums seien bei der Hochschullehrerschaft am wenigsten Klagen zu hören und auch die technische und naturwissenschaftliche Forschung wünsche sich „für ihre extrem aktuellen und modernen Aufgaben am liebsten einen Nachwuchs, der durch das klassische Gymnasium gegangen ist“.220 Auch dieses Argument war bereits in
213 214 215
216 217 218 219 220
Ebenda, S. 54. Ebenda. Ebenda. Die Universitäten sprachen sich auch noch in anderen Dokumenten für Latein aus, vgl. Entschließungen des Philosophisch-Naturwissenschaftlichen Fakultätentages betreffend Großes Latinum und Lateinunterricht an den Gymnasien, in: MDAV 2 (1959), S. 1–3. Scheuerl: Probleme der Hochschulreife, S. 55. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 98f. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Flitner: Grund- und Zeitfragen, S. 49–52. Vgl. Scheuerl: Probleme der Hochschulreife, S. 98.
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den Diskussionen der Weimarer Zeit häufig angeführt worden. Zwar wurde vor allem bei der dritten Tagung in Bad Homburg von verschiedenen Seiten betont, dass sich auch das altsprachliche Gymnasium modernisieren müsse, um zukunftsfähig zu bleiben, allerdings versicherten alle Beteiligten mehrfach, dass sie alle das altsprachliche Gymnasium erhalten wollten221 – dies war auch einer der Punkte, um deren Berücksichtigung die WRK am Ende der dritten Tagung bat.222 Allerdings forderten die Hochschulvertreter ebenfalls, dass „auch außerhalb der altsprachlichen Gymnasien [. . .] das Latein nicht zu kurz kommen“ dürfe.223 Diese Forderung prägte schließlich die Entwürfe verschiedener Lehrpläne der Abendgymnasien, die bei den Tagungen Tutzing II und III vorgestellt wurden: Die Stundentafel aus Nordrhein-Westfalen stieß beispielsweise auf allgemeine Zustimmung, da Latein mit vier Wochenstunden genauso viel Raum gegeben worden war wie Mathematik und Deutsch.224 Aus Oberhausen wurde von einem „in der Methode auf das Verständnis junger Erwachsener zugeschnittenen Lateinunterricht“ berichtet, der gute Erfolge vorzuweisen habe.225 Der Tutzinger Maturitätskatalog sowie die Tutzinger Gespräche waren von Seiten der Hochschulen stark von einer Persönlichkeit geprägt: Wilhelm Flitner, damals Pädagogikprofessor in Hamburg und „bedeutendster Gymnasialtheoretiker der fünfziger Jahre“.226 Flitner war gemeinsam mit Bruno Snell bereits während der Zeit des Nationalsozialismus an der Universität Hamburg tätig gewesen und hatte sich seit 1935 vom System distanziert, wodurch er gemeinsam mit Snell nach 1945 den Wiederaufbau der Universität Hamburg betreiben konnte.227 Flitner galt zwar als Reformpädagoge, aber in seinen Schriften zeigt sich an vielen Stellen, wie sehr er einer klassisch-humanistischen Bildung verbunden war.228 Er betonte zwar, dass er nicht die Wiedereinführung der klassischen Gymnasien des 19. Jahrhunderts fordere,229 dass aber dennoch das altsprachliche Gymnasium die beste Vorbereitung auf die Universität biete.230 Auch bei der Besprechung seines „Katalog[s] von Anforderungen“, der in weiten Teilen 221 222 223 224
225 226 227 228
229 230
Vgl. ebenda, S. 142f., 144, 134f. Vgl. ebenda, S. 147. Ebenda, S. 142. Ebenda, S. 125f.: 4 WS Deutsch; 4 WS Latein; 4 WS Englisch (oder Griechisch) [sic!]; 4 WS Mathematik; 2 WS Physik; 2 WS Geschichte; 1 WS Biologie oder Erdkunde; 1 WS Religion. Ebenda, S. 87. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 91. Vgl. Scheuerl: Geschichte des Seminars für Erziehungswissenschaft, S. 522–524; 527f. Vgl. Flitner: Hochschulreife, S. 10, 19. Flitners Referat in Tutzing: Anlage III zur Niederschrift Tagung Tutzing, 28.–30.4.1958, Flitner: Hochschulreife, Referat auf der Konferenz der KMK und WRK in Tutzing, BA Koblenz, N 1225/270. Ich danke Wilfried Rudloff dafür, dass er mir seine Kopien zur Verfügung gestellt hat. Vgl. Flitner: Hochschulreife, S. 27. Vgl. ebenda, S. 28, 57.
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dem Maturitätskatalog entsprach, bezog er bei dem Punkt Fremdsprachen noch deutlicher zugunsten des Lateinischen Position, als es im Maturitätskatalog der Fall gewesen war: Man wünsche sich neben der Kenntnis mehrerer moderner Fremdsprachen, „vor allem die Fähigkeit, sich in eine fremde Sprache hineinzufinden“.231 Hierfür sei eine gewisse Distanz zur Muttersprache besonders fruchtbar, vor allem „wenn für den germanischen Sprachkreis die Kenntnis einer Sprache mit reich entwickelter Formenlehre und strenger Syntax hinzutritt, wie sie dem Lateinischen oder Französischen eigen sind. [. . .] Latein hat didaktisch den Vorrang.“232 Aber auch dass der „gemeineuropäische [. . .] Wortschatz, in dem sich die Geschichte des Glaubens, der Philosophie, der Sittenbeurteilung und des Geschmacks niedergeschlagen haben“, nur durch die Beschäftigung mit antiken Autoren zu verstehen sei, war für Flitner ein starkes Argument, an der klassischen Bildung im Sinne eines „christlichen Humanismus“ festzuhalten: Ein Deutscher, der die Times oder eine französische literarische Zeitschrift verstehen will, wird trotz guter Kenntnisse der fremden Umgangssprache vor einer verschlossenen Geisteswelt stehen, wenn er nicht Homer, Virgil [sic!], Dante wenigstens in Übersetzungen gelesen hat oder wenn er die christliche Gedankenwelt nicht mehr kennt.233
Und selbst wenn er dem modernen Gymnasium durchaus zubilligte, die Maturität des altsprachlichen Gymnasiums auch auf anderen Wegen hervorzubringen, stufte er das altsprachliche Gymnasium als überlegen ein. Denn lediglich dort, wo alte Sprachen gelehrt würden, werde auf gelehrte Studien vorbereitet, also auf die Universität.234 Wie sehr Flitners Aussagen den Debatten um das altsprachliche Gymnasium aus den 1920er Jahren ähneln, zeigt sich auch darin, dass er sich gegen den Vorwurf wehrte, Abiturienten der altsprachlichen Gymnasien erzielten nur deswegen bessere Studienleistungen, da sie „von Familien bevorzugt werden, die sich um die Erziehung und geistige Forderung ihrer Kinder von klein auf intensiver bemühen als andere Volkskreise“, und nicht, weil der Lehrinhalt ein geeigneterer wäre.235 Hier zeigt sich einmal mehr, dass im damaligen pädagogischen Denken die Vorstellung, dass soziales und kulturelles Kapital eines Schülers maßgeblichen Einfluss auf seinen schulischen Erfolg haben, noch nicht weit verbreitet war. Allerdings wusste Flitner sehr wohl um das Potential zur Qual, dass den „zwei schwierigen tote[n] Sprachen“,236 vor allem dem Latein als erster Fremdsprache, eigen war: So gibt es höchst glückliche kleine Lateiner, für welche diese Studien einen großen, ihrem Sinn nach dunklen und etwas mysteriösen Reiz haben und wie im Traum erledigt 231 232 233 234 235 236
Ebenda, S. 33f. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 49. Vgl. ebenda, S. 43, 46. Ebenda, S. 29. Flitner: Oberstufe, S. 61.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
werden; und es gibt andere, denen sie eine Plage sind und zur Tragödie ihrer Jugendjahre werden können.237
Neben der Hochschätzung der Antike gab es noch einen zweiten Punkt, der darauf schließen lässt, dass die Tutzinger Gespräche und die Einstellung der Hochschulen noch stark vom Leitbild des „christlichen Humanismus“ geprägt waren. Das war eine relative Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften, in der sich die kulturpessimistischen Vorbehalte gegenüber der „technisierten Moderne“ widerspiegelten. Beim naturwissenschaftlichen Unterricht gehe es vor allem um ein „Verständnis für das Wesen der exakt-naturwissenschaftlichen Methode, für die Beschränkung der Aussagemöglichkeiten auf das Quantitative und damit für die Grenzen der naturwissenschaftlichen Methode“.238 Daher ist es nicht verwunderlich, dass der „Tutzinger Maturitätskatalog“ von den Vertretern nicht geisteswissenschaftlicher Fakultäten scharf kritisiert wurde.239 Zu einer gesetzlichen Reformierung der Oberstufe kam es schließlich im September 1960. Der Rohentwurf dieses Konzeptes war bereits beim dritten Tutzinger Gespräch in Bad Homburg vom Schulausschuss der KMK vorgestellt worden240 und wurde leicht modifiziert am 29. September 1960 in Saarbrücken von den Kultusministern als „Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien“ beschlossen.241 Die KMK wollte durch die „Verminderung der Zahl der Pflichtfächer“ und durch die „Konzentration der Bildungsstoffe“ eine „Vertiefung des Unterrichts ermöglichen und die Erziehung des Schülers zu geistiger Selbständigkeit und Verantwortung fördern“.242 Hierzu wurde die Zahl der Pflichtfächer von zwölf bzw. 13 auf acht243 reduziert, jeweils gegliedert in vier Kernpflichtfächer, ein Wahlpflichtfach, Gemeinschaftskunde, Leibesübungen und ein musisches Fach.244 Die „Saarbrücker Rahmenvereinbarung“ legte für die einzelnen Schultypen Kernpflichtfächer fest, die auch alle Teil der schriftlichen Reifeprüfung sein mussten. Deutsch und Mathematik waren in jedem Schultyp verpflichtend vorgeschrieben. Im altsprachlichen Schultyp 237 238 239 240 241
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Flitner: Hochschulreife, S. 43. Tutzinger Maturitätskatalog, S. 156. Ähnlich auch Flitner: Hochschulreife, S. 59. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 311f.; Bölling: Abitur, S. 102f. Vgl. Scheuerl: Probleme der Hochschulreife, S. 129f. In Gänze bestand die Oberstufenreform aus zwei Teilen, einem organisatorischen, der Saarbrücker Vereinbarung, und einem didaktischen, den so genannten „Stuttgarter Empfehlungen“ von 1961; vgl. Hitpass: Reifeprüfung, S. 49. Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 29.9.1960 („Saarbrücker Rahmenvereinbarung“), S. 48. Je nachdem, ob Religion in den einzelnen Bundesländern verpflichtend blieb, konnten es auch neun Pflichtfächer sein. Vgl. Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 29.9.1960 („Saarbrücker Rahmenvereinbarung“), S. 49. Vgl. ebenda.
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kamen Latein und Griechisch bzw. Französisch – im Falle eines altsprachlichen Gymnasiums mit neusprachlichem Zug – als Kernpflichtfächer hinzu.245 Im neusprachlichen Schultyp mussten die Schüler zwei Fremdsprachen und im mathematisch-naturwissenschaftlichen Schultyp Physik und eine Fremdsprache verpflichtend auswählen.246 Die Schüler trafen die Wahl der Kernpflichtfächer – sofern möglich – sowie der Wahlpflichtfächer nach der 11. Klasse. Da am neusprachlichen sowie am mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium die Fremdsprachen frei gewählt werden konnten, bestand nun die Möglichkeit, Latein nach der 11. Klasse abzuwählen.247 Die Länder setzten in den folgenden Jahren die Saarbrücker Rahmenvereinbarung – mit kleinen Modifizierungen – in eigenes Schulrecht um.248 Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung wird in der Forschung als entscheidender Schritt für die Modernisierung der gymnasialen Oberstufe bewertet. Die Einführung der Wahlfreiheit für Schüler macht eine Akzentverschiebung deutlich: Das persönliche Interesse der Schüler rückte stärker in den Fokus. Torsten Gass-Bolm urteilt, dass mit der Saarbrücker Rahmenvereinbarung die Anerkennung der „Pluralität der modernen Welt“ im Schulwesen vollzogen wurde.249 In der Retrospektive steht die Saarbrücker Rahmenvereinbarung am Anfang einer Entwicklung der Oberstufe hin zu Schülerinteresse und Pluralität, die schließlich in der „Bonner Vereinbarung“ von 1972 ihren Höhepunkt finden sollte. Dennoch waren auch in ihr mit ihrer starken Betonung der geisteswissenschaftlichen Fächer – vor allem der Fremdsprachen – und mit der Reduzierung der Naturwissenschaften als Prüfungsfach einzig auf die mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien sicherlich noch Tendenzen des „christlichen Humanismus“ spürbar. In diesem Changieren zwischen neuen Impulsen und Festhalten an Traditionellem spiegelt sich in gewisser Weise auch die allmähliche Veränderung der bundesrepublikanischen Gesellschaft wider. Doch diese weiten Entwicklungslinien blieben den Zeitgenossen naturgemäß verborgen. So vertrat der Repräsentant Niedersachsens noch 1963 im Schulaus245 246 247
248 249
Vgl. ebenda. Eine Wahlmöglichkeit bestand allerdings nur, wenn es sich um ein altsprachlichen Gymnasiums mit neusprachlichem Zug – Vgl. ebenda. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 29. Als Wahlpflichtfach kamen Fremdsprachen oder Naturwissenschaften in Frage. Daneben war es den Ländern freigestellt, ob die Schüler eines der Kernpflichtfächer bereits am Ende der Klassen 11 oder 12 durch eine Prüfung abschließen konnten. Vgl. Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 29.9.1960 („Saarbrücker Rahmenvereinbarung“), S. 50. Der Streit um das so genannte „Stufenabitur“ wurde im Schulausschuss der KMK heftig geführt und hatte einen „typischen KMKKompromiss“ zur Folge. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 323; vgl. auch Bölling: Abitur, S. 104. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 189. Ebenda.
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schuss der KMK die Meinung, dass die Saarbrücker Rahmenvereinbarung „das höchste Maß dessen“ sei, „das der deutschen Öffentlichkeit an Experimenten in der Oberstufe zugemutet werden“ könne.250 Und in der Tat rief die Saarbrücker Rahmenvereinbarung heftige Proteste bei allen Akteuren hervor.251 Die stärkste Kritik provozierte die schwache Stellung der naturwissenschaftlichen Fächer. Die Meinung, dass dadurch die Saarbrücker Rahmenvereinbarung eine „Halbbildung“ herbeiführe, war bei natur- wie geisteswissenschaftlichen Fachvertretern weitestgehend Konsens.252 Nicht nur die Vertreter der naturwissenschaftlichen Fächer beklagten dies, auch der DAV machte unmissverständlich klar, dass auf den sprachlichen Gymnasien nicht auf Naturwissenschaften verzichtet werden könne, weil dadurch „der Grundgedanke des allgemeinbildenden Schulwesens verletzt“ sei, der nämlich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften beinhalte.253 Die Naturwissenschaftler argumentierten ähnlich: Ihre Fächer seien nicht nur Vorbildung für die zukünftigen Ingenieure. Auch ein Jurist oder Geisteswissenschaftler, werde später „in verantwortlicher Stellung als Wirtschaftsführer [. . .], Politiker oder Erzieher“ Entscheidungen treffen müssen in einer Welt, „die heute weitgehend von den Naturwissenschaften und der Technik geformt“ sei: Es ist deshalb eine Lebensnotwendigkeit für unsere Kultur, daß diejenigen Gebildeten, die kein naturwissenschaftliches Studium betrieben haben, bereits in der Schule einen ausreichenden und unverzerrten Überblick in den Naturwissenschaften erhalten. [. . .] Ohne ein hinreichendes Mindestmaß an Kenntnissen in den Fächern Chemie und Physik wird er weder für die Biologie noch für die ihn ubiquitär umgebende technisch bestimmte Welt Verständnis aufbringen können und ihnen hilflos gegenüberstehen.254
Statt mit übertriebener Technikeuphorie argumentierten die Naturwissenschaftler mit einer allgemeinbildenden Notwendigkeit ihrer Fächer, um dem gebildeten Menschen seine Umwelt verständlich zu machen. Darüber hinaus verstanden auch die Naturwissenschaftler höhere Schulbildung als Elitenbildung. Insgesamt erinnern diese Argumentationsmuster an das Vorstellungssetting des „christlichen Humanismus“ und sind weiterere Hinweise darauf, wie dieses Leit250 251
252
253 254
Bölling: Abitur, S. 105. Vgl. Sammlung an Stellungnahmen in LAV NRW, NW 137, Nr. 461, in Auswahl: GEW, 3.10.1960; Philosophisches Seminar der Universität Bonn, 5.12.1960; Verband Deutscher Schulmusiker, 26.11.1960; Verband Deutscher Schulgeographen, 9.12.1960; Deutscher Verein zur Förderung des Mathematischen und Naturwissenschaftlichen Unterrichts, 20.12.1960; Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule, Februar 1961. Lennert: Kritik, 1962, S. 312; Deutscher Philologenverband: Tagung des Geschäftsführenden Vorstandes und des Gesamtvorstandes des Deutschen Philologen-Verbandes e. V. in Berlin (3.–5. November 1960), in: HS 12 (1960), S. 241–243; Abteilungsleiter II an Kultusminister Schütz, 20.12.1960, LAV NRW, NW 202, Nr. 144. Walter, Otto (1. Vorsitzender DAV) an KMK, betr. Rahmenvereinbarung, 19.12.1960, in: MDAV 4,1 (1961), S. 2–4, hier S. 2. Lennert: Kritik, 1962, S. 314.
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bild noch fortwirkte. Darüber hinaus ähnelt diese Debatte der Diskussion um die Richert’sche Reform 1924/25. Wie auch 1924 wurde diese Schieflage im Laufe der 1960er Jahre zugunsten der Naturwissenschaften korrigiert.255 Die Altphilologen im Besonderen störten sich darüber hinaus an der Formulierung bezüglich der Kernfächer für das altsprachliche Gymnasium. Diese waren im Wortlaut mit „Latein, Griechisch (oder Französisch)“256 angegeben und schienen so eine Wahlmöglichkeit zwischen Griechisch und Französisch zu implizieren. Dies war allerdings so von der KMK nicht gemeint. Sie trug mit dieser Formulierung denjenigen altsprachlichen Gymnasien Rechnung, die einen sogenannten neusprachlichen Zug anboten, in dem man statt Griechisch eben Französisch als dritte Fremdsprache wählen konnte.257 Allerdings war diese Variante noch nicht weit verbreitet und traf innerhalb der Altphilologenschaft nicht nur auf Zustimmung.258 Die gewählte Formulierung erweckte so bei einigen den Eindruck, als wären die altsprachlichen Gymnasien gezwungen, einen Zug mit Französisch statt Griechisch anzubieten.259 Man befürchtete, dass eine „Mehrzahl der Schüler dem Griechischen“260 ausweichen würde und dass der Zug mit Französisch „zum Refugium der schwächer begabten Schüler“ werden könnte, die glaubten, sich so „der strengen geistigen Zucht einer anspruchsvollen gymnasialen Bildung entziehen zu können“.261 Dadurch drohe der Zug mit dem Griechischen abzusterben und daraus leitete man eine Bedrohung für das altsprachliche Gymnasium ab, das ohne Griechisch „seines Charakters beraubt“262 würde. Hierbei wird wieder das schon häufig erwähnte Vorurteil der Vertreter der höheren Schulen laut, dass es Schülern und Eltern nur um den Erwerb von Berechtigungen gehe, die sie sich durch die vermeintlich leichteren Bildungswege ohne die schweren alten Sprachen zu erschleichen versuchten. Ebenfalls wird hier deutlich, dass die Fächer Latein und Griechisch noch als Einheit angesehen 255 256
257
258 259 260 261 262
Vgl. ebenda, S. 317f. Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 29.9.1960 („Saarbrücker Rahmenvereinbarung“), S. 49. Vgl. Keine Wahlfreiheit zwischen Griechisch und Französisch, in: FAZ, 13.2.1961; Saarbrücker Rahmenvereinbarung nicht geändert, in: FAZ, 14.2.1961; Haag, Erich: Die gegenwärtige schulpolitische Lage, in: MDAV 1 (1958), S. 3–7, hier S. 5. Vgl. Haag, Erich: Die gegenwärtige schulpolitische Lage, in: MDAV 1 (1958), S. 3–7, hier S. 5. Vgl. Westfälische Direktoren-Vereinigung, 26.11.1960 an Kultusminister Schütz, 26.11.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461. Ebenda. Oberstudiendirektor des staatlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums Köln an Schulkollegium Düsseldorf, 12.12.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461. Deutscher Philologenverband: Tagung des Geschäftsführenden Vorstandes und des Gesamtvorstandes des Deutschen Philologen-Verbandes e. V. in Berlin (3.–5. November 1960), in: HS 12 (1960), S. 241–243, hier S. 241.
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wurden, denn echte altsprachliche Bildung bedürfe des Erlernens beider Sprachen. Die Diskussion um diese missverstandene Wahlfreiheit schaffte es sogar in die Frankfurter Allgemeine Zeitung.263 Auch die Saarbrücker Rahmenvereinbarung sowie die Diskussion darüber enthalten viele Formulierungen, die an den „christlichen Humanismus“ erinnern. Einige Kritiker betonten ihre „neuhumanistischen Tendenzen“,264 die sie allerdings für „in unserer Zeit nicht mehr tragfähig“ hielten.265 Dass allerdings die Naturwissenschaftler selbst eher in einem neuhumanistisch-allgemeinbildenden Sinne argumentierten, zeigt, wie durchweg positiv konnotiert diese traditionelle Bildungsvorstellung war. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass erst wenige Jahre zuvor der „Sputnik-Schock“ die westliche Welt erfasst hatte. Dieser wird in der Forschung oft als Erweckungserlebnis angesehen, aufgrund dessen sich die westlichen Schulsysteme stärker an den Naturwissenschaften orientierten.266 Für Deutschland muss diese Aussage teilweise relativiert werden,267 da keine Fokussierung auf die Naturwissenschaften festzustellen ist. Im Gegenteil zogen die Vertreter der Geisteswissenschaften und der Naturwissenschaften bei der Ausrichtung der höheren Schule an einem Strang, indem beide neuhumanistisch-allgemeinbildend argumentierten. Besonders deutlich war dies bereits 1958 geworden, als die „Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule“, ein Zusammenschluss fast aller Fachverbände für die höhere Schule, ein eigenes Konzept zur Gestaltung des Gymnasiums vorgelegt hatte. 2.1.3 Die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule
In den 1950er Jahren hatte sich auf Bestreben der „Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte“ die „Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule“ gegründet. Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte beklagte das schlechte Image des naturwissenschaftlichen Unterrichts, das er seit dem Zweiten Weltkrieg habe. Man erklärte dies damit, dass die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs – vor allem die Atombombe – den Naturwissenschaften angelastet würden, weil diese nur mit Hilfe der Technik und der Naturwissenschaften 263
264 265 266 267
Vgl. Keine Wahlfreiheit zwischen Griechisch und Französisch, in: FAZ, 13.2.1961; Saarbrücker Rahmenvereinbarung nicht geändert, in: FAZ, 14.2.1961. Auch in der Radiosendung „Frankfurter Gespräch“ des Hessischen Rundfunks vom 26.2.1961 zum Thema „Fragen der Schulreform – Ordnung des Unterrichts in den Oberstufen der höheren Lehranstalten“ u. a. mit dem hessischen Kultusminister Ernst Schütte und dem Herausgeber der FAZ Karl Korn nahm dieses Thema einen breiten Raum ein, vgl. Hessischer Rundfunk: „Frankfurter Gespräch“ (ACDP 9/92/9-10), S. 7–9. Lennert: Kritik, S. 312. Pewesin: Rahmenvereinbarung, S. 743. Vgl. Schildt/Siegfried: Kulturgeschichte, S. 219f. Siehe Kapitel IV.3.3.4.
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möglich geworden seien.268 Diese Einschätzung war keinesfalls unberechtigt. Im bildungspolitischen Diskurs herrschte, wie oben gezeigt, in der Tat ein kulturpessimistisches und technikfeindliches Klima vor, in welchem gerade die Atombombe als Negativbeispiel häufig angeführt worden war.269 Die Vertreter der naturwissenschaftlichen Fächer wollten für ihre Fächer eine bessere Stellung im Lehrplan erzielen. Ihnen war aber bewusst, dass sie dies nur im Einklang mit den anderen Fächern erreichen könnten. Daher lud man alle Verbände, die die Interessen der höheren Schule vertraten, ein, gemeinsam einen Reformvorschlag für das höhere Schulwesen auszuarbeiten. Neben den naturwissenschaftlichen Verbänden erklärten sich der Philologenverband, der Altphilologenverband, der Neuphilologenverband, der Germanistenverband, der Geschichtslehrerverband und noch einige mehr zur Zusammenarbeit bereit, so dass jede Fächergruppe vertreten war.270 Da es speziell um die höhere Schule ging, waren die Verbände der anderen Schularten ausgeschlossen. Das bedeutete aber auch, dass die Arbeitsgemeinschaft kein Interesse an einer Flexibilisierung des dreigliedrigen Schulsystems hatte. So wurde schließlich auch der Reformentwurf, den die Arbeitsgemeinschaft 1958 unter dem Titel „Bildungsauftrag und Bildungspläne der Gymnasien“ veröffentlichte, ein klares Bekenntnis zur traditionellen höheren Schule. Die Dauer müsse neun Jahre betragen271 – Versuche mit siebenjährigen Kurzformen lehnte man ab272 – und die drei Typen der höheren Schule sollten beibehalten werden, denn sie hätten sich geschichtlich bewährt.273 Wichtig war der Arbeitsgemeinschaft, dass die höhere Schule auf „allgemeine Bildung“274 aufbaue und nicht den „Spezialisten, sondern den im geistigen Umgang mit Wissen gut Gebildeten zum Ziel“275 habe. „Nicht lexikalisches Vielwissen, sondern das gründliche Vertrautwerden mit dem Wesentlichen“276 sollte die Grundlage der Bildung sein, die der „Nachwuchs für die ‚geistig führenden‘ Berufe“ erhalte.277 Dafür sei das Zusammenspiel von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaf268 269 270 271 272 273
274 275 276 277
Vgl. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. 1, 12. Zur Rolle der Technik in pädagogischen Diskursen vgl. Kurig: Bildung; Kurig: Technik. Siehe Kapitel IV.2.2.1. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. 2. Vgl. ebenda, S. 5; Leitsätze der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule, April 1954, Sekretariat der KMK an Mitglieder der KMK, 19.5.1954, BayHStA, MK 53211. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule an alle Ministerpräsidenten und Kultusminister der Länder, 26.10.1954, BayHStA, MK 53211. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. 5, 15; Leitsätze der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule, April 1954, Sekretariat der KMK an Mitglieder der KMK, 19.5.1954, BayHStA, MK 53211. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. 16. Leitsätze der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule, April 1954, Sekretariat der KMK an Mitglieder der KMK, 19.5.1954, BayHStA, MK 53211. Ebenda. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. 24.
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ten die wichtigste Grundlage.278 Das Bildungssystem der Sowjetunion, das sich komplett auf technische Ausrichtung umgestellt habe, halte man für kein gutes Vorbild.279 Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass der „Sputnik-Schock“ zunächst in Deutschland wenig Einfluss auf das bildungspolitische Denken hatte.280 Die Zusammenarbeit der Verbände war auch nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern der Reformentwurf war wirklich ein gemeinsames Werk. Die Abschnitte über den altsprachlichen Unterricht sind beispielsweise den Richtlinien des DAV sehr ähnlich.281 Insgesamt kann man dem Zeitgenossen Hermann Hungenroth zustimmen, der die „echt humanistische Grundrichtung der Autoren der Denkschrift“ hervorhob.282 Vor allem die Beharrung auf der neunjährigen Dauer sowie auf den unterschiedlichen Typen der höheren Schule zeigen, wie wenig sich die Positionen der Lehrerverbände im Vergleich zur Weimarer Zeit verändert hatten.283 Sie betrachteten das Bildungswesen nicht als Ganzes, sondern nur von der höheren Schule aus. Der eigentliche Kampf wurde daher nicht mehr zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, bzw. realistischen und humanistischen Fächern ausgefochten, sondern zwischen Abschottung und Öffnung der höheren Schule. 2.1.4 Der Rahmenplan von 1959
Ein weiteres Beispiel für die bildungspolitische Atmosphäre der späten 1950er Jahre stellten die Diskussionen um den „Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens“ von 1959 dar. Entworfen hatte ihn der „Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“, der im Jahr 1953 vom Bundesinnenministerium und der KMK als „unabhängige Sachverständigenkommission“ berufen worden war.284 Die 278 279 280
281
282 283
284
Vgl. ebd., S. 20, 24. Vgl. ebd., S. 15. Auch nicht bei den Eltern. Zumindest distanziert sich die Landeselternvereinigung der höheren Schulen Bayern vom Reformplan der Arbeitsgemeinschaft, da die Naturwissenschaften darin eine zu große Bedeutung hätten. Vgl. Stellungnahme der Landeselternvereinigung der höheren Schulen Bayern, 16.2.1959, BayHStA 53213. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. 39–41; Hungenroth, Hermann: Bildungsauftrag und Bildungspläne der Gymnasien, in: MDAV 2,2/3 (1960), S. 5–14, hier S. 11. Hungenroth, Hermann: Bildungsauftrag und Bildungspläne der Gymnasien, in: MDAV 2,2/3 (1960), S. 5–14, hier S. 11. Oberstudiendirektor des staatlichen Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums Köln an Schulkollegium Düsseldorf, 12.12.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461. Auch den vorzeitigen Abbruch eines „Kernfaches“ lehnte man ab, vgl. Walter, Otto (1. Vorsitzender DAV) an KMK, betr. Rahmenvereinbarung, 19.12.1960, in: MDAV 4,1 (1961), S. 2–4, hier S. 3. Kemper: Schule und bürgerliche Gesellschaft, S. 244.
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Aufgabe der Kommission war es, Vorschläge zur Vereinfachung und Vereinheitlichung des deutschen Schulwesens zu unterbreiten.285 Dies weist einmal mehr darauf hin, dass von Seiten der bundesdeutschen Politik die deutsche Schullandschaft keinesfalls als zufriedenstellend angesehen wurde. Bei den Mitgliedern des „Deutschen Ausschusses“ handelte es sich um eine bunte Mischung aus Hochschulprofessoren verschiedenster Fachrichtungen, Vertretern der Politik und der Ministerialbürokratie sowie Kirchenvertretern. Unter anderem war auch Georg Picht unter den Mitgliedern, der 1964 mit dem Ausrufen der „Deutschen Bildungskatastrophe“ die bildungspolitische Diskussion prägen sollte.286 Allerdings waren darunter keine Vertreter von Lehrerverbänden.287 Die Gründung des Ausschusses kann als Anfang einer Bewegung gesehen werden, die für die Bildungspolitik in den 1960er Jahren entscheidend werden sollte: das Verlagern von den Lehrerverbänden hin zu vermeintlich unabhängigen Expertengruppen als Berater in bildungspolitischen Fragen.288 Nach einigen kleineren Beiträgen zur Bildungspolitik veröffentlichte das ehrenamtliche Bildungsgremium im Februar 1959 den sogenannten „Rahmenplan“, der erstmals seit der Reichsschulkonferenz von 1920 das gesamte Schulsystem in den Blick nahm und sich nicht nur mit der Gestaltung der höheren Schule beschäftigte. Obgleich es sich dabei – wie bei allen Veröffentlichungen des Ausschusses – lediglich um Empfehlungen ohne politisch bindende Konsequenz handelte und der „Rahmenplan“ nie in die Tat umgesetzt wurde,289 initiierte er eine bundesweite öffentliche Diskussion über Bildungspolitik. Der Deutsche Ausschuss hatte immer wieder kritisiert, das deutsche Schulwesen sei „den Umwälzungen nicht nachgekommen, die in den letzten Jahren Gesellschaft und Staat verändert“ hätten.290 Seine Vorschläge sollten somit eine Antwort auf die Frage liefern, wie das Schulwesen in einer modernen Gesellschaft ausgestaltet sein müsste. Dies entsprach den Forderungen der KMK nach einer Förderung des Fachkräftenachwuchses. Der Rahmenplan stellt dabei den Versuch dar, einen Mittelweg zu finden zwischen dem traditionellen dreigliedrigen Schulsystem, wie es von systemimmanenten Reformern wie Philologenverband, Universitäten und konservativen Politikern bereits in der Weimarer Republik vertreten worden war, und den Ideen einer Einheitsschule, wie sie von systemtransformierenden Reformern wie den Vertretern der Volksschullehrer und der SPD seit Beginn des 20. Jahrhunderts gefordert worden waren. Vielleicht in dem Wissen darüber, wie ideologisch aufgeladen dieser Streit seit Beginn des 285 286 287 288 289 290
Vgl. Führ: Koordination, S. 77f.; Herrlitz/Hopf/Titze: Deutsche Schulgeschichte, S. 168f. Siehe Kapitel IV.3.1. Vgl. Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Rahmenplan, S. III [im Original ohne Zählung]. Siehe Kapitel IV.3.3. Vgl. Herrlitz/Hopf/Titze: Deutsche Schulgeschichte, S. 168. Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Rahmenplan, S. 1.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
Jahrhunderts getobt hatte,291 entschied sich der Ausschuss für eine Mischung aus beiden Ansätzen, die bei den Zeitgenossen als „Kompromiß zwischen Tradition und Fortschritt“ für Irritation sorgte.292 Woran zeigte sich nun im Rahmenplan diese Mischung aus konservativen und progressiven Elementen? Auf der einen Seite bekannte man sich zum dreigliedrigen Schulsystem und zur damit verbundenen „immer notwendigen Dauerauslese“. Die Anforderungen der Gegenwart könnten nicht gelöst werden, wenn nicht „eine geistig tragende Schicht von hohem Niveau“ herangebildet werde. Zudem sah man durchaus den „immer stärker werdende[n] Andrang zu den weiterführenden Schulen“293 als eines der größten Probleme des bestehenden Schulwesens. Auf der anderen Seite wollte man diese Auslese aber durch die Einführung einer verpflichtenden „Förderstufe“ in den Klassen 5 und 6 später durchführen und dadurch sozial gerechter gestalten sowie den „Bildungsstand auch der Volksschüler“ erhöhen. Der Ausschuss argumentierte, der „differenzierende Mittelbau“ – ein weiterer Begriff für die Förderstufe – ermögliche eine bessere Begabungserkennung und Begabungsförderung des einzelnen Schülers und erfülle damit gleich zwei ebenfalls durchaus progressivere Forderungen des Ausschusses:294 Zum einen werde so dem „vermehrte[n] Bedarf der modernen Gesellschaft an höher gebildetem Nachwuchs“295 Sorge getragen, zum anderen könne er „ständische Schranken abtragen helfen“296 und somit der „Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit“ nachkommen.297 Der Ausschuss war somit zwar für die Ausweitung der höheren Schule, befürchtete aber, dass dies ein Ausbluten der Volksschule bewirken könn291
292 293 294 295
296 297
Vgl. ebenda: „Das westdeutsche Schulwesen bleibt einer Vielzahl sich widersprechender Forderungen ausgesetzt, die vonseiten der Elternschaft, der Hochschulen, der Wirtschaft, der Berufs- und Fachverbände, der Standesorganisationen und anderer Mächte in Staat und Gesellschaft geltend gemacht werden. Jede Institution und jede gesellschaftliche Gruppe ist verständlicherweise bemüht, die ihren Interessen entsprechenden Bildungsansprüche bei der erstrebten oder befürchteten Reform durchzusetzen. Diesem Widerstreit partikulärer Interessen stellt der Ausschuß in seinen Vorschlägen eine Ordnung des Schulwesens gegenüber, die auf einem für das ganze Volk verbindlichen Fundament der Bildung und Gesittung beruht und der Entwicklung unserer Kultur und unserer pädagogischen Einsicht gerecht wird.“ Derbolav: Strukturfragen, S. 252. Vgl. Habermas: Konservativer Geist, S. 47: „Der magische Kreis dieses in modernistischer Anpassung sich verstrickenden Konservatismus“. Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Rahmenplan, S. 8. Vgl. ebenda, S. 14. Ebenda, S. 16. Vgl. auch ebenda, S. 9: „Die moderne Gesellschaft braucht für ihren Bestand und ihre Entwicklung mehr Nachwuchs mit gehobener Schulausbildung als bisher.“ Vgl. ebenda, S. 12, 14, 34. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 16. Ganz deutlich auch noch einmal ebenda, S. 24: „Die Förderstufe soll also vor allem dazu helfen, daß nach den Maßen der sozialen Gerechtigkeit und des steigenden Bedarfs unserer Gesellschaft an höher gebildetem Nachwuchs jedem Kinde der Weg sich öffnet, der seiner Bildungsbefähigung entspricht.“
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te, wenn dieser in den oberen Klassen die befähigteren Kinder entzogen würden. Die Volksschule würde – so der zeitgenössische Jargon – „ausgepowert“.298 Dieses Argument entsprach jedoch eher einer konservativen Sichtweise.299 Bereits in der Weimarer Republik war dieses Argument von konservativer Seite gegen die Ausweitung der höheren Schule angebracht worden.300 Der ambivalente Charakter des Rahmenplans zeigt sich besonders gut bei seinen Plänen für die höhere Schule, weil er auch hier versuchte, einen Mittelweg zu finden zwischen Allgemeinbildung und spezifischer Ausbildung. Laut Ausschuss habe die höhere Schule nämlich einen „doppelten Auftrag“: Einerseits müsse sie „den ständig wachsenden Bedarf der modernen Zivilisation an qualifizierten Nachwuchskräften decken“, andererseits stünde sie „nach wie vor im Dienst ihres alten Bildungszieles: der Überlieferung der klassischen Gehalte der europäischen Kultur“.301 Man brauche nämlich „dringend einen breiten Nachwuchs für den rasch steigenden Bedarf der technischen Welt“, dürfe aber „den Eintritt in diese Welt nicht mit einer Verkürzung unserer geistigen und geschichtlichen Dimension erkaufen“.302 Um diesem doppelten Auftrag gerecht zu werden, schlug das Gremium vor, das höhere Schulwesen in das „Gymnasium“ und die „Studienschule“ zu teilen. Das „Gymnasium“, das nach der Förderstufe in Klasse 7 beginnen sollte, sollte sich ab der 9. Klasse in einen neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig gabeln. Die Schüler der „Studienschule“ hingegen sollten keine Förderstufe besuchen, sondern bereits in der 5. Klasse auf die weiterführende Schule wechseln. Dort sollten sie dann als erste Fremdsprache Latein und als zweite Englisch erlernen. Ab der 8. Klasse sollte dann auch die Studienschule in zwei unterschiedliche Zweige aufgespalten werden. In einer Richtung sollten die Schüler Griechisch, in der anderen Französisch als dritte Fremdsprache lernen.303 So entsprach die Gliederung der höheren Schule ungefähr den herkömmlichen Typen, mit Ausnahme, dass der mathematisch-naturwissenschaftliche sowie der neusprachliche Typ nur sieben statt neun Jahre lang waren. An der insgesamt 13-jährigen Dauer der Schulbildung bis zum Abitur wollte man aber festhalten.304 Die Idee, das altsprachliche Gymnasium zur Studienschule zu machen, erinnert in gewisser Weise an die Einheitsschulvorstellungen aus Weimarer Zeit, 298 299 300 301
302 303 304
Vgl. ebenda, S. 8f. Vgl. Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213. Siehe Kapitel II.1.3.2. Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Rahmenplan, S. 31. Trotz der vielen Kritik an dieser Ansicht hielt der Deutsche Ausschuss daran fest, vgl. Deutscher Ausschuss: Empfehlungen für die Neuordnung der Höheren Schulen von 1964, S. 549f. Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Rahmenplan, S. 32. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
als man ebenfalls einen altsprachlichen Sonderzweig hatte einrichten wollen. Allerdings hatte man damals eher mit den nötigen Sachkenntnissen für ein geisteswissenschaftliches Studium argumentiert. Nun argumentierte man eher ideell: „Würde die Besinnung auf diese Gehalte in der geistig tragenden Schicht unseres Volkes fehlen, so wäre unser geistiges Leben von einem gefährlichen Verlust an Tiefe bedroht.“305 Dass der Ausschuss mit der Konstruktion der Studienschule am altsprachlichen Gymnasium festhielt, also nicht gewillt war, Latein als erste Fremdsprache zugunsten von Einheitlichkeit und Durchlässigkeit abzuschaffen, zeigt – zusammen mit gelegentlichen Warnungen vor „den Gefahren des Spezialistentums“306 – wie sehr auch die Macher des Rahmenplans noch mit Argumenten operierten, die aus der Tradition des „christlichen Humanismus“ bekannt sind. Zudem erinnert die Argumentation für die Bedeutung der lateinischen Sprache – sie sei „nicht nur die Sprache der römischen Antike“, sondern auch „die universale Sprache der christlichen Welt“307 – stark an die Formulierungen Josef Schnippenkötters. Auch umwehte die Idee der Studienschule der Hauch des Elitären. Zwar wehrte sich der Ausschuss präventiv gegen diese Vorwürfe, indem er häufig betonte, dass nicht „alle starken Begabungen der Studienschule zuzuführen“ seien.308 Dennoch hielt er die Studienschule für die anspruchsvollere Anstalt, „weil sie in den Sprachen wegen des grundständigen Lateinischen und des Griechischen um ein beträchtliches schwerer ist, ohne in der Mathematik hinter dem Gymnasium zurückzubleiben“.309 Diese Würdigung des altsprachlichen Gymnasiums könnte auf den Einfluss Georg Pichts zurückzuführen sein. Picht war seit seiner eigenen Schulzeit ein großer Freund der alten Sprachen und wollte, als er in den 1950er Jahren die Reformschule „Birklehof “ leitete, diese an den alten Sprachen ausrichten.310 Torsten Gass-Bolm bewertet den Rahmenplan in der Rückschau als „Konzept des Übergangs“, weil er zwar viele traditionelle Elemente beinhalte, dieser aber mit „richtungweisenden Konzeptionen“ wie dem Versuch, soziale Schranken abzubauen, zu verbinden suchte.311 Für Herrlitz, Hopf und Titze stellt er sogar den 305 306 307 308 309 310
311
Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 49. Ebenda; ähnlich auch S. 36. Ebenda, S. 46; ähnlich auch S. 36. Latein sollte im Übrigen auch am „Gymnasium“ als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten werden. Vgl. ebenda, S. 44. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 478–481; Brachmann: Reformpädagogik, S. 137–139. Picht suchte auch den Kontakt zu den deutschen Altertumswissenschaftlern. So fand beispielsweise das erste Treffen der späteren Mommsen-Gesellschaft 1949 auf dem Birklehof statt, vgl. Rebenich: Altertumswissenschaften, S. 257f., 280–282. Siehe dazu ausführlich Kapitel IV.3.3. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 181: Bereits neun Jahre später beurteilte beispielsweise Hans Scheuerl die Vorschläge als „Patina des Historischen“ und „seltsam antiquiert“ (Original bei Scheuerl: Gliederung, S. 77).
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„Wendepunkt der schulpolitischen Diskussion“312 dar. Auf jeden Fall entfachte er die „erste bundesweite öffentliche Reformdiskussion der Nachkriegszeit“,313 an der sich einiges über die bildungspolitische Stimmung der Bundesrepublik aufzeigen lässt. Daher soll sie im Folgenden näher betrachtet werden. Wie nicht anders zu erwarten, reagierten die Lehrerverbände der höheren Schulen ablehnend auf die Idee der Förderstufe. Sie verlagere das Problem der Auslese nur in die 7. und 8. Klasse und setze die Schüler in der Förderstufe unter Druck und Leistungszwang.314 Ohnehin gebe es gar keine „Begabungsreserven“, die gehoben werden müssten.315 Daher sei die bisherige Ausleseform durchaus ausreichend, die bisweilen nur an „zu großer Milde“ kranke.316 Außerdem müsse das Gymnasium neunjährig bleiben. Auch der Neuphilologenverband lehnte die Förderstufe ab, seien doch sieben Jahre neusprachlicher Unterricht auf gymnasialem Niveau zu wenig.317 Generell grassierte die Angst, dass ein späterer Beginn des Gymnasiums „das Leistungsniveau dieser Schulen senken“ werde.318 Auch Teile der Wirtschaft fürchteten einen „Leistungsabfall“.319 Befürwortet wurde die Förderstufe unter anderem von der SPD,320 kritisiert von der CDU. Für die CDU-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag stellte die Förderstufe einen „besonders kraftvolle[n] Ausdruck staatsmonopolistischer Auffassung im Schulwesen“ dar, den die SPD schon immer verfolgt habe. Dadurch wolle 312 313
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Herrlitz/Hopf/Titze: Deutsche Schulgeschichte, S. 168. Ähnlich auch: Klafki: Fünfziger Jahre, S. 160. Kemper: Schule und bürgerliche Gesellschaft, S. 247. Die engagierte Diskussion ist auch schon den Zeitgenossen aufgefallen, so schrieb beispielsweise Habermas in seinem Artikel „Konservativer Geist – und die modernistischen Folgen“ 1959: Der Rahmenplan „wurde in den Tageszeitungen mit Schlagzeilen annonciert, Leitartikel folgten. Wohl geht inzwischen die Diskussion in den Fachblättern weiter“, S. 40. Beispielsweise verfasste der Soziologe Helmut Schelsky eine über 180 Seiten lange Schrift, in der er sich detailliert am „Rahmenplan“ abarbeitete, vgl. Schelsky: Anpassung oder Widerstand. Vgl. Deutscher Philologenverband: Entschließungen zum Rahmenplan, in: HS 7 (1959), S. 131. Ebenda. Ähnlich auch Stellungnahme des Deutschen Altphilologenverbandes zum „Rahmenplan zur Umgestaltung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens“ des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, in: MDAV 3,1 (1960), S. 1–4, hier S. 2; Bayerischer Philologenverband: Stellungnahme zum Rahmenplan zur Umgestaltung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens, 11.5.1959, BayHStA, MK 53213. Deutscher Philologenverband: Rahmenplan, S. 30. Auch die Landesverbände lehnten die Förderstufe ab, vgl. dazu Hersfelder Zeitung, 23. Juli 1959. Vgl. Bohlen, Adolf. Das Neusprachliche Gymnasium und der Bonner Rahmenplan, in: DNS, NF 8 (1959), S. 501–508, hier S. 504. Deutscher Philologenverband: Entschließungen zum Rahmenplan, in: HS 7 (1959), S. 131. Ähnlich auch Erlinghagen: Schulreformplan, S. 285. Gewerbliche Wirtschaft des Landes Hessen: Zum Rahmenplan, S. 162. Vgl. Presseveröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer, 1.11.1959, LAV NRW, NW 383, Nr. 178, Bl. 67.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
die SPD „die Lenkung der Schülerschaft im allgemeinen und die Förderung der Begabten im besonderen allein in staatliche Hand“ überführen. Die CDU müsse mit einem Konzept zum „Schutz des Elternrechts“ und zur „Sicherung der Freiheitlichkeit“ dagegenhalten.321 Hier kamen die alten ideologischen Geschütze in den bildungspolitischen Vorstellungen der Parteien wieder zum Vorschein. Wie stark die Idee einer Förderstufe, also einer Verlängerung des gemeinsamen Lernens um zwei Jahre, auf Seiten der systemimmanenten Reformer mit dem alten Schreckgespenst Einheitsschule gleichgesetzt wurde, zeigt die Diskussion um den sogenannten „Bremer Plan“, ein Konzept, das die Volksschullehrervertretung „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände“ (AGDL) vorgelegt hatte.322 Darin forderte die Arbeitsgemeinschaft, die – nach ihrer Meinung – positiven Grundforderungen des Rahmenplanes nach sozialer Gerechtigkeit und längerem gemeinsamen Lernen mit größerer Konsequenz durchzusetzen. Daher schlugen sie vor, dass eine das 5. und 6. Schuljahr umfassende Mittelstufe für alle verpflichtend werden sollte.323 Dies erregte einige Gemüter: Soziale Gerechtigkeit sei zwar ein erstrebenswertes Ziel, aber „[g]ibt es für den Begabten keine Gerechtigkeit?“, fragten einige empörte Zeitgenossen.324 Zudem warf man dem Bremer Plan vor, er sei „kommunistisch infiltriert [. . .]“325 und nicht zu unterscheiden vom „System der ‚Einheitsschule‘ Ulbrichtscher Prägung“.326 Nicht zuletzt vermutlich weil er dem Bildungswert des Christentums kaum Platz einräumte.327 Eine Abschaffung der alten Sprachen sah aber auch der Bremer Plan nicht vor. Trotz Förderstufe konnte auch in diesem Entwurf Latein „unter besonderen Umständen“ erste Fremdsprache sein.328 Dennoch habe der Bremer 321
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Vermerk des Kultusministers Schütz für die Mitglieder der kulturpolitischen Arbeitsgemeinschaft der CDU-Fraktion im Landtag von NRW, 28.9.1959, LAV NRW, NW 147, Nr. 98, Bl. 98–101. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände: Plan zur Neugestaltung des deutschen Schulwesens. Vgl. ebenda, S. 10f. Mauz: Die Schule im 20. Jahrhundert, in: Die Welt, 13. Juni 1960. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Ernigholz: Jedem das Seine, in: Bremer Nachrichten, 10.6.1960; Ist die „Einheitsschule“ die Lösung?, in: Sonntagsblatt (Hamburg), 26.6.1960. Becker: Bremer Plan, in: Kieler Nachrichten, 25.6.1960. So der schleswig-holsteinische Kultusminister Edo Osterloh (CDU) nach Schröder: Auf der Suche nach der Schule von morgen, in: Weser-Kurier (Bremen), 24.6.1960; Ähnliches zu finden bei Stobbe: Aufbruch ins Bildungsland Utopia, in: Hamburger Echo, 14.6.1960; Willers: Die Einheitsschule als Gespenst?, in: Kieler Nachrichten, 25.6.1960; Hans Schm.: Keine Schulreform östlicher Prägung, in: Kieler Nachrichten, 9.7.1960; Körner: Kongreß der Lehrer und Erzieher, in: Frankfurter Rundschau, 22.6.1960. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände: Plan zur Neugestaltung des deutschen Schulwesens, S. 13; Jauch: Wie sieht die Schule von morgen aus?, in: Der Tag (Berlin-West), 24. Juni 1960; Krisinger: Ein Knäul Irrtümer. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände: Plan zur Neugestaltung des deutschen Schulwesens, S. 10, 20f.
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Plan, so seine Kritiker, eine „Tendenz zur Vermassung“329 und sei ein „vollendetes Bekenntnis zum Materialismus“.330 Antibolschewismus, Antimaterialismus und die Angst vor Vermassung waren jene Angststereotypen, die in der Nachkriegszeit im geistigen Umfeld des „christlichen Humanismus“ zu finden waren. In der Auseinandersetzung um das deutsche Schulwesen hatten sie auch Anfang der 1960er Jahre ihre Wirkmächtigkeit noch nicht verloren. Wie waren wiederum die Reaktionen auf die Idee der Studienschule? Auch diese kam bei den konservativen Akteuren nicht gut an, da sie die Einheit der höheren Schule aufgebe331 und somit auch „die Hochschulreife in eine höhere und eine niedere geteilt“ werde.332 Die Neuphilologen empfanden es als Zurücksetzung des Englischen gegenüber dem Lateinischen, dass diesem durch die Studienschule ein neunjähriger Lehrgang zugestanden wurde, den neuen Fremdsprachen aber nicht. Sie beschwerten sich, dass „immer noch die längst überholte Auffassung“ vorherrsche, „daß das Englische eine ‚leichte‘ Sprache sei und nicht einer so sorgfältigen Grundlegung bedürfe wie das Latein“.333 Die Vertreter der naturwissenschaftlichen Fächer beklagten ebenfalls die „ausgesprochene Randstellung“, die sie vor allem auf der Mittelstufe der Studienschule einnehmen würden. Das sei umso mehr betrüblich, als sie der „einzig [. . .] verbleibende [. . .] Typ echter höherer Schulen“ sei.334 Auch dem DAV behagte der Vorschlag der Studienschule nur zum Teil. Die Altphilologen hielten die Einheit der höheren Schule für wichtig und glaubten zudem, dass die Existenz einer Studienschule alles andere als sicher wäre.335 Der Rahmenplan enthielt nämlich einen Passus, nachdem Studienschulen nur dort eingerichtet werden dürften, wo ein Gymnasium in der Nähe existierte.336 Das bedeutete, dass Studienschulen lediglich in größeren Städten hätten gegründet werden können.337 Infolgedessen käme den Studienschulen eine „Randstellung“ zu.338 Trotzdem begrüßten die Altphilologen natürlich die Beibehaltung des 329 330 331
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Mahrenholtz: Die Tendenz ist nur allzu deutlich, Kieler Nachrichten, 2.7.1960. Mit katholischer Auffassung unvereinbar. Direktor Krisinger: „Bremer Plan Neuhumanismus mit sozialistischer Färbung“, in: Oldenburger Volkszeitung, 15.10.1960. Vgl. Deutscher Philologenverband: Entschließungen zum Rahmenplan, in: HS 7 (1959), S. 131; Höfling: Umgestaltung, S. 41; Schultze: Rahmenplan, S. 56; Zerstört die Einheit der Höheren Schule nicht!, in: Landshuter Zeitung, 4.7.1959. Derbolav: Strukturfragen, S. 258. Bohlen, Adolf. Das Neusprachliche Gymnasium und der Bonner Rahmenplan, in: DNS, NF 8 (1959), S. 501–508, hier S. 504. Höfling: Umgestaltung, S. 43. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Altphilologenverbandes zum „Rahmenplan zur Umgestaltung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens“ des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, in: MDAV 3,1 (1960), S. 1–4, hier S. 2. Vgl. Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Rahmenplan, S. 18. Vgl. Erlinghagen: Schulreformplan, S. 382. Stellungnahme des Deutschen Altphilologenverbandes zum „Rahmenplan zur Umgestal-
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altsprachlichen Gymnasiums339 ebenso wie der „Verband der katholischen Lehrerschaft“340 und der „Ettlinger Kreis“.341 Letzterer war eine Vereinigung, in der sich 1957 Vertreter von Industrie- und Wirtschaftsunternehmen zusammengeschlossen hatten, um ihrerseits Vorschläge zum „Aufbau eines modernen Schulwesens“ zu machen.342 Er begrüßte es ausdrücklich, „daß trotz aller dieser notwendigen Auflockerungen unseres Schulsystems die humanistischen Traditionen unserer Bildung in der Studienschule fortgesetzt werden“.343 In der Diskussion um den Rahmenplan ging vieles durcheinander. Jede Fächergruppe fühlte sich auf irgendeine Weise benachteiligt. Das UNESCO-Institut sah im Rahmenplan den alten Dualismus zwischen humanistischer und naturwissenschaftlicher Bildung wiederbelebt.344 Diese Einschätzung verwundert aus der Rückschau allerdings, denn gerade die Arbeitsgemeinschaft deutscher höherer Schulen, in der naturwissenschaftliche und humanistische Fächer zusammengearbeitet hatten, hatte gezeigt, dass dies nicht der Fall war. Es ging vielmehr wie bereits in der Weimarer Republik darum, welche Bildungsinhalte als allgemeinbildend und welche als fachspezifisch bildend angesehen wurden.345 Dabei wollten alle Fächer beweisen, dass sie „Bildung“ und nicht „Ausbildung“ vermittelten. In Bezug auf den Begriff „Allgemeinbildung“ muss zudem konstatiert werden, dass er seit Ende der 1950er Jahre als Gegenbegriff zur Fach- und Spezialbildung verwendet wurde.
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tung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens“ des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, in: MDAV 3,1 (1960), S. 1–4, hier S. 2; vgl. auch Verband der katholischen Lehrerschaft Deutschlands: Stellungnahme zum Rahmenplan vom 14. Februar 1959, S. 60. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Altphilologenverbandes zum „Rahmenplan zur Umgestaltung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens“ des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, in: MDAV 3,1 (1960), S. 1–4, hier S. 2; Haag, Erich: Die gegenwärtige schulpolitische Lage, in: MDAV 1 (1958), S. 3–7, hier S. 7. Vgl. Verband der katholischen Lehrerschaft Deutschlands: Stellungnahme zum Rahmenplan vom 14. Februar 1959, S. 60. Die katholischen Lehrer waren auch vorher schon stark für den Lateinunterricht eingetreten, hatten ihn auch einmal als erste Fremdsprache für alle Gymnasien empfohlen, vgl. Verein katholischer deutscher Lehrerinnen an Sekretariat der KMK, Mai 1954: Empfehlungen und Anregungen, BayHStA, MK 53211. Die Evangelische Kirche war auch für die Schulung in den alten Sprachen, v. a. war sie für die Einführung griechischer Arbeitsgemeinschaften, um den theologischen Nachwuchs vorzubilden. Sie wollten aber auch die Begegnung „mit Bildungsgütern der Antike“ für möglichst breite Schicht, vgl. Auszug aus dem Schreiben der Ev. Kirche in Deutschland, 1.10.1954, BA Koblenz, B 304/2956, Bl. 135. Ettlinger Kreis: Entschließung des vierten und fünften Ettlinger Gesprächs. Zum Ettlinger Kreis später noch weiteres, siehe Kapitel IV.3.3; IV.3.3.1. Plenarsitzung KMK, 25./26.9.1958 in Berlin, BayHStA, MK 53213. Vgl. auch Müller-Rolli: Lehrerbildung, S. 405. Ettlinger Kreis: Entschließung des vierten und fünften Ettlinger Gesprächs, S. 23. Vgl. UNESCO-Institut für Pädagogik: Rahmenplan, S. 167. Siehe dazu Kapitel II.1.3.2; 3.3.2.
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2.2 Fachliche Auseinandersetzungen
Neben der bildungspolitischen Ebene war auch die fachliche Auseinandersetzung, sei es in pädagogischer und fachdidaktischer Hinsicht oder zwischen den Fremdsprachen, in den 1950er Jahren geprägt von Diskussionen, die zwischen Festhalten an traditionellen Einstellungen und neuen Denkanstößen changierten. Dabei spielte vor allem das Verständnis von Humanismus und humanistischer Bildung eine wichtige Rolle. 2.2.1 Theodor Litt und der Humanismus
Theodor Litt, geboren 1880, hatte in seinem Leben schon viele pädagogische Schlachten geschlagen. Wie so viele der damaligen Pädagogikprofessoren war auch Litt promovierter klassischer Philologe. Während der Weimarer Republik war er mit Aufsätzen gegen die Einheitsschule in Erscheinung getreten. In der Bundesrepublik erregte seine Schrift „Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt“ von 1955 Aufsehen.346 Darin kritisierte er die Ausrichtung der Bildungsinhalte an den Geisteswissenschaften. Diese Ausrichtung hatte sich gerade in den Reformen der Nachkriegszeit mit ihrer Orientierung am „christlichen Humanismus“ immer wieder manifestiert. Litt ging in seiner Schrift zwar hart mit dem Neuhumanismus ins Gericht, wollte seine Theorie aber nicht als Gegenentwurf, sondern als Weiterentwicklung verstanden wissen, die die Technik nicht bekämpfe, sondern in das Bildungskonzept integriere.347 So kritisierte Litt, dass „auch heute noch, in einer um ihre totale Neugestaltung ringenden Welt“ die Pädagogik sich an den Gedanken der Zeit Wilhelm von Humboldts orientiere.348 Die Konzentration auf das „Innere“, auf den „Geist“ habe die „Wertminderung“ des „Äußeren“, also von allem nicht Geistigen wie Technik, Handwerk oder Arbeit, bewirkt.349 Alles, was nicht dem „Wahren, Guten, Schönen“ diene, sei „utilitaristisch“ und damit keine wahre Bildung.350 Dies habe „eine Kriegserklärung an die moderne Welt“ dargestellt.351 Dadurch habe man „in dem Heraufsteigen der technisierten Arbeitswelt die Folge eines Fehltritts“ gesehen, „durch die der Mensch seinem Auftrag untreu geworden sei“.352 In der heutigen Zeit müsse man aber, so Litt, einsehen, dass „der Lebenszustand, der sich in der Kooperation von Naturwissenschaft, Technik und industrieller Produktion“ gestaltet habe, kein „als Sündenstrafe zu ertragendes Schicksal“ sei, 346 347 348 349 350 351 352
Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 25, 177f. Zu Litts pädagogischem Konzept in den 1950er Jahren vgl. auch Kurig: Technik; Kurig: Bildung, S. 546–591. Litt: Bildungsideal, S. 147. Litt: Bildungsideal, S. 12f. Ebenda, S. 55–56. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 63. Ebenda, S. 103.
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sondern „ein gigantisches Werk“, auf das der Mensch stolz sei könne.353 Daher müsse sich der Schüler ebenso mit Naturwissenschaften, Technik, dem modernen Verwaltungsapparat, kurz der „modernen Arbeitswelt“ beschäftigen, um den ständig neuen Aufgaben gewachsen zu sein.354 Das Wie der Beschäftigung sei ohnehin wichtiger als das Was. Mit Hilfe der „Reflexion“ oder der „Selbstbesinnung“ werde der Schüler sich nicht „an die der Arbeitswelt entspringenden Sachforderungen“ verlieren, sondern ein selbstbestimmtes Subjekt bleiben.355 Insgesamt ist Litts Schrift sehr abstrakt. Er behandelt kaum tatsächliche Bildungsinhalte, daher wird auch nicht klar, was er vom altsprachlichen Unterricht hielt. Auch fällt in der ganzen Schrift nicht einmal das Wort „Humanismus“. Litt verwendet stattdessen den Begriff „Humanität“.356 Interessant ist, dass Ende der 1950er Jahre eine Reihe von Pädagogikprofessoren, die dazu noch klassische Philologen waren, gegen den „Humanistenhochmut“357 publizistisch tätig waren. Neben Litt seien als Beispiele sein Nachfolger in Bonn Josef Derbolav und der Frankfurter Professor Heinrich Weinstock genannt.358 Ihnen ging es nicht darum, den alten Sprachen einen Bildungswert abzusprechen, sondern darum, auch andere Bildungsinhalte als lernenswert anzuerkennen. Die wichtigste Gegenrede zu Litt aus dem Kreise der Altphilologen verfasste Arnold Bork mit einem Aufsatz in der Zeitschrift Das Gymnasium mit dem Titel „Theodor Litts Angriff auf das humanistische Bildungsideal“ von 1957. Darin räumte er ein, dass auch für die Altphilologen die technischen Errungenschaften „Großtaten des menschlichen Geistes“ seien, die „zum Segen der Menschheit dienen können“.359 Allerdings dürfe der Mensch die Gefahren nicht außer Acht lassen, die drohen würden, wenn er diese technischen Errungenschaften überschätze oder missbrauche. Die Erfindung der Atombombe diente Bork dafür als Beispiel.360 Die humanistische Bildung diene gerade in der modernen Arbeitswelt als Orientierung, um sich vor den Gefahren der Technisierung zu schützen. Insofern war Borks Argumentation ganz aus dem ideengeschichtlichen Repertoire des „christlichen Humanismus“ geschöpft. Bork verteidigte seine Position aber auch damit, dass er behauptete, Litt gehe von Humanismusvorstellungen aus, „die tatsächlich einmal in Humanistenkreisen gegolten haben, heute aber
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Ebenda, S. 104. Vgl. Müller: Litt, S. 709f. Litt: Bildungsideal, S. 123f. Vgl. auch S. 118–124. Ähnliches lässt sich später bei Hartmut von Hentig und Saul B. Robinsohn finden. Siehe Kapitel IV.3.3.1; IV.3.3.4. Vgl. ebenda, S. 12f. Weinstock, Heinrich: Wann wird eine Schulreform ihrer Zeit gerecht?, in: FAZ, 14.11.1959. Vgl. ebenda; Derbolav: Strukturfragen. Zu Weinstock vgl. Kurig: Bildung, S. 446–545. Bork, Arnold: Theodor Litts Angriff auf das humanistische Bildungsideal, in: Gymnasium 64 (1957), S. 391–405, hier S. 403. Vgl. ebenda, S. 403f.
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überwunden sind“.361 Jeder Humanist wisse, „daß manch einer für den Wert seiner Bewegung Argumente anführt, die von den klarblickenden führenden Köpfen längst aufgegeben“ worden seien.362 Hier wird ein bekanntes Muster deutlich, das die klassischen Philologen häufig bei Angriffen verwandten: Man stimmte dem Gegner zu und behauptete, dass die altphilologische Avantgarde gedanklich bereits von alten Mustern Abstand genommen habe. Nur das „Fußvolk“ glaube noch an alte Stereotype. Dennoch war die Schrift Litts auch für die klassischen Philologen ein wichtiger Impuls, denn Litt hatte zum ersten Mal deutlich gemacht, dass dem Humboldt’schen Neuhumanismus eine Modernefeindlichkeit inhärent war. Dass Litt mit seiner Einschätzung durchaus recht hatte, zeigen die in Kapitel IV.2.1.2 und IV.2.1.3 aufgezeigten Diskussionen um die Stellung der Naturwissenschaften. 2.2.2 Adolf Bohlen und die neuen Sprachen
Neue Aspekte in die Diskussion um den Humanismusbegriff brachte auch Adolf Bohlen.363 Bohlen war in der Weimarer Republik Vorsitzender des Philologenverbandes gewesen und hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes (ADNV) beteiligt.364 Er war schließlich Leiter des „Landesinstituts für Neue Sprachen“ in NordrheinWestfalen geworden.365 Bohlen kämpfte ebenso wie Litt gegen den „Humanistenhochmut“ an, der nicht nur die naturwissenschaftliche Bildung gering schätzte, sondern auch die modernen Fremdsprachen. Er und der 1. Vorsitzende des ADNV Richard Schade hatten es sich seit Mitte der 1950er Jahre zur Aufgabe gemacht, für eine bessere Stellung des neusprachlichen Unterrichts an den Gymnasien zu kämpfen. Ihr konkretes Ziel war es, am neusprachlichen Gymnasium die Sprachenfolge Englisch – Französisch – Latein durchzusetzen.366 Hier gerieten sie in Konflikt mit dem DAV. Dieser lehnte Latein als dritte Fremdsprache vehement ab.367 Latein wäre dann „bildungsmäßig wenig wirksam“.368 Insgesamt vertrat der DAV Ende der 1950er noch die Position, dass Latein eigentlich 361 362 363 364 365 366
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Ebenda, S. 404. Ebenda, S. 404f. Zum Humanismusbegriff bei den Neuphilologen vgl. Ruisz: Umerziehung, S. 127–138. Zur Wiedergründung des ADNV, zur Person Bohlens und zu den Kontinuitäten zum Nationalsozialismus nach 1945 vgl. Ruisz: Umerziehung, S. 291–298; Homan: Bohlen. Vgl. Homann: Bohlen, S. 188. Vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 129–135; Schade, Richard: Braucht die Universität nur Lateiner? [vermutl. 1958/59], BayHStA, MK 53213; Richard Schade, 1. Vorsitzender ADNV, an Erich Haag, 1. Vorsitzender DAV, 19.12.1956, in: MDAV 1, 2/3 (1958), S. 5–7. Vgl. Erich Haag, 1. Vorsitzender DAV, an Richard Schade, 1. Vorsitzender ADNV, 4.10.1956, in: MDAV 1,2/3 (1958), S. 3–5. Haag, Erich: Die gegenwärtige schulpolitische Lage, in: MDAV 1 (1958), S. 3–7, hier S. 7.
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nur als erste Fremdsprache wirklich brauchbar sei. Vor allem an Gymnasien mit sprachlichem Schwerpunkt müsse es „als die die sprachlichen Kategorien grundlegende Sprache als erste Fremdsprache gelehrt werden“.369 Als zweite Fremdsprache sei es zwar nicht zu begrüßen, aber verkraftbar, denn auch ein siebenjähriger Lateinunterricht könne, „wenn er nur mit der nötigen Strenge erteilt wird, wertvolle Früchte“ haben.370 Adolf Bohlen ließ sich davon aber nicht beirren. Gemeinsam mit dem ADNV warb er unermüdlich für seine Interessen. In den Akten der Kultusministerien von Bayern und Nordrhein-Westfalen finden sich zahlreiche Schreiben, in denen sich Bohlen und Schade für Englisch als erste und Französisch als zweite Fremdsprache einsetzten.371 Dabei plädierte vor allem Bohlen für eine Erweiterung des Humanismusbegriffs: Auch neuere Fremdsprachen vermittelten humanistische Bildung.372 In seiner Schrift „Der moderne Humanismus“ legte er dar, dass alle Argumente, die für Latein als erste Fremdsprache angeführt werden, entweder ungültig seien oder auch für die modernen Fremdsprachen gelten würden. Vor allem wolle er „mit der Legende Schluß machen“, dass Latein eine logische Sprache sei. Sie sei im Gegensatz zum Englischen voller Widersprüchlichkeiten.373 Allerdings bestritt er nicht, dass Sprachen generell eine gute „formale Geistesbildung“ erwirkten, dies gelte aber ebenso für die lebenden Sprachen.374 Zudem leiste an den Gymnasien „jedes Fach [. . .] seinen vollen Beitrag zur geistigen Bildung“.375 Darüber hinaus wehrte Bohlen sich gegen die weit verbreitete Annahme, dass Englisch eine „leichte“ Sprache sei.376 Auch hielt Bohlen die lateinische Literatur für kulturell zweitrangig, könne man doch die römische Kultur mit ihrem „Element der Brutalität“ keinesfalls als „[v]orbildhaft 369 370
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Ebenda, S. 6; ähnlich auch S. 5. Ebenda, S. 7. Ähnlich auch: Probleme des lateinischen Anfangsunterrichts, in: MDAV 7,1 (1964), S. 8–12; Hungenroth, Hermann: Zum 5-jährigen Lateinunterricht, in: MDAV 7,3 (1964), S. 4–6. Vgl. Landesinstitut für Neue Sprachen, Adolf Bohlen an Ministerialdirigent Holzapfel, 23.11.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461; ADNV an Kultusminister des Landes Bayern, 10.7.1954, BayHStA 53211; ADNV an Kultusminister des Landes Bayern, 22.10.1954, BayHStA 53211; Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213; Landesinstitut für Neue Sprachen, Adolf Bohlen, an Präsidenten der KMK, 10.9.1961, BA Koblenz, B 304/1955, Bl. 60; Adolf Bohlen an Auswärtiges Amt, 10.9.1961, BA Koblenz, B 304/1955, Bl. 61–62. Vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 26f., S. 85–135. Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213; vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 100. Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213; vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 112. Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213. Bohlen, Adolf: Das Neusprachliche Gymnasium und der Bonner Rahmenplan, in: DNS, NF 8 (1959), S. 501–508, hier S. 504.
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für unsere Zeit“ ansehen.377 Diese Kritik bedeutete allerdings nicht, dass Bohlen ein Gegner der Antike oder des altsprachlichen Unterrichts gewesen wäre. Er war für die Beibehaltung des altsprachlichen Gymnasiums mit Latein als erster Fremdsprache, verlangte aber die gleiche Anerkennung für die modernen Schulformen.378 Er warb für die Zusammenarbeit mit den Altphilologen, um gemeinsam zwei Thesen zu verteidigen: zum einen, dass Fremdsprachenunterricht „eine der beiden Hauptachsen der höheren Bildung“ darstelle, und zum anderen, dass „er der Bildungsaufgabe der höheren Schule gemäß in humanistischem Geist erteilt werden“ müsse.379 Bohlen warb mit den modernen Lehrmethoden des neueren Fremdsprachenunterrichts,380 Richard Schade mit den Forderungen nach Französisch von „internationalen Gremien“, der Wirtschaft und der Industrie.381 Darüber hinaus wehrte sich Bohlen gegen die Überbewertung von Lateinkenntnissen für das Studium. Fünf Jahre Latein müssten zum Erlangen des Latinums genügen.382 Auch dass Latein eine Grundlage für andere Fremdsprachen lege und daher logischerweise zuerst gelernt werden müsse, dementierte er. Es biete im Gegenteil als dritte Fremdsprache eine ausgezeichnete Ergänzung für Englisch und Französisch.383 Die Altsprachler nahmen die Bestrebungen der Neusprachler sehr wohl wahr, sahen viele der Argumente aber nicht ein. Latein und Griechisch bildeten besser formal als die modernen Fremdsprachen, weil sie die nötige Distanz zur Muttersprache hätten.384 Gerade dieses Argument sollte in den 1960er Jahren
377 378 379 380
381 382
383 384
Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213. Ebenda; ähnlich auch Schade, Richard: Braucht die Universität nur Lateiner? [vermutl. 1958/59], BayHStA, MK 53213. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 112; Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213. Vgl. Landesinstitut für Neue Sprachen, Adolf Bohlen, an Präsidenten der KMK, 10.9.1961, BA Koblenz, B 304/1955, Bl. 60; Adolf Bohlen an Auswärtiges Amt, 10.9.1961, BA Koblenz, B 304/1955, Bl. 61–62; Landesinstitut für Neue Sprachen, Adolf Bohlen an Ministerialdirigent Holzapfel, 23.11.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461. Schade, Richard: Braucht die Universität nur Lateiner? [vermutl. 1958/59], BayHStA, MK 53213. Vgl. Landesinstitut für Neue Sprachen, Adolf Bohlen, an Ministerialdirigent Holzapfel, 23.11.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461; Schade, Richard: Braucht die Universität nur Lateiner? [vermutl. 1958/59], BayHStA, MK 53213. Zur Entwicklung des Latinums siehe Kapitel IV.4.1. Vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 133f. Vgl. Patzer: Gegenwartsaufgaben humanistischer Bildung, 1961, S. 14; Röttger, Gerhard: Erziehung zur geistigen Zucht im altsprachlichen Unterricht, in: AU, Reihe 3, Heft 5 (1959), S. 9–33, hier S. 13; Luther, Wilhelm: Die neuhumanistische Theorie der „formalen Bildung“ und ihre Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart, in: AU, Reihe 5, Heft 2 (1961), S. 5–31, hier S. 21–23.
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zum wichtigsten Argument für den altsprachlichen Unterricht werden.385 Unterstützung bekamen sie dafür einmal mehr aus der Ministerialbürokratie. Ein Beispiel dafür findet sich in den Akten des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus. Die Fachgruppe „Neuere Sprachen“ des Bayerischen Philologenverbandes setzte sich 1959 dafür ein, dass an bayerischen neusprachlichen Gymnasien, die noch Realgymnasien hießen, Englisch als erste Fremdsprache eingeführt werde.386 In Bayern war nämlich auf einem Großteil dieser Schulen noch Latein erste Fremdsprache. Hierzu gab es verschiedene Stellungsnahmen der Referate im Ministerium. Referat 8 unterstützte den Antrag der Fachgruppe „Neuere Sprachen“. Die neuen Sprachen hätten auch „ihren Bildungswert“, Bohlen habe schließlich gezeigt, dass es auch einen „neusprachlichen Humanismus“ gebe.387 Zudem sei aus jugendpsychologischer Sicht das Englische die geeignetere erste Fremdsprache. Bei den „völlig anderen geistigen Strukturen unserer Schüler“ könne Englisch besser „in eine fremde Welt“ einführen, da Latein ein „Abstraktionsvermögen“ verlange, zu dem die heutigen Schüler in der 5. Klasse noch nicht reif seien.388 Das Referat 5 jedoch sah dies ganz anders. Der Wunsch nach Englisch als erster Fremdsprache tauche „nur dort auf, wo das Latein als zu schwierig empfunden“ werde. Latein habe die bessere „auslesende [. . .] Wirkung“, weswegen man davon abrate, Englisch als erste Fremdsprache einzuführen, denn dies öffne nur „neue Schleusen für den Zustrom zur Höheren Schule“.389 Eine ähnliche Reaktion gab es auch in Nordrhein-Westfalen. Hier schrieb beispielsweise Ministerialdirigent Heinrich Holzapfel ein „nein“ an den Rand des Briefes, in dem Adolf Bohlen Latein als dritte Fremdsprache vorschlug.390 Aufschlussreich ist auch, wie Adolf Bohlen in einem Brief an seinen alten Bekannten und zweiten Vorsitzenden des Philologenverbandes Georg Ried sein Eintreten für Englisch als erste Fremdsprache rechtfertigte. Bohlen war ein Vertreter der neunjährigen höheren Schulen. Für ihn war die Forderung nach einer „gemeinsame[n] Mittelstufe“ in den Klassen 5 und 6, die viele Volksschullehrer erhoben, eine Gefahr für das Niveau der höheren Schule. Wenn man nun aber auch an den Gymnasien die gleiche Fremdsprache wie in der 5. und 6. Volks385 386 387
388 389 390
Siehe dazu Kapitel IV.3.4. Vgl. Fachgruppe „Neuere Sprachen“ im Bayerischen Philologenverband an den ADNV, 22.1.1959, BayHStA, MK 53213. Referat 8, Stellungnahme, 28.9.1959, BayHStA, MK 53213. Vgl. auch Stellungnahme zum Antrag des Bayerischen Philologenverbandes vom September 1957, Anmerkung Referat 8, 16.9.1957, BayHStA, MK 52996: „Für die geistige und humanistische Bildung ist das Englische dem Lateinischen nicht unterlegen.“ Referat 8, Stellungnahme, 28.9.1959, BayHStA, MK 53213. Referat 5, Stellungnahme, 17.11.1959, BayHStA, MK 53213. Landesinstitut für Neue Sprachen, Adolf Bohlen an Ministerialdirigent Holzapfel, 23.11.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461.
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schulklasse unterrichte, gebe es eine zweite Möglichkeit für begabte Volksschüler auf das Gymnasium zu wechseln. „Damit würde für viele Volksschullehrer das Hauptargument für die gemeinsame Mittelstufe wegfallen“ und die höheren Schulen hätten es „bei richtiger Auslese“ selbst in der Hand, dass „nur geeignete Schüler diesen Anschluß finden“. Gegen diese Lösung könne sich nur sträuben, „wer eine Isolierung der höheren Schule will und diese durch das Latein ab Sexta abzuriegeln sucht“. Bohlen fügte hinzu: „Ich warne ausdrücklich vor einer solchen Taktik.“391 Diese Auseinandersetzung zeigt, dass es den Befürwortern der neueren Sprachen um die Anerkennung ihrer Fächer als „humanistische“ Fächer ging, als Fächer, die eine ebenso wertvolle Bildung vermitteln würden wie die alten Sprachen. Der Kampf für Englisch als erste Fremdsprache war damit nicht mit einem Kampf für ein egalitäreres Schulsystem verbunden, wie es in den 1960er Jahren der Fall werden sollte – dies zeigt der Brief von Bohlen an Ried. Auch die Neuphilologen verstanden sich ganz als Lehrer der höheren Schule und dachten daher nur an eine Reform der Gymnasien, nicht des ganzen Schulwesens. 2.2.3 Der Kampf um den Begriff „Gymnasium“ und das humanistische Bildungsideal
Eine begriffliche Entwicklung der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre war für die Erweiterung des Begriffs der humanistischen Bildung ganz wesentlich: nämlich die Tatsache, dass alle Schulen, die zum Abitur führten, die Bezeichnung „Gymnasium“ erhielten. Bereits Josef Schnippenkötter hatte Wert darauf gelegt, dass der „christliche Humanismus“ das Leitbild für alle höheren Schulen sein müsse. Daher hatte er die Typen der höheren Schule auch alle als „Gymnasium“ bezeichnet und mit dem jeweiligen Adjektiv seiner Ausrichtung versehen: „altsprachlich“, „neusprachlich“ oder „mathematisch-naturwissenschaftlich“.392 Vor allem die alte „technisch-zweckhafte [. . .] Oberrealschule“ sollte „eine geisteswissenschaftliche Schulung durch und über die Naturwissenschaften hinaus“ erhalten.393 Schnippenkötter selbst war Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer gewesen und hatte seine zum „Materialismus“ und „Utilitarismus“ neigenden Fächer humanistisch umhegen wollen.394 Der Humanismus war so für ihn „verbindender Gedanke der verschiedenen gymnasialen Formen“.395 391 392 393 394
Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213. Schnippenkötter: Plan, S. 6; Gutachten der Landesschulkonferenz [vermutl. 1949], LAV NW 19, Nr. 108, Bl. 132. Zur Schulreform in Rheinland-Westfalen [ohne Datum, vermutl. 1946/47], LAV NRW, RWN 46, Nr. 31–33, Bl. 45–48, hier Bl. 46. Vgl. Schnippenkötter: Rede, S. 11f. Ähnlich auch der nordrhein-westfälische Philologenverband, der einen Latein-Lehrplan für das naturwissenschaftliche Gymnasium vorlegte,
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Ähnlich sah dies auch die KMK, die in einer Sitzung des Schulausschusses 1953 vorschlug, für alle höheren Schulen „den gemeinsamen Gruppennamen Gymnasium zu wählen“.396 Den altsprachlichen Typ als „humanistisches Gymnasium“ zu bezeichnen, lehnte die KMK mit der Begründung ab, dass „alle Höheren Lehranstalten eine humanistische Bildung vermitteln“.397 Diese neue begriffliche Festlegung rief bei einigen Akteuren Kritik hervor. Der Württembergische „Verein der Freunde des Humanistischen Gymnasiums“ beschwerte sich über die Abschaffung des Begriffs beim Kultusministerium von Baden-Württemberg. Allerdings betonte dieses in einem Antwortschreiben an den Verein, „daß der Begriff der humanistischen Bildung nicht ausschließlich mit dem Erlernen der alten Sprachen verknüpft werden könne“.398 Das bayerische Kultusministerium sowie die bayerischen Universitäten sprachen sich sogar gegen die Ausweitung des Begriffs „Gymnasium“ aus. „Wenn eine Schule nicht die antiken Sprachen und Mathematik, also die eigentlichen das Denkvermögen bildenden Fächer, als Basis hat, so sollte sie nicht Gymnasium heißen“.399 Bayern trat auch aus diesem Grund 1955 nicht dem Düsseldorfer Abkommen bei, weil man sich darin einheitlich darauf einigte, alle höheren Schulen als Gymnasien zu bezeichnen und die Bezeichnung „humanistisches Gymnasium“ durch „altsprachliches Gymnasium“ zu ersetzen.400 Auch in Teilen der Bevölkerung sorgte die Ausweitung des Begriffs Gymnasium für Irritationen. So kommentierte sogar die linksliberale Frankfurter Rundschau: Wir wollen nicht den approbierten Gralshütern und Erbpächtern des Abendlandes ins Handwerk pfuschen, aber es mutet uns doch unbehaglich an, daß sich von nun an Generationen von Abiturienten stolz als Gymnasiasten bezeichnen werden, die vom Geist der Antike und derer, die sich im Abendland um das antike Erbe bemüht haben, keinen Hauch verspüren.401
395 396 397 398 399
400
401
Anlage zu dem vom Philologenverband vorgelegten Entwurf einer Stundentafel für das naturwissenschaftliche Gymnasium. Vorschläge für den Lehrplan des Lateinunterrichts, Oberstudienrat Rögele [vermutl. 1949/59], LAV NRW, NW 19, Nr. 201. Entschließung der Rheinischen Direktoren und Direktorinnen zur Schulreform an Kultusministerin Teusch, 30.6.1949, LAV NRW, NW 19, Nr. 108. 25. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 31./1.8.1953, LAV NRW, NW 383, Nr. 15. KMK, Vorsitzende des Schulausschusses an Sekretariat der KMK, 11.9.1952, BayHStA, MK 53210. Kultusministerium von Baden-Württemberg an Württembergischen Verein der Freunde des humanistischen Gymnasiums, 11.5.1954, BayHStA, MK 53211. Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 8.10.1953, BayHStA, MK 53211; vgl. auch Antwort des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus an Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg, 27.10.1953, BayHStA, MK 53211. Schreiben der Abteilung II, Betreff: Bezeichnung der höheren Schule in Bayern; Konferenz der Ministerpräsidenten – Kultusministerkonferenz, 17.2.1954, BayHStA, MK 53211. Bayern behielt die Bezeichnung „humanistisches Gymnasium“ bis in die heutige Zeit bei. Lissner: Die Düsseldorfer Schulbeschlüsse, in: Frankfurter Rundschau, 19.2.1955.
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Allerdings war die Bezeichnung „humanistisches Gymnasium“ als Synonym für altsprachliches Gymnasium durch eine gesetzliche Regelung nicht einfach aus den Köpfen gelöscht. 1961 musste der damalige Kultusminister von Hessen Ernst Schütte in einer Radiodiskussion ausdrücklich darauf hinweisen, statt von humanistischer von altsprachlicher Bildung zu sprechen, denn „humanistische Bildung gibt es in allen deutschen Gymnasien“.402 Dies alles deutet darauf hin, dass ein Teil der bildungspolitischen Akteure, wie Neusprachler, Pädagogen und ein Großteil der Bildungspolitiker für eine Erweiterung des Begriffs „Humanismus“ eintraten. Auch in der Weimarer Republik war dies gefordert worden, die Allianz dafür war allerdings weniger stark gewesen. Dabei ging es nicht um ein Ersetzen der Antike, sondern lediglich darum, auch andere Gegenstände als die alten Sprachen als humanistisch bildend anzuerkennen.403 Eine gewisse Frustration der Neusprachler deutet sich in der Aussage von Richard Schade von 1958 an, in der er die Diskussion zum Humanismusbegriff mit den altsprachlichen Kollegen wie folgt beschreibt: Wir stoßen eben immer wieder auf den alten Grund des Mißverständnisses und Aneinander-Vorberedens[sic!]: die Altphilologen wollen den alten strengen Begriff des Humanismus, der sich nur auf das Studium des klassischen Altertums bezog, nicht aufgeben; wir Neuphilologen verstehen im Einklang mit der neueren Pädagogik unter humanistischem Unterrichtsprinzip die Erziehung zum homo vere humanus im weitesten Sinne.404
Allerdings sprach der DAV in seinen Leitsätzen von 1951 im Gegensatz zu 1933 selbst nicht mehr vom „humanistischen Gymnasium“, sondern vom „altsprachlichen Gymnasium“. Man hatte sich endgültig von der unauflöslichen Verbindung zwischen alten Sprachen und Gymnasium getrennt und erkannte an, dass es auch andere „gymnasiale [. . .] Schultypen“ gab.405 Die Verbindung zwischen dem Begriff Humanismus und den alten Sprachen wollten die klassischen Philologen aber nicht so schnell aufgeben. Wie verhielt es sich nun mit dem Humanismus-Begriff der klassischen Philologen? Dass dem „Begriff des ‚Humanistischen‘ eine bemerkenswerte Ausweitung“ widerfahre, wurde in der Einführung des 10. Heftes der Reihe „Der altsprachliche Unterricht“ zum Thema „Zum humanistischen Problem der Gegenwart“ von 1956 bemerkt.406 Schon 1948 hatte der klassische Philologe und Schüler Werner Jaegers Harald Patzer gefordert, dass die klassische Philologie als Wis402 403
404 405 406
Hessischer Rundfunk, „Frankfurter Gespräch“ (ACDP 9/92/9-10), S. 7. Vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, S. 112; Adolf Bohlen an Georg Ried (2. Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes), 16.1.1957, BayHStA 53213; Schade, Richard: Wieder einmal Schulpolitisches [1958], BayHStA, MK 53213; Bremer, Eduard: Reform des höheren Schulwesens, 10.9.1954, BayHStA, MK 53212. Schade, Richard: Wieder einmal Schulpolitisches [1958], BayHStA, MK 53213. Vgl. DAV: Das Bildungsziel des altsprachlichen Gymnasiums, in: DG 58 (1951), S. 383. Zur Einführung, in: AU 2, Heft 10 (1956), S. 4.
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senschaft zunächst nur Wissenschaft sein solle, ohne dabei auch humanistisch bilden zu wollen.407 In Bezug auf die Schulbildung sah er dies jedoch anders. Bildung, so Patzer 1961, „die die allgemein menschlichen Fähigkeiten [. . .] zu vervollkommnen sucht, ist humanistische Bildung“.408 Am wichtigsten sei hier die „Schulung bloßer Denkfähigkeit“ und dies geschehe zuerst über die Sprache.409 Daher seien Mathematik und Naturwissenschaften zwar „auch ein Teil humanistischer Bildung“, aber eben dem Fremdsprachenunterricht „zum Zweck der Ausbildung dieses menschlichen Grundvermögens“ nachgeordnet.410 Und die für diesen Zweck gesuchten Fremdsprachen, würden in „Latein und Griechisch in vollkommenster Verkörperung“ gefunden.411 Somit sei die „‚Dominanz der Fremdsprachen-Philologie‘ an den Gymnasien, die von manchen modernen Schulreformern mißbilligt“ werde, „kein Zopf, sondern tief in der Sache begründet“.412 Zwischen „einer heute geforderten spezifisch modernen Allgemeinbildung“ und der „humanistischen“, gebe es keinen Gegensatz, sondern moderne Allgemeinbildung sei „in der humanistischen erfüllt“.413 Die Altphilologen stimmten also in gewisser Hinsicht einer Erweiterung des HumanismusBegriffs zu, fühlten sich aber dennoch den anderen Fächer überlegen, weil die alten Sprachen die ursprünglichen und damit die wahren humanistisch bildenden Fächer seien. Dies sollte sich erst in den 1960er Jahren ändern. 2.2.4 Die Didaktik des altsprachlichen Unterrichts
Die Entwicklungen im Schulsystem der jungen Bundesrepublik hatten dem altsprachlichen Unterricht zu einer wahren Renaissance verholfen. 1955 lernten nach Matthiessen so viele Schüler wie niemals zuvor Latein.414 Auch die öffentliche Meinung stand auf der Seite des Lateinunterrichts. Trotzdem begann bei vielen Fachkollegen der Ruf nach Erneuerung. Man hatte mit den alten Vorwürfen zu kämpfen, dass der Lateinunterricht einseitiger „Lern- und Exerzierunterricht“415 sei und mit seiner „Monotonie“416 , vor allem im Grammatikunterricht, die Schüler „quäle“417 . 1955 sandte der bayerische Ministerialdirigent Weiß eine Anweisung zum Lateinunterricht an alle bayerischen höheren Schulen mit Latein 407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417
Vgl. Patzer: Humanismus als Methodenproblem, 1948. Patzer: Gegenwartsaufgaben humanistischer Bildung, 1961, S. 13. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 9, 13. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 20. Matthiessen: Perspektiven, S. 173. Luther, Wilhelm: Sinn und Aufgabe des lateinischen Sprachunterrichts, in: DG 60 (1953), S. 240–262, hier S. 240. Ebenda. Kanz, Heinrich: Der Bildungswert des Lateinischen und die moderne Pädagogik, in: DG 64 (1957), S. 424–444, hier S. 427.
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als erster Fremdsprache. Darin warnte er vor Langeweile im Lateinunterricht und wies an, dass jede Stunde „von einem frohen Arbeitsgeist beherrscht sein“ müsse. Zudem sollten die Schüler keine Angst „vor Versagen und Strafe“ haben müssen, sondern „Freude am Können“ und „Stolz auf die eigene Leistung“ haben. Dafür sei es wichtig, dass der Lehrer viel lobe.418 Diese Quelle deutet auf eine in der Tat eher abschreckende Unterrichtspraxis hin. Der klassische Philologe Peter Doll ging mit dem Lateinunterricht hart ins Gericht, denn er sei „seit langem auf einer Sandbank festgefahren“ und auch „die Bemühungen, ihn flottzumachen“, seien „seit Mitte der zwanziger Jahre erfolglos geblieben“.419 Die methodische Diskussion knüpfte in der Tat an die Trends der Weimarer Zeit an.420 Die Entwicklungen während des Nationalsozialismus schienen wie ausradiert. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass die „Methodik des altsprachlichen Unterrichts“ aus dem Jahr 1930 von Max Krüger 1959 und 1963 neu aufgelegt wurde. Bis auf das Vorwort waren die Änderungen darin marginal.421 Die Rolle des Grammatikunterrichtes, die während des Nationalsozialismus mit seinem stark kulturkundlichen Fokus auf die Vorübung zum Lektüreunterricht reduziert worden war, wurde wieder aufgewertet. Die Richtlinien des DAV von 1951 gaben ihm eine doppelte Aufgabe, denn er sei „vorbildend und um seiner selbst willen wertvoll (propädeutisch und autonom)“.422 Dies war auch die Position des DAV und von Max Krüger Anfang der 1930er Jahre gewesen.423 Interessanterweise war die Position Krügers (Lektüre als Hauptziel, Hinübersetzen nur in Maßen), die in der Weimarer Republik eher die gemäßigtere Position gegenüber den Verfechtern der Kulturkunde dargestellt hatte, nun die progressivere. Denn der Sprachunterricht erlebte eine bemerkenswerte Renaissance. Dafür spricht unter anderem, dass das Übersetzen vom Deutschen ins Lateinische wieder mehr gefordert wurde.424 Zwar waren die Altphilologen 418
419 420 421
422 423 424
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an die Direktorate aller Höheren Lehranstalten in Bayern: Anweisungen für den Lateinunterricht auf der Unterstufe der Gymnasien und der Realgymnasien mit grundständigem Latein, 1955, BayHStA, MK 53212. Doll, Peter: Zur Lage des Lateinunterrichts, in: DG 61 (1954), S. 481–504, hier S. 496. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 40. Bis auf die beiden einleitenden Kapitel sowie die neue Ausrichtung auf die veränderten Schultypen sind keine größeren Veränderungen zwischen den Exemplaren festzustellen, vgl. Krüger: Methodik, 1930; Krüger/Hornig: Methodik, 1959; Krüger/Hornig, Methodik, 1963. DAV: Das Unterrichtsziel der alten Sprachen, in: DG 58 (1951), S. 383–384, hier S. 383. Vgl. auch Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 36f. Vgl. Wilsing: Praxis des Lateinunterrichts, Bd. 2, S. 1f. Vgl. Schulkollegium Düsseldorf an Leiter sämtlicher höherer Schulen, 29.11.1950, LAV NRW, NW 19, Nr. 213; Kock: Der altsprachliche Unterricht heute, 1949, S. 46; Hörder: Anfangsunterricht, S. 69; Röttger, Gerhard: Erziehung zur geistiger Zucht im altsprachlichen Unterricht, in: AU, Reihe 3, H. 5, 1959, S. 9–33, hier S. 10f.
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nicht so kühn, das Skriptum als Abiturleistung zu fordern,425 aber die „Hinübersetzung“ erhielt wieder erhöhte Wertschätzung und zudem wieder einen ausgewiesenen Platz im Lehrplan.426 Auch wenn die Forderungen nach einer Ausweitung der Hinübersetzung recht schnell wieder abebbten,427 ist sie symptomatisch für die wiederentdeckte Bedeutung des Sprachunterrichts. Dazu musste dem Grammatikunterricht wieder ein Eigenwert gegeben werden. Und so häuften sich in den 1950er Jahren Aussagen wie: Sprachunterricht sei nicht nur eine „intensive Geistesschulung, sondern Schulung der Gesamtpersönlichkeit“.428 Außerdem werde beim Grammatikunterricht die „lateinische [. . .] Weltansicht“ mitvollzogen.429 Die Wiederentdeckung des Grammatikunterrichts schien bei den Lehrern den richtigen Nerv zu treffen: Eine Schulung mit dem Titel „Neue Wege des grammatischen Unterrichts“ war 1961 ausgebucht.430 Die wichtigste theoretische Grundlage für diese Rückbesinnung war die „Bildungstheorie der formalen Bildung“, der ebenfalls eine erstaunliche Renaissance widerfuhr.431 Auch wenn das Argument, dass Latein formal bilde, das logische Denken schule oder zur geistigen Zucht animiere, nie wirklich aus dem Begründungskatalog verschwunden war, war der stringente Bezug auf die neuhumanistische Theorie der formalen Bildung in den 1920er bis 1940er Jahre ausgeblieben.432 Dies änderte sich in den 1950er Jahren, so dass die Zahl der Publikationen, die zu diesem Thema erschienen, fast nicht mehr zu überblicken 425 426
427
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429 430 431 432
Vgl. DAV, Bericht über eine Tagung des erweiterten Vorstandes in Mainz am 18. und 19. Mai 1951, LAV NRW, NW 19, Nr. 201, Bl. 47–49, hier Bl. 48. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 44f. Vgl. auch Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an die Direktorate aller Höheren Lehranstalten in Bayern: Anweisungen für den Lateinunterricht auf der Unterstufe der Gymnasien und der Realgymnasien mit grundständigem Latein, 1955, BayHStA, MK 53212: „Auf die Anwendung in der Übersetzung vom Deutschen in das Lateinische ist besonderes Gewicht zu legen.“ Vgl. Schmidt, Kurt: Übersetzen als geistige Schulung, in: AU 2, Heft 8 (1956), S. 5–32; Wecker, Otto: Der erzieherische Wert der Übersetzung, in: Gymnasium 61 (1954), S. 157– 158, hier S. 157; Doll, Peter: Zur Lage des Lateinunterrichts, in: DG 61 (1954), S. 481–504, hier S. 488; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Direktorate aller staatlichen Gymnasien und Realgymnasien und Höheren Schulen mit einem gymnasialen Zweig, 25.6.1956, BayHStA, MK 53212. Wecker, Otto: Der erzieherische Wert der Übersetzung, in: Gymnasium 61 (1954), S. 157– 158, hier S. 158. Ähnlich auch: Luther, Wilhelm: Sinn und Aufgabe des lateinischen Sprachunterrichts, in: DG 60 (1953), S. 240–262; Pfister, Raimund: Die Alten Sprachen als Denkschulung, in: DG 61 (1954), S. 273–285; Gartmann, Georg: Die Entfaltung des sprachlichen Bewußtseins im altsprachlichen Unterricht, in: AU 2, Heft 8 (1956), S. 68–87; Schmidt, Kurt: Die Leistung der Grammatik im Lateinunterricht der Oberstufe für die geistige Bildung, in: AU, Reihe 5, H. 2 (1961), S. 32–52. Kanz, Heinrich: Der Bildungswert des Lateinischen und die moderne Pädagogik, in: DG 64 (1957), S. 424–444, hier S. 430. Schmidt, Kurt: Neue Wege des grammatischen Unterrichts, in: MDAV 4 (1961), S. 6. Vgl. dazu auch Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 48–54. Siehe Kapitel IV.4.2.
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ist.433 Aufsätze mit Titeln wie „Die neuhumanistische Theorie der ‚formalen Bildung‘ und ihre Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart“434 oder „Grammatik als Denkschulung von Humboldt zur Gegenwart“435 waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dabei muss jedoch zwischen zwei Formen des Bezugs auf die formale Bildung unterschieden werden. Auf der einen Seite häufte sich der bloße Rekurs auf die „formale Bildung“, ohne genauer darauf einzugehen, was darunter zu verstehen sei. Meistens wurde die Erwähnung mit den bekannten Argumenten verknüpft, dass die Beschäftigung mit den alten Sprachen geistige Zucht und Disziplin trainiere ebenso wie das logische Denken.436 Der DAV verwendete beispielsweise in seinen programmatischen Zielen zum altsprachlichen Unterricht von 1951 ein bekanntes Zitat Oswald Spenglers, der Latein einst als „disziplinierteste Sprache der Welt“ bezeichnet hatte.437 Diese Argumente waren schon während der 1920er Jahre vom US-amerikanischen Psychologen Edward Lee Thorndike als wissenschaftlich nicht nachweisbar und somit als widerlegt kritisiert worden.438 Daher setzten sich einige Altphilologen auf der anderen Seite differenzierter mit der Theorie der formalen Bildung auseinander.439 Hier sind vor allem die 433
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435 436
437 438 439
Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 50, vor allem FN 97. Zeitgenössische Publikationen waren beispielsweise Wecker, Otto: Der erzieherische Wert der Übersetzung, in: Gymnasium 61 (1954), S. 157–158; Pfister, Raimund: Die Alten Sprachen als Denkschulung, in: DG 61 (1954), S. 273–285; Schmidt, Kurt: Übersetzen als geistige Schulung, in: AU, Reihe II, Heft 8 (1956), S. 5–32; Jäkel, Werner: Formale Grammatik und Sprachdenken, in: AU, Reihe II, Heft 8 (1956), S. 87–100; Kanz, Heinrich: Der Bildungswert des Lateinischen und die moderne Pädagogik, in: Gymnasium 64 (1957), S. 424–444; Röttger, Gerhard: Erziehung zur geistigen Zucht im altsprachlichen Unterricht, in: AU, Reihe III, Heft 5 (1959), S. 9–33; Pfister, Raimund: Grammatik als Denkschule von Humboldt zur Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), S. 123–144; Luther, Wilhelm: Die neuhumanistische Theorie der „formalen Bildung“ und ihre Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), 5–31. Luther, Wilhelm: Die neuhumanistische Theorie der „formalen Bildung“ und ihre Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), 5–31. Pfister, Raimund: Grammatik als Denkschule von Humboldt zur Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), S. 123–144. Vgl. Kanz, Heinrich: Der Bildungswert des Lateinischen und die moderne Pädagogik, in: Gymnasium 64 (1957), S. 424–444, hier S. 428–431; Schmidt, Kurt: Übersetzen als geistige Schulung, in: AU, Reihe II, Heft 8 (1956), S. 5–32, hier S. 8; Stellungnahme zum Antrag des Bayerischen Philologenverbandes, Sept. 1957, Anmerkung des Referats 8, 16.9.1957, BayHStA, MK 52996; Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, S. 88. DAV: Das Unterrichtsziel der alten Sprachen, in: DG 58 (1951), S. 383–384, hier S. 383. Siehe Kapitel IV.4.2. Vgl. Pfister, Raimund: Grammatik als Denkschule von Humboldt zur Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), S. 123–144; Patzer: Gegenwartsaufgaben humanistischer Bildung, 1961, S. 12–19.
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Arbeiten Wilhelm Luthers zu erwähnen.440 Dieser hatte sich intensiv mit der Geschichte der formalen Bildung und der Kritik daran beschäftigt.441 Luther bezog dabei auch die Forschungen des Pädagogen Heinrich Roth mit ein. Roth hatte sich als Vertreter der pädagogischen Psychologie mit der Frage beschäftigt, ob es möglich sei, an einem so speziellen Gegenstand wie Latein generelle Fähigkeiten zu erlernen, die dann auf andere Bereiche angewendet werden könnten (Transfer) – genau das behauptete ja die Theorie der formalen Bildung.442 Auch wenn Roth dem Lateinunterricht eher kritisch gegenüberstand, sah Luther im generellen Interesse der Lernpsychologie an solchen Transferfragen den Beweis, dass die Theorie der formalen Bildung nicht überholt sei, sondern „lediglich einer sinnvollen Erneuerung auf dem Boden der heutigen pädagogischen und pädagogisch-psychologischen Forschung“ bedürfe.443 Dass die formale Bildung zu einem wichtigen Argument beim Kampf um die Lerninhalte geworden war, zeigte sich auch daran, dass Adolf Bohlen für die neueren Sprachen ebenfalls dieses Argument beanspruchte.444 Dabei wurde das Argument, dass Latein formal bilde, nicht nur für den Grammatikunterricht verwendet, sondern auf den Lektüreunterricht bzw. die Übersetzung ins Deutsche und somit auf den gesamten altsprachlichen Unterricht ausgeweitet.445 Seit Humboldt hatte das Erlernen der alten Sprachen zwei Gründe: formale Bildung durch Spracherwerb und der „Glaube an die Vorbildhaftigkeit antiken Menschentums“,446 weswegen die antiken Texte als lesenswert empfunden worden waren. Diese Gründe standen lange Zeit gleichberechtigt nebeneinander. Dies begann sich nun allmählich in Richtung der formalen Bildung zu verschieben.447 Der Höhepunkt dieser Entwicklung sollte Anfang der 1970er Jahre erreicht werden.448 440
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Vgl. Luther, Wilhelm: Die neuhumanistische Theorie der „formalen Bildung“ und ihre Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), 5–31; Luther, Wilhelm: Vom Wert des lateinischen Grammatikunterrichts für die wissenschaftliche Denkschulung, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), S. 53–89. Vgl. Luther, Wilhelm: Die neuhumanistische Theorie der „formalen Bildung“ und ihre Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), 5–31, hier S. 5–25. Vgl. ebenda, S. 27–31. Vgl. ebenda, S. 31. Vgl. Bohlen: Moderner Humanismus, 1957, S. 109–112; siehe Kapitel IV.2.2.2. Vgl. Wecker, Otto: Der erzieherische Wert der Übersetzung, in: Gymnasium 61 (1954), S. 157–158; Pfister, Raimund: Die Alten Sprachen als Denkschulung, in: DG 61 (1954), S. 273–285, hier S. 277; Schmidt, Kurt: Übersetzen als geistige Schulung, in: AU, Reihe II, Heft 8 (1956), S. 5–32, hier S. 18; Kanz, Heinrich: Der Bildungswert des Lateinischen und die moderne Pädagogik, in: DG 64 (1957), S. 424–444, hier S. 433. Pfister, Raimund: Grammatik als Denkschule von Humboldt zur Gegenwart, in: AU, Reihe V, Heft 2 (1961), S. 123–144, hier S. 123. Kritik daran u. a. bei Röttger, Gerhard: Erziehung zur geistigen Zucht im altsprachlichen Unterricht, in: AU, Reihe III, Heft 5 (1959), S. 9–33, hier S. 15; Wilsing: Praxis des Lateinun-
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Die Bewertung der methodischen Diskussion gestaltet sich ambivalent. Auf der einen Seite wurde gegen das rein lateinisch-deutsche Verfahren, wie es sich während des Nationalsozialismus durchgesetzt hatte, teilweise polemisiert, es größtenteils gar nicht erwähnt.449 Daher könnte man die Situation durchaus als restaurativ bewerten. Dies könnte unter anderem dadurch erklärt werden, dass sich viele altsprachliche Lehrer auch während des Nationalsozialismus nur schwer von ihren alten Methoden hatten lösen können. Nun, wo die Angst vor staatlicher Repression keinen Druck mehr auf die Altphilologen auswirken konnte, konnten sie sich ganz ihren traditionellen, liebgewonnenen Methoden hingeben. Auf der anderen Seite war die methodische Diskussion so rege, dass eigens die Zeitschrift Der altsprachliche Unterricht gegründet wurde, der zahlreiche Artikel zur Methodik der alten Sprachen veröffentlichte. Neben den Diskussionen um den Grammatikunterricht ging es hier auch immer wieder um die richtige Methode des Übersetzens aus dem Lateinischen.450 Dass dies die Übersetzungsrichtung der Zukunft war, daran gab es keinen Zweifel. Allerdings wollte man sich den Grammatikunterricht nicht nehmen lassen. Darüber hinaus gab es auch viele Bemühungen, die alten Sprachen „in den Schülern lebendig werden“ zu lassen.451 So veröffentlichte „der altsprachliche Unterricht“ ein Heft mit dem Thema „Antike Dramen auf der Schulbühne“.452 Die bildungspolitischen Einstellungen des DAV sind in den vergangenen Kapiteln immer wieder angeklungen und seien daher an dieser Stelle noch einmal zusammengefasst: Am wichtigsten war dem DAV die Bewahrung von Latein als erster Fremdsprache an den sprachlichen Gymnasien.453 Denn Latein als zweite Fremdsprache fassten die Altphilologen eher als unliebsame Ausnahme auf, obwohl sich hier bereits der Beginn einer Neubewertung erkennen lässt. Latein
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terrichts, Bd. 1, 1951, S. 8, 12; Doll, Peter: Zur Lage des Lateinunterrichts, in: Gymnasium 61 (1954), S. 481–504, hier S. 486. Siehe Kapitel IV.3.4, vgl. u. a. Weinrich, Harald: Die Altphilologen und ihr Glück. Tagung des DAV in Münster, in: MDAV 8,3 (1965), S. 3–6 [Original in FAZ], hier S. 4; Schulkollegium beim Regierungspräsidenten in Münster an das Kultusministerium des Landes NRW, 28.7.1964: Tagung der Fachleiter des Faches Latein der staatlichen Studienseminare, 16./17.4.1964, LAV NRW, NW 225, Nr. 345. Bornemann, Eduard: Latein oder Englisch? Eine pädagogische Besinnung über die sprachliche Grundbildung, in: DG 58 (1951), S. 183–186, Rezension zu: Wecker: Latein oder Englisch?, 1950. Otto Wecker, gegen den Bornemann anschreibt, war auch ein Vertreter der Methoden von Mader und Breywisch gewesen. Vgl. Neumann, Willy: Konstruieren oder Lesen?, in: AU 1, Heft 3 (1953), S. 5–27; Kracke, Arthur: Übersetzen oder Verstehen?, in: AU 1, Heft 3 (1953), S. 54–69; Sattler, Hanna: Versuche mit der „Sprechmethode“ im lateinischen Anfangsunterricht, in: AU, Reihe III, Heft 5 (1959), S. 62–91. Vgl. dazu auch Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 80–92. Zur Einführung, in: AU, Reihe IV, Heft 1, 1959, S. 4. Vgl. AU, Reihe IV, Heft 1 (1959). Vgl. Haag, Erich: Die gegenwärtige schulpolitische Lage, in: MDAV 1 (1958), S. 3–7, hier S. 5.
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als zweite Fremdsprache nahm nach dem Düsseldorfer Abkommen quantitativ zu und die Altsprachler begannen, sich auch methodisch auf diesen Unterricht einzustellen.454 Wichtig war dabei, dass dadurch die Einheit von Griechisch und Latein als die alten Sprachen, die nur gemeinsam die humanistische Vollbildung entfalten könnten, allmählich aufgegeben wurde: „Wir sind von jeher – mit dem Blick auf das Gymnasium – gewohnt, das Fach Latein in unlöslicher Verbindung mit dem Fach Griechisch zu sehen. [. . .] Die Beziehung des Faches Latein zu den anderen Fächern der Oberschule muß völlig neu durchdacht werden.“455 2.3 Das Aufbäumen der Tradition: Das Beispiel Bayern
Wie stark die Traditionen des „christlichen Humanismus“ in den später 1950er Jahren teilweise noch im deutschen Bildungswesen existent waren, zeigen einige Beispiele aus Bayern. Das Land war dem Düsseldorfer Abkommen aus verschiedenen Gründen nicht beigetreten. Vor allem wehrte man sich gegen die Umbenennung der Klassenstufen in 1 bis 13456 und gegen die Abschaffung der Bezeichnung „Humanistisches Gymnasium“.457 Bayern sei „der Hort des echten Humanistischen Gymnasiums im ganzen Bundesgebiet“ und es „wäre ein nie wieder gutzumachender Fehler, diesen Schultyp auf dem Wege über eine Einheitsbezeichnung nun auch in Bayern zu verwässern und damit aufzugeben“.458 Bayern behielt auch die Bezeichnungen Oberrealschule und Realgymnasium. Als der Bayerische Philologenverband 1960 forderte, diese Bezeichnungen an das 454
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Vgl. Ahrens, Ernst: Latein als zweite Fremdsprache an Oberschulen, in: AU 2, Heft 8 (1956), S. 43–67; Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Direktorate aller Höheren Lehranstalten in Bayern, 24.6.1955, BayHStA, MK 52996; Wecker: Latein oder Englisch?, S. 3–9; Wilsing: Praxis des Lateinunterrichts, Bd. 2, 1957, S. 2; Krüger/Hornig: Methodik, S. 9–11. Ahrens, Ernst: Latein als zweite Fremdsprache an Oberschulen, in: AU 2, Heft 8 (1956), S. 43–67, hier S. 64. Vgl. Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus an den Präsidenten der KMK, 7.1.1955, BayHStA, MK 53212. Zudem berücksichtigte das Düsseldorfer Abkommen das „Deutsche Gymnasium“ (eine speziell bayerische Schulform) nicht. Vgl. dazu Cramer/ Strehler: Schulreform in Bayern, 1953, S. 6–8, 116f.; Stiftung Wallenburg, Kempfhausen am Starnbergersee an Herrn Staatsrat Meinzolt, 15.3.1952 und 8.5.1952, BayHStA, MK 53210; Tagung in Kempfhausen, 1.–4. April 1952, Beratungen zu den Lehrplänen des Deutschen Gymnasiums, BayHStA, MK 53210; Vormerkung des Referats 4 vom 16.7.1956, Unterlagen für Pressekonferenz vom 25.7.1956, Betreff: Deutsches Gymnasium, BayHStA, MK 53212. Vgl. KMK, Vorsitzende des Schulausschusses an Sekretariat der KMK, 11.9.1952, BayHStA, MK 53210; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Vorsitzenden des Schulausschusses der KMK, 24.9.1952, BayHStA, MK 53210. Notiz der Abteilung II, Bezeichnung der höheren Schule in Bayern, 17.2.1954, BayHStA, MK 53211.
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übrige Bundesgebiet anzugleichen, war das „Humanistische Gymnasium“ davon ausgenommen.459 Aufschlussreich ist auch ein Zeitungsartikel des bayerischen Kultusministers Theodor Maunz von 1959.460 Er betonte zwar, dass in „unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft [. . .] an einen einheitlichen Weg der höheren Schulbildung nicht zu denken“ sei und dass ein Kultusminister alle Typen der höheren Schule „mit gleichen Liebe“ zu fördern habe. Allerdings würde er als „Staatsbürger, als Vater und Universitätslehrer“ das „Humanistische Gymnasium“ bevorzugen. In der heutigen Zeit scheine „die Beherrschung der Technik und die Ausübung der Funktionen im Räderwerk der modernen Wirtschaft [. . .] die Bestimmung des Menschen zu sein“. Schon der junge Mensch strebe „nach äußerem Erfolg und materieller Sicherung“. Daher müsse das Schulwesen „urteilsfähige, freie und gemeinschaftsgebundene Persönlichkeiten erziehen“. Das Humanistische Gymnasium leiste dies am besten und biete durch seine allgemeine Bildung die beste Grundlage „für die verschiedenen Möglichkeiten des späteren Lebens“. Antike Philosophie, das „religiöse Ethos des Christentums“, die Sprachen Latein und Griechisch dienten der „Humanisierung des Menschen“ und der „Erhaltung der abendländischen Freiheit“. Dabei dürfe die „entsagungsvolle Arbeit mit der zuchtvollen lateinischen und der ungemein reichen griechischen Sprache [. . .] nicht mit den Augen des Materialisten gesehen werden“.461 In der bayerischen Ministerialbürokratie war in den 1950er Jahren immer noch eine gewisse Abwertung der nicht-altsprachlichen Typen der Gymnasien zu spüren. Mal wurde das Realgymnasium als „leichteste Schulgattung“ bezeichnet, weswegen sie sich besonderer Beliebtheit erfreue, aber auch Gefahr laufe, „der Mittelmäßigkeit und der Masse“ anheim zu fallen.462 Ein anderer Referent vermerkte, dass sich die Oberrealschule immer noch nicht „zu einer echten Bildungsschule“ entwickelt habe.463 So wundert es auch nicht, dass, als 1957 der Bayerische Philologenverband den Vorschlag machte, versuchsweise an Oberrealschulen Latein als erste Fremdsprache einzuführen,464 das Kultusministerium
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464
Vgl. Bayerischer Philologenverband an Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 15.7.1960, MK 53213. Vgl. Gedanken des Staatsministers zum Humanistischen Gymnasium auf Anfrage des Chefredakteurs der Deutschen Tagespost Ferdinand Römer, 8.5.1959, BayHStA, MK 53213. Ebenda. Antwort vom Staatsministerium für Unterricht und Kultus auf Schreiben der SPD, 16.7.1957, BayHStA, MK 53212. Entwurf eines Schreibens des Staatsministers für Unterricht und Kultus an Bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard, Juli 1954, Bemerkung des Referats 18, 31.3.1954, BayHStA, MK 53211. Vgl. Bayerischer Philologenverband an Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus, 4.7.1957, BayHStA, MK 52996; Bayerischer Philologenverband, Leitsätze zur Reform des Gymnasiums, 30.9.1957, BayHStA, MK 53212.
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fünf Versuchsschulen genehmigte.465 Die Gründe, die laut Ministerium dafür sprachen, waren typisch: Die große Lernfreudigkeit, die bei den Sextanern herrsche, solle nicht für die leichte Fremdsprache Englisch „vergeudet“, sondern für die schweren Fremdsprachen Latein oder Französisch genutzt werden. Latein sei ein besseres Ausleseinstrument und die Grundlage der romanischen Sprachen.466 Die Gründe, die dagegensprachen, waren lediglich organisatorischer Natur. Man habe zu wenig Lateinlehrer und befürchte Schwierigkeiten bei einem Schulwechsel aus anderen Bundesländern.467 1963 war es dann jedoch die Ministerialbürokratie, die im Nachgang zu der Saarbrücker Rahmenvereinbarung einsah, dass es Zeit sei, sich dem restlichen Bundesgebiet anzupassen. Hierbei ging es um die Sprachenfolge am altsprachlichen Gymnasium, die in Bayern im Unterschied zu allen anderen Bundesländern die moderne Fremdsprache erst als dritte Fremdsprache vorsah.468 Der Vorschlag des bayerischen Kultusministeriums, die moderne Fremdsprache an die zweite Stelle zu setzen und Griechisch an die dritte, wurde zwar vom bayerischen Philologenverband mitgetragen,469 stieß aber bei der Elternschaft auf starke Ablehnung.470 Unterstützung fanden diese bei den Kirchen471 und in Teilen der altphilologischen Lehrerschaft.472 Dass die Veränderungen am altsprachlichen Gymnasium so starke Widerstände hervorrufen konnten, ist ein Zeichen dafür, 465 466
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471
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Vgl. Stellungnahme der Referate zum Antrag des Philologenverbandes, Sept. 1957, BayHStA, MK 52996. Stellungnahme der Referate zum Antrag des Philologenverbandes, Zusammenfassung, 16.9.1957, BayHStA, MK 52996; vgl. auch Bayerischer Philologenverband an Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus, 4.7.1957, BayHStA, MK 52996. Vgl. Stellungnahme der Referate zum Antrag des Philologenverbandes, Zusammenfassung, 16.9.1957, BayHStA, MK 52996. Ein Antrag des Elternbeirats der Oberrealschule Neu-Ulm, der sich Latein als erste Fremdsprache an seiner Schule wünschte, wurde nicht bewilligt. Als Gründe wurden der Lehrermangel und die Angst der Öffentlichkeit vor „Schulchaos“ bei der Schaffung neuer Schultypen benannt, vgl. Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus an Elternbeirat der Oberrealschule Neu-Ulm, 20.9.1958, BayHStA, MK 52996. Vgl. Vormerkung der Abteilung II, 7.1.1963, BayHStA, MK 53214. Vgl. ebenda; Vormerkung der Abteilung II, 15.1.1964, BayHStA, MK 53214. Vgl. Stellungnahme der Elternbeiräte an Humanistischen Gymnasien zu beabsichtigten Reformen im Bereich des Humanistischen Gymnasiums, 20.7.1963, BayHStA, MK 53214; Vorschläge zur Reform des Humanistischen Gymnasiums des Elternbeirats des humanistischen Riemenschneider-Gymnasiums Würzburg, März 1963, BayHStA, MK 53214; Robert Honsell an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 16.1.1964, BayHStA, MK 52996. Vgl. Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern an Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus, 4.12.1963, BayHStA, MK 53214; EvangelischLutherisches Landeskirchenamt an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 28.11.1963, BayHStA, MK 53214. Vgl. Vogt, Ludwig (Direktor des Maximilians-Gymnasiums München und Vorsitzender des bayerischen Landesverbandes des DAV) an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 10.1.1964, BayHStA, MK 53214.
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dass diese Schulart eine tiefe Verankerung vor allem in bildungsbürgerlichen Kreisen hatte. Die unterzeichnenden Eltern waren größtenteils hohe Beamte, Ärzte und Juristen.473 Wortführer Dr. Philipp Wördehoff, ebenfalls Arzt, hatte Kontakte zum bayerischen Wirtschaftsminister, der wiederum das Anliegen an den Kultusminister weiterleitete.474 Dies zeigt auch den strukturellen Vorteil, den die Elternschaft der altsprachlichen Gymnasien gegenüber anderen hatte: Sie wusste, wie man sich bei der Politik Gehör verschafft und konnte auf Netzwerke zurückgreifen. 2.4 Allgemeine Tendenzen
Die Reformen und fachlichen Auseinandersetzungen der 1950er Jahre zeigen, dass die bildungspolitischen Akteure in vielen Punkten noch den Denkmustern des „christlichen Humanismus“ verhaftet waren. Gerade die Ablehnung einer Öffnung der höheren Schulen und der Universitäten für breitere Bevölkerungsgruppen ist hierfür bezeichnend. Dies wurde vor allem in der Auseinandersetzung um den Inhalt des Abiturs deutlich. Hierbei muss allerdings auch konstatiert werden, dass besonders die Universitäten und die Lehrerverbände der höheren Schulen einer stärkeren Reformierung und Öffnung im Weg standen. Die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Arten der höheren Schule, die sich in der Zuerkennung des Begriffs „Gymnasium“ für alle Typen manifestierte, darf zwar gegenüber der Weimarer Republik als Weiterentwicklung angesehen werden, diente aber den Vertretern der höheren Schulen eher als gemeinsamer Riegel gegen die Öffnung nach unten. Die Notwendigkeit dieser Öffnung aber war gerade den Bildungspolitikern der KMK bewusst, denn sie hatten erkannt, dass eine zukunftsfähige Volkswirtschaft mehr und besser ausgebildeter junger Menschen bedurfte. Insgesamt wird deutlich, dass man sich in einer Phase des geistigen Umbruchs befand, denn neben den althergebrachten Argumentationsmustern begann man allmählich, sich auf neue Impulse einzulassen. Denn, wie Axel Schildt treffend formulierte, eine „Atmosphäre des Freund-Feind-Denkens wich allmählich [. . .] der Bereitschaft zur Anerkennung des gesellschaftlichen und kulturellen Pluralismus“.475 Ähnliches ist bei den Altphilologen zu beobachten. Gerade in der Entwicklung der Methoden waren durchaus Tendenzen zur Öffnung spürbar. In ihrer Argumentation für den altsprachlichen Unterricht waren sie aber noch ganz dem 473 474 475
Vgl. Stellungnahme der Elternbeiräte an Humanistischen Gymnasien zu beabsichtigten Reformen im Bereich des Humanistischen Gymnasiums, 20.7.1963, BayHStA, MK 53214. Vgl. Bayerischer Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr an den Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus, 20.6.1963, BayHStA, MK 53214. Vgl. dazu auch Schildt: Abendland, S. 197.
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„christlichen Humanismus“ verhaftet. In der Eröffnungsansprache zur Jahresversammlung des DAV 1959 vom 1. Vorsitzenden Erich Haag kamen beispielsweise alle diskursiven Figuren des „christlichen Humanismus“ wie Elitenbildung476 , Technikskepsis477 , Abendland478 und Christentum479 zur Sprache. Dies spiegelte sich auch in den Argumenten für den Lateinunterricht wider, die sich im Vergleich zur Nachkriegszeit kaum verändert hatten. Latein galt als schwere Sprache und war deshalb ein wichtiges Argument zur Elitenauslese.480 Zudem sei Latein wichtig für den Hochschulzugang, da für viele Fächer Lateinkenntnisse Studienvoraussetzung waren.481 Aber auch ganz allgemein vermittle das altsprachliche Abitur die besten Voraussetzungen für alle Studienfächer, auch die technischen, was man dadurch beweisen wollte, dass in allen Fächern die besten Studierenden Abiturienten eines altsprachlichen Gymnasiums seien.482 Mit jugendpsychologischen Gründen wurde Latein als erste Fremdsprache zu rechtfertigen versucht. Die „Frische und Aufgeschlossenheit des jugendlichen Geistes“ mit elf Jahren käme dem Erlernen der schwierigen Sprache entgegen.483 Nicht zuletzt wurde angeführt, dass Latein die Grundlage für das Erlernen wei476 477
478 479
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481 482 483
Vgl. Haag, Erich: Eröffnungsansprache, in: DG 67 (1960), S. 3–9, hier S. 5. Vgl. ebenda, S. 6; Patzer: Gegenwartsaufgaben humanistischer Bildung, 1961, S. 5–9; Wenke, Hans: Humanistische Bildung und modernes Berufsleben. Abdruck aus der Festschrift „Wilhelm Gymnasium Hamburg 1881–1956“, in: DG 64 (1957), S. 386–391. Vgl. Haag, Erich: Eröffnungsansprache, in: DG 67 (1960), S. 3–9, hier S. 7. Vgl. ebenda, S. 8; Wenke, Hans: Humanistische Bildung und modernes Berufsleben. Abdruck aus der Festschrift „Wilhelm Gymnasium Hamburg 1881–1956“, in: DG 64 (1957), S. 386–391. 1962 fand eine gemeinsame Arbeitstagung der Evangelischen Akademie und der Gesellschaft für humanistische Bildung unter dem Titel: Christlicher Glaube und Humanismus heute“ statt, vgl. Conzelmann: Glaube, S. 1. Vgl. Stiftung Wallenburg an Staatsrat Meinzolt, 8.5.1952: Tagung in Kempfhausen vom 1.–4.4.1952. Beratung zu den Lehrplänen des Deutschen Gymnasiums. Anlage 1: Der fremdsprachliche Unterricht an den Aufbauschulen, BayHStA, MK 53210; Oberstudiendirektor a. D. Max Karg an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 1949, BayHStA, MK 53212; Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Betreff: Schulversuch an den Oberrealschulen, hier: Latein als 1. Fremdsprache. Vorgang: Antrag des Bayerischen Philologenverbandes vom 4.7.1957, BayHStA, MK 53212; Stellungnahme im Ausschuß für kulturpolitische Fragen des Bayerischen Landtages, 28.5.1957, BayHStA, MK 53212. Vgl. Bayerischer Philologenverband, Leitsätze zur Reform des Gymnasiums, 30.9.1957, BayHStA, MK 53212. Vgl. Stellungnahme im Ausschuß für kulturpolitische Fragen des Bayerischen Landtages, 28.5.1957, BayHStA, MK 53212. Oberstudiendirektor a. D. Max Karg an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 1949, BayHStA, MK 53212; Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Betreff: Schulversuch an den Oberrealschulen, hier: Latein als 1. Fremdsprache. Vorgang: Antrag des Bayerischen Philologenverbandes vom 4.7.1957, BayHStA, MK 53212; Stellungnahme im Ausschuß für kulturpolitische Fragen des Bayerischen Landtages, 28.5.1957, BayHStA, MK 53212; Bayerischer Philologenverband, Leitsätze zur Reform des Gymnasiums, 30.9.1957, BayHStA, MK 53212.
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terer Fremdsprachen bilde484 und das Verständnis der Muttersprache485 sowie die grammatisch-logische Schulung fördere.486 Erst in den 1960er Jahre sollten diese Argumentationsstrategien mächtigdurcheinandergebracht werden.
3 Die 1960er Jahre als „Krisenjahre“ des altsprachlichen Unterrichts In den 1960er Jahren geriet der altsprachliche Unterricht in eine Krise. In der Selbstwahrnehmung vieler Altphilologen standen die Fächer Latein und Griechisch kurz vor dem Aus. In der Rückschau war ihre Existenz zwar nie ernsthaft gefährdet, aber der bildungspolitische Diskurs hatte sich im Vergleich zu den 1950er Jahren deutlich gewandelt. Latein war vom bildungspolitischen Leitbild zum Feindbild geworden, und dies hatte zwei Gründe. Zum einen wurde der Ruf nach einer Bildungsexpansion lauter. Das Auslesefach Latein, das dafür in der Nachkriegszeit noch gelobt worden war, geriet nun unter Druck, weil es dafür verantwortlich gemacht wurde, dass zu viele Schüler das Gymnasium verlassen mussten. Zum anderen wurde im Laufe der 1960er Jahre die Frage nach den grundsätzlichen Inhalten schulischer Bildung neu aufgeworfen. 3.1 Bildungsexpansion, Bildungsökonomie und Chancengleichheit
Mit dem Rahmenplan von 1959 waren die Bildungspolitik und die Reformbedürftigkeit des deutschen Schulwesens in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Er läutete eine Zeit ein, in der eine breite Öffentlichkeit kontrovers um bildungspo484
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Vgl. Stiftung Wallenburg an Staatsrat Meinzolt, 8.5.1952: Tagung in Kempfhausen vom 1.–4.4.1952. Beratung zu den Lehrplänen des Deutschen Gymnasiums. Anlage 1: Der fremdsprachliche Unterricht an den Aufbauschulen, BayHStA, MK 53210; Oberstudiendirektor a. D. Max Karg an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 1949, BayHStA, MK 53212; Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Betreff: Schulversuch an den Oberrealschulen, hier: Latein als 1. Fremdsprache. Vorgang: Antrag des Bayerischen Philologenverbandes vom 4.7.1957, BayHStA, MK 53212; Patzer: Gegenwartsaufgaben humanistischer Bildung, 1961, S. 16. Vgl. Stiftung Wallenburg an Staatsrat Meinzolt, 8.5.1952: Tagung in Kempfhausen vom 1.–4.4.1952. Beratung zu den Lehrplänen des Deutschen Gymnasiums. Anlage 1: Der fremdsprachliche Unterricht an den Aufbauschulen, BayHStA, MK 53210; Patzer: Gegenwartsaufgaben humanistischer Bildung, 1961, S. 15. Vgl. Stiftung Wallenburg an Staatsrat Meinzolt, 8.5.1952: Tagung in Kempfhausen vom 1.–4.4.1952. Beratung zu den Lehrplänen des Deutschen Gymnasiums. Anlage 1: Der fremdsprachliche Unterricht an den Aufbauschulen, BayHStA, MK 53210.
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litische Ziele diskutierte.487 Dabei war von entscheidender Bedeutung, dass der Ruf nach der Vermehrung der Abiturientenzahlen immer lauter und schließlich zum bildungspolitischen Mainstream wurde. Zwar war die „Bergung von Begabungsreserven“, die den Fachkräftemangel beheben sollten, bereits in den 1950er Jahren immer wieder gefordert worden, aber besonders die Vertreter des Gymnasiums hatten ihr Vorhandensein vehement bestritten. Erst Mitte der sechziger Jahre wurde die Forderung nach Bildungsexpansion zum parteiübergreifenden Konsens. Dabei sind zwei Personen von Bedeutung, die diese Problematik in den Fokus der Öffentlichkeit rückten: Georg Picht und Ralf Dahrendorf.488 Es ist wichtig festzustellen, wie Torsten Gass-Bolm dies getan hat, dass die beiden epochemachenden Veröffentlichungen von Picht und Dahrendorf „nicht der Anfang, sondern der vorläufige Höhepunkt der Bildungsreformdebatte“ waren.489 Sie sind aber von Bedeutung, weil in ihnen vieles sichtbar wird, was den bildungspolitischen Diskurs lange Zeit bestimmen sollte. Picht sagte den Deutschen 1964 eine „Bildungskatastrophe“ voraus, die das Land auch wirtschaftlich in den Ruin stürzen werde, weil es bald weder Räume noch Lehrer für die wachsende Anzahl an Schülern geben werde.490 Er stütze sich dabei auf eine Bedarfsfeststellung der KMK aus dem Jahr 1963, die prognostizierte, dass im Jahr 1970 ein Fehlbedarf von über 300.000 Lehrern bestehen werde.491 Da die Bundesrepublik im Vergleich zu andern OECD-Ländern hinsichtlich des Abiturientenzuwachses hoffnungslos zurückliege,492 könne nur eine drastische Erhöhung der Abiturientenzahl garantieren, dass „Westdeutschland im Zuge der Entwicklung der 487
488 489 490 491 492
Die allgemeine Reformstimmung zeigte sich auch dadurch, dass beispielsweise im bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus wieder vermehrt Reformvorschläge eingingen, vgl. Marlene Haupt an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 26.1.1965 und 22.7.1965; Heribert Engl an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 7.5.1965; Imma Krumm-Häusl an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 11.10.1965; Hacker an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 16.11.1965; Sauer an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 15.2.1968; Johann Waltenberger: Über die pädagogische Situation an den Gymnasien (besorgte Reflexionen eines bayerischen Gymnasialpädagogen), 24.6.1968; Walter Nunier (Präsident des Oberschulamtes Südbaden) an den Staatsminister für Unterricht und Kultus: Vorschläge zur Neugestaltung der Schule, 19.2.1969; Walter Ziss an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 2.9.1969; Weltbund für Erneuerung der Erziehung an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 3.6.1969, alle BayHStA, MK 53215. Zur allgemeinen Entwicklung in der Bildungslandschaft der Bundesrepublik vgl. Kenkmann: „Bildungsmisere“. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 230; ähnlich auch Jessen: Bildungsökonomie, S. 217; Schildt/ Siegfried: Kulturgeschichte, S. 220. Vgl. Picht: Bildungskatastrophe, S. 16. Vgl. ebenda, S. 20–22. Vgl. auch Rudloff: Bildungsplanung, S. 265f. Vgl. Picht: Bildungskatastrophe, S. 27: Während in Jugoslawien, Norwegen, Frankreich, Belgien, Schweden, Italien, Dänemark und den Niederlanden von 1959 bis 1970 ein
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wissenschaftlichen Zivilisation nicht unter die Räder“ komme.493 Ein Jahr später forderte der Soziologe Dahrendorf in seinem Buch „Bildung ist Bürgerrecht“ die „Lösung der Menschen aus ungefragten Bindungen“, um ihre Bildungschancen auch wirklich wahrnehmen zu können und sich dadurch zu mündigen Bürgern zu entwickeln.494 Sein Hauptanliegen war ebenfalls eine durch Reformen angetriebene Bildungsexpansion.495 Seine Forderung lautete: „mehr Bildung für mehr Menschen!“496 Die Schriften von Picht und Dahrendorf zeigen nicht nur, dass die Debatte um das deutsche Schulwesen in die gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit rückte, sondern weisen auch darauf hin, dass zwei Wissenschaften verstärkt auf dem Radar der Bildungspolitiker erschienen: die Volkswirtschaft und die Soziologie.497 In Bezug auf die Volkswirtschaft bedeutete dies, dass der Zusammenhang von volkswirtschaftlicher Entwicklung und Bildungsgrad der Einwohner eines Staates – Stichwort „Humankapital“ – in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte.498 Nach Vorstellungen der „Bildungsökonomie“ stellte die Abiturientenzahl die „Messlatte der Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft“ dar und der „Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft“ wurde das „Leitkriterium der Bildungsentwicklung“.499 Dabei spielten die internationalen Studien der „Organisation for Economic Co-operation and Development“ (OECD) und der „United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization“ (UNESCO) eine entscheidende Rolle. Die bildungsökonomische Theorie, die wie so viele Leitideen der 1960er Jahre aus den USA stammte, konnte durch diese weltweiten Vergleichsstudien zu einer globalen bildungspolitischen Leitvorstellung werden.500 Die Soziologie wiederum sah in der Schule die „Zuteilungsapparatur von Lebens-Chancen“501 und machte dafür sensibel, dass „Begabung“ keine angeborene Komponente sei, sondern schichtspezifisch definiert werde.
493 494 495 496 497 498
499 500
501
Abiturientenzuwachs von jeweils mehr als 100 % prognostiziert wurde, waren es in der Bundesrepublik gerade mal 4 %. Dahrendorf: Bildung, S. 28. Ebenda, S. 26f. Vgl. auch Gass-Bolm: Gymnasium, S. 176. Vgl. Dahrendorf: Bildung, S. 45f. Ebenda, S. 28. Vgl. Lehning: Weg, S. 668–739; Gass-Bolm: Gymnasium, S. 226–228. Vgl. Jesse: Bildungsökonomie, S. 21; Metzler: Konzeptionen, S. 181f. Dieser Boom der Bildungsökonomie wird in der Forschung als „bildungsökonomische Renaissance“ bezeichnet, da der Begriff des Humankapitals bereits auf Adam Smith zurückgeht. Maßgebend für diese Renaissance war die sogenannte Chigagoer Schule um Theodore W. Schultz, Jacob Miner, Gary S. Becker und Milton Friedmann, vgl. Zacher: Ursprünge, v. a. S. 49–56. Jesse: Bildungsökonomie, S. 220. Vgl. ebenda, S. 119f.; Metzler: Konzeptionen, S. 181f. Zur Geschichte der OECD vgl. Kim: Bildungsökonomie; Recum/Weiß: Bildungsökonomie; Bürgi: OECD. Eine OECD-Hauspublikation ist Papadopoulos: Entwicklung. Zum Einfluss der USA auf die Bildungspolitik allgemein vgl. Koinzer: Suche. Schelsky: Schule, 1957, S. 18.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
Das traditionelle Schulsystem mache den niederen Schichten den Aufstieg so schwer, weil es die soziale Stellung des Schülers nicht bestimme, sondern nur die familiäre Schichtzugehörigkeit bestätige und somit reproduziere. Der biologische Begabungsbegriff, der bereits in den 1920er Jahren in Deutschland vorgeherrscht hatte – und der unter anderem zu den Missverständnissen mit den US-Amerikanern beim Wiederaufbau des deutschen Schulwesens geführt hatte –, wurde nun auch in Deutschland von einem soziologischen Begabungsbegriff abgelöst. Begabung wurde nun nicht mehr als von Natur gegeben oder angeboren begriffen, sondern als dynamische Entwicklung, bei der das soziale Umfeld bei der Herausbildung eine bedeutende Rolle spielte.502 „Chancengleichheit“ wurde fortan nicht mehr im Sinne formaler Gleichheit verstanden, die den ungehinderten Zugang aller Kinder zu Bildungseinrichtungen, wie beispielsweise durch die Abschaffung des Schulgeldes, meinte, sondern als eine Gleichheit, die auch „[e]xogene Barrieren und Hindernisse, bedingt durch die soziale Herkunft“ beiseiteräumen sollte.503 Hinzu kam, vor allem geprägt durch Dahrendorf, die Vorstellung, dass Bildung auch eine emanzipatorische Funktion oder eine „staatsbürgerliche Dimension“504 habe, die Schüler zum mündigen Bürger erziehen sollte.505 „Chancengleichheit“ und „Bildungsökonomie“ wurden die Leitbilder, die die Bildungsexpansion in den 1960er Jahren zum parteiübergreifenden Konsens und somit in dieser Dynamik durchführbar machten.506 Diese „Verwissenschaftlichung“ der Bildungsdiskussion schlug sich auch in der Politik nieder. Die jeweilige Bundesregierung gründete verschiedene Gremien, die Bildungskonzepte entwickeln und als wissenschaftliche Politikberater dienen sollten.507 So wurden 1965 als Nachfolgeinstitution des Deutschen Ausschusses der „Deutsche Bildungsrat“ und 1970 die „Bund-Länder-Kommission für Bildungsforschung und Forschungsförderung“ ins Leben gerufen.508 Die 502
503 504 505 506 507 508
Vgl. Gass-Bolm. S. 133f., 226–228; Furck: Schulsystem, S. 289; Kraul: Gymnasium, S. 198– 202, 209–213; Kemper: Schule und bürgerliche Gesellschaft, S. 261–264. Zeitgenössisch: Roth: Pädagogische Psychologie, 1957, S. 137–169; Schelsky: Schule, 1957, S. 21–23; Roth: Begabung, 1969; Gottschaldt: Begabung und Vererbung, 1969; Mollenhauer: Sozialisation und Schulerfolg, 1969. Zu der ganzen Begabungsdebatte in den 1960er Jahren vgl. den hervorragenden Aufsatz von Rudloff: Entdeckung. Rudloff: Entdeckung, S. 194. Jesse: Bildungsökonomie, S. 224. Vgl. Dahrendorf: Bildung, S. 23f.; Kenkmann: Bildungsmisere, S. 413; Gass-Bolm: Gymnasium, S. 176. Vgl. Kenkmann: Bildungsmisere, S. 424; Hahn: Re-education, S. 180f.; Friedeburg: Chancengleichheit, S. 79. Vgl. Kraul: Das deutsche Gymnasium, S. 207f.; Metzler: Konzeptionen, S. 151–207; Rudloff: Bildungsplanung, S. 275–280. Vgl. Kraul: Gymnasium, S. 208; Führ: Koordination, S. 74f.; Kemper: Schule und bürgerliche Gesellschaft, S. 258; Friedeburg: Bildungsreform, S. 350f.; Metzler: Konzeptionen, S. 181–188.
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wichtigste Gründung war aber die des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPI) 1963, deren Initiator und erster Direktor Hellmut Becker zum „heimlichen Bundeskultusminister“ avancieren sollte und der ein Musterbeispiel für die Macht von „Experten“ darstellt.509 Damit verbunden war die Steuerungsund Planungseuphorie der 1960er Jahre: man glaubte durch richtige Planung und Steuerung verschiedene gesellschaftliche Bereiche optimieren und so zukunftsfähig machen zu können.510 Die hohe Bedeutung beispielsweise, die den Zahlen der OECD in den 1960er Jahren zugesprochen wurde, zeigt deutlich, welchen Stellenwert und welche Überzeugungskraft Experten, Empirie und Messbarkeit in der Bildungspolitik erhielten. Experten wurden so die neuen Akteure, die starken Einfluss auf die Bildungspolitik ausübten. Die alten Akteure, vor allem die Lehrerverbände, gerieten dadurch ins Hintertreffen. 3.2 Auswirkungen auf das Schulsystem und auf den altsprachlichen Unterricht
Die Frage jedoch, wie mehr Schüler zum Abitur geführt werden könnten, wurde alles andere als einheitlich beantwortet. Die widerstreitenden Vorschläge lassen sich jenen beiden Lagern zuordnen, die es schon seit der Reichsschulkonferenz 1920 gegeben hatte. Die einen befürworteten ein Gesamtschulsystem, das den früheren Plänen der Einheitsschulbefürworter sehr ähnlich war, auch wenn man den alten Kampfbegriff tunlichst vermied. Die anderen plädierten dafür, das bestehende dreigliedrige Schulsystem zu erweitern. Dabei waren sie zu Maßnahmen bereit, die in den 1950er Jahren noch unvorstellbar gewesen waren: die allmähliche Auflösung der Gymnasialtypen sowie die Einführung einer Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6. Unabhängig davon geriet aber ein Fach besonders in den Verruf, der nötigen Bildungsexpansion im Weg zu stehen, und das war Latein. Latein wurde aus zwei Gründen als Hindernis für die Bildungsexpansion gesehen. Zum einen sei sein Vorhandensein als erste Fremdsprache eine Schwierigkeit, wenn man das Schulwesen durchlässiger auch gegenüber den Realschulen gestalten wollte, die mit Englisch als erster Fremdsprache begannen. Auch den Forderungen nach einer Förderstufe in der Unterstufe und somit nach längerem gemeinsamem Lernen stand Latein als erste Fremdsprache im Weg. Zu der Kritik hinzu trat nun, zum anderen, eine Argumentation, die in dieser Vehemenz neu war: Latein sei sehr mühevoll zu erlernen und die meisten Schüler würden daran scheitern. Hatte das Fach Latein in den 1950er Jahren gerade wegen seiner Auslesefunktion so hoch im Kurs gestanden, kehrte sich 509 510
Siehe dazu Kapitel IV.3.3; vgl. Metzler: Konzeptionen, S. 183f. Metzler: Geborgenheit, S. 777; vgl. auch Rudloff: Bildungsplanung, S. 260. Zum Thema Bildungssteuerung vgl. Recum: Steuerung.
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dieses Argument nun gegen das Fach. Latein war vom Leitbild zum Feindbild geworden.511 3.2.1 Latein in Bedrängnis
Zwei Beispiele sollen dies nun illustrieren: zum einen eine Debatte im Landtag von Nordrhein-Westfalen, die ein großes mediales Echo nach sich zog, zum anderen ein Leitartikel in der Wochenzeitschrift Der Spiegel. Damit deuten beide Beispiele auch noch etwas anderes an, nämlich dass die Diskussion um das Schulsystem in weiterem Maße als vorher in die Öffentlichkeit getragen wurde bzw. die Öffentlichkeit interessierte. Anfang März 1963 wurde im Düsseldorfer Landtag ein Antrag der SPD diskutiert, der sich für zwei Dinge einsetzte: Zum einen sollte an allen neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien Englisch erste Fremdsprache werden. Dies entsprach eigentlich nur einer konsequenten Umsetzung des Düsseldorfer Abkommens, welches Nordrhein-Westfalen aber aufgrund der Entwicklung seines Schulsystems in der Nachkriegszeit „lateinfreundlich interpretiert“ hatte.512 Zum anderen wollte die SPD, dass eine Wahlfreiheit zwischen Französisch und Latein als zweiter Fremdsprache eingeführt werde. Damit wäre es in Nordrhein-Westfalen wie in der Weimarer Republik wieder möglich gewesen, das Abitur ohne Latein zu erwerben.513 Der christdemokratische Kultusminister Paul Mikat, Professor für Kirchenrecht, hingegen verteidigte Latein als „prägende Kraft der abendländischen Kultur“514 und betonte den „großen bildenden Wert dieser alten Sprache“.515 Auch warnte er vor der Belastung, die es bedeuten würde, wenn Abiturienten Latein an den Universitäten nachlernen müssten.516 Latein sei zudem „die Mutter unserer modernen Sprachen“ und helfe „Distanz zur Spezialisierung in dieser technischen Welt zu wahren“.517 Ein 511 512
513
514 515 516 517
Vgl. Kranzdorf: Leitbild. Künftig Abitur ohne Latein? SPD-Landtagsfraktion befürwortet Englisch als erste Fremdsprache, in: Westfälische Rundschau, 7.3.1963; Geplagte Schüler strahlen: Für neue Reihenfolge der Fremdsprachen. Abitur in Zukunft auch ohne Latein?, in: Westdeutsches Tageblatt, 7.3.1963; Latein künftig nur Wahlfach?, in: Ruhr Nachrichten, 7.3.1963. Vgl. Künftig Abitur ohne Latein? SPD-Landtagsfraktion befürwortet Englisch als erste Fremdsprache, in: Westfälische Rundschau, 7.3.1963; Geplagte Schüler strahlen: Für neue Reihenfolge der Fremdsprachen. Abitur in Zukunft auch ohne Latein?, in: Westdeutsches Tageblatt, 7.3.1963; Latein künftig nur Wahlfach?, in: Ruhr Nachrichten, 7.3.1963. Künftig Abitur ohne Latein? SPD-Landtagsfraktion befürwortet Englisch als erste Fremdsprache, in: Westfälische Rundschau, 7.3.1963. Geplagte Schüler strahlen: Für neue Reihenfolge der Fremdsprachen. Abitur in Zukunft auch ohne Latein?, in: Westdeutsches Tageblatt, 7.3.1963. Ebenda. Prof. Mikat gibt dem Französischen den Vorrang. Kultusminister: Aber nicht auf Kosten des Lateins, in: Kölner Stadtanzeiger, 13.2.1963; vgl. auch Für und wider das Latein, in: Kölnische Rundschau, 7.3.1963; Mikat plädiert für das Latein. Leidenschaftliche Land-
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CDU-Kollege sprang ihm bei: Man dürfe „die große Bedeutung des Lateinischen für die katholischen Bürger des Landes“ nicht vergessen.518 Die SPD-Fraktion ließ sich aber von dieser Argumentation, die ganz der des „christlichen Humanismus“ entsprach, nicht beirren. Der Präses der evangelischen Kirche im Rheinland habe gesagt, dass „die Weltsprache des Protestantismus [. . .] heute Englisch“ sei.519 Latein sei ein „alte[r] Zopf “520 und die „internationale Tendenz“ gehe dahin, Latein in den meisten Fächern nicht mehr als Voraussetzung für das Studium zu sehen.521 Latein dürfe kein Fach sein, „um Schüler herauszuprüfen“.522 Erwartungsgemäß unterstütze die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), in der sich in der Bundesrepublik die Grund-, Haupt- und Realschullehrer organisierten, den Vorschlag der SPD, der Philologenverband kritisierte ihn.523 Die Meinungen in der Presse waren geteilt. Allerdings mehrten sich Stimmen, die die SPD-Position teilten. Latein, so urteilte Gerd Fischer in der Neuen RheinZeitung, scheine für viele Unterstufenschüler „eine Hürde besonderer Art zu sein“, die dazu beitrage, dass der Prozentsatz derer, die die höhere Schule bereits in der Unterstufe wieder verlassen, in Nordrhein-Westfalen auffallend hoch sei. Dabei stützte er sich auf die Aussage eines Lehrers aus Leverkusen, der betonte: „Wir brauchen mehr Wahlmöglichkeiten für die unterschiedlichen Begabungen. Es ist bitter zu sehen, wenn an den speziellen Anforderungen des Lateins anderwärts begabte Kinder scheitern.“524 Ähnlich sah dies Gerhard Fauth im Kölner Stadtanzeiger. Nordrhein-Westfalen sei das einzige Bundesland, in dem man das Abitur nicht ohne Latein erwerben könne. Gleichzeitig sei die Zahl der Abiturienten äußerst gering. Daher fragte er leicht ketzerisch „Vielleicht kommt’s davon?“ und unterstütze den Antrag der SPD. Allerdings – so der Artikel weiter – sei das Kultusministerium für diese Sichtweise „unzugänglich“, da die
518 519 520 521 522 523 524
tagsdebatte über Sprachenfolge, in: Westfälische Nachrichten, 7.3.1963; Trotz Flirt mit Frankreich: Mikat bricht eine Lanze für das Latein, in: Der Mittag, 7.3.1963; Mikat: Latein an allen Oberschulen, in: Ruhr Nachrichten, 7.3.1963. Geplagte Schüler strahlen: Für neue Reihenfolge der Fremdsprachen. Abitur in Zukunft auch ohne Latein?, in: Westdeutsches Tageblatt, 7.3.1963. Ebenda. Mehr Französisch und weniger Latein? Leidenschaftliche Diskussion im Landtag. SPDSprecher nennt Latein „alten Zopf “, in: Aachener Volkszeitung, 7.3.1963. Fischer, Gerd: Wieviel Latein wird wirklich gebraucht? SPD für einheitlichen Fremdsprachen-Unterricht, in: Neue Rhein-Zeitung, 28.2.1963. Geplagte Schüler strahlen: Für neue Reihenfolge der Fremdsprachen. Abitur in Zukunft auch ohne Latein?, in: Westdeutsches Tageblatt, 7.3.1963. Vgl. Heemann: Nordrhein-Westfalen, in: LG 5 (1963), S. 91. Fischer, Gerd: Wieviel Latein wird wirklich gebraucht? SPD für einheitlichen Fremdsprachen-Unterricht, in: Neue Rhein-Zeitung, 28.2.1963. Gegen Fischer und für die CDU-Position: Pietsch, Clemens: Ist Latein wirklich so schwer?, in: Neue Rhein-Zeitung, 23.3.1963.
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„Anhänger des Gedankens, daß Latein humanisierend wirke“, das Ministerium beherrschten.525 Obwohl die CDU in der Beurteilung des Lateinunterrichts eher traditionelle Positionen vertrat, war es der christdemokratische Kultusminister Paul Mikat, der in Nordrhein-Westfalen die Bildungsexpansion vorantrieb. Unter seiner Leitung wurden die Universität Bochum gegründet und zahlreiche neue Gymnasien gebaut. Er führte zudem eine „Beobachtungsstufe“ in der 5. und 6. Volksschulklasse ein, um „begabten“ Kindern den Übergang auf ein Gymnasium zu ermöglichen. Mikat entschärfte zudem den Lehrermangel, indem er eine Schnellausbildung zum Volksschullehrer ermöglichte.526 Dies ist auch ein Beispiel dafür, wie Chancengleichheit und Bildungsexpansion zum parteiübergreifenden Konsens geworden waren. In CDU-geführten Bundesländern wurde dies durch die Erweiterung des bestehenden Schulsystems realisiert. Nicht nur in der Lokalpresse, auch bundesweit geriet Latein medial unter Beschuss. Der Spiegel veröffentlichte 1964 unter dem Titel „Abitur – Die letzte Hürde“ einen Leitartikel, der die Auslesefunktion und den Elitecharakter des Gymnasiums im Allgemeinen und des Lateinunterrichts im Besonderen hervorhob und kritisierte. Anlass waren die anstehenden Abiturprüfungen, und so eröffnete der Artikel wie folgt: 45000 Oberprimaner rüsten sich gegenwärtig nach langjährigem Klassenkampf zur letzten Schulschlacht [. . .]. Sie haben gelitten unter Tacitus und Livius. Sie wurden gebildet für ein Berufsleben bis zum Jahre 2011 oder 2012. Die 45000 sind der Rest von 140000, die vor knapp einem Jahrzehnt auf ihre Oberschultauglichkeit staatlich geprüft und mithin ausersehen waren, zur geistigen Elite der Nation aufzurücken. Ausgewählt wurden zu wenige und nicht immer die besten.527
Der Spiegel zeigte sich besorgt, dass Deutschland im internationalen Vergleich von anderen Nationen wirtschaftlich abgehängt würde, weil es zu wenig qualifizierten Nachwuchs ausbilde. In dem Artikel meldete sich der Frankfurter Pädagoge und Bildungsökonom Friedrich Edding zu Wort und konstatierte, dass der größte Teil der Jugend in der Bundesrepublik Deutschland „keine faire Chance“ erhalte, „sich entsprechend seiner besonderen Begabung zu bilden“.528 Das Gymnasium, so resümierte der Autor des Artikels, schrecke vor allem Schüler aus ländlichen Regionen und Arbeitervierteln ab. Ausgelesen werde „eine viel zu kleine Elite“.529 Die „falsche Auslese“ an deutschen Gymnasien schrieb der Artikel dem fremdsprachlichen Unterricht im Allgemeinen und dem Lateinunterricht im Besonderen zu, denn „der Lateinunterricht ist die Klippe, an der die 525 526 527 528 529
Fauth, Gerhard: Mit dem Latein am Ende?, in: Kölner Stadtanzeiger, 11.5.1963. Die neuen Lehrerinnen – es handelte sich überwiegend um Frauen – wurden liebevollspöttisch „Mikätzchen“ genannt, vgl. Paul Mikat, in: Der Spiegel, 10.2.1965, S. 43. Abitur – Die letzte Hürde, in: Der Spiegel, 9.12.1964, S. 73–87, hier S. 73. Ebenda, S. 74. Ebenda.
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absolute Mehrheit der vorzeitigen Schulabgänger scheitert“.530 Dabei kritisierte Der Spiegel nicht nur die Auslesefunktion des Lateinunterrichts, sondern auch die Dominanz der Fremdsprachen und die daraus resultierende Geringschätzung der Naturwissenschaften. In der Sowjetunion – und dieser Vergleich war in Zeiten des Ost-West-Konflikts besonders relevant – hätten 67 von 100 000 Bürgern ein naturwissenschaftliches Diplom, in Deutschland nur zehn. „Nur eines hat die überwiegende Mehrheit der künftigen deutschen Naturwissenschaftler zumindest den sowjetischen Chemikern und Ingenieuren voraus: Sie lernen Latein.“531 Dabei bestritt der Artikel in Berufung auf den Kölner PsychologieProfessor Udo Undeutsch, dass Latein Kompetenzen vermittle, die universell anwendbar seien, und damit, dass das Erlernen von Latein auch als Vorbereitung auf ein technisches Studium nützliche Fähigkeiten vermittle.532 Undeutsch hatte der These widersprochen, dass Latein formal bilde.533 Wenn die Schüler frei zwischen Fremdsprachen wählen könnten, würden sie sich ohnehin gegen Latein entscheiden.534 Dass Latein ein Instrument zur „sozialen Auslese“535 sei, hatte Undeutsch in der Studie „Zum Problem der begabungsgerechten Auslese beim Eintritt in die Höhere Schule und während der Schulzeit“ von 1969 zu belegen versucht: Er erklärte, dass die Fremdsprachen der Hauptgrund für die Misserfolge vieler Schüler seien, und zwar vor allem Latein.536 Auch die Sprachenfolge übe sich auf die Versetzung aus: Ist Latein Anfangssprache, liegt der Anteil der ersten Fremdsprache am Sitzenbleiben auffällig höher, als wenn mit Englisch begonnen wird. Wenn mit Latein begonnen wird, sind mangelhafte Leistungen in der ersten Fremdsprache in 82 % der Fälle an der Nichtversetzung beteiligt, wenn mit Englisch begonnen wird, beträgt der Anteil der ersten Fremdsprache nur 61 %.537
Der Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers (SPD) sah dies ganz ähnlich: „Kinder aus unteren sozialen Schichten, denen Latein noch fremder ist als denen der Mittel- und Oberschicht, werden durch Lateinunterricht zusätzlich abgeschreckt oder abermals benachteiligt.“538 Dabei betonte vor allem Undeutsch 530 531 532 533 534 535 536 537
538
Ebenda, S. 78. Ebenda. Ebenda, S. 79. Ebenda. Ebenda, S. 81. Evers: Versäumen unsere Schulen die Zukunft?, S. 174. Vgl. Undeutsch: Problem, 1969, S. 400. Ebenda, S. 395. Vgl. zum Thema auch Scheller/Wolf: Zu früh als Sitzenbleiber abgestempelt. Schulpsychologischer Dienst setzt sich für gezieltere Förderung leistungsschwacher Schüler ein, in: Weser-Kurier, 10.6.1971: „Ein Schüler, der naturwissenschaftlich begabt ist und in Sprachen nur ungenügende Leistungen bringt, kann unmöglich seine Begabung entwickeln, wenn ihm ständig die übliche Schulkatastrophe, sprich Nichtversetzung, wegen Englisch und Latein zum Beispiel vor Augen steht.“ Evers: Versäumen unsere Schulen die Zukunft?, S. 174.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
nicht nur die zu starke Auslese, die der Sprachunterricht betreibe, sondern auch die Inhalte, an denen ausgelesen werde. Diese seien „philologisch-sprachorientiert“ und entsprächen in dieser Einseitigkeit nicht den „realen Anforderungen der Gegenwartsgesellschaft“.539 Die Kritik an der philologischen Orientierung der höheren Schule war nicht neu. Sie hatte es bereits während der 1920er Jahre gegeben. Der Artikel zeigt aber deutlich, wie die neuen Leitideen von Bildungsökonomie und Chancengleichheit Oberhand im öffentlichen Sprechen erlangten. Zudem zitiert er Experten wie Edding und Undeutsch, die zu den neuen wirkmächtigen Akteuren wurden und die öffentliche Meinung maßgeblich prägten. Auch die Fachvertreter spürten, dass ihre Fächer einmal mehr in der Kritik standen.540 Otto Leggewie, Ministerialbeamter im nordrhein-westfälischen Kultusministerium und späterer Bundesvorsitzender des DAV, bemerkte 1964, „daß die Zeiten vorbei sind, da die vorherrschende Stellung des Lateinischen unbestritten war“. Die „zweckbezogene [. . .] Einstellung von heute“ habe dazu geführt, dass die Beschäftigung mit Latein abgelehnt würde. Außerdem stelle er selbstkritisch fest, „daß die Lage durch den Mißbrauch, den man mit der Auslesefunktion des Lateinischen trieb, sehr erschwert wurde“.541 Einmal mehr erforderten die Weiterentwicklung der Gesellschaft eine Erneuerung des altsprachlichen Unterrichts. Wie und ob dies den Altphilologen und dem DAV einmal mehr gelang, wird in Kapitel IV.3.4. besprochen. 3.2.2 Hamburger Abkommen von 1964 und Bildungsexpansion in den Ländern
Das, was man in der Rückschau als Bildungsexpansion bezeichnet, fand in den 1960er Jahren vor allem auf Länderebene statt. Denn es war keine Bundesreform, die diese Entwicklung auslöste, sondern ein vielfältiges Reformbündel, das vor allem auf der Ebene der Länder beschlossen und durchgeführt wurde. Am sichtbarsten war dabei der vielfältige Ausbau von Bildungseinrichtungen von der Grundschule über Realschule und Gymnasien bis hin zu Universitäten und Fachhochschulen. Der Bund hatte nur zu regeln, dass dieser Ausbau innerhalb eines relativ einheitlichen Rahmens vonstattenging, um ein erneutes „Schulchaos“ zu vermeiden. Dieser Rahmen war das sogenannte „Hamburger 539 540
541
Undeutsch: Problem, 1969, S. 400. Vgl. die zahlreichen Erscheinungen zu diesem Thema, wie Teske: Warum heute noch Latein?; Hermes, Eberhard: Latein in unserer Welt. Ein Beitrag zum Selbstverständnis des gegenwärtigen Lateinunterrichts, in: Gymnasium 73 (1966), S. 110–125; Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27. Die Vertreter der alten Sprachen in der GEW widmeten diesem Thema ein ganzes Heft ihrer Zeitschrift Lebendiges Gymnasium, vgl. Wir nehmen Stellung, in: LG 5 (1963); Kern, W.: Die alten Sprachen aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers, in: LG 5 (1963), S. 3–6; Kritische Randbemerkungen eines Germanisten, in: LG 5 (1963), S. 6–7. Leggewie, Otto: Zur Frage Latein und Latinum, in: MDAV 7,1 (1964), S. 16–17, hier S. 16.
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Abkommen“, die Nachfolgevereinbarung zum Düsseldorfer Abkommen von 1955. Auch wenn es keinen radikalen Bruch darstellte, spiegeln sich in ihm doch die wesentlichen atmosphärischen Veränderungen im gesellschaftlichen Klima der Bundesrepublik wider. Da das Düsseldorfer Abkommen nur für einen Zeitraum von zehn Jahre geschlossen worden war, arbeitete der Schulausschuss der KMK ab Oktober 1963 an einer Nachfolgevereinbarung.542 Am 28. Oktober 1964 unterzeichneten die Ministerpräsidenten der Bundesländer die „Neufassung des Abkommens zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens“.543 Das Hamburger Abkommen ermöglichte vor allem, dass verschiedene Reformelemente Einzug in die Bildungspolitik erhielten, die die vom Rahmenplan ausgelöste Diskussion hervorgebracht hatte.544 Eine wesentliche Änderung, die zugleich eine Forderung der systemtransformierenden Reformer berücksichtigte, war die Zulassung einer „Förder- oder Beobachtungsstufe“, ein „für alle Schüler gemeinsames 5. und 6. Schuljahr“.545 Außerdem wurde auf die Festschreibung einzelner Gymnasialtypen verzichtet: „Schulen, die am Ende der 13. Klasse zur allgemeinen Hochschulreife oder zu einer fachgebundenen Hochschulreife führen, tragen die Bezeichnung ‚Gymnasium‘.“546 Erst ab Klasse 11 sollte eine Unterteilung in Schultypen erfolgen.547 Diese Änderung war vor allem der Tatsache geschuldet, dass jetzt auch wirtschaftliche, musische sowie sozial- und erziehungswissenschaftliche Schulen zu den Gymnasien der „Normalform“548 zählten.549 Neben dieser „Normalform“ gab es eine so genannte „Aufbauform“ des Gymnasiums, die an die Realschule angegliedert werden konnte.550 Weitere – teilweise weitreichende – Veränderungen gab es auf dem Gebiet der Fremdsprachen: Eine Fremdsprache ab Klasse 5 wurde auch in der Hauptschule 542 543 544 545
546 547 548
549 550
Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 252. Neufassung des Abkommens zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens vom 19./20.10.1965 („Hamburger Abkommen“). Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 211; Kraul: Das deutsche Gymnasium, S. 196; Ulshöfer: Entwicklung, S. 99; Friedeburg: Bildungsreform, S. 348–350. Neufassung des Abkommens zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens vom 19./20.10.1965 („Hamburger Abkommen“), § 4, S. 66. Ebenda, § 7, S. 66. Vgl. ebenda, § 12, S. 67f. Ebenda, § 11, S. 67. Gemeint waren damit Gymnasien, die, je nachdem, ob es im jeweiligen Bundesland eine vier- oder sechsjährige Grundschulzeit gab, in der 5. bzw. 7. Klasse begannen. Vgl. dazu Gass-Bolm: Gymnasium, S. 211. Vgl. Neufassung des Abkommens zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens vom 19./20.10.1965 („Hamburger Abkommen“), § 11, S. 67.
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obligatorisch,551 zur Erlangung der Hochschulreife genügten zwei Fremdsprachen.552 Bislang waren lediglich am mathematisch-naturwissenschaftlichen Typ nur zwei Fremdsprachen Pflicht gewesen. Die vieldiskutierte Fremdsprachenfolge wurde auch offener geregelt. Im Abkommen hieß es: „Der Unterricht in der ersten Fremdsprache beginnt in der 5. Klasse. Die erste Fremdsprache ist in der Regel Englisch oder Latein.“553 Somit war die Wahl der ersten Fremdsprache nicht mehr an den Schultyp gebunden. Als zweite Fremdsprache sollten die Schüler ab der 7. Klasse mit Latein, Französisch oder Englisch beginnen.554 Über die dritte Fremdsprache legte das Abkommen Folgendes fest: Frühestens von der 9. Klasse ab kann eine dritte Fremdsprache gelehrt werden. Für Schüler, die das Reifezeugnis des altsprachlichen Gymnasiums erwerben wollen, beginnt der pflichtgemäße Griechischunterricht in der 9. Klasse. Dafür können sich nur Schüler entscheiden, die Latein als erste oder zweite Fremdsprache gelernt haben.555
Das bedeutete, dass zwar an der Möglichkeit, Latein als erste Fremdsprache zu wählen, festgehalten wurde. Aber es war eben nicht mehr zwangsläufig die erste Fremdsprache an altsprachlichen Gymnasien. Außerdem nahm die Neufassung die Möglichkeit, als dritte Fremdsprache Französisch zu wählen und trotzdem ein „altsprachliches Abitur“ abzulegen. Zudem wurde der Griechischunterricht um ein Jahr verkürzt, was zu heftigen Protesten seitens der Befürworter klassisch-humanistischer Bildung führen sollte.556 Dass die Option Französisch als erste Fremdsprache nicht bedacht worden war, sorgte für Unmut beim westlichen Nachbarn.557 Außerdem öffnete das Hamburger Abkommen die Tür für „[p]ädagogische Versuche“, wie beispielsweise die Gesamtschule, die zwar „der vorherigen Empfehlung der Kultusministerkonferenz“ bedurften, aber durchaus erlaubt waren.558 551 552 553 554 555
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Vgl. ebenda, § 9–11, S. 67. Vgl. ebenda, § 14, S. 68. Ebenda, § 13a), S. 68. Vgl. ebenda, § 13b), S. 68. Ebenda, § 13c), S. 68. Auch der Deutsche Ausschuss hatte in seinen Empfehlungen für die Neuordnung der Höheren Schule vom Oktober 1964 vorgeschlagen, den Beginn der dritten Fremdsprache in die 9. Klasse zu verlegen, vgl. Deutscher Ausschuss: Empfehlungen für die Neuordnung der Höheren Schule vom 3. Oktober 1964, S. 551. Siehe dazu Kapitel IV.3.2.3. Vgl. Georges Pompidou an Willy Brandt, 18.8.1970, BA Koblenz, B 304/702, Bd. 2, Bl. 003– 004; In zehn Bundeslaendern Abitur auch mit Deutschnote fuenf, dpa 161, 17.1.1965 (ACPD 9/92/9-10). Letztendlich änderten die Kultusminister auf Drängen Frankreichs den Text 1971, vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 262–268. Neufassung des Abkommens zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens vom 19./20.10.1965 („Hamburger Abkommen“), §16, S. 68; vgl. auch Hillbrandt/ Sintzen-Königsfeld: Schulentwicklung, S. 20. Zur Entwicklung und Diskussion der Gesamtschule, vgl. Furck: Schulsystem, S. 288–294, 328–343; Oelkers: Gesamtschule.
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Anhand dieser Punkte lassen sich die wichtigen Merkmale des Hamburger Abkommens erkennen: Das Schulwesen sollte flexibler und vor allem durchlässiger werden, um die Zahl der Abiturienten zu steigern.559 Statt einheitlicher Gymnasialtypen entstand nun eine Typenvielfalt. Auch solchen Bildungsinhalten wurde eine „Gymnasialwürdigkeit“ zuerkannt, die vorher nicht dazugehört hatten.560 Das verwundert umso mehr, wenn man bedenkt, mit welcher Vehemenz Ende der 1950er Jahre noch die Arbeitsgemeinschaft Höhere Schulen an den einheitlichen Typen festgehalten hatte und welche Angstreflexe das Stichwort der „Zersplitterung“ hervorgerufen hatte. Durch ein pluralistischeres und durchlässigeres Bildungssystem wollte man für mehr Abiturienten sorgen. Pragmatismus und Bildungsökonomie statt Idealismus und Ideologie wurden bezeichnend für die 1960er Jahre. Und in der Tat setzte sich beispielsweise in der Kultusverwaltung von Nordrhein-Westfalen die Einstellung durch, dass eine „differenzierte Förderung der Begabungen“561 nötig sei, um auch die „brachliegenden Begabungen zu erfassen“.562 Dafür seien flexiblere Formen der höheren Schule nötig, in denen die „Begabungsrichtung“ nicht schon mit der Wahl der ersten Fremdsprache entschieden werde.563 1968 forderte schließlich auch der Philologenverband von Nordrhein-Westfalen in seiner Broschüre „Die Zukunft gewinnen“ die „weitgehende Aufhebung der bisherigen Gymnasialtypen“.564 In letzter Konsequenz hätte dieser Trend zur Einführung einer Gesamtschule als alleinige Schulform führen können. Die GEW schrieb 1968, dass es „keine starre und unbewegliche Schulorganisation mehr geben“ dürfe, da dies „dazu geführt habe, daß der ‚Modernitätsrückstand‘ im Bildungswesen so groß und bedrückend geworden“ sei.565 Damit wollte sie für die flächendeckende Einführung der Gesamtschule werben. Selbst in Bayern wurde über die Einführung der Ge-
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Vgl. Kraul: Das deutsche Gymnasium, S. 196; Gass-Bolm: Gymnasium, S. 211. Gass-Bolm zeichnete diesen Wandel besonders deutlich am Beispiel des Wirtschaftsgymnasiums nach, vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 212. Vgl. dazu auch Kultusminister Mikat gibt neue Stundentafeln bekannt, 25.3.1966, LAV NRW, NW 147, Nr. 98, Bl. 17–36: Darin gibt es 13 Formen der höheren Schule. Wir berichten: Bremen, in: LG 4 (1962), S. 89: Bremen ließ das Wirtschaftsgymnasium als vierten Typ eines Gymnasiums zu. Wietig, E.: Die Herausforderung unserer Zeit. Neue Typen des Gymnasiums, in: LG 6 (1964), S. 93–94. Zum Gymnasium, 1966 [vermutl. Positionspapier des Kultusministeriums], LAV NRW, NW 162, Nr. 30–31. Ebenda. Abteilungsleiter II an Staatssekretär, 5.1.1967, LAV NRW, NW 162, Nr. 34. Zitiert nach Vorsitzender DAV NRW, Bering: Bericht zur Lage, 28.9.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601. Thesen zur Gesamtschule. Vorgelegt dem Kongreß der GEW in Nürnberg 1968, in: LG 10 (1968), S. 77–79, hier S. 77.
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samtschule diskutiert und erprobt,566 auch wenn sich Ministerpräsident Alfons Goppel567 und die Kultusminister Ludwig Huber568 und Hans Maier569 persönlich für den Erhalt des altsprachlichen Gymnasiums einsetzten. Eine strukturelle Reform des Bildungssystems war auch in anderen Bundesländern nicht erfolgt. Vielmehr wurde das vorhandene dreigliedrige Schulsystem inhaltlich erweitert und ausgebaut. Dabei waren es vor allem Gymnasien, die im ganzen Land neu gebaut oder modernisiert wurden.570 Das Schlagwort von der „Bergung der Begabungsreserven“ war in aller Munde und die Vermehrung der Gymnasien wurde durchaus als die richtige Initiative dazu gesehen. Bayern rühmte sich beispielsweise, dass es damit „ein ausgezeichnetes Instrument zur Gewinnung und Förderung von Begabungsreserven vor allem in den ländlichen Gebieten“ entwickelt habe.571 Auf der anderen Seite lehnten aber auch die konservativeren Kreise progressive Reformvorschläge nicht mehr prinzipiell ab. So sagte der hessische Altphilologenverband zur Einführung der Förderstufe in Hessen, dass sie dies als Hilfe, „neue Bildungsreserven zu erschließen“, durchaus begrüßten.572 Die Gesamtschule wurde im Übrigen letztendlich in einigen Bundesländern als neue Schulform neben den bestehenden drei Schultypen eingeführt. Dies 566
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Vgl. CSU Bezirksverband Schwaben an Ministerialdirigenten Höhne, 6.3.1969, BayHStA, MK 53215; Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Ergebnisprotokoll über die 7. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 12.12.1969, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4. Vgl. dazu auch Lehning: Weg, S. 1027–1042: Bayern entschied sich letztlich trotz Schulversuche gegen die Gesamtschule als vierten Schultyp. Vgl. Bayerischer Ministerpräsident an Oberstudiendirektor Hornung, 14.4.1969, BayHStA, MK 81256. Vgl. Bayerischer Minister für Unterricht und Kultus an Bundesminister der Finanzen, Strauß, 16.4.1969, BayHStA, MK 81256. Vgl. Otto Schönberger (Bezirksvorsitzender der Altsprachlichen Fachgruppe im Bayerischen Philologenverein) an den Minister für Unterricht und Kultus, 17.6.1971, sowie Antwort von Minister, 26.7.1971, BayHStA, MK 81256; Altphilologische Fachgruppe im Bayerischen Philologenverband (Karl Bayer) an bayerischen Staatsminister Hans Maier, 16.11.1971, BayHStA, MK 81256; Vormerkung, Betreff: Latein als erste Fremdsprache, 4.5.1972, BayHStA, MK 81256; Hans Maier an Hellmut Flashar (Mommsen-Gesellschaft), 19.5.1972, BayHStA, MK 81256; Hörmann: Vormerkung. Griechisch und Latein am Gymnasium; hier: Gespräch des Herrn Staatsministers Prof. Dr. Maier mit Prof. Dr. Uvo Hölscher, 20.6.1972, BayHStA, MK 81256. Vgl. Holthoff treibt Bau neuer Gymnasien voran. Gemeinden erhalten staatliche Zuschüsse, in: Westfalen-Blatt, 12.2.1970; Holthoff: 1970 Rekordsumme. Eine Milliarde DM für Schulbauten, in: Westfälische Rundschau, 25.11.1969; Kühn „erhört“ Gymnasiasten, in: Westfälische Nachrichten, 3.3.1970; Nachrichten des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, Pressereferat: Kultusminister Huber über die Rolle des Gymnasiums, 24.5.1968, BayHStA, MK 53215. Nachrichten des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, Pressereferat: Kultusminister Huber über die Rolle des Gymnasiums, 24.5.1968, BayHStA, MK 53215. Stellungnahme zur geplanten Änderung der hessischen Schulgesetze, in: MDAV 11,4 (1968), S. 1–4, hier S. 1.
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zeigt einmal mehr, dass zwar Systemveränderungen kaum durchsetzbar waren, Erweiterungen des Schulsystems aber durchaus. Die Maßnahmen der Länder griffen schnell, denn bereits Mitte der 1960er Jahre wurden die Klagen über Lehrermangel laut.573 Außerdem deutete sich auch eine atmosphärische Veränderung an: Die Schüler begannen sich aktiv in ihre Schulgestaltung einzumischen.574 So kam es Ende der 1960er Jahre häufiger zu Schülerstreiks575 und „spontane[n] Solidarisierungen von Lehrern und Schülern“.576 Nich alle Kollegen aber begrüßten die neuen Zeiten.577 3.2.3 Alte Reflexe: Ein Jahr Griechisch weniger
Die Stellung des Faches Latein wurde durch das Hamburger Abkommen kaum berührt. Allerdings sorgte die einheitliche Festlegung des Beginns der 3. Fremdsprache auf Klasse 9 für einigen Unmut im altsprachlichen Lager. Die KMK hatte sich dadurch eine weitere Vereinheitlichung und bessere Durchlässigkeit erhofft. Die 3. Fremdsprache sollte nun, egal ob fakultativ oder verpflichtend, in Jahrgangsstufe 9 beginnen. Damit verschob sich auch der Beginn des Griechischen am altsprachlichen Gymnasium um ein Jahr nach hinten, war er bis dahin bereits in Klasse 8 eingeführt worden. Die heftigen Reaktionen, die diese Veränderung auslöste, deuten darauf hin, dass für Teile der Gesellschaft die idealistischen Bildungsvorstellungen durchaus noch bedeutsam waren. Schon im Schulausschuss der KMK gab es über dieses Thema heftige Diskussionen, in denen vor allem die Vertreter der Länder Bayern, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ihr Interesse an der Erhaltung des altsprachlichen Bildungsgangs nachdrücklich betonten. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier erklärte während einer Rede im Mainzer Landtag, er habe sich zusammen mit seinem Kollegen aus Schleswig-Holstein gegen die Verkürzung starkgemacht, sich aber am Ende doch der Mehrheit beugen 573
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Vgl. Unterlagen zur Pressekonferenz, 24.5.1967, LAV NRW, NW 147, Nr. 98, Bl. 4; Maßnahmen zur Linderung des Lehrermangels, LAV NRW, NW 202, Nr. 4, Bl. 160; Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrats, Ergebnisprotokoll über die 3. Sitzung des Deutschen Bildungsrats, 7.4.1967, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4; Niederschrift über die 3. Sitzung der Bildungskommission, 14./15.6.1966, DIPF/BBF/Archiv: DBR 6. Vgl. dazu ausführlich Gass-Bolm: Gymnasium, S. 265–280. Vgl. Stadt hofft noch auf Schlichtung. Schüler streiken weiter: Direktor soll weg!, in: Westfälische Rundschau, 10.12.1969; Höhere Schüler drohen mit Warnstreik. Gegen unzureichende Ausstattung und „veraltete Methoden“, in: Westfälische Nachrichten, 11.12.1969; Pennäler bleiben hart: Dr. Neef muß weg. Pädagogen an der Streikfront: Ratlos, in: Ruhr Nachrichten/Westfalenpost, 13.12.1969. Joachim Emmrich, Günther H. Hack an bayerischen Minister für Unterricht und Kultus, 27.9.1968, BayHStA, MK 53215. Gerhard Maier, Geschäftsführer des CSU-Kreisverbandes Miesbach an Staatsminister Huber, 11.9.1969, BayHStA, MK 53215.
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müssen.578 Nicht nur der DAV beschwerte sich massiv bei den politischen Vertretern über diese Kürzung.579 Im Oktober 1965 wurde eine von 2400 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet, darunter auch einige bekannte Professoren,580 unterzeichnete Resolution an die Ministerpräsidenten übergeben, die sich gegen die Verkürzung des Griechischunterrichts aussprach.581 Im selben Jahr hatte die „Gesellschaft für humanistische Bildung“ eine Sammlung von Dokumenten herausgegeben, in denen Eltern, Lehrer, Hochschullehrer und Vertreter der Kirchen gegen die Verkürzung protestierten.582 Zuallererst konnten die Anhänger des Griechischunterrichts eine Verkürzung desselben aus ihrer Meinung nach pragmatischen und utilitaristischen Gründen grundsätzlich nicht gutheißen.583 Das altsprachliche Gymnasium habe einfach eine Sonderstellung in der Schullandschaft und könne daher nicht in ein einheitliches System eingegliedert werden.584 Außerdem bewirke das fehlende Jahr Griechisch eine „Verwässerung des humanistischen Bildungsideals“, was ein „weitere[r] Schritt zum Verfall abendländischer Kultur“ bedeute.585 Man sah darin die „Substanz des humanistischen Gymnasiums gefährdet“.586 Andere Kritiker 578 579
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Vgl. Altmeier: Erklärung im Landtag, 5.11.1964; Noch einmal Griechisch. Kultusminister Orth zu den Vorwürfen, in: FAZ, 8.4.1965. Vgl. Deutscher Altphilologenverband, 1. Vorsitzender Kay Hansen an die Ministerpräsidenten der Länder, Kultusminister, KMK, WRK, den philosophischen Fakultätentag, Vorsitzenden der Schulausschüsse der Länderparlamente, 10.1.1965, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: Griechisch-Unterricht; Vorstandssitzung des DAV in Frankfurt/ Main, 4./5.1.1965, in: MDAV 8,1 (1965), S. 11. Z. B. die Herren Otto Hahn, Wolfgang Schadewaldt und Bruno Snell. Gegen die Aushöhlung der Gymnasialbildung, in: Die Welt, 12.10.1965. Dieser Bericht blieb nicht unwidersprochen: Jaspert, Henrich: Wurzeln des abendländischen Denkens, in: Die Welt, 27.10.1965. Vgl. Eine Jahr Griechisch weniger? Für die Universitäten bspw. Rektorat der Universität München, 10.3.1965, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: Griechisch-Unterricht; Erklärung des akademischen Senats der Universität des Saarlandes, 2.7.1965, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: Griechisch-Unterricht; Entschließung der philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt, 23.6.1965, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: GriechischUnterricht; Stellungnahme der Universität Hamburg, 6.11.1964, in: MDAV 8,1 (1965), S. 13–14. Vgl. Erklärung der Elternschaft des Gymnasiums zu Berlin-Steglitz, S. 8; Kein Platz mehr für Homer?, in: Mainzer Allgemeine Zeitung, 4.11.1964. Vgl. Entschließung des Lehrerkollegiums des Gymnasiums Philippinum Marburg a. d. Lahn, S. 37f. Erklärung der Elternschaft des Gymnasiums zu Berlin-Steglitz, S. 9. Vgl. auch Kein Platz mehr für Homer?, in: Mainzer Allgemeine Zeitung, 4.11.1964. Erklärung der Elternschaft des Gymnasiums zu Berlin-Steglitz, S. 8. Ähnlich Dieterich: Zum Hamburger Schulabkommen, S. 56: „Diese Entscheidung über das Griechische greift tief in die Substanz dieser Schulform ein“. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Erklärung der Professoren des Seminars für Klassische Philologie der Freien Universität Berlin, S. 1; Stellungnahme von Rektor und Senat der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, S. 5; Deutscher Altphilologenverband, 1. Vorsitzender Kay Hansen an die Ministerpräsidenten
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wählten noch drastischere Worte und sprachen davon, dass die Einführung eines „Rumpfgriechisch“587 „einer Vernichtung des altsprachlichen Gymnasiums“ nahekäme.588 Einige gingen in ihren Ausführungen so weit, dass sie die Kürzung des Griechischunterrichts als offenen Angriff auf das altsprachliche Gymnasium verstanden: Es lasse sich nicht bestreiten, „daß der Text des Hamburger Abkommens Tür und Tor für einen kulturpolitischen Radikalismus öffnet, dessen Ziel die Beseitigung der gymnasialen altsprachlichen Bildungsform ist“.589 Die Begründung für diese drastischen Prophezeiungen lag darin, dass die Unterzeichner Griechisch als das eigentlich charakteristische und prägende Fach des altsprachlichen Gymnasiums ansahen.590 Folglich störten sie sich auch stark daran, dass Griechisch im Hamburger Abkommen zur „dritten Fremdsprache“ degradiert wurde.591 Seine Bildungsmöglichkeiten entfalte das Griechische durch
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der Länder, Kultusminister, KMK, WRK, philosophischen Fakultätentag, Vorsitzender der Schulausschüsse der Länderparlamente, 10.1.1965, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: Griechisch-Unterricht. Stellungnahme von Rektor und Senat der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, S. 6. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 24; vgl. auch Resolution des Elternbeirates des Lessing-Gymnasiums Frankfurt a. M., S. 27: „Die in dem Abkommen vorgesehene Einschränkung des Griechischen ist demgegenüber ein Beitrag nicht nur zur Reform, sondern zur Denaturierung und letzten Endes Zerstörung des altsprachlichen Gymnasiums.“ Ähnlich auch Memorandum der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 41: „Auf dem Hintergrund dieser Vorgänge erscheint die jüngst beschlossene Verkürzung des griechischen Gymnasialunterrichts eine weitere, den Fortbestand der klassischen Bildung gefährdende Maßnahme.“ Der Vorsitzende des DAV sagte dazu laut einer dpa-Meldung vom 9.6.1965: Die Verkürzung des Griechisch-Unterrichts sei eine „Diskriminierung, die wir nicht hinnehmen dürfen“. Außerdem wandte er sich „scharf gegen Bestrebungen, das humanistische Gymnasium als anachronistisch abzuschaffen“. Vgl. Gleichberechtigung für das humanistische Gymnasium gefordert, dpa 140, 9.6.1965 (ACDP 9/926). Entschließung des Lehrerkollegiums des Gymnasiums Philippinum in Marburg a. d. Lahn, S. 38. Vgl. auch Resolution des Elternbeirates des Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums Frankfurt a.M., S. 29: „Wir Eltern erwarten, daß die Existenz des altsprachlichen Gymnasiums nicht immer erneut durch gezielte oder versteckte Angriffe in Frage gestellt wird, die einer klischeehaften und veralteten Bildungsideologie entspringen.“ Vgl. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 23; Resolution des Elternbeirates des Lessing-Gymnasiums Frankfurt a. M., S. 26; Resolution des Elternbeirates des Friedrichs-Gymnasiums Kassel, S. 32; Entschließung des Lehrerkollegiums des Gymnasiums Philippinum Marburg a. d. Lahn, S. 34; Dieterich: Zum Hamburger Schulabkommen, S. 51. Entschließung des Lehrerkollegiums des Gymnasiums Philippinum Marburg a. d. Lahn, S. 36: Das Hamburger Abkommen „behandelt das spezifische Kernfach Griechisch, als wäre es eine ‚dritte Fremdsprache‘. Griechisch ist aber die zweite, seiner Bedeutung nach sogar die erste, d. h. die wichtigste Fremdsprache am altsprachlichen Gymnasium.“ Vgl. dort auch S. 38; des Weiteren vgl. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 23; vgl. auch Deutscher Altphilologenverband, 1. Vorsitzender Kay Hansen an die Ministerpräsidenten der Länder, Kultusminister, KMK, WRK, philosophischen Fakul-
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die Lektüre der „bedeutsamen Quellen des europäischen Geistes“.592 Da durch die Verkürzung ein umfassender Lektüreunterricht unmöglich werde, erfahre das Fach eine „radikale Sinnentleerung“,593 da die „formale Bildung“ alleine, die die griechische Grammatik durchaus biete, den Bildungsauftrag der höheren Schule vollkommen verfehle.594 Selbst eine Stundenerhöhung in Klasse 9, um das fehlende Schuljahr etwas zu kompensieren, wäre keine Lösung, weil auch die physische und psychische Beschaffenheit der Schüler in der 9. Klasse viel ungünstiger sei: „pädagogische und jugendpsychologische Einsichten und Erfahrungen“595 hätten erwiesen, dass „Lernfreudigkeit“596 und „Lernfähigkeit“597 im Vergleich zur 8. Klasse in der 9. Klasse niedriger seien. In der gesamten Diskussion wurde einmal mehr betont, dass die altsprachliche Bildung für ihre Befürworter nur in der Kombination aus Latein und Griechisch wahrhaft humanistische Bildung darstelle. Dabei finden sich bereits bekannte Argumentationslinien wieder: Trotz allem sinnvollen Streben nach sozialer Gerechtigkeit sei doch „eine Schule mit besonders hohem Leistungsstand ein unbestreitbares Bedürfnis“ und es dürfe nicht versäumt werden, „für die zeitsparende Förderung und Ausnützung der höheren Begabungsreserven zu sorgen“.598 Deshalb sei es völlig legitim, auch „anspruchsvolle Schultypen“599 wie das altsprachliche Gymnasium zu fördern. Schließlich verlange es mit drei
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tätentag, Vorsitzender der Schulausschüsse der Länderparlamente, 10.1.1965, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: Griechisch-Unterricht. Resolution des Elternbeirates des Lessing-Gymnasiums Frankfurt a. M., S. 26. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 24. Entschließung des Lehrerkollegiums des Gymnasiums Philippinum Marburg a. d. Lahn, S. 35. Ähnlich auch Memorandum der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 42: Wenn der Griechisch-Unterricht „nicht mehr zur Lektüre der wichtigsten Schriftsteller“ führt, wird er „an Schulen durch diese Maßnahme im Grunde sinnlos“. Vgl. Entschließung des Lehrerkollegiums des Gymnasiums Philippinum Marburg a. d. Lahn, S. 35. Resolution des Elternbeirates des Lessing-Gymnasiums Frankfurt a. M., S. 26. Voit: Neuregelung, S. 14. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 23. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Entschließung des Lehrerkollegiums des Gymnasiums Philippinum Marburg a. d. Lahn, S. 34; Burck: Bedrohung, S. 2. Memorandum der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 43; vgl. dort auch S. 45; ebenso Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 25; Gegen die Aushöhlung der Gymnasialbildung, in: Die Welt, 12.10.1965: „Die Zurückdrängung der humanistischen Gymnasien und ihre innere Aushöhlung haben bereits zu einer unverkennbaren Minderung unserer Leistungsfähigkeit geführt. Man verkenne die Pflicht, den Hochbegabten und zu schöpferischen Leistungen jeglicher Art Veranlagten die ihnen gemäße Förderung und Bildung angedeihen zu lassen.“ Memorandum der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 43; vgl. auch ebenda, S. 45: „Stundenzahl und Lehrplan sollten nicht unbedingt an die Anforderungen des Durchschnitts anderer Schulen gebunden sein. So wie in mathematischen Sonder-
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Pflichtfremdsprachen, von denen Griechisch zu den schwereren gehöre, ein höheres Niveau.600 Allerdings verteidigten sich die Vertreter der klassischen Bildung gegen den Vorwurf, dabei auf „Standesvorstellungen vergangener Zeit“601 abzielen zu wollen. Man sei „frei von standesegoistischen Interessen und reaktionären Tendenzen“.602 Auch wurde in der Kritik immer wieder die Anerkennung der Naturwissenschaften betont: Eine etwaige Erhöhung der Stundenzahl für das Griechische zum Ausgleich des späteren Beginns würde voraussichtlich auf Kosten der naturwissenschaftlichen Fächer geschehen. Das wäre aber weder im Sinne des altsprachlichen Gymnasiums, noch läge es im Interesse der Naturwissenschaften, deren Lehrer auf den Hochschulen altsprachliche Abiturienten besonders gern unter ihren Studierenden haben.603
Ein weiteres bekanntes Argument wird hier ebenfalls wieder bemüht, dass nämlich die zahlreichen Schüler der altsprachlichen Gymnasien, die naturwissenschaftliche Berufe anstrebten, bei den Dozenten sehr beliebt seien.604 Nicht zuletzt waren die Theologen einmal mehr besorgt über die Ausbildung ihres wissenschaftlichen Nachwuchses.605 Die Kritik verhallte allerdings ungehört: Im September 1966 einigten sich die Ministerpräsidenten darauf, dass am 1. August 1967 alle Länder erst in Klasse 9 mit Griechisch begännen.606 Die Angst, dass dadurch das Ende des altsprachlichen Gymnasiums eingeleitet werden würde, versuchten die Politiker allerdings
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schulen höhere Mathematik und Physik zugemutet werden dürften, so wären auch vier Sprachen für einen sprachlich Begabten nicht zu viel.“ Vgl. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 23; ebenda, S. 24: „Es ist eine Utopie anzunehmen, daß durch die Kürzung des Griechischen das altsprachliche Gymnasium zu einer leichteren Schule werden könnte.“ Dieterich: Zum Hamburger Schulabkommen, S. 51; Vereinigung der ehemaligen Angehörigen und der Freunde des Alt- und Neusprachlichen Gymnasiums Ludwigshafen e. V., 20.2.1965, BA Koblenz, B 304/6470. I. Ordner: Griechisch-Unterricht. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 25; ähnlich Memorandum der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 43. Resolution des Elternbeirates des Lessing-Gymnasiums Frankfurt a. M., S. 27. Denkschrift der Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 24f.; ähnlich auch Stellungnahme von Rektor und Senat der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, S. 6. Vgl. Denkschrift des Gesellschaft für humanistische Bildung, S. 25; Memorandum der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, S. 41; Offener Brief des bayerischen Landesbischofs, S. 46; Gleichberechtigung für das humanistische Gymnasium gefordert, dpa 140, 9.6.1965 (ACDP 9/926). Georg May (Vorsitzender des Westdeutschen Fakultätentages der katholisch-theologischen Universitätsfakultäten) und [Name nicht lesbar] (Vorsitzende des Fakultätentages der evangelisch-theologischen Fakultäten), Mai 1965 an KMK, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: Griechisch-Unterricht. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 261; vgl. auch 109. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 20./21.12.1966, BA Koblenz, B 304/6470, I. Ordner: Griechisch-Unterricht.
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zu mildern. So betonte beispielsweise der hessische Kultusminister Ernst Schütte auf einer Tagung der Gesellschaft für humanistische Bildung, „daß die humanistische Bildung als Begegnung mit den alten Sprachen ein legitimer Bestandteil und notwendiger Schwerpunkt innerhalb des Schul- und Bildungswesens der Gegenwart sein müsse“.607 Der rheinlandpfälzische Kultusminister Orth nannte die umstrittene Neuregelung gar „eine Garantie-Erklärung für den Fortbestand des altsprachlichen Gymnasiums“: Griechisch werde „in seiner Eigenschaft als Kernfach nicht angetastet“ und durch die Verlegung des Beginns auf Klasse 9 könne in Klasse 8 Physik eingeführt werden, wodurch die Gesamtstundenzahl der naturwissenschaftlichen Fächer erhöht und den anderen Gymnasialtypen angeglichen werde. Das bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus wies die altsprachlichen Gymnasien sogar an, den Griechischunterricht, „diesen zur Zeit besonders schwierigen und verantwortungsvollen Unterricht[,] nur den dafür wirklich geeigneten Lehrern zu übertragen“. Nur „die aufgeschlossenen Lehrer“ sollten diese Kurse übernehmen, „vermeintlichen Rechten und bloßen altersbedingten Rücksichten“ sollte kein Raum gegeben werden.608 Die Diskussion um den Griechischunterricht zeigt, dass die alten Denkmuster des „christlichen Humanismus“ auch in den 1960er Jahren noch nicht völlig verschwunden waren. Zudem war altsprachliche Bildung noch fest mit dem humanistischen Bildungsideal verknüpft, das nur erreicht werden könne, wenn beide alten Sprachen erlernt würden. Die Kürzung des altsprachlichen Unterrichts löste dadurch Existenzängste bei den Befürwortern klassisch-humanistischer Bildung aus. Generell wurde das altsprachliche Gymnasium trotz der einsetzenden Auflösung der Gymnasialtypen als erhaltenswert angesehen. Dies wurde vor allem von der alten Allianz aus Kirchen, Universitäten und Eltern getragen. Sie hatten zudem wichtige Unterstützer in den Kultusministerien. 3.2.4 Der Strukturplan 1970
1970 erschien der vielbeachtete „Strukturplan des deutschen Bildungswesens“, den der Deutsche Bildungsrat ausgearbeitet hatte. Der Strukturplan war ein Konzept für das gesamte deutsche Bildungswesen, länder- und schulartenübergreifend. Einen so allumfassenden Plan hatte man vorher nur von den Plänen zu einem Einheitsschulwesen gekannt, sei es in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus oder der DDR. Den Strukturplan bezeichnet Gass-Bolm zu Recht als „Gipfel der Reformbereitschaft“,609 denn der große Proteststurm, den 607
608 609
Ringhausen: Humanisten in der modernen Welt? Kultusminister Schütte: Altsprachliche Züge sind eine berechtigte Forderung. Eine Tagung in Arnoldsheim (Taunus), in: FAZ, 18.2.1965. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Humanistischen Gymnasien und Gymnasien mit humanistischen Zweigen, 8.5.1968, BayHStA, MK 81256. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 281.
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solche Einheitsschul-Pläne in der Vergangenheit stets ausgelöst hatten, blieb aus. Im Gegenteil: Von CDU bis SPD, vom Philologenverband bis zur GEW wurde der Strukturplan begrüßt. Dem Strukturplan lag das Konzept der Stufenschule zugrunde.610 Danach wäre das Schulsystem nicht mehr vertikal nach Hauptschule, Realschule und Gymnasium gegliedert worden, sondern horizontal in einen Elementar- und Primarbereich (Kindergarten und Grundschule), die Sekundarstufe I (Klasse 5–10) mit Förderstufe in der Unterstufe und die Sekundarstufe II (Klasse 11–13). Die Sekundarstufe I sollten alle Schüler mit dem „Abitur I“ abschließen. Die Sekundarstufe II sollte auch die beruflichen Bildungsgänge integrieren und mit dem „Abitur II“ keine allgemeine, sondern eine fachgebundene Hochschulreife verleihen.611 Obwohl das Konzept sehr an die demokratische Einheitsschule der DDR erinnerte, stellte der Strukturplan „kein eindeutiges Plädoyer für die Gesamtschule dar“.612 Die bisherigen Schultypen sollten erhalten bleiben, sollten allerdings die größtmögliche Durchlässigkeit bieten. Der Bau von Schulzentren, die alle Typen umfassen sollten, wurde empfohlen.613 Mit „seinem zuweilen technokratisch anmutenden Planungsoptimismus“ war der Strukturplan ein typisches Kind seiner Zeit.614 Heinrich Roth,615 Mitglied im Deutschen Bildungsrat, pries die „Wissenschaftsorientierung“ als neuen Trend, der auch dem Strukturplan zugrunde liege. Er sei verbunden „mit dem Ruf nach Forschung, Objektivität, Entideologisierung, Entemotionalisierung, Logik der Forschung, der Planung, der Verfahren“.616 Diese Ausrichtung war zeitgenössischer Konsens. Dies sowie die Vermeidung, den Strukturplan als flächendeckende Einführung der Gesamtschule zu deklarieren, könnte erklären, dass er Akzeptanz in allen politischen Lagern fand. Als nämlich 1973 beim Bildungsgesamtplan der „Bund-Länder610 611 612
613 614 615 616
Ebenda, S. 283. Vgl. ebenda, S. 281f.; Deutscher Bildungsrat: Strukturplan, 1970, S. 70–77, 147–195; Benner/Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Bd. 3.2, S. 220–238. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 282. Vgl. auch Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Ergebnisprotokoll über die 7. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 12.12.1969, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 4: „Die Sekundarstufe I sei die Stufe der langsam beginnenden äußeren Leistungsdifferenzierung. Die fachspezifische Leistungsdifferenzierung werde empfohlen, ohne daß damit ein Votum für die integrierte Gesamtschule ausgesprochen werde. [. . .] Nach Auffassung von Herrn Becker kann die fachspezifische Differenzierung auch außerhalb von Gesamtschulen, auch an humanistischen Gymnasien durchgeführt werden.“ Der Bildungsrat wies darüber hinaus noch einmal explizit auf sein Versuchsprogramm für das Konzept der integrierten Gesamtschule hin, vgl. Deutscher Bildungsrat: Strukturplan, 1970, S. 152. Vgl. Deutscher Bildungsrat: Strukturplan, 1970, S. 151f. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 283. Zu Heinrich Roth vgl. Roeder: Bildungsforschung, S. 233–236. Anlage zum Ereignisprotokoll über die 3. Sitzung der Bildungskommission, 5.–6.6.1970, Heinrich Roth: Grundsatzdiskussion über Bildung und Gesellschaft, DIPF/BBF/Archiv: DBR 9.
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Kommission für Bildungsplanung“ die sozialliberal geführten Länder die integrierte Gesamtschule durchsetzen wollten, „zerbrach der bildungspolitische Konsens“.617 Die konkrete Umsetzung von Ideen ließ die alten ideologischen Gräben zwischen Volksschullehrern und Philologen, zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten wieder aufbrechen. Als konkrete Reform im Sinne des Strukturplans kann jedoch die Oberstufenreform von 1972 bezeichnet werden. 3.2.5 Oberstufenreform 1972: Latein auf dem „freien Markt“
Am 7. Juli 1972 verabschiedete die KMK in Bonn die „Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“, die sogenannte „Bonner Vereinbarung“. Seit 1969 hatte die KMK an einer konkreten Reformierung der Oberstufe gearbeitet,618 die vor allem eine größere Wahlfreiheit der Schüler ermöglichen sollte. Den Raum, den die Saarbrücker Rahmenvereinbarung von 1961 dafür bot, wurde allgemein als nicht ausreichend empfunden.619 Das Thema „Auflockerung der Oberstufe“ war allerdings keine Idee der 1960er Jahre, sondern war bereits in der Weimarer Republik immer wieder diskutiert worden.620 Es muss jedoch konstatiert werden, dass eine solche Auflockerung erst im reformpolitischen Klima der 1960er und frühen 1970er Jahre eine Chance hatte, in reale Politik umgesetzt zu werden.621 Denn die Bonner Vereinbarung enthielt in ihrem Kern Revolutionäres: die Abschaffung der Gymnasialtypen in der Oberstufe. Oder etwas konkreter ausgedrückt: Ein Gymnasiast eines altsprachlichen Gymnasiums konnte nun ein Abitur ganz ohne alte Sprachen ablegen. In der Bonner Vereinbarung flossen mehrere Reformvorschläge zusammen.622 Die beiden wichtigsten Vorlagen waren zum einen der 1969 vorgelegte 617 618 619 620
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Gass-Bolm: Gymnasium, S. 285; vgl. auch ebenda, S. 284f. Für den genauen Entstehungsprozess vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 343–369. Guter Überblick über das Abitur im Wandel vgl. auch Bölling: Das Tor zur Universität, S. 36f. Vgl. Friedeburg: Bildungsreformen, S. 436; Bölling: Abitur, S. 108; Gass-Bolm: Gymnasium, S. 286. Vgl. Vereinbarung zwischen dem deutschen Gymnasialverein und dem allgemeinen deutschen Realschulmännerverein, in: Das humanistische Gymnasium 32 (1921), S. 10; Potthoff, Richard: Zur Schulreform, in: DPB 28 (1920), S. 469–471, hier S. 470f.; Kerschensteiner, Georg, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 178; Spranger, Eduard, in: Das Gymnasium und die neue Zeit, S. 181; Oberstudiendirektor Mitterer (Realgymnasium mit Oberrealschule Bad Kissingen) an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 22.5.1954, BayHStA, MK 53211. Vgl. dazu auch Tosch: Gymnasium, S. 273–281. Zur Entwicklung ab 1945 vgl. Tenorth: Hochschulzugang. Auch wenn zu Recht darauf hingewiesen wurde, dass die Reform der konservativen Reformvariante folgte – die progressive Seite hatte eine stärkere Verknüpfung von allgemeiner und beruflicher Bildung gefordert, vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 291; Tenorth: Hochschulzugang, S. 284–287. Noch 1954 hatte der Philologenverband die Auflockerung abgelehnt, vgl. Deutscher Philologenverband: Grundsatzentschließung, 28. Mai 1954. Vgl. Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe. Einführender Bericht,
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neue Hochschulreifekatalog der WRK. Die Hochschulrektoren hatten darin den Flitner’schen Maturitätskatalog von 1958 modifiziert und den Kernbestand einer Grundbildung durch drei Aufgabenfelder umschrieben.623 Die Einteilung in ein sprachlich-literarisches, ein mathematisch-naturwissenschaftliches und ein gesellschaftlich-politisches Aufgabenfeld sollte später Teil der Bonner Vereinbarung werden.624 Zum anderen hatte der Deutsche Bildungsrat in dem Anfang Februar 1969 vorab veröffentlichten Teil des Strukturplanes Vorschläge zur „Neugestaltung der Abschlüsse im Sekundarschulwesen“ gemacht, in dem ein differenziertes System mit Wahl und Pflichtfächern entwickelt wurde, die entweder als Normal- oder Leistungskurse belegt werden konnten.625 Dieser Vorschlag sollte später das Kernstück der Oberstufenreform darstellen. Darüber hinaus führten seit Ende der sechziger Jahre viele Schulen Modellversuche bezüglich einer neu gestalteten Oberstufe durch, bei denen neben Lehrern und Verbänden erstmals auch Schüler eigene Vorschläge einbrachten.626 Die Bonner Vereinbarung organisierte die Struktur der Oberstufe neu: Das System der Jahrgangsklassen wurde in ein System aus jeweils halbjährigen Grundund Leistungskursen umgewandelt,627 deren jeweilige Abschlussnoten – umgerechnet in ein Punktesystem, auch das eine Neuerung – aus Klasse 12 und 13 bereits zu zwei Dritteln in die Abiturnote mit einflossen.628 Hierbei konnte sich der Schüler aus Wahl- und Pflichtkursen ein individuelles Programm zusammenstellen. Er musste nur beachten, dass er folgende drei Aufgabenfelder abdeckte: das sprachlich-literarisch-künstlerische, das gesellschaftswissenschaftliche und das mathematisch-naturwissenschaftlich-technische. Daneben gehörten Religionslehre und Sport zu den Pflichtfächern.629 Hiervon wählte der Schüler zwei Fächer als fünf- bzw. sechsstündige Leistungskurse und acht als zwei- bzw.
623 624 625 626 627 628 629
1972, S. 6. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 246, 250, 253; Friedeburg: Bildungsreformen, S. 436; Bölling: Abitur, S. 106. Neben den im Folgenden erwähnten Reformplänen spielten bei der Ausarbeitung auch die Ergebnisse der „Tutzing VI“-Tagung zwischen KMK und WRK am 23. und 24. Januar eine Rolle, sowie die schulpolitischen Positionen von SPD und CDU, der Entwurf des Philologenverbandes (vgl. hierzu Deutscher Philologenverband: Rahmen-Vorschlag zur Reform der gymnasialen Oberstufe vom 22. November 1968) und die Aussagen des Wissenschaftsrates, vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 355. Vgl. dazu auch Lüth: Kriterien der Hochschulreife. Vgl. Scheuerl: Probleme der Hochschulreife, S. 21–24. Vgl. Hitpass: Reifeprüfung, S. 67–69; Scheuerl: Kriterien der Hochschulreife, S. 25, 31; zu den einzelnen Aufgabenbereichen ausführlich ebenda, S. 33–35. Vgl. Deutscher Bildungsrat: Zur Neugestaltung der Abschlüsse im Sekundarschulwesen, 1969, S. 48f.; vgl. auch Hitpass: Reifeprüfung, S. 58–63; Bölling: Abitur, S. 106. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 288f. Die Ergebnisse dieser Versuche wurden von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates zusammengestellt, vgl. Heister: Versuche. Vgl. Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe, 7.1.–7.2., S. 16. Vgl. ebenda, 9.1.–9.3., S. 18. Vgl. ebenda, 4.1., S. 14.
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dreistündige Grundkurse.630 Als Abiturprüfungen wurden drei schriftliche und eine mündliche Prüfung vorgeschrieben. Die schriftlichen Prüfungen mussten in den beiden Leistungskursen und einem Grundkurs geschrieben werden, die mündliche Prüfung erfolgte ebenfalls in einem Grundkurs.631 Die neu gestaltete Oberstufe sollte bis zum Schuljahr 1976/77 überall eingeführt werden, was auch – bis auf Baden-Württemberg, wo die Reform mit zwei Jahren Verspätung umgesetzt wurde – jedem Bundesland gelang.632 Mit der Bonner Vereinbarung rückten Individualisierung und Schülerorientierung in den Mittelpunkt.633 Durch die Möglichkeit, fast jedes Fach als Leistungsfach und somit als Abiturfach wählen zu können, wurde die Gliederung nach Gymnasialtypen abgeschafft634 und eine „Gleichwertigkeit aller Fächer“ herbeigeführt, die wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre.635 Für den altsprachlichen Unterricht brachte die Oberstufenreform verschiedene Probleme: Zum einen besiegelte sie den Abschied vom garantierten neunjährigen Lateinunterricht am altsprachlichen Gymnasium. Dies bedeutete, dass man die Lektüre der antiken Autoren auf der Oberstufe nicht mehr zum Hauptziel des Unterrichts erklären konnte, weil sie von vielen Schülern nicht mehr erreicht wurde. Zum anderen waren die alten Sprachen mit der Wahlfreiheit der Schüler auf den „freien Markt des schulischen Angebots“ geworfen worden. Die Altsprachler wussten, dass dort „[a]nspruchsvolle, historisch-philologisch orientierte Fächer [. . .] keine Verkaufsschlager“ sein würden.636 Hinzu trat ein weiteres Problem: Durch die Bildungsexpansion und das Ansteigen der Abiturientenzahlen im 630
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Vgl. ebenda, 7.5.–7.7., S. 16f. Auf Drängen des Landes Rheinland-Pfalz wurde ein Passus in die Vereinbarung aufgenommen, der es den Bundesländern erlaubte, auch ein drittes Leistungsfach einzuführen, vgl. ebenda, 7.10., S. 17. Vgl. auch Fuchs: Gymnasialbildung, S. 364. Vgl. Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe, 8., S. 17f. Vgl. ebenda, 10.1., S. 19; Fuchs: Gymnasialbildung, S. 365. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 290. Vgl. Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe, 3.1., S. 13. Vgl. Bölling: Abitur, S. 108f. Welche Fächer als Grund- und Leistungskurse angeboten werden konnten, war in der Bonner Vereinbarung selbstverständlich auch festgelegt, vgl. Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe, 6., S. 15f. Für Gass-Bolm stellt die Oberstufenreform den Endpunkt einer seit den späten 1950er Jahren kontinuierlich voranschreitenden Veränderung des gymnasialen Bildungskonzepts dar: „Die Ausbildung von Spezialfertigkeiten, das Antibild früherer gymnasialer Bildungstheorie, wurde als notwendig anerkannt. [. . .] Die Schüler waren Ausgangspunkt des Denkens, nicht mehr die zu tradierende Kultur.“ Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 290f.; Bölling: Abitur, S. 106; Furck: Schulsystem, S. 319. Die Interpretation Gass-Bolms muss für den ersten Teil der Aussage allerdings dahingehend relativiert werden, dass die Vertreter des altsprachlichen Unterrichts trotz allem dafür kämpften, dass altsprachlicher Unterricht keine Spezialistenausbildung darstelle, sondern allgemeine Fertigkeiten vermittle, vgl. Kapitel IV.2.1.4. Westphalen: Lateinunterricht, 1973, S. 8.
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Laufe der sechziger Jahre war es zu einem starken Andrang auf die Universitäten gekommen, so dass sich diese gezwungen sahen, für viele Fächer einen Numerus clausus einzuführen.637 Dadurch vermuteten viele Altsprachler, dass die Schüler aus Gründen der „Zensurenoptimierung“ in der reformierten Oberstufe eher Fächer wählen würden, die ihnen gute Noten versprachen.638 Dazu gehörten die alten Sprachen nicht. Die Entwicklungen im deutschen Schulsystem in den 1960er Jahren spielten dem altsprachlichen Unterricht nicht gerade in die Karten. Der Durchsetzung der Leitlinien der Bildungspolitik, Chancengleichheit und Bildungsexpansion, stand er eher im Weg. Durch das Prinzip der Wahlfreiheit wurde das Fach Latein, das lange Zeit das alles beherrschende Abiturfach gewesen war, nur noch eine Option unter vielen. Zu dieser multiplen Problemlage kam noch eines hinzu: Neue, mächtige Akteure bestimmten in den 1960er Jahren die Bildungspolitik. Und diese standen dem altsprachlichen Unterricht eher skeptisch bis abwehrend gegenüber. 3.3 Experten als neue Akteure und der Sieg der Reformpädagogen
Um die Bildungspolitik der 1960er Jahre zu verstehen, muss man den Blick weiten und etwas abseits von Kultusministerien und Lehrerverbänden schauen. Die neue Bedeutung von Experten639 schlug sich nämlich auch auf die Bildungspolitik nieder. Expertengremien liefen den alten Beratungsgruppen, vornehmlich den Lehrerverbänden, den Rang ab. So sollten beispielsweise als Beratungsgremien im Wissenschaftsrat keine „Vertreter bestimmter Interessensgruppen oder Standesorganisationen“ hinzugezogen werden, sondern unabhängige Gremien wie beispielsweise die Max-Planck-Gesellschaft.640 So wurden Expertengremien wie der Deutsche Bildungsrat, Forschungsinstitute wie das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung oder von der Wirtschaft initiierte think tanks wie der Ett637 638
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640
Vgl. Bölling: Abitur, S. 108. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 369. Vgl. auch Durth/Lüke: Schulbeginn 1973/74: Abschied von Humboldt an Gymnasien, in: Bonner Rundschau, 1.8.1973; Stuckmann: Die unvollendete Reform; Heldmann: Abitur 75 – Das Ende einer Illusion. Tenorth definiert als Bildungsexperten alle, die mit der Professionalisierung von Bildung zu tun hatten und haben, also auch Beamte, Lehrer, Politiker etc. Hier meint der Begriff Experte aber die Hinwendung zur Bildungsplanung als eigener Fachdisziplin, also seiner Verwissenschaftlichung. Tenorth bringt als Beispiel den Unterschied zwischen dem Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen und dem Deutschen Bildungsrat: Letzterer bewertete nicht nur Bildungsexpertise, sondern schuf sie auch selbst in nicht unerheblichen Maße. Vgl. dazu Tenorth: Bildungsexpertise, v. a. S. 811f. Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates, Beratungs- und Entscheidungsgremien im Bereich des Bildungswesens, 18.1.1971, DIPF/BBF/Archiv: DBR 23.
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linger Kreis641 wirkmächtige Akteure im bildungspolitischen Diskurs. Alle diese Gremien verband ein Name: Hellmut Becker.642 Als „Bildungs-Becker“643 oder „heimlicher Bundeskultusminister“644 wurde er bezeichnet. Zu seinem „weit verzweigten Bekanntenkreis“ gehörten unter anderem sein enger Vertrauter Carl Friedrich von Weizsäcker, dessen Bruder Richard, Georg Picht, Robert Boehringer, Marion Gräfin von Dönhoff, Hildegard Hamm-Brücher, Alexander Schenk Graf von Stauffenberg, Martin Niemöller, Hartmut von Hentig645 und Heinrich Roth – eine undurchsichtige Mischung aus George-Kreis, Widerstandskämpfern und evangelischer Kirche, die man zeitgenössisch als „protestantische Mafia“646 bezeichnete und die die öffentliche Meinung der Bundesrepublik wirkmächtig beeinflusste.647 Um das Becker-Netzwerk zu verstehen, muss man bei Hellmut Beckers Vater, dem preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, ansetzen. C. H. Becker hatte in seiner Zeit im preußischen Kultusministerium ein Netzwerk aus verschiedenen Personen aufgebaut, die die spätere Vernetzung seines Sohnes wiederum erklären.648 Beispielsweise war Werner Picht, der Vater von Georg Picht, von Becker ins Kultusministerium geholt worden.649 Die Familien Picht und von Weizsäcker wiederum waren miteinander verwandt: Georg Picht und Carl Friedrich von Weizsäcker waren Großcousins. Die Pichts und die von Weizsäckers gingen also bei Familie Becker ein und aus und so wird verständlich, dass der junge Hellmut Becker die beiden schon seit Jugendjahren kannte.650 Zum ersten Mal in Erscheinung trat das Hellmut-Becker-Netzwerk 1947, als Hellmut Becker gemeinsam mit Warren A. Magee und Richard von Weiz641
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Vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 143. Für den Ettlinger Kreis kann folgendes Beispiel angebracht werden: In einer Sitzung der KMK 1958 wies der Vorsitzende Reimers ausdrücklich auf die Vorschläge des Ettlinger Kreises hin, und das obwohl sich die KMK nie mit Memoranden von Lehrerverbänden oder Gewerkschaften auseinandergesetzt hatte. Reimers begründete dies mit der Aussage, dass die Bildungsvorstellung des Ettlinger Kreises es nicht „egoistisch wirtschaftlich [. . .] auf die Heranbildung von dressierten Arbeitskräften“ abgesehen habe, sondern dass ihm durchaus an einer umfassenden Bildung des Nachwuchses gelegen sei. Daher solle man mit dem Ettlinger Kreis Fühlung aufnehmen. Vgl. Plenarsitzung KMK, 25./26.9.1958 in Berlin, BayHStA, MK 53213. Darüber hinaus war Becker noch im Beirat des Instituts für Sozialforschung und des Instituts für Zeitgeschichte, vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 483. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 404; Brachmann: Reformpädagogik, S. 165. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 483, FN 148; Brachmann: Reformpädagogik, S. 186, 201. Vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 195. Vgl. ebenda; Raulff: Kreis ohne Meister, S. 484. Vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 195. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 436–458. Zur Biographie C. H. Beckers, vgl. Morgenstern: Weltbürger; Groppe: Hauptsache. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 448f. Vgl. ebenda, S. 464f.; Brachmann: Reformpädagogik, S. 194f. Zu C. H. Beckers Wirken in der Weimarer Kulturpolitik, vgl. Lambrecht: Exkurs.
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säcker die Verteidigung von Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßenprozess übernahm. Es war durchaus ungewöhnlich, dass ein junger, unerfahrener Anwalt solch ein Mandat bekam. Dies verdankte er seinen engen Beziehungen zur Familie von Weizsäcker und vor allem seiner engen Freundschaft mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Die beiden hatten 1942 gemeinsam in Straßburg gewohnt, nachdem Carl Friedrich Hellmut Becker nach dessen Rückkehr aus Russland aufgenommen hatte.651 Dass Becker selbst seit 1937 NSDAP-Mitglied gewesen war, schien damals und auch noch lange danach niemanden zu interessieren.652 Zum weiteren „Berater- und Unterstützerumfeld“653 gehörte die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, die großen Anteil daran trug, dass sich die öffentliche Meinung auf die Seite Weizsäckers schlug.654 Wie wurde Becker nun vom Juristen zum Bildungsexperten? Es war Georg Picht, der Becker um seine juristische Expertise beim Ausbau seiner Reformschule „Birklehof “ bat. Durch seine Vermittlung wurde Becker zu Beginn der 1950er Jahre Syndikus und Geschäftsführer der „Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime“ – der Vertreterverband deutscher Reforminternate. Seit 1963 brachte er sich auch in die Verbandsarbeit ein und übernahm schließlich 1969 deren Leitung.655 Picht hatte Becker auch als Redner zum Ettlinger Kreis gebracht.656 Einem anderen Freund verdankte Becker dann die Leitung einer Institution, die er als „heimliches Bundeskultusministerium“ betreiben konnte: Carl Friedrich von Weizsäcker machte ihn 1963 zum Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.657 Laut Brachmann schwebte Becker schon in den 1950er Jahren eine wissenschaftliche Einrichtung vor, die zu gesellschaftsrelevanten Themen forschte, ähnlich dem Frankfurter Institut für Sozialforschung. Eine Einrichtung, die an der „Schnittstelle von erziehungswissenschaftlicher Forschung und Bildungspolitik“ operieren sollte und mit empirischen und statistischen Methoden Daten erheben und interpretieren wollte.658 Hier siedelte Becker auch die Curriculums-Forschung an, die im Laufe der 1960er Jahre unter ihrem Leiter Saul B. Robinsohn der deutschen Bildungspoli-
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658
Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 385f. Vgl. ebenda, S. 403f. Brachmann: Reformpädagogik, S. 204, FN 106. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 388–392. Vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 139f., 166. Vgl. ebenda, S. 143. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 483f. Zum Netzwerk von Carl Friedrich von Weizsäcker innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft vgl. Kant/Renn: Episode. An der Planung des neuen Instituts waren u. a. auch der Historiker Hermann Heimpel, Carlo Schmid, Adolf Grimme und Jürgen Habermas beteiligt, vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 484, FN 149; Kant/Renn: Episode, S. 31–33. Brachmann: Reformpädagogik, S. 229. Den Antrag bei der Max-Planck-Gesellschaft stellten schließlich Carl Friedrich von Weizsäcker, Hermann Heimpel und Carlo Schmid.
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tik einen wirkmächtigen Impuls verleihen und den altsprachlichen Unterricht herausfordern sollte.659 Besonders interessant sind die Grundlagen der bildungspolitischen Vorstellungen dieser sogenannten „protestantischen Mafia“. Denn auf der einen Seite handelt es sich bei Becker und seinen Gefährten um Bürgersöhne, die mit der Antike und den alten Sprachen aufgewachsen waren. Auf der anderen Seite war allen eine gewisse, für die Reformpädagogik typische Skepsis gegenüber dem etablierten staatlichen Schulsystem und dem altsprachlichen Gymnasium gemein.660 Auch hier hilft es, einen Blick auf Hellmut Beckers Vater zu werfen. C. H. Becker war selbst eher ein Quereinsteiger in die Bildungspolitik gewesen. Er hatte keine typische Parteikarriere und keine Ochsentour durch die Bürokratie durchlaufen. Vielleicht hatte er gerade deshalb stets großes Interesse an den außerhalb des staatlichen Bildungswesens liegenden Bildungseinrichtungen wie reformpädagogischen oder freien Schulen. In der Weimarer Republik förderte er auch Experimente und Modellversuche von Einheitsschulen.661 C. H. Beckers Bildungsidee war die eines „bildungsaristokratischen Humanismus im demokratischen Gewande“.662 Er wollte die „utopische Idee einer Demokratisierung der Gesellschaft [. . .] durch weitreichende Eingriffe in den Bildungssektor“ durchsetzen.663 Dabei rief Becker nach einer „im neuen Sinne humanistische[n] Bildung, bei der es nicht auf den humanistischen Stoffinhalt, aber auf den Geist echter Humanität, nicht erlernter, sondern gelebter humanitas“ ankomme.664 In dieser gewissen Geringschätzung der staatlichen humanistischen Bildung, die sich in den klassischen Gymnasien manifestierte, war er sich mit seinem Freund Ernst Robert Curtius einig.665 Curtius spielte auch im Becker’schen Netzwerk keine unbedeutende Rolle. Seine Schwestern Olympia und Greda hatten in die Familien Picht und von Weizsäcker eingeheiratet.666 C. H. Becker hatte Werner Picht über Curtius kennengelernt.667 Die ähnliche ideelle Einstellung von Curtius und Becker zeigte sich auch in ihrer Verehrung von Platon und George bzw. rührte vom Interesse an diesen beiden ideengeschichtlichen Schwergewichten her.668 659 660
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Siehe dazu Kapitel IV.3.3.4. Vgl. Zymek: Stellenwert, S. 34: „Auch die um das Projekt einer ‚Reformpädagogik‘ kreisenden Diskussionen und Initiativen speisen einen großen Teil ihres Engagements aus der identitätsstiftenden Opposition gegen das staatliche Bildungssystem als bürokratische Institution.“ Vgl. Brachmann, S. 174–178. Ebenda, S. 167. Ebenda, S. 166. Becker, 1930, zitiert nach Brachmann: Reformpädagogik, S. 166. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 442f. Zu Curtius’ Einstellung zum humanistischen Bildungsideal siehe Kapitel II.3.3. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 464; vgl. Lausberg: Curtius, Ernst Robert, S. 447. Vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 179. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 442f.
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C. H. Becker hatte darüber hinaus – hier allerdings im Gegensatz zu seinem Freund Curtius669 – große Sympathien für Frommels bzw. Helbigs Idee eines „Dritten Humanismus“, der anschlussfähig an Beckers eigenes Bildungsideal gewesen war.670 Becker schrieb in diesem Zusammenhang auch den ersten Artikel, der die verschiedenen Strömungen des „Dritten Humanismus“ von Jaeger bis Frommel bzw. Helbig auseinanderdröselte.671 Zu Werner Jaeger hatte Becker im Übrigen auch ein engeres Verhältnis, war es doch Becker gewesen, der Jaeger 1921 auf den Lehrstuhl von Wilamowitz in Berlin, den „renommiertesten altphilologischen Lehrstuhl in Deutschland“, berufen hatte.672 Ulrich Raulff hat das „Ideendelta“ Beckers mit den Komponenten „Jugendbewegung, Reformpädagogik, Platonismus und George-Kult“ passend beschrieben.673 Die Maximen der Bildungspolitik von C. H. Becker und Hellmut Becker lassen sich so zusammenfassen: „demokratisch kultivierte[s] bildungselitäre[s] Denken“, Netzwerkarbeit, die politische Partizipation ermöglichte, „ausgeprägte Skepsis gegen den Beamtenapparat“.674 Den Ideentransfer des von George und Platon inspirierten „Bildungsaristokratische[n] Humanismus“ leistete allerdings nicht Hellmut Becker, sondern Georg Picht. Picht war ein großer Platon-Verehrer, und auch wenn er diesen mehr schätzte als George, führte er doch seine beiden Jugendfreunde Carl Friedrich von Weizsäcker und Hellmut Becker in beide Denker ein.675 Die Hochschätzung des altsprachlichen Unterrichts war bei Picht wohl am stärksten. In Erinnerung an seine eigenen erfüllten Lateinstunden, in denen er mit seinem Privatlehrer Josef Liegele das gesamte siebte Buch des Bellum Gallicum an einem Vormittag übersetzt haben will,676 schwebte ihm 669 670
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Vgl. ebenda, S. 454f. Vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 181; Raulff: Kreis ohne Meister, S. 452–456. Ebenfalls angetan von Frommels und Helbigs Ideen war der SPD-Politiker Carlo Schmid. Er war zudem früh bekannt mit Hellmut. Schmid tat sich auch in der BRD immer wieder als Freund des altsprachlichen Unterrichts hervor. Als Mitglied der SPD war er dabei ein besonders beliebter Gewährsmann, um zu zeigen, dass altsprachlicher Unterricht kein Standesunterricht sei. Vgl. dazu Raulff: Kreis ohne Meister, S. 456–458. Siehe Kapitel II.2.3.2. Nach Groppe hatte Becker Werner Jaeger in einem Brief auf die Schrift Helbigs/Frommels hingeweisen, vgl. Groppe: Neubeginn, S. 56f. Zum Verhältnis von George-Kreis und C. H. Becker vgl. Groppe: Macht der Bildung, S. 535–560. Eine Gemeinsamkeit lag auch darin, dass C. H. Becker junge, attraktive Männer um sich scharte, die als „Beckerjungen“ bezeichnet wurden. Becker und seine Jungen umwehte ebenfalls wie George der Hauch der Homoerotik, vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 179–181. Groppe: Hauptsache, S. 99f. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 447. Das Verhältnis zwischen Reformpädagogik und GeorgeKreis hat für den Beginn des 20. Jahrhunderts Carola Groppe untersucht, vgl. Groppe: Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik. Zum Thema Jugendbewegung und Antike vgl. Cancik: Jugendbewegung. Brachmann: Reformpädagogik, S. 186. Vgl. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 464–468, 470. Vgl. ebenda, S. 468; vgl. auch ebenda, S. 468–471.
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vor, dass das flüssige Lesen antiker Texte die Hauptaufgabe des Erziehers sein müsse. Daher wollte er den „Birklehof “ in den 1950er Jahren zu einem wahrhaft altsprachlichen Gymnasium ausgestalten.677 Doch dies war selbst „im restaurativen Abendlanddiskurs der frühen Bundesrepublik“ undenkbar.678 Allerdings verharrte Picht nicht in seiner „platonischen Dachshöhle im Schwarzwald“, sondern wusste sich den gesellschaftlichen Leitlinien gekonnt anzupassen. So wurde er auch Mitglied im „Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen“ und konnte sich einen Namen als Bildungsexperte auch in halböffentlichen Gremien machen.679 Georg Picht war inhaltlich differenzierter und ideologisch anspruchsvoller als Hellmut Becker.680 Aber damit die Ideen Pichts auch Umsetzung fanden, brauchte es jemanden, der „mit leichterem theoretischen Gepäck“ reiste, jemanden wie Hellmut Becker.681 Als kongeniales Gespann transferierten Becker und Picht die bildungspolitischen Ideen und Vorgehensweisen des alten Beckers in die Bundesrepublik. Und es ist vermutlich nicht ganz falsch, wenn auch eventuell ein wenig übertrieben, wenn Jens Brachmann C. H. Becker und George als „Subtext der bildungsreformerischen Bestrebungen der alten Bundesrepublik“ bezeichnet.682 Aus derselben Ideenquelle speiste sich aber auch eine gewisse Toleranz gegenüber pädophiler Homoerotik, die im Missbrauchsskandal der Odenwaldschule ihren Kulminationspunkt fand. Brachmann folgert hierzu eindrücklich: Die nachweislichen, untrennbar mit der Person Hellmut Beckers verbundenen Erfolge von Re-Education und Bildungsexpansion in den 1950er, den 1960er und den 1970er Jahren erklären sich aus dieser Haltung wohl allerdings ebenso wie die unfassbaren Abgründe systematisch-pädokrimineller Verbrechen im antiautoritär-liberalen Fahrwasser der bildungsreformerischen Großprojekte dieser Epoche.683
Die Idee eines neuen Humanismus drückte sich beim Hellmut-Becker-Netzwerk vor allem in der Reserviertheit gegenüber dem staatlichen Schulwesen aus.684 Den Begriff „Humanismus“ verwendete man allerdings nicht mehr. Be677 678 679 680 681 682 683 684
Vgl. ebenda, S. 478–481; Brachmann: Reformpädagogik, S. 137–139. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 481. Vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 142. Ebenda, S. 167, FN 56. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 482. Brachmann: Reformpädagogik, S. 183. Ebenda, S. 186. Vgl. zum Thema Pädophilie und Reformpädagogik auch Oelkers: Eros und Herrschaft, S. 253–283. Vgl. dazu Becker/Kluchert: Bildung der Nation, S. 366–370. Hier übte Becker scharfe Kritik an Hans Richert. Vor allem die Einschätzung, dass Richerts Schulreform ein großes Reformwerk gewesen sei, war ihm dabei scheinbar ein Dorn im Auge. Becker kamen bei der Untersuchung der „Ideologie“ dieser Schulreform „gewisse Bedenken“. Denn wenn man bedenke, dass Richert „das deutsche Wesen“ in den Mittelpunkt gestellt habe, dann sei es schwer, „in der Richertschen Schulreform nicht ein Vorspiel für das Dritte Reich zu sehen“. Diese undifferenzierte Aussage krönte Becker noch mit dem Hinweis
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cker und sein Netzwerk, hier vor allem auch Hartmut von Hentig, fanden dafür neue Begriffe. Es sollte um „Menschenbildnerei“, „nicht um Wissensvermittlung, um Erziehung und nicht um Schulung“ gehen. Die „Entschulung der Gesellschaft“685 wurde das treffende Schlagwort. 3.3.1 Hartmut von Hentig
Um zu zeigen, wie Reformpädagogik, das Becker-Netzwerk und der altsprachliche Unterricht in den 1960er Jahren zusammenhingen, bietet sich eine genauere Betrachtung des Pädagogen und Altphilologen Hartmut von Hentig an. Seine didaktischen Überlegungen erlangten großen Einfluss auf die deutschen Altphilologen. Zudem lässt sich an ihm exemplarisch zeigen, wie die „protestantische Mafia“ in fast allen Bereichen der deutschen Bildungspolitik Einfluss gewann. Der Diplomatensohn Hartmut von Hentig verbrachte Teile seiner Kindheit in den USA und in Kolumbien. Befreundet mit Marion Dönhoff686 war Hentig spätestens seit dem Prozess gegen Ernst von Weizsäcker Teil von Beckers Netzwerk. Von Hentigs Vater, der Diplomat Werner von Hentig, gehörte zum „Berater- und Unterstützerumfeld außerhalb des Gerichts“.687 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte von Hentig zunächst in Göttingen und dann in den USA klassische Philologie studiert und war dort auch promoviert worden. Allerdings ist diese Dissertation nicht mehr auffindbar. Zurück in Deutschland war Hentig zunächst als Lehrer am „Birklehof “, der von Georg Picht geführten Privatschule, tätig.688 Nachdem er noch ein ordentliches Staatsexamen abgelegt und das Referendariat absolviert hatte – beides im „Schnellverfahren“ –, wurde er Lehrer in Tübingen.689 1963 wurde er unter nicht ganz klaren Umständen als PädagogikProfessor nach Göttingen berufen, um die Nachfolge von Erich Weniger auf dem traditionsreichen Lehrstuhl Hermann Nohls anzutreten. Zu Recht wird behauptet, dass Hellmut Becker bei der Berufung seine Finger im Spiel hatte. Heinrich Roth, dessen Kollege von Hentig werden sollte und der ebenfalls
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darauf, dass schon das Aussehen des Kopfes von Richert darauf hindeute, dass es sich um keinen großen Reformer habe handeln können. Dem Kopf nach sehe Richert „eher wie ein wilhelminischer Geheimrat oder ein wenig beweglicher Schultyrann“ aus und gleiche nicht „dem Bild eines Schulreformers [. . .], wie wir es aus derselben Zeit von Hermann Lietz, Gustav Wyneken oder Fritz Karsen kennen“. Diese drei waren selbstverständlich alles prominente Vertreter der Reformpädagogik. Becker verschwieg dabei im Übrigen, dass Wyneken in den 1920er Jahren wegen Missbrauch an seinen Schülern verurteilt worden war. Vgl. dazu Oelkers: Eros und Herrschaft, besonders S. 253–283; Benner/Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Bd. 2, S. 67–91; Badry: Lietz, Hermann; Ehrentreich: Karsen, Fritz. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 487. Vgl. ebenda, S. 390. Brachmann: Reformpädagogik, S. 204, FN 106. Vgl. Raullf: Kreis ohne Meister, S. 479. Brachmann: Reformpädagogik, S. 264f.
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zum Becker-Netzwerk gehörte, und andere „Becker-Vertraute“ waren Mitglieder der Berufungskommission.690 Auch der Ettlinger Kreis protegierte von Hentigs pädagogische Ideen: So verschickte Herbert H. Bernhardt, Papierfabrikant und Mitglied des Ettlinger Kreises, an alle bildungspolitischen Einrichtungen der Bundesrepublik von Hentigs Schrift „Die Schule im Regelkreis“.691 Hartmut von Hentig wurde einer der wichtigsten Reformpädagogen der Bundesrepublik, gründete und leitete beispielsweise die berühmte „Bielefelder Laborschule“.692 Seit dem Öffentlichwerden des Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule um von Hentigs langjährigen Freund Gerold Ummo Becker,693 geriet von Hentig stark in die Kritik, weil er sich nicht eindeutig von Becker distanzierte. Zudem hatte er wahrscheinlich bereits vor dem Bekanntwerden von Beckers Übergriffen gewusst.694 Da es in dieser Arbeit aber um den Einfluss von Hentigs auf die Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts während der 1960er Jahre geht, spielen diese jüngeren Entwicklungen keine Rolle. Zunächst soll sich mit der allgemein-pädagogischen Ansicht von Hentigs auseinandergesetzt werden, danach mit seinen Konzepten für den altsprachlichen Unterricht. Allgemein-pädagogische Einstellung
Hartmut von Hentigs Vorstellungen eines Bildungssystems entsprachen ganz denjenigen Vorstellungen, die sich seit Mitte der 1960er Jahre flächendeckend durchsetzten. Früh kritisierte er den „verengte[n] Begabungsbegriff “, der denjenigen für „begabt“ erkläre, der „den Gegenstand der Höheren Schule“ bewältige. Damit habe man es sich leicht gemacht, dem Soziologen Schelsky nicht zu glauben, das Vorhandensein von Begabungsreserven zu bestreiten und daher das höhere Schulwesen nicht zu erweitern.695 Um wahre „Chancengleichheit“ zu ermöglichen, kam für von Hentig nur eine Gesamtschule in Frage, die „durch ein wohlerwogenes Maß an individueller Förderung in einem gemeinsamen, von den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten nicht beherrschten Rahmen“ die Her-
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Ebenda, S. 217, FN 119, 265. Vgl. Herbert H. Bernhardt an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 3.5.1965, BayHStA, MK 53215. In dem Anschreiben legt Bernhardt dar, dass die Mittel zur Übersendung der Schrift von Männern der Wirtschaft stammten, „denen es wichtig erscheint, daß die Funktionen der Schule im Regelkreis der Gesellschaft und das will sagen: auf ihre konkreten Aufgaben in unserer Gesellschaft hin gesehen werden“. Vgl. Benner/Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Bd. 3.2, S. 322–340. Welche genaue Beziehung die beiden mit- und zueinander hatten, ist bis heute nicht klar, vgl. Oelkers: Pädagogik, S. 92, 107, 579f. Sie lernten sich an der Universität Göttingen kennen. Hentig vermittelte Becker eine Assistentenstelle bei Roth, vgl. Oelkers: Pädagogik, S. 92–117. Vgl. Oelkers: Pädagogik, S. 546–571, 571–580, 585–588. Vgl. Hentig: Höhere Schule, S. 26; Hentig: Systemzwang, S. 7.
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stellung dieser „Gleichheit der Chancen“ versprach.696 Dabei war von Hentig weit davon entfernt, alle Kinder gleichmachen zu wollen, denn Chancengleichheit bedeute „die Möglichkeit, aus eigener Bestimmung auch ungleich zu sein“.697 Dem traditionellen Gymnasium, und dabei vor allem dem „humanistischen Gymnasium“ – als das er es immer bezeichnete – traute er die Verwirklichung von Chancengleichheit nicht zu. Zu sehr umwehe es der Habitus des sozialen Prestiges, weswegen Eltern aus niederen Schichten ihre Kinder dort nicht hinschicken würden.698 Das „Humboldtsche Gymnasium“ sei zur Ideologie geworden, da es seinen kritischen Geist gegen alles richtete, außer gegen „das eigene Verfahren und die eigene Institution“.699 Zu Recht gehe es zugrunde.700 Außerdem argumentierte er, dass höhere Bildung aufhören müsse, „sich als bessere Bildung zu verstehen, denn sonst ist die Rede von ‚Gleichheit‘ nicht redlich“.701 Von Hentig war als Altphilologe den alten Sprachen zugeneigt, stand aber im Verständnis von Bildung eher in der Tradition Theodor Litts. Humboldt habe die Technik nicht mitgedacht, denn er wollte sich nicht „an die Veränderung“ verlieren. „Heute muß der Mensch zugeben, daß er ohne die Veränderung nicht leben kann.“702 Hartmut von Hentig war aber noch in anderer Hinsicht noch ein typischer Vertreter seiner Zeit. Er sah das US-amerikanische Schulsystem in vielen Dingen als Vorbild. Die Theorie der demokratischen Erziehung des US-amerikanischen Pädagogen John Dewey703 hatte von Hentig in seiner eigenen pädagogischen Konzeption stark geprägt, die amerikanische Gesamtschulkonzeption überzeugte ihn. Von Hentig hatte als Kind und als Student lange in den USA gelebt und unternahm in den 1960er Jahren einige Forschungsreisen dorthin, teilweise auch gemeinsam mit Hellmut Becker.704 Die „Comprehensive Highschool“ oder Methoden wie das „teamteaching“ tauchen häufig als Referenzpunkte auf.705 Außerdem war von Hentig ein ausgesprochener Verfechter der Bildungsforschung.706 Bei ihm bedurfte alles der empirischen Untersuchung. In seiner 696 697 698 699 700 701 702
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Hentig: Systemzwang, S. 8. Vgl. auch ebenda, S. 8f., 15f., 112f.; Hentig: Höhere Schule, S. 45f.; Hentig: Regelkreis, S. 50f. Hentig: Systemzwang, S. 8. Hentig: Höhere Schule, S. 48. Hentig: Systemzwang, S. 9. Vgl. ebenda. Hentig: Regelkreis, S. 62. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 130; vgl. auch Hentig: Systemzwang, S. 20. John Dewey (1859–1952) gilt als Vater des Konzeptes der „Demokratisierung der Schule“ und war Anhänger des Gesamtschulkonzepts. Laut Bohnsack kam es in den 1970er Jahren zu einer gewissen „Dewey-Renaissance“. Vgl. Bohnsack: John Dewey. Vgl. Koinzer: Suche, S. 177–189. Vgl. Hentig: Höhere Schule, S. 45; Hentig: Regelkreis, S. 52; Hentig: Systemzwang, S. 15. Vgl. Hentig: Regelkreis, S. 50.
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Schrift „Die Schule im Regelkreis“ wandte er das kybernetische Modell auf die Gesellschaft an. Die Lehre von komplexen Systemen und deren Steuerung wollte von Hentig für die Verbesserung des Schulsystems fruchtbar machen.707 Gerade diese Schrift zeigt, wie sehr er der Gedankenwelt von Planungseuphorie und Steuerungsgläubigkeit verhaftet war. Dass die Deutschen mit Planung lange ein Problem gehabt hätten, erklärte von Hentig mit dem Nationalsozialismus. Dies sei „ein Nachgeben an die Versuchung“ gewesen, „alles der einen Planung, der einen Kontrolle [. . .] zu unterwerfen“, weswegen man in der Nachkriegszeit „in den bequemen Partikularismus, den Dilettantismus, die Vereinzelung“ geflüchtet sei.708 Bei so viel Planungseuphorie wundert es kaum, dass von Hentig auf die Idee der „Laborschule“ kam. In einer Modellschule – keiner Musterschule wie er stets betonte – sollten Lehr- und Lernformen erprobt werden. Aus der Auswertung der empirischen Ergebnisse wollte er schließlich konkrete Forderungen zur Verbesserung des Bildungssystems ableiten.709 Reformvorschläge für den altsprachlichen Unterricht: die „[d]idaktische[n] Tugenden des Lateins“710
Hartmut von Hentig war für die Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts in zwei Hinsichten eine wichtige Figur: Zum einen mahnte er früh, dass der altsprachliche Unterricht sich zu verändern habe, wenn er in der sich verändernden Schullandschaft noch eine Bedeutung haben wolle. Zum anderen entwarf er Konzepte, wie dies dem altsprachlichen Unterricht gelingen könnte. Die Ideen, die von Hentig in den 1960er Jahren entwickelte, sollten sich in den 1970er Jahren voll durchsetzen.711 Hartmut von Hentig hielt bei der Jahrestagung des DAV 1965 einen viel beachteten und viel zitierten Vortrag. Darin mahnte er, dass die Sorge, Latein könne „ein rasches Opfer der Zeit, nämlich der Erweiterung und Modernisierung des Schulwesens einer sozialisierten und utilitarisierten Bildung werden [. . .] alles andere als irreal“ sei.712 Latinum und Elternwille reichten als Argumente für den Lateinunterricht nicht mehr aus. Die Altsprachler würden sich „innerhalb eines zunehmend einheitlich organisierten, differenzierten und durchlässigen Schulsystems immer weniger durchsetzen“, wenn nicht „der allgemeine pädagogische Sinn dieser Sache auch allgemein verständlich gemacht“ würde.713 Die bisherige Strategie bei der Verteidigung des altsprachlichen Unterrichts, auf einen äußeren 707 708 709 710 711 712 713
Vgl. ebenda, S. 12–14. Ebenda, S. 27. Vgl. Hentig: Universität und Schule, S. 86–88; Hentig: Regelkreis, S. 50f. Hentig: Platonisches Lehren, S. 278. Siehe dazu Kapitel IV.3.4. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 125. Ebenda, S. 126.
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Feind zu schimpfen, der aus bösem Willen die alten Sprachen abschaffen wolle, sei verfehlt. Er schloss seinen Vortrag mit den viel zitierten Worten: Wir haben den Feind intra muros, in Form obsoleter Arbeitsweisen, überholter Erkenntnisse und unbedachter Zielsetzungen. Was den Feind draußen angeht, so werden wir ihm gewachsen sein, wenn wir unsere Sache im Inneren überzeugend leisten.714
Für diese innere Umstellung hatte von Hentig einige Vorschläge. Man könne den Lateinunterricht „mit pädagogischen und linguistischen Argumenten“ gerade heute gut begründen, so dass er „die ‚Bedingungen‘ der modernen Höheren Schule“ erfülle.715 Dabei betonte er immer wieder, wie wichtig es sei, dass es nicht bei Lippenbekenntnissen bleibe, sondern dass sich die Praxis in den Klassenzimmern ändern müsse.716 Von Hentig selbst hatte neue Arbeitsweisen während seines Referendariats am Uhlandgymnasium in Tübingen getestet und diese in seinem Hauptwerk „Platonisches Lehren“ ausgewertet.717 Hier wird einmal mehr von Hentigs Vorliebe für Empirie deutlich. Das Buch „Platonisches Lehren“ war kein Methodenbuch für den altsprachlichen Unterricht. Von Hentig war geleitet von einem neuen Verständnis von Didaktik, das in vielen Punkten an Wolfgang Klafki und den „Primat der Didaktik“ anschloss.718 Für von Hentig war der „eigentliche Gegenstand der Didaktik [. . .] die Theorie optimalen Lehrens und Lernens durch Unterricht“.719 Wichtig war ihm die bewusste Unterscheidung zwischen Methodik, Bildungstheorie und Didaktik.720 Von Hentig wollte daher „am Modell des altsprachlichen Unterrichts Erkenntnisse für die Didaktik schlechthin“ gewinnen.721 Der Titel des Buches deutet bereits an, dass von Hentig in die Reihe derjenigen Pädagogen einzureihen ist, die die Griechen als Vorbild stilisierten.722 Raulff ernennt zu Recht Dewey und Platon zu Hentigs „Hausheiligen“.723 714 715 716 717 718 719
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Ebenda, S. 146. Ebenda, S. 127. Ebenda. Vgl. Hentig: Platonisches Lehren, S. 6. Auf den Seiten 361–502 finden sich ausführliche Unterrichtsprotokolle. Vgl. Meyer/Mayer: Klafki, S. 72–74. Rutz, Werner: Neue Didaktik und altsprachlicher Unterricht. Zu Hartmut von Hentigs Buch, in: MDAV 10,2 (1967), S. 2–8, hier S. 2; ähnlich auch Hentig: Platonisches Lehren, S. 4; Hentig: Höhere Schule, S. 27–29. Hentig: Platonisches Lehren, S. 4; ähnlich auch Rutz, Werner: Neue Didaktik und altsprachlicher Unterricht. Zu Hartmut von Hentigs Buch, in: MDAV10, 2 (1967), S. 2–8, hier S. 2. Rutz, Werner: Neue Didaktik und altsprachlicher Unterricht. Zu Hartmut von Hentigs Buch, in: MDAV 10,2 (1967), S. 2–8, hier S. 2. Zum Thema Fachdidaktik und alte Sprachen vgl. Fritsch: Zur Entwicklung der Didaktik, S. 209–216; Nickel: Lexikon, S. 65–67. Vgl. Oelkers: Pädagogik, S. 110. Raulff: Kreis ohne Meister, S. 486. Diejenigen von Picht seien laut Raulff Platon und Christus gewesen.
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Hartmut von Hentig orientierte sein Konzept für den Lateinunterricht an der „formalen Bildung“, was für ihn bedeutete, „sie soll übertragbar sein auf andere Aufgaben und Gebiete“.724 Dabei stellte er sich gegen die Argumentation, dass Latein „Werte an sich“ vermittle.725 Bildung werde „durch den Vermittlungsvorgang und nicht durch den Gegenstand selbst erreicht“.726 Kurz gesagt: „Wissenschaftliches Denken am Latein, nicht durch Latein“.727 Dabei erteilte von Hentig allerdings dem Vorurteil eine Absage, welches oft mit dem Argument der formalen Bildung verbunden wurde, nämlich, dass Latein das logische Denken schule. Dies sei „eine schlecht begründete und völlig unbewiesene Behauptung“.728 Nicht der Lateinunterricht an sich habe die Fähigkeit zur wissenschaftspropädeutischen Vorbildung, sondern eine bestimmte Art des Lateinunterrichts, nämlich diejenige, die „Vorgänge [. . .] bewußt übt“.729 Daher postulierte er die Eigenständigkeit des Lateinunterrichts in Unter-, Mittel- und Oberstufe.730 Er forderte plakativ: „das Abitur darf nicht schon in Sexta beginnen“.731 Damit wich er von der lang vertretenen Auffassung ab, dass der Lektüreunterricht die „Krönung“ und das eigentliche Ziel der mühevollen Spracherlernung sei.732 Die Bildungsfunktion des Lateinlernens lag für von Hentig in der Entwicklung des Sprachvermögens, die durch Latein gefördert werde. Dafür bedürfe man einer Sprache, die „weder so ‚selbst-verständlich‘ sein [dürfe] wie die eigene, [. . .] noch so anders gebaut (wie das Chinesische) oder so kompliziert gebaut (wie das Englische)“.733 Latein war nah genug dran, und doch weit genug weg, um das sprachliche Reflexionsvermögen zu schulen. Damit schloss er an eine Argumentation an, die bereits in der Auseinandersetzung der Altsprachler mit den Neusprachlern aufgekommen war.734 Von Hentig bediente sich dafür bei der Linguistik, die versuche, Sprache als „das ursprünglichste Abstraktionssystem“ zu beschreiben.735 Dies bedeutete
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Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 144. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 130; vgl. auch Das Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 1. Hentig: Platonisches Lehren, S. 224. Ebenda, S. 280. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 127. Ebenda, S. 128. Hentig: Platonisches Lehren, S. 224. Hentig: Höhere Schule, S. 29. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 144. Ebenda, S. 133f. Siehe Kapitel IV.2.2.2. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 134.
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eine gewisse Abkehr von der Grammatik, weil für von Hentig die Linguistik und nicht mehr die Grammatik das System darstellte, mit dem Sprache beschrieben wurde.736 Die herkömmlichen Grammatiken sah von Hentig auch als Ursache dafür, dass alle klagten, Latein sei zu schwer. Nicht die Sprache sei schwer, sondern „die Darstellung der Sprache ist unnötig schwer“.737 Daher forderte er eine neue, induktive Grammatik. Diese gebe „kein Verständnis von Funktionen vor“, sondern baue „den Sinn erst mit Hilfe der sprachlichen Strukturen auf “.738 Erst mit Hilfe dieser neuen „didaktischen Grammatik“ könne die induktive Methode, die schon lange im Gespräch war, wirklich fruchtbar gemacht werden.739 Die Didaktik müsse immer vor der Methode kommen.740 Wenn man diesen Grundsatz beachte, könnten verschiedene Methoden wie die „oral method“ oder das „programmierte Lernen“ sinnvoll eingesetzt wurden. Nur Formenlernen ohne ihre Funktion zu kennen, das sei didaktischer Unsinn.741 Als konkrete Forderungen für die Praxis gab Hartmut von Hentig den Altphilologen verschiedene Ratschläge mit auf den Weg. Sie sollten durchaus dafür kämpfen, dass Latein als erste Fremdsprache angeboten werde. Aber dafür bräuchten sie bessere Argumente, als dass das Gedächtnis im Alter zwischen zehn und zwölf noch frisch sei.742 Er empfahl dem DAV, er solle zu einer „didaktischen Forschung übergehen“. Über die Klientel des altsprachlichen Gymnasiums, über den Ausleseeffekt, und sogar „zur Erforschung der apparativen Lernmittel und der Programmierung des Lateins“ sollten die Altphilologen Untersuchungen machen. So habe der DAV eine Chance, in der Bildungspolitik Gehör zu finden.743 3.3.2 Arbeit des Deutschen Bildungsrates
Als Beispiel für den Einfluss des Becker-Netzwerkes auf die bundesrepublikanische Bildungspolitik dient die Arbeit des Deutschen Bildungsrates. Er hatte 736 737 738 739 740 741
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Vgl. dazu auch Weinrich, Harald: Die lateinische Sprache zwischen Logik und Linguistik, in: Gymnasium 73 (1966), S. 148–163. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 136. Ebenda, S. 144. Ebenda, S. 144, 139. Vgl. Hentig: Höhere Schule, S. 28f. Vgl. Hentig: Platonisches Lehren, S. 223; Rutz, Werner: Neue Didaktik und altsprachlicher Unterricht. Zu Hartmut von Hentigs Buch, in: MDAV 10,2 (1967), S. 2–8, hier S. 4f.; Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 141–144. Zu den erwähnten Methoden siehe Kapitel IV.3.4.3. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 144. Ebenda, S. 146.
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die Aufgabe, „Bedarfs- und Entwicklungspläne für das Deutsche Bildungswesen zu entwerfen, die den Erfordernissen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens entsprechen und den zukünftigen Bedarf an ausgebildeten Menschen berücksichtigen“.744 An der Arbeit dieses Expertengremiums, das 1966 als Nachfolgeorganisation des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen geschaffen wurde, lässt sich auch nachzeichnen, wie die Ideen des progressiven Becker-Netzwerkes auf die eher konservative Ministerialbürokratie und ebensolche Bildungspolitiker Einfluss gewannen. Es wird aber auch deutlich, in welchen Punkten bei allem Reformeifer Grenzen erreicht wurden, die die deutsche Bildungspolitik zu überschreiten nicht bereit war. Organisatorisch bestand der Bildungsrat aus einer Bildungskommission und einer Regierungskommission. Die Bildungskommission sollte die Vorschläge entwickelten, die Regierungskommission für eine bessere Umsetzung in tatsächliche Politik sorgen.745 Personell war vor allem die Bildungskommission regelrecht mit Beckers Leuten durchsetzt. Neben Hellmut Becker selbst waren der Bildungsökonom Friedrich Edding, den Becker ans MPI geholt hatte, sowie der Göttinger Pädagoge und Kollege von Hartmut von Hentig Heinrich Roth746 Mitglieder der Bildungskommission.747 Darüber hinaus wurden Beckers Leute immer wieder als Gutachter eingesetzt, beispielsweise Hartmut von Hentig748 oder Wolfgang Edelstein749 . Als Gegenpole zum Becker-Netzwerk können Personen wie der Historiker Karl Diedrich Erdmann und der bayerische Kultusminister Hans Maier kategorisiert werden, die ebenfalls Mitglieder in der Bildungskommission 744 745
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747 748
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Konstituierende Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 17.3.1966, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4. Vgl. Führ: Koordination, S. 78–80; Kemper: Schule und bürgerliche Gesellschaft, S. 258; Friedeburg: Bildungsreform, S. 350f.; Metzler: Konzeptionen, S. 184f. In der Regierungskommission saßen die Kultusminister der Länder, Vertreter der Bundesregierung und Vertreter der kommunalen Spitzenverbände, vgl. Konstituierende Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 17.3.1966, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4. Roth war darüber hinaus im Beirat des MPI für Bildungsforschung. Außerdem war Gerold Becker, der spätere Leiter der Odenwaldschule, der für den Missbrauchsskandal verantwortlich war, Assistent bei Roth. Hier lernten sich auch Becker und von Hentig kennen, die bis zu Beckers Tod eine enge Freundschaft bzw. Liebesbeziehung verband, vgl. Oelkers: Pädagogik, S. 92–117. Vgl. Konstituierende Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 17.3.1966, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4. Ergebnisprotokoll über die 10. Sitzung der Bildungskommission, 2.–4.11.1967, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 7; Ergebnisprotokoll über die 4. Sitzung, 2.–4.7.1970, DIPF/BBF/Archiv: DBR 9. Vgl. Ergebnisprotokoll über die 10. Sitzung der Bildungskommission, 2.–4.11.1967, DIPF/BBF/Archiv: DBR 7. Edelstein war seit 1961 Studienleiter an der Odenwaldschule. Er ging 1963 mit Hellmut Becker als Wissenschaftlicher Mitarbeiter ans MPI für Bildungsforschung und wurde 1981 sogar der Direktor für den Bereich „Entwicklung und Sozialisation“, vgl. Brachmann: Reformpädagogik, S. 280f.
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des Bildungsrates waren; Erdmann war sogar bis zu seinem Ausscheiden 1970 Vorsitzender der Bildungskommission750 und des Bildungsrates,751 Maier bei ersterer sein Stellvertreter.752 Von der inhaltlichen Arbeit der Bildungskommission sollen zwei Punkte herausgegriffen werden. Zum einen war der Bildungskommission daran gelegen, dass die integrierte Gesamtschule als Schulversuch erprobt würde. In vielen Sitzungen wurde über die Empfehlung „Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen“ beraten, die schließlich Ende Januar 1969 verabschiedet wurde.753 „[B]essere Bildungschancen für alle“ und „größere soziale Chancengleichheit“ 750 751
752
753
Vgl. Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Niederschrift über die erste Sitzung, 13.7.1966, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4; vgl. auch Gass-Bolm: Gymnasium, S. 283. Vgl. Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Niederschrift über die zweite gemeinsame Beratung der beiden Kommissionen des Deutschen Bildungsrates, 1.12.1966, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 4. Vgl. Niederschrift über die 1. Sitzung der Bildungskommission am 17.3.1966, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 6. Zur bildungspolitischen Einstellung Hans Maiers vgl. Rohstock: „Rotes Hessen“ – „schwarzes Bayern“, S. 412–415. Dass das Becker-Netzwerk damals schon auffiel und nicht jedem gefiel, könnte eventuell der Grund für folgenden Vorfall sein: Als sich der Bildungsrat 1970 für eine zweite Amtszeit konstituierte, hatte Hellmut Becker den Philosophen Hermann Krings als neuen Vorsitzenden der Bildungskommission vorgeschlagen. Krings wiederum wollte Hellmut Becker als Stellvertreter. Fehlende Mitglieder hatten ihre Stimmen an Becker, Krings oder Edding übertragen. Dieses Vorgehen löste beim ehemaligen Bremer Kultursenator Willy Dehnkamp (SPD) Unbehagen aus und er beschwerte sich „über Verabredungen im Vorfeld“. Hellmut Becker betonte, dass die Stellvertretung „kein Ziel besonderen Ehrgeizes“ sei. Friedrich Edding sprang ihm bei, indem er sagte, dass auch Heinrich Roth im Gespräch gewesen sei, aber nicht habe kandidieren wollen. Es fand keine weitere Aussprache statt. Vgl. Ergebnisprotokoll über die 1. Sitzung der Bildungskommission, 17.3.1970, DIPF/BBF/Archiv: DBR 9; Ergebnisprotokoll über die 2. Sitzung der Bildungskommission, 27.–28.4.1970, DIPF/BBF/Archiv: DBR 9. Vgl. Deutscher Bildungsrat: Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschule. Vgl. auch Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Ergebnisprotokoll über die 4. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 22.2.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4; Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Ergebnisprotokoll über die 5. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 29.11.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4; Ergebnisprotokoll über die 2. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 3.6.1971, DIPF/BBF/Archiv: DBR 5; Ergebnisprotokoll über die 13. Sitzung der Bildungskommission am 23./24.2.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 7; Ergebnisprotokoll über die 17. Sitzung der Bildungskommission, 19.–21.9.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 7; Ergebnisprotokoll über die 18. Sitzung der Bildungskommission, 30.11.1968, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 7; Ergebnisprotokoll über die 19. Sitzung der Bildungskommission, 30.–31.1.1969, DIPF/BBF/Archiv: DBR 7. Ein vom Bildungsrat in Auftrag gegebenes Gutachten von einem Forscherteam der Universität Konstanz unter Leitung von Helmut Fend kam 1976 zu dem Ergebnis, dass es zwar sehr wohl einen Unterschied bei der Realisierung von Chancengleichheit mache, ob man ein „integriertes oder segregiertes Schulsystem“ habe, und dass die integrierte Gesamtschule in dieser Hinsicht erfolgreicher sei, dass man aber „die schulischen Möglichkeiten zur Reduzierung gesellschaftlicher Ungleichheit auch im Rahmen integrierter Gesamtschulen nicht überschätzen“ sollte, vgl. Fend u. a.: Gesamtschule, S. 198–201, Zitat S. 199.
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versprach man sich davon.754 Hellmut Becker legte Wert darauf, dass dies nur zu verwirklichen sei, wenn „eine gewisse Entfremdung des Schülers von der Familie“ stattfände.755 Hier wird ein weiterer Unterschied zu den konservativen Schulpolitikern deutlich, für die ja gerade die Bewahrung des „Elternrechts“ sehr wichtig war.756 Gerade bei den starken Verfechtern der Gesamtschule wie dem Berliner Bildungssenator Carl-Heinz Evers sind dabei starke Ressentiments gegenüber dem traditionellen Bildungswesen zu beobachten: „Dem dreigliedrigen Schulwesen lagen bei seiner Gründung kaum Bildungsideen zugrunde, sie sind ihm erst später untergeschoben worden.“757 Als zweites Thema wurde gerade zu Beginn der Arbeit des Bildungsrates die Problematik des Begriffs „Begabung“ intensiv besprochen. Hier war Heinrich Roth der entsprechende Experte, der in einem Unterausschuss eine entsprechende Empfehlung erarbeiten sollte. Der Begriff „Begabung“ habe sich nämlich gewandelt. Früher wurde Begabung als „Naturkonstante“ begriffen, die die Schule „entdecken, auslesen und in ihren vorgegebenen Rahmen angemessen fördern“ konnte. Daher stimmten „Schulorganisation und Begabungstheorie“ überein. Nach dem neuen Verständnis sei Begabung aber „nach Höhe und Richtung in weiten Grenzen entwicklungs- und steigerungsfähig“ und somit Produkt eines Lernprozesses. Daher stimmten nun Begabungstheorie und Schulorganisation nicht mehr überein und müssten neu aufeinander bezogen werden.758 Dies implizierte die Neugestaltung der Schulorganisation. 1969 erschien dann auch als vierter Band der Reihe „Gutachten und Studien der Bildungskommission“ der von Heinrich Roth herausgegebene Sammelband „Begabung und Lernen“.759 Dieser enthielt unter anderem auch die Studie von Udo Undeutsch, die dem Lateinunterricht einen zu hohen Auslesegrad attestierte.760 Die bildungspolitisch eher konservativere Haltung von Erdmann und Maier zeigte sich nicht durch Fundamentalkritik, sondern eher bei scheinbaren Details, die man allerdings als „Klassiker“ bei der Diskussion um das Bildungswesen beschreiben kann. Hans Maier hatte in der Bildungskommission eine Empfehlung zur künftigen Funktion des Abiturs vorgelegt. Er wollte dabei am 754 755 756
757 758 759 760
Ergebnisprotokoll über die 17. Sitzung der Bildungskommission, 19.–21.9.1968, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 7. Ebenda; ähnlich auch Ergebnisprotokoll über die 7. Sitzung des Strukturausschusses, 12.–13.1.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 21. Anfang der 1970er Jahre wurde auch in der Familiensoziologie eine Strömung um den Soziologen Wurzbacher wichtig, die propagierte, dass Kinder am besten aus den Familien genommen werden sollten, vgl. Neumaier: Kampf um die Familie. Ergebnisprotokoll über die 17. Sitzung der Bildungskommission, 19.–21.9.1968, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 7. Ergebnisprotokoll über die 2. Sitzung des Strukturausschusses, 19.7.1966, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 21. Vgl. Roth: Begabung, 1969. Vgl. Undeutsch: Problem, 1969.
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Abitur als Allgemeiner Hochschulreife festhalten. Von einer rein fachgebundenen Hochschulreife hielt er weniger.761 Dabei spielte für ihn das Gegensatzpaar „Bildung und Ausbildung“ eine Rolle und er bemühte auch den Gewährsmann für diese Einstellung Wilhelm von Humboldt: „An Bildung solle festgehalten werden, sie gehe über die Ausbildung hinaus (Humboldt war gebildeter als es für einen Kultusminister nötig war).“762 Bildungssenator Evers dagegen hielt Maiers Vorschläge für „noch zu sehr den bisherigen Ansichten verhaftet“.763 Als die Frage erörtert wurde, wie viele Fremdsprachen zur Erlangung des Abiturs notwendig seien, tat sich Erdmann als konservativer Geist hervor. Becker und seine Mitstreiter präferierten, dass der Schüler auch mit nur einer Fremdsprache das Abitur (im Jargon des Bildungsrates „Abitur II“) erlangen können sollte.764 Erdmann wollte an zwei Pflichtfremdsprachen festhalten, „von denen die erste (im allgemeinen Englisch) als Gebrauchssprache gelernt werde, während die zweite (Latein, Französisch, Russisch) der wissenschaftlichen Konfrontation und sprachlichen Begriffsschärfung diene.“765 Hier findet sich die Argumentation aus den Tutzinger Gesprächen wieder, die Fremdsprachen eine Gebrauchs- und eine Bildungsfunktion zugesprochen hatte.766 Heinrich Roth entgegnete Erdmann: „Jede Sprache, auch Englisch, könne in dem doppelten Sinn unterrichtet werden, daß sie die Muttersprache ‚verfremde‘ und daß sie ein ‚natürliches‘ Kommunikationsmittel sei.“767 Dies darf sicherlich als Angriff auf den Lateinunterricht verstanden werden, denn 1966 hatte Roth in einem Gutachten darauf hingewiesen, dass es nicht stimme, „daß Latein eine formale Denkschulung leisten könnte, die schon ohne intensiven Mathematikunterricht auch den Anschluß an die höhere Mathematik der Universität sichere“.768 Ein weiteres Indiz für die eher konservative Haltung Maiers findet sich in der Diskussion um das „Abitur 761 762 763 764 765 766 767
768
Vgl. Ergebnisprotokoll über die 10. Sitzung der Bildungskommission, 2.–4.11.1967, dazu Anlage V: Thesen zu einer Abiturempfehlung von Hans Maier, DIPF/BBF/Archiv: DBR 7. Ergebnisprotokoll über die 6. Sitzung des Strukturausschusses, 19.–20.10.1967, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 7. Ergebnisprotokoll über die 10. Sitzung der Bildungskommission, 2.–4.11.1967, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 7. Vgl. Ergebnisprotokoll über die 19. Sitzung der Bildungskommission, 30.–31.1.1969, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 7. Ergebnisprotokoll über die 20. Sitzung der Bildungskommission, 7.–8.2.1969, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 8. Siehe dazu Kapitel IV.2.1.2. Ergebnisprotokoll über die 19. Sitzung der Bildungskommission, 30.–31.1.1969, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 7. Erdmann hatte den Punkt „eine Fremdsprache als Konfrontation mit der eigenen Sprache“ als eine von vier „obligatorische[n] Grundvoraussetzungen der Allgemeinbildung bis zum Abitur“ bezeichnet, vgl. Ergebnisprotokoll über die 14. Sitzung der Bildungskommission, 3.–4.5.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 7. Anlage zum Ereignisprotokoll über die 2. Sitzung der Bildungskommission, 26.–27.4.1966, Heinrich Roth: Pädagogische Situationsanalyse zum Bildungsnotstand, DIPF/BBF/Archiv: DBR 6. Weitere Lateinkritische Aussagen finden sich auch in dem von Roth herausgegebe-
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I“, als Maier daran festhielt, dass dieser Abschluss einen jeweils anderen Stellenwert habe, je nachdem ob er an der Hauptschule, an der Realschule oder am Gymnasium erworben wurde.769 Eine weitere Beobachtung ist interessant. Als der Strukturausschuss mit der Erarbeitung des Strukturplans begann, brachte Ralf Dahrendorf das „humanistische Gymnasium“ auf die Tagesordnung. Man müsse doch in diesem Ausschuss überlegen, „neben dem humanistischen Gymnasium eine Schulausbildung gleichen Qualitätsanspruches zu schaffen“. Denn obwohl ihre Zahl zurückgehe, hätten sie „ihre Bedeutung als Orientierungspunkt für alle höheren Schulen (und nicht nur diese) noch nicht verloren“. Die besten Schüler gingen auf humanistische Gymnasien und die Universitäten, auch die technischen Hochschulen, hätten eine gewisse Vorliebe für diese Abiturienten. Im Strukturplan solle also das altsprachliche Gymnasium beibehalten werden und zudem überlegt werden, wie man eine Gymnasialform gestalten könne, die zwar einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt, aber den gleichen Anspruch wie das altsprachliche Gymnasium habe.770 Allerdings erhielt diese Forderung in der nächsten Sitzung einige Erweiterungen, die auf ein ambivalentes Verhältnis der Bildungskommission zum altsprachliche Gymnasium hindeuten: Es müsse bedacht werden, dass die „Erfolgsquote“ der altsprachlichen Gymnasien nicht „das Ergebnis eines methodisch und didaktisch besseren Unterrichts“ sei, sondern „dem höheren Sozialstatus der Schüler“ folge, „weil durch die Eltern bereits eine schichtenspezifische Vorentscheidung getroffen“ werde. Und eine weitere Einschränkung wurde gemacht: Sprachbildung sei zwar „durch nichts ersetzbar“, allerdings brauche man dafür nicht unbedingt eine fremde Sprache, an der Muttersprache könne man diese auch entwickeln.771 Hier sind vermutlich die unterschiedlichen Meinungen zwischen Dahrendorf, Maier sowie Erdmann auf der einen und Heinrich Roth, Hellmut Becker und Friedrich Edding auf der anderen Seite die Erklärung für diese ambivalenten Äußerungen. Dies war allerdings ein thematisches Intermezzo: Danach wurde kaum mehr über das altsprachliche Gymnasium gesprochen. Generell sprach der Bildungsrat wenig über konkrete Inhalte. Es ging eher um strukturelle Fragen, die inhaltlichen Fragen wurden ausgeklammert. Der Bildungsinhalt wurde ausgelagert in einen neuen Zweig der Bildungsforschung, der Ende der 1960er in Deutschland ausgesprochene Konjunktur bekam und vor allem den altsprachlichen Unterricht in die Bredouille bringen sollte. Es
769 770 771
nen Sammelband „Begabung und Lernen“, vgl. Tütken: Lehrplan, 1969, S. 468; Skowronek: Synopse, 1969, S. 555. Vgl. Ergebnisprotokoll über die 16. Sitzung der Bildungskommission, 12.–13.7.1968, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 7. Ereignisprotokoll über die 3. Sitzung des Strukturausschusses, 22.–23.9.1966, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 21. Ereignisprotokoll über die 4. Sitzung des Strukturausschusses, 16.–17.12.1966, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 21.
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war die sogenannte Curriculumforschung, die am MPI für Bildungsforschung in Person von Saul B. Robinsohn betrieben wurde und nach einem kurzen Exkurs im Zentrum der Ausführungen stehen soll. 3.3.3 Exkurs: Schulforschung am MPI
Neben der Curriculumforschung betrieb Saul B. Robinsohn am MPI für Bildungsforschung noch ein weiteres Projekt: international vergleichende Schulforschung. Ein kurzer Einblick in diese Forschung soll verdeutlichen, wie das MPI auf der einen Seite wichtige Impulse bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus sowie bei der Differenzierung des Begriffs „Begabung“ setzte. Auf der anderen Seite nutzte es diese Ergebnisse aber auch gezielt, um die eigenen bildungspolitischen Interessen durchzusetzen. Ein Forscherteam untersuchte dafür die Entwicklung des „Sekundarschulwesens“, also die Formen der Bildungswege nach der Grundschule, von 1946 bis 1966 in sechs europäischen Ländern und der Sowjetunion. Diese „Länderberichte“ erschienen 1970 und 1975 in zwei Bänden. Robinsohn selbst wollte in einem dritten Band den analytischen Vergleich und somit die Synthese aus den einzelnen Studien leisten. Allerdings verhinderte sein früher Tod die Vollendung des Projekts.772 Caspar Kuhlmann, Pädagoge und späterer Mitarbeiter in der Bremer Kultusverwaltung, verfasste den Länderbericht über West-Deutschland. Die deutsche Bildungspolitik der Nachkriegszeit kam dabei nicht gut weg. Bereits 1967 hatte er gemeinsam mit Robinsohn den Artikel „Two decades of non-reform in West-Germany education“ in einer Fachzeitschrift für Vergleichende Pädagogik veröffentlicht.773 Das Bild, das hier von den 1950er Jahren gezeichnet wurde, ist sicherlich nicht ganz falsch, allerdings verschweigt es, dass es bereits in den 1950er Jahren Reformbestrebungen in Richtung Bildungsexpansion gegeben hatte.774 Allerdings konnten sich Robinsohn und seine Mitstreiter so natürlich als Reforminitiatoren feiern lassen, ohne die das deutsche Bildungswesen den Anschluss an die anderen westlichen Länder verpassen würde. In seinem Länderbericht ging Kuhlmann ausführlich auf die bisherige Forschung zum Thema Begabung ein. Sie sei „für die große Immobilität des deutschen Schulwesens mitverantwortlich“ und stelle somit ein „reformhemmendes Moment“ dar.775 Während des Nationalsozialismus seien Sozialwissenschaft und Tiefenpsychologie vertrieben worden. An ihre Stelle seien „eugenische und anthropologische Untersuchungen“ getreten, die „als Grundlage für eine Rassen- und Führerideologie“ gedient hätten. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges sei diese Forschung nicht 772 773 774 775
Vgl. Roeder: Bildungsforschung, S. 239f.; Robinsohn (Hrsg.): Schulreform, Bd. 1: BRD, DDR, Sowjetunion; Bd. 2: England und Wales, Frankreich, Österreich, Schweden. Vgl. Robinsohn/Kuhlmann: Decades. Vgl. dazu auch Lehning: Weg, S. 96–114. Kuhlmann: Schulreform, S. 1/120.
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beseitigt worden, sondern entsprechende Wissenschaftler hätten „frei forschen“ und wegen des Mangels an alternativer sozialwissenschaftlicher Forschung dieses Feld „weitgehend okkupieren“ können.776 Dabei arbeitete Kuhlmann sich an Valentin Müller ab.777 Müller war während der Zeit der Weimarer Republik SPD-Mitglied gewesen und verband in seinen Forschungen die soziale Frage mit der Rassenfrage. Dabei lautete sein Credo „freie Bahn dem Tüchtigsten“.778 Während des Nationalsozialismus fielen Müllers Ansätze auf äußerst fruchtbaren Boden und er wurde zu einem der führenden Köpfe der Reinhard-HeydrichStiftung.779 In der Bundesrepublik konnte Müller unbescholten weiterforschen und veröffentlichte zahlreiche Studien zur Begabung, in denen er weiterhin seine biologische Begabungstheorie propagierte.780 Er konnte 1946 sogar mit Unterstützung des niedersächsischen Kultusminister Adolf Grimme das „Institut für Begabtenforschung“ gründen.781 Richtig ist, dass die biologische Auffassung von Begabung in der Bundesrepublik bis in 1960er die diskussionsbestimmende Einstellung war. Die Leugnung von Begabungsreserven durch den Philologenverband ist dafür ein Beispiel.782 Beim niedersächsischen Philologenverband war Müller bei der Jahreshauptversammlung 1959 beispielweise einer von zwei Hauptrednern.783 Kuhlmann wunderte sich zurecht darüber, dass an diese Begabungstheorie, die in der Weimarer Republik auch in der SPD diejenige gewesen war, die den bildungspolitischen Kurs bestimmt hatte, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder angeknüpft wurde, obwohl sie vom Nationalsozialismus pervertiert worden war.784 Allerdings lassen Kuhlmanns Ausführungen den Leser mit einem gewissen Unbehagen zurück: Nicht nur sind viele Zitate Müllers aus dem Zusammenhang gerissen,785 Kuhlmann verzichtete auch darauf, den Unterschied zwischen dem Eliteverständnis der Schulpolitik der Nationalsozialisten und dem der Philologen der Weimarer Republik zu erklären. Kuhlmann stellte die Vorstellung von Elitenauslese in der Nachkriegszeit somit absichtlich in einen falschen 776 777 778 779 780
781 782 783
784 785
Ebenda. Vgl. Kuhlmann: Schulreform, S. 1/121–1/125. Vgl. Ferdinand: Argumentationen, S. 216–218. Vgl. Wiedemann: Reinhard-Heydrich-Stiftung, S. 63–67. Vgl. Kuhlmann: Schulreform, S. 1/121–1/125; Ferdinand: Argumentationen, S. 234f.; Müller: Schulplanung, 1947; Müller: Begabung, 1948; Müller: Untersuchungen, 1951; Müller: Begabungsreserven, 1960. Das Institut wurde 1949 in „Institut für empirische Soziologie“ umbenannt, vgl. Käsler: Müller, S. 446. Vgl. zu Müllers Forschung auch Rudloff: Entdeckung, S. 207–211. Siehe Kapitel IV.2.1.4. Vgl. auch Kraul: Gymnasium, S. 198–202. Vgl. Müller: Umfang, 1959. Auch dass Müller in der von Hermann Nohl, Erich Weniger und Wilhelm Flitner herausgegebenen Zeitschrift „Die Sammlung“ publizieren konnte, weist darauf hin, dass Müller in der Mitte des Faches stand, vgl. Müller: Begabung, 1948; Müller: Untersuchung, 1951. Vgl. Kuhlmann: Schulreform, S. 1/127. Vgl. ebenda, S. 1/124.
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Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und diskreditierte so das traditionelle dreigliedrige Schulwesen als seiner Ideologie nach nationalsozialistisch. Dass die Bildungsidee der Nationalsozialisten denen einer Gesamtschule sehr ähnlich war, wurde von Kuhlmann natürlich verschwiegen. Ebenfalls verschwieg Kuhlmann, dass auch der Soziologie Helmut Schelsky in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen war.786 Schelskys Arbeiten in der Nachkriegszeit passten nämlich viel eher zu den Forderungen Robinsohns. Kuhlmann versuchte also durch eine selektive Bildungsgeschichte Zustimmung zu seiner eigenen Vorstellung des richtigen Schulsystems zu gewinnen. 3.3.4 Es wird eng für den altsprachlichen Unterricht: Der DAV und die Curriculumforschung
Hatte der Ruf nach Bildungsexpansion den altsprachlichen Unterricht schon bei der technischen Gestaltung des Bildungssystems in die Bredouille gebracht – er lese zu stark aus und behindere als erste Fremdsprache die Durchlässigkeit –, verschärfte sich die Situation noch, als zusätzlich Ende der 1960er Jahre die Frage nach den Bildungsinhalten verhandelt wurde. Gass-Bolm stellt fest, dass sich die Themen dahingehend verlagerten, dass nun nicht mehr die quantitative Bildungsexpansion und der Ruf nach mehr Abiturienten im Vordergrund standen, sondern die qualitative Frage, welche Inhalte den Schülern an den höheren Schulen vermittelt werden sollten. Zudem sollte die Forderung nach einer „Demokratisierung der Schule“ verwirklicht werden.787 Für die Frage nach den „zeitgemäßen“ Bildungsinhalten setzten Bildungsreformer und -politiker große Hoffnung in die sogenannte Curriculumforschung. Hellmut Becker hatte für diese bildungsplanerische Forschungsrichtung, die in den USA schon länger Konjunktur hatte, eine eigene Abteilung am MPI für Bildungsforschung eingerichtet. Ihr Direktor wurde Saul B. Robinsohn, ein deutschstämmiger Jude, der 1933 mit seinen Eltern nach Palästina emigriert war.788 Er hatte ein breites pädagogisches Portfolio: Zunächst hatte sich Robinsohn im Bereich der Geschichtsdidaktik an der Universität Haifa betätigt, bis er 1959 als Direktor an das UNESCO-Institut für Pädagogik in Hamburg berufen wurde.789 Dort entwickelte er sein Interesse für empirische sowie vergleichende pädagogische Studien, die er ab 1965 am MPI für Bildungsforschung selbst betreiben konnte.790 1967 veröffentlichte er das Buch „Bildungsreform als Revision des Curriculum“, dessen Vorschläge „wohl 786 787 788
789 790
Vgl. Klein: Helmut Schelsky, S. 152. Diese Verstrickung war 1965 bekannt geworden. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 264. Zum Verhältnis Beckers und Robinsohns vgl. die recht pathetische Einleitung Beckers zu einem Sammelband von Robinsohns Schriften, die dessen Mitarbeiter nach seinem Tod herausgegeben hatten, vgl. Robinsohn: Erziehung als Wissenschaft, S. 7–14. Vgl. Roeder: Bildungsforschung, S. 237–240. Siehe Kapitel IV.3.3. Vgl. dazu Robinsohn (Hrsg.): Schulreform; Robinsohn: Bildungsreform, S. 31–43.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
als radikal“ bezeichnet werden müssen und das die Diskussion um Lehrinhalte „mindestens für ein Jahrzehnt stark“ beeinflusste.791 Robinsohn wollte den „Bildungskanon“ entsprechend den Anforderungen der Gegenwart aktualisieren und dies eben nicht „aus Beliebigkeit und diffuser Tradition“ heraus,792 sondern anhand von wissenschaftlicher Forschung. Der Ansatz verstand sich also als „Reform- und Forschungsprogramm“ zugleich und ging über das Definieren von Lernzielen hinaus.793 Robinsohn schwebte ein mehrstufiges Verfahren vor. Zunächst müsse überlegt werden, welche Lebenssituationen Schüler in Zukunft würden bewältigen müssen, um dann festzulegen, welche Qualifikationen dafür wichtig seien. „Am Ende sollte ein optimaler, rationalisierter Katalog von Lernzielen und Lehrinhalten stehen“,794 der aber auch immer wieder durch Evaluation zu beweisen habe, ob er auch wirklich die richtigen Qualifikationen vermittle. Dieser Ansatz spiegelt ebenfalls die Planungseuphorie der 1960er Jahre wider,795 aber auch Ansätze der Futurologie werden sichtbar.796 Zudem wird einmal mehr offenbar, wie die Forschungsansätze aus den USA in Deutschland rezipiert wurden und auch dort eine starke Wirkung entfalteten. In den USA war die Curriculumforschung mit der Forderung nach einer „Demokratisierung des Bildungswesens“ verbunden. Ausgelöst durch den „Sputnik-Schock“ waren „vor allem im Bereich der Naturwissenschaften [. . .] neue Curricula“797 entstanden. Der „Sputnik-Schock“ fand also eher durch die Hintertür Einzug in den deutschen Bildungsdiskurs: durch die zunehmende Orientierung an der US-amerikanischen Forschung im Laufe der 1960er Jahre. Bei seinen Ausführungen kritisierte Robinsohn vor allem die in Deutschland immer noch vorherrschende Orientierung der Bildungsziele an der „klassischhumanistische[n] Bildungsvorstellung“,798 die laut Robinsohn eben eine „diffuse [. . .] Tradition“ war.799 Hierbei orientierte er sich an Theodor Litt, der bereits 1955 angemerkt hatte, dass diese Bildungsvorstellung mit ihrer kulturpessimistischen Ablehnung der Technik für die moderne Gesellschaft nicht mehr brauchbar sei.800 Robinsohn bezog diese seiner Meinung nach falsche Orientierung der
791 792 793 794 795 796 797 798 799 800
Roeder: Bildungsforschung, S. 240. Ähnlich auch Blankertz: Theorien, S. 163. Zur Curriculumtheorie nach Robinsohn vgl. ebenda S. 163–177. Robinsohn: Bildungsreform, S. 1. Roeder: Bildungsforschung, S. 240. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 293. Vgl. ebenda, S. 293f. Vgl. zur Futurologie Sehfried: Zukünfte. Ereignisprotokoll über die 6. Sitzung der Bildungskommission, 16.–17.10.1970, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 10. Robinsohn: Bildungsreform, S. 18. Robinsohn: Bildungsreform, S. 1. Vgl. ebenda, S. 19. Dazu auch Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 177–179.
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Lehrziele vor allem auf den altsprachlichen Unterricht.801 Mit diesem ging er hart ins Gericht: Wer wollte bestreiten, daß das Studium der geistigen Quellen der Antike ebenso wie das ihrer sprachlichen Grundstrukturen lohnend und beglückend sein kann? [. . .] Eine zentrale Position im Curriculum der allgemeinbildenden Schule ist für diese Welt damit nicht nachgewiesen. Überhaupt mag die Zeit gekommen sein, auch in der Pädagogik auf einen Wortgebrauch zu verzichten, der historisch wohl begründet, das ‚Humanistische‘ mit der abendländischen Antike exklusiv identifiziert.802
Die Kritik richtete sich zum einen gegen die Betonung des „Modellcharakters“803 der Antike. Es sei hinfällig zu glauben, dass sich aus den Verhältnissen einer Zivilisation, die sich von der modernen so radikal unterscheidet, Normen oder gar „Werte“ für das Weltverständnis und Verhalten gewinnen ließen. Geschichte sei eben nicht die „Wiederkehr des Gleichen“.804 Damit erteilte Robinsohn derjenigen Begründungsstrategie des altsprachlichen Unterrichts eine deutliche Abfuhr, die auf die Vermittlung von Menschlichkeit durch die Beschäftigung mit der Antike abzielte, also der klassisch-humanistischen Bildung im Humboldt’schen Sinne. Dies lässt sich teilweise aus Robinsohns Biographie erklären. Als Kind einer jüdischen Familie hatte er 1933 vor den Nationalsozialisten aus Berlin fliehen und im palästinensischen Exil beobachten müssen, wie Millionen von Juden verfolgt und ermordet wurden.805 Die Berufung der Altphilologen auf „ewig gültige menschliche Werte“, die der altsprachliche Unterricht vermitteln sollte und die den jungen Menschen eine gewisse Widerstandskraft gegenüber der Moderne verleihen sollten, musste ihm wie Hohn vorgekommen sein. Die „‚humanistisch‘ Gebildeten“ hätten „vor der nationalsozialistischen Barbarei“ versagt und sich eben nicht als widerständig erwiesen.806 Zum anderen hielt Robinsohn die Argumente, dass das Erlernen von Latein und Griechisch „Sprachverständnis“, „Denkvermögen“ oder „genaues Arbeiten“ fördern würde, für empirisch nicht nachgewiesen. Darüber hinaus stelle sich die Frage, ob moderne Fremdsprachen oder Naturwissenschaften diese Aufgaben nicht ebenso gut erfüllen könnten. Derart „exklusive [. . .] Transferbehauptungen“ seien keine ausreichende Begründung für einen Platz im modernen Curriculum.807 Darüber hinaus sprach Robinsohn generell dem Sprachunterricht in 801
802 803 804 805 806 807
Wie sehr Robinsohn dies beschäftigte, zeigt sich auch daran, dass er in der dritten Auflage seiner Schrift „Bildungsreform als Revision des Curriculum“ von 1971 im Vorwort weitere ausführliche Bemerkungen dazu anstellte, vgl. Robinsohn: Bildungsreform, 3. Auflage, 1971, S. XVIIIf. Robinsohn: Bildungsreform, S. 20. Ebenda, S. 19. Robinsohn: Bildungsreform, 3. Auflage, 1971, S. XIX. Vgl. Roeder: Bildungsforschung, S. 237. Robinsohn: Bildungsreform, 3. Auflage, 1971, S. XIX. Ebenda, S. XVIII.
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erster Linie die Aufgabe zu, der Kommunikation zu dienen. „‚Spracherziehung‘ durch ‚Sprachverfremdung‘“ sei vielleicht ein weiteres, allerdings ein „exklusives“ Ziel.808 Über die bildende Leistung von sprachwissenschaftlichem Arbeiten in der Schule gebe es darüber hinaus zu wenig belastbare empirische Ergebnisse.809 Hierbei arbeitete Robinsohn sich an Hartmut von Hentig ab, der die klassisch-humanistische Begründungsstrategie des altsprachlichen Unterrichts ebenfalls verworfen und mit seiner Ausrichtung auf die „formale Bildung“ des altsprachlichen Unterrichts für eben diesen eine neue Begründung geliefert hatte.810 Robinsohn hatte sich mit von Hentigs Konzeption auseinandergesetzt, fand diese aber nicht überzeugend.811 Dies erstaunt, da doch von Hentig und Robinsohn aus einem ähnlichen pädagogischen Ideenreservoir schöpften und ähnliche Vorstellungen über ein modernes Bildungswesen hatten. Robinsohn kritisierte nämlich ebenfalls das bisherige Vorgehen, dass versucht werde, Chancengleichheit im bestehenden System herzustellen, ohne das System an sich in Frage zu stellen. Die bildungssoziologischen Untersuchungen der letzten Jahre hätten doch ausreichend bewiesen, „daß die Ungleichheit der Bildungschancen nur durch aktive Änderung im gesamten Bildungswesen, seinem Aufbau und seinen Veranstaltungen behoben werden“ könne.812 Auch für Robinsohn war dabei der Begriff der Begabung wichtig. Ohne Veränderung des Systems wäre es unmöglich junge Menschen entsprechend ihrer individuellen Begabung zu fördern, weil „Begabungen selbst vornehmlich am Erfolg in bestehenden Institutionen gemessen werden, deren Adäquatheit ja gerade in Frage gestellt ist“.813 Robinsohns Kritikpunkte am altsprachlichen Unterricht waren nicht neu. Zweifel an der Wirkung philologischer Methoden zur Spracherlernung kamen bereits während und nach dem Ersten Weltkrieg auf. Auch das Stereotyp vom Lateinischen als Elitefach wurde von Robinsohn bemüht. In der Skepsis gegenüber einer formalbildenden Wirkung des altsprachlichen Unterrichts stand Robinsohn in der Tradition Thorndikes, auf den er sich auch in seinen Ausführungen bezog.814 Neu war der Vorwurf an die „Humanisten“, die Barbarei des Nationalsozialismus nicht verhindert zu haben, weswegen sie jeglichen Anspruch auf moralische Höherbewertung verwirkt hätten. Ausschlaggebend aber dafür, dass die Kritik Robinsohns bei den Vertretern des altsprachlichen Unterrichts, vor allem beim DAV, große Besorgnis erregte, war allerdings die starke Beachtung, die Robinsohns Ideen in den Folgejahren zuteil wurde. 808 809 810 811 812 813 814
Robinsohn: Bildungsreform, S. 21. Vgl. ebenda, FN 34 zu S. 21, S. 63. Siehe IV.3.3.1. Vgl. Robinsohn: Bildungsreform, S. 20. Ebenda, S. 7. Ebenda. Vgl. ebenda, S. 51.
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Wie wirkmächtig Robinsohns Schrift war, erkennt man unter anderem daran, welche massive Konjunktur der Begriff „Curriculumforschung“ in den Folgejahren hatte.815 Die Curriculumforschung war beispielsweise eines der Themen, das den Deutschen Bildungsrat dominierte.816 1971 wurde dort die Einrichtung einer „Zentralstelle zur Förderung und Dokumentation der Curriculum-Forschung und Curriculum-Entwicklung“ diskutiert.817 Robinsohn war als Experte häufig in den Bildungsrat geladen und war auch Mitglied in verschiedenen Unterkommissionen.818 1976 erschien schließlich als 59. Band der Reihe „Gutachten und Studien der Bildungskommission“ eine Zusammenfassung der bisherigen Gutachten unter dem Titel „Curriculum-Entwicklung“.819 Auch wenn Robinsohns Ansatz nie in Reinform durchgeführt wurde und die Curriculumforschung bis heute umstritten bleibt,820 hatte die Diskussion einen entscheidenden Impuls: Nicht mehr „Inhalte“ sollten ab diesem Zeitpunkt die Lehrpläne bestimmen, sondern „Qualifikationen“, die die Schüler in einem Fach erwerben sollten821 – 815
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Vgl. u. a. den Sammelband „Curriculumentwicklung in der Diskussion“, der 1972 erschien und der 26 Beiträge enthielt, die zuvor in der Zeitschrift „Bildung und Erziehung“ erschienen waren. Robinsohn war der Herausgeber, vgl. Robinsohn (Hrsg.): Curriculumentwicklung, S. 7. Vgl. Ereignisprotokoll über die 6. Sitzung der Bildungskommission, 17.–18.3.1967, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 6; Ergebnisprotokoll über die 11. Sitzung der Bildungskommission, 8.–9.12.1967, DIPF/BBF/Archiv: DBR 7; Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Ergebnisprotokoll über die 4. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 22.2.1968, DIPF/ BBF/Archiv: DBR 4; Ereignisprotokoll über die 2. Sitzung der Bildungskommission, 27.– 28.4.1970, DIPF/BBF/Archiv: DBR 9; Anlage zum Ereignisprotokoll über die 3. Sitzung der Bildungskommission, 5.–6.6.1970, Heinrich Roth: Grundsatzdiskussion über Bildung und Gesellschaft, DIPF/BBF/Archiv: DBR 9; Ereignisprotokoll über die 6. Sitzung der Bildungskommission, 16.–17.10.1970, DIPF/BBF/Archiv: DBR 10; Ereignisprotokoll über die 1. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 3.7.1970, DIPF/BBF/Archiv: DBR 5; Ereignisprotokoll über die 2. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 3.6.1971, DIPF/BBF/Archiv: DBR 5; Ereignisprotokoll über die 6. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 11.10.1973, DIPF/BBF/Archiv: DBR 5; Deutscher Bildungsrat: Strukturplan, 1971, S. 58–69. Ereignisprotokoll über die 2. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 3.6.1971, DIPF/BBF/ Archiv: DBR 5. Vgl. Geschäftsstelle des Deutschen Bildungsrates, Ergebnisprotokoll über die 4. Sitzung des Deutschen Bildungsrates, 22.2.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 4; Ereignisprotokoll über die 6. Sitzung der Bildungskommission, 17.–18.3.1967, DIPF/BBF/Archiv: DBR 6. Vgl. Bildungskommission: Curriculum-Entwicklung, S. 5f. Auch nach dem Tod Robinsohns ging die Curriculumforschung weiter. Dabei wurden selbstverständlich mehr Ansätze verfolgt als nur derjenige Robinsohns. 1982 erschien eine erste Übersicht zur bisherigen Forschung, vgl. Hameyer/Frey/Haft (Hrsg.): Handbuch. Vgl. Curriculum, in: Lexikon Pädagogik, S. 138. Hildegard Hamm-Brücher hatte sich 1968 in Hessen an der Entwicklung eines Gesamtcurriculums versucht, war aber gescheitert. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 296, FN 42. Da Hamm-Brücher auch zum Becker-Netzwerk zu zählen ist, ist dies ein weiteres Zeichen dafür, dass dieses Netzwerk mit seinem Einfluss durchaus auch an Grenzen kam. Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 297.
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wenn man so will, nahm damals die Kompetenzorientierung ihren Anfang. Welche Strahlkraft die Curriculumforschung auch in die Politik hatte, zeigt ein Papier der KMK, das 1968 ein Gespräch mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger vorbereiten sollte. Darin hieß es: „Die große Aufgabe des Deutschen Bildungsrates [. . .] sollte doch sein, Vorschläge zum inneren Gehalt der Erziehung zu machen.“ Fragen nach der Schulstruktur seien dabei „von untergeordnetem Interesse“. Vielmehr gehe es „um das Curriculum [. . .] und letzten Endes um die pädagogischen Zielsetzungen“. Darüber hinaus wurde auf höchster Ebene die Relevanz des altsprachlichen Unterrichts in Frage gestellt, denn das Papier fuhr folgendermaßen fort: Unter anderem gehe es also um Fragen, „ob noch Latein und Griechisch an den höheren Schulen unterrichtet werden“ müsse oder „wie man besser als bisher die naturwissenschaftlichen Fächer fördern“ könne.822 Es wundert nicht, dass die Curriculumdiskussion um Robinsohn bei den Altphilologen ein echtes Beben auslöste.823 Otto Schönberger, Vorsitzender der altphilologischen Fachgruppe im bayerischen Philologenverband, setzte sich als erster mit seinem Aufsatz „Anmerkungen zu einem Buch von Saul B. Robinsohn“ mit dessen Kritik am altsprachlichen Unterricht auseinander. Wichtig dabei war, dass Schönberger die Kritik nicht einfach abschmetterte, sondern sich produktiv damit auseinanderzusetzen begann.824 Das Einschwenken auf die pädagogischen Forderungen der 1960er Jahre ist ein wesentliches Merkmal der neuen Rettungsstrategie des DAV. Der DAV gründete beispielsweise 1969 einen „Ausschuß für didaktische Fragen“,825 der eine Lernzieltaxonomie, die sogenannte „DAV-Matrix“ erarbeitete.826 Klaus Westphalen, bayerischer Fachdidaktiker und späterer Pädagogikprofessor, avancierte zum Experten für Curriculumtheo-
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Sekretariat der KMK, Generalsekretär, 25.6.1968: Einige Notizen für das Gespräch beim Bundeskanzler am 2.7.1968, DIPF/BBF/Archiv: DBR 33. Vgl. zu Folgendem die ausführliche Bearbeitung dieser Auseinandersetzung bei Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 176–218. Vgl. Richter, Will: Zum gegenwärtigen Auftrag des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 12,3 (1969), S. 1–3, hier S. 3: „Wir werden vor allem den Konzeptionen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ein wachsames Auge zuwenden müssen[. . .].“ Heil, Günther: Probleme der gegenwärtigen Unterrichtspraxis – zur Diskussion gestellt, in: MDAV 14,3 (1971), S. 1–5. Vgl. Schönberger, Otto: Anmerkungen zu einem Buch von Saul B. Robinsohn, in: MDAV 11,3 (1968), S. 2–7; Schönberger, Otto: Nachtrag zu „Anmerkungen zu einem Buch von Saul B. Robinsohn“, in: MDAV 12,1 (1969), S. 6; Schönberger, Otto: Nochmals: Anmerkungen zu einem Buch von Saul B. Robinsohn, in: MDAV 14,4 (1971), S. 1–8. Vgl. Deutscher Altphilologenverband: Sitzung des DAV-Vorstandes in Hannoversch-Münden 15.–17.5.1969, in: MDAV 12/2 (1969), S. 1–2; Gebhardt, E.: Aus der Arbeit des Ausschusses für Didaktische Fragen des DAV, in: MDAV 14,2 (1971), S. 12–13; Gebhardt, E.: Aus der Arbeit des Ausschusses für Didaktische Fragen des DAV (II), in: MDAV 15,2 (1972), S. 4–6. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 201–214.
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rie.827 So ist es nicht verwunderlich, dass der „Streit“ mit Saul B. Robinsohn in einem Gespräch 1971 beigelegt werden konnte.828 Robinsohn lobte die Vertreter des DAV und stellte fest, die altsprachlichen Fachvertreter seien „viel weiter als die anderen Fächer“.829 Relativ unbeholfen reagierten die Altphilologen allerdings auf den Vorwurf, dass auch das humanistische Gymnasium nicht vor dem Nationalsozialismus geschützt habe.830 Allerdings gab Schönberger zu, dass die Altphilologen hier noch einiges aufzuarbeiten hätten. Er verwies auch darauf, dass der Vater von Heinrich Himmler Lehrer für alte Sprachen war. Dieses Motiv erlangte später durch Alfred Andersch Berühmtheit, der in seiner Kurzgeschichte „Der Vater eines Mörders“ (1980) eine Griechischstunde von 1928 beim „alten Himmler“, Direktor am Wittelsbacher Gymnasium in München, schildert.831 Im Nachwort stellt Andersch die Frage, die wohl auch Robinsohn schon umgetrieben hat, nämlich: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“832 Die Auseinandersetzung mit Robinsohn wird gerne als Heldengeschichte des DAV erzählt, der mit seiner „kopernikanischen Wende“ in der Didaktik den altsprachlichen Unterricht vor der Abschaffung bewahrte.833 Allerdings greift dieses Narrativ zu kurz. Zum einen gab es bereits in den 1960er Jahren Bemühungen, den altsprachlichen Unterricht zu reformieren. Diese Gedanken konnten sich nun flächendeckend umsetzen lassen. Zum anderen darf bei aller diskursiven Wirkmächtigkeit des Becker-Netzwerkes nicht vergessen werden, dass Bildungspolitik immer noch Ländersache war und hier saßen immer noch viele Verteidiger des altsprachlichen Unterrichts an den Hebeln der Macht. Der bayerische Kultusminister Hans Maier beispielsweise setzte sich offensiv für das altsprachliche Gymnasium und den altsprachlichen Unterricht ein. Darüber hinaus war Maier auch Mitglied im Bildungsrat. Davon also, dass der altsprachliche Unterricht kurz vor der Abschaffung stand, kann keine Rede sein. Allerdings muss die gefühlte Bedrohung ihres Unterrichts für die Altphilologen immens gewesen sein. Denn im und für den Bildungsrat waren Personen wie Carl-Heinz Evers, Udo Undeutsch und Saul B. Robinsohn tätig, die den Lateinunterricht offen als Ausleseinstrument und unzeitgemäß angeprangert hatten. Dieses Gefühl dürfte die Entstehung des Helden-Narratives teilweise erklären. Die Auseinandersetzung mit Robinsohn diente in jedem Fall 827 828 829 830
831 832 833
Vgl. Westphalen: Einflüsse, 1983; Westphalen: Zwischen Theorie und Praxis, 1972. Vgl. Bayer, Karl: Gespräch mit Saul B. Robinsohn, in: MDAV 15,1 (1972), S. 25–26. Ebenda, S. 26. Vgl. Schönberger, Otto: Nochmals: Anmerkungen zu einem Buch von Saul B. Robinsohn, in: MDAV 14,4 (1971), S. 1–8, hier S. 7f. Vgl. dazu auch Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 191f., v. a. FN 86. Vgl. Andersch: Vater. Ebenda, S. 108. Vgl. Kipf: Robinsohn; kritisch: Stroh: Latein, S. 287.
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als Initialzündung für eine durchgreifende Reform des altsprachlichen Unterrichts.834 Somit stellt der Zeitraum zwischen 1968 und 1972 die Zeitspanne dar, in der sich die Argumentationsweise bezüglich des altsprachlichen Unterrichts teilweise radikal wandelte. Dies soll im Folgenden systematisch dargestellt werden. 3.4 Verteidigung und Neuaufstellung
Angriffe auf den altsprachlichen Unterricht gehörten zu dessen Geschichte von Beginn an dazu. In jeder der Zeitspannen, die diese Arbeit untersucht, fühlten sich die Altsprachler bedroht und entwickelten verschiedene Strategien zur Verteidigung. Allerdings muss konstatiert werden, dass zu keinem Zeitpunkt, die Angriffe so massiv waren, wie in den 1960er Jahren. Kaum ein Vortrag kam ohne die Bemerkung über die „bedrohliche [. . .] Lage“835 des altsprachlichen Unterrichts oder die „bestehenden Sorgen“836 der Altphilologen angesichts eben dieser Situation aus.837 Dies schien ein gesamteuropäisches Phänomen zu sein, denn seit Mitte der 1960er Jahre gab es immer wieder Treffen europäischer Altphilologen, um sich über die Lage des altsprachlichen Unterrichts und seine Modernisierung auszutauschen.838 Zudem wurde die „Bedrohung“ auch real 834 835 836 837
Siehe Kapitel IV.3.4. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 181–185. Hansen, Kay: Zur Lage des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland und Europa, in: MDAV 9,3 (1966), S. 1. Vertreterversammlung 1966, in: MDAV 9,2 (1966), S. 1–2. Vgl. Gegenschatz, Ernst: Zur Zielsetzung der Lektüre im Lateinunterricht, in: AU, Reihe IX (1966), Heft 2, S. 56–78, hier S. 56f.; Dietrich, H.: Latein-Dokumentation, in: MDAV 12,1 (1969), S. 11–12; Richter, Will: Zum gegenwärtigen Auftrag des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 12,3 (1969), S. 1–3; Rutz, Werner: Neue Didaktik und altsprachlicher Unterricht. Zu Hartmut von Hentigs Buch, in: MDAV 10,2 (1967), S. 2–9, hier S. 6; Knoke, Friedrich: Conservantes progressuri, in: MDAV 14/2 (1971), S. 1–7, hier S. 7. Auch in der Presse wurden die Bemerkungen immer lauter, das altsprachliche Gymnasium sei zur Rarität geworden, vgl. dazu dpa Hintergrund. Archiv- und Informationsmaterial: Die Situation des Bildungswesens in der Bundesrepublik, 26. April 1966 (ACDP 9/920), S. 12: „Wieweit die Aufspaltung des früheren Gymnasiums heute schon fortgeschritten ist, dafür ist vor allem das altsprachliche Gymnasium ein Beispiel. In einigen Bundesländern, z. B. Hessen, ist als 2. Fremdsprache Griechisch, das doch früher neben dem Latein die Kernsprache klassischer Bildung war, durch Französisch ersetzt worden; in den anderen Bundesländern kann der Schüler zwischen Griechisch und Latein wählen. Rein humanistische Gymnasien mit Latein und Griechisch als vornehmsten Fächern gibt es nur noch in Bayern in größerer Anzahl, in Nord- und Westdeutschland sind sie fast zur Rarität geworden. Schon diese Tatsachen lassen erkennen, daß das Gymnasium seit 1950 unaufhörlich in der Reform begriffen ist.“ Vgl. auch: Röpke: Die richtige Schule für jedes Kind, in: Frankfurter Rundschau, 14.11.1964: „Daß die altsprachlichen Gymnasien in aller Stille trotz gelegentlich aufflackernder Fehden in den Leserbriefen der Zeitungen an Boden verlieren, ist unverkennbar.“
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spürbar: Die Zahl der Schüler, die Latein wählten, nahm ab Mitte der 1960er Jahre spürbar ab.839 Dies machte sich auch bei der Lehrerausbildung bemerkbar. Der nordrhein-westfälische Altphilologenverband bemühte sich seit 1970 darum, Zusatzstudien für Altphilologen einzurichten, damit diese die Lehrbefähigung für weitere Schulfächer erwerben konnten.840 Viele Altsprachler mussten bereits fachfremd unterrichten, weil Lehrer in anderen Fächern fehlten und Latein- und Griechischlehrer nicht gebraucht wurden. Dies allerdings nur auf die sinkende Schülerzahl zurückzuführen, wäre falsch. Zum einen muss man bedenken, dass Nordrhein-Westfalen in den 1950er Jahren aufgrund der Tatsache, dass dort alle Gymnasien mit Latein begannen, besonders viele Altphilologen eingestellt hatte. Dass diese nun nicht mehr gebraucht wurden, lag auch an der veränderten Sprachenfolge. In Bayern beispielsweise gab es Anfang der 1970er Jahre einen Mangel an altsprachlichen Lehrern.841 Der DAV richtete daher den altsprachlichen Unterricht teilweise neu aus und warf manche traditionelle Einstellung über Bord. Andere Argumente blieben 838
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841
Vgl. Zweites Kolloquium über den Altsprachlichen Unterricht, in: MDAV 8,3 (1965), S. 13; Vertreterversammlung 1966, in: MDAV 9,2 (1966), S. 1–2; Hansen, Kay: Zur Lage des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland und Europa, in: MDAV 9,3 (1966), S. 1; Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 3–6. Vgl. Fuchs: Gymnasialbildung, S. 255, hier auch FN 101; Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 28, 187: Zwischen 1963 und 1966 blieb der Anteil der Latein lernenden Schüler konstant bei ca. 51 Prozent. Im Jahr 1969 fiel ihr Anteil aber auf ca. 45 Prozent ab. Der große Einbruch kam im Jahr 1972, als nur noch 27 % der Schüler Latein lernten. Lateinunterricht an öffentlichen und privaten Schulen: 1963: Gymnasiasten: 858 691; Schüler mit Latein: 441 297 = 51,39 %; 1966: Gymnasiasten: 963 182; Schüler mit Latein: 496 086 = 51,50 %; 1969: Gymnasiasten: 1 349 327; Schüler mit Latein: 606 728 = 44,96 %. Interessant ist auch folgende Übersicht, ebenfalls nach Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 28: Gymnasialer Lateinunterricht in den verschiedenen Jahrgangsstufen in Relation zu den jeweiligen Gesamtzahlen der Gymnasiasten an öffentlichen und privaten Schulen: 1963: Klasse 5: 22,3 %, Klasse 7: 61,94 %, Klasse 9: 68,6 %, Klasse 11: 73,02 %, Klasse 13 (Abitur): 51,04 %; 1966: Klasse 5: 20,16 %, Klasse 7: 63,8 %, Klasse 9: 67,2 %, Klasse 11: 65,75 %, Klasse 13 (Abitur): 39,5 %; 1969: Klasse 5: 15,23 %, Klasse 7: 62,48 %, Klasse 9: 67,04 %, Klasse 11: 61,13 %, Klasse 13 (Abitur): 30,4 %. Ähnlich auch Berning (Vorsitzender des DAV NRW): Bericht zur Lage, 28.9.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601. Vgl. Landesverband NRW im DAV an Staatssekretär Mittelstaedt, 23.12.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601; Landesverband NRW im DAV an Staatssekretär Mittelstaedt, 14.1.1971, LAV NRW, NW 382, Nr. 601; Bericht zur Lage, Vorsitzender des DAV NRW Berning, 28.9.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601. Weitere Akten zu den Zusatzstudien LAV NRW, NW 382, Nr. 602 und 603; Pressemitteilung 162/3/71, 30.3.1971, LAV NRW, NW 372, Nr. 568; vgl. auch Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 186, FN 66. Vgl. Brief Referat II/3 an alle Humanistischen Gymnasien und Gymnasien mit humanistischem Zweig, 15.5.1968, BayHStA, MK 81256; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Freie Universität Berlin, Seminar für klassische Philologie, 9.7.1968, BayHStA, MK 81256; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Gymnasien in Bayern, 17.2.1971, BayHStA, MK 81256; Zur Lage in Bayern, in: MDAV 13,1 (1970), S. 9–10.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
aber auch diesmal erstaunlich gleich. Vor allem seit 1970 erschienen zahlreiche programmatische, didaktische und methodische Veröffentlichungen zum altsprachlichen Unterricht, die aber in der Grundtendenz ihrer Argumentation alle sehr ähnlich waren.842 Daher wird im Folgenden anhand der wichtigsten Schriften systematisch analysiert, mit welchen Argumenten sich die Altphilologen gegen die Vorwürfe zur Wehr setzten. Danach sollen die strategischen Überlegungen des DAV beleuchtet und am Ende die methodischen Neuerungen behandelt werden. 3.4.1 Argumentative Erneuerung
Um der Frage gerecht zu werden, warum das Fach Latein auch in der Gesellschaft der 1960er Jahre noch zum Kanon der Allgemeinbildung gehöre und warum Schüler für das Bestehen in einer modernen Berufswelt durch das Erlernen von Latein Schlüsselqualifikationen erwerben können sollten, griff man fast nur auf ältere Argumente zurück. Allerdings gab man ihnen einen neuen Anstrich und verlagerte die Akzentuierung. Die wichtigste Verschiebung war dabei, dass der Sprachunterricht nicht mehr bloß Mittel zum Zweck der Lektüre war, sondern zum gewichtigsten Argument avancierte. Latein mache nämlich sprachliche Strukturen bewusst843 und besitze einen linguistischen Schulungswert.844 Daher ermögliche die Auseinandersetzung mit dem Latein den Schülern den „Aufbau eines ersten kategorialen Systems“ von Sprache.845 Dieses System könne 842
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844 845
Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27; Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und Altsprachlicher Unterricht, in: MDAV 15,1 (1972), S. 1–14; Nickel: Altsprachlicher Unterricht, 1973; Westphalen: Prolegomena, 1971; Bayer/Westphalen: Kollegstufenarbeit; Bayer: Fernziele, 1973; Nickel: Didaktik, 1974. Leicht auf Krawall gebürstet bzw. im Geiste der „68er“ waren Thesen, die eine Didaktische Arbeitsgemeinschaft am Seminar für Klassische Philologie an der Universität Göttingen 1970 aufgestellt hatte. Rainer Nickel urteilte sehr harsch darüber: „Anschuldigungen“ seien kein Beitrag zur Erneuerung der altsprachlichen Didaktik. Sieht man allerdings über den anklagenden Ton der Thesen hinweg, erkennt man, dass die Forderungen denen des DAV nicht unähnlich waren. Dass diese progressiven Töne aus Göttingen, der Wirkungsstätte Roths und von Hentigs, kamen, dürfte kein Zufall sein. Vgl. Behrendt, Wilhelm: Der altsprachliche Unterricht im bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Kontext, in: MDAV 14,3 (1971), S. 5–15; Nickel, Rainer: Die achtundsechzig Göttinger Thesen zur Didaktik des altsprachlichen Unterrichts, in: MDAV 15,1 (1972), S. 23–24. Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 19; Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und Altsprachlicher Unterricht, in: MDAV 15,1 (1972), S. 1–14, hier S. 14. Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 19. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 22.
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der Schüler dann nutzen, um weitere Fremdsprachen zu erlernen846 oder sein Ausdrucksvermögen in der Muttersprache zu erweitern. Besonders für Letzteres sei Latein besser geeignet als andere Fremdsprachen, weil es das richtige Maß an Fremdheit und Nähe besitze847 : „Der didaktische Vorzug des Latein liegt in seiner Andersartigkeit. [. . .] Die dadurch gegebene Verfremdung erleichtert die Reflexion [. . .] und hebt den muttersprachlichen Denkansatz ins Bewusstsein.“848 Ganz allgemein gesprochen führe die Beschäftigung mit Latein zur „Erweiterung der Sprachkompetenz“.849 Diese Argumente waren bereits in der Weimarer Republik verwendet worden, bekamen nun aber durch ihre Verbindung zur Linguistik und zum Kompetenzbegriff einen modernen Anstrich. Dieses Argument der allgemeinen Sprachschulung griff auf das früher bereits bemühte Argument zurück, dass Latein formal bilde, dass also eine Übertragbarkeit auf andere Aufgaben möglich sei. Laut Adolf Clasen halte die moderne Forschung diesen „Transfer“ für möglich850 – dass gerade die moderne Forschung à la Heinrich Roth diesen Transfer bestritt, spielte für Clasen scheinbar keine Rolle. Immerhin gab er zu, dass Latein keine logische Sprache sei. Dennoch hielt er dieses Argument im Diskurs, indem er hinzufügte, dass die lateinische Sprache „logisches Denken nötig macht durch die Anstrengung, die sie abverlangt“.851 Latein bleibe eine „Sprach- und Denkschulung“, die mit dieser Art des „Formaltraining[s]“ allen Fächern gegenüber konkurrenzlos sei.852 Zudem fördere die Beschäftigung mit Latein „Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit“, „Zucht 846
847 848
849 850 851
852
Vgl. ebenda, S. 19; Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 7; Presseerklärung des DAV auf der Kieler Tagung, 7.4.1972, in: MDAV 15,2 (1972), S. 1. Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 20. Ebenda, S. 21; vgl. auch Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und Altsprachlicher Unterricht, in: MDAV 15,1 (1972), S. 1–14, hier S. 14; Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 7; Klinz, Albert: Latein in unserer Zeit und Welt, in: ASiU 21,3 (1974), S. 2–10, hier S. 9. Presseerklärung des DAV auf der Kieler Tagung, 7.4.1972, in: MDAV 15,2 (1972), S. 1. Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 19–21. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 20. Auch in den progressiven Göttinger Thesen stand: „Die lateinische Sprache verfährt viel logischer als andere, ist aber nicht logischer. Der Schüler wird dadurch aufgefordert, sprachlich rational zu denken und Sprache rational zu reflektieren.“ Behrendt, Wilhelm: Der altsprachliche Unterricht im bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Kontext, in: MDAV 14,3 (1971), S. 5–15, hier S. 14. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 19f.; ähnlich auch Deutscher AltphilologenVerband: Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts, in: MDAV 14,1 (1971), S. 1–2, hier S. 1.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
im Denken, Geduld und Ausdauer im Kombinieren“.853 Immerhin habe eine Studie der Studienstiftung des Deutschen Volkes ergeben, dass Schüler mit altsprachlichem Schwerpunkt „günstige Zugänge auch zu den Naturwissenschaften und den technischen Berufslaufbahnen“ hätten.854 Um die „Nützlichkeit“ des Lateins über die formale Bildung hinaus zu unterstreichen, wurde auch angeführt, dass Lateinkenntnisse für einige Studiengänge notwendig855 und für das Verständnis von Fremdwörtern, gerade auch der „wissenschaftlich-technischen Nomenklaturen“, hilfreich seien.856 Auch dieses Begründungssetting war bereits zu früheren Zeiten vielfach angeführt worden. Neu war nur, dass der Sprachbildung nun nicht nur die gleiche Bedeutung wie dem Lektüreunterricht zukam, so wie es zu Weimarer Zeiten der Fall gewesen war, sondern dass sie sogar als vorrangig gesehen wurde. Wirklich neu war die Reaktion der Altphilologen auf den Vorwurf, mit Latein ein Auslesefach zu betreiben, das gerade die Schüler aus bildungsferneren Schichten über Gebühr benachteilige. Nicht dass man als Auslesefach galt, war neu, sondern dass dies im Zuge der Bildungsexpansion kritisiert wurde. In den 1950er Jahren war dieser Sachverhalt noch ein Gütekriterium des Lateinunterrichts gewesen. Nun drehten die Altphilologen den Spieß um und argumentierten, dass Latein genau für die „gymnasialferne [. . .] Bevölkerungsschicht“ das richtige Fach sei, weil es „die milieubedingten Sprachbarrieren“ abbauen helfe. So könne „den Kindern dieser neu herangeführten Kreise innerhalb des tradierten, sprachorientierten Bildungsangebots der Schule die Chancengleichheit gesichert werden“. So konnte man sogar Latein als erste Fremdsprache rechtfertigen, denn um den Abbau von Sprachbarrieren zu verwirklichen, müsse dieser Unterricht früh einsetzen, „weil die alterspsychologischen Vorteile Neugier, Materialhunger, Aufgeschlossenheit den Zweck begünstigen“.857 Mit dieser Argumentation emp853
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Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 20; Klinz, Albert: Latein in unserer Zeit und Welt, in: ASiU 21,3 (1974), S. 2–10, hier S. 9; Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 7: „Latein [. . .] erzieht u. a. durch seinen Formenreichtum zur Genauigkeit.“ Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 8. Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 18. Ebenda, S. 19; vgl. auch Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und Altsprachlicher Unterricht, in: MDAV 15,1 (1972), S. 1–14, hier S. 14. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 22; ähnlich auch: Schulze, Karl: Neue Möglichkeiten für den altsprachlichen Unterricht?, in: MDAV 14,1 (1971), S. 11–14, hier S. 13; Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 7; Otto Schönberger (Bezirksvorsitzender der Altsprachlichen Fachgruppe im Bayerischen Philologenverein) an den Minister für Unterricht
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fahl man den Lateinunterricht auch für die Gesamtschule.858 Den Altphilologen war ein argumentativer Coup gelungen: Sie konnten mit den Argumenten der systemtransformierenden Reformer, die ja gerade die Dominanz des fremdsprachlichen Unterricht an den deutschen Gymnasien kritisiert hatten, genau diese Dominanz wieder rechtfertigen. Neu war auch die Begründung des Lektüreunterrichts. Dabei verwarf man die Vorstellung von der Antike als Modell und sah die Antike stattdessen als „Gegenbild“,859 um durch diese „Kontrasterfahrung“ den eigenen Standort zu bestimmen.860 Denn dadurch erhielten die Schüler eine kritische Distanz zu ihren „Denk- und Sprechgewohnheiten“ und würden dazu herausgefordert, Stellung zu beziehen.861 Auch im Lektüreunterricht würde darüber hinaus das Sprachbewusstsein weiter geschult, weswegen die Altphilologen einmal mehr die reine Arbeit mit gedruckten Übersetzungen ablehnten und an der Lektüre der Originaltexte festhielten.862 Allerdings wurde hierbei auch wieder Altbekanntes bemüht: Die Antike sei ein gemeinsames europäisches Bildungsgut und daher wichtig für die Herausbildung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls.863 Ganz wollte man „Werte“ und „Kultur“ nicht aufgeben. Eine deutliche Distanzierung davon ist jedoch in den Thesen zum altsprachlichen Unterricht zu spüren, die eine „Didaktische Arbeitsgemeinschaft“ am Seminar für Klassische Philologie der Universität Göttingen 1970 aufgestellt hatte. Humanitas sei nie ein Zentralbegriff der Antike gewesen, er sei ihr erst „durch das humanistische
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und Kultus, 17.6.1971, BayHStA, MK 81256; Behrendt, Wilhelm: Der altsprachliche Unterricht im bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Kontext, in: MDAV 14,3 (1971), S. 5–15, hier S. 8. Vgl. Schulze, Karl: Neue Möglichkeiten für den altsprachlichen Unterricht?, in: MDAV 14,1 (1971), S. 11–14, hier S. 12; Wolff, Erwin: Latein als erste Fremdsprache an Gymnasien, in: ASiU 22,1 (1975), S. 2–9, hier S. 9; Bering (Vorsitzender des DAV NRW): Bericht zur Lage, 28.9.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 23. Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 4. Deutscher Altphilologen-Verband: Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts, in: MDAV 14,1 (1971), S. 1–2, hier S. 1; ähnlich auch Westphalen: Prolegomena, 1971, S. 39f. Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 24; Deutscher Altphilologen-Verband: Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts, in: MDAV 14,1 (1971), S. 1–2, hier S. 2; Das Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 2. Vgl. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 24; vgl. auch Empfehlungen der MommsenGesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 4; Wolff, Erwin: Latein als erste Fremdsprache (Vortrag, gehalten vor der Altphilologischen Fachgruppe des Bayer. Philologenverbandes), in: ASiU 22, 1 (1975), S. 2–9, hier S. 5.
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Bildungsideal zugedacht“ worden. Die häufige Verwendung militärischer Termini ließe die „Inhumanität der Antike“ deutlich vor Augen treten.864 So weit wollten viele Altphilologen aber nicht gehen.865 Eine weitere Neuerung war, dass die Altphilologen ihren alten „Humanistenhochmut“ endgültig ablegten und die alten Sprachen nicht mehr als die gymnasialen Fächer per se ansahen, sondern als Teil eines breiten Fächerkanons. Man zitierte Heinrich Roth, der behauptete hatte, dass es keine „Aristokratie der Fächer“ mehr gebe.866 Man akzeptierte die neuen Leitlinien von Pluralismus und Wahlfreiheit, nutzte dies aber auch für die eigenen Fächer, indem man betonte, dass unter „der Vielheit schulischer Angebote [. . .] schon aus Gründen der Gleichbehandlung und der Förderungsgleichheit das Angebot der altsprachlichen Fächer nicht fehlen“ dürfe.867 Damit einher ging, dass auch die Altphilologen die Ineinssetzung von altsprachlicher Bildung und humanistischer Bildung aufgaben. Das exklusive Identifizieren des Humanistischen mit der abendländischen Antike war auch ein Kritikpunkt Robinsohns gewesen.868 Bereits bei der Jahrestagung des DAV 1965, bei der auch Hartmut von Hentig seinen Vortrag über die Erneuerung der lateinischen Didaktik hielt, mahnte Eberhard Hermes, daß der Bildungsgegenstand Haltung, Fähigkeiten, Werte fast selbsttätig und zwangsläufig vermittle, daß man also nur Latein treiben zu brauche, damit das Fach vermöge seines inneren Gehalts den Menschen bilde, ihn mit denjenigen Fähigkeiten und Eigenschaften ausstatte, kraft derer er ein ‚homo humanus‘ wird, dieser Leitgedanke ist in der völlig veränderten Situation nicht mehr brauchbar [Hervorhebung im Original].869
Auch Harald Patzer gab 1968 zu bedenken, nur weil für das altsprachliche Gymnasium der alte Name humanistisches Gymnasium noch in Erinnerung sei, 864 865
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Behrendt, Wilhelm: Der altsprachliche Unterricht im bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Kontext, in: MDAV 14,3 (1971), S. 5–15, hier S. 10f. Vgl. Nickel, Rainer: Die achtundsechzig Göttinger Thesen zur Didaktik des altsprachlichen Unterrichts, in: MDAV 15,1 (1972), S. 23–24; Klinz, Albert: Latein in unserer Zeit und Welt, in: ASiU 21,3 (1974), S. 2–10, hier S. 5. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 25, vgl. auch S. 21; vgl. auch Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und Altsprachlicher Unterricht, in: MDAV 15,1 (1972), S. 1–14, hier S. 14. Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 5; vgl. auch Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 25f. Siehe Kapitel IV.3.3.4. Hermes, Eberhard: Latein in unserer Welt. Ein Beitrag zum Selbstverständnis des gegenwärtigen Lateinunterrichts, in: Gymnasium 73 (1966), S. 110–125, hier S. 112. Im Lexikon des Lateinunterrichts von 1981 fand diese Position unter dem Lemma „Humanistische Bildung“ ebenfalls Einzug, vgl. Frings/Keulen/Nickel: Lexikon, 1981, S. 101.
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bedeute dies nicht, dass der Begriff „humanistische Bildung“ mit einer auf die Antike ausgerichteten Bildung richtig bestimmt sei.870 Genauso sei altsprachliche Bildung „nicht eo ipso ‚humanistisch‘“. Die Antike sei zwar wichtiger Teil der humanistischen Bildung, aber ebenso „moderne Sprachen, moderne Klassiker, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte, Philosophie, theoretische Politik, Musik und bildende Kunst“.871 Gerade Patzers Auseinandersetzungen mit dem altphilologischen Verständnis von Humanismus waren für diese neue Definition von Bedeutung. Er war inspiriert von Theodor Litt und übernahm dessen Kritik am Neuhumanismus: Die neuhumanistische Bildungsidee habe versäumt, „die neuen, mit der Industrialisierung dringlich werdenden Lebensaufgaben als humane in sich“ aufzunehmen. Daher gebe es eine gewisse Technik verachtende Tradition im deutschen höheren Schulwesen bis heute. Man habe zwar den Fächerkanon um die realistischen Fächer erweitert, aber „nur mit der (meist unterbewußten) Wertnote des (leider) Unvermeidlichen“, des „Geringeren“. „Damit ist in der Tat [. . .] in unserem Schulwesen eine Reserve, wenn nicht Feindschaft, gegen unsere moderne Welt enthalten.“872 Der Altphilologe müsse akzeptieren, dass er in einer „voll entwickelten Industriegesellschaft“ lebe.873 Allerdings reiche eine rein „pragmatische Bildung“, die nur die Bedürfnisse der Industriegesellschaft erfülle, nicht aus. Junge Menschen müssten auch „die Fähigkeit zur Kritik an dieser Gesellschaft“874 erlernen, sie bedürften einer „emanzipatorische[n] Bildung“.875 Dabei sei in allen Fächern „Geschichte als Dimension“ von Bedeutung, denn sie wirke „als gedankliche Entfestigung der aktuellen Zustände und hat so eine entscheidende emanzipatorische Funktion“.876 Patzer entwickelte eine „aktuell-humanistische Bildungsidee“,
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Patzer: Alte Sprachen, 1968, S. 14. Ebenda, S. 20. Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und Altsprachlicher Unterricht, in: MDAV 15,1 (1972), S. 1–14, hier S. 2. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 7. Ebenda. Ebenda, S. 8. Ähnlich auch Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 4: „Die Mommsen-Gesellschaft verkennt nicht die Notwendigkeit, der naturwissenschaftlichen Ausbildung in einem an der Zukunft orientierten Bildungswesen mehr Raum zu geben. Sie warnt aber vor einem übermäßigen Zurückdrängen der philologisch-historischen Bildung, weil in unserer tendenziell ahistorischen Umwelt in einer reinen Orientierung an dem vordergründigen ‚Bedarf ‘ die Gefahr der Erziehung zu Abhängigkeit, Halbbildung und Manipulierbarkeit nicht gebannt werden kann, während erst aus der Kontrasterfahrung, wie sie vor allem die Sprachen und Literaturen der Antike zu vermitteln vermögen, die Fähigkeit zu distanzierter Analyse, die kritische Erweiterung der Sprachkompetenz und damit die Überwindung eines punktuellen Überlegens und Handelns zu einem planenden Entwurf in die Zukunft hinein möglich wird.“
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die pragmatische und emanzipatorische Elemente vereinen wollte.877 Dafür brauche es keine neuen Fächer, sondern die bisherigen Fächer müssten auf das neue Bildungsziel orientiert werden. Da habe dann auch Latein seinen Platz.878 Patzer grenzte sich zwar bewusst vom Neuhumanismus ab,879 eine generelle Ablösung vom Begriff der Humanitas oder vom humanistischen Bildungsideal – so wie es die Göttinger Thesen gefordert hatten – wollte er aber nicht. Diese Entwicklungen spiegeln sich auch in der Neuformulierung der „Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts“ wider, die der DAV 1971 beschloss. Dort hielt der DAV fest, dass die Schule die Aufgabe habe, junge Menschen dazu zu befähigen, „ein Leben in Selbstbestimmung und in Verantwortung“ zu führen.880 Das Erlernen einer fremden Sprache schule besonders das dafür unerlässliche kritische Urteilsvermögen. Latein und Griechisch besäßen „für diesen Lernprozeß wegen ihrer sprachlichen Struktur und wegen der formalen und inhaltlichen Qualität ihrer literarischen Zeugnisse optimale didaktische Eignung“.881 Zudem wecke die Beschäftigung mit den alten Sprachen „historisches Bewußtsein“ und erleichtere dadurch „die Orientierung in der Gegenwart“.882 Rom und Griechenland seien nach Uvo Hölscher „das nächste Fremde“.883 Ebenso hätten die alten Sprachen den Vorteil der „Abgeschlossenheit und Distanz“884 und seien daher für die sprachliche Reflexion von besonderer Bedeutung. War in der Erklärung von 1951 noch in pathetischem Grundton von „abendländischer Kultur“, Christentum und „überzeitlichen Werten“ die Rede gewesen,885 verzichtete die Neuformulierung auf alle diese Schlagwörter und betonte die emanzipatorische Bildungsaufgabe der Schule sowie die motivierende Kraft des Latein- und Griechischunterrichts und seine Orientierung an der Lebenswirklichkeit der Schüler.886 Der Didaktische Ausschuss brachte es in seinen 1971 neu formulierten zehn Grundsätzen zur Strategie des DAV folgendermaßen auf den Punkt: „1. Die bisherigen Formen des Bildungssystems werden von der Gesellschaft nicht länger akzeptiert. Sie fordert eine Umgestaltung, die für manche 877 878 879 880 881 882 883 884 885 886
Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und Altsprachlicher Unterricht, in: MDAV 15,1 (1972), S. 1–14, hier S. 10. Ebenda, S. 11–14. Ebenda, S. 14. Deutscher Altphilologen-Verband: Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts, in: MDAV 14,1 (1971), S. 1–2, hier S. 1. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. Hölscher: Chance, S. 81. Deutscher Altphilologen-Verband: Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts, in: MDAV 14,1 (1971), S. 1–2, hier S. 2. Deutscher Altphilologenverband: Das Bildungsziel des altsprachlichen Gymnasiums, S. 383. Deutscher Altphilologen-Verband: Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts, in: MDAV 14,1 (1971), S. 1–2.
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schmerzlich sein wird.“ Im 10. Punkt wurden die neuen Prioritäten betont. Dort hieß es bezüglich des Curriculums: „Formalbildung vor den ‚Werten‘“.887 Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass auch vor der Auseinandersetzung mit Robinsohn über die Probleme des altsprachlichen Unterrichts diskutiert und Modernisierungsvorschläge angedacht worden waren.888 Der europäische Austausch über Verbesserungen des altsprachlichen Unterrichts sei hierfür als Beispiel angeführt.889 Gerade die Veröffentlichungen von Hartmut von Hentig hatten dabei inspirierend gewirkt. Er war wohl einer der meist zitierten Lateindidaktiker der 1960er Jahre.890 Auch die Veränderungen, die der DAV in seiner Ausrichtung vornahm, entsprachen teilweise exakt den Vorschlägen von Hentigs. Allerdings sollte erwähnt werden, dass man im DAV auch sehr kritisch gegenüber dem Pädagogen war. Eine Gruppe bayerischer Altphilologen, unter ihnen auch Karl Bayer und Otto Schönberger, hatten 1968 nach einem Vortrag von von Hentig einen Brief an diesen verfasst, in dem sie darlegten, warum sein Vortrag einen „schalen Nachgeschmack“ hinterlassen habe.891 Zum einen empfanden sie seine Didaktik als nicht so neu, wie er sie darstelle, sondern behaupteten, dass viele
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Clasen: Neuformulierung, S. 4f. Vgl. Kapitel IV.2.2.4. Exemplarisch eine Fachleitertagung von 1964: Schulkollegium beim Regierungspräsidenten in Münster an das Kultusministerium des Landes NRW, 28.7.1964: Tagung der Fachleiter des Faches Latein der staatlichen Studienseminare, 16./17.4.1964, LAV NRW, NW 225, Nr. 345. Natürlich gab es aber auch noch eher konservative Kräfte, die beispielsweise das Hinübersetzen immer noch für unerlässlich hielten, vgl. Steinthal, Hermann: Das ewige Hin und Her, in: AU, Reihe X, Heft 4 (1967), S. 49–67. Vgl. Zweites Kolloquium über den Altsprachlichen Unterricht, in: MDAV 8,3 (1965), S. 13; Vertreterversammlung 1966, in: MDAV 9,2 (1966), S. 1–2; Hansen, Kay: Zur Lage des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland und Europa, in: MDAV 9,3 (1966), S. 1; Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 3–6. Vgl. Weinrich, Harald: Die Altphilologen und ihr Glück. Tagung des Deutschen Altphilologen-Verbandes in Münster, in: FAZ, 24.6.1965; Zur Lage des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland und Europa, in: MDAV 9,3 (1966), S. 1; Rutz, Werner: Neue Didaktik und altsprachlicher Unterricht. Zu Hartmut von Hentigs Buch, in: MDAV 10,2 (1967), S. 2–8; Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 1; Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 19, 22, 24; Westphalen: Prolegomena, 1971, S. 33, 37; Pfister, Raimund: Streiflichter zur Berliner Tagung des DAV, in: ASiU 16, 3 (1968), S. 7–10; Klinz, Albert: Latein in unserer Zeit und Welt, in: ASiU 21,3 (1974), S. 2–10, hier S. 3. Darüber hinaus rezipierten die Altsprachler in der GEW früh die Werke von Hentigs, vgl. Wir nehmen Stellung, in: LG 5 (1963), S. 1; Rezension zu Hartmut von Hentig: Die Schule im Regelkreis, in: LG 7 (1965), S. 80–81. 1963 erschien in der brasilianischen Zeitschrift „Romanitas“ ein Überblick über den altsprachlichen Unterricht in 25 Ländern. Hartmut von Hentig verfasste dafür den deutschen Bericht. Vgl. Imiela, H.: Nachrichten. Eingesandte Schriften, in: MDAV 6,4 (1963), S. 1; Westphalen: Englisch und Latein, 1984, S. 30. Offener Brief an Hartmut von Hentig, in: ASiU 16,3 (1968), S. 2–7, hier S. 6.
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seiner Vorschläge bereits in deutschen Klassenzimmern angewendet würden.892 Außerdem beklagten sie die vielen Lateinfehler, die sich in seinen Buch „Platonisches Lernen“ finden würden.893 Gütigerweise hängten sie eine Liste mit „Corrigenda“ an.894 Darüber hinaus schien von Hentig ihnen nicht ganz geheuer, da er für die Gesamtschule als einzige Schulform eintrat. Hier sahen sie ihn „mit den Herren Evers und Picht“ im Bunde.895 Dies deutet darauf hin, dass sich die Altphilologen trotz aller Zugeständnisse immer noch primär als Philologen, also als Gymnasiallehrer verstanden. 3.4.2 Strategische Überlegungen
Die Altphilologen hatten sich offiziell zur Bejahung „einer tiefgreifenden Bildungsrevision“ entschlossen.896 Karl Bayer, der Vorsitzende des Didaktischen Ausschusses im DAV brachte es auf den Punkt: Gegenstände, die [. . .] nichts leisten, müssen abgeschrieben, Methoden, die versagen, aufgegeben werden – kurz: Die Zeit einer Generalrevision ist gekommen. Wir müssen sie durchführen, auch auf die Gefahr hin, daß wir am Ende nur noch weniges sicher in der Hand halten. Es muß nicht wenig sein; aber gesetzt, es wäre wenig, so böte dieses wenige, wenn man überhaupt fachegoistisch denken darf, immer noch erheblich mehr Sicherheit als ein Versuch, à tout prix auf dem gewohnten Kurs zu beharren.897
Dafür wollte der Vorstand des DAV die Lateinlehrer konsequent fortbilden, damit die Revision des altsprachlichen Unterrichts bis zur Basis und somit in die Klassenräume durchdrang. Der DAV unternahm selbst empirische Untersuchungen, um sich auf Bedürfnisse einzustellen und ein modernes Curriculum für das Fach Latein zu erstellen.898 Auch dies hatte Hartmut von Hentig bereits 1965 angeregt. 1973 erschien dann auch ein Beiheft zum Altsprachlichen Unterricht mit dem Titel „Lernziele und Fachleistungen. Ein empirischer Ansatz zum Latein-Curriculum“. Klaus Westphalen, der Experte für die Curriculumforschung für das Fach Latein,899 warb beispielsweise für die Neuerungen, weil er wisse, dass viele Altphilologen dem Begriff Curriculum misstrauisch gegenüber892 893 894 895 896
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Vgl. ebenda, S. 4. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda, S. 6f. Ebenda, S. 2f. Presseerklärung des DAV auf der Kieler Tagung, 7.4.1972, in: MDAV 15,2 (1972), S. 1; Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 3. Bayer: Curricula, S. 10. Presseerklärung des DAV auf der Kieler Tagung, 7.4.1972, in: MDAV 15,2 (1972), S. 1; vgl. auch Westphalen: Allgemeine Lernziele, S. 23; Gebhardt, E.: Aus der Arbeit des Ausschusses für Didaktische Fragen des DAV (II), in: MDAV15,2 (1972), S. 4–6. Westphalen: Prolegomena, 1971; Westphalen: Allgemeine Lernziele, 1971; Westphalen: Lateinunterricht, 1973.
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stünden.900 Der DAV und die 1949/50 gegründete altertumswissenschaftliche Mommsen-Gesellschaft901 warben ebenfalls dafür, dass sich die Altphilologen in ihren Ortsgruppen und an ihren Schulen an den Diskussion und der Erarbeitung des Curriculums beteiligen sollten.902 In Bayern gab es zahlreiche „Anregungstage“ für Altphilologen, an denen über aktuelle didaktische Fragen diskutiert und informiert wurde.903 Auch hier standen curriculare Fragen und Lernzieltaxonomien hoch im Kurs.904 Fast schon revolutionär war die Entscheidung des DAV, die Einheit von Latein und Griechisch aufzugeben. All die Jahre galt eine Einführung in beide Fächer für unabdingbar, wenn man sich humanistisch gebildet nennen wollte. Damit einher ging die Loslösung des Lateinunterrichts vom altsprachlichen Gymnasium. Nannte der DAV im Jahr 1951 seine Erklärung zu den Bildungszielen des altsprachlichen Unterrichts noch „Das Bildungsziel des altsprachlichen Gymnasiums“ sowie „das Unterrichtsziel der alten Sprachen“, hieß es im Jahr 1971 „Ziele des Latein- und Griechisch-Unterrichts“. Clasen brachte es 1971 auf den Punkt: Beide Sprachen können nicht wirksam verteidigt werden, solange sie als Fächereinheit begriffen und verteidigt werden. Wegen seiner Stellung am neusprachlichen Gymnasium muß Latein für sich verteidigt, d. h. begründet werden. Ohne Latein dort würde es am Altsprachlichen Gymnasium vollends isoliert.905
Der DAV war sich bewusst, dass Latein, wenn es nicht in die Kategorie eines Exotenfaches abrutschen wollte, auf den neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien etabliert werden musste.906 Diese Wandlung 900 901 902
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Westphalen: Prolegomena, 1971, S. 32; Garbe, Gottfried: Bericht über die Tagung des DAV in Saarbrücken vom 16. bis 20. April 1974, in: ASiU 21,3 (1974), S. 34–38, hier S. 35f. Zur Geschichte der Mommsen-Gesellschaft vgl. Rebenich: Altertumswissenschaften. Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 1. Die Altphilologen waren durchaus stolz auf ihre Modernisierungsbestrebungen. So schrieb Karl Bayer, der Vorsitzende der altphilologischen Fachgruppe im Bayerischen Philologenverband an Kultusminister Maier 1971: „Der in der [. . .] Anlage beigeschlossene Fragebogen zur Validierung von Fachleistungen soll dokumentieren, daß die Altphilologen durchaus willens sind, sich den Forderungen einer modernen Bildungspolitik zu stellen.“ Altphilologische Fachgruppe im Bayerischen Philologenverband (Karl Bayer) an bayerischen Staatsminister Hans Maier, 16.11.1971, BayHStA, MK 81256. Vgl. BayHStA, MK 81011: Fortbildungs- und Ferienkurse für alte Sprachen (1972–1974). Vgl. Altphilologische Fachgruppe im Bayerischen Philologenverband, 22.1.1972: Einladung zu einem Anregungstag am 10.3.1972, BayHStA, MK 81011; Staatsinstitut für Schulpädagogik an bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 12.8.1974, BayHStA, MK 81011. Vgl. auch Vester, Helmut: Erfolgskontrolle und Latein in den USA. Ein Bericht über zwei empirische Untersuchungen zum Transferproblem, in Gymnasium 81 (1974), S. 407–414. Clasen: Neuformulierung, S. 5. Vgl. dazu Burck/Clasen/Fritsch: Geschichte des DAV, S. 35f. Vgl. Clasen: Neuformulierung, S. 5f. Schon auf einer DAV-Tagung 1968 in Berlin prophe-
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ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass 1965 der damalige Vorsitzende des DAV Kay Hansen noch gefordert hatte, der Lateinunterricht müsse an nichtaltsprachlichen Gymnasien „mengenmaessig und qualitativ sinnvoll“ gestaltet werden, ansonsten würde man lieber ganz auf ihn verzichten.907 Damit änderte der DAV seine Strategie und setzte den Schwerpunkt auf Latein: „Lateinisch vor den ‚alten Sprachen‘“.908 Beide Fächer sollten nun unabhängig voneinander an Schulen geführt werden.909 Ebenfalls undogmatischer wurde man in der Frage, als wievielte Fremdsprache Latein gelernt werden sollte. Galt noch zehn Jahre zuvor nur der neunjährige Lateinunterricht als wirklich gewinnbringend, waren die Altsprachler nun offen für verschiedene Varianten. Das größte Potential versprach die Unterrichtung als zweite Fremdsprache ab der 7. Klasse.910 Auch Latein als dritter oder vierter Fremdsprache war man nicht mehr abgeneigt. Trotzdem blieb Latein als erste Fremdsprache ein Herzensthema der Altphilologen.911 Man war sich zwar im Klaren darüber, dass das Englische den Vorteil hatte, das Wechseln von einer Schulart (Gymnasium, Realschule, Hauptschule) oder von einem Typ der höheren Schule auf eine andere zu erleichtern und
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zeite Alois Guthardt in seinem Referat über „Grenzen und Möglichkeiten des 5jährigen Lateinunterrichts“, S. 274: „[D]ie zunehmende und vielleicht unaufhaltsame Verdrängung des Lateinischen aus der Eingangsklasse der höheren Schule macht die Kurzform, hier besonders den 5jährigen LU, zu Normalformen des LU an unseren Gymnasien. Und in dieser Kurzform wird m.E. das Schicksal des altsprachlichen Unterrichts überhaupt entschieden, nicht am altsprachlichen Gymnasium.“ Vgl. dazu auch Clasen: Der DAV in der Bundesrepublik Deutschland, S. 32. Gleichberechtigung für das humanistische Gymnasium gefordert, dpa 140, 9.6.1965 (ACDP 9/926). Erich Haag, damals erster Vorsitzender des DAV, wehrte sich 1956 in einem öffentlichen Briefwechsel mit Richard Schade, dem damaligen Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes, noch ausdrücklich dagegen, dass am neusprachlichen Gymnasium Latein dritte Fremdsprache werden solle, vgl. Haag: Und noch einmal die Rolle des Lateins am Neusprachlichen Gymnasium, S. 3–5. Clasen: Neuformulierung, S. 4f.; Nickel: Altsprachlicher Unterricht, S. 40–50.Vgl. dazu auch Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 195. Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 1. Vgl. Schulkollegium beim Regierungspräsidenten in Münster an das Kultusministerium des Landes NRW, 28.7.1964: Tagung der Fachleiter des Faches Latein der staatlichen Studienseminare, 16./17.4.1964, LAV NRW, NW 225, Nr. 345; Bayerisches Staatsministerium an das Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik, 15.9.1959, BayHStA, MK 81256; Abschrift: Zentrale Fachsitzung für Lehrkräfte der Alten Sprachen an den Gymnasien der Landeshauptstadt München, 4.12.1969, BayHStA, MK 81256. Bei einem Seminar 1974 wurden Argumente für Latein und für Englisch als erste Fremdsprache gesammelt. Die Teilnehmer hatten nur sechs Gründe für Englisch vorzuweisen, für Latein jedoch 24, vgl. Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30.
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damit die viel geforderte Durchlässigkeit zu gewähren. Aber Latein als erste Fremdsprache sollte trotz Förderstufe oder Gesamtschule als Wahloption auf jeden Fall erhalten werden.912 Man hatte sich durchaus damit beschäftigt, wie Lösungen gefunden werden könnten, wenn ein Schüler in der Unterstufe am Lateinunterricht scheitern sollte. So lautete ein Tagesordnungspunkt beim Referat Alte Sprachen im Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik in München 1969 beispielsweise: „Der Lateinversager in der Eingangsstufe: Sicherung von Latein als erster Fremdsprache durch die Bereitstellung geeigneter Durchlasse“.913 Das bayerische Kultusministerium gab 1972 eine Presseinformation heraus und betonte, dass Schülern, die Latein gewählt hätten, beim eventuellen Übertritt an die Haupt- oder Realschule „kein Nachteil daraus entstehen“ sollte. In solch einem Fall sei ein zusätzlicher Ergänzungsunterricht im Englischen denkbar. Latein sei „keine Sackgasse“.914 Diese Beispiele belegen darüber hinaus, wie wichtig dem bayerischen Kultusministerium und Kultusminister Hans Maier die Erhaltung des altsprachlichen Gymnasiums war.915 Wie ernst es Bayern mit der Rettung des altsprachlichen Unterrichts war, zeigt sich auch daran, dass das Kultusministerium ab 1974 begann, „Berater für den Unterricht in den Alten Sprachen“ an Gymnasien zu entsenden, die die Fachlehrer vor Ort bezüglich der neuen Methoden beraten sollten.916 Die Frage, ob Englisch oder Latein die geeignetere erste Fremdsprache darstelle, trieb die Altphilologen auch noch zu Beginn der 1970er Jahre um. Häufig wurde dieses Thema auf Versammlungen und Tagungen der Altsprachler diskutiert. Gerade in den 1960ern hatte der neusprachliche Unterricht als modern und kindgerecht, der altsprachliche Unterricht dagegen als lebensfremd und antiquiert gegolten. Daher hatten die Vertreter des altsprachlichen Unterrichts lange Zeit versucht, die Methoden der Neusprachler zu adaptieren. Nun begannen die 912
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Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 3, 6; Presseerklärung des DAV auf der Kieler Tagung, 7.4.1972, in: MDAV 15,2 (1972), S. 1. Staatsinstitut für Gymnasialpädagogik, Referat Alte Sprachen, 27.10.1969, BayHStA, MK 53215. Presseinformation des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus, 28.8.1972, BayHStA, MK 81256. Das bayerische Kultusministerium machte sogar eine Umfrage zur Verbesserung des lateinischen Anfangsunterrichts, vgl. Auswertung einer Umfrage im Sommer und Herbst 1972 des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zu Latein als erster Fremdsprache, Januar 1973, BayHStA, MK 81256. Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle staatlichen und nichtstaatlichen Gymnasien [ohne Datum, vermutl. 1974], BayHStA, MK 81011; Kurt Benedicter [Berater] an Hörmann, 8.10.1974, BayHStA, MK 81011; Erich Happ [Berater] an Hörmann, 9.11.1975, BayHStA, MK 81011: Happ berichtete verzweifelt von dem schlechten altsprachlichen Unterricht in Garmisch. Er schließt mit dem Satz: „Die Schule bräuchte dringend [unterstrichen] einen hinreißenden Altphilologen.“
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
Altsprachler aber eine andere Taktik zu verfolgen. Sie stellten gerade ihre andere Vorgehensweise in den Vordergrund. In der Tat lag der größte Unterschied zwischen Latein- und Englischunterricht in der Methode. Bei den Neusprachlern hatte sich die direkte Methode – oder, wie es nun hieß, das „Prinzip der (aufgeklärten) Einsprachigkeit“917 – durchgesetzt, die vor allem auf das aktive Sprechen von Schülern setzte.918 Die Altsprachler argumentierten nun, dass diese Methode nicht zu jedem Schüler passe.919 Mit dem imitierenden Lernen und der Einsprachigkeit im Unterricht hätten manche Fünftklässler Probleme. Für sie seien feste Regeln, wie sie der Lateinunterricht biete, leichter fassbar, als das freie Reden im Englischunterricht.920 Der „streng systematische Aufbau der Grammatik“ komme vor allem „der altersspezifischen Tendenz zum Ordnen entgegen“.921 Zudem habe Latein „wesentlich klarere und objektivierbarere Bewertungskriterien“ als der Englischunterricht.922 Gerade für Kinder, die von „milieubedingter Chancenungleichheit“ betroffen seien, biete Latein eine bessere Gelegenheit als das Englische, im sprachlichen Bereich durch Fleiß Erfolge zu erzielen: weil alle Schüler Latein in einer Methode lernen müssen, die für alle gleichermaßen neu ist, besteht – anders als im einsprachigen Anfangsenglisch – auch für sprachlich bisher nicht ausreichend geförderte Kinder hier Chancengleichheit.923
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Dieses didaktische Prinzip des Sprachunterrichts geht davon aus, dass die „Habitualisierung von Sprachmustern durch Trainingsprozesse“ nicht primär durch das Nachahmen von Sprache, sondern durch das Erzeugen von Sprache hervorgerufen wird, vgl. Westphalen: Englisch und Latein, 1984, S. 5; Sauer: Englisch, S. 175. Vgl. Sauer: Englisch, S. 169f., 173–179. Vgl. Numberger, K.: Entscheidung für Latein (Referat, gehalten auf der Altphilologentagung in Marktoberdorf), in: ASiU 23,1/2 (1976), S. 14–21, hier S. 15. Vgl. Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30, hier S. 28; Wolff, Erwin: Latein als erste Fremdsprache (Vortrag, gehalten vor der Altphilologischen Fachgruppe des Bayer. Philologenverbandes), in: ASiU 22,1 (1975), S. 2–9, hier S. 9. Vgl. Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30, hier S. 28; Rihl, G.F.: Die Bedeutung des Lateinischen für das Englische aus der Sicht des Schulpraktikers, vorgetragen anläßlich eines Anregungstages für Lehrer der Alten Sprachen am Wilhelmsgymnasium München am 27. Februar 1975, in: ASiU 22,2/3 (1975), S. 9–21, hier S. 13f. Vgl. Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30, hier S. 29. Numberger, K.: Entscheidung für Latein (Referat, gehalten auf der Altphilologentagung in Marktoberdorf), in: ASiU 23, 1/2 (1976), S. 14–21, hier S. 18.
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Durch seine Methode erziehe Latein zudem „zu Genauigkeit und einer regelmäßigen, ökonomischen Arbeitshaltung“.924 Latein „mit seinem höheren Grad an ‚Logik‘“ beanspruche besonders die „kognitiven und operationellen Fähigkeiten“ des Schülers und schule daher das Denken und das „Abstraktionsvermögen“.925 Darüber hinaus sei Latein eine bessere Grundlage für das Englische als umgekehrt926 und verbessere zudem die Fähigkeiten in der Muttersprache.927 Hieran erkennt man ein weiteres Mal, dass trotz vieler Erneuerungen alte Argumentationen für den Lateinunterricht – am prominentesten hierbei wohl Latein als Sprache größerer Logik – nicht gänzlich verschwanden. Prinzipiell wurden also die bekannten Argumente für Latein als erste Fremdsprache ins Feld geführt: Gründe der Jugendpsychologie wurden ebenso bemüht wie die gängigen Argumente, dass Latein das logische Denken fördere, gut für das Erlernen weiterer Fremdsprachen und die Muttersprache sei. Dabei hatte sich nun aber durchgesetzt, dass dies nicht durch eine generelle Fähigkeit der lateinischen Sprache gewährleistet werde, sondern durch die Methode, wie Latein vermittelt werde. Hieran erkennt man, wie die Ideen Hartmut von Hentigs wirkliche Tiefenwirkung bei den altsprachlichen Lehrern hinterlassen hatten. In der Abgrenzung zum neusprachlichen Unterricht gingen die Altphilologen aber noch weiter. Man wollte nicht wie die modernen Fremdsprachen Kommunikationsmittel sein, sondern machte aus seiner Andersartigkeit eine Tugend.928 Klaus Westphalen fasste diese Entwicklung programmatisch in seiner Schrift 924
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Vgl. Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30, hier S. 29. Vgl. ebenda, S. 30; Wolff, Erwin: Latein als erste Fremdsprache (Vortrag, gehalten vor der Altphilologischen Fachgruppe des Bayer. Philologenverbandes), in: ASiU 22, 1 (1975), S. 2–9, hier S. 4; Numberger, K.: Entscheidung für Latein (Referat, gehalten auf der Altphilologentagung in Marktoberdorf), in: ASiU 23,1/2 (1976), S. 14–21, hier S. 21. Vgl. Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30, hier S. 29; Wolff, Erwin: Latein als erste Fremdsprache (Vortrag, gehalten vor der Altphilologischen Fachgruppe des Bayer. Philologenverbandes), in: ASiU 22, 1 (1975), S. 2–9, hier S. 2; Numberger, K.: Entscheidung für Latein (Referat, gehalten auf der Altphilologentagung in Marktoberdorf), in: ASiU 23,1/2 (1976), S. 14–21, hier S. 21. Vgl. Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30, hier S. 30; Numberger, K.: Entscheidung für Latein (Referat, gehalten auf der Altphilologentagung in Marktoberdorf), in: ASiU 23,1/2 (1976), S. 14–21, hier S. 16, 19. Wolff, Erwin: Latein als erste Fremdsprache (Vortrag, gehalten vor der Altphilologischen Fachgruppe des Bayer. Philologenverbandes), in: ASiU 22,1 (1975), S. 2–9, hier S. 3.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
„Englisch und Latein. Fundamentalsprachen des Gymnasiums“ von 1984 zusammen. Westphalen bezeichnete Latein und Englisch als „Kontrastfächer“929 oder als „kontrastive Fundamentalsprachen“.930 Während nämlich der Englischunterricht auf Kommunikation und die pragmatische Anwendung ausgerichtet sei, spiele im Lateinunterricht die Reflexion über Sprache die übergeordnete Rolle. Englisch orientiere sich außerdem an der Gegenwart und übe das Sprechen an Situationen, die die Schüler aus ihrem Alltag kennen würden. Latein wiederum habe eine historische Perspektive und fordere den Schüler durch die „Verfremdung durch kulturelle Distanz“ heraus. Während im Englischunterricht, „Imitation [. . .] und produktive Montage von Sprachmustern“ gefordert werden, sei die „Decodierung von komplexen Satzmustern“ oberstes Ziel des Lateinunterrichts.931 Aus diesen Gründen seien Englisch und Latein „optimale Komplementärsprachen“.932 Dabei war entscheidend, dass die Altphilologen von ihren Überlegenheitsansprüchen den modernen Fremdsprachen gegenüber, vor allem gegenüber dem Englischen, abrückten. Es gebe kein Leichter und Schwerer zwischen Latein und Englisch.933 Eine weitere Herausforderung für den altsprachlichen Unterricht ergab sich durch die Wahlfreiheit in der Oberstufe. Selbst wer ein altsprachliches Gymnasium besuchte, konnte die Fächer Latein und Griechisch nach der 11. Klasse abwählen und war nicht mehr gezwungen, sie bis zum Abitur weiterzuführen. Latein war „aus einem Pflichtfach für (fast) alle“ zu einem Wahlfach geworden.934 Die alten Sprachen wurden nun „auf dem offenen Markt gehandelt“935 und die Altphilologen mussten werben, damit ihre Fächer auch auf der Oberstufe gewählt wurden.936 Dafür waren die Lehrer angehalten, den Unterricht in den Klassen 929 930 931 932 933
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Westphalen: Englisch und Latein, 1984, S. 7. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 23. Vgl. Kipf: Altsprachlicher Unterricht, S. 442: Latein habe sich zu einer „reflexionsorientierte[n] Basis- und Komplementärsprache“ entwickelt. Vgl. Wolff, Erwin: Latein als erste Fremdsprache (Vortrag, gehalten vor der Altphilologischen Fachgruppe des Bayer. Philologenverbandes), in: ASiU 22,1 (1975), S. 2–9, hier S. 9; Numberger, K.: Entscheidung für Latein (Referat, gehalten auf der Altphilologentagung in Marktoberdorf), in: ASiU 23,1/2 (1976), S. 14–21, hier S. 15. Allerdings musste Westphalen 1984 zugeben, dass Latein „nach wie vor als strukturell schwieriges Fach“ gelte, vgl. Westphalen: Englisch und Latein, 1984, S. 8. Bering (Vorsitzender des DAV NRW): Bericht zur Lage, 28.9.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601. Maier, Friedrich: Zur Lage der Alten Sprachen im Rahmen des Bayerischen Kollegstufenmodells, in: ASiU 21,3 (1974), S. 11–17, hier S. 11. Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 1; Garbe, Gottfried: Bericht über die Tagung des DAV in Saarbrücken vom 16. bis 20. April 1974, in: ASiU 21,3 (1974), S. 34–38, hier S. 35. Das Problem wurde bereits während der 1960er Jahre diskutiert, vgl. Schulkollegium beim Regierungspräsidenten in Münster an das Kultusministerium des Landes NRW, 28.7.1964:
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10 und 11 „so attraktiv wie nur möglich“ zu gestalten.937 Auch auf einer Tagung des DAV 1974 wurde darüber diskutiert, wie man die Schüler motivieren könne, Latein auch auf der Oberstufe zu wählen. Beim Unterricht „sei am wichtigsten, daß er stattfinde, daß er Spaß mache, daß die Kinder etwas lernten“. Damit der Unterricht Spaß mache, müssten interessante Themen gewählt werden. Caesar sei zwar heute „durchwegs umstritten“, Sallust allerdings sei „enorm krisenfest“.938 In einer Umfrage des bayerischen Kultusministeriums 1972 hatten sich einige Lehrer „weniger militärische Texte“ gewünscht.939 Allerdings war die Gestaltung des Unterrichts nicht das vornehmliche Problem. Viel mehr Sorge bereiteten den Altphilologen die zu schlechten Noten, die die Schüler im altsprachlichen Unterricht erzielten. Durch die Bildungsexpansion der 1960er Jahre waren die Studierendenzahlen rasant gestiegen und viele Fächer hatten einen „Numerus clausus“ eingeführt. Daher wurde den Abiturienten unterstellt, dass sie bei der Wahl ihrer Abiturfächer darauf setzten, möglichst leichte Fächer zu wählen, um später auch die Chance auf einen Studienplatz zu haben.940 Der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Altphilologenverbandes sagte 1970 bei der Jahreshauptversammlung unumwunden: „Wir Altsprachler dürfen jetzt wirklich aufhören, in unseren Fächern Instrumente der Auslese zu sehen. Ich scheue mich nicht zu sagen, daß möglichst gute Zensuren auch ein Mittel der Werbung sind.“941 Auf einer Tagung des DAV 1974 beschäftigten sich die Vertreter noch mit dieser Frage, denn mit einer Durchschnittsnote von 3,2 im Abitur sei „Latein übrigens immer noch das schwerste Fach“.942
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Tagung der Fachleiter des Faches Latein der staatlichen Studienseminare, 16./17.4.1964, LAV NRW, NW 225, Nr. 345. Maier, Friedrich: Zur Lage der Alten Sprachen im Rahmen des Bayerischen Kollegstufenmodells, in: ASiU 21,3 (1974), S. 11–17, hier S. 16. Garbe, Gottfried: Bericht über die Tagung des DAV in Saarbrücken vom 16. bis 20. April 1974, in: ASiU 21,3 (1974), S. 34–38, hier S. 38. Auswertung einer Umfrage im Sommer und Herbst 1972 des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zu Latein als erster Fremdsprache, Januar 1973, BayHStA, MK 81256. Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 1f.; Bohnke-Pfannerer, Brigitte: Ist das humanistische Gymnasium noch zeitgemäß?, in: ASiU 20,2 (1973), S. 16–18, hier S. 17; Maier, Friedrich: Zur Lage der Alten Sprachen im Rahmen des Bayerischen Kollegstufenmodells, in: ASiU 21,3 (1974), S. 11–17, hier S. 12. Bering (Vorsitzender des DAV NRW): Bericht zur Lage, 28.9.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601. Ähnlich: Empfehlungen der Mommsen-Gesellschaft und des Deutschen Altphilologenverbandes, in: MDAV 15,4 (1972), S. 1–8, hier S. 1: „Das Lateinische und Griechische dürfen nicht als ‚unbarmherzige‘ Auslesefächer gebraucht werden“. Ähnlich dazu auch bereits Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 128f. Garbe, Gottfried: Bericht über die Tagung des DAV in Saarbrücken vom 16. bis 20. April 1974, in: ASiU 21,3 (1974), S. 34–38, hier S. 38.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
Ein Beispiel aus Bayern zeigt, wie die Anhebung des Notenniveaus und eine attraktivere Gestaltung des Unterrichts zusammenhingen. Um den Lateinunterricht interessanter zu gestalten, sollte in der Oberstufe nicht mehr rein auf die Übersetzungsfähigkeit der Schüler abgezielt werden. Antiker Philosophie, Kunst und Geschichte, also einer stärken inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Texten sollte größerer Platz eingeräumt werden. Hierbei ergab sich aber das Problem, dass in der Abiturprüfung wiederum nur eine Übersetzung gefordert wurde.943 So beschwerte sich das altsprachliche Fachkollegium des Armin-KnabGymnasiums in Kitzingen 1968: Solange nicht eine andere Zielsetzung beim Abitur gefordert wird, wird jede Oberstufenreform im Sande verlaufen. Auch der junge (geistig und körperlich) Lehrer, der einen neuen Oberstufenstil einführen will, wird zum Übersetzungsbüro zurückkehren, wenn die erste Reifeprüfung droht, spätestens nach dem ersten ‚Reinfall‘ bei einer Reifeprüfung.944
Die Schüler hätten den Eindruck, es lohne sich nicht, sich auch bei kulturkundlichen Unterrichtseinheiten zu engagieren, da diese für die Abiturarbeit irrelevant seien.945 Von mehreren Schulen wurde daher vorgeschlagen, dass auch im Abitur eine Interpretationsaufgabe zu bearbeiten wäre, die genau so viel zählte wie die Übersetzung. Die Grundlage für eine solche Interpretation könne eine bereits fertige deutsche Übersetzung sein, damit auch der Schüler, der Probleme beim Übersetzen habe, die Interpretationsaufgabe gut bearbeiten könne.946 Darüber hinaus würde es sich anbieten, die Schüler mit Wörterbüchern arbeiten zu lassen. Die Antworten des Ministeriums waren allerdings ernüchternd: Vom Gebrauch des Wörterbuchs rate es eher ab, denn gerade „schwächere und ängstliche Schüler“ neigten dazu, zu viel Zeit mit dem Nachschlagen zu verlieren. „Gerade in einer Zeit, in der es so schwer ist, die Schüler zum ernsthaften Lernen zu bringen, sollte so früh wie möglich der in der Wortkunde aufgeführte Wortschatz eingeprägt werden.“947 Der Vorschlag einer von der Übersetzung unabhängigen 943
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Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Gymnasien in Bayern, 1.7.1968, BayHStA, MK 81256; Gymnasium Forchheim an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 31.7.1970, BayHStA, MK 81256; Abschrift: Zentrale Fachsitzung für die Lehrkräfte der Alten Sprachen an den Gymnasien der Landeshauptstadt München, 4.12.1969, BayHStA, MK 81256; Auswertung einer Umfrage im Sommer und Herbst 1972 des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zu Latein als erster Fremdsprache, Januar 1973, BayHStA, MK 81256. Armin-Knab-Gymnasium Kitzingen, Niederschrift über die Fachsitzung für Latein und Griechisch, 12.11.1968, BayHStA, MK 81256. Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Gymnasien in Bayern, 1.7.1968, BayHStA, MK 81256. Vgl. Gymnasium Forchheim an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 31.7.1970, BayHStA, MK 81256; Armin-Knab-Gymnasium Kitzingen, Niederschrift über die Fachsitzung für Latein und Griechisch, 12.11.1968, BayHStA, MK 81256. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Armin-Knab-Gymnasium
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Interpretationsaufgabe stieß bei Ministerialrat Friedrich Hörmann nicht direkt auf Ablehnung, allerdings war er auch hier eher zurückhaltend: „Ich bin mir nicht recht klar, ob das nicht zum Geschwätz verführt und allmählich zur bloßen ‚Altertumskunde für alle Schularten‘ überleitet.“948 Die bayerischen Lehrer sahen die Arbeit mit fertigen Übersetzungen weniger kritisch. Eine Umfrage des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus von 1970 zur Frage „Verwendung von Übersetzungen“ hatte ergeben, dass nur 9 % der befragten Lehrer die Verwendung ablehnten. Nicht mal jeder zehnte Lehrer war der Meinung, dass die Verwendung von Übersetzungen „zu einer Gefahr für den Lateinunterricht überhaupt“ werde, „weil dessen Sinn dann nicht mehr eingesehen“ werden würde. Eine große Mehrheit der Lateinlehrer hielt die Arbeit mit Übersetzungen für sinnvoll und empfehlenswert.949 Die didaktischen und methodischen Impulse kamen nicht aus den Ministerien, sondern aus Schulen und Verbänden. 3.4.3 Neue Methoden
Das neue geistige Klima wirkte sich auch auf die Methoden aus, die für den altsprachlichen Unterricht diskutiert wurden. Der Gruppenunterricht, der an sich auch für den Lateinunterricht keine neue Erfindung war, bekam im Angesicht der Forderung nach „Demokratisierung der Schule“ eine neue Bedeutung: „Demokratisierung des Unterrichts durch Gruppenarbeit“ lautete beispielsweise eine Veranstaltungsreihe in München 1969.950 Bei einer Umfrage des bayerischen Kultusministeriums von 1972 gaben auch immerhin 10 % der altphilologischen Lehrer an, dass sie „möglichst viel Gruppenunterricht“ durchführten.951 Ansonsten wurden allerdings methodisch die bekannten, kulturkundlichen Vorschläge gemacht: Spiele und Schauspiele, die Einbeziehung von Kunst und Musik.952 Vor allem die technischen Neuerungen brachten für die „Lebendigkeit“ des Unterrichts neue Möglichkeiten: „[A]udiovisuelle Hilfsmittel“ wie Tonbänder, Rundfunk und Fernsehen oder Dias standen
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Kitzingen, 26.3.1969, BayHStA, MK 81256; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Gymnasium Forchheim, 12.8.1970, BayHStA, MK 81256. Ab dem Schuljahr 1975/76 wurde die Benutzung eines Lexikons ab Klasse 12 schließlich gestattet, vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Gymnasien, die mit dem Kollegstufenversuch betraut sind, 14.10.1975, BayHStA, MK 81256. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Gymnasium Forchheim, 12.8.1970, BayHStA, MK 81256. Auswertung einer Umfrage von 1970 des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zum Unterricht in Latein als zweiter Fremdsprache, 21.4.1971, BayHStA, MK 81256. Abschrift: Zentrale Fachsitzung für die Lehrkräfte der Alten Sprachen an den Gymnasien der Landeshauptstadt München, 4.12.1969, BayHStA, MK 81256. Vgl. Auswertung einer Umfrage im Sommer und Herbst 1972 des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zu Latein als erster Fremdsprache, Januar 1973, BayHStA, MK 81256. Vgl. Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 3.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
hoch im Kurs.953 Hierbei hatte man besonders davor Angst, dass der neusprachliche Unterricht mit seinen modernen Methoden und Lehrbüchern dem altsprachlichen Unterricht die Schüler abwarb.954 Eine Methodik erlebte während der 1960er Jahre eine Hochphase, die wirklich neu war: der so genannte „Programmierte Unterricht“. Der „Programmierte Unterricht“ kam wie so viele pädagogische Impulse der Nachkriegszeit aus den USA.955 Die Idee dahinter war, dass der Schüler durch eine exakte Planung des Unterrichtsprogramms – daher der Name – sich die Lehrinhalte selbst beibringen sollte. Dafür musste der Lehrstoff in einzelne Lehrschritte aufgeteilt werden. Der Schüler wurde in jedem Lehrschritt mit Informationen und Aufgabenstellungen versorgt. Nach der Bearbeitung der Aufgaben konnte der Schüler seinen Lernerfolg durch den Abgleich mit den vorgegebenen Lösungen selbst kontrollieren. Die Fragetechnik des „multiple choice“ stellt beispielsweise eine Methode des „Programmierten Unterrichts“ dar. Die Lehrschritte konnten sowohl anhand von so genannten „Lehrmaschinen“ – eine Art einfacher Computer – den Schülern dargebracht werden, als auch anhand spezieller Lehrbücher, die nicht linear durchgearbeitet wurden, sondern mit Querverweisen und Exkursen versuchten, das individuelle Niveau des Schülers zu berücksichtigen.956 Dem „Programmierten Unterricht“ lagen zwei Konzepte zugrunde, die typisch für die 1960er Jahre waren: die Theorie des Behaviorismus und die Wissenschaft der Kybernetik.957 Der Behaviorismus war eine Richtung der Verhaltenspsychologie, die Anfang des 20. Jahrhundert aufgekommen war. Die Vertreter des Behaviorismus wollten die Psychologie zu einer Wissenschaft machen, die den Naturwissenschaften ähnelte, deren Forschung also empirisch messbar sein sollte. Die traditionelle Psychologie, deren Hauptmethode der Analogieschluss war und die mit Begrif953
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Schlittgen, H.: Gedanken über audiovisuelle Hilfsmittel im altsprachlichen, besonders im lateinischen Unterricht, in: MDAV 7,3 (1964), S. 6–10; Abschrift: Zentrale Fachsitzung für die Lehrkräfte der Alten Sprachen an den Gymnasien der Landeshauptstadt München, 4.12.1969, BayHStA, MK 81256. Vgl. Schlittgen, H.: Gedanken über audiovisuelle Hilfsmittel im altsprachlichen, besonders im lateinischen Unterricht, in: MDAV 7,3 (1964), S. 6–10. Welche Vorbehalte es gegen diese neuen Methodiken gab, zeigt ein Zitat aus dem Grammatik-Ausschuss des DAV von 1965: „Denn die Grundlage des altsprachlichen Unterrichts ist die wissenschaftliche Grammatik, vor der sich jede noch so imponierende Unterrichtsmethodik auszuweisen hat.“ Vgl. Hermes, Eberhard: Arbeit des Grammatik-Ausschusses des DAV, 21./22.11.1964, in: MDAV 8,2 (1965), S. 1–3. Anne Rohstock legt eindrucksvoll dar, wie die „Verwissenschaftlichung und Programmierung des Klassenzimmers“ in dieser Intensität nur im Kontext des Kalten Krieges zu verstehen ist. Vgl. Rohstock: Antikörper. Vgl. dazu auch Koinzer: Suche, S. 226–229. Vgl. Schröder: Lernen, S. 123–125; Häker, Horst: Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen. Kongreß in Berlin zählt 2000 Interessierte, in: LG 5 (1963), S. 79–86; Correll: Grundlagen des programmierten Lernens, 1965. Vgl. Schröder: Lernen, S. 125f.; Correll: Grundlagen des programmierten Lernens, 1965, S. 8–13.
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fen wie „Seele“ und „Einstellung“ operiert hatte, wurde als unwissenschaftliche Spekulation abgetan.958 Die wichtigste Annahme des Behaviorismus war, dass Verhaltensänderungen, also der Prozess des Lernens, durch äußere Reize hervorgerufen werden. Nur das tatsächlich beobachtbare und messbare Verhalten (behavior) und der dieses Verhalten auslösende Reiz (stimulus), der ebenfalls messbar sein sollte, sollte zu weiteren Erkenntnissen führen.959 Das klassische Konditionieren mit dem berühmten Experiment des Pawlow’schen Hundes gilt als Vorläufer des Behaviorismus.960 Die erste behavioristische Lerntheorie war das sogenannte „Versuch-Irrtum-Lernen“ (trial and error), das Edward Thorndike in den 1920er Jahren entwickelt hatte. In seinen Tierversuchen wollte er nachweisen, dass Tiere, wenn sie sich in einer Problemsituation befinden, durch planlose Tätigkeiten versuchen, die Situation zu lösen. Dabei sind zwei Dinge wichtig: Zum einen müssen die Tiere bei erfolgreicher Problembewältigung belohnt werden. Zum anderen muss die Situation wiederholt werden. Erst wenn die Fehlversuche abnähmen, sei der Lernerfolg bewiesen.961 Thorndike sprach sich darüber hinaus dagegen aus, dass bei solchen Lernprozessen allgemeine Fähigkeiten mitgelernt werden. Nur eine identische Gegebenheit könne mit der erlernten Problemlösungsstrategie bewältigt werden. Eine generelle Kompetenz zur Problemlösung werde nicht vermittelt (Transfer).962 Daher gilt er als einer der frühesten Kritiker der Theorie der formalen Bildung.963 In den 1960er Jahren wurde der Behaviorismus schließlich von Burrhus Fredric Skinner weiterentwickelt. Sein sogenanntes operantes Konditionieren ging davon aus, dass es zwei Aspekte von Verhalten gebe. Nicht nur das reaktive (respondent) Verhalten wie bei Thorndike, sondern auch ein ausgesandtes (operant) Verhalten, das als spontane Reaktion Einfluss auf die Umwelt nehme. Dabei könnten komplexe Verhaltensweisen in kleine Schritte unterteilt werden und durch eine positive Verstärkung (verkürzt gesagt: Belohnung) bei Erreichung jedes Etappenziels könnten so auch komplexere Lernziele erreicht werden.964 Zusammen mit dem Behaviorismus erlangte die Kybernetik Prominenz im Wissenschaftsdiskurs der 1950er und 1960er Jahre. Dies war auch Ausdruck der Planungseuphorie, die zu Beginn der 1960er Jahre auch in Deutschland auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen Einzug erhielt.965 Die Kybernetik 958 959 960 961 962 963 964 965
Vgl. Schröder: Lernen, S. 32. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda, S. 32–35. Vgl. ebenda, S. 35f. Vgl. ebenda, S. 36f. Siehe dazu Kapitel IV.4.2. Vgl. Schröder: Lernen, S. 37–41. Vgl. Van Laak: Planung, S. 317. Vgl dazu auch Nützenadel: Stunde der Ökonomen; Metzler: Konzeptionen; Kurig: Bildung, S. 641–646. Zur Bildungsplanung speziell vgl. Rudloff: Bildungsplanung.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
wurde dabei „eine Art Metatheorie zur Regelung, Steuerung und Kontrolle von dynamischen Systemen“,966 und galt bald als neue „Universalwissenschaft“.967 Eigentlich war die Kybernetik ein Ansatz der technischen Wissenschaften zur Steuerung von Maschinen und Prozessen. Nach Vorstellung der Kybernetik läuft ein geregelter Prozess im Regelkreis ab. Dem sogenannten Regler wird ein Soll-Wert als Zielvorgabe eingegeben. Den Ist-Wert stellt der augenblickliche Zustand dar, der über eine Rückmeldung an den Regler gegeben wird. Nun soll sich der Ist-Wert dem Soll-Wert annähern, indem der Regler immer wieder neue Impulse ausgibt, bis der Soll-Zustand erreicht ist.968 Durch die Nachrichtentechnik während des Zweiten Weltkriegs beflügelt,969 fand diese sehr schematische Regelkreislehre auch Anwendung in der Pädagogik und Didaktik. Lehren und Lernen sollten sich demnach als „geregelte Kommunikation zwischen einem Lehrsystem (Lehrer oder Lehrgerät) und einem Lernsystem (Schüler oder lernender Automat)“ vollziehen.970 Die direkte Rückmeldung auf eine Maßnahme des Lehrsystems vom Lernsystem aus, spielte bei diesem Ansatz eine entscheidende Rolle und ist auch ein verbindendes Element mit dem behavioristischen Ansatz des operanten Konditionierens.971 Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie davon ausgingen, dass „sich Mensch und Maschine als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung nicht unterschieden“.972 Diese recht eindimensionale und stark schematisierte Vorstellung von Lehr- und Lernprozessen kam aber rasch an ihre Grenzen, weswegen bald keiner mehr vom „Lernen als Regelkreis“ sprach.973 Im „Programmierten Unterricht“ sollten nun komplexere Lernziele in kleine Schritte unterteilt werden und durch direkte Rückmeldung am Ende einer jeden Lernetappe eine positive Verstärkung hervorrufen. Dies entsprach ziemlich genau der Theorie des operanten Konditionierens. Dadurch sollte der Wissensstand des Schülers, der als „Ist-Zustand“ beschrieben wurde, auf ein neues Niveau bzw. das Lernziel, den Soll-Zustand, gehoben werden. Die Bezüge zur Kybernetik sind kaum zu übersehen. Wichtig war dabei vor allem die direkte Rückmeldung. Da beim „Programmierten Unterricht“ jeder Schüler bei jeder Aufgabe eine individuelle Rückmeldung bekam, empfand man diese Lernmethode als beson966 967
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Nützenadel: Stunde der Ökonomen, S. 201. Hagener, Michael: Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: Michael Hagener/Erich Hörl (Hrsg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M. 2008, S. 38–72, hier S. 40, zitiert nach: Seefried: Zukünfte, S. 54. Vgl. Schröder: Lernen, S. 53. Vgl. Seefried: Zukünfte, S. 54–57. Schröder: Lernen, S. 53. Vgl. ebenda, S. 54; Correll: Grundlagen des programmierten Lernens, S. 12f. Seefried: Zukünfte, S. 55. Vgl. Schröder: Lernen, S. 55.
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ders gewinnbringend.974 Das Prinzip des „Programmierten Unterrichts“ ist auch heute noch die Grundlage vieler E-Learning-Programme.975 In den 1960er und 1970er Jahren erlebte der „Programmierte Unterricht“ seine Blütezeit. Zahlreiche Publikationen erschienen zwischen 1963 und 1981 in Deutschland.976 Viele Bildungsvertreter waren regelrecht euphorisch, was die Erwartungen an diese neue Methode anging. Die neuen Lehrmaschinen „seien gleichbleibend geduldig, seien gleich gegen jedermann, nähmen dem Lehrer die ‚Hauptplackerei‘ ab, nähmen leichter den wissenschaftlichen Fortschritt auf, da sie ohne weiteres neu programmiert werden könnten, seien verhältnismäßig billig“. Das „Programmierte Lernen“ könne sogar den Lehrer ersetzen und somit den aktuellen Lehrermangel abmildern, in Afrika gar den Analphabetismus bekämpfen.977 Etwas zurückhaltendere Zeitgenossen priesen die „Möglichkeit zur Selbstkorrektur“ und die „[i]ndividuelle Bestimmung des Lerntempos“ als Vorzüge der neuen Methode.978 In solchen Aussagen zeigt sich ganz deutlich, wie der Programmierte Unterricht von der „Vision einer Verbesserung der Welt durch totale Planung“ getragen war.979 Gerade bei den Befürwortern einer systemtransformierenden Bildungsreform in Richtung Gesamtschule wie GEW,980 Hartmut von Hentig981 und Carl-Heinz Evers982 wurde der „Programmierte 974 975 976
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981
Vgl. ebenda, S. 126. Hierzu auch zeitgenössisch: Cube: Kybernetische Grundlagen, 1965; Lexikon der kybernetischen Pädagogik und der programmierten Instruktion, 1966. Arnold/Kilian/Thillosen/Zimmer: Handbuch E-Learning, S. 17–22. Vgl. Schröder: Lernen, S. 125. Auswahl an zeitgenössischer Literatur: Helmar: Referate der 1. Deutschen Lehrmaschinentagung, 1963; Hochheimer: Der programmierte Unterricht, 1963; Hochheimer, Wolfgang: Erziehung durch Maschinen?, in: Der Spiegel, 24.7.1963, S. 69–70; Netzer: Lernprogramm und Lernmaschine, 1963; Correll: Programmiertes Lernen, 1965; Nickles: Programmiertes Lernen, 1969; Klotz: Programmierter Unterricht, 1969; Jüchter: Programmierte Erwachsenenbildung, 1970; Zielinski: Aspekte des programmierten Unterrichts, 1971; Harde: Programmierter Mathematikunterricht, 1971; Bung: Ansätze zu einer Theorie des programmierten Sprachunterrichts, 1972; Heinemann: Programmiertes Lernen im Religionsunterricht, 1973; Zielke: Rhetorik programmiert lernen, 1974; Programmierter Sportunterricht, 1978; Baumert: Englische Frage-AntwortStrukturen, 1979; Heil: Programmierte Einführung in die Psychologie, 1980; Schaller: Programmiertes Lernen im Sport, 1981. Von 1964 bis 1972 erschien sogar eine Zeitschrift mit dem Titel „Programmiertes Lernen und programmierter Unterricht“. Häker, Horst: Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen. Kongreß in Berlin zählt 2000 Interessierte, in: LG 5 (1963), S. 79–86. Jeuthe, E.: Traditioneller Unterricht und Sprachlaboratorium, in: LG 10 (1968), S. 75–76. Rohstock: Antikörper, S. 282. Vgl. die zahlreichen Aufsätze in der Zeitschrift des GEW Lebendiges Gymnasium, Häker, Horst: Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen. Kongreß in Berlin zählt 2000 Interessierte, in: LG 5 (1963), S. 79–86; Neue Wege im Sprachunterricht, in: LG 6 (1964), S. 69–71; Jeuthe, E.: Programm für Sprachlehranlagen, in: LG 6 (1964), S. 72–76; Jeuthe, E.: Traditioneller Unterricht und Sprachlaboratorium, in: LG 10 (1968), S. 75–76. Vgl. Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 141–144.
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Unterricht“ bereits zu Beginn der 1960er Jahre begrüßt. Der DAV befürwortete ihn Ende der 1960er Jahre aber schließlich ebenfalls.983 Die GEW verankerte den „Programmierten Unterricht“ als Methode sogar in ihren „Thesen zur Gesamtschule“ von 1968.984 Dies ist ein Beispiel dafür, wie strukturelle Reform und inhaltliche Reform ineinandergriffen. Für den fremdsprachlichen Unterricht brachte der „Programmierte Unterricht“ eine weitere methodische Neuerung: das Sprachlabor. Viele Schulen wurden in den 1960er Jahren mit „Sprachlehranlagen“ ausgestattet, was darauf hindeutet, dass die Methode des „Programmierten Unterrichts“ auch auf politischer Ebene einen Nerv traf.985 In diesen Sprachlaboren sollten Schüler mit speziellen Sprachlernprogrammen und ausgestattet mit Kopfhörern und Mikrophon individuell und praxisnah das Sprechen von Fremdsprachen erlernen. Dies zielte natürlich primär auf die modernen Fremdsprachen, bei denen der aktive Spracherwerb immer mehr in den Vordergrund gerückt war.986 Für die alten Sprachen schien sich die Arbeit im Sprachlabor nicht wirklich anzubieten. Dennoch schlossen die Altsprachler auch für ihren Unterricht die Nutzung des Sprachlabors nicht aus.987 Zudem waren programmierte GrammatikLehrhefte,988 Unterrichtsprogramme989 und der Programmierte Unterricht als Methode990 Gegenstand zahlreicher Publikationen der altsprachlichen Didaktik. 982 983
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Vgl. Häker, Horst: Programmierter Unterricht und Lehrmaschinen. Kongreß in Berlin zählt 2000 Interessierte, in: LG 5 (1963), S. 79–86, hier S. 81. Das Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 2f.; Steinthal, Hermann: Latein programmiert, in: AU, Reihe X, Heft 4 (1967), S. 5–48; Abschrift: Zentrale Fachsitzung für die Lehrkräfte der Alten Sprachen an den Gymnasien der Landeshauptstadt München, 4.12.1969, BayHStA, MK 81256. Vgl. Thesen zur Gesamtschule. Vorgelegt dem Kongreß der GEW in Nürnberg 1968, in: LG 10 (1968), S. 77–79, hier S. 79. Vgl. Neue Wege im Sprachunterricht, in: LG 6 (1964), S. 69–71. Vgl. ebenda; Jeuthe, E.: Programm für Sprachlehranlagen, in: LG 6 (1964), S. 72–76; Jeuthe, E.: Traditioneller Unterricht und Sprachlaboratorium, in: LG 10 (1968), S. 75–76. Vgl. Das Collegium Didaktikum Classicum Tertium, in: MDAV 12,1 (1969), S. 1–6, hier S. 2f.; Steinthal, Hermann: Latein programmiert, in: AU, Reihe X, Heft 4 (1967), S. 5–48. Auswertung einer Umfrage im Sommer und Herbst 1972 des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zu Latein als erster Fremdsprache, Januar 1973, BayHStA, MK 81256: von 273 Kollegen wünschten sich 11 als Ergänzung ein Sprachlabor und Lernprogramme; Staatsinstitut für Schulpädagogik an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.10.1972, BayHStA, MK 81011. Vgl. Eikeboom/Holtermann: Programmierte Lateinische Grammatik in Einzelheften: Heft 1: Die nd-Formen, Gerundium und Gerundivum, 1973; Heft 2: Verbalnomina, Infinitiv und Parizip, 1972; Heft 3: Die ersten Regeln und Begriffe der Sprachenlehre, 1972; Heft 4: Passiv und Deponens, 1976; Eikeboom/Holtermann: Programmierte Lateinische Grammatik. Lehrerheft, 1970. Vgl. Bericht über Fortbildungstagung für Altphilologen zum Programmierten Unterricht, 25.11.1971, BayHStA, MK 81011. Vgl. Bericht über eine Arbeitskreistagung „Programmierter Unterricht in den Fächern
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Die Ideen des Programmierten Unterrichts spiegeln wie kaum ein anderes Phänomen den Zeitgeist der 1960er Jahre wider. Es zeigt, wie Machbarkeitsglaube, Steuerungs- und Planungseuphorie, transnationaler Wissenstransfer und auch „Westernisierung“991 sich in der Bildungspolitik bis in die konkrete Schulpraxis niederschlugen. Allerdings muss Anne Rohstock zugestimmt werden, dass diese größtenteils illusionären Vorstellungen an der sozialen Wirklichkeit der Schulpraxis letztendlich vorbeigingen. Die an Kybernetik und Behaviorismus ausgerichteten pädagogischen Ideen vernachlässigten soziale, historische und kulturelle Elemente von Bildung, die aber gerade in der geisteswissenschaftlich geprägten deutschen Schultradition eine wichtige Rolle spielten.992 Diesen gefestigten Strukturen konnte zwar ein behavioristischer und kybernetischer Anstrich verliehen werden, die darunter liegenen alten Ausrichtungen blieben jedoch bestehen. Spätestens in den 1980er Jahren verschwand der Programmierte Unterricht wieder komplett aus den Schulen. 3.5 Allgemeine Tendenzen
Die 1960er Jahre der Bundesrepublik waren „dynamische Zeiten“.993 Dabei brachen sich Demokratisierung und Liberalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen mit einer solchen Wucht Bahn, weil sich „zuvor bereits angelegte [. . .] Trends“ dynamisierten.994 Dies traf so auch auf die Entwicklung des Bildungswesens zu. Allerdings brachte diese enorme Dynamisierung das gegliederte Schulwesen und die alten Sprachen vor allem auch auf diskursiver Ebene zum Erzittern. Das Aufbrechen der Kruste des in vielen Bereichen fast reaktionären Nachkriegskonsenses ließ das Leitbild vom „christlichen Humanismus“ endgül-
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Latein und Griechisch“, 19.10.1971, BayHStA, MK 81011; Staatsinstitut für Schulpädagogik an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 27.10.1972, BayHStA, MK 81011; Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Gymnasien, 20.11.1973: Einladung zur Fortbildung über Programmierten Unterricht am 6.12.1973, BayHStA, MK 81011; Latein oder Englisch als erste Fremdsprache? Argumente der Teilnehmer des Seminars E-L 1972/74 am Albert-Einstein-Gymnasium München aufgrund ihrer Erfahrungen im Einsatz an Provinzschulen mit Englisch und mit Latein als 1. Fremdsprache, in: ASiU 21,3 (1974), S. 27–30, hier S. 28; Nickel: Altsprachlicher Unterricht, 1973, S. 140–153; Frings/Keulen/Nickel: Lexikon, 1981, S. 219. In der Neuauflage des Lexikons zum Lateinunterricht von 2001 war das Lemma „Programmiertes Lernen“ nicht mehr vorhanden, vgl. Nickel: Lexikon. Vgl. dazu Doering-Manteuffel: Westernisierung. Vgl. Rohstock: Antikörper, S. 282. So auch der Buchtitel des Sammelbandes von Schildt/Siegfried/Lammers: Dynamische Zeiten. Schildt/Siegfried/Lammers: Einleitung, S. 14; vgl. auch Schildt/Siegfried: Kulturgeschichte, S. 204f.; Frese/Paulus: Geschwindigkeiten.
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tig untergehen und die Leitbilder des politischen „Westens“, Pluralismus und Chancengleichheit, konnten sich erstmals in der deutschen Geschichte flächendeckend durchsetzen.995 So wundert es nicht, dass gerade Latein als das Musterfach des „christlichen Humanismus“ als Instrument der Reaktion besonders in die Kritik geriet. Die Argumentationsstrategien der Altsprachler, die auf Elitenbildung, Modernisierungskritik und die Berufung auf überzeitliche Werte abgezielt hatten, passten in den 1960er Jahren nicht mehr mit den gesellschaftlichen Leitbildern zusammen. Hinzu kamen wirkmächtige Akteure, die sich selbst dazu auserkoren hatten – bereitwillig unterstützt von der Politik –, dem ihrer Meinung nach immer noch ständischen staatlichen Bildungswesen reformpädagogisches, egalitäres Leben einzuhauchen. Vielen von ihnen war die Überheblichkeit und Unbeweglichkeit der Vertreter der klassischen Bildung zuwider. Vor allem die Anmaßung, dass die Altsprachler vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, gegen den sie eben nicht in Berufung auf Humanität in den Generalwiderstand getreten waren, immer noch von überzeitlichen Werten sprachen, und die Tatsache, dass altsprachlicher Unterricht in vielen Fällen eher als Drill- und Erniedrigungsinstrument statt zur allgemeinen Menschenbildung genutzt wurde, hatte solch feindliche Reaktionen hervorgerufen. Diesen Angriffen stand der DAV aber nicht machtlos gegenüber. Es zahlte sich aus, dass zumindest Teile der Altsprachler konsequent an der Modernisierung ihres Unterrichts gearbeitet hatten. Nun stellte man sich auch argumentativ um. Statt auf überzeitliche Werte des Humanismus zu setzen, berief man sich auf die konkreten Fähigkeiten, die altsprachlicher Unterricht vermitteln konnte: Da im Lateinunterricht die Reflexion über Sprache eine übergeordnete Rolle spiele, fördere dieser das Erlernen weiterer Fremdsprachen, verbessere die Muttersprache und schule außerdem das Abstraktionsvermögen. Diese Argumente waren zwar nicht neu, allerdings behaupteten die Altphilologen nicht mehr, dass die lateinische Sprache generell diese Fähigkeiten vermittle, sondern dass die Methode, durch die Latein gelernt werde, ausschlaggebend sei. Zudem gab man die Einheit von Latein und Griechisch auf. Die Altphilologen legten das elitäre Selbstverständnis ab, dass Latein und Griechisch die einzigen historisch wahren gymnasialen Fächer seien, und reihten die beiden alten Sprachen gleichberechtigt in einen allgemeinbildenden Fächerkanon ein. Darüber hinaus sorgte man dafür, dass diese Neuerungen auch wirklich in den Klassenzimmern ankamen. Die Neuaufstellung hatte Erfolg. Selbst in der reformierten Oberstufe, in der Latein nur noch Wahlfach war, konnte sich Latein als Fach halten. Dies zeigt auch eine vom Deutschen Bildungsrat 1971 herausgegebene Dokumentation über die verschiedenen Versuche einer neuen Sekundarstufe II: Latein wurde in fast allen Versuchsschulen als Wahlkurs angeboten und zudem häufig auch als 995
Vgl. Doering-Manteuffel: Westernisierung, S. 314–316.
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neu einsetzende dritte Fremdsprache.996 In Rheinland-Pfalz wählten immerhin 29,5 Prozent aller Versuchsschüler Latein in irgendeiner Form.997 Insgesamt – so zeigen Statistiken aus den 1980er Jahren – hatte Latein zwar seine dominante Stellung der 1950er Jahre verloren, konnte sich aber als zweit- bzw. dritthäufigste Fremdsprache durchsetzen.998 Dabei spielte allerdings ein Faktor eine Rolle, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf: das Latinum. Viele Schüler wählten Latein letztlich nicht wegen seiner spannenden Inhalte, sondern wegen des Latinums, das für viele Studienfächer noch Voraussetzung war. So beschwerte sich beispielsweise eine Schülerin in einem Interview zur neuen Oberstufe darüber, dass man an ihrer Schule kein Latein wählen konnte mit folgender Argumentation: „Zum Beispiel sind wir Sprachler und haben keine dritte Fremdsprache, etwa Latein, das doch immer noch so nötig gebraucht wird.“999 Die These stützen auch die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung aus den achtziger Jahren. Demnach wählten zwar nur 9,7 Prozent der Schüler Latein als Abiturfach, aber 60 Prozent aller Schüler hatten ein Latinum erworben.1000
4 Zwei Längsschnitte 4.1 Das Latinum
Neben den vielen ideologischen Kämpfen um den altsprachlichen Unterricht seit der Nachkriegszeit hatte die Regelung des Latinums zunächst mehr juristischen Charakter. In der Weimarer Republik hatte dieses Thema bereits auf der Tagesordnung der Kultuspolitiker gestanden, eine weitere deutschlandweite Vereinheitlichung oder genauere Definierung war aber durch den Umbruch 1933 nicht weiter verfolgt worden. Allerdings gab die Regelung, dass Latein und Griechisch an deutschen Universitäten Voraussetzung für viele Studiengänge waren, auch während des Zweiten Weltkriegs Anlass zur juristischen Nachsteuerung. Im Jahr 1939 wurde beispielsweise der „Lateinnachweis für Studierende der Me996
997 998
999 1000
Vgl. Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates: Reform der Sekundarstufe II, S. 14, 21, 23, 31, 51, 120, 213. In Bremen wurde Latein zwar nicht als Grund- oder Leistungskurs, dafür aber als dritte Fremdsprache angeboten. Vgl. ebenda, S. 59, 72. Vgl. ebenda, S. 319, 339. Vgl. Hitpass: Reifeprüfung, S. 116, Tab. 13; S. 117, Tab. 14: Hiernach wählten 1980 76,94 % Englisch, 30,99 % Französisch und 23,14 % Latein, 2,88 % Griechisch, 1,65 % Russisch und 1,61 % Spanisch. Vgl. auch Westphalen: Englisch und Latein, S. 3f.: Hiernach wählten 1982/1983 78,3 % der Gymnasiasten Englisch, 20,5 % Latein als erste Fremdsprache. Als zweite Fremdsprache wählten 51,9 % Latein und 26,8 % Französisch. Schmitz, Alexander: „Eigentlich sind wir nur Lehrlinge“, in: Welt am Sonntag, 25.6.1972. Vgl. ebenda, S. 116, Tab. 13; S. 117, Tab. 14.
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dizin“ geregelt.1001 Reichminister Rust erließ zudem im Mai 1941 eine Regelung, dass diejenigen Studierenden, die ein Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Geschichte erwerben wollten und Lateinkenntnisse nicht durch das Abiturzeugnis nachweisen konnten, eine Ergänzungsprüfung in Latein ablegen mussten. Studierende der romanischen Sprachen sollten während der Abschlussprüfung auf ihre Lateinkenntnisse hin getestet werden. Diese Regelung war notwendig geworden, da „große Gebiete neu zum Reich gekommen“ waren.1002 Zudem belegen bayerische Akten, dass auch während des Krieges an den Universitäten Lateinkurse stattfanden.1003 Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte man an die Regelungen aus der Weimarer Republik an. Als ersten weiteren Schritt zu einer einheitlicheren Regelung legte die KMK 1952 gesetzlich fest, dass es ein Kleines und ein Großes Latinum gab.1004 Die Begriffe waren zwar schon in der Weimarer Republik verwendet worden, allerdings ohne juristische Grundlage.1005 Zudem legte die Hochschulrektorenkonferenz im selben Jahr fest, für welche Fächer welches Latinum gefordert werden sollte. Für Medizin, Tiermedizin, Zahnmedizin und Pharmazie sollte das Kleine Latinum genügen, für Theologie, Jura und die Fächer der Philosophischen Fakultät forderte sie das Große Latinum.1006 Jedoch war mit dieser Festlegung noch nicht geklärt, welche Leistung Schüler und Studenten erbringen mussten, um diese Latina zu erwerben.1007 Als Richtlinie – auch das ein Erbe aus der Weimarer Republik – galt die Anzahl an Schuljahren, die die Schüler das Fach Latein gelernt hatten. Auch wenn von 1001 1002
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Vgl. Amtliche Erlasse, in: Die Deutsche Höhere Schule 6 (1939), S. 674. Vgl. Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 17.5.1941, BayHStA, MK 52457. Studierende des Lateinischen mussten eine Ergänzungsprüfung im Griechischen ablegen, falls sie keine Griechischkenntnisse durch das Abiturzeugnis nachweisen konnten. Vgl. Vorstand des Philologischen Seminars der Universität Würzburg an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 20.9.1940, BayHStA, MK 40820; Philologisches Seminar der Universität Würzburg an Rektor der Universität, 31.3.1942, BayHStA, MK 40820. Beschluß der KMK vom 26.6.1952 in Bonn. Ergänzungsprüfung in Lateinisch und Griechisch, in: Gymnasium 60 (1952), S. 94; Beschluss der KMK, 26.6.1952, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 142. Ein Ministerialrat aus dem Kultusministerium NRW orakelte schon 1950: „In der nächsten Zeit wird es dringend notwendig sein, die Frage des großen, kleinen oder auch mittleren Latinums einmal endgültig zu klären“, Ministerialrat Dr. Gedike an Oberschulrat Dr. Kruse, 25.8.1950, LAV NRW, NW 19, Nr. 213. Ministerialrat Gedike zum Latinum, 12.3.1951, LAV NRW, NW 19, Nr. 185. Vgl. Beschluß der Rektoren-Konferenz am 1. und 2.8.1952 in Kiel, in: Gymnasium 60 (1953), S. 95. Vgl. Beschluß der KMK vom 26.6.1952 in Bonn. Ergänzungsprüfung in Lateinisch und Griechisch, in: Gymnasium 60 (1952), S. 94; Beschluss der KMK, 26.6.1952, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 142; Auszug aus der Niederschrift des Schulausschusses der KMK, 2./3.4.1954, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 24; Vorsitzender des KMK Schulausschusses an Sekretariat der KMK, 6.2.1954, BA Koblenz, B 304/6470, II. Ordner.
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Seiten der Universitäten, der Lehrerverbände, der Eltern und der Kultusbürokratie eine einheitliche Regelung gefordert wurde, war man sich Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre uneinig, ob zum Erwerb des Großen Latinums sieben oder fünf Jahre schulischer Lateinunterricht ausreichend seien, ganz zu schweigen davon, ob das reine Absitzen der Jahre reiche oder ob der Schüler die letzte Klasse mindestens mit der Note „ausreichend“ bestehen müsse.1008 Allerdings war dies im Vergleich zur Weimarer Republik schon eine weichere Variante. Hier waren für Mediziner jeglicher Art und Juristen sieben Jahre Latein gefordert worden, für die Fächer der philosophischen Fakultäten neun Jahre. Für katholische Theologen und Altphilologen hatten die neun Jahre im Übrigen nur gezählt, wenn sie an einem altsprachlichen Gymnasium absolviert worden waren.1009 Dass die Unterscheidung nach Schultypen in der Latinumsdiskussion der Bundesrepublik keine Rolle mehr spielte, zeigt, wie sehr die höheren Schulen mittlerweile als eine Einheit angesehen wurden. In diese Diskussion um die Dauer eines des Latinums würdigen Lateinunterrichts muss auch die Auseinandersetzung zwischen DAV und ADNV eingeordnet werden, die in Kapitel IV.2.2.2 schon einmal angesprochen wurde. Der DAV bestand darauf, dass das Große Latinum nur durch einen siebenjährigen Lateinunterricht zu erlangen sei.1010 Der ADNV machte sich dafür stark, dass ein fünfjähriger Unterricht ausreiche. Hintergrund dieser Debatte war die Tatsache, dass sich der ADNV für die Sprachenfolge Englisch – Französisch – Latein am neusprachlichen Gymnasium stark gemacht hatte. Latein hätte dann frühestens in der 9. Klasse begonnen und wäre somit maximal fünf Jahre unterrichtet worden. Da sich der ADNV im Klaren war, dass diese Sprachenfolge nur dann von Eltern und Schülern angenommen worden wäre, wenn die Schüler trotzdem am Ende ihrer Schulzeit auch ein Latinum hätten erwerben können, wollte er unbedingt durchsetzen, dass für ein großes Latinum fünf Lateinjahre ausreichten.1011 Der DAV folgte der umgekehrten Logik: Da für ihn Ende der 1950er 1008
1009 1010
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Vgl. 30. Sitzung des Schulausschusses am 28./29.5.1954, Ergänzungsprüfung im Lateinischen, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 25; 33. Sitzung des Schulausschusses am 12./13.1.1955, Ergänzungsprüfung im Lateinischen, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 26–27; Anfrage des Hessischen Kultusministeriums an KMK, 21.12.1955, BA Koblenz, B 304/1956; Antwort der KMK, 2.1.1956, BA Koblenz, B 304/1956; Kultusministerium Baden-Württemberg an Sekretariat der KMK, 24.8.1959, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 3. Siehe Kapitel II.1.5.2. Vgl. Schreiben Erich Haag (1. Vorsitzender DAV) an KMK betr. Zuerkennung des „Großen Latinums“, 10.2.1960, in: MDAV 3,2/3 (1960), S. 2–4. Auch zu finden in LAV NRW, NW 137, Nr. 461; Walter (1. Vorsitzender¸ DAV) an KMK, betr. Rahmenvereinbarung, 19.12.1960, in: MDAV 4,1 (1961), S. 2–4. Vgl. Landesinstitut für Neue Sprachen, Adolf Bohlen an Ministerialdirigent Holzapfel, 23.11.1960, LAV NRW, NW 137, Nr. 461; Schade, Richard (1. Vorsitzender ADNV): Braucht die Universität nur Lateiner? [1958/59], BayHStA, MK 53213; Paul Hartig, 1. Vorsitzender ADNV, an KMK, 5.3.1963, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 50.
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Jahre die Option Latein als dritte Fremdsprache absolut undenkbar war, setzte er darauf, dass ein Latinum erst nach sieben Jahren zu erlangen sei.1012 Die Altphilologen hofften, dass sich dadurch mehr Eltern und Schüler für Latein als zweite Fremdsprache entscheiden würden. Der DAV wurde in seinen Bestrebungen durch die Universitäten unterstützt, die auf die zusätzliche Auslesefunktion des Latinums setzten,1013 der ADNV teilweise durch die Kultusbehörden, denen an einer Vereinheitlichung sowie an einer besseren Durchlässigkeit gelegen war.1014 Dies soll ein Beispiel aus Mainz illustrieren. Die Philosophische Fakultät der Universität Mainz hatte 1958 eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie das Reifezeugnis eines neusprachlichen Gymnasiums mit der Sprachenfolge Englisch – Französisch – Latein „nicht als vollwertig“ anerkennen wollte. Denn es beziehe das Große Latinum nicht mit ein. Daraufhin wandte sich Oberregierungsrat Schröder aus Mainz an die KMK. Er halte „diese Überbewertung des Lateinischen bei der heutigen Lage für bedenklich“. Als Gründe nannte er die Flüchtlinge aus der DDR und den Ausbau des zweiten Bildungswegs. „Es ist nicht einzusehen, warum man die Berechtigungsmauer in Bezug auf Latein noch höher bauen will, während man andererseits bestrebt ist, das Berechtigungswesen einzuschränken.“ Er spreche sich eindeutig dafür aus, dass das Große Latinum auch mit Latein als dritter Fremdsprache erworben werden könnte.1015 Hans Reimers, Vorsitzender des Schulausschusses der KMK, antwortete, dass er Schröder ganz zustimme und die Forderungen eines siebenjährigen Lateinunterrichts ebenfalls für übertrieben halte.1016 1012 1013
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Vgl. Haag, Erich: Die gegenwärtige schulpolitische Lage, in: MDAV 1 (1958), S. 3–7. Auch die WRK plädierte dafür, dass nur ein siebenjähriger Lateinunterricht zum Großen Latinum führen sollte, vgl. Auszug aus der Niederschrift der 12. Sitzung des Schulausschusses der WRK, 31.5./1.6.1960, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 10–11. Die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule sprach sich auch dafür aus, dass Latein als dritte Fremdsprache höchstens das Kleine Latinum mit einschließen sollte, vgl. Arbeitsgemeinschaft Deutsche Höhere Schule: Bildungsauftrag, 1958, S. 92. So wollte 1962 die Philosophische Fakultät der Hamburger Universität ein „Großes Latinum“ nicht anerkennen, das auf einem Aufbaugymnasium in NRW erzielt wurde, vgl. Der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg an Kultusminister des Landes NRW, 14.2.1962; Kultusminister NRW an Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität, 31.1.1962, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 36–39. 1963 beschwerte sich der Philosophische und Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultätentag über Pläne der KMK, das Große Latinum auch mit der Abschlussnote „mangelhaft“ zu vergeben: „Durch diese Maßnahmen werden die an sich schon überlasteten Fakultäten zu neuen Nachprüfungen gezwungen. Darüber hinaus gefährdet diese Regelung sowohl das Niveau als auch die Auslesefunktion des Abiturs“, vgl. Philosophischer und Mathematisch-Naturwissenschaftlicher Fakultätentag, Heidelberg 1963, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 59. Vgl. Abteilungsleiter II an Kultusminister von NRW, 19.12.1960, LAV NRW, NW 202, Nr. 144, Bl. 26–42, hier Bl. 41. Oberregierungsrat Schröder (Mainz) an Reimers (KMK), 4.2.1959, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 109–110.
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Ab 1961 nahm sich der Schulausschuss der KMK der Regelung des Latinums an. Auch wenn das Thema immer wieder auf der Tagesordnung stand, begann die „heiße Phase“ erst 1969, da zunächst noch verschiedene Daten erhoben werden mussten.1017 In der Zwischenzeit hatte es aber eine wichtige Entwicklung gegeben und die betraf das Latinum für die Mediziner. Schon länger war darüber diskutiert worden, wie sinnvoll es sei, von angehenden Ärzten literarische Lateinkenntnisse zu verlangen. „Viele Mediziner sind sich darüber klar, daß die Lektüre des ‚Gallischen Krieges‘ das Verständnis von Fachausdrücken wie ‚Pneumothorax‘ nicht im geringsten fördert“, klagte beispielsweise das badenwürttembergische Kultusministerium in einem Brief an die KMK.1018 Mitte der 1960er Jahre verfasste das Bundesgesundheitsministerium schließlich die Bestallungsordnung für Ärzte neu und ließ das Latinum als Zugangsvoraussetzung zum Medizinstudium fallen. Stattdessen wurde ein Sprachkurs für diejenigen ohne Lateinkenntnisse eingeführt, in dem das notwendige Vokabular gelehrt werden sollte.1019 Diese Regelung trat schließlich 1970 in Kraft.1020 Auch wenn für das Medizinstudium eine praktikable Lösung gefunden wurde, war man Ende der 1960er Jahre von einer einheitlichen Latinumsregelung für die anderen Fächer weit entfernt. Das rheinland-pfälzische Kultusministerium hatte 1968 zusammengestellt, in welchen Bundesländern man welches Latinum nach wie vielen Jahren und Stunden vergab. Dabei waren die eklatanten Anforderungsunterschiede offenbar geworden. In Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hamburg, Bremen und dem Saarland mussten die Schüler einen siebenjährigen Lateinunterricht absolvieren, um das Große Latinum zu erhalten, in Hessen und Niedersachsen reichten fünf Jahre.1021 Dies zeigt im Üb1016 1017
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Reimers (Referent für Lehrplananfragen der KMK) an Oberregierungsrat Schröder (Mainz), 23.2.1959, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 107–108. Vgl. Sekretariat der KMK, Vermerk, 29.5.1961, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 22; Auszug aus der Niederschrift des Schulausschusses der KMK, 30./31.10.1962, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 43–47; Auszug aus der Niederschrift über die 100. Sitzung des Schulausschusses der KMK am 23./24.9.1965, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 083–085; Auszug aus der Niederschrift des Schulausschusses der KMK, 15./16.7.1965, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 64; 98. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 3./4.6.1965, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 62. Kultusministerium Baden-Württemberg an Sekretariat der KMK, 14.3.1962, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 31–33, hier Bl. 32. Vgl. 98. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 3./4.6.1965, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 62. KMK an Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Brasilien, 19.5.1969, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 84–85; KMK an Kultusministerium Baden-Württemberg, 20.8.1969, B 304/3754. Vgl. Kultusministerium Rheinland-Pfalz an Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 29.10.1968, BayHStA, MK 81256. Noch 1973 beschwerte sich der badenwürttembergische Landeselternbeirat über die verschiedenen Regelungen und bat um eine bundeseinheitliche Lösung, um „Chancengleichheit aller Gymnasialschüler in allen
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rigen auch, dass die alte Nord-Süd-Trennung der deutschen Länder – wenn man von Bremen und Hamburg absieht – bei der Bedeutung und dem Niveau der alten Sprachen immer noch vorhanden war. Ebenso „diffus“ waren die Anforderungen hinsichtlich der Lateinkenntnisse der geisteswissenschaftlichen Studienfächer, die sich wiederum von Universität zu Universität unterschieden.1022 Im Juli 1969 beschloss der Schulausschuss der KMK, einen Fachausschuss zu berufen, der sich endgültig einer einheitlichen Regelung annehmen sollte. Durch die Neuregelung der Lateinkenntnisse der Medizinstudierenden war zudem das Kleine Latinum eigentlich hinfällig geworden. Man wollte sich auf ein einziges Latinum einigen und dafür allgemeingültige Richtlinien ausarbeiten.1023 Nach einem ersten Treffen des Fachausschusses 1969 gerieten die Beratungen aber ins Stocken. Sie wurden 1971 wieder aufgenommen.1024 Es dauerte aber weitere acht Jahre, bis 1979 eine endgültige Regelung zum Latinum gefunden wurde: Ein fünfjähriger schulischer Lateinunterricht, der mindestens mit der Note „ausreichend“ abgeschlossen wurde, verlieh danach das Latinum.1025 Eine einheitliche Regelung zu finden, dauerte vermutlich deshalb so lange, weil die Diskussionen um das Latinum eben nicht nur juristischer Natur waren. Es ging vielmehr auch um Besitzstandswahrung und Verteidigung der eigenen Fächer. Denn auch wenn man es nicht gern zugab, die Altphilologen wussten sehr wohl, dass sie unter anderem dem Latinum als Studieneingangsvoraussetzung ihre Stellung im Bildungskanon der höheren Schule verdankten. Dies zeigte sich beispielsweise 1962 bei einer Diskussion im Schulausschuss der KMK, als zum ersten Mal die Idee aufkam, einen lateinischen Sprachkurs für die Mediziner statt eines Kleinen Latinums zu fordern und das Kleine Latinum demnach ganz abzuschaffen. Ministerialrat Höhne aus Bayern, ein überzeugter Altphilologe, gab dabei zu bedenken, dass eine Abschaffung des Kleinen Latinums dazu führen würde, „daß die Schüler sich bei einem wahlfreien Unterricht nicht mehr in der bisherigen Zahl für Latein entscheiden würden“. Bei den Eltern lasse sich nämliche „eine tiefere Einsicht, ob Latein notwendig sei oder nicht, nicht voraussetzen.
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Bundesländern zu gewährleisten.“ Vgl. Landeselternbeirat Baden-Württemberg an KMK, 22.2.1973, BA Koblenz, B 304/1956. Vgl. KMK an Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Brasilien, 19.5.1969, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 84–85, Zitat Bl. 84. Vgl. Hörmann, Vormerkung, Betreff: 146. Sitzung des Schulausschusses am 24./25. Mai 1971, Latinum und Graecum, 21.5.1971, BayHStA, MK 52459; Fachausschuss für die Erarbeitung von Richtlinien für den Lateinunterricht, 1. Sitzung, 29.10.1969, Übertragung der stenographischen Niederschrift, BA Koblenz, B 304/2178. Vgl. 147. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 8./9. Juli 1972, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 026. Vgl. Sekretariat KMK: Vereinbarung über das Latinum und das Graecum, 22.9.2005, S. 2; Bölling: Geschichte des Abiturs, S. 135. Allerdings blieben die konkreten Regelungen in den Ländern noch einige Zeit durchaus uneinheitlich, vgl. Frings/Keulen/Nickel: Lexikon, 1981, S. 151–156.
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Viele Eltern würden ihre Entscheidung von der Überlegung abhängig machen, ob das ‚Latinum‘ bei einem späteren Studium erforderlich sei oder nicht.“ Daher sei die Frage, „in welchem Umfange sich Latein in Zukunft innerhalb des deutschen Kulturkreises halten werde, [. . .] gerade von der Entscheidung über das ‚Kleine Latinum‘ mit abhängig.“1026 Erwin Aßmann, Vertreter SchleswigHolsteins und Kieler Professor für mittellateinische Philologie, bestätigte durchaus diese „Sonderstellung“, die Latein durch das Latinum gegenüber anderen Fächern erhalten habe. Er kritisierte allerdings, dass dies „manchen Lehrer dazu verleite, im Unterricht nicht in der gebotenen Weise das Interesse der Schüler an der Sache zu wecken. Vielfach könne man sich einen langweiligen Unterricht leisten, weil der Zwang des Latinums am Ende stehe.“ Bei vielen Lehrern käme der kulturkundliche Unterricht zu kurz. In einem Nebensatz erwähnte Aßmann noch, dass es in Dänemark „anstelle des Lateinunterrichts einen AltertumskundeUnterricht“ gebe, „der den Schülern respektable Kenntnisse vermittle“.1027 Subtil gab Aßmann damit zu verstehen, dass er Höhnes Einwand für nichtig hielt, da er grundsätzlich an der Sinnhaftigkeit des deutschen Lateinunterrichts zweifelte. In einer Sitzung des Schulausschusses im Jahr 1965, als einmal wieder über das Latinum diskutiert wurde, wurde Aßmann noch deutlicher: Die Aufgabe einer Schule liege „nicht in der Pflege der Tradition, sondern in der Ausrichtung auf die Gegenwart [. . .]. Wolle man der Lebensnähe einen Platz geben und die Durchlässigkeit der verschiedenen Schultypen überzeugend fördern“, müsse Englisch an allen Schulen die erste Fremdsprache sein. Die Sonderstellung des Faches Latein sei für ihn „[h]öchst problematisch“, da es eine Art „Einlassberechtigung für die Universität“ darstelle. „Niemand, der Englisch studieren wolle, werde gefragt, ob er auch Englisch auf der Schule gehabt habe.“1028 Noch mehr Gewicht gab er seiner Einstellung, indem er betonte, dass er ja selbst Altphilologe sei.1029 Die Aussagen Aßmanns zeigen, wie die generelle Kritik am Lateinunterricht, die 1026 1027 1028
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Vgl. Auszug aus der Niederschrift des Schulausschusses der KMK, 30./31.10.1962, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 43–47, hier Bl. 45. Vgl. ebenda, Bl. 46. Auszug aus der Niederschrift über die 100. Sitzung des Schulausschusses der KMK am 23./24.9.1965, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 083–085, hier Bl. 085. Die Tatsache, dass man für ein Englischstudium ein Latinum nachweisen musste, führte in der Tat zu paradoxen Konstellationen. In Bayern beispielsweise hatten angeblich viele Schüler, die Englisch studieren wollten, aus Angst, Latein während des Studiums nachlernen zu müssen, nicht Latein, sondern Englisch in der Oberstufe abgewählt. Dadurch hatten sie im Studium dann einen Nachteil gehabt, weil sie Aufnahmeprüfungen zu Seminaren nicht bestanden hätten. Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus an alle Gymnasien in Bayern, 26.2.1970, BayHStA, MK 52459. Hierzu vgl. auch Otto Blum (Facharzt für Augenkrankheiten) an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 7.3.1971, BayHStA, MK 52459. Auszug aus der Niederschrift über die 100. Sitzung des Schulausschusses der KMK am 23./24.9.1965, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 083–085, hier Bl. 085.
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in den 1960er Jahren aufkam, sich auch in den Diskussionen um das Latinum niederschlug. Und so endete eine Latinumsdiskussion nicht selten damit, „das Fach Latein als solches in Frage zu stellen“.1030 Erwin Aßmann wurde 1969 zum Vorsitzenden des Fachausschusses berufen, der sich mit einer endgültigen Regelung des Latinums beschäftigen sollte. Die erste Sitzung dieses Ausschusses am 29. Oktober 1969 zeigt sehr anschaulich, wie dort die verschiedenen Einstellungen zum Latinum und Lateinunterricht aufeinandertrafen.1031 Schnell stellte man sich die grundsätzliche Frage nach dem Nutzen des Latinums. Vielfach wurde auch hier die Meinung geäußert, dass „das Abschaffen des Berechtigungsscheins“ dazu führen würde, „dass eine große Anzahl von Schulen kein Latein mehr gäbe, weil der Schüler den Zug mit Latein nicht wähle [sic!]“.1032 Letztendlich gehe es, so der Vertreter NordrheinWestfalens Otto Leggewie, um die Frage: „Soll Latein im Lehrplan bleiben? Ja oder Nein?“1033 Für Leggewie, immerhin langjähriger Vorsitzender des DAV, war selbstverständlich, dass man unter Latein mehr verstehe als „die sprachliche pragmatische Einrichtung, die nur zu einer vordergründigen Vervollständigung irgendeines Studiengebietes“ diene. Es gehe um ein „gewisses Gegengewicht gegen die völlige Verkennung der Geschichte, des geschichtlich Gewordenen und des sprachlich Gewordenen“. Es gehe darum, dass „schulische Ausbildung keine fachspezifische Ausbildung“ sein dürfe. Der Vertreter Bayerns, Ministerialrat Friedrich Hörmann, sprang Leggewie dabei zur Seite.1034 Den Gegenpol bildete, wie nicht anders zu erwarten, Erwin Aßmann. Die „Berufung auf die Tradition des Latein als Bildungsträger des Abendlandes“ halte er nicht mehr für „durchschlagend“. Im Mittelalter habe man Latein aus pragmatischen Gesichtspunkten gelernt, um Wissenschaft betreiben zu können. „Dieser Bildungsheiligenschein des Latein“ sei erst im 19. Jahrhundert entstanden.1035 Der Hamburger Vertreter Brüggemann sah dies ähnlich. Die „Ideologie des Neuhumanismus“ müsse man „allmählich ablegen und demontieren“.1036 Der Vertreter aus Berlin, Gerhard Radke, betonte allerdings, dass es auch im Mittelalter um „Weitergabe der antiken Kultur“ gegangen sei, quasi als „Nebenprodukt“. Heute sei die „gemeinsame Grundlage abendländischer Kultur“ umso wichtiger, da Deutschland bereit sei, seine nationalen Vorstellungen auf1030 1031
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Gegenschatz, Ernst: Zur Zielsetzung der Lektüre im Lateinunterricht, in: AU, Reihe IX, Heft 2 (1966), S. 56–78, hier S. 56. Vgl. Fachausschuss für die Erarbeitung von Richtlinien für den Lateinunterricht, 1. Sitzung, 29.10.1969, Übertragung der stenographischen Niederschrift, BA Koblenz, B 304/2178. Vgl. ebenda, S. 5f. Vgl. ebenda, S. 9. Ähnlich auch der Vertreter Bremens, S. 15. Vgl. ebenda, S. 4f., 8, 13. Vgl. ebenda, S. 12. Vgl. ebenda, S. 10.
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zugeben „zugunsten des europäischen Gedankens“.1037 Leggewie brachte zur Verteidigung des Lateins auch das Argument an, dass die Studierfähigkeit der Absolventen eines altsprachlichen Gymnasiums „in allen Fächern garantiert“ sei. Dies würden Ergebnisse und Gutachten naturwissenschaftlicher Fakultäten und Technischer Hochschulen beweisen.1038 Zum Ende der Sitzung ging Aßmann noch einmal zum Frontalangriff auf den Lateinunterricht über: „Die grössten Feinde des Latein sind die Altphilologen – vergröbert –[,] weil sie unmässig sind in ihren Forderungen.“ Müsse man denn wirklich Originaltexte lesen? Ja, müsse man, entgegnete Hörmann, aber es müsse nicht Caesar sein.1039 Selbst über die Frage, ob Sprachunterricht oder Kulturunterricht im Lateinunterricht wichtiger wäre, wurde diskutiert.1040 Die Latinumsdiskussion wurde eine Debatte um die Sinnhaftigkeit von Lateinunterricht und spiegelte fast alle Facetten wider, die die didaktischen und fachlichen Diskussionen auch zu bieten hatten. Daher wundert es nicht, dass sich Hörmann in der Sitzung beschwerte, dass im Fachausschuss auch Nicht-Lateiner vertreten waren. Dies könne er nicht gutheißen, sie könnten die Argumente einer so fachlichen Diskussion nicht richtig beurteilen.1041 Die Auseinandersetzung um den Lateinunterricht wurde in diesem Gremium leidenschaftlich geführt. Die Frontstellungen und Argumentationsstrategien sind dabei wohlbekannt: Die Verteidiger von Latein warfen die Tradition von Neuhumanismus und Abendland in die Waagschale. Seine Gegner lehnten dies einerseits als Ideologie ab, andererseits akzeptierten sie zwar die kulturelle Bedeutung der antiken Texte, stellten dann aber in Frage, ob dafür wirklich die Lektüre der Originale notwendig sei oder ob nicht deutsche Übersetzungen genügten. Die Lateinbefürworter versuchten auf die gute Allgemeinbildung zu verweisen, die das altsprachliche Gymnasium vermittle, indem sie das alte Argument anbrachten, dass Abiturienten eines altsprachlichen Gymnasiums auch in den technischen Fächern zu den besten Studierenden zählten. Letztendlich wussten sich die Lateinbefürworter aber nicht anders zu helfen, als die ultima ratio im Argumentenkoffer auszupacken: Nicht-Lateiner könnten den bildenden Wert der Sprache nicht beurteilen. 1037 1038 1039 1040 1041
Vgl. ebenda, S. 10. Vgl. ebenda, S. 13. Vgl. ebenda, S. 26. Vgl. ebenda, S. 19–21. Vgl. ebenda, S. 16. Vgl. auch Vormerkung Hörmann zum internen Gebrauch: Bericht über die 1. Sitzung des Fachausschusses (des Schulausschusses der KMK) für die Erarbeitung von Richtlinien für den Lateinunterricht, 5.11.1969, BayHStA, MK 52459. Der bayerische Ministerialdirigent Höhne beschwerte sich schließlich offiziell darüber bei seinem Hamburger Kollegen Hans Reimers, vgl. Höhne (Ministerialdirigent im bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus) an Hans Reimers (Senatsdirektor, Hamburg), 16.12.1969, BayHStA, MK 52459.
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Ministerialrat Friedrich Hörmann aus Bayern verfasste zu genau dieser ersten Sitzung verschiedene interne Berichte, die die Emotionalität dieser Auseinandersetzung noch einmal unterstreichen. Vor allem die Person Erwin Aßmann erregte sein Gemüt. Aßmann versuche seit Jahren das Latinum abzuschaffen. Er sei „trotz seiner Professur für Mittellatein ein erklärter und gehässiger Gegner des Lateinunterrichts“.1042 Dies habe seine „tiefste Wurzel in seinem schlechten Status an der Universität Kiel und einer persönlichen Feindschaft zu den dortigen Altphilologen“.1043 Darüber hinaus werde Latein, vor allem als erste Fremdsprache, von Aßmann „aus ideologischen Gründen bekämpft“.1044 Er sei nämlich ein Befürworter der Gesamtschule und daher der Überzeugung, dass Latein als erste Fremdsprache fallen müsse.1045 Hörmann verbiete sich aber, „hier schulpolitische Konzeptionen vorwegzunehmen“. Die Prinzipien von „Pluralität“ und „Chancengleichheit“ müssten auch für die alten Sprachen gelten.1046 Darüber hinaus habe Latein gezeigt, dass es durchaus der modernen Curriculumforschung gerecht werde und durch die „Reflexion über die Sprachstrukturen“ allgemeinbildende Fähigkeit vermittle.1047 Hieran erkennt man einerseits, wie sich die ideologischen Grabenkämpfe bis in die KMK zogen, und andererseits, dass die neuen Argumente für den Lateinunterricht bereits bis zu den Vertretern der Ministerialbürokratie durchgedrungen waren. Die Verärgerung über Aßmann war so groß, dass sich Bayern, NordrheinWestfalen und Baden-Württemberg offiziell über Aßmann beschwerten. Dieser hatte auch in der Tat nach der ersten Sitzung den Fachausschuss nicht wieder einberufen.1048 Daraufhin nahm der Schulausschuss der KMK sich 1971 wieder selbst der Latinumsfrage an. Der Vorsitzende des Schulausschusses, Hans Reimers, konstatierte, dass es zwei Probleme gebe, die aber unabhängig voneinander betrachtet werden müssten: die Modernisierung des Lateinunterrichts und die Klärung der Frage, welche Fächer in den Universitäten welche Lateinkenntnisse benötigten.1049 Reimers hatte ganz recht mit seinem Einwand. Während der 1042 1043 1044 1045
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Vgl. Hörmann: Vormerkung, Betreff: „Latinum“, „Lateinkenntnisse“, BayHStA, MK 52459. Vgl. Hörmann, Vormerkung, Betreff: 146. Sitzung des Schulausschusses am 24./25. Mai 1971, Latinum und Graecum, 21.5.1971, BayHStA, MK 52459. Vgl. ebenda. Vgl. Vormerkung Hörmann zum internen Gebrauch: Bericht über die 1. Sitzung des Fachausschusses (des Schulausschusses der KMK) für die Erarbeitung von Richtlinien für den Lateinunterricht, 5.11.1969, BayHStA, MK 52459. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. Hörmann, Vormerkung, Betreff: Fachausschuß (des Schulausschusses der KMK) für die Erarbeitung von Richtlinien für den Lateinunterricht, 29.3.1971, BayHStA, MK 52459; ähnliches klingt bereits an in Hörmann: Vormerkung, Betreff: „Latinum“, „Lateinkenntnisse“, BayHStA, MK 52459. Vgl. Vormerkung, Betreff: 146. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 24./25.5.1971, 1.6.1971, BayHStA, MK 52459.
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ersten Sitzung des Fachausschusses war, wie oben gezeigt, einiges durcheinandergegangen. Schließlich beschloss der Schulausschuss, „das Thema ‚Latinum‘ in den weiten Komplex der Sprachenfolge am Gymnasium einzuordnen und das Thema Sprachenfolge insgesamt neu zu durchdenken“.1050 Auch im Schulausschuss der KMK war immer wieder über die Dauer des Lateinunterrichts gesprochen worden, die die Schüler benötigten, um ein Latinum zu erwerben. Hier kristallisierte sich recht schnell heraus, dass man sich auf fünf Jahre würde einigen können.1051 Dabei ging es, wie auch schon die Auseinandersetzung zwischen DAV und ADNV gezeigt hatte, nicht nur um die Frage, wie viele Jahre die Schüler Latein gelernt haben mussten, um die Ansprüche der Universitäten zu erfüllen. Es ging auch um die generelle Frage der Fremdsprachen an den höheren Schulen. Als beispielsweise Aßmann 1971 vorschlug, das Latinum bereits nach drei Jahren zu verleihen, hatte dies den Hintergrund, dass so auch Schüler, die Latein erst in der Oberstufe wählten, ein Latinum hätten erwerben können. Hörmann kommentierte den Vorschlag intern folgendermaßen: Es sei seiner Meinung nach zwar möglich, in drei Jahren lateinischen Oberstufenunterrichts die nötigen Fähigkeiten zu erwerben, aber dies bedeute die „Eliminierung des Lateins aus Sekundarstufe I“. Man dürfe es „den Gesamtschulideologen nicht zu leicht machen, Latein ganz aus der Sekundarstufe I zu entfernen“, daher solle am fünfjährigen Lateinunterricht und damit an Latein als zweiter Fremdsprache festgehalten werden.1052 Ideologen gab es auf beiden Seiten. Letztendlich muss man konstatieren, dass sich mit der endgültigen Latinumsregelung eher die konservative Seite durchgesetzt hatte. Dass der Begriff Latinum erhalten blieb, könnte darauf hindeuten, denn Aßmann wollte ursprünglich den Begriff „Latinum“ abschaffen und durch „Lateinkenntnisse“ ersetzen.1053 Als Beispiel dafür, wie in der Diskussion um das Latinum auch um den generellen Wert von Latein gestritten wurde, dient einmal mehr ein Fallbeispiel aus Bayern. 1970 sollte eine neue Prüfungsordnung für Juristen in Bayern in Kraft treten, die auf Lateinkenntnisse künftiger Jurastudenten verzichten wollte. Die „Arbeitsgemeinschaft zur Förderung humanistischer Bildung in Bayern“
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147. Sitzung des Schulausschusses der KMK, 8./9. Juli 1972, BA Koblenz, B 304/1956, Bl. 026. Vgl. Auszug aus der Niederschrift des Schulausschusses der KMK, 30./31.10.1962, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 43–47, hier Bl. 46; vgl. Hörmann, Vormerkung, Betreff: 146. Sitzung des Schulausschusses am 24./25. Mai 1971, Latinum und Graecum, 21.5.1971, BayHStA, MK 52459. Hörmann, Vormerkung, Betreff: 146. Sitzung des Schulausschusses am 24./25. Mai 1971, Latinum und Graecum, 21.5.1971, BayHStA, MK 52459. Vgl. Hörmann: Vormerkung, Betreff: „Latinum“, „Lateinkenntnisse“, BayHStA, MK 52459.
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machte das Kultusministerium und die Staatskanzlei darauf aufmerksam.1054 Beide versprachen darauf, sich in die Verhandlungen einzuschalten.1055 Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass in der bayerischen Politik bis zur obersten Ebene dem altsprachlichen Unterricht eine besondere Bedeutung zugesprochen wurde. Ministerpräsident Goppel schrieb beispielsweise einen Brief an den Justizminister, in dem er bat, dass der Verzicht auf die Lateinischen Sprachkenntnisse aus der neuen Prüfungsordnung gestrichen werden sollte. Dafür brachte der Ministerpräsident drei Argumente vor. Zum einen glaube er, dass diese Maßnahme denjenigen Reformkräften Auftrieb geben würde, die das Latein in der Schule für überflüssig hielten.1056 Zum anderen sei die Beschäftigung mit dem römischen Recht für den Juristen sehr wichtig, da er sich gerade durch das „Verständnis für historische Zusammenhänge“ als der „an der Universität ausgebildete rechtskundige“ Jurist auszeichne und sich dadurch von den „rein fachwissenschaftlich“ ausgebildeten Fachhochschul-Absolventen unterscheide. Und das Verständnis des römischen Rechts sei ohne Lateinkenntnisse nicht möglich. Im dritten Argument bezog sich der Ministerpräsident auf die neue Arbeitsmarktsituation. Neben Naturwissenschaftlern und Technikern benötige die Gesellschaft vor allem Juristen als Führungskräfte. Wenigstens diese sollten „noch ein wenig vom humanistischen Geist geprägt sein“, damit das Bewusstsein des Volkes nicht „noch weiter in die Geschichtslosigkeit“ absinke.1057 Bei der Argumentation des Ministerpräsidenten fallen verschiedene Argumentationsstrategien zusammen. In seinem ersten Argument verwies er auf den Zusammenhang zwischen Lateinforderungen der Universitäten und dem Überleben des Faches in der Schule. Hierbei wies er darauf hin, dass das Fach Latein in der gegenwärtigen schulpolitischen Lage mächtige Feinde habe – beispielsweise die Gesamtschulbefürworter – und dass man diesen nicht in die Karten spielen solle. Das zweite Argument macht die Wissenschaftlichkeit des universitären Studiums klar und sieht Latein als einen Indikator für die Wissenschaftlichkeit, gerade in Abgrenzung zu den Fachhochschulen. Das letzte 1054 1055
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Vgl. Arbeitsgemeinschaft zur Förderung humanistischer Bildung in Bayern e. V. an Staatsminister für Unterricht und Kultus, 16.6.1970, BayHStA, MK 81256. Vgl. Entwurf eines Schreibens des Staatsministers für Unterricht und Kultus an den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung humanistischer Bildung in Bayern e. V., 9.7.1970, BayHStA, MK 81256; gleicher Brief auch in der Akte MK 52459; Der Bayerische Ministerpräsident an die Arbeitsgemeinschaft zur Förderung humanistischer Bildung in Bayern e. V., 10.7.1970, BayHStA, MK 52459. Vgl. Bayerischer Ministerpräsident Goppel an den Staatsminister der Justiz, 22.7.1970, BayHStA, MK 81256. Vgl. auch Bemerkung der Abteilung II vom 30.6.1970 zum Entwurf eines Schreibens des Staatsministers für Unterricht und Kultus an den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung humanistischer Bildung in Bayern e. V., 9.7.1970, BayHStA, MK 81256. Bayerischer Ministerpräsident Goppel an den Staatsminister der Justiz, 22.7.1970, BayHStA, MK 81256.
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Argument erinnert stark an die kulturpessimistische Argumentation des „Christlichen Humanismus“. Hierbei wurde die mächtigste Waffe des altsprachlichen Unterrichts gezogen, nämlich der Verweis auf die humanistische Bildung. Interesse an dem Themenkomplex Latinum hatte auch Hartmut von Hentig. Er stellte 1967 einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), um Gelder für eine „extensive Untersuchung des Latinums“ zu erhalten.1058 Die Studie wollte mehrere Dinge bezüglich des Latinums untersuchen. Erstens sollte sie Zahlenmaterial liefern, wie viele Studierende welche Art von Latinum an den Universitäten nachholten. Zweitens sollte ein Überblick darüber geschaffen werden, an welcher Universität welche Fakultät welche Art von Lateinkenntnissen forderte. Dies sollte durch verschiedene Umfragen geschehen. Drittens sollten durch einen Leistungstest an ca. 800 Studierenden die tatsächlichen Lateinkenntnisse der Studierenden untersucht werden. Zudem sollte es eine „experimentelle Verlaufsstudie“ geben, die Aufschluss darüber bringen sollte, ob die Latinumskurse den Studierenden allgemeine Fertigkeiten über die reinen Lateinkenntnisse hinaus vermittelten, beispielsweise das schnellere Verständnis von Fremdwörtern, bessere Texterschließung und Training der Muttersprache, verschiedene Übersetzungstechniken oder „semantische Erkenntnisse“.1059 Vor allem auch die Möglichkeiten von Fach-Latina für die Fächer Medizin, Jura und Theologie sollten dabei ausgelotet werden. Unterstützung erhielt von Hentig bei seiner Datenerhebung auch vom MPI für Bildungsforschung, das ihm Material zur Verfügung stellen wollte, welches es „im Rahmen einer umfassenderen Curriculumstudie gesammelt“ hatte.1060 Dies ist ein weiterer Beleg dafür, wie eng von Hentig und die Göttinger Pädagogen mit dem Becker’schen MPI zusammenarbeiteten. Das Projekt wurde von der DFG bewilligt. Fünf Jahre später, 1972, erschien die Studie, die Joachim Domnick und Peter Krope im Rahmen ihrer Dissertationen durchgeführt hatten, unter dem Titel „Student und Latinum“. Das Ergebnis der Studie überrascht kaum: Die Anforderungen der Dozenten seien zu hoch. In der Schule seien sie nur durch einen sieben- bzw. fünfjährigen Lateinunterricht zu erreichen, an der Universität müsste das entsprechende Niveau in wenigen Semestern erreicht werden. Darüber hinaus würden nicht immer die für das jeweilige Studienfach passenden Inhalte vermittelt.1061 Die Forderung der Verfasser war also, die Latinumskurse an der Universität nicht abzuschaffen, aber deutlich zu reformieren. Dabei sollten die Latinumskurse „genau auf den Bedarf
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Hartmut von Hentig an Präsidenten der KMK, 6.8.1967, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 67– 74, hier Bl. 67. Ebenda, Bl. 68f., 73. Ebenda, Bl. 74. Vgl. Domnick/Krope: Student und Latinum, 1972, S. 442–446.
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des entsprechenden Faches ausgerichtet sein“.1062 Darüber hinaus sollten die Kurse ihre Qualität durch kontinuierliche Evaluation so lange verbessern, „bis sie den gewünschten Stand erreicht“ hätten.1063 Als letzte konkrete Forderung sprachen die Autoren davon, dass eine zeitliche Straffung der Kurse erfolgen müsse. Dies könne beispielsweise durch die Anwendung von Lernprogrammen und Sprachlaboren erfolgen.1064 Vor allem die beiden letzten Forderungen zeigen, wie von Hentig und seine Schüler der behavioristisch-kybernetischen Lerntheorie anhingen. Von Hentig selbst hatte bei seinem Antrag bereits auf die Bedeutung dieser neuen Unterrichtsverfahren hingewiesen.1065 Diese Quelle ist nicht nur deswegen interessant, weil sie noch einmal die Tatsache deutlich macht, dass das Becker-Netzwerk an fast allen bildungspolitischen Debatten der 1960er Jahre beteiligt war, und weil sie noch einmal aufzeigt, dass von Hentig ein Verfechter der kybernetisch-behavioristischen Lerntheorie und der Evaluierungs- und Planungseuphorie dieser Zeit war. Die Einleitung zum DFG-Antrag gibt darüber hinaus Aufschluss, wie die Latinumsdebatte in der Bildungsdiskussion der 1960er Jahre einzuordnen ist. Das Latinum, so von Hentig, sei „eines der schlechtest definierten, heterogensten und umstrittensten Einrichtungen in unserem akademischen Ausbildungssystem“.1066 Es gebe einige Indizien, die das Bedürfnis nach einer Klärung des Latinums deutlich vor Augen treten ließen: die Forderung nach Fach-Latina und die leidenschaftliche Bekämpfung eben solcher, die stärkere Bedeutung von russischer und englischer Fachliteratur, die das Erlernen dieser Sprachen zu wissenschaftlichen Zwecken erstrebenswerter erscheinen ließen, die Abnahme der Zahl an Gymnasiasten, die Latein lernten. Zudem würden die „Pläne für die Reorganisation des weiterführenden Schulwesens“ mit Förderstufe und Gesamtschule Englisch als die „erste und dominierende Fremdsprache“ etablieren. Die lernpsychologische Forschung habe darüber hinaus in Frage gestellt, ob Latein über die Lateinkenntnisse hinaus allgemeine Fertigkeiten vermittle. Nicht zuletzt würden die Inhalte des schulischen Lateinunterrichts die Lateinkenntnisse, die die Fächer an der Universität benötigten, nicht vermitteln.1067 Diese Zusammenstellung zeigt, wie die verschiedenen Ebenen in der Bildungsdiskussion miteinander zusammenhingen und im Latinum zusammentrafen: Das Abitur als „allgemeine Hochschulreife“ erforderte, dass die Bildungsinhalte auch wirklich mit den Anforderungen der Hochschulen an ihre Studierenden übereinstimmten. Zählte Latein noch zu den allgemeinen Fähigkeiten oder war es eine nur fachspezifische Fähigkeit? Zudem 1062 1063 1064 1065 1066 1067
Ebenda, S. 446f. Ebenda, S. 448. Vgl. ebenda, S. 449f. Hartmut von Hentig an Präsidenten der KMK, 6.8.1967, BA Koblenz, B 304/3754, Bl. 67– 74, hier Bl. 68, 69. Ebenda, Bl. 68. Vgl. ebenda, Bl. 67f.
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hatte sich die Anzahl an Jahren, die ein Schüler Latein lernte, als Bemessungsgrundlage für die Verleihung des Latinums etabliert. Schraubte man nun an der Fremdsprachenfolge, wirkte sich dies auch auf das Latinum aus, da die Frage im Raum stand, ob Schüler noch ausreichend Jahre Latein lernten, um das Latinum zu erwerben. Das Verhältnis der Altphilologen zum Latinum war durchaus paradox: Einerseits wussten sie, dass das Bestehen eines Latinums, das eine Voraussetzung für beliebte Studienfächer war, den Bestand ihres Faches sichern würde. Und daher nutzten sie es gerne als Argument in der Auseinandersetzung vor allem um die Nützlichkeit des Faches Latein. Dass die Altphilologen dabei genau dem Utilitarismus huldigten, den sie anderen immer vorwarfen, schien sie nicht zu stören. Andererseits waren sich die Altphilologen auch darüber im Klaren, dass man nur „mit den Anforderungen der Universität [. . .] den Lateinunterricht nicht rechtfertigen“ könne.1068 Als Ministerialrat Hörmann 1971 in Folge der Auseinandersetzung mit Aßmann die Entwicklung des Latinums reflektierte, gab er selbstkritisch zu, dass die Altphilologenschaft lange Zeit versäumt habe, die inhaltliche Rechtfertigung des Faches Latein zu erneuern. Man habe stattdessen darauf gepocht, dass man das Latinum für das Studium brauche.1069 Im Übrigen sorgte die Regelung des Graecums nicht für Diskussionen, da dies nur für das theologische und altphilologische Studium gefordert wurde. Die rein quantitative Bedeutung des Graecums war so marginal, dass dies ohne große Auseinandersetzungen geregelt werden konnte.1070 Dies ist allerdings ein weiteres Zeichen dafür, dass beim Latinum eben mehr verhandelt wurde als eine juristische Festlegung. 4.2 Formale Bildung
Der Streit um die „richtigen“ Bildungsinhalte ist so alt wie die Schule selbst. Wichtig ist im Zusammenhang dieser Arbeit eine Unterscheidung, die im 19. Jahrhundert aufkam und bis heute weiterwirkt, nämlich die Unterscheidung zwischen 1068
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Hentig, Hartmut von: Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert. Eine neue Chance für den Lateinunterricht, in: Gymnasium 73 (1966), S. 125–146, hier S. 126. Ähnlich auch Otto Leggewie, der bereits 1964 bemerkte, dass „ein auf den Latinumserwerb ausgerichteter Kurs [. . .] mit einem von echten Bildungsaufgaben bestimmten Unterricht [. . .] im Kern nur wenig gemein“ habe, Leggewie, Otto: Zur Frage Latein und Latinum, in: MDAV 7,1 (1964), S. 16–17, hier S. 17; ähnlich auch Fleckenstein: Latein am neusprachlichen Gymnasium, in: MDAV 7,3 (1964), S. 1–4, hier S. 1. Vgl. Hörmann, Vormerkung, Betreff: 146. Sitzung des Schulausschusses am 24./25. Mai 1971, Latinum und Graecum, 21.5.1971, BayHStA, MK 52459. Vgl. ebenda.
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„formaler Bildung“ und „materialer Bildung“.1071 Die Vertreter einer materialen Bildungstheorie waren der Meinung, dass jeder Wissensinhalt mühsam erlernt werden müsse, weswegen nur zukunftsrelevante Bildungsinhalte erworben werden sollten. Eine Art enzyklopädisches Wissen sollte demnach in der Schule angesammelt werden. Die Vertreter einer formalen Bildungstheorie setzten auf die Einübung allgemeiner Denkfähigkeit, die losgelöst von Bildungsinhalten erworben werden könne. Durch Transfer könnten so auch bis dahin unbekannte Aufgaben und Probleme gelöst werden. Auch die neuhumanistische Bildungstheorie des frühen 19. Jahrhunderts war von der Idee der formalen Bildung geprägt. Vor allem Latein und Mathematik galten als formal-bildende Schulfächer. Diese Vorstellung wurde vereinfacht in der bis heute vielfach behaupteten Aussage, dass Latein und Mathematik das logische Denken förderten.1072 Gerade für das Lateinische wurde dieser Behauptung immer wieder widersprochen. In den 1920er Jahren wurden die Studien des US-Amerikaners Edward Thorndike ausgesprochen wirkmächtig. Dieser hatte durch empirische Tests herausgefunden, dass Latein und Mathematik nicht besser als andere Schulfächer die allgemeine Denkfähigkeit der Schüler schulen würden.1073 Der deutsche Erziehungswissenschaftler Erich Lehmensick legte 1926 – auch als Antwort auf Thorndikes Studien – die erste ausführliche Arbeit über die „Theorie der formalen Bildung“ (so der Buchtitel) vor.1074 Dabei unterschied er zwischen „funktionaler Bildung“ und „methodischer Schulung“, wobei Ersteres auf die Förderungen allgemeiner Geisteskraft abzielte, Letzteres die Einübung von Lernund Gedächtnisstrategien meinte.1075 Gerade Letzteres ist ein bis heute in der Pädagogik weit verbreiteter Ansatz – Stichwort „Lernen lernen“ – und sein Erfolg konnte auch von empirischen Studien bestätigt werden.1076 Klafki hat in den 1960er Jahren erfolgreich zwischen beiden Schulen vermittelt, denn für ihn war Bildung materiale und formale Bildung zugleich.1077 Gerade für den Lateinunterricht war die formale Bildungstheorie für seine Begründbarkeit stets eine wichtige theoretische Basis. Auch wenn nach Thorndike immer wieder Studien durchgeführt wurden, die beweisen sollten, dass Latein die
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Weitere Fachbegriffe für beide Richtungen sind formale und materiale Bildungstheorie, oder auch „didaktischer Formalismus“ und „didaktischer Materialismus“, vgl. Bendorf: Bedingungen, S. 31–35; Hasselhorn/Gold: Pädagogische Psychologie, S. 140f. Vgl. Bendorf: Bedingungen, S. 31, 35; Hasselhorn/Gold: Pädagogische Psychologie, S. 140f. Vgl. Bendorf: Bedingungen, S. 32; Thorndike: Influence, 1923; Thorndike: Discipline, 1924; Haag/Stern: Non scholae sed vitae discimus?, S. 146f. Vgl. Lehmensick: Theorie. Vgl. Hasselhorn/Gold: Pädagogische Psychologie, S. 140. Vgl. ebenda, S. 141. Vgl. Bendorf: Bedingungen, S. 34; Mayer/Mayer: Klafki, S. 37–39.
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allgemeine Denkfähigkeit nicht fördere – die letzte stammt dem Jahr 20001078 –, konnte sich kaum eine Begründungsstrategie so gut halten, wie diejenige, dass die Beschäftigung mit Latein fächerübergreifende Fähigkeiten vermittle.1079 Dazu gehörten ebenso die Fähigkeit zum logischen Denken wie auch das Erlernen weiterer Fremdsprachen. Wichtig war für den Lateinunterricht die Präzisierung, die Hartmut von Hentig vornahm: Nicht dem Latein an sich verdanke man all diese Fähigkeiten, sondern der Art seiner Vermittlung.1080 Hierauf hatte auch schon Heinrich Roth 1957 verwiesen, der allerdings klar machte, dass Latein beweisen müsse, warum es zur Erlernung dieser Fähigkeiten besser beitrage als andere Fächer, vor allem als die modernen Fremdsprachen.1081 Auch Robinsohn verwies in seiner Schrift „Bildungsreform als Reform des Curriculum“ auf Thorndike und darauf, dass exakte Untersuchungen den „formaldisziplinierenden Wert“ von Lerninhalten in Frage gestellt hätten.1082 Dies passt zu Robinsohns kritischer Einstellung gegenüber dem altsprachlichen Unterricht. Interessant ist in diesem Zusammenhang Folgendes: Da die Theorie der formalen Bildung bis heute in Deutschland nicht eindeutig widerlegt wurde und der Teil der „methodischen Schulung“ in Ansätzen wie „Lernen lernen“ bis heute weiterlebt, kann auch das Argument, Latein sei eine Denkschule, in gewissem Grade im bildungspolitischen Diskurs verwendet werden. In den USA dagegen wurde aus den Ergebnissen Thorndikes die Konsequenz gezogen, dass Latein aus den Lehrplänen verschwand.1083 In England galt die Theorie der formalen Bildung ebenfalls als diskreditiert.1084 Aber in Deutschland haben wirkmächtige Pädagogen wie von Hentig das Argument „modernisiert“ und somit im Diskurs gehalten. So sagte beispielsweise Westphalen 1984: „Daß man mit Latein (und Mathematik) logisches Denken schlechthin lerne, läßt sich so nicht mehr behaupten. Auf der anderen Seite scheint unbestreitbar, daß im Fremdsprachenunterricht, speziell im Lateinunterricht, formale und strukturale Prinzipien so intensiv wie möglich eingeübt werden.“1085 Darüber hinaus darf die subjetive Wahrnehmung nicht unterschätzt werden, dass nämlich Lehrer und Schüler, die sich mit Latein beschäftigen, dabei durchaus empfinden, dass ihre allgemei-
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Vgl. Haag/Stern: Non scholae sed vitae discimus? Vgl. Hasselhorn/Gold: Pädagogische Psychologie, S. 151. Auch hierzu gab es empirische Studien, vgl. Vester, Helmut: Erfolgskontrolle und Latein in den USA. Ein Bericht über zwei empirische Untersuchungen zum Transferproblem, in: Gymnasium 81 (1974), S. 407– 414. Siehe Kapitel IV.3.3.1. Vgl. Roth: Pädagogische Psychologie, S. 318. Robinsohn: Bildungsreform, S. 51. Haag/Stern: Non scholae sed vitae discimus?, S. 146f. Vgl. Kazimias: Politics, S. 269f.; Ballard: Changing school, 1925, S. 152–168. Westphalen: Englisch und Latein, 1984, S. 18.
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ne Denkfähigkeit gefördert worden ist.1086 Dadurch reproduzieren sich diese Argumente über Lehrer-, Eltern- und Schülergenerationen hinweg.
5 Ausblick: Stabilisierung und alte Reflexe: Die 1970er Jahre Die Oberstufenreform von 1972 markierte das Ende der „langen sechziger Jahre“, in denen das deutsche Schulwesen so intensiv wie nie zuvor reformiert wurde. Danach herrschte eine Zeit lang reformerische Flaute. Dies hatte verschiedene Gründe. Zum einen mussten die angestoßenen Reformen auf Länderebene erst einmal in konkrete Politik umgesetzt werden. Zum anderen zerbrach der parteiübergreifende Konsens, der die Bildungsreformen der 1960er Jahren ermöglicht hatte.1087 Generell kam es bildungspolitisch zu einem „konservative[n] ‚roll back‘“ in der Bundesrepublik.1088 Hatte man sich in den 1960er Jahre auf Kompromisse einigen können, weil sich Bildungsexpansion und Chancengleichheit bis zu einem gewissen Grad auch ohne Abschaffung des Gymnasiums realisieren ließen, bewegten sich die Parteien in den 1970er Jahren wieder auseinander. Vor allem beim Thema „Gesamtschule“ verfielen die bildungspolitischen Akteure in die alten Lager: Gymnasium gegen Einheitsschule.1089 Um zu zeigen, dass trotz der Weiterentwicklung im Bildungswesen seit der Weimarer Republik die Vorurteile gegenüber dem jeweils anderen Konzept erstaunlich gleich blieben, ist die Entwicklung der Kooperativen Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen ein geeignetes Beispiel. Gesamtschulen in Deutschland gab es in zwei verschiedenen Formen, der integrierten und der kooperativen. Im Unterschied zur intergrietren Gesamtschule, in der Schüler mit unterschiedlichem Leistungsniveau gemeinsam lernen sollten, war die kooperative Gesamtschule ein „additiver Verbund von Hauptschule, Realschule und Gymnasium“, die zwar eine Schulleitung hatten und im besten Falle in einem Gebäudekomplex untergebracht sein sollten, aber dennoch drei 1086 1087
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So beispielsweise zu beobachten in der Erinnerung Bruno Snells an seine Schulzeit, vgl. Snell: Neun Tage Latein, S. 14. Vgl. Hahn: Re-education, S. 180; Kenkmann: Bildungsmisere, S. 414; Rudloff: Entdeckung, S. 244. Anne Rohstock konnte dies beispielsweise für die Diskussion um die Universitätsreform darlegen. Der Unterschied zwischen dem eher konservativen Bayern und dem progressiveren Hessen sei in den 1960er Jahren gering gewesen. Erst nach 1970 begannen sich die hochschulpolitischen Einstellungen auseinanderzuentwickeln. Vgl. „Rotes Hessen“ – „schwarzes Bayern“; Rohstock: Ordinarienuniversität, S. 299–403. Rohstock: „Rotes Hessen“ – „schwarzes Bayern“, S. 418; vgl. auch Rohstock: Ordinarienuniversität, S. 364–403. Vgl. auch Gass-Bolm: Gymnasium, S. 379–399. Vgl. Kenkmann: Bildungsmisere, S. 414.
5 Ausblick: Stabilisierung und alte Reflexe: Die 1970er Jahre
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getrennte Schulformen blieben.1090 1969 begann das SPD-geführte Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen damit, den Bau von Schulzentren zu planen, die alle drei Schulformen beherbergen sollten.1091 Die CDU wiederum fand Ende der 1960er Jahre Gefallen an der Idee der kooperativen Gesamtschule.1092 So stellte die CDU-Fraktion im November 1971 den Antrag, neben Schulversuchen mit integrierten Gesamtschulen auch Schulversuche mit der kooperativen Gesamtschule zuzulassen. Dadurch könnten „die drei schulformbezogenen Abschlußchancen verhältnismäßig lange offengehalten“ werden und so „soziale Integration, Chancengleichheit, Durchlässigkeit, Differenzierung und Individualisierung“ in der Sekundarstufe I sicherstellen.1093 Solche Positionen hätte die CDU noch zehn Jahre zuvor nicht vertreten. Dies zeigt, wie sehr Individualisierung, Chancengleichheit und Durchlässigkeit zum parteiübergreifenden Konsens geworden waren. Das Kultusministerium unter Minister Jürgen Girgensohn (SPD) wollte 1972 bereits die gesetzlichen Grundlagen für die kooperative Gesamtschule schaffen, hatte dabei aber Weiterführendes im Sinn: Girgensohn ließ keinen Zweifel daran, „dass die kooperation lediglich eine notwendige uebergangsphase zur integrierten gesamtschule sei [sic!]“. Man freue sich zwar, dass die CDU wichtige Grundlagen der Gesamtschule in ihr Programm übernehme, allerdings zwinge sie sie in das „konservative und starre procrustesbett der traditionellen schulformen“.1094 1974 wurden die Pläne des Kultusministeriums etwas konkreter.1095 Vor allem die Eltern gingen bereits bei diesem Vorentwurf auf die Barrikaden. Sie sahen darin die Abschaffung der Schulformen und die Einführung einer „Einheitsschule“.1096 1976 wurde es dann ernst: Im November wurde der Gesetzentwurf der sozial-liberalen Koalition veröffentlicht, der Kooperationen von Schulformen gesetzlich regeln sollte. In Schulzentren sollte es die Möglichkeit 1090 1091
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Landtag NRW, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/1215, 15.11.1971, LAV NRW, NW 202, Nr. 44; vgl. zum Prinzip der kooperativen Gesamtschulen Furck: Schulsystem, S. 331f. Vgl. Holhoff: 1970 Rekordsumme. Eine Milliarde DM für Schulbauten – Geplant: Zentren für 2000 Schüler. Gymnasien, Haupt- und Realschulen werden an einem Ort untergebracht, in: Westfälische Rundschau, 25.11.1969. Vgl. Landtag NRW, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/1215, 15.11.1971, LAV NRW, NW 202, Nr. 44. Vgl. Thränhardt: Bildungspolitik, S. 122. Landtag NRW, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/1215, 15.11.1971, LAV NRW, NW 202, Nr. 44; vgl. zum Prinzip der kooperativen Gesamtschulen Furck: Schulsystem, S. 331f. Girgensohn will Kooperation der Schulen, dpa, 19.1.1972, LAV NRW, NW 372, Nr. 516; Kooperative Schule in NRW. Plan: Orientierungsstufe, in: Westfälische Rundschau, 20.1.1972; Bis 1973: Die kooperative Schule. Kultusminister Girgensohn: Weiterer Schritt zur integrierten Gesamtschule, in: Westfälischer Anzeiger und Kurier, 20.1.1972. Landeselternschaft attackiert Girgensohn, dpa, 8.7.1974, LAV NRW, NW 372, Nr. 411. Landeselternschaft attackiert Girgensohn, dpa, 8.7.1974, LAV NRW, NW 372, Nr. 411; Elternverbände wollen Minister Girgensohns Schulreform-Pläne durch Verfassungsklage stoppen. Scharfe Schüsse gegen die „Einheitsschule“, in: Bild-Zeitung, 9.7.1974.
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geben, die verschiedenen Schularten in der Sekundarstufe I zu einer „organisatorischen einheit [sic!]“ zusammenzufassen.1097 Zudem sollte diesen kooperativen Schulen eine „Orientierungsstufe“ in der Unterstufe angegliedert werden, so dass die Schüler in den Klassen 5 und 6 noch gemeinsam lernen sollten und erst danach in die weiterführenden Schulen aufgeteilt werden würden.1098 SPD und FDP begründeten dies mit dem prognostizierten Geburtenrückgang: Vor allem im ländlichen Raum würden Schulschließungen drohen, da jede Schulform für sich nicht mehr ausgelastet sei.1099 In der Kooperativen Schule könnten Lern- und Lehrmittel besser genutzt werden und auch die Versorgung mit Fachlehrern wäre leichter. Explizit betonte man, dass die Kooperative Schule keine Gesamtschule sei und dass keinesfalls damit „das gymnasium [sic!] angetastet“ werde.1100 Die Regierungskoalition hoffe zudem auf die Zustimmung der CDU, weil sich diese ja selbst für die kooperative Gesamtschule eingesetzt hätte.1101 Die Reaktionen auf den Gesetzesentwurf waren jedoch ganz und gar nicht positiv: Neben der Elternschaft kritisierten auch die CDU und der Philologenverband den Entwurf scharf. Er sei ein „hinterlistiger gesetztestrick [sic!]“,1102 um die „Zerschlagung des Gymnasiums“1103 vorzubereiten, und stelle den „vorlaeufer einer einheitsschule“ dar, „die den eltern keine wahlmoeglichkeit mehr liesse [sic!]“.1104 Ganz unschuldig an dieser Lesart des Gesetzes waren die Sozialdemokraten allerdings nicht. Immerhin hatte Kultusminister Girgensohn bei der ersten Lesung des Gesetzes selbst noch einmal betont, dass für ihn die Kooperative Schule nur ein „Zwischenstadium zur integrierten Gesamtschule“ darstelle.1105 Die erste Berichterstattung in den Zeitungen war relativ ausgewogen. Der Kölner Stadtanzeiger titelte am 11. November: „‚Schulzentren besser nutzen‘. Vorstoß der Koalitionsfraktionen in NRW“.1106 Auch der Westfälische Anzeiger und Kurier war neutral in seiner Berichterstattung: „Koalition in NRW 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103
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Meldung dpa, 10.11.1976, LAV NRW, NW 372, Nr. 516. Ebenda. Ebenda; vgl. auch Über den Berg, in: Der Spiegel, 20.2.1978, S. 60–61, hier S. 60. Meldung dpa, 10.11.1976, LAV NRW, NW 372, Nr. 516. Ebenda; vgl. auch Über den Berg, in: Der Spiegel, 20.2.1978, S. 60–61, hier S. 60. Meldung dpa, 10.11.1976, LAV NRW, NW 372, Nr. 516. Lehrerverband mahnt. Gymnasium erhalten, in: Westfalen-Blatt, 9.11.1976; Lehrerverband: Koalition in NRW bläst zum Angriff auf Gymnasien, in: Westfälischer Anzeiger und Kurier, 10.11.1976. Meldung dpa, 10.11.1976, LAV NRW, NW 372, Nr. 516. Lauwarme Freude, in: Der Spiegel, 12.12.1976, S. 49. Laut der Zeitung Die Welt hatte Kultusminister Girgensohn 1975 vor der Wahl bestehende Pläne zur Einführung einer Gesamtschule gekippt – aus wahltaktischen Gründen und weil die FDP teilweise dagegen war, vgl. Gesamtschule durch die Hintertür, in: Die Welt, 15.11.1976. „Schulzentren besser nutzen“. Vorstoß der Koalitionsfraktionen in NRW, in: Kölner StadtAnzeiger, 11.11.1976.
5 Ausblick: Stabilisierung und alte Reflexe: Die 1970er Jahre
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setzt auf die kooperative Schule. SPD und FDP wollen durch Gesetzesvorhaben Bildungsangebot für ländlichen Raum sichern“.1107 Allerdings titelten bereits einige Zeitungen Schlagzeilen wie „Gesamtschule durch die Hintertür?“.1108 Die Lesart des Gesetzes, dass es sich dabei um die Einführung der „Gesamtschule durch die Hintertür“1109 und die Abschaffung des Gymnasiums handle, erlangte danach in der Tat schnell die Oberhand in der öffentlichen Berichterstattung.1110 In den folgenden Monaten lief eine Koalition aus CDU, Philologenverband und Elternschaft – unterstützt auch von den Kirchen1111 – Sturm gegen die Pläne der Regierung.1112 Die Pläne aktivierten in der öffentlichen Auseinandersetzung alte Schreckgespenster der bildungspolitischen Grundsatzdiskussionen: Die großen Schulzentren – spöttisch als „Mammutschulen“1113 oder „Schulfabriken“1114 bezeichnet – würden eine „Vermassung der so sehr von Festpunkten und Bezugspersonen abhängigen Schüler“ bedeuten.1115 Der Alleingang Nordrhein-
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Koalition in NRW setzt auf die kooperative Schule. SPD und FDP wollen durch Gesetzesvorhaben Bildungsangebot für ländlichen Raum sichern, in: Westfälischer Anzeiger und Kurier, 11.11.1976; ähnlich auch Neues Schulsystem geplant. SPD und FDP wollen in NRW Kooperativen und Orientierungsstufe, in: Kölner Rundschau, 11.11.1976; Gegen Schulstreß und zu lange Anfahrtswege. Koalition nimmt einschneidende Reform in Angriff – Philologenverband: Zwergschulen – Landeselternschaft: Mammutschulen, in: Aachener Nachrichten, 11.11.1976. Gesamtschule durch die Hintertür? Startschuß für große Veränderungen, in: Aachener Volkszeitung, 11.11.1976; Ziel: Gesamtschule, in: Rheinische Post, 11.11.1976; Lehrer: Versuch zur Einführung der Gesamtschule auf Umwegen. Opposition fürchtet weitere Belastung für die Kinder, in: Westfälische Nachrichten, 11.11.1976. Gesamtschule durch die Hintertür, in: Die Welt, 15.11.1976. Die Düsseldorfer Regierung rüttelt an den Gymnasien. Umstrittene Schul-Pläne in Nordrhein-Westfalen. Kooperation als Vorstufe der Integration, in: FAZ, 11.11.1976; Reitze, Paul: Revolution im Klassenzimmer. Durch die Schwächung der Mittelstufe zum Ende des Gymnasiums?, in: Rheinischer Merkur, 19.11.1976; „Geballten Widerstand“ gegen kooperative Schule angesagt. Zerschlagung der Gymnasien in NRW geplant, in: Westfälischer Anzeiger und Kurier, 24.11.1976; Schneider, Grete: Schulprobleme: Das Ende der Gymnasien, in: Sonntagsblatt, 28.11.1976; Das Gymnasium als Klassenfeind, in: Die Welt, 29.1.1977. Vgl. Katholische Nachrichten-Agentur, 12.11.1976, LAV NRW, NW 372, Nr. 516; Evangelische Kirche: Nein zur kooperativen Schule, in: Rheinische Post, 12.11.1976. Vgl. Philologenverband ruft zum Widerstand gegen die kooperative Schule auf, dpa, 12.12.1976, LAV NRW, NW 372, Nr. 516; Die Philologen machen Front. „Widerstand mit allen Mitteln“ gegen Düsseldorfer Schulpläne, in: FAZ, 15.12.1976; Gesamtschule durch die Hintertür, in: Die Welt, 15.11.1976; Aufmarsch der Gegner. Philologen und Schüler gegen „hinterlistige Gesetzestricks“, in: Rheinische Post, 24.11.1976. Die Düsseldorfer Regierung rüttelt an den Gymnasien. Umstrittene Schul-Pläne in Nordrhein-Westfalen. Kooperation als Vorstufe der Integration, in: FAZ, 11.11.1976. Das Elternrecht wird „mit Füßen getreten“. Schulpflegschaft gegen Koalitionspläne, in: Westfälische Nachrichten, 4.12.1976. Ebenda.
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Westfalens würde das „Schulwirrwarr“ verschlimmern1116 und eine „weitere Zersplitterung des Schulwesens in der Bundesrepublik“ herbeiführen.1117 Auch der alte Kampfbegriff der „Einheitsschule“, die die Regierung in Wahrheit erstreben würde, wurde wieder angeführt.1118 Auch die Einführung einer schulformunabhängigen Orientierungsstufe erregte einmal mehr den Unwillen vor allem der Eltern. Dies bedeute nämlich, „daß der Elternwille völlig ausgeschaltet werde“.1119 Außerdem beschwerte man sich, dass nach jahrelangen Reformen endlich Ruhe im Schulwesen einkehren sollte.1120 Zudem wollte die Düsseldorfer Regierung nur noch Schulneubauten finanzieren und keine alten Schulen sanieren. Da als Neubauten nur noch Kooperative Schulen zugelassen werden würden, werde das Gymnasium hinterrücks ausbluten.1121 Die SPD reagierte auf die Kritik ebenfalls mit gewohnten Parolen. Der Widerstand der Philologen könne nur „in einer Standesideologie begründet sein“.1122 Die Verteidiger des Gymnasiums wiederum warfen den Gesamtschulbefürwortern vor, sie würden immer noch behaupten, dass das Gymnasium eine „Standesschule“ sei, obwohl dies gar nicht mehr stimme. Die Kinder der „unteren Mittelschicht“ würden mittlerweile den Löwenanteil der Gymnasiasten ausmachen und sogar in der Industriearbeiterstadt Gelsenkirchen wünsche sich über die Hälfte der Einwohner explizit das Gymnasium. Das Gymnasium sei eben „extrem anpassungsfähig“.1123 Die GEW im Übrigen lobte zwar die Pläne der Regierung, ihr gingen sie jedoch noch nicht weit genug. Die Schranken zwischen den Schulformen blieben ja bestehen, weswegen man nur „lauwarme Freude“ empfinde.1124 Bei einem reinen verbalen Schlagabtausch sollte es aber nicht bleiben. Zunächst erwog die CDU eine Verfassungsklage, weil die nordrhein-westfälische 1116 1117
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1121 1122 1123 1124
Schneider, Grete: Schulprobleme: Das Ende der Gymnasien, in: Sonntagsblatt, 28.11.1976. Die Düsseldorfer Regierung rüttelt an den Gymnasien. Umstrittene Schul-Pläne in Nordrhein-Westfalen. Kooperation als Vorstufe der Integration, in: FAZ, 11.11.1976; vgl. Gesamtschule durch die Hintertür, in: Die Welt, 15.11.1976. Gesamtschule durch die Hintertür, in: Die Welt, 15.11.1976; Kultusausschuß hört Gremien an: Kooperative Schule weiter umstritten, in: Westfälische Rundschau, 27.1.1977. Aufmarsch der Gegner. Philologen und Schüler gegen „hinterlistige Gesetzestricks“, in: Rheinische Post, 24.11.1976; Opposition im Landtag lehnt „Mogelpackung“ ab. Die Kooperative Schule bleibt umstritten, in: Westfälische Nachrichten, 26.11.1976; Bewerunge, Lothar: Knapp an der Verfassung vorbei. Die Düsseldorfer Koalition betreibt eine hintergründige Schulreform, in: FAZ, 21.12.1976. Vgl. Weber, Hans: Bald keine Sextaner und Quintaner mehr in NRW? Die kooperative Schule im Widerstreit der Meinungen, in: General-Anzeiger für Bonn und Umgebung, 27.12.1976. Vgl. Bewerunge, Lothar: Knapp an der Verfassung vorbei. Die Düsseldorfer Koalition betreibt eine hintergründige Schulreform, in: FAZ, 21.12.1976. Aufmarsch der Gegner. Philologen und Schüler gegen „hinterlistige Gesetzestricks“, in: Rheinische Post, 24.11.1976. Zehm, Günther: Das Gymnasium als Klassen-Feind, in: Die Welt, 29.1.1977. Lauwarme Freude, in: Der Spiegel, 13.12.1976.
5 Ausblick: Stabilisierung und alte Reflexe: Die 1970er Jahre
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Verfassung das Bestehen des gegliederten Schulwesens garantierte.1125 Schließlich jedoch brachte ein Bürgerentscheid das Gesetz zu Fall. Genauer gesagt verzichtete die Regierung auf ein Volksbegehren, nachdem CDU, Philologenverband und Elternvereinigungen mit ihrer Volksinitiative „Stop Koop“ 3,6 Millionen Unterschriften gegen die Einführung der Kooperativen Schule sammeln konnten.1126 Insgesamt zeigt dieses Fallbeispiel deutlich, dass die Zeit des parteiübergreifenden Konsenses vorbei war. Die Abschaffung des Gymnasiums – selbst wenn sie nur befürchtet wurde – war für CDU, Elternschaft und Philologenverband die rote Linie. Beide Lager verfielen auch diskursiv in alte Grabenkämpfe. Das Verhältnis der Altphilologenschaft zur Gesamtschule ist ebenfalls aufschlussreich. Einerseits wollte man an diesem Schultyp auch präsent sein. Passend dazu hatte man sich in der Neuausrichtung ja auch dem Ideal der Chancengleichheit verschrieben und sah ja gerade in Latein als Fach eine Möglichkeit, die Schüler aus den niederen sozialen Schichten gezielt zu fördern. Andererseits konnten viele Altphilologen den Gestus des Elitären nicht ablegen. Die Vorstellung, dass gerade die Schüler der Gesamtschulen aus niederen sozialen Schichten kämen und über einen nicht ganz so großen Intellekt verfügten wie die Schüler am Gymnasium, war weit verbreitet.1127 Das grundständige Latein wurde sogar auf einer Altphilologentagung in Bayern 1976 als „eine Bastion – möglicherweise die Bastion – gegen die integrierte Gesamtschule“ bezeichnet.1128 Mit diesem Argument wollte man unter anderem bei Eltern für Latein werben. Dies zeigt einmal mehr, wie sehr das Schicksal des Faches Latein mit dem Gymnasium nicht nur verbunden war, sondern auch bewusst verbunden wurde. Dies zeigt auch ein weiteres Beispiel aus Nordrhein-Westfalen. Dort hatte sich Ende der 1970er Jahre die Gesamtschule als vierter regulärer Schultyp etabliert. Nun musste es dafür auch offizielle Lehrpläne geben. 1979 nahm die vom Kultusministerium einberufene Lehrplankommission für das Fach Latein ihre Arbeit auf. Dabei stand sie laut Protokoll vor verschiedenen Problemen. Da Latein ein reines Gymnasialfach sei, gebe es keine Lehrpläne, die man sich zum Vorbild nehmen könne. 1125
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1127 1128
Vgl. Bewerunge, Lothar: Knapp an der Verfassung vorbei. Die Düsseldorfer Koalition betreibt eine hintergründige Schulreform, in: FAZ, 21.12.1976; Weber, Hans: Bald keine Sextaner und Quintaner mehr in NRW? Die kooperative Schule im Widerstreit der Meinungen, in: General-Anzeiger für Bonn und Umgebung, 27.12.1976; Koch, Norbert: Köppler erwägt Verfassungsklage gegen die „Kooperative Schule“, in: Die Welt, 28.1.1977. Vgl. Kraus, Josef: STOPP KOOP! Vor 25 Jahren verhinderten Bürger in NRW die „Kooperative Gesamtschule“, in: Rheinischer Merkur, 27.2.2003; Über den Berg, in: Der Spiegel, 20.2.1978, S. 60–61, hier wird auch zusammengestellt, wie die Initiatoren der Volksinitiative mit nicht immer ganz lauteren Mitteln ihre Agitation voranbrachten. Vgl. Bering (Vorsitzender des DAV NRW): Bericht zur Lage, 28.9.1970, LAV NRW, NW 382, Nr. 601. Numberger, K.: Entscheidung für Latein (Referat, gehalten auf der Altphilologentagung in Marktoberdorf), in: ASiU 23,1/2 (1976), S. 14–21, hier S. 19.
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IV. Die Bundesrepublik Deutschland
Französisch gebe es immerhin auch an der Realschule, so dass die Romanisten sich daran orientieren könnten.1129 Zudem war man sich nicht sicher, an wen sich der Lateinunterricht richten sollte. Auf der einen Seite müsse er den Ansprüchen des Latinums genügen, auf der anderen Seite dürfe ein zu anspruchsvoller Unterricht nicht die Abschlüsse von Haupt- und Realschülern durch mangelhafte bis ungenügende Noten gefährden. Als drittes Problem hielt man fest, dass es der Lateinunterricht als Wahlpflichtfach in Konkurrenz mit attraktiven anderen Möglichkeiten sehr schwer haben werde. Das Erlernen einer Fremdsprache sei mühsam, koste viel Zeit und zwinge die Schüler, „still[zu]sitzen“ und „gut zu[zu]hören“.1130 Insgesamt erwecken diese Protokolle den Eindruck, als wäre die Motivation der Kommissionsmitglieder, Latein an der Gesamtschule als attraktive Wahloption auszugestalten, eher verhalten gewesen. So liest sich dann auch der Entwurf, den die Arbeitsgruppe im Juli 1981 dem Kultusministerium vorlegte. „Die folgenden Darlegungen betreffen [. . .] nur einen sehr kleinen Teil der Schülerschaft“, heißt es beispielsweise gleich zu Beginn. Latein sei ein Fach, „für das man zu Hause zumindest Vokabeln lernen“ müsse, bei dem aber „der Schüler zu Hause keine Hilfe findet“.1131 Dies impliziert vermutlich die Vorstellung, dass auf eine Gesamtschule nur Kinder aus Elternhäuser gehen würden, in denen kein Elternteil Latein gelernt habe, dass die Kinder also aus nicht-akademischen Elternhäusern stammten. Die zuständigen Beamten im Kultusministerium waren mit dem Entwurf auch nicht zufrieden. Die „Lateiner“ hätten „zuviel Zurückhaltung gezeigt, Latein um seiner selbst willen hat auch Bedeutung für die Schüler an der Gesamtschule!“ Außerdem seien die Ausführungen, warum ein Gesamtschüler Latein wählen solle, „sehr elitär, fast abschreckend“.1132 Die überarbeitete Version war deutlich motivierter. Demnach habe Latein an der Gesamtschule vor allem die Aufgabe, die Schüler in ihrer „sprachlichen Kompetenz zu fördern“ und eine „Sprachreflexion“ einzuüben. Latein sei ein abgeschlossenes Sprachsystem und verbessere die Fähigkeiten in der Muttersprache. Nicht zuletzt fördere Latein das Verständnis und Erlernen moderner Fremdsprachen. Sich inhaltlich mit den antiken Texten auseinanderzusetzen, sei für die Schüler deshalb wichtig, da sie sich in eine Kultur versetzen müssten, „die insgesamt in einer großen Distanz zum heutigen Leben“ stehe. Dies führe „zu einer umfassenderen Beurteilung und Einschätzung der heutigen Kultur und Gesellschaft und des eigenen Standpunktes darin“. Daher leiste Latein einen Beitrag „zur Selbstorientierung und zur Entfaltung der Persönlichkeit“.1133 1129 1130 1131 1132 1133
Vgl. Erste Sitzung der neu eingerichteten Lehrplangruppe (Arbeitsgruppe) für die Wahlpflichtbereiche Französisch und Latein, 21.8.1978, LAV NRW, NW 526, Nr. 326. Sitzung der Lehrplangruppe Latein, 13.12.1979, LAV NRW, NW 526, Nr. 326. Entwurf Lehrplan Latein, 24.7.1981, LAV NRW, NW 526, Nr. 440. Dienstbesprechung zum Lehrplanentwurf Latein, Gesamtschule, im Kultusministerium, 4.9.1981, LAV NRW, NW 526, Nr. 440. Aufgaben und Ziele des Faches Latein [ohne Datum], LAV NRW, NW 526, Nr. 440.
5 Ausblick: Stabilisierung und alte Reflexe: Die 1970er Jahre
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Diese Argumente entsprechen ganz sowohl den formalen also auch den inhaltlichen Aspekten, die dem Fach Latein seit Ende der 1960er Jahre vornehmlich zugeschrieben wurden. Sprachliches Reflexionsvermögen und die „Antike als das nächste Fremde“ waren in den 1970er Jahren zu den gebräuchlichsten Argumenten geworden. Statt Auslese und Vermittlung überzeitlicher Werte waren Sprachkompetenz und Selbstentfaltung zu den maßgebenden Stichworten geworden – zumindest offiziell. Denn es kann nicht übersehen werden, dass das elitäre Argument des Faches Latein auch Ende der 1970er Jahre vor allem bei den Lehrern noch eine wichtige Rolle spielte.
V. Fazit Die Geschichte des altsprachlichen Unterrichts im Allgemeinen und des Lateinunterrichts im Besonderen wird oft als Verlustgeschichte erzählt. Betrachtet man die harten Fakten, scheint dies durchaus berechtigt: In den letzten 100 Jahren sank die Anzahl der Wochenstunden am Gymnasium für das Fach Latein (als erste Fremdsprache) um mehr als zwei Drittel. Ebenso wurde Latein vom unausweichlichen Abiturfach zum Wahlfach auf der gymnasialen Oberstufe „degradiert“. Allerdings kann man diese Geschichte in Deutschland auch als Erfolgsgeschichte erzählen: Gerade das Fach Latein konnte sich über viele politische und kulturelle Umbrüche hinweg als festes Unterrichtsfach an deutschen Gymnasien halten und ist bis heute diejenige Fremdsprache, die Schüler am dritthäufigsten lernen. Gerade im Vergleich zu England, wo die alten Sprachen als Fremdsprache kein Bestandteil des offiziellen Lehrplans mehr sind, tritt diese Besonderheit hervor. Zusammenfassend lassen sich folgende ausschlaggebenden Komponenten für diese Beharrungskraft isolieren und beschreiben: Akteure und Beschaffenheit des deutschen Bildungswesens, gesellschaftliche Leitvorstellungen und Argumentationsstrategien sowie das Verhältnis von altsprachlicher und humanistischer Bildung. Akteure und Beschaffenheit des deutschen Bildungswesens
In den hier untersuchten 60 Jahren gab es immer wieder eine nicht geringe Anzahl von Akteuren, die sich für die Bewahrung des altsprachlichen Unterrichts einsetzten. Die alten Sprachen werden bis heute ausschließlich an Schulformen gelehrt, die zum Abitur führen, weswegen der Einsatz für den altsprachlichen Unterricht oftmals fast deckungsgleich mit dem Einsetzen für die Schulform des Gymnasiums war. Daher traten für den altsprachlichen Unterricht nicht nur der Fachverband für alte Sprachen, der DAV, ein, sondern auch diejenigen Lehrerverbände, die die Interessen der Lehrer an höheren Schulen vertraten. Universitäten, Kirchen, Vertreter der Ministerialbürokratie sowie Eltern konnten als weitere Akteure ausgemacht werden, die sich immer wieder für den altsprachlichen Unterricht einsetzten. Die Motive dafür blieben ebenfalls erstaunlich gleich. Gerade der DAV betrieb eine erfolgreiche Lobbypolitik und zog die Motivation dafür unter anderem aus einem gewissen Eigeninteresse: Die Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes stand und fiel mit der Sicherung der alten Sprachen im offiziellen Lehrplan der allgemeinbildenden Schulen. Darüber hinaus kann der Lateinunterricht – und dies gerade auch bei den Universitäten, der Ministerialbürokratie und den Eltern – als Mittel zur sozialen Distinktion gewertet werden. Latein war in ihren Augen ein vermeintlich anspruchsvolles Fach, das den Zugangsweg zur Universität und damit zu einer gehobenen gesellschaftlichen Position exklusiv https://doi.org/9783110603408-005
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V. Fazit
hielt, und so die eigene herausgehobene Stellung absicherte. Diese Motivation ist auch bei Eltern zu spüren, die sich durch eine exklusivere Bildung ihrer Kinder, für diese einen gewissen Wettbewerbsvorteil im Kampf um die gesellschaftlichen Positionen erhofften. Für die Ministerialbürokratie galt dies gleichermaßen – dies wurde besonders deutlich in den verschiedenen Diskussionen um die Latinumspflicht für Juristen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die eigene Bildungsbiographie auch eine Rolle spielte. Den eigenen erfolgreichen Weg idealisierend, meinten viele, dass diejenige Bildung, die einem selbst zuteilwurde, der richtige Weg zur erfolgreichen Berufstätigkeit darstellte. Diese Pressure-Groups für den altsprachlichen Unterricht waren darüber hinaus gut vernetzt: Zwischen Universitäten, Fachverbänden und Ministerialbeamten gab es einen regen persönlichen und personellen Austausch. Diskursiv machte sich ein permanentes Krisenempfinden bezüglich des altsprachlichen Unterrichts sowie des Gymnasiums im Allgemeinen bemerkbar. Allerdings sorgte diese Kontinuität des Krisenempfindens dafür, dass umtriebige und kreative Fachdidaktiker eine fast stetige Erneuerung des altsprachlichen Unterrichts betrieben. Auf Kritik konnte daher meist souverän reagiert werden. Dabei kann der Lateinunterricht nicht losgelöst vom deutschen Bildungssystem im Allgemeinen gedacht werden. Die durch die veränderten Anforderungen des Arbeitsmarktes notwendige Expansion des höheren Bildungswesens machte eine gewisse Durchlässigkeit und Angleichung zwischen den Schulformen und den einzelnen Ländern nötig. In der Frage danach, wie diese Bildungsexpansion zu erlangen sei, gab es über die gesamten 60 Jahre eine Art konstante Konkurrenz zwischen systemimmanenten und systemtransformierenden Reformern. Dabei muss konstatiert werden, dass eine Veränderung des deutschen Schulwesens nur im bestehenden System durchführbar war. Dies bedeutete die Angleichung und den Ausbau des bestehenden Schulwesens, aber keine grundlegende Änderung des Systems. Latein als erste Fremdsprache war dabei eine traditionelle Komponente, die die systemimmanenten Schulreformer zu opfern nicht bereit waren, die aber zugleich eine weitergehende Vereinheitlichung unmöglich machte. Dass also die systemimmanenten Reformer stets die Oberhand behielten, begünstigte auch das Weiterbestehen des altsprachlichen Unterrichts. Umgekehrt wurde diese Tradition des altsprachlichen Gymnasiums mit Latein als erster Fremdsprache auch genutzt, um systemischen Veränderungen von Beginn an das Wasser abzugraben. Das föderale Prinzip begünstigte darüber hinaus diese Reformvariante. Unter den vielen unterschiedlichen Bildungs- und Schultraditionen der Länder musste ein Kompromiss gefunden werden. Länder wie Bayern oder Rheinland-Pfalz, die an der Tradition des altsprachlichen Gymnasiums unter allen Umständen festhalten wollten, bewirkten damit, dass bei Reformen häufig die eher konservative Variante gewählt wurde. Wegen der Vereinheitlichung zwischen den Ländern konnten andere, selbst wenn sie gewollt hätten, gar keine großen systemischen
V. Fazit
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Veränderungen durchführen. Dass die „Zentrifugalkräfte des Föderalismus“1 einer völlig neuen Ausrichtung der Bildungspolitik entgegenwirkten, wurde beispielsweise in den 1960er Jahren deutlich, als trotz diskursiver Übermacht der Bildungsplaner und Reformpädagogen die Einführung der Gesamtschule als alleinige Schulform nicht durchgesetzt werden konnte.2 Auch in der Diskussion um eine Neufassung des Latinums in den 1960er Jahren wird dies deutlich: Der Vorsitzende des Ausschusses, der für eine starke Vereinfachung plädierte, konnte seine Pläne gegen die Kollegen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen nicht durchsetzen. Zudem spielte die Konzeption des deutschen Bildungswesens als Vergabeinstitution von Berechtigungen eine große Rolle für die Beharrungskraft des Lateinunterrichts. Die Ausdifferenzierung und Vereinheitlichung der bürokratischen Strukturen war ein enormer Aufwand. Dies zeigt sich besonders eindrücklich an der Entwicklung des Latinums. Lateinkenntnisse als Studienvoraussetzung stellten wiederum eine gewisse Bestandsgarantie für den Lateinunterricht dar. Auf den Bestand des Latinums konnten sich die Altphilologen einigermaßen verlassen: Ein so mühsam errungener Kompromiss würde so bald nicht wieder abgeschafft werden. Die Lehrerverbände der höheren Schulen waren vor allem in den 1920er und den 1950er Jahren die dominierenden Gruppen, die bei konkreten Bildungsreformen der Politik als Berater dienten. In den 1960er Jahren gewannen schließlich vermeintlich neutrale Experten großen Einfluss auf die Bildungspolitik. Dabei ist das Verhältnis zwischen Neusprachlern, Altsprachlern und Naturwissenschaftlern interessant: Gemeinsam kämpfte man gegen die Einebnung der höheren Schule in ein Gesamtschulsystem, das den Verlust der eigenen, gegenüber den Volksschullehrern gehobenen Stellung bedeutet hätte. Im Kampf um das Attribut „humanistisch“ trat man schließlich in Konkurrenz zueinander. Neusprachler und Naturwissenschaftler waren stets darum bemüht zu beweisen, dass auch ihre Fächer in der Lage seien, „humanistisch“ zu bilden. Gesellschaftliche Leitvorstellungen und Argumentationsstrategien
Der altsprachliche Unterricht erwies sich in seiner Selbstlegitimation als äußerst flexibel. Zu seiner Rechtfertigung wurde eine Vielzahl an Argumenten angeführt, die, je nachdem welche gesellschaftliche Leitvorstellung gerade vorherrschend war, fast beliebig einmal stärker, einmal schwächer betont werden konnten. In der Weimarer Republik war dabei das Leitbild des „Nationalen“ dominant, dem sich die Fremdsprache Latein dahingehend anpasste, dass jede Lateinstunde auch eine Deutschstunde sei, weil die Beschäftigung mit der antiken Sprache auch die Muttersprache schule. Selbst für die rassisch-völkischen „Ideale“ des 1 2
Stier: Staat, S. 409. Tenorth: Bildungsexpertise, S. 814.
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V. Fazit
Nationalsozialismus fand vor allem der Lateinunterricht passende Argumentationsstrategien. Von der Blutsverwandtschaft der Griechen mit den Germanen bis hin zur disziplinierenden Wirkung des Lateinunterrichts wurden Argumente angeführt, die aus dem idealistisch-intellektuellen Gymnasialfach ein strammes nationalsozialistisches Erziehungsinstrument machten. In der Nachkriegszeit erhielt die lateinische Sprache seine ideelle Bedeutung als „Spenderin ewig gültiger Werte“ zurück und wurde als „Muttersprache des Abendlandes“ das Fach der neuen gesellschaftlichen Leitvorstellung, des „Christlichen Humanismus“. Eine in diesem Geist erzogene Elite sollte die junge Bundesrepublik vor erneuter Barbarei bewahren. Kaum 15 Jahre später machte das Fach Latein eine weitere argumentative Metamorphose durch: Chancengleichheit und Pluralismus als neue gesellschaftliche Leitvorstellungen bescherten dem Lateinunterricht seine größte Sinnkrise und zwangen seine Vertreter zu einer grundlegenden Neuaufstellung. Es geriet nämlich ein Argument in Verruf, das von den 1920er bis in die 1950er Jahre immer wieder für den Lateinunterricht bemüht worden war: das Argument, dass das anspruchsvolle Fach Latein ein hervorragendes Instrument zur Auslese sei. Nun wurde kritisiert, dass das Gymnasium vor allem Schüler aus ländlichen Regionen und Arbeitervierteln abschrecke und „der Lateinunterricht die Klippe sei, an der die absolute Mehrheit der vorzeitigen Schulabgänger“ scheitere.3 Diese Argumente waren zwar nicht neu, dass sie nun durchschlagende Kraft erhielten und die Auslese diskursiv diskreditiert wurde, lag zum einen am ausdrücklichen politischen Willen, die Abiturientenzahl zu steigern, zum anderen an einem veränderten Verständnis von Begabung. In Deutschland herrschte bis in die 1950er Jahre noch die Annahme vor, dass Begabung oder Intellekt angeboren seien und man alles dafür tun müsse, begabten Schülern den Zugang zur höheren Bildung zu ermöglichen (z. B. durch Schulgeldbefreiung oder Lehrmittelfreiheit). In den 1960er Jahren änderte sich dies: Die Soziologie machte dafür sensibel, dass Begabung nicht als biologische Kategorie, sondern schichtspezifisch definiert werde. Das traditionelle Schulsystem mache den niederen Schichten den Aufstieg so schwer, weil es die soziale Stellung des Schülers nicht bestimme, sondern nur die familiäre Schichtzugehörigkeit bestätige und somit reproduziere. Aber auch hier hatten die Altphilologen neue Argumente bereit: Latein sei genau das richtige Fach für die „gymnasialferne Bevölkerungsschicht“, weil es „die milieubedingten Sprachbarrieren“ abbauen helfe.4 Diese bewusste Imageänderung des Lateinunterrichts stellte einen wirklichen Bruch dar. Allerdings muss konstatiert werden, dass der Faktor der sozialen Distinktion zwar aus dem offiziellen Diskurs, aber nicht aus dem generellen 3 4
Abitur – Die letzte Hürde, in: Der Spiegel, 9.12.1964, S. 73–87, hier S. 78. Clasen, Adolf: Wozu Latein? Wie ist sein Platz im modernen Curriculum zu begründen?, in: MDAV 13,1 (1970), S. 18–27, hier S. 22.
V. Fazit
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Denken von Lehrern und Eltern verschwunden war. Besonders in der Auseinandersetzung um die Gesamtschule wurde einmal mehr deutlich, dass das Fach Latein als Fach für die leistungsstarken Schüler betrachtet wurde. Viele Argumente für den altsprachlichen Unterricht im Allgemeinen und den Lateinunterricht im Besonderen blieben allerdings erstaunlich konstant. Besonders diejenigen Argumente, die dem Lateinunterricht eine gewisse Nützlichkeit attestierten, sind hierbei besonders hervorzuheben: Latein sei gut für das Erlernen weiterer Fremdsprachen, den exakteren Gebrauch der Muttersprache oder schule das logische Denkvermögen. Auch wenn diese Behauptungen nicht wissenschaftlich bewiesen sind oder sogar widerlegt wurden, konnten sich diese Argumentationsmuster bewahren. Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen Fachleuten an den Universitäten und im DAV und professionellen Laien wie Schuldirektoren, Lehrern oder Ministerialbeamten. Es fällt nämlich auf, dass Erstere seit den 1970er Jahren wesentlich differenzierter für den altsprachlichen Unterricht argumentierten, während Letztere meist die üblichen plakativen Argumente verwendeten. Dabei sollte man diese aber nicht als Plattitüden abtun. Jene Argumente konnten sich auch deshalb so lange im Diskurs halten, weil ihre Vertreter aufgrund ihrer eigenen Lernbiographie authentisch empfanden, dass sie durch Latein andere Fremdsprachen leichter gelernt oder ihr logisches Denkvermögen trainiert hätten. Paradox ist dabei, dass es den Vertretern des altsprachlichen Unterrichts auch immer darum ging, dass die alten Sprachen eine gewisse zweckfreie Allgemeinbildung vermitteln sollten und keine altphilologische Fachausbildung. Fächer, die einem bloßen „Utilitarismus“ dienten, galten als minderwertig. Viele Argumente, die allerdings bis heute angeführt werden, haben jedoch genau diesen „utilitaristischen“ Charakter. Wichtig ist darüber hinaus, dass Latein- und Griechischunterricht fremdsprachlicher Unterricht blieb. Zwar wurde die kulturkundliche Komponente im Unterricht gestärkt, aber die Fähigkeit, aus der fremden Sprache zu übersetzen, blieb das eigentliche Ziel des Unterrichts. Die Vorstellung, dass das Sprachenerlernen auch an Strukturen und nicht nur durch Nachahmung möglich und sinnvoll sei, war dabei maßgeblich an die Theorie der formalen Bildung geknüpft. Eine Bildungstheorie, die auf Wilhelm von Humboldt zurückzuführen ist und vor allem in Deutschland trotz vielerlei Kritik gerade aus Amerika immer wieder von deutschen Altphilologen erneuert und angepasst wurde. Diese vermeintlich wissenschaftliche Basis für die Sinnhaftigkeit altsprachlichen Unterrichts stellt ebenfalls einen wichtigen Faktor für die Beharrungskraft des altsprachlichen Unterrichts dar. Das Verhältnis von altsprachlicher Bildung und humanistischer Bildung
Ein wichtiges Argument für den altsprachlichen Unterricht war schließlich auch, dass er „humanistisch bilde“. Auch wenn die Begriffe „humanistische Bildung“
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V. Fazit
und „Humanismus“ von ihren Verwendern nicht immer deckungsgleich gebraucht wurden, kann doch konstatiert werden, dass sie die meiste Zeit überaus positiv konnotiert waren: „Gute“ Bildung war „humanistisch“. Der altsprachliche Unterricht hatte dadurch einen gewissen Wettbewerbsvorteil, war er doch das Kernelement des humboldtschen neuhumanistischen Gymnasiums gewesen. Dies hatte dafür gesorgt, dass lange Zeit „humanistisch“ und „altsprachlich“ synonym gebraucht wurden. In den 1920er Jahren war dies fast durchweg der Fall. Zwar hatten vor allem die systemtransformierenden Reformer sowie die Neusprachler versucht, den Humanismusbegriff vom altsprachlichen Unterricht zu trennen und auf andere Schulformen und Fächer auszuweiten, ihre Versuche blieben aber erfolglos. Was sich allerdings in den 1920er Jahren änderte, war der Fächerzuschnitt des Gymnasiums: Auch wenn die alten Sprachen die typenprägenden Fächer blieben, wurden ihre Stunden gekürzt und die der anderen Fächer erhöht. Die Gymnasiallehrer, die lange Zeit alle studierte Altphilologen gewesen waren, begannen sich in verschiedene Schulfächer auszudifferenzieren. Die Gründung des DAV 1925 ist ein Zeichen dafür, dass sich die Altsprachler nicht mehr als die Gymnasiallehrer, sondern als Lehrer eines gymnasialen Faches begriffen. Die Zeit des Nationalsozialismus stellte insofern eine Ausnahme dar, als die Nationalsozialisten erstmals aktiv versuchten, die positive Konnotation des Begriffs „Humanismus“ zu brechen. Dabei forcierten sie auch die Trennung des altsprachlichen Unterrichts vom Begriff der humanistischen Bildung. Denn auch wenn der Humanismus und alle geistigen Ideen, die damit verbunden waren, mit der nationalsozialistischen Ideologie unvereinbar waren, konnte der altsprachliche Unterricht – hierbei vor allem der Lateinunterricht – sowie die Antike als kulturelles Erbe sehr wohl auch für eine nationalsozialistische Erziehung passend interpretiert werden. In der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren kam es zu einer Renaissance des Begriffs Humanismus: Im Leitbild des „Christlichen Humanismus“ verschmolzen die beiden vom Nationalsozialismus unterdrückten Philosophien zu einer Chiffre, die einen geistigen Neuanfang versprach, indem sie sich auf „gute“ deutsche Traditionen stützte. Auch wenn das altsprachliche Gymnasium dieses Leitbild besonders gut vermittelte, wurde der Begriff „Gymnasium“ für alle höheren Schulen verwendet und durch die offizielle Einführung des „altsprachlichen Gymnasiums“ die Fähigkeit, „humanistisch“ zu bilden, vom traditionellen Gymnasium auf alle höheren Schulen ausgeweitet. Es dauerte aber noch bis in die späten 1960er Jahre, bis auch die Altphilologen in ihrem Selbstverständnis darauf verzichteten, humanistische Bildung exklusiv mit dem altsprachlichen Unterricht zu identifizieren. Aber der Glanz des Lateinischen und Griechischen, die ursprünglichen humboldtschen humanistischen Fächer zu sein, blieb ihnen erhalten. Den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg waren die alten Sprachen in der landläufigen
V. Fazit
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Vorstellung besonders „humanistisch“ bildend. Ebenso blieb das Gymnasium, wo auch immer dessen Schwerpunkt liegen mochte, wegen seiner ursprünglichen Konzeption als Schule des Neuhumanismus die Schulart der „humanistischen Bildung“.5 Dies ist sicherlich ein Unterschied zu England, wo die neuhumanistische Bildungstheorie keine Rolle gespielt hatte.6 Diese in Deutschland fast durchweg positiv konnotierte Bildungsvorstellung strahlte wegen ihrer geschichtlichen Verbundenheit immer auf den altsprachlichen Unterricht und das Gymnasium ab und stellt somit sicherlich einen Grund für die Beharrungskraft beider dar. Denn der „Rekurs auf Wilhelm von Humboldt und den Neuhumanismus war im 20. Jahrhundert eine Art Allzweckwaffe“.7 In der Person von Humboldts trafen sich universitäre und gymnasiale Vorstellungen von „guter“ Bildung. Für das altsprachlich ausgerichtete Gymnasium spielte Humboldt darüber hinaus eine große Rolle, weil er sein Gymnasium explizit als altsprachliches konzipiert hatte. Dabei war es Humboldt nicht in erster Linie um die Antike als wertvollen Bildungsinhalt gegangen, sondern vor allem um die formale Bildung, die durch die Beschäftigung mit den alten Sprachen erzielt werde. Sylvia Paletschek hat diesen „Mythos Humboldt“ für deutsche Universitäten analysiert und als Erfindung des 20. Jahrhunderts dekonstruiert.8 Für das Gymnasium und den altsprachlichen Unterricht kann der „Mythos Humboldt“ in gewisser Weise als weniger konstruiert gelten als für die deutschen Universitäten. Fest steht jedoch, dass der Rekurs auf Humboldt für den altsprachlichen Unterricht immer eine Art ideelle Bestandsgarantie darstellte. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis der Fächer Latein und Griechisch zueinander. Lange Zeit wurde Griechisch als das eigentlich „humanistische“ Fach angesehen – und das obwohl rein quantitativ der Lateinunterricht an Stundenzahl und Lernenden dem Griechischunterricht immer überlegen war. Die Argumentation über ideelle Werte bezog sich bis in die 1940er Jahre nur auf das Griechische. Das Lateinische hatte eher handwerklichen Charakter. Erst als in der Nachkriegszeit dem Lateinunterricht unter dem „Christlichen Humanismus“ als „Muttersprache des Abendlandes“ eine große sinnstiftende Rolle zugesprochen wurde, nahm die Fixierung auf das Griechische ab. Dies war ein wichtiger Einschnitt, denn in den Folgejahren konnte altsprachliche Bildung auch dann als wertvoll, gewinnbringend und letztendlich „humanistisch“ angesehen werden, wenn sie sich nur auf Latein bezog. So konnten sich die Altphilologen in den 1960er Jahren auch auf die Strategie verlegen, auf die Beibehaltung und Stabilisierung des Lateinunterrichts an allen 5 6 7 8
Vgl. Muhlack: Humanismus, S. 196. Vgl. Olschewski: Humanistische Bildung, S. 3. Paletschek: Erfindung, S. 204. Vgl. ebenda, v. a. S. 192–195. Zur Diskussion vgl. Langewiesche: Universität; Eichler: Wahrheit.
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V. Fazit
Formen der höheren Schule unabhängig vom Griechischen ihr Hauptaugenmerk zu legen. Insgesamt ist die Persistenz von Legitimierungsstrategien für den Lateinunterricht in den untersuchten 60 Jahren verblüffend. Die Faktoren institutionelle Logik und soziale Disktinktion scheinen dabei oft mächtiger als die Faktoren gesellschaftliche Leitbilder und Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Allerdings hatten die gesellschaftlichen Leitbilder vor allem im öffentlichen Sprechen über den Lateinunterricht ein enormes Gewicht. Er musste sich stets auf die Wandlungsprozesse dieser Leitbilder einstellen, um der Gefahr der Eliminierung argumentativ etwas entgegensetzen zu können. Das Zusammenspiel zwischen günstigen institutionellen Rahmenbedingungen und dem zugleich breiten ideellen argumentativen Reservoir, der dem Lateinunterricht zur Verfügung stand, bietet einen Erklärungsansatz für dessen Beharrungskraft im deutschen Bildungswesen.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1 Quellen 1.1 Archivquellen 1.1.1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) Bestand: Akten des bayerischen Landtages LT 12158: LT 11960:
Eingaben (1919/1920) Antrag der Abgeordneten Dr. Kempf und Genossen betreffend Ausbau des Unterrichts- und Bildungswesen LT 12206: Beeinträchtigung des humanistischen Bildungswesens (1919/20) LT 12390: Antrag des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus betreffend Angliederung von Realgymnasialklassen an das Neue Gymnasium Regensburg (1920/21) LT 12775/LT 13032: Antrag des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus betreffend das Schulgeld an den höheren Lehranstalten (1921/22 und 1922/23) LT 13094: Anträge der Abgeordneten (1922/23)
Bestand: Akten des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus MK 14906: Staatsministerium des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten Reichsschulkonferenzen MK 14765: Reformen in Schule und Erziehung. Einheitsschule, Aufbauschule, Oberschule (1920–1923) MK 14904: Akten des Staatsministeriums für Kultus und Unterricht. Lateinschulen und Progymnasien im Allgemeinen (ab 1921) MK 14764: Akten Staatsministerium für Unterricht und Kultus (1919–1929) MK 14905: Akten Staatsministerium für Unterricht und Kultus (1919–1929) MK 14761: Akten Staatsministerium für Unterricht und Kultus (1919–1929) MK 41740: Progymnasium Windesheim. Neuere Sprachen (1916–1938) MK 40820: Universität Würzburg Lateinkurse (1919–1943) MK 42226: Latein-Unterricht Aufbauschule Bayreuth (1935) MK 41749: Gymnasium Würzburg Sprachunterricht (1938–1946) MK 41770: Gymnasium Zweibrücken. Sprachunterricht (1938–1944) MK 42274: Lateinunterricht Aufbauschule Eichstätt MK 52457: Ordnung einer Ergänzungsprüfung im Lateinischen und Griechischen zur Ordnung der wissenschaftlichen Prüfung (1941) MK 52458: Höheres Schulwesen Ergänzungs-Prüfungen (1947–1966) MK 52459: Höheres Schulwesen Ergänzungs-Prüfungen (1967–1971) MK 53200: Akten des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: Höhere Lehranstalten. Reformen in Schule und Erziehung 1931–1937 MK 53201–53215: Akten des Staatsministeriums für Kultus und Unterricht. Generalia. Schulreform. Neugestaltung des höheren Schulwesens (1946–1969) https://doi.org/9783110603408-006
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Quellen- und Literaturverzeichnis
MK 64099: Lateinische Lesestoff München Westermann Verlag (1950–1958) MK 81011: Fortbildungs- und Ferienkurse für alte Sprachen (1972–1974)
1.1.2 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) Bestand Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung I. HA, Rep. 76, Kultusministerium, VI Sekt.1 Gen. Z: Nr. 4 Bd. 12–19: Angelegenheiten der höheren Lehranstalten im Allgemeinen (Januar 1912–März 1933) Nr. 174 Bd. 5–8: Lehrpläne für höhere Schulen (1914–1935) Nr. 221 Bd. 4–5: Studienfahrten nach Griechenland und Italien (1914–1932) Nr. 268: Schülerräte, Schulgremien, Schülerausschüsse (1918–1937) Nr. 291, Bd. 1–4: Neuordnung des höheren Schulwesens (August 1923–September 1933/34 I. HA, Rep. 76, Kultusministerium, VI Sekt.1 Gen. b: Nr. 18: Revision an höheren Lehranstalten (1900–1931) Nr. 26: Reichsgesetzliche Maßnahmen auf dem Gebiete des höheren Schulwesens (1919–1929) Nr. 30 Bd. 1–2: Reichsschulausschuß (1920–1929) I. HA, Rep. 76, Kultusministerium, VI Sekt.1 Gen cc Nr. 1, Bd. 5: Philologen-Versammlungen (1921–1927)
Bestand: Nachlässe I. HA, Nachlass Carl Heinrich Becker, Nr. 7110
1.1.3 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LAV NRW) RWN 12: Ära Schnippenkötter (1945–1951), Nr. 98–99. RWN 46: Ära Schnippenkötter (1945–1951), Nr. 31–33, 100 NW 19: Ministerialakten Gymnasium (1947–1955), Nr. 108, 185, 201(Gestaltung von Lehrplänen AU 1948–1955), 213. NW 137: Stellungnahme der Fachverbände, Nr. 565 (Diskussion 1. Fremdsprache allgemein und im Rahmen des Düsseldorfer Abkommens), 461 (Stellungnahme der Fachverbände zur Saarbrücker Rahmenvereinbarung 1960) NW 147, Nr. 98 NW 162, Nr. 24, 30–31 34 NW 202: Hausinterne Korrespondenz, Nr. 44, 144. NW 225, Nr. 345: Studienseminare, 1956–1968 NW 372: Zeitungsausschnittsammlungen, Nr. 411 (Elternvereine, 1974–1976), 507 (Sprachunterricht), 516 (Kooperative Schule), 562 (Abitur I und II, Abitur allgemein), 564 (Abitur, 1964–1969), 569 (Schulpolitik, 1969–1970). NW 382, Nr. 810: Erprobung einheitlicher Prüfungsanforderungen im Abitur in Latein 1975–1976 NW 382, Nr. 601: Erweiterungsprüfung für Altphilologen (1968–1971) NW 383, Nr. 15: Niederschriften Schulausschuss der KMK (1953) NW 526, Nr. 33: Vergleich Gesamtschulkonzept NRWs mit Bayern, März 1978
1 Quellen
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NW 526: Lehrpläne Gesamtschule Latein, 1979–1982, Nr. 328 (Lehrplangruppe Latein, 1979–1981), 440 (Empfehlung für den Unterricht im Fach Latein an der Gesamtschule, Band II, 1981–1982) NW 534, Nr. 72: Kommentar eines SPD-Mitglieds zur Kooperativen Schulen 1977
1.1.4 Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz) Bestand: Akten der Kultusministerkonferenz B 304/6470: I. Ordner: Griechisch- Unterricht (1965–1967); II. Ordner: Alte Sprachen (1952–1969) B 304/1955, Bd. 7: Fremdsprachenfolge an allgemeinbildenden Schulen (1951–1974) B 304/702, Bd. 3: Französische Proteste gegen das Hamburger Abkommen B 304/1956: Durchführung des Hamburger Abkommens B 304/3754: Ergänzungsprüfungen Latein und Griechisch (1959–1969) B 304/2178: Fachausschuss für die Erarbeitung von Richtlinien für den Lateinunterricht
Bestand: Nachlässe N1225/270: Nachlass Picht
1.1.5 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BA Berlin-Lichterfelde) Bestand: Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung R 4091/12467: Latein, Erdkunde-, Musik-, Deutsch- und Englisch Lehrgänge 1937–1938 R 4901/12462: Schulungslager für Latein (1936–1937) R 4901/4358: Gesuche um Dispensation vom lateinischen und griechischen Unterricht (Ersatzunterricht), 1905–1944 R 4901/4341: Lateinunterricht (1918–1939)
1.1.6 Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) DLV: DBR: MAGER: GUT ASS: GHO:
Deutscher Lehrer Verein, Nr. 1.0.00 Deutscher Bildungsrat, Nr. 4–23, 33. Nachlass Hermann Mager Gutachterstelle des BIL, Assessorenarbeiten, Nr. 131, 369, 524, 587, 799, 903, 940, 1152, 1109, 1157, 1263, 1391, 1302, 1518. Georg-Herwegh-Oberschule, Berlin, Reifeprüfungsarbeiten, Nr. 72, 99,114, 127
1.1.7 Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) Zeitungsausschnittsammlung 1945–1980
1.1.8 Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Zeitungsausschnittsammlung 1945–1980
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Quellen- und Literaturverzeichnis
1.2 publizierte Quellen 1.2.1 Systematisch analysierte Zeitschriften Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes (MDAV) Deutsches Philologen-Blatt (DPB) Das Humanistische Gymnasium (HG) Das Gymnasium (DG) Monatsschrift für höhere Schulen (MfHS) Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung (NJf WuJ) Die neueren Sprachen (DNS) Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften (UMN) Die Deutsche Höhere Schule (DDHS) Gegenwärtiges Altertum (GA) Die alten Sprachen (AS) Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung (NJfAuDB) Der Altsprachliche Unterricht (AU) Die Alten Sprachen im Unterricht (ASiU) Lebendiges Gymnasium (LG) Die Höhere Schule (HS)
1.2.2 Weitere publizierte Quellen Alsleben, Kurd/Englert, Ludwig (Hrsg.): Lexikon der kybernetischen Pädagogik und der programmierten Instruktion, Quickborn 1966. Aly, Wolf: Bericht über die beiden Lehrproben aus dem griechischen Lektüreunterricht, in: Ziele und Wege des altsprachlichen Unterrichts im Dritten Reich. Vorträge und Berichte der Tagung der altsprachlichen Arbeitsgemeinschaft im NS-Lehrerbund Gau WürttembergHohenzollern auf der Reichenau (Bodensee), Stuttgart 1937, S. 47–61. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände: Plan zur Neugestaltung des deutschen Schulwesens, 4. Fassung, Frankfurt a. M. 1960. Ballard, Philip Boswood: The Changing School, London 1928. Balthasar, Hans Urs von: Christlicher Humanismus, in: Studium Generale 1 (1948), S. 63–70. Baeumler, Alfred: Die Grenzen der formalen Bildung, in: Baeumler, Alfred: Politik und Erziehung. Reden und Aufsätze, Berlin 1937, S. 67–91.
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Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Vereinbarung über das Latinum und das Graecum. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 22.09.2005: http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2005/2005_09_ 22_VB_Latinum_Graecim.pdf (letzter Zugriff am 30.04.2018). Bös, Nadine: Für die Schule, nicht fürs Leben, FAZ online, 24.06.2010: http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/lateinkenntnisse-fuer-die-schulenicht-fuers-leben-1608741.html (letzter Zugriff am 30.04.2018).
Personenregister Adenauer, Konrad, 220 Altmeier, Peter, 301 Aly, Wolfgang, 176 Andersch, Alfred, 337 Aristoteles, 106 Aßmann, Erwin, 371–375, 379 Babick, Paul, 165, 200 Baeumler, Alfred, 162 Bauerschmidt, Johann, 129, 130, 182, 183 Bayer, Karl, 347, 348 Becker, Carl Heinrich, 312, 314–316 Becker, Gerold Ummo, 318 Benze, Rudolph, 153, 179, 207 Bernhardt, Herbert H., 318 Berve, Helmut, 202 Boehringer, Robert, 312 Boelitz, Otto, 80, 88, 91 Bogner, Hans, 166 Bohlen, Adolf, 269–273, 280 Bohne, Detlev, 202 Bojunga, Helmut, 178 Boll, Franz, 65 Bork, Arnold, 268 Breywisch, Walter, 189–192 Caesar, 124, 188, 196, 235, 355, 373 Calliebe, Otto, 166 Catull, 124, 209 Cicero, 61, 106, 124, 235 Clasen, Adolf, 341, 349 Cramer, Franz, 62, 65, 79 Curtius, Ernst Robert, 139, 314, 315 Dahrendorf, Ralf, 87, 288–290, 328 Deutschbein, Max, 88 Dewey, John, 319, 321 Dilthey, Wilhelm, 204 Dönhoff, Marion Gräfin von, 312, 313, 317 Doll, Peter, 277 Domnick, Joachim, 377 Drerup, Engelbert, 138 Dresdner, Albert, 64 Drexler, Hans, 169, 175, 202, 204, 205, 212, 236 https://doi.org/9783110603408-007
Edding, Friedrich, 294, 296, 324, 328 Edelstein, Wolfgang, 324 Eichhorn, Friedrich, 172–174, 194, 198, 199, 204, 209, 210, 212, 236 Eliot, Thomas Stearns, 233 Erdmann, Karl Diedrich, 324–328 Etterich, Walther, 179 Evers, Carl-Heinz, 295, 326, 327, 337, 348, 361 Faulhaber, Michael Kardinal von, 184 Fauth, Gerhard, 293 Fischer, Gerd, 293 Fischer, Heinrich, 201 Flitner, Wilhelm, 25, 250, 251 Fraenkel, Eduard, 65, 143, 175, 236 Franke, Joseph, 135 Frommel, Wolfgang – alias Helbig, Lothar, 205, 315 Geisenfelder, Ludwig, 206 George, Stefan, 28, 149, 205, 206, 312, 314– 316 Giesecke-Teubner, Alfred, 44 Girgensohn, Jürgen, 383, 384 Glöckner, Karl, 230 Gohlke, Paul, 91, 99, 104 Goldbeck, Ernst, 43, 137 Goppel, Alfons, 300, 376 Grimme, Adolf, 124, 330 Günther, Hans Friedrich Karl, 160, 166, 179 Haag, Erich, 286 Hamm-Brücher, Hildegart, 312 Hansen, Kay, 350 Harder, Richard, 142 Havenstein, Martin, 40, 62, 65 Hebbel, Friedrich, 106 Helbig, Lothar – alias Frommel, Wolfgang, 205, 315 Hentig, Hartmut von, 25, 312, 317–324, 334, 344, 347, 348, 353, 361, 377, 378, 381 Hentig, Werner von, 317 Hilpert, Hans, 71 Himmler, Heinrich, 337 Hindenburg, Paul von, 143, 208
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Personenregister
Hitler, Adolf, 152, 155, 158, 163–165, 168, 172, 182, 186, 188, 207 Hölscher, Uvo, 58, 346 Hörmann, Friedrich, 357, 372–375, 379 Hoffmann, Otto, 104 Holtorf, Herbert, 173, 204, 236 Holzapfel, Heinrich, 272 Horaz, 106, 124, 196, 209 Huber, Ludwig, 300 Humboldt, Wilhelm von, 14, 15, 103, 107, 139, 140, 144, 201, 267, 280, 319, 327, 395, 397 Hundhammer, Alois, 217–219, 223, 224, 232 Hungenroth, Hermann, 258 Immisch, Otto, 53, 55, 91, 101, 103, 107, 111, 141, 147, 233 Jaeger, Werner, 25, 44, 53, 95, 99, 104, 106, 110–112, 139–142, 144, 147, 149, 156, 165, 175, 202–206, 275, 315 Jahnke, Richard, 92, 115, 129 Jaspers, Karl, 233 Keller, Gottfried, 106 Kiesinger, Kurt Georg, 336 Klafki, Wolfgang, 321, 380 Kleist, Heinrich von, 106 Koch, Erich, 29 Kock, Bernhard, 236 Kranz, Walther, 95, 176 Krieck, Ernst, 200, 203 Krope, Peter, 377 Kroymann, Emil, 95, 98, 157, 176 Krüger, Horst, 211 Krüger, Max, 103, 124, 125, 142, 163, 171, 176, 189, 277 Kruschka, Otto, 198 Kuhlmann, Casper, 329–331 Kynast, Karl, 160 Leggewie, Otto, 296, 372, 373 Lehmensick, Erich, 380 Liegele, Josef, 315 Lietzmann, Hans, 75 Litt, Theodor, 25, 122, 267–269, 319, 332, 345 Livius, 106, 124, 196, 197, 294 Löffler, Eugen, 133, 134
Löpelmann, Martin, 192 Luther, Wilhelm, 280 Mader, Ludwig, 189–192 Magee, Warren A., 312 Maier, Hans, 300, 324–328, 337, 351 Mann, Thomas, 58 Maunz, Theodor, 283 Mergenthaler, Christian, 182 Meyer, Eduard, 136 Mikat, Paul, 292, 294 Müller, Valentin, 330 Niemöller, Martin, 312 Nohl, Hermann, 317 Norden, Eduard, 175 Oppermann, Hans, 159, 160, 163, 164, 171, 176, 201, 212, 236 Ovid, 124 Patzer, Harald, 275, 276, 344–346 Pflug, Karl, 87 Phaedrus, 124 Picht, Georg, 259, 262, 288, 289, 312, 313, 315–317, 348 Picht, Greda, geb. Curtius, 314 Picht, Werner, 312, 314 Platon, 106, 107, 156, 165, 182, 314, 315, 321 Pöschl, Viktor, 142 Radke, Gerhard, 372 Rathke, Georg, 167 Regenbogen, Otto, 139, 175 Rehm, Albert, 175 Reimers, Hans, 368, 374 Richert, Hans, 38, 80–82, 85 Rickert, Heinrich, 53 Ried, Georg, 272, 273 Robinsohn, Saul Benjamin, 313, 329, 331– 337, 344, 347, 381 Rosenberg, Alfred, 166, 182 Rosenthal, Georg, 109, 129 Roth, Heinrich, 280, 307, 312, 317, 324, 326–328, 341, 344, 381 Rust, Bernhard, 156, 177, 178, 183, 212, 245, 366 Saenger, Alwin, 71 Sallust, 124, 196, 355
Personenregister Schachermeyr, Fritz, 159, 160 Schade, Richard, 269–271 Schadewaldt, Wolfgang, 142 Schelsky, Helmut, 318, 331 Schlossarek, Max, 190 Schnippenkötter, Josef, 25, 219, 220, 222– 224, 226, 227, 232, 235, 244, 262, 273 Schönberger, Otto, 336, 337, 347 Schoy, Anton, 125 Schümmer, Karl, 228 Schütte, Ernst, 275, 306 Schulze, Johannes, 146 Seneca, 124, 211 Skinner, Burrhus Fredric, 359 Snell, Bruno, 205, 236, 250 Sommer, Fritz, 125, 175 Spengler, Oswald, 112, 279 Spranger, Eduard, 111, 139 Stauffenberg, Alexander Schenk Graf von, 312 Stuckart, Wilhelm, 153 Sueton, 196 Tacitus, 48, 63, 105, 124, 188, 196, 211, 237, 294 Teusch, Christine, 220, 228
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Tews, Johannes, 137 Thorndike, Edward Lee, 20, 279, 334, 359, 380, 381 Troeltsch, Ernst, 135 Undeutsch, Udo, 295, 296, 326, 337 Vergil, 105, 124, 196 Walker, Theodor, 139 Weizsäcker, Carl Friedrich von, 312, 313, 315 Weizsäcker, Ernst von, 313, 317 Weizsäcker, Olympia von, geb. Curtius, 314 Weizsäcker, Richard von, 313 Weniger, Erich, 317 Westphalen, Klaus, 336, 348, 353, 354, 381 Weynand, Rudolf, 191, 192 Wigge, Heinrich, 61 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von, 213, 315 Wilhelm II., 33 Wohleb, Leo, 232, 233 Zook, George Frederick, 216