Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen«: Eine Debatte [1 ed.]
 9783737008228, 9783847108221

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Wolfgang Bialas (Hg.) Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« Eine Debatte

Berichte und Studien Nr. 74 herausgegeben von Thomas Lindenberger und Clemens Vollnhals im Auftrag vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.

Wolfgang Bialas (Hg.)

Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« Eine Debatte

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Originalausgaben von Aurel Kolnais »The War Against the West« aus dem Jahr 1938, © Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-0422 ISBN 978-3-7370-0822-8

Inhaltsverzeichnis

Wolfgang Bialas Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Themen Kolnais in »Der Krieg gegen den Westen« Uwe Backes Aurel Kolnais Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus im Kontext der zeitgenössischen Diktaturkomparatistik . . . . . . . . . . . . . . . .

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Richard Steigmann-Gall Nazismus, Christentum und die Entwicklung einer Theorie der politischen Religion in Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« . . . . . . . . . .

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Micha Brumlik Aurel Kolnais Überlegungen zum Antisemitismus im zeitgenössischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kolnai im Vergleich mit zeitgenössischen Analysen des Nationalsozialismus Dan Stone Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« und der britische Versuch, den Nazismus vor dem Krieg zu verstehen . . . . . . . . . . . .

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Michaela Hoenicke Moore Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« und die amerikanische Diskussion des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Rolf Zimmermann Aurel Kolnai und Franz Neumann: normative Kritik und strukturelle Analyse des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Werkgeschichte und Rezeption Lee Congdon Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« im zeitgenössischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Wolfgang Bialas Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen«: Konturen einer zeitgenössischen Analyse und Kritik des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . 159 Graham J. McAleer Sexualpolitik des Nationalsozialismus: Aurel Kolnai zur Gefahr eines Rückfalls in den Primitivismus. . . . . . . . . . . . 185 Kolnais Politik- und Moralphilosophie Zoltán Balázs Aurel Kolnais Verständnis vom Krieg in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt: der Krieg aller Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Chris Bessemans Die Relevanz von Kolnais moralischer Phänomenologie: Moralisches Bewusstsein und Antiutopismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Andrew S. Cunningham »Der Krieg gegen den Westen« und Kolnais moralische und politische Theorie nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Anhang  Abkürzungsverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Bialas Einleitung

Kolnais »Der Krieg gegen den Westen«: Versuch einer Kontextualisierung Können wir von der zeitgenössischen Analyse und Kritik des Nationalsozialismus erwarten, etwas über ihn zu erfahren, was über gegenwärtige Forschungen zum Nationalsozialismus hinausgeht oder aber diese zumindest im Detail ergänzt oder modifiziert? In der Beantwortung dieser häufig lediglich rhetorisch gestellten Frage liegt der Fokus zumeist darauf, was zeitgenössische Autoren an Erkenntnissen über den Nationalsozialismus vorweggenommen oder erahnt ­haben, darauf also, was durch die spätere Forschung bestätigt wurde. Über den aktuellen Forschungsstand hinausgehende Erkenntnisse werden solchen ­Analysen kaum zugetraut. Was also kann die Rekonstruktion einer zeitgenössischen ideologiekritischen Analyse des Nationalsozialismus beitragen zur Beantwortung der Fragen, mit denen sich die gegenwärtige Nationalsozialismusforschung auseinandersetzt? ­ Hat Kolnai die richtigen Fragen gestellt? Hat er mit den Schwerpunkten, die er in ­seinem analytischen Ansatz gewählt hat, entscheidende Elemente des Nationalsozialismus sichtbar gemacht, oder hat er sich an Problemen abgearbeitet, die aus heutiger Sicht eher marginal erscheinen? Welches Bild des Nationalsozialismus wird in Kolnais Buch gezeichnet? Wie ordnet es sich in sein Gesamtwerk ein? Solchen und anderen Fragen sind die Autoren dieses Tagungsbandes nachgegangen. Über die spezifischen von Kolnai in seinem Buch behandelten Themen und dessen Einordnung in die zeitgenössische deutsche und internationale Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hinaus geht es in diesen Beiträgen immer wieder auch darum, Kolnais Anregungen aufzunehmen und den Bogen zu heutigen Debatten zu schlagen. Aurel Kolnai (1900–1973) war einer der großen, in Deutschland lange Zeit kaum bekannten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Als zum Katholizismus konvertierter Jude lebte er zunächst in Budapest und von 1930 bis 1937 in Wien,

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Wolfgang Bialas

wo er sein Buch schrieb, dass dann auf Englisch beim marxistischen Verlag V ­ ictor Gollancz in London veröffentlicht wurde. Im November 1940 ging Kolnai mit seiner Frau in die USA, bevor er 1947 eine Professur für Philosophie in K ­ anada annahm, die er 1955 zugunsten einer Forschungsstelle am Bedford College in London aufgab, wo er bis zu seinem Tod 1973 tätig war. Kolnai wurde bekannt durch seine disziplinär und thematisch breit gefächerten Arbeiten etwa zur Psychologie, Moral- und Sozialphilosophie, aber auch zur Ideologiekritik des Nationalsozialismus und des Liberalismus sowie zum Diktaturenvergleich zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus. Sein Werk umfasst neben Arbeiten zur Psychologie solche zum utopischen Denken1 und zur Moralphilosophie,2 zur Sexualethik3 sowie zu den Gefahren totalitärer Systeme des 20. Jahrhunderts.4 Ebenso beeindruckend wie die interdisziplinäre Aufstellung und lebenslange Bereitschaft Kolnais, eigene Positionen kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren, ist seine die traditionellen Grenzen der Disziplinen überschreitende, an der Vielschichtigkeit und Komplexität der von ihm behandelten Themen selbst orientierte Herangehensweise. Diese Vorzüge zeichnen auch sein 1938 erschienenes Buch »The War Against the West« aus, das seit 2015 dank einer vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung initiierten historisch-kritischen Edition als »Der Krieg gegen den Westen« erstmals in einer deutschen Übersetzung vorliegt. Diese Edition ermöglicht es, Kolnais erklärtes Prinzip, nationalsozialistische, aber auch von ihm als pro- oder präfaschistisch klassifizierte Texte durch lange Zitate oder paraphrasierte Passagen weitestgehend für sich selbst sprechen zu lassen, durch die nun recherchierten entsprechenden bibliografischen Nachweise umfassend zu würdigen. Damit ist »nicht nur die ­früheste, sondern auch die bis heute umfassendste und geschlossenste Darstellung der Ideen des Nationalsozialismus«5 deutschen Lesern erstmals zugänglich. Das Manuskript zu »The War Against the West« war im Sommer 1936 abgeschlossen, also lange vor der ­Kristallnacht von November 1938, aber bereits nach den Nürnberger Gesetzen, also der Verrecht­lichung des Rassismus und Antisemitismus. Im Unterschied zu zeitgenössischen Analytikern und Kritikern des Nationalsozialismus vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wissen wir heute, in welche Richtung sich Nazideutschland entwickelt hat, und können deshalb aus 1 2 3 4 5

Aurel Kolnai, The Utopian Mind and Other Papers: A Critical Study in Moral and Political Philosophy. Hg. von Francis Dunlop, London 1995. Neben seiner Dissertation Aurel Kolnai, Der ethische Wert und die Wirklichkeit, Freiburg 1927 auch ders, Ethics, Value and Reality, London 1977. Aurel Kolnai, Sexualethik. Sinn und Grundlagen der Geschlechtsmoral, Paderborn 1930. Neben Aurel Kolnai, The War Against the West, London 1938; vgl. auch Kolnai, Political Memoirs. Hg. von Francesca Murphy, Lanham 1999, S. 145–147. Axel Honneth, Nachwort. In: Aurel Kolnai, Ekel, Hochmut, Hass. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt a. M. 2007, S. 143–175, hier 171.

Einleitung

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der historischen Distanz beurteilen, was geschehen ist. Die Zeitgenossen dagegen waren Teil einer noch offenen Entwicklung, an der sie selbst beteiligt oder von der sie betroffen waren. Aus ihrer Auseinandersetzung mit der Ideologie sowie den Problemen und Konflikten des nationalsozialistischen Deutschland lassen sich gerade deshalb Einsichten gewinnen, die durch die tatsächlichen deutschen und internationalen Entwicklungen dieser Zeit nicht überholt sind. Insbesondere die Diskussion strategischer Optionen nationalsozialistischer Politik, aber auch das Ringen der Gegner des Nationalsozialismus um überzeugende Antworten auf diese Politik lassen sich durch zeitgenössische Debatten besser verstehen. Gemeinsam war diesen konzeptionell weit gefächerten Versuchen die Absicht, zunächst einmal zu verstehen, was das Neue am Nationalsozialismus war. Dabei geriet die Anwendung traditioneller Konzepte politischer Theorie und Philosophie schnell an ihre Grenzen. Die Kombination von Versatzstücken unterschiedlicher Theorieansätze war vielversprechender als die Versuche, den Nationalsozialismus zum Beleg für die anderen Erklärungsansätzen überlegene Reichweite einer Theo­rie zu instrumentalisieren. Diese Debatten geben Aufschluss über das plurale Kräftefeld soziokultureller Bedingungen und machtpolitischer Konstellationen. Kolnais »The War Against the West« war keineswegs die einzige zeitgenössische englischsprachige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, aber wohl doch die umfangreichste Darstellung seiner Ideologie. In seiner Darstellung der nationalsozialistischen Ideologie vertraute Kolnai weitestgehend der Aussagekraft dieses von ihm entsprechend angeordneten Materials, ohne sich selbst in den zeitgenössischen Debatten zu verorten. Das wirft die Frage nach der Stellung seines Buches in diesen Debatten auf. Kolnais Buch ist das englischsprachige Pendant zu Texten wie Helmuth Plessners »Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche« (1935), Georg Lukács’ seit 1933 unter den Stichworten einer »Kritik der faschistischen Ideologie« und der »Zerstörung der Vernunft« verfassten Kampfschriften gegen den Nationalsozialismus oder kritischer Analysen des Nationalsozialismus von Autoren der Frankfurter Schule sowie Ernst Cassirers »Mythus des Staates« (1949). Wie andere zeitgenössische Autoren, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten6 oder aber ihn aus nationalsozialistischer Sicht historisch zu würdigen versuchten,7 gab auch Kolnai eine geschichtsphilosophische 6

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Vgl. dazu vor allem Helmuth Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich 1935; sowie Georg Lukács, Zur Kritik der faschistischen Ideologie (1942), Berlin 1989; ders., Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie, Berlin 1948; sowie ders., Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin 1955. Vgl. Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938; sowie Kurt Hancke, Deutscher Aufstand gegen den Westen. Eine geistesgeschichtliche Auseinan­dersetzung, Berlin 1941.

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­ estimmung des Nationalsozialismus im Kontext deutscher und europäischer B Kultur. So beklagte er wie Plessner und Lukács, dass die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen normativen Grundlagen durch ideologiekritische Selbstzweifel untergraben habe. In Kolnais Argumentation finden sich Denkfiguren, die in der Forschungsgeschichte zum Nationalsozialismus eine wichtige Rolle gespielt haben oder noch immer von Bedeutung sind wie etwa die Bestimmung des Nationalsozialismus als reaktionäre Moderne,8 die These von der Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft durch die ideologiekritische Infragestellung ihrer Grundlagen,9 die Bestimmung Deutschlands als verspätete Nation10 sowie die Annahme, der Natio­ nalsozialismus sei kein Bruch mit der westlichen Moderne, sondern Ausdruck und Produkt ihrer Ambivalenz.11 Solche Analogien zeigen zunächst, dass sich Kolnai trotz der exzessiven Auswertung nationalsozialistischer Quellen oder solcher Texte, die er im ideologischen Umfeld des Nationalsozialismus verortete, nicht damit begnügte, diese Texte für sich sprechen zu lassen, ohne mit ihrer Hilfe eine systematische Interpretation des Nationalsozialismus zu versuchen. Wie es aussieht, hat keiner dieser Autoren, die durch ihre Interpretation des Nationalsozialismus konzeptionelle Trends gesetzt haben, Kolnais »The War Against the West« gekannt. Insofern haben sie weder an Kolnai angeknüpft, noch hat dieser ihre Interpretation des Nationalsozialismus vorweggenommen. Vielleicht war Kolnai als Zeitgenosse und kritischer Analytiker des Nationalsozialismus einfach aufmerksam, unvoreingenommen und als bürgerlicher Intellektueller hinreichend beunruhigt und sensibilisiert für das Neue dieser Ideologie und Politik, um die verschiedenen Facetten dieser Ideologie zu beschreiben und auch dann nebeneinander stehen zu lassen, wenn sie sich nicht als Bausteine in ein stimmiges Gesamtbild einfügen ließen. Gerade diese facettenreiche, in sich widersprüchliche, Faszination und Abscheu gleichermaßen zulassende Beschreibung der Ideologie einer politischen Bewegung, die offensichtlich noch nicht zur Ruhe saturierter Verwaltung ihrer politischen Macht gekommen, macht den Reiz von Kolnais Buch aus. Am Nächsten kommt dieser Haltung bildungsbürgerlicher Beunruhigung von den Zeitgenossen vielleicht Helmuth Plessner,12 der eben-

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Vgl. Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984.   9 Vgl. Lukács, Kritik; ders., Schicksalswende; ders., Zerstörung. 10 Vgl. Plessner, Schicksal. 11 Vgl. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. 12 Helmuth Plessner mit seinem Buch von 1935 »Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche«.

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so wenig wie Kolnai an eine Partei­doktrin oder theoretische Schule gebunden, sich wie dieser die Freiheit nahm, erst einmal das relevante empirische Material, in seinem Fall der Geistes- und Kulturgeschichte Deutschlands, zusammenzutragen. Ein für beide Autoren anregender Austausch lässt sich vorstellen, hat aber so nicht stattgefunden. Allerdings wählt Plessner mit seiner Konzentration auf die Ideologie »als Ausdruck tieferer historischer Kräfte […], welche […] den Resonanzboden der Zeitideen bilden«,13 einen anderen Ansatz als Kolnai, wobei auch sein »Beitrag zur Geistesgeschichte des deutschen Nationalismus« darauf zielte, »die Wurzeln der Ideologie des Dritten Reiches auf(zu)decken und die Gründe, aus denen sie ihre demagogische Wirkung entfalten konnte«,14 zu beleuchten. Zu einem Zeitpunkt, als andere Gegner des Nationalsozialismus es noch für überflüssig hielten, sich ernsthaft mit der Analyse der nationalsozialistischen Ideologie zu befassen, legte Kolnai in seinem Buch den Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit eben jener Ideologie. Seine Analyse zielte auf die detaillierte Herausarbeitung der Substanz nationalsozialistischer Ideologie, die gerade als eklektische Zusammenfassung und Synthese ganz verschiedener Ideen, durch die sie es verstanden habe, diffuse Gefühle, Ängste und Erwartungen der Menschen politisch für ihre Zwecke zu mobilisieren, gefährlich sei. Er nahm den Nazismus ernst, ohne ihn als temporäre, vermeintlich intellektuell und moralisch substanzlose politische Bewegung zu unterschätzen. Er sah ihn weder als wenig originelle Variante eines aggressiv auf seine Existenzkrise reagierenden Kapitalismus noch als einen rein destruktiven Nihilismus, sondern als neue radikale politische Bewegung, die mit traditionellen politischen Begriffen wie reaktionär und konservativ nicht zu erfassen sei. In ausdrücklicher Entgegensetzung zur liberalen Demokratie ging der »rassische Universalismus« der nationalsozialistischen Ideologie aus seiner Sicht weit über den Links-Rechts-Gegensatz zeitgenössischer Auseinandersetzungen hinaus. Seine Unterschätzung als nur temporäres Phänomen ohne Bezug zu den prägenden Entwicklungen der Zeit ebenso wie seine stereotype Simplifizierung im Raster eines der gängigen Erklärungsmuster politischer Theorie oder Ideologiekritik hielt er für fatal und verhängnisvoll. Die Bedrohung Europas und des Westens durch den Nationalsozialismus sei zu ernst, um sich damit zu begnügen, an ihm lediglich die Reichweite und Plausibilität unterschiedlicher Erklärungsansätze zu testen.

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Ders., Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1959, S. 35. Ebd., S. 13.

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Befremdliches und Irritierendes bei Kolnai In Kolnais Buch finden sich Positionen und Argumente, die aus heutiger Sicht befremdlich erscheinen, etwa wenn Kolnai zeitgenössisch vorherrschende Sichtweisen von Homosexualität und traditionellen Geschlechterrollen vertritt und auf die Analyse des Nationalsozialismus anzuwenden versucht. So unterscheidet er zwischen normaler und anormaler Sexualität und erklärt Homosexualität für anormal und biologisch bedeutungslos. Im Nationalsozialismus sieht Kolnai eine patriarchale militaristische Männergesellschaft. Dabei zeigt die von ihm beschriebene Auseinandersetzung des Nationalsozialismus mit traditionellen Geschlechterrollen und sexueller Orientierung sein eigenes Ringen mit diesen Fragen. So beschwört er die Gefahr einer Schwächung und Barbarisierung des Nationalsozialismus durch eine feminine Unterströmung, die irrationale Züge und Instinkte gegen militärische Disziplin und Ordnung als anarchisches Element in Stellung bringen könnte.15 Ausgehend von der geistigen Überlegenheit und Führungsrolle des Mannes sieht Kolnai diesen als hauptsächlichen Initiator und Gestalter des Denkens, der Verwaltung und des Fortschritts. Männliche Vorherrschaft sei die Voraussetzung für die vollständige Gleichberechtigung, Würde, Selbstbestimmung und Chancengleichheit der Frauen. Auch der Nationalsozialismus gehe ganz selbstverständlich von der Vorherrschaft des Mannes aus, ergänzt jedoch durch eine kaum verhüllte Verachtung des Weiblichen. Dieses virile Selbstverständnis der von Männern dominierten nationalsozialistischen Bewegung, die sich ihrer traditionellen Vorherrschaft und Führungsrolle in allen gesellschaftlichen und politisch relevanten Bereichen zu sicher waren, als dass sie eine Begründung ihrer Überlegenheit gegenüber den Frauen überhaupt für nötig hielten, verweigerte ganz selbstverständlich Frauen gleiche Rechte in der Gesellschaft. Frauen würden im Nationalsozialismus aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens herausgedrängt und darauf reduziert, männliche Bedürfnisse zu befriedigen und zukünftige Soldaten hervorzubringen. Der feminine Aspekt des Nationalsozialismus stehe nicht im Widerspruch zu seinem virilen Bellizismus, sondern sei dessen paradoxe Ergänzung.16 Dagegen stellte Kolnai klar, dass weder die charismatische Liebe zum Führer noch die emotionale Subjektivität tribaler Selbstanbetung oder die Berauschung an der Magie der Virilität wirklich maskulin seien. Im Krieg seien es eher die Massen hysterischer Frauen als die wirklichen Soldaten, die sich in patriotischen Orgien des Hasses gegen den Feind ausagierten.17 Der Nationalsozialismus sei 15 16 17

Vgl. Kolnai, Krieg, S. 253. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 253 f.

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ein Gemenge aus maskulinem Militarismus und weiblicher Anarchie, in dem der Männerbund das Vorbild für das Leben der soldatischen Jugend sei. In jedem Falle werde »das Hinwegtrampeln wilder Männerfüße über jedwede moralische Bedenken bzw. die Leichen der Angehörigen feindlicher Stämme weitaus lauter zu hören sein […] als die feminine Macht im Hintergrund«.18 Kolnai hält es für möglich, dass der Nationalsozialismus nach einer Periode siegreicher Kriege ein matriarchalisches Gesellschaftssystem entwickeln könnte, das abstraktem Intellekt und unparteiischer Objektivität feindlich gegenüberstünde, für Fortschritt und höhere Gesetze unempfänglich wäre und stattdessen auf Traditionen und Instinkte setzen würde.19 Dieser Versuch, geschlechtsspezifische Aspekte des Nationalsozialismus als bellizistische Balance maskuliner und femininer Elemente zu bestimmen, irritiert. In ihm unterstellt Kolnai eine für Frauen typische instinktgetriebene Irrationalität, die zu einer gefährlichen politischen Radikalisierung des Nationalsozialismus führen könne. An die Stelle eines strategisch und rational kalkuliert agierenden Militarismus könne dann, so Kolnai, eine anarchische, unberechenbare und außer Kontrolle geratene Gesellschaft treten, in der die Balance rational männlicher und irrational weiblicher Elemente zugunsten weiblicher Anarchie und Unberechenbarkeit verschoben wäre. Klar ist, dass sich Kolnai für die Gleichberechtigung der Frauen ausspricht, die er jedoch nur unter der Bedingung der Vorherrschaft des Mannes gesichert sieht. Nur dann, wenn Frauen die geistige Überlegenheit und Führungsrolle des Mannes anerkennen, können sie erwarten, dass Männer ihnen in der vermeintlich souveränen, faktisch jedoch gönnerhaften, Geste des überlegenen Geschlechts Gleichberechtigung und Chancengleichheit gewähren. Dagegen setzt er die Gefahr, dass sich eine feminine Unterströmung im Nationalsozialismus gegen seine maskulinen Elemente durchsetzen könnte, wodurch eine zur Herrschaft gelangte anarchische Irrationalität den Nationalsozialismus auf eine Weise radikalisieren und politisch unberechenbar machen könnte, die ihn zu einer beispiellosen Gefahr für Europa und die Welt machen würde. So könnte man die Konsequenzen dieser Überlegungen zusammenfassen, die Kolnai selbst allerdings so nicht formuliert. Diese Überlegungen sind so abwegig und im Kontext des Buches marginal, dass sie nicht durch eine ernsthafte Kritik in ihrer Bedeutung aufgewertet werden sollten, die sie weder sachlich noch werksgeschichtlich hatten. Auch Kolnais Versuch, den nationalsozialistischen Antisemitismus konzeptionell in die von ihm als übergreifend herausgearbeitete antiwestliche Stoßrichtung des Nationalsozialismus einzuordnen und dadurch in seiner Bedeutung als Kern

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Ebd., S. 257. Vgl. ebd., S. 253.

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der nationalsozialistischen Rassenpolitik und -ideologie zu relativieren,20 ist aus heutiger Sicht befremdlich, war jedoch ebenfalls im zeitgenössischen Diskurs als eine unter anderen Facetten der konzeptionellen Bestimmung des Antisemitismus verbreitet. Als Reaktion auf die irrationalen, sachlich nicht begründbaren Elemente des Rassenantisemitismus schien er ideologiekritisch plausibel. Argumentiert wurde dabei gegen eine vermeintliche Hysterie und Paranoia, die Ausmaß und Bedeutung der Verfolgung und Diskriminierung der Juden maßlos übertreibe, da sie deren symbolische Bedeutung, die nichts mit den Juden selbst zu tun habe, übersehe. Kolnais Einordnung des Antisemitismus in seine Gesamtsicht auf den Nationalsozialismus ließ keinen Zweifel daran, dass er die nationalsozialistische Judenpolitik entschieden ablehnte. Die Diskriminierung der Juden müsse ernst genommen werden, hätten doch die Nürnberger Gesetze eine neue und furchtbare Perspektive rassischer Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit und des Aberglaubens eröffnet.21 Er warnte ausdrücklich davor, die mögliche weitere politische Radikalisierung des Nationalsozialismus zu unterschätzen und dessen aggressive Praktiken und ideologische Begleitrhetorik als nicht ernst zu nehmende Übertreibung abzutun. Zugleich gesteht Kolnai dem Nationalsozialismus zu, dass es durchaus ein ­jüdisches Problem geben könne. Er hält es in bestimmten Fällen für nachvollziehbar, die Juden zu hassen: Auch die Juden hätten, so wie alle Völker und R ­ assen der Menschheit, auch minderwertige Eigenschaften. Die Tatsache, dass sich der Nationalsozialismus gegen die Juden richtet und diese aus dem deutschen Leben ausschließt, rechtfertigt für ihn noch keine hysterischen Beschimpfungen des Nationalsozialismus.22 Sogar der vulgäre und obszöne Antisemitismus sei durchaus historisch berechtigt, auch wenn er nicht die wahre Bedeutung seines Gegners erfasse. Zwar hätten die Juden ihren Plan einer universalen Herrschaft nicht zu einem politischen Projekt entwickelt. Dennoch gebe es eine solche Vision jüdischer Weltherrschaft, auch wenn diese den Juden nicht vollständig bewusst sei. Das selbstgerechte Bestehen der jüdischen Religion auf der korrekten Erfüllung des Gesetzes könne Ausgangspunkt eines »engstirnigen und selbstsüchtigen geistigen Nationalismus«23 sein. Kolnai sieht es als Verdienst des Nationalsozialismus, in der Judenfrage mit einer Reihe widersprüchlicher Kompromisse aufgeräumt zu haben und die Juden nun nicht mehr aus christlichen, sondern aus rassischen, völkischen und heidni20 21 22 23

Vgl. ebd., S. 495. Vgl. ebd., S. 518. Vgl. ebd., S. 521. Ebd., S. 260.

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schen Gründen zu bekämpfen.24 Gleichzeitig stehe der Nationalsozialismus gegen die christliche und demokratische westliche Zivilisation mit ihrer Herausstellung von universeller Ethik und persönlicher Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen unabhängig von deren ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit. Kolnai zitiert Hitler, der behauptet hatte, die jüdische Rasse sei gekennzeichnet durch einen hartnäckigen Willen zum Leben und der Erhaltung ihrer Art. Das sei durchaus vergleichbar mit dem arischen Idealismus der Selbstaufopferung für die Gemeinschaft. Kolnai warnt die Juden ausdrücklich davor, aus dieser heimtückischen Bemerkung Hitlers die Hoffnung zu schöpfen, das Dritte Reich zu überleben. Er selbst setzt darauf, dass die Juden auch dieses Mal wieder am Grab ihrer Verfolger stehen würden, wie das bisher in der Geschichte immer der Fall gewesen sei.25 Es geht sicher zu weit, in dieser Bemerkung Kolnais eine frühe Vorahnung des Holocaust hineinzuinterpretieren. Eher warnt er davor, aus dieser Behauptung Hitlers eine Achtung des Nationalsozialismus gegenüber den Juden herauszulesen, die der nationalsozialistischen Judenpolitik moralische Grenzen setzen würde. Hitlers These lässt sich auch so interpretieren, dass dieser jüdische Überlebenswille als provozierende Herausforderung der nationalsozialistischen Judenpolitik den Willen zur Vernichtung der Juden noch verstärken könnte. All das ist jedoch Spekulation. Kolnai selbst begnügt sich damit, Hitler zu zitieren und die Juden davor zu warnen, seine Äußerungen als Überlebensgarantie misszuverstehen. Kolnais Analyse und Kritik des nationalsozialistischen Antisemitismus ist zwiespältig, gibt es doch Passagen in seinem Buch, die den Eindruck erwecken könnten, als habe Kolnai durchaus Verständnis für die nationalsozialistische Judenpolitik. Ohne selbst die angeführten möglichen Gründe der Ressentiments gegenüber den Juden zu teilen, scheint er es für nachvollziehbar zu halten, dass Menschen solche Gründe haben könnten. Hinzu kommt seine konzeptionelle Einordnung und Relativierung des Antisemitismus im übergeordneten Zusammenhang der gegen den Westen, den bürgerlichen Humanismus und das Christentum gerichteten nationalsozialistischen Weltanschauung, die den nationalsozialistischen Antisemitismus auf die »fatale Spannung zwischen Deutschland und dem Westen«26 zurückführt. Aus seiner Sicht ist das nationalsozialistische Deutschland vor allem von seiner Feindschaft gegen die westlichen Demokratien bestimmt, und nicht von seiner besonderen Abneigung gegen die Juden. Den Nationalsozialismus sah er als an die christliche und westliche Zivilisation, nicht an die Juden gerichtete

24 25 26

Vgl. ebd., S. 520. Vgl. ebd., S. 528 f. Ebd., S. 536.

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Vernichtungsdrohung. Da die Vernichtungsdrohung gegen die westliche Demokratie für Kolnai den übergeordneten ideologischen Rahmen für die nationalsozialistische Judenpolitik setzte, kam die Verfolgung der Juden in seinem Buch nur am Rande vor. Die »antijüdische Obsession« des Nationalsozialismus, für den der Judaismus das Symbol der verfolgten Freiheit, Vernunft und Gerechtigkeit sei, gehe hauptsächlich auf »die fatale Spannung zwischen Deutschland und dem Westen«27 zurück. Verfolgt würden nicht so sehr die Juden als vielmehr ihre pazifistische oder moralische Haltung als Substanz jüdischer Existenz. Damit erklärt Kolnai das Judentum zu einem Symbol westlicher Werte, an dem sich der nazistische Antisemitismus stellvertretend abarbeite, anstatt das westliche Werte- und Gesellschaftssystem offen zu bekämpfen. In diesem konzeptionellen Kontext fordert er dazu auf, den nazistischen Antisemitismus weder zu übernoch zu unterschätzen. Seine an die deutschen Juden gerichtete Warnung, ihre Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland nicht einfach als weitere Episode in der historischen Kette ihrer Verfolgung zu verharmlosen, war ebenso ernst gemeint wie die Mahnung zu rationaler, unaufgeregter Bestandsaufnahme der tatsächlichen Beweggründe, Praktiken und Gefahren des nationalsozialistischen Antisemitismus.

Zeitgenössische Rezensionen des Buches Von zeitgenössischen Kritikern des Nationalsozialismus wurde die Bedeutung von Kolnais »The War Against the West« erkannt. In der öffentlichen Wahrnehmung des Buches wurden zumeist eben jene Themen hervorgehoben, deren Diskussion die Voraussetzungen einer angemessenen Strategie der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus klären sollte: Welchen Stellenwert hatten Rassendenken und Antisemitismus für die nationalsozialistische Politik und Ideologie? War der Nationalsozialismus in deutschen Traditionen und Ideen verankert oder stellte er einen Bruch mit deutscher Politik- und Ideengeschichte dar, sodass er durch die totalitäre Überwältigung deutscher Traditionen an die Macht gekommen war? Ließ sich der Nationalsozialismus als machtpolitische Herausforderung des Westens als dessen Antipode auf Distanz halten oder waren westliche Demokratien und ihr Wertesystem durch seinen politischen Erfolg herausgefordert, ihre normativen Grundlagen und deren Eignung zur konzeptionellen Begründung einer kämpferischen Demokratie zu überprüfen, um sich, wenn ­nötig, an dieser Herausforderung zu erneuern? Wie groß war die Gefahr eines

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Ebd., S. 253.

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von Nazideutschland ausgehenden Krieges und wie konnte ihr begegnet werden? In welchem Verhältnis standen Nationalsozialismus und Bolschewismus, die sich gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlicher ideologischer Begründung und gesellschaftspolitischer Zielsetzung, dem Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft verschrieben hatten? Zeitgenössische Rezensionen hoben den von Kolnai herausgearbeiteten Zusammenhang zwischen dem politischen Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung und der in der existenziellen Krise des bürgerlichen politischen Humanismus begründeten Unfähigkeit des Westens hervor, die vom Nationalsozialismus ausgehende Gefahr zu erkennen und politisch zu beantworten. W. J. Rose schrieb z. B., dass für Kolnai die europäische Zivilisation mitverantwortlich sei für den politischen Erfolg des Nazismus, und zwar nicht nur wegen des Versailler Vertrags, der Deutschland in Reaktion auf die in ihm festgeschriebene nationale Demütigung radikalisiert habe, sondern vor allem wegen der Schwäche und Unfähigkeit der westlichen Demokratien, politisch angemessen auf die vom Nationalsozialismus ausgehenden Gefahren zu reagieren.28 Vom Nationalsozialismus gehe eine wirkliche Kriegsgefahr aus, der mit einer Erneuerung der Demokratie begegnet werden müsse. Zugeständnisse des Westens würden die Nationalsozialisten nur als Zeichen seiner Schwäche sehen.29 C. J. Friedrich hielt Kolnai in seiner Rezension des Buches vor, durch seine Fokussierung auf vermeintlich deutsche Ideen und Traditionen, vor allem aber durch seine maßlose Übertreibung der Bedeutung der nationalsozialistischen Ideologie, den Kern der Gefährlichkeit des Nazismus verfehlt zu haben,30 während R. H. Heindel in seiner Rezension des Buches im Gegenteil gerade positiv hervorhob, dass für Kolnai der Nazismus nicht allein aus der ökonomischen und moralischen Krise der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu verstehen sei, sondern seine Ursachen in der deutschen Geschichte habe, auch wenn der Nazismus deshalb noch lange nicht, wie von ihm selbst beansprucht, identisch mit dem Deutschen sei.31 Gewürdigt wird Kolnais Verdienst, die nazistische Ideologie nicht als Hirngespinst unbedeutender Demagogen unterschätzt, sondern sie in ihrer tatsächlichen Bedeutung und Komplexität behandelt zu haben. Hervorgehoben wurde seine kulturelle Dechiffrierung der Nazi-Ideologie als Fortsetzung g­ rundlegender

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Vgl. W. J. Rose, Rezension von Aurel Kolnai, The War against the West. In: International Affairs, 18 (1939) 4, S. 531 f., hier 532. Vgl. Richard H. Heindel, Rezension von Aurel Kolnai, The War Against the West. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science, 200 (1938), S. 314 f., hier 314. Vgl. C. J. Friedrich, Rezension von Aurel Kolnai, The War Against the West. In: The Review of Politics, 1 (1939) 1, S. 101. Vgl. Heindel, Rezension, S. 314 f.

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Traditionen des deutschen Denkens, durch die er überzeugend Versuchen entgegengetreten sei, den Nationalsozialismus als Fremdkörper der deutschen Geschichte ohne Erklärungsbezüge zu ihren Entwicklungen und Debatten auf Distanz zu halten. Damit habe Kolnai nachgewiesen, dass die nationalsozialistische Ideologie eben nicht willkürlich von irgendwelchen Demagogen entwickelt worden sei.32 Kolnai habe überzeugend herausgearbeitet, dass die wirkliche Gefahr eines künftigen Krieges im quasireligiösen Kreuzzug gegen die Werte der westlichen Zivilisation liege. Ihre Fähigkeit, sich dem Nationalsozialismus entgegenzustellen, entscheide über die Zukunft der westlichen Demokratien. Sollten sie diese Auseinandersetzung nicht bestehen, so wären sie zum Untergang verurteilt. In seiner Fokussierung auf den Nationalsozialismus habe Kolnai jedoch die vom Bolschewismus ausgehenden Gefahren für die bürgerliche Gesellschaft verkannt und diesen fatalerweise im Lager der Verteidiger humanistischer Werte gesehen.33

Ausblick Dieses Buch versammelt die um einige Texte ergänzten Beiträge einer Tagung des Hannah-Arendt-Instituts, die im Nachgang zur Veröffentlichung der deutschen Edition seines Buches »Der Krieg gegen den Westen« wichtige Themen des Buches im Kontext zeitgenössischer deutscher, britischer und US-amerikanischer Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus diskutieren. Unter anderem wird das Buch in die zeitgenössische Analyse und Kritik nationalsozialistischer Ideologie, aber auch in das Gesamtwerk Kolnais eingeordnet, wobei sich der Vergleich mit der deutschen zeitgenössischen Diskussion auf Franz Neumanns »Behemoth« (Zimmermann) und Adornos und Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« (Brumlik) konzentriert. Auch wenn sich die Teilnehmer über die politische Bedeutung und die intellektuelle Qualität des Buches einig waren, sind die hier veröffentlichten Texte doch weit entfernt von seiner unkritischen Würdigung. Zur Sprache kommen so auch Wertungen und konzeptionelle Präferenzen Kolnais etwa zur Einordnung des Antisemitismus in die von Kolnai hervorgehobene antiwestliche Stoßrichtung des Nationalsozialismus (Brumlik), dessen Bestimmung als politische Religion (Steigmann-Gall) oder seine Vernachlässigung der vom Bol-

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Vgl. Oscar Jászi, Rezension von Aurel Kolnai, The War Against the West. In: American Political Science Review, 32 (1938) 6, S. 1166 f., hier 1166. Vgl. ebd.

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schewismus ausgehenden Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft, dem Kolnai im Unterschied zum Nationalsozialismus eine prinzipielle Orientierung am Humanismus und Universalismus zugestand, die von verschiedenen Autoren dieses Sammelbandes als einseitig oder verfehlt diskutiert werden. Neben der beeindruckenden Fähigkeit Kolnais, das komplexe facettenreiche Gebilde der nationalsozialistischen Ideologie stringent zu rekonstruieren, ohne sich in der Vielzahl widersprüchlicher, abwegiger und unsinniger Aussagen dieser Ideologie zu verlieren, finden sich in seinem Buch auch Passagen und Einschätzungen, die in ihrer polemischen Übertreibung oder ressentimentgeladenen Aggressivität irritieren. In ihnen zeigt sich, dass Kolnai in seiner Fokussierung auf die Beschwörung der nationalsozialistischen Bedrohung des Westens, etwa in seiner Stigmatisierung rechtskonservativer Intellektueller aber auch von Autoren wie Friedrich Nietzsche,34 Ernst Jünger oder Stefan George als prä- oder profaschistisch oder in der Interpretation des Antisemitismus oder der Bestimmung genderspezifischer Elemente des Nationalsozialismus, auch zu einseitigen und irritierenden Einschätzungen kam. Uwe Backes zeichnet Kolnais Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Bolschewismus bis zu »The War Against the West« nach und ordnet sie in die internationale Faschismus-, Bolschewismus- und Totalitarismusdiskussion der 1920er- und 1930er-Jahre ein. Dabei weist er nach, dass Kolnai den Vergleich beider Systeme vor allem als Kontrastfolie zum Nationalsozialismus nutzte, den er für die größere Bedrohung westlicher Demokratien hielt, ohne den Nationalsozialismus systematisch mit anderen totalitären Ideologien und Bewegungen zu vergleichen. Richard Steigmann-Gall diskutiert Kolnais These von der Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum, wobei er Kolnais Sicht auf den Nationalsozialismus als einer genuin antichristlichen und heidnischen Bewegung grundsätzlich bestreitet. Dabei sah er den Katholizismus Kolnais als Grund dieser aus seiner Sicht Fehleinschätzung, die sich auch in Kolnais Auffassung vom Totalitarismus als »pathologischer« Konsequenz der Moderne zeige. Kolnais Sicht auf den Nationalsozialismus als antichristlicher Infragestellung der Aufklärung sieht Steigmann-Gall in einer langen Tradition der Leugnung und Verdrängung, dass der Westen selbst die Werte der Aufklärung von Anfang an bekämpft und infrage gestellt habe. Es sei deshalb falsch, den Nationalsozialismus ausschließlich als Krieg gegen den Westen zu sehen, sei er doch zugleich eine Verteidigung des Westens gegen die mit der Französischen Revolution freigesetzten Häresien.

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Vgl. Kolnai, Krieg, S. 42.

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Micha Brumlik setzt sich mit Kolnais Begriff des Antisemitismus vor dem Hintergrund seiner Hauptthese auseinander, dass dieser eine Haltung gegen die normativ gesetzte westliche Kultur sei, wobei er vor allem mit Bezug auf Adornos und Horkheimers Thesen zum Antisemitismus in der »Dialektik der Aufklärung« zeigt, dass der zum Kernbestand westlichen Denkens gehört, während Kolnais Antisemitismus-Analyse in der westlichen Kultur keine Bezugsgröße des Antisemitismus gesehen habe. Dan Stone hebt Kolnais Fähigkeit hervor, sich in das Denken der Nationalsozialisten hineinzuversetzen, die in der öffentlichen Wahrnehmung des Buches in Großbritannien auch immer wieder gewürdigt worden sei, obwohl oder gerade weil populäre und wissenschaftliche britische Analysen des Nationalsozialismus vor dem Zweiten Weltkrieg nur selten die von diesem ausgehende Gefahr erkannten. Im Unterschied zu britischen Analytikern und Kritikern des Nationalsozialismus habe Kolnai dessen Rassenideologie in den Mittelpunkt seiner Analyse gerückt, die in Großbritannien wegen der dort selbst verbreiteten Rassentheorien vernachlässigt worden sei. In ihrer Diskussion der US-amerikanischen politischen und intellektuellen Debatten der Vor- und Nachkriegszeit arbeitet Michaela Hoenicke Moore heraus, dass Kolnai als Erster zentrale Themen bearbeitete, die die amerikanische Position zum Nationalsozialismus in den Folgejahren bestimmte. Insbesondere der Vansittartismus, der den Nationalsozialismus als aggressiven Ausdruck eines tief in der deutschen Geschichte verwurzelten Geistes beschrieb, sei Kolnais Erklärungsansatz nahegekommen. Dieses Erklärungsmodell sei zwar von der Regierung Roosevelt aufgegriffen worden, in den USA jedoch bis 1944 umstritten geblieben. Das, so Hoenicke Moore, habe mit der seinerzeit in der amerikanischen Gesellschaft vorherrschenden pazifistischen Einstellung und der grundsätzlichen Toleranz gegenüber abweichenden Ideologien zu tun. Rolf Zimmermann arbeitet Schnittpunkte zwischen Kolnais »The War Against the West« und dem 1942/1944 erschienenen »Behemoth« Franz Neumanns heraus. An Kolnais ideologiekritischem Ansatz hebt er die idealtypische Unterscheidung zwischen dem egalitären Universalismus des Westens und dem Partikularismus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft hervor. Neumann habe in seiner Strukturanalyse des Nationalsozialismus in ähnlicher Akzentuierung wie Kolnai nachgewiesen, dass die Spannung von Staat und Partei und die »totalitäre Monopolwirtschaft« die klassische Souveränität des Staates aufgelöst und durch die Herrschaft der Gesetzlosigkeit ersetzt habe. Auf unterschiedliche Weise hätten Kolnai und Neumann deutlich gemacht, dass der Nationalsozialismus nicht als krisenhafte Folge instrumenteller Aufklärungsrationalität oder kapitalistischer Ökonomie verstanden werden kann, sondern eine eigene politische Formation darstellte.

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Lee Congdon untersucht Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« vor dem Hintergrund seiner Biografie und des zeitgenössischen Kontextes. Die besondere Bedeutung von Kolnais Buch sieht er in dessen Erkenntnis, dass der Krieg gegen den Westen in seinem Kern ein Krieg des Heidentums gegen das Christentum war. Nachdem der Nazismus besiegt war, habe Kolnai den Kommunismus als die größte Gefahr für die christliche Zivilisation gesehen. An Kolnais Moralphilosophie arbeitet Congdon heraus, dass dieser moralisches Fehlverhalten als irrelevant für die universelle Anerkennung der Verbindlichkeit moralischer Standards und Werte und deren kulturübergreifende Geltung bestimmt habe, die er als Kristallisationen der kollektiven moralischen Weisheit der Menschheit sah. Mein eigener Beitrag rekonstruiert das von Kolnai 1936 entworfene Bild des Nationalsozialismus und stellt es in den Kontext heutiger Forschungen. Dabei werden sowohl die von Kolnai selbst gesetzten inhaltlichen Schwerpunkte berücksichtigt als auch seine Absicht, den Westen über die von ihm unterschätzte Gefahr des Nationalsozialismus aufzuklären und zu entschiedenem politischen Handeln zu veranlassen. Die Rekonstruktion des Nationalsozialismus aus Kolnais Perspektive ist hier die Folie für die kritische Einschätzung seiner historischen Leistung. Graham McAleer setzt die philosophischen Essays Kolnais aus den 1920erund 1930er-Jahren in Bezug zu seinem Krieg gegen den Westen. Philosophischer Leitfaden von Kolnais Analyse der nationalsozialistischen Ideologie ist für ihn dabei der Vitalismus, den diese Ideologie gegen Aufklärung und Rationalismus gesetzt habe. Zoltán Balázs argumentierte in seinem Beitrag, dass Kolnai Carl Schmitts »Begriff des Politischen« von 1932 als Kontrastfolie für seinen eigenen Politikbegriff und die Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Moral benutzt habe. Ausgehend von Kolnais lebenslanger Beschäftigung mit dem utopischen Denken, die sein Verständnis der Politik neben seiner Auseinandersetzung mit Carl Schmitts Begriff des Politischen geprägt hätten, hebt Zoltán Balázs Kolnais Verständnis der Politik als einer autonomen Sphäre in ihrem Bezug auf moralische Grenzen des Politischen hervor. In seinem Text zu Kolnais Moralphilosophie stellt Chris Bessemans den subtilen Konservatismus von Kolnais politischer Philosophie heraus, der die Anfälligkeit der modernen Demokratie für einen identitären Egalitarismus betonte. Seine Fokussierung auf Kolnais antiutopische Schriften sieht diese als Verbindungsglied seiner politischen und ethischen Arbeiten. Gegründet auf seiner Herausarbeitung der philosophischen Bedeutung moralischer Erfahrung und der phänomenologischen Beschreibung ethisch relevanter Phänomene habe Kolnai einen besonderen moralischen Kognitivismus und Kontextualismus entwickelt.

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Andrew S. Cunningham stellt Kolnais Denken in den Kontext des Konservatismus des 21. Jahrhunderts und hier insbesondere des Denkens von Karl Popper und Michael Oakeshott. Die Vorzüge des Konservatismus hätten aus Kolnais Sicht vor allem in der Akzeptanz und Anerkennung der inneren, nicht hintergehbaren Komplexität menschlicher Existenz gelegen. Die Abwertung der Persönlichkeit habe Kolnai als das Wesen der politischen Philosophie und Praxis des utopischen Sozialismus, aber auch des Nationalsozialismus gesehen: Paradoxerweise hätten beide den einfachen Menschen einerseits als Verkörperung aller Werte bestimmt, zugleich jedoch auf seiner Machtlosigkeit in der Gemeinschaft bestanden.

Themen Kolnais in »Der Krieg gegen den Westen«



Uwe Backes Aurel Kolnais Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus im Kontext der zeitgenössischen Diktaturkomparatistik

Einleitung Aurel Kolnais Werk »Der Krieg gegen den Westen«, erstmals erschienen in London 1938 und verfasst im »Ständestaat« Dollfuß’ und Schuschniggs in Wien unter dem Eindruck der »Machtergreifung«, raschen Regimekonsolidierung und bedrohlichen Machtentfaltung des deutschen Nationalsozialismus, widmet sich auf mehreren Hundert Seiten ausführlich der geistigen Herausforderung durch die extreme Rechte. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit der Rassen­ ideologie des Nationalsozialismus und ihren intellektuellen Quellen und Zulieferern. Für die historische Kontextualisierung der Schrift wie auch ihren Entstehungszusammenhang sowie die Einordnung in die intellektuelle Biografie des Verfassers ist jedoch die Frage von nicht geringer Bedeutung, in welcher Weise Bezüge zu anderen »antiwestlichen« (antiliberalen, antidemokratischen, antikonstitutionellen) Strömungen hergestellt werden, vor allem der Sowjetunion Stalins. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ideologien, Bewegungen und Regimes erkennt Kolnai, und in welchem Verhältnis steht seine Deutung Mitte der 1930er-Jahre zu seinem früheren publizistischen Wirken? Besondere Aufmerksamkeit verdient Kolnais Stellung innerhalb der Totalita­ rismusdiskussion der 1930er-Jahre, die strukturelle Gemeinsamkeiten der ideologisch-antagonistischen Bewegungen des Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus/Kommunismus herauszuarbeiten versuchte und deren Tertium Comparationis zumeist im politischen System des »Westens« mit der variantenreichen Verbindung von Demokratie und Verfassungsstaat bestand.1

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Dies trifft nicht auf Positionen zu, die Bolschewismus- oder Nationalsozialismus-Kritik aus rätekommunistischer oder christlich-ständestaatlicher Perspektive formulierten. Für die rätekommunistische Variante siehe: Mike Schmeitzner, Brauner und roter Faschismus? Otto Rühles rätekommunistische Totalitarismustheorie. In: ders. (Hg.), Totalitarismuskritik von links.

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Hat sich Kolnai aktiv an diesen Diskussionen beteiligt? Verwandte er die in den 1920er-Jahren in Italien aufgekommenen und bald in die Hauptsprachen des »Westens« übertragenen Neologismen »totalitär« und »Totalitarismus«? Welche Rolle spielte dabei der Vergleich von Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus/Kommunismus? Der erste Teil des Beitrags ist der Art und Bedeutung komparativer Betrachtungen in »Der Krieg gegen den Westen« gewidmet. Wie sich zeigt, erkennt Kolnai im Nationalsozialismus den Hauptfeind des »Westens«, während der Bolschewismus als eine dem »Westen« geistig näherstehende Bewegung erscheint. Daher wird im zweiten Teil geprüft, wie die Position Kolnais in das weitgefächerte zeitgenössische Spektrum zwischen den Extrempolen Antibolschewismus und Philo­bolschewismus einzuordnen ist. Dabei sind die Stellungnahmen Kolnais in seinen früheren Veröffentlichungen und die durch ein außergewöhnliches Maß an intellektueller Redlichkeit und Selbstkritik gekennzeichneten autobiografischen Reflexionen heranzuziehen. Auf dieser Grundlage soll abschließend die Frage beantwortet werden, warum Kolnai Nationalsozialismus und Bolschewismus nicht als in gleicher (oder ähnlicher) Weise »antiwestliche« Strömungen behandelt. In seinen Memoiren hat er das Jahrzehnte später als einen seiner größten politischen Irrtümer angesehen.

»Der Krieg gegen den Westen« »Der Krieg gegen den Westen« ist Kolnais umfangreichstes Werk, das gleichsam die Quintessenz seines frühen publizistischen Wirkens enthält. Sie besteht in einer schon in den ersten Schriften zum Ausdruck kommenden »prowestlichen«, der politischen Werte- und Formenwelt vor allem der angelsächsischen Verfassungsstaaten verpflichteten Haltung, die in den 1920er-Jahren unter ungarischen, österreichischen oder deutschen Intellektuellen alles andere als selbstverständlich war – auch nicht in den verschiedenen sozialistischen, christlichen und linkskatholischen akademischen Zirkeln, in denen sich Kolnai bewegte. Das ungewöhnliche Maß an »Unabhängigkeit in der geistigen Orientierung und persön-

­ eutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 205–227. Eine christlich-stände­ D staatliche Kritik am »totalen Staat« des Nationalsozialismus leisteten etwa Autoren der in Wien erscheinenden Zeitschrift »Der Christliche Ständestaat«, für die auch Kolnai in den 1930er-Jahren Beiträge verfasste, ohne mit autoritären Ständestaatskonzeptionen zu liebäugeln. Siehe zu dieser Zeitschrift: Elke Seefried, Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933–1938, Düsseldorf 2006, S. 195–215; Aurel Kolnai, Political Memoirs. Hg. von Francesca Murphy, Lanham 1999, S. 128–131, 198 f.

Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus

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lichen Bindung«2 kam nicht zuletzt in der Unfähigkeit zum Ausdruck, sich einem politischen Lager ohne bedeutende Einschränkungen zugehörig zu fühlen. Als zum Katholizismus konvertierter Philosoph ungarisch-jüdischer Herkunft hielt er in den Wiener Jahren Distanz zur Christlichsozialen Partei mit ihren klerikalen, autoritär-ständestaatlichen und philofaschistischen Tendenzen. Gleichzeitig blieb er in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (und darin zeitweilig in Otto Bauers Bund Religiöser Sozialisten), der er von Ende 1930 bis zu deren Auflösung 1934 angehörte, ein marxismuskritischer Außenseiter.3 Kolnais »prowestliche« Orientierung bildete das ethische und politische Koordinatensystem, an dem er die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie ausrichtete. Die Grundelemente dieses Koordinatensystems hat er zu Beginn seines Werkes präzise in zwölf Punkten zusammengefasst. Als wichtigste Inspirationsquelle nennt er Tomáš G. Masaryks programmatische Schriften »Das neue Europa« (1917 in Sankt Petersburg verfasst, deutsche Ausgabe 1922) und »Die Weltrevolution«,4 in denen die Westalliierten des Ersten Weltkriegs als demokratische Vorkämpfer für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen gegen die autokratischen Mächte, die »Träger des mittelalterlichen Theokratismus und monarchischen Aristokratismus«,5 gefeiert und die Leitprinzipien »Demokratie und Humanität« als geistige Grundlage der Staaten der »befreiten Völker« entwickelt wurden. Auch berief er sich auf den ehemaligen Londoner »Times«-Chefredakteur, Publizisten und Mitteleuropakenner Henry Wickham Steed, der den Nationalsozialismus mit seiner Arierdoktrin in einer der ersten englischen Publikationen zum neuen Regime in Deutschland (neben Italien und der allerdings nur beiläufig erwähnten Sowjetunion) als der »westlichen liberalen Zivilisation«6 diametralen Bewegung charakterisiert hatte. Seit den alten Griechen – so Kolnai idealisierend – werde der Westen oder Europa im Gegensatz zum asiatischen Osten mit den einstmals dominierenden »theokratischen Gesellschaften« und ihren Sklaven-Untertanen als eine »Gesellschaft mit freiheitlicher Verfassung und Selbstregierung« nach »anerkannten

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So Axel Honneth im Vergleich mit dem in dieser und anderer Hinsicht geistesverwandten Walter Benjamin: ders., Nachwort. In: Aurel Kolnai, Ekel, Hochmut, Hass. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt a. M. 2007, S. 143–175, hier 158. Vgl. Kolnai, Political Memoirs, S. 148; Francis Dunlop, The Life and Thought of Aurel Kolnai, Aldershot 2002, S. 131–136. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 54. Tomáš G. Masaryk, Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914–1918, Berlin 1925, S. 437. Siehe auch ders., Das neue Europa: der slawische Standpunkt, Berlin 1922. Wickham Steed, Hitler Whence and Whither?, London 1934, S. 151 (Kapitel V: »The Third Empire and the Totalitarian State«).

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Regeln« verstanden. Ihre Führer stellen »keine magischen Inkarnationen einer Göttlichkeit« dar, sondern stehen »öffentlichen Körperschaften« vor, »die entsprechend rationaler Ethiken und säkularisierter Politik regiert werden«. Die »irdische Macht« ist »nicht länger absolut, sondern sie wird relativ und betont die Wertschätzung der menschlichen Persönlichkeit und des individuellen Bewusstseins«. Dieser Prozess ist wesentlich vom »Christentum mit seinem Appell an die menschliche Seele und der Trennung von ›Gott und Cäsar‹« geprägt, vorbereitet durch »das sokratische und stoische Denken«.7 Hinzu kommt die »römische Rechtsordnung mit ihrer Rationalisierung der Besitzverhältnisse«. Das Christentum geht mit »römisch-imperialem Universalismus« eine Synthese ein. Gewisse magische und traditionelle Elemente werden durch die »rationalen, utilitaristischen und egalitären« ausbalanciert, die politischen Gewalten aufgeteilt und wechselseitig verschränkt. Das »demokratische Prinzip einer konstitutionellen Opposition« ist »tief in der allgemeinen Philosophie des Westens« verwurzelt, insbesondere im »Postulat des Empirismus, wonach jede ursprüngliche Annahme durch die Erfahrung überprüft werden muss«.8 Das Konzept der »persönlichen Würde« wiederum bahnt der »Emanzipation der Frau« den Weg. Zudem versteht sich die Nation westlichen Typs als Mitglied einer »Gesellschaft der Nationen«, einem »übernationalen Kosmos der Zivilisation, einer universalen Menschheit, die über eng definierte politische Einheiten und Machtsouveränitäten hinausgeht«.9 Diese knappe Zusammenfassung der fundamentalen Werte und Verfahrensregeln mit ihrer Betonung des Universalismus und der egalitären Elemente ist unverkennbar auf die Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie gerichtet, die im Mittelpunkt des Werkes steht. Kolnai liefert eine kritische Exegese und Analyse ihrer intellektuellen Nährströme: des »Stammesegoismus«, des Ultranationalismus, der homogenisierenden Gemeinschaftskonzepte, des heroisch-dämonischen Menschenbildes mit der Vorherrschaft des Männlich-Kriegerischen, dem Neuheidentum und rassisch-heidnisierten Christentum, der »Moral der Größe und Skrupellosigkeit«, dem »Sozialismus der Ungleichheit«, der »Sklavengesellschaft«, dem biologischen Rassismus und Imperialismus. Dabei erweist er sich als Koryphäe auf dem Gebiet der NS-Ideologie, ihrer geistigen Ursprünge und (willentlichen wie unwillentlichen) Zuarbeiter innerhalb wie außerhalb der NS-Bewegung. Als einer der wenigen Autoren seiner Zeit stellt er eine intime Kennerschaft der umfangreichen Ideologieproduktion unter Beweis, wertet die Schriften von mehr als 100 Autoren aus, nimmt dieses Ideenreservoir trotz seiner Rohheiten, Verstiegenheiten und Irrationalismen ernst, warnt den angelsächsi-

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Kolnai, Krieg, S. 52. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54.

Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus

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schen Leser vor intellektuellem Hochmut und Unterschätzung des Phänomens,10 erkennt die starken, verführerischen Seiten und zeigt, wo mit Aussicht auf Erfolg an tief verwurzelte Mentalitäten und Denkgewohnheiten angeknüpft wird. Allerdings nutzt Kolnai das Kategoriensystem des »Westens« kaum, um die Besonderheiten der NS-Ideologie im Vergleich mit anderen »antiwestlichen« Ideologien und Bewegungen noch besser zu erfassen. Selbst der kurze Abschnitt »Der totalitäre Staat« enthält nur wenige ideologie- oder regimevergleichende Passagen. Hauptsächlich dargestellt und ideengeschichtlich eingeordnet wird die Lehre vom »totalen Staat«, wie sie dem Nationalsozialismus nahestehende Juristen (Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Carl Schmitt u. a.) in Umrissen entfaltet hatten. Dabei stellt Kolnai das faschistische Italien und das NS-Regime knapp einander gegenüber, wenn er beide Systeme als »Einparteienstaat« charakterisiert und hervorhebt, der »politische Eingriff der Partei« sei im deutschen Fall »unvergleichlich stärker«11 als im italienischen. Den Vergleich zum »Einparteienstaat« im bolschewistischen Russland zieht Kolnai bemerkenswerterweise nicht. Die wenigen komparativen Bemerkungen dienen dazu, Unterschiede zu markieren, nicht jedoch Strukturähnlichkeiten zu benennen. Er zitiert mehrfach aus dem Werk des amerikanischen Ökonomen und Russlandkenners Calvin B. Hoover über den Eintritt Deutschlands ins Dritte Reich,12 lässt aber dessen vergleichende Beobachtungen zum System der Bolschewiki vollständig unbeachtet.13 Hoovers ausführlich vergleichende Schrift »Dictators and Democracies« kam zu spät heraus, um von Kolnai noch herangezogen werden zu können.14 Kolnais komparative Betrachtungen beschränken sich auf einige wenige Bemerkungen. So heißt es zu Beginn des Abschnitts über den »totalitären Staat«, dieses Konzept des Faschismus und Nationalsozialismus beanspruche im Gegensatz zum »Kommunismus« und »Kollektivismus« keineswegs, »das gesamte soziale oder gar private Leben seiner Bürger zu regulieren«.15 Der Ausdruck »­ totalitär«

10 Eine im damaligen Oxford verbreitete Haltung: Vgl. Dan Stone, The Holocaust, Fascism and Memory. Essays in the History of Ideas, Basingstoke 2013, S. 73. 11 Kolnai, Krieg, S. 190. 12 Vgl. ebd., S. 48, 402, 423, 658. 13 »Die psychologische Nähe zum russischen Bolschewismus fällt wohl jedem auf, der mit Sowjet­ russland vertraut ist.« Calvin B. Hoover, Germany enters the Third Reich, London 1933, S. 160. 14 Vgl. ders., Dictators and Democracies, New York 1937. Siehe zur Bedeutung Hoovers für die frühe amerikanische Totalitarismusdebatte Abbott Gleason, Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York 1995, S. 40. 15 Kolnai, Krieg, S. 189. Englisches Original: »The Fascist conception of the Totalitarian State, the scope of which is extended in National Socialism, does not exactly mean that the governmental apparatus of the State affects to regulate all social, or even private, life of the citizens. This would deserve the term ›communism‹, or at all events, ›collectivism‹.« Ders., The War Against the West, mit einem Vorwort von Wickham Steed, New York 1938, S. 160.

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wird – offenbar als Synonym zum »totalen Staat« – als Selbstbezeichnung auf die Faschismen angewendet, bleibt aber für sie reserviert. Der Begriff erfährt eine Ausweitung, wenn von »totalitären Tendenzen«16 im Zusammenhang mit ideengeschichtlichen Vorläufern wie Platons Philosophenkönigtum und dem idealistischen Staatsbegriff Hegels die Rede ist. Auch verwendet Kolnai interessanterweise den Begriff der »totalitären Demokratie«17 für Folgeströmungen der Französischen Revolution schon vor den Jahre später entstandenen Studien Jacob L. Talmons, ohne das Konzept auch nur in Ansätzen auszuarbeiten. Kolnai knüpft dabei an Heinz Otto Zieglers ideenhistorische Schrift »Die moderne Nation« und die liberale Rousseau- und Demokratiekritik des 19. Jahrhunderts an.18 Im Widerspruch zu der Eingangsbehauptung, der totalitäre Staat des Nationalsozialismus und Faschismus beanspruche keinen totalen Zugriff auf das Privat­ leben der Untertanen, steht der Hinweis auf das »Ideal der absoluten Versklavung des Menschen im totalen Staat«.19 Zu diesem Ideal aber scheint wieder Kolnais Feststellung zu passen, »totalitäre Politik« sei »unvereinbar […] mit jeder Art nicht-tribalistischer Religion und Ethik«.20 Den »Tribalismus« der nationalsozia­ listischen Ideologie mit der völkischen Stammesgemeinschaft, für die »der geschlossene Sozialkörper als eindeutig definierte Einheit des Geistes, des Willens und der Macht die endgültige Wirklichkeit des menschlichen Lebens darstelle«,21 hat Kolnai u. a. im Rückgriff auf Beobachtungen des Sozialanthropologen Lucien Lévy-Bruhl22 detailliert herausgearbeitet. Der »Tribalismus« des Bolschewismus hingegen ist kein Thema – anders als zumindest andeutungsweise in der 1945 erstmals veröffentlichten Generalabrechnung mit philosophischen Vordenkern der Totalitarismen (»Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«) von Karl R. Popper, dem Kolnai in Wien im Seminar des christlich-sozialistischen Wirtschaftshistorikers und Sozialtheoretikers Karl Polanyi begegnet war.23 16 17 18

Kolnai, Krieg, S. 190. Ebd., S. 192. Vgl. Heinz Otto Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931. Alexis de Tocqueville, den Kolnai nur einmal (S. 480) beiläufig erwähnt, sprach in seinem berühmten Amerika-Buch von der Gefahr eines »despotisme démocratique«. Ders., De la démocratie en Amérique, biographie, préface et bibliographie de François Furet, Band II, Paris 1981, S. 387. 19 Kolnai, Krieg, S. 195. 20 Ebd., S. 197. 21 Ebd., S. 56. 22 Vgl. Lucien Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven, Wien 1930, S. 59; Kolnai, Krieg, S. 57. 23 Karl R. Popper hat Kolnais Exegese der NS(-affinen)-Literatur hoch geschätzt, aber in Kolnais Werk keine Stütze für die Kritik am Hegelianismus als Quelle eines linken Kollektivismus und »Historizismus« finden können. Vgl. ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Hegel, Marx und die Folgen, 6. Auflage München 1980, S. 91 f., 99 f., 400–404, 461. Siehe zur Bedeutung von Kolnais Werk für Popper auch Malachi Haim Hacohen, Karl Popper. The Formative Years 1902–1945. Politics and Philosophy in Interwar Vienna, Cambridge 2000, S. 387.

Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus

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Anscheinend schließt Kolnai das von Lenin begründete Regime und dessen ideologische Legitimationsbasis per definitionem aus dem Bereich »totalitärer Politik« aus. Diese Schlussfolgerung ist geradezu zwingend, wenn Kolnai den »bolschewistischen Staat« am Ende des Absatzes als »dämonisch-absolutistischen« vom »totalitären« des Faschismus und Nationalsozialismus kategorisch unterscheidet. Im »dämonisch-absolutistischen« Staat scheint die »ewige Existenz des Menschen« selbst und die »Unsterblichkeit seiner Seele«24 in Gefahr, während der »totalitäre Staat« diese Sphäre – zumindest der Intention nach – unberührt lasse. Allerdings steht diese Feststellung in einem Spannungsverhältnis zur Eingangsthese, wonach »der Nationalsozialismus unvergleichlich stärker antiwestlich als der Bolschewismus«25 sei. Und mehr noch gilt dies für die Aussage: »Die wildeste Spielart des Bolschewismus steht bürgerlichen Vorstellungen viel näher als der Antiliberalismus der Nazis.«26 Wer das Urteil isoliert betrachtet, könnte Kolnais Buch – überspitzt – geradezu als ein Manifest des Anti-Antitotalitarismus bezeichnen. Kolnai betont neben der relativ größeren Nähe des Bolschewismus zum »Westen« die Sonderstellung des Nationalsozialismus, der in Gestalt der Rassendoktrin mit dem ethischen Universalismus bricht.27 Daher zieht Kolnai den Schluss: »Der extremste Atheismus der Linken hat mit christlicher Moral und ihren sozialen Implikationen unendlich mehr gemein als das Heidentum der Nazis.«28 Der für die NS-Ideologie zentrale Rassenantisemitismus sei Ausdruck der »Feindschaft gegen die Menschheit und die westlichen demokratischen Gesellschaften.« Für den italienischen Faschismus gelte dies in geringerem Maße. Die »Barbarei der Nürnberger Gesetze sowie der Gedankenwelt, die ihnen zugrunde liegt«, bewege sich zwar auf der »allgemeinen Linie des Faschismus«, gehe aber einen entscheidenden Schritt darüber hinaus: »Der Nazismus hat eine neue und furchtbare Perspektive rassischer Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit und des Aberglaubens eröffnet.«29 Damit zählt Kolnai zu den wenigen kritischen Beobachtern der Zeit, die das eliminatorische Potenzial der NS-Ideologie erkennen und für praxisrelevant erachten. Die postulierte moralische Sonderstellung des Nationalsozialismus im Vergleich zum Bolschewismus hat Kolnai vermutlich dazu veranlasst, in seinem Werk

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Kolnai, Krieg, S. 198. Ebd., S. 46. Ebd., S. 50. Dies hat schon Kolnais ungarischer Landsmann Oszkár Jászi in seiner ansonsten von hoher Wertschätzung getragenen Rezension kritisiert: ders., The War Against the West. In: American Political Science Review, 32 (1938), S. 1166 f. Kolnai, Krieg, S. 50. Ebd., S. 521.

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Isomorphien weitgehend auszublenden, die (nicht zuletzt katholische30) Zeitgenossen schon früh herausgearbeitet hatten. Während Kolnai an seinem Buch arbeitete, erschien in einem Schweizer Verlag eine Analyse eines der besten Bolschewismuskenner, des katholischen Publizisten Waldemar Gurian, der den Nationalsozialismus (»brauner Bolschewismus«31) aufgrund der hervorstechenden strukturellen Gemeinsamkeiten eng an die Seite des Regimes in Russland rückte. Früher noch hatte der Linkskatholik und ehemalige Anführer der italienischen Volkspartei, Don Luigi Sturzo, auf die Gemeinsamkeiten von Bolschewismus und Faschismus aufmerksam gemacht. Sturzo hatte sie bereits in seinem 1926 in Deutschland erschienenen Italien-Buch (»Italien und der Faschismus«) detailliert herausgearbeitet.32 Als Kolnai sein Buch beendete, veröffentliche Sturzo die erste Schrift über den »totalitären Staat«, in dem nun auch das NS-Regime mit Bolschewismus und Faschismus verglichen wurde. Es erschien 1935 als eigenständige Veröffentlichung der linkskatholischen Madrider Monatsschrift »Cruz y Raya«, ein Jahr darauf in englischer Sprache in der Zeitschrift der New Yorker New School, »Social Research«.33 In diesen Analysen wurden die strukturellen Gemeinsamkeiten von Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus systematisch herausgearbeitet: ihre auf die Spitze getriebene administrative Zentralisation34 mit der Zerstörung der gemeindlichen und provinziellen Autonomie und aller anderen öffentlichen und halböffentlichen Einheiten, religiösen und kulturellen Vereinigungen und Universitäten; dem radikalen Abbau der Unabhängigkeit der legislativen und judikativen Organe; dem Aufbau einer »politischen Polizei«35 mit nahezu unbe30 Vgl. James Chappel, The Catholic Origins of Totalitarianism Theory in Interwar Europe. In: Modern Intellectual History, 8 (2011), S. 561–590. Leider übersieht der Autor den liberal-/linkskatholischen Einfluss auf die frühe Konzeptbildung. 31 Waldemar Gurian, Bolschewismus als Weltgefahr, Luzern 1935, S. 45. Zur weiteren Ausarbeitung von Gurians Totalitarismusdeutung siehe Heinz Hürten, Waldemar Gurian und die Entfaltung des Totalitarismusbegriffs. In: Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 59–70; Ellen Thümmler, Katholischer Publizist und amerikanischer Politikwissenschaftler. Eine intellektuelle Biografie Waldemar Gurians, Baden-Baden 2011, S. 217–247. 32 Vgl. Luigi Sturzo, Italien und der Faschismus, Köln 1926. Siehe dazu auch Uwe Backes, Luigi Sturzo: Begründer und früher Wegbereiter des Totalitarismuskonzepts. In: Frank Schale/Ellen Thümmler (Hg.), Den totalitären Staat denken, Baden-Baden 2015, S. 31–50. 33 Vgl. Luigi Sturzo, El Estado totalitario, Cruz y Raya, Madrid 1935; ders., The Totalitarian State. In: Social Research, 34 (1936) 2, S. 222–235. Ein Jahr später erschien die Analyse des aus Königsberg stammenden emigrierten Ökonomen und Russlandkenners Arthur Feiler: ders., The Totalitarian State. In: Findlay MacKenzie (Hg.), Planned Society. Yesterday, Today, Tomorrow. A Symposium by thirty-five Economists, Sociologists, and Statesmen, New York 1937, S. 746–774. Nachdruck bei: Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2. Auflage Baden-Baden 1999, S. 53–69. 34 Vgl. Sturzo, El Estado totalitario, S. 28. 35 Ebd.

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schränkten Eingriffsbefugnissen; der Einheitspartei (»partido único«36) mit einem bewaffneten Arm, die jegliche politische, zivile, individuelle und kollektive Freiheit unterdrücke; der Einrichtung von Sondertribunalen, Konzentrationslagern und Internierungsorten und eines umfassenden Systems der Bespitzelung und Unterdrückung, um Konformismus nach innen und außen zu erzwingen; die Militarisierung des Landes,37 der Staatspartei und Jugend, mit Militärparaden und Geländeübungen; die Ideologisierung des Erziehungswesens mit politisch-religiösen Zügen38 und einem Staatskult39 unter dem Zeichen der Nation, der Rasse oder der Klasse; die Mobilisierung der Gesellschaft durch Paraden, Feste, Aufzüge, Plebiszite und Sportübungen; die glühende Verehrung von Helden und Halbgöttern; und schließlich die tiefen Eingriffe in das Wirtschaftsleben.40 Sturzos Schriften waren Kolnai offenbar unbekannt. Wenn der Ansatz der »politischen Religionen« gewisse Spuren in » Der Krieg gegen den Westen« hinterlassen hat,41 dann womöglich durch die Lektüre von Carl Christian Brys hellsichtiger psychologischer Deutung der »verkappten Religionen« (1924).42 Die Studie des langjährigen Deutschlandkorrespondenten des »Manchester Guardian«, Frederic Voigt, »Unto Caesar«, die den Ansatz systematisch entfaltete und im gleichen Jahr wie »Der Krieg gegen den Westen« herauskam,43 hat Kolnai hingegen erst Jahre später gelesen.44

Zwischen Antibolschewismus und Philobolschewismus Wer Kolnais intellektuelle Biografie vor dem Erscheinen von »Der Krieg gegen den Westen« nicht kennt, könnte vermuten, die dem Nationalsozialismus zugeschriebene Sonderstellung im Verhältnis zu den Werten des »Westens« erkläre sich mit dem unter Intellektuellen in den 1930er-Jahren verbreiteten positiven Bild der S­owjetunion. Diese Vermutung mag überdies der Erscheinungsort

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Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 35. Kolnai, Krieg, S. 52. Vgl. den Hinweis bei Kolnai, Political Memoirs, S. 78. Siehe Carl Christian Bry, Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns (1924). Hg. mit einem Vorwort von Martin Gregor-Dellin, München 1979. Zur Bedeutung der Schrift neben dem Vorwort Martin Gregor-Dellins: Hans Otto Seitschek, Politischer Messianismus. Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, Paderborn 2005, S. 96. Vgl. Frederic A. Voigt, Unto Caesar, London 1938. Siehe zu dieser Schrift und ihrer Rezeption ausführlich: Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen, Bonn 1999, S. 99–142. Vgl. Kolnai, Political Memoirs, S. 210.

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von ­Kolnais Buch nähren, denn Victor Gollancz’ Londoner »Left Book Club« war Mitte der 1930er-Jahre nach links weit offen und bot eine Zeit lang reichlich Raum für blauäugige Sowjetunionromantik.45 Jedoch legte Kolnai weder im »Krieg gegen den Westen« noch in seinen früheren Schriften auch nur in Ansätzen philobolschewistische Neigungen an den Tag. In »Der Krieg gegen den Westen« erscheint der Bolschewismus zwar als das im Vergleich zum Faschismus/ Nationalsozialismus kleinere Übel – aber eben doch als Übel und keineswegs als eine Quelle der Hoffnung auf eine neue, bessere Welt.46 Zwar wird die antiwestliche Orientierung des Bolschewismus heruntergespielt, wenn Kolnai sehr zurückhaltend konstatiert: »Ich gebe zu, dass proletarischer und russischer Sozialismus die Welt der westlichen Demokratie mit einer Reihe von Komplikationen und Verlegenheiten konfrontiert.«47 Aber Kolnai zählte ohne Zweifel nicht zu der großen Schar intellektueller Sowjetunionschwärmer, die sich vor den Karren der Sowjetpropaganda spannen ließen, insbesondere nachdem der 7. Weltkongress der Komintern (Juli/August 1935) Abstand von der »Sozialfaschismus«-These genommen und mit der Hinwendung zur »Volksfront« einen Strategiewechsel eingeleitet hatte.48 Um Kolnais Position angemessen erfassen zu können, muss man sich die Bedeutung der philobolschewistischen Fellow-Travellers vor Augen führen, die das geistige Klima der Auseinandersetzung mit Faschismus/Nationalsozialismus und Bolschewismus/Kommunismus Mitte der 1930er-Jahre mitprägten.49 Erinnert sei nur an die schneidende Schärfe der Kritik an André Gides Reisebericht »Retour de l’URSS« (November 1936), der ein Jahr vor Erscheinen von Kolnais Werk für Furore gesorgt hatte.50 Im Juni 1935 hatte sich Gide noch als Präsident des Inter-

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Vgl. Lee Congdon, Seeing Red. Hungarian Intellectuals in Exile and the Challenge of Communism, DeKalb 2001, S. 54. 46 Insofern überzieht Lee Congdon etwas, wenn er Kolnais Buch als »subtil russophil« charakterisiert. Vgl. ebd. 47 Kolnai, Krieg, S. 49. 48 Vgl. Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, 10. Auflage Frankfurt a. M. 1968, S. 44; Karl Schlögel, Terror und Traum, Moskau 1937, München 2008, S. 146. Siehe auch Edward H. Carr, The Comintern & the Spanish Civil War, New York 1984. 49 Vgl. vor allem David Caute, The Fellow-Travellers. Intellectual Friends of Communism, New Haven 1988; Sophie Cœuré, La grande lueur à l’Est. Les Français et l’Union soviétique 1917– 1939, Paris 1999; Gerd Koenen, Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1991. 50 Vgl. Peter Schneyder, Vorwort. In: André Gide, Gesammelte Werke VI: Reisen und Politik, 2. Band: Zurück aus Sowjetrussland, Retuschen zu meinem Russlandbuch, Soziale Plädoyers, Stuttgart 1996, S. 27–31. In der Zeitschrift »Der Christliche Ständestaat« wurde im Februar 1937 ein Beitrag des Ökonomen Wilhelm Röpke aus der »Neuen Zürcher Zeitung« (»Sozialismus und politische Diktatur«) auszugsweise nachgedruckt, in dem der Autor André Gides Entlarvung des »kommunistischen Totalstaates« ausführlich würdigte: »André Gides Anklage gegen Russland und den totalen Staat«. In: Der Christliche Ständestaat, 4 (1937), S. 120 f., Zitat S. 120.

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nationalen Schriftstellerkongresses in der Pariser Mutualité mit den Anwesenden (und einem der Initiatoren des Kongresses, Ilja Ehrenburg) erhoben, um feierlich die Internationale anzustimmen.51 Eineinhalb Jahre später war Gide bei vielen Linksintellektuellen in Ungnade gefallen. Der Grund dafür war eine lang geplante Reise ins »Vaterland aller Werktätigen«, aus dem er früher als vorgesehen zurückgekehrt war,52 weil sich der Traum von einer überlegenen Gesellschaft ohne Religion und Familie in Luft aufgelöst hatte. Unverändert blieben Gides Sympathien für das russische Volk und die russische Jugend; sein Bericht enthielt auch viele positive Eindrücke und schloss versöhnlich mit der Würdigung der sowjetischen Unterstützung für Spanien: »Die Hilfe, die neuerdings die Sowjetunion der spanischen Regierung gewährt, zeigt uns, welch glücklicher Wiedergesundung sie fähig bleibt. Die UdSSR hat nicht aufgehört, uns Lehren zu erteilen und in Erstaunen zu versetzen.«53 Aber der Ausdruck »Wiedergesundung« zeigte doch, dass nach Meinung Gides vieles in der Sowjetunion gründlich schieflief und dringend der Korrektur bedurfte. Was er an negativen Erscheinungen beobachtet hatte, stieß die Bewunderer der Sowjetunion in seinem Freundeskreis so sehr vor den Kopf, dass sie ihn bestürmten, seine Beobachtungen nicht zu veröffentlichen. Gide ließ sich jedoch nicht von seinem Vorhaben abbringen: »Die Wahrheit, so schmerzlich sie sein mag«, könne »nur verletzen, um zu heilen«.54 Und so berichtete Gide von einer nivellierten Gesellschaft, in der das Individuelle völlig unterzugehen drohte. Er erzählte von den langen Schlangen vor den Warenhäusern, vom Mangel an qualitativ hochwertigen Produkten und der Unmotiviertheit der Arbeiter. Man bewundere die UdSSR für das »machtvolle Streben nach Bildung, nach Kultur; aber diese Bildung bleibt auf das begrenzt, was dazu anleitet, sich zum gegenwärtigen Stand der Dinge zu beglückwünschen und zu bekennen«. Wenn der auswärtige Beobachter die allerorts geforderte »Selbstkritik« als Beweis für Reformfähigkeit ansehe, verkenne er, dass es sich vor allem um das Erzwingen von »Linientreue«55 handele. Uniforme sowjetische Medien ­trichterten den Bürgern ein, in ihrem Land sei alles besser als im Ausland. Überall herrschten »Anpassung und Konformismus«. Zugleich werde »der geringste Protest, die geringste Kritik mit schwersten Strafen bedroht und […] sofort erstickt«. Und dann folgte ein vernichtender Satz, der allen Verfechtern antifaschistischer Volksfrontbündnisse einen Stich in die Magengrube versetzen musste: »Und ich bezweifle, dass in irgendeinem anderen Land heute, und wäre es Hitler-Deutschland, der

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Luis Mario Schneider, Il congreso internacional de escritores antifascistas (1937), Band I: Inteligencia y guerra civil en España, Barcelona 1978, S. 198. Vgl. Schneyder, Vorwort. André Gide, Zurück aus Sowjetrussland. In: ders., Gesammelte Werke VI, 2. Band, S. 94. Ebd., S. 50. Ebd., S. 69.

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Geist weniger frei ist, mehr gebeugt wird, mehr verängstigt ist, mehr terrorisiert und unterjocht.«56 Wir wissen nicht, ob Kolnai diese Kritik kannte; in seinen Memoiren, in denen die Lektüreeinflüsse ausführlich ausgebreitet werden, ist keine Rede davon. Es scheint aber, dass er die Sowjetunion Mitte der 1930er-Jahre ebenfalls weitaus vorteilhafter als Gide einschätzte, auch wenn er weit entfernt von der Haltung der Sowjetunionschwärmer blieb, für die Gides Kritik Verrat am Internationalismus bedeutete – und zwar umso mehr, als die sowjetischen Unterstützungsmaßnahmen für das republikanische Spanien inzwischen angelaufen waren und Moskau nun an der Spitze der internationalen Abwehrfront gegen »den Faschismus« zu stehen schien. Was die Bewunderer des Sowjetsystems meist nicht wussten: Mit den Hilfsgütern und Waffen kam eine große Zahl an Militärberatern, Wirtschaftsexperten und Agenten nach Spanien, die vor allem im Militär- und Sicherheitsapparat der Republik oftmals die Kontrolle übernahmen und dort, wo sie das Sagen hatten, eine Atmosphäre verbreiteten, »wie sie in Moskau in den Jeshow-Jahren herrschte«.57 Besonders in Barcelona grassierten im Frühjahr 1937 unter der Führung der moskauorientierten Kommunisten bald Misstrauen und Furcht innerhalb der Reihen der Republikaner.58 Die Anhänger des rätekommunistischen Partido Obrero de Unificación Marxista (P. O. U. M.) und die Anarchisten wurden erbittert bekämpft, verfolgt, inhaftiert, gefoltert, getötet – eine ­Repressionswelle, die mit den Schauprozessen gegen die Mitglieder des Exekutivkomitees der P. O. U. M. ihren Höhepunkt erreichte: »Nur durch Intervention von André Gide, Georges Duhamel, Roger Martin du Gard, François Mauriac bei Regierungschef Juan Neg­rín wurden rechtliche Garantien gewährt, sodass es nicht zu dem von der KP Spaniens geforderten Todesurteil, sondern nur zur Verurteilung zu 15 Jahren Haft kam.«59 Auch am zweiten Internationalen Schriftstellerkongress (Juli 1937, Valencia, Madrid, Paris) waren die Ränke Moskaus und seiner Helfershelfer nicht spurlos vorübergegangen. Die sowjetische Delegation, allen voran Michail Kolzow und Ilja Ehrenburg, die als Korrespondenten der Moskauer Presseorgane »Prawda« und »Izwestia« am Kongress teilnahmen, nutzten die Situation für prosowjeti-

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Ebd., S. 79. Schlögel, Terror, S. 147. Siehe auch den Stimmungsbericht bei George Orwell, Mein Katalonien, Zürich 1975, S. 242. Schlögel, Terror, S. 150. Zu den Umtrieben der moskautreuen Kommunisten siehe auch die in folgendem Band versammelten, höchst aussagekräftigen Agentenberichte: Ronald Radosh/ Mary R. Habeck/Grigory Sevostianov (Hg.), Spain Betrayed. The Soviet Union in the Spanish Civil War, New Haven 2001, S. 171–233.

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sche Propaganda60 und unternahmen den Versuch, eine öffentliche Verurteilung André Gides zu erreichen.61 Dieser hatte seinem Russlandreport »Retuschen« nachgeschoben, in dem er seinen Kritikern antwortete und seine Position noch verschärfte.62 Trotzkis »Linksopposition« war ausgeschlossen; die Hauptvertreter des »trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums« waren im August 1936 in Schauprozessen abgeurteilt und hingerichtet worden. Die Trotzkistenjagd in Spanien zog sich über viele Monate hin, fand gleichsam »vor den Toren« des Schriftstellerkongresses statt, auch wenn die »Säuberung der POUM-Nester«63 in Valencia aus stalinistischer Sicht viel zu zögerlich erfolgte. War nicht auch André Gide ein verkappter Trotzkist? Sein zweites Buch über die Sowjetunion enthielt »unverhohlen trotzkistisches Geschimpfe«, und mit Recht plädierte der aus Russland angereiste Schriftsteller Alexej Tolstoi dafür, Gide »den Ruf eines Volksschriftstellers zu entziehen«.64 Kritik an der Sowjetunion bedeutete Verrat an der Sache des Volkes. Wie Octavio Paz, einer der Teilnehmer, rückblickend schrieb, war es die »Abwesenheit von Kritik«,65 welche die Republik tötete – und dazu hatte der Schriftstellerkongress einen prominenten Beitrag geleistet. Wenn Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen«, dessen Manuskript im Sommer 1936 abgeschlossen war,66 wie bereits erwähnt weit von Sowjetunionschwärmerei entfernt blieb, hatte sich seine Einschätzung des Bolschewismus doch im Laufe der Jahre verändert. Seitdem der Name Lenins in der Tagespresse aufgetaucht war (1917), stand er trotz aller »linken« und »radikalen« Neigungen dem Projekt der Bolschewiki mit Unbehagen und Misstrauen gegenüber.67 Vor Philobolschewismus bewahrte den Gymnasiasten in der letzten Phase des Ersten Weltkriegs die Parteinahme für die Sache der Westalliierten, die das »linke« politische Selbstverständnis mitprägte.68 Nach Kriegsende kamen die ­Erfahrungen mit der

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Eine Kostprobe: »La constitución staliniana, ese documento grandioso en la historia de la liberación de la personalidad humana, descubre ante el escritor nuevas y amplísimas posibilidades de creación.« El Sol (Madrid), 8.7.1937, S. 4. Wiederabgedruckt in: Manuel Aznar Soler/Luis Mario Schneider (Hg.), Il congreso internacional de escritores antifascistas (1937), Band III: ponencias, documentos y testimonios, Barcelona 1979, S. 82–87, hier 85 f. 61 Vgl. Robert S. Thornberry, Writers Take Sides, Stalinist Take Control. The Second International Congress for the Defense of Culture (Spain 1937). In: Historian, 62 (2000) 3, S. 589–605, hier 601 f. 62 Vgl. André Gide, Retuschen zu meinem Russlandbuch. In: ders., Gesammelte Werke VI, 2. Band, S. 117–165. 63 Michail Kolzow, Spanisches Tagebuch, 3. Auflage Berlin (Ost) 1986, S. 520. 64 Ebd., S. 529. 65 Octavio Paz, Prólogo. In: ders., Ideas y costumbres. I. Obras completas, Band 9, Mexico City 1995, S. 24. 66 Kolnai, Political Memoirs, S. 162. 67 Vgl. ebd., S. 26. 68 Vgl. ebd.

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k­ urzlebigen »Räterepublik« Béla Kuns hinzu, dessen »Bande« am 22. Februar 1919 in Budapest ein Blutbad angerichtet habe.69 Bald darauf (1919) brachte sich Kolnais Familie nach Pressburg in Sicherheit.70 Kolnais Antipathie gegenüber dem »imperialen« Deutschland schwand dahin, als sich die deutschen Sozialdemokraten um Ebert, Scheidemann und Noske als antibolschewistische Ordnungsmacht erwiesen.71 Zugleich verdüsterte sich das Bild seines Heimatlandes, dem er schon bald den Rücken kehren sollte. Während Deutschland und Österreich ihre antidemokratischen Traditionen abzustreifen begannen und sich der »Wertewelt des Westens« näherten, verharrte Ungarn in seiner antiwestlichen Haltung, indem es von einem Extrem ins andere fiel: Der »roten asiatischen Versuchung« (oder »roten Konterrevolution«) folgte ein »nicht weniger barbarischer reaktionärer Nationalismus«.72 Bereits die erste selbstständige Veröffentlichung, die Kolnai noch als Student in Wien als Mitglied der Internationalen Psychologischen Gesellschaft verfasst hatte,73 »Psychoanalyse und Soziologie«, bot eine u. a. von Freuds Traumdeutung inspirierte, auf die Enthüllung der psychopathologischen, dogmatischen und destruktiven Aspekte gerichtete Interpretation des Anarchismus und Kommunismus.74 Sie brachte ihm heftige Kritik aus Moskau ebenso wie vonseiten der psycho­analytischen Schule ein.75 Zur gleichen Zeit publizierte er eine Besprechung von Elfriede Friedländers »Sexualethik des Kommunismus«, in der er hart mit einer Position ins Gericht ging, die nach der »Zertrümmerung« des Kapitalismus auf eine »ungeahnt furchtbare und persönlichkeitswidrige Zwingherrschaft«76 hinauszulaufen schien. Kolnai gehörte zu den wenigen Autoren, die den Bolschewismus bereits in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre mit dem (italienischen) Faschismus verglichen. Ein erster Vergleich der »entgegengesetzten Extreme« fiel in die Zeit der »frühen katholischen Jahre«,77 als der zum Katholizismus Konvertierte Beiträge für Gustav Stolpers Zeitschrift »Der deutsche Volkswirt« (Berlin) verfasste. Die komparative Betrachtung der Antagonisten hatte im Jahr 1926 nach der Matteotti-­ Krise und der unübersehbaren Machtetablierung des italienischen Faschismus in 69 Vgl. ebd., S. 57. 70 Vgl. ebd., S. 60. 71 Vgl. ebd. 72 Ebd. 73 Vgl. ebd., S. 73 f. 74 Vgl. Aurel Kolnai, Psychoanalyse und Soziologie. Zur Psychologie von Masse und Gesellschaft, Leipzig 1920, S. 88–152. 75 Vgl. Wilhelm Reich, Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse, Kopenhagen 1934, S. 5 f. Siehe zur Bedeutung der Schrift dagegen: Honneth, Nachwort, S. 146 f. 76 Aurel Kolnai, Rezension von Elfriede Friedländer, Sexualethik des Kommunismus. In: Imago, 7 (1921) 2, S. 209 f., hier 210. 77 »My early Catholic years (1926–28)« in: Kolnai, Political Memoirs, S. 211.

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allen politischen Lagern Konjunktur.78 Kolnais Beitrag ist dicht geschrieben und vergleicht differenziert. Er arbeitet einerseits die gemeinsame Gegnerschaft der beiden Diktaturen zur Demokratie, andererseits ihre darüber hinausgehenden Ähnlichkeiten wie Unterschiede und Gegensätze pointiert heraus. Dabei wird der Zeitbedingtheit und Prozesshaftigkeit der Entwicklung der beiden Regimes Rechnung getragen. Für den Vergleich mit der Charakterisierung des Bolschewismus im »Kampf gegen den Westen« ist vor allem die Schlusspassage aufschlussreich, die beide Bewegungen und Regimes einer moralphilosophischen Bewertung unterzieht. Der Faschismus gewähre zwar mehr Freiheiten als der Bolschewismus, sei damit aber auch eine »abstoßendere Komödie«79 – wie der Matteotti-Prozess gezeigt habe. Wenn der Bolschewismus – anders als der Faschismus – »mit den größten Menschheitsidealen in unleugbarer ideologischer Verknüpfung« stehe, so mute der »Verrat, den er an ihnen kaltblütig begeht, erst recht als eine himmelschreiende Schändung an«. Auf den Punkt gebracht: »Fascismus wie Bolschewismus sind, soweit es aufs Letzte ankommen kann, des Teufels und nicht Gottes. Aber im Bolschewismus ist ungleich mehr positiv Gutes und Edles, wie auch mehr finstere Bosheit und grenzenlose Überhebung, als im Fascismus. Er steht zugleich Gott und dem Teufel näher als dieser.«80 Der Bolschewismus erscheint also hier – anders als später in » Der Krieg gegen den Westen« – keineswegs als das kleinere Übel, trotz der festgestellten größeren Nähe zum ethischen Universalismus. Allerdings wird der Vergleich nicht mit der NS-Bewegung gezogen, deren völkische Orientierung Kolnai in einem wenige Monate später erschienenen Beitrag im Visier hatte.81 Man könnte den frühen Kolnai im Übrigen wegen seines Bolschewismus-Faschismus-Vergleichs im weitesten Sinne als Totalitarismustheoretiker »avant la lettre« einordnen. Denn er

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Vgl. Francesco Nitti, Bolschewismus, Fascismus und Demokratie, München 1926; Luigi Sturzo, Italien und der Fascismus, Köln 1926; Edgar Tatarin-Tarnheyden, Bolschewismus und Fascismus in ihrer staatsrechtlichen Bedeutung. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1 (1925/26), S. 1–37. Siehe für noch frühere Vergleich etwa Jean Alazard, Communisme et »fascio« en Italie, préface de Jean Bourdeau, Paris 1922; Marcel Mauss, Fascisme et bolchevisme. Réflexions sur la violence (1923). In: ders., Écrits politiques. Textes réunis et présentés par Marcel Fournier, Paris 1997, S. 509–513. Etwas später erschienen ist der Vergleich Waldemar Gurians, eines wie Kolnai aus jüdischer Familie stammenden, zum Katholizismus konvertierten Bolschewismuskenners, dessen Schriften Kolnai offenbar nicht zur Kenntnis genommen hat: Waldemar Gurian, Fascismus und Bolschewismus. In: Heiliges Feuer, 15 (1927/28) 5, S. 197–203. Siehe zu Gurian vor allem: Hürten, Waldemar Gurian; Thümmler, Katholischer Publizist. 79 Aurel Kolnai, Fascismus und Bolschewismus. In: Der deutsche Volkswirt, 1 (1926) 7, S. 206–213, hier 213. 80 Ebd. 81 Vgl. Aurel Kolnai, Rechts und Links in der Politik. In: Der deutsche Volkswirt, 2 (1927) 23, S. 665–671, hier 670.

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arbeitet strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Ideologien, Bewegungen und Regimes eindrucksvoll heraus, wenn auch wichtige Merkmale des Totalitarismuskonzepts fehlen, wie sie Luigi Sturzo in seinem Italienbuch bereits benannt hatte: vor allem die charakteristischen Unterschiede zu den älteren Autokratien und die religionsähnlichen Züge der Ideologie als treibendes Element der Bewegungen. Sturzos Schriften hat Kolnai offenbar nie zur Kenntnis genommen, was angesichts der Prominenz des Priesters, entmachteten Parteiführers und in linkskatholischen Kreisen viel bewunderten Exilpublizisten erstaunlich ist. Sturzo hatte die Begriffe »totalitär« und »Totalitarismus« mit den Übersetzungen seines Italienbuches (1926) ins Englische und Französische eingeführt, während in der von dem Ehepaar Dempf übersetzten deutschen Fassung noch von »total« und »Totalitätssystem« die Rede war.82 Bemerkenswerterweise verwandte Kolnai im Oktober 1933 in »Der österreichische Volkswirt« (in dem Aufsatz »Totaler Staat und Zivilisation«) den Totalitarismusbegriff, reservierte ihn aber (wie später in »Der Krieg gegen den Westen«) für das in Italien und Deutschland entfaltete Konzept des »totalen Staates« und die Analyse des Faschismus/Nationalsozialismus.83 Einige Jahre zuvor hatte Kolnai den aus der antiken Staatslehre stammenden Despotismusbegriff84 herangezogen, um Gemeinsamkeiten zwischen Bolschewismus und Faschismus zu benennen: »Verwirft also heute jeder denkende Anhänger der Demokratie den Bolschewismus, diesen großartigen Versuch einer gesamtsozialen, allumfassenden, politisch-wirtschaftlich-kulturellen Despotie, die geradezu auf dem Glauben beruht, einen neuen, als ›besser‹ vorausgesetzten Menschen despotisch hervorbringen zu können, so muss er nicht minder entschieden auch den Faschismus ablehnen, der sich im Wesentlichen auf die politische Despotie beschränkt.«85 Der »großartige Versuch« war aus der Sicht Kolnais zum Scheitern verdammt und moralisch nicht zu rechtfertigen, da er grundlegende Rechte des Menschen negierte. Zu ihnen zählte Kolnai auch das Recht auf Eigentum. Weit mehr als von seinem akademischen Mentor Karl Polanyi war

82 Vgl. Giovanna Farrell-Vinay, Introduzione. In: dies. (Hg.), Luigi Sturzo a Londra. Carteggi e Documenti (1925–1946), Soveria Mannelli 2003, S. 3–31; dies., The London Exile of Don Luigi Sturzo (1924–1940). In: Heythrop Journal, 45 (2004) 2, S. 158–177. Siehe auch Backes, Luigi Sturzo; Jean-Luc Pouthier, Luigi Sturzo et la critique de l’État totalitaire. In: Vingtième Siècle, 21 (1989), S. 83–90. 83 Vgl. Aurel Kolnai, Totaler Staat und Zivilisation. In: Der österreichische Volkswirt, 26 (1933) 5, S. 113–116, hier 113: »Der Totalitarismus ist in der Hauptsache Primitivismus.« 84 Vgl. zur Begriffsgeschichte Mario Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquité à nos jours, Paris 2001. 85 Aurel Kolnai, Tote und lebendige Demokratie. In: Der deutsche Volkswirt, 2 (1928) 26, S. 854– 857, hier 856.

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Kolnai von dem katholischen Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton geprägt, der Kapitalismus und Kommunismus (ähnlich wie Hilaire Belloc in dem von Kolnai hochgeschätzten Werk »The Servile State«86) als gleichermaßen eigentumsfeindlich ablehnte – den Kapitalismus, insofern er die großen Trusts gegen die kleinen und mittleren Unternehmer einseitig begünstigte. Diesem Missstand sollte ein demokratischer »Distributismus« entgegenwirken.87

Gründe für die Höherbewertung des Bolschewismus in »Der Krieg gegen den Westen« Die Würdigung des »großartigen Versuchs« des Bolschewismus enthielt ein Urteil über dessen Intention. In seinem egalitär-emanzipatorischen Anspruch stand er der geistigen Welt des Westens näher als Faschismus und Nationalsozialismus. Für den Moralphilosophen Kolnai, der mit einer Arbeit über »Ethischen Wert und Wirklichkeit« 1926 in Wien promoviert hatte, war dies das entscheidende Faktum.88 Die moralphilosophische Einordnung eines Phänomens stand stets im Zentrum seiner Betrachtung. So gestand er Jahre später freimütig ein, ihn habe Politik allein in ihrem »ideologischen Aspekt«89 interessiert. Mit der Theorie des Marxismus und Leninismus war er vertraut, die »phänomenologische« Praxis, deren intime Kenntnis er als Husserl-Schüler vehement forderte, kannte er hingegen weit weniger gut. In den an Lesefrüchten reichen Memoiren fehlt die Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre über das bolschewistische Russland völlig. Während der Arbeit an »Der Krieg gegen den Westen« in Wien stand die Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalsozialismus im Zentrum. Hatte Kolnai in den »goldenen Jahren« der Weimarer Republik noch – wie v­ iele seiner

86 Vgl. Hilaire Belloc, The Servile State, London 1912. 87 Vgl. Aurel Kolnai, Der Abbau des Kapitalismus. Die Soziallehren G. K. Chestertons. In: Der deutsche Volkswirt, 1 (1927) 47, S. 1382–1386. Zur Bedeutung Chestertons und Bellocs in Kolnais intellektueller Biografie siehe: ders., Political Memoirs, S. 16–18, 87 f., 105–117. 88 Vgl. zur moralphilosophischen Position Kolnais: ders., Ethics, Value, and Reality. Selected Papers, London 1977, dort auch die Einführung von David Wiggins und Bernard Williams, S. IX– XXV. Siehe auch Chris Bessemans, A Short Introduction to Aurel Kolnai’s Moral Philosophy. In: Journal of Philosophical Research, 38 (2013), S. 203–232; Ingrid Vendrell Ferran, Zwischen Phänomenologie und analytischer Philosophie: Aurel Kolnai. In: Bruno Accarino/Matthias Schloßberger (Hg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Band 1, Berlin 2008, S. 285–296, hier 291. Auch online: In: https://www.uni-marburg.­de/ fb03/philosophie/institut/mitarbeiter/vendrell/vendrell-kolnai.pdf. Von Bessemans ein Überblick zum noch unveröffentlichten Werk Kolnais unter besonderer Berücksichtigung seiner moralphilosophischen Arbeiten: ders., A Glimpse of the Aurel Kolnai Nachlass. In: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica, 1 (2012), S. 153–173. 89 Kolnai, Political Memoirs, S. 138.

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Freunde – mit einem Anschluss Österreichs an das fortschrittlichere Deutschland geliebäugelt, wurde das zunehmend autoritäre Dollfuß-Regime zeitweilig zu einem Bollwerk gegen den »totalen Staat« des Nationalsozialismus. Er übte ­Fundamentalkritik am »Kampfes-Irrationalismus« der Politiklehre90 Carl ­Schmitts und entlarvte im antinationalsozialistischen, aber ständestaatsaffinen Organ seines akademischen Vorbildes und Husserl-Schülers Dietrich von Hilde­ brand91 die in Wiener Regierungskreisen geschätzte »organische« Staatslehre Othmar Spanns als antidemokratischen und antichristlichen »Totalitarismus«. Dieser bekenne freimütig, dass ihm der »Bolschewismus immer noch mehr gefalle«92 als die »plutokratische« Demokratie. Am gleichen Ort würdigte Kolnai Chestertons »vernichtende Kritik an der frevelhaften heidnischen Vermessenheit der ›Eugenik‹ lange vor dem Auftreten des Nationalsozialismus«.93 Inzwischen war er zu dem umfassenden Kenner der NS-Publizistik und ihres geistigen Umfeldes geworden, als der er sich in »Der Krieg gegen den Westen« zu erkennen gab. Neben dieser legitimen Schwerpunktsetzung ist jedoch erklärungsbedürftig, warum Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen« kaum an seine älteren komparativen Betrachtungen anknüpfte. Neben der bereits konstatierten theoretischen Differenz der Antagonisten aus moralphilosophischer Perspektive waren es wohl vor allem die Zeitumstände, die Kolnai zur Betonung der Sonderstellung des Faschismus/Nationalsozialismus bewogen. Der Londoner Publizist Victor Gollancz, der im Herbst 1934 Interesse am ersten Entwurf des Buches bekundet hatte, beeinflusste seinen Autor nach dessen eigenen Angaben nicht.94 Vielmehr nahm Kolnai selbst den Faschismus/Nationalsozialismus in den Jahren der Arbeit an seinem Werk 1934 bis 1936 als die weitaus größere Gefahr für den Bestand der westlichen Demokratien wahr – eine Schlussfolgerung, die angesichts der massiven Rüstungsanstrengungen Hitlers und der selbstblockierenden inneren Kämpfe in Stalins Sowjetunion nachvoll-

90 Vgl. Aurel Kolnai, Der Inhalt der Politik. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 94 (1933), S. 1–38. 91 Vgl. zur Rolle der Zeitschrift und ihres Herausgebers: Seefried, Reich und Stände, S. 195–215. Siehe auch Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus 1933–1938, mit Alice von Hildebrand und Rudolf Ebneth. Hg. von Ernst Wenisch, Mainz 1994; Kolnai, Political Memoirs, S. 128–131, 198 f. 92 Aurel Kolnai unter dem Pseudonym A. van Helsing, Othmar Spanns »organische« Staatslehre. In: Der Christliche Ständestaat, 1 (1934), S. 7–10, hier 10; »Totalitarismus« S. 9. Vgl. auch A. van Helsing, Othmar Spanns Ganzheitslehre. In: Der Christliche Ständestaat, 1 (1934), S. 4–8. Dass dieses Pseudonym eine ironische Anspielung auf die Heldenfigur in Bram Stokers Dracula-­ Roman sein könnte, vermutet John Haldane, Ethics, Politics and Imperfection. In: New Black­ friars, 89 (2008), S. 389–398, hier 392. 93 A. van Helsing, G. K. Chesterton. In: Der Christliche Ständestaat, 3 (1936), S. 619–621, hier 620. 94 Vgl. Kolnai, Political Memoirs, S. 162.

Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus

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ziehbar war. In seinen Memoiren schreibt Kolnai, er habe 1934/35 angesichts der zunehmenden militärischen Bedrohung durch das erstarkende Dritte Reich die Bildung einer Volksfront mit den Kommunisten gegen die Gefahr von rechtsaußen ebenso begrüßt wie die sich am Horizont abzeichnende Möglichkeit einer französisch-tschechisch-sowjetischen Allianz.95 Dies zeigt einmal mehr die »außenpolitische Konstellationsabhängigkeit«96 der Gefahreneinschätzung und Gewichtung, wie sie auch andere vergleichende Betrachtungen von Nationalsozialismus und Bolschewismus prägte.97 Wäre »Der Krieg gegen den Westen« unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Pakts verfasst worden, hätte Kolnai vermutlich an seine älteren vergleichenden Arbeiten angeknüpft und stärker die Gemeinsamkeiten der ideologischen Antagonisten herausgearbeitet. Indem Kolnai das Konzept des »totalen Staates« in »Der Krieg gegen den Westen« für Faschismus und Nationalsozialismus reservierte, entsprach er der in dieser Zeit in »Marxist circles on the extreme Left«98 verbreiteten Sichtweise, während er sich zugleich von der größer werdenden Zahl der Autoren entfernte, die Nationalsozialismus und Bolschewismus als »totalitäre Bewegungen und Regime« auf eine Vergleichsebene stellten. Für Kolnai war die Wahl zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus eine zwischen Pest und Cholera, bei der er wegen der höheren Überlebenschancen für Cholera optierte. Bei der schwierigen Abwägung, die im Jahr 1936 nicht mit der aktuellen, sondern allenfalls mit der zukünftig zu erwartenden Opfer­ bilanz der Antagonisten zu begründen war, dürfte die besondere Sensibilität angesichts der Diskriminierung und Entrechtung der Juden eine erhebliche Rolle gespielt haben. Wenn Kolnai die politischen und ethischen Bewertungen, die in seine Abwägung einflossen, in späteren Jahren mit schonungsloser Selbstkritik verurteilte, war dies auch Folge einer zunehmend konservativen Gesinnung. Zutiefst bedauerte er die eigene »Linksfixierung« der Jahre 1934 bis 1942 in seinen Memoiren.99 Damals habe er nicht verstanden, dass der Kommunismus der im Vergleich zum Faschismus radikalere Angriff auf die westliche Kultur und das menschliche Wertverständnis gewesen sei.100 Die in der frühen Publizistik

    95 Vgl. ebd., S. 144.     96 Martin Jänicke, Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, Berlin 1971, S. 78; Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung im Streit der Meinungen. In: ders. (Hg.), Totalitarismus, S. 9–40.     97 Vgl. diesbezüglich die intellektuellen Biografien Ernst Fraenkels und Richard Löwenthals: Uwe Backes, Vom Marxismus zum Antitotalitarismus: Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal. In: Schmeitzner (Hg.), Totalitarismuskritik von links, S. 327–354.     98 Abbott Gleason, Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York 1995, S. 32.     99 Kolnai, Political Memoirs, S. 26 f. 100 Ebd., S. 144.

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a­ nzutreffende komparative Totalitarismusperspektive »avant la lettre« hat Kolnai erst als Emigrant in Amerika während seiner Lehrtätigkeit in Québec und später in London wieder eingenommen. Allerdings sind seine bedeutenden Schriften zum Thema wie die »drei Reiter der Apokalypse« und das »utopische Denken«­ größtenteils erst viele Jahre nach ihrer Entstehung posthum erschienen.101 Sie verdienten eine eigene, hier nicht zu leistende Würdigung.

101 Aurel Kolnai, Three Riders of the Apocalypse: Communism, Nazis, and Progressive Democracy (1950). In: F. Flagg Taylor IV (Hg.), The Great Lie. Classic and Recent Appraisals of Ideology and Totalitarianism, Wilmington 2011, S. 241–259; ders., The Utopian Mind and Other Papers. A Critical Study in Moral and Political Philosophy. Hg. von Francis Dunlop, London 1995. Siehe auch folgende Edition: Aurel Kolnai, Privilege and Liberty and Other Essays in Political Philo­ sophy. Herausgegeben und eingeleitet von Daniel J. Mahoney, Boston 1999.



Richard Steigmann-Gall  Nationalsozialismus, Christentum und die Entwicklung einer Theorie der politischen Religion in Kolnais »Der Krieg gegen den Westen«

In der Debatte über die Entstehung des Nationalsozialismus wird oft die Auffassung vertreten, er sei aus einer Rebellion gegen das Christentum hervorgegangen. Danach war das Christentum wegen seines angeblichen Aufrufs zu Traditionalismus, Liebe und Vergebung ein Hindernis für die Botschaft des modernen Säkularismus des Nationalsozialismus, der Hass und Genozid einschloss.1 Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« war ein früher und prägender Ausdruck dieser Sichtweise. Im Vorwort heißt es: »Sollte auch Deutschland mit der Duldung oder selbst teilweisen Unterstützung des Westens gegen Moskau, Prag, Warschau, Kiew oder Bukarest marschieren, immer noch würde es im Krieg gegen den Westen das germanische Heidentum zum Sieg über den christlichen Gott der Gerechtigkeit, der Gnade und Humanität sowie über den Universalismus Roms führen.«2 Im Folgenden werde ich Kolnais Verständnis des Nationalsozialismus unter dem Aspekt der Religion untersuchen. Obwohl Kolnai dem »heidnischen Christentum« einen besonderen Abschnitt in »Der Krieg gegen den Westen« widmete, zieht sich sein Bestreben, die vermeintliche Antichristlichkeit des Nationalsozia­ lismus aufzuzeigen, durch das ganze Buch. Ich werde also nicht nur den einen Abschnitt über heidnisches Denken, sondern Abschnitte zu religiösen Themen und Argumenten im gesamten Buch analysieren. Dabei werde ich zeigen, dass Kolnai ein Kind seiner Zeit war – insbesondere im Hinblick auf seinen eigenen Katholizismus und das daraus resultierende Misstrauen gegen jegliche utopischen Projekte, darunter vor allem sozialistische, aber auch liberale. Ich möchte weiterhin darlegen, wie diese Konzepte durch den von ihm angenommenen Katholizismus übergangen wurden und welche Bedeutung dies für die Ausarbeitung einer bereits bestehenden Idee zur Theorie des Totalitarismus und ihres 1 2

Ein jüngeres und besonders drastisches Beispiel dieser Argumentation sind die Arbeiten Richard Weikarts. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 39.

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Pendants, einer ­Theorie politscher Religion, hatte. Meine Bewertung ist nicht nur kritisch. Ich finde seine Untersuchung der Wurzeln des religiösen Denkens der Nazis aus vieler dieser Traditionen verdienstvoll, auch wenn sie unbeabsichtigt war, denn sie richtet sich gegen seine eigene Argumentation, wonach sich das Christentum unter dem Nationalsozialismus von seinem früheren Glauben entfernt hat. Im zweiten Teil des Aufsatzes werde ich verdeutlichen, dass für viele Naziführer, einschließlich Hitler selbst, die Bewegung auf christlichen Grundsätzen beruhte. Es gab zwar verschiedene Versuche, den Nationalsozialismus zu einer heidnisch-religiösen Bewegung zu machen, diese wurden jedoch von den höchsten NSDAP-Entscheidungsebenen strikt zurückgewiesen. In »Der Krieg gegen den Westen« wählte Kolnai willkürlich jene Stimmen, die den Nationalsozialismus bzw. seine protestantischen Unterstützer repräsentieren sollten. Daraus ergeben sich unmittelbar Probleme: Hatte Wilhelm Stapel in der Nazi­partei irgendeinen Einfluss? Hörte irgendjemand auf Rosenberg? Auf Wolters? Kolnai konstruierte seine eigene Genealogie des Heidentums der Nationalsozialisten bzw. ihres »heidnisierten Christentums«, ohne die grundlegende Frage zu stellen, wer diese Autoren las, oder ob jene, die das Nazidenken ganz offensichtlich repräsentierten, diese Quellen anerkannten, geschweige denn rezipierten. Diese Art tendenziösen Herangehens kann von einem zeitgenössischen konservativen Nazigegner erwartet werden. Es sollte uns jedoch beunruhigen, dass sich dieses Herangehen noch heute unter Historikern eines bestimmten, politisch-religiösen Milieus, die sich mit Nazideutschland beschäftigen, findet. Meine Sicht habe ich in einer Monografie von 2003 niedergelegt.3 Meines Erachtens repräsentiert der Nationalsozialismus weniger eine politische Religion als eine religiöse Politik. Der Nationalsozialismus wandte sich nicht gegen das Christentum, sondern stellte einen besonders radikalen Versuch dar, es zu schützen. In ihren Auffassungen von Jesus Christus, Martin Luther, der Reformation und den folgenden Religionskriegen sowie in der Art, wie sie die Krankheiten diskutierten, von denen Deutschland vermeintlich befallen war, und wie sie diese zu kurieren gedachten, ließen die Nazis zweierlei erkennen: erstens, dass es zwei Richtungen des religiösen Denkens bei ihnen gab, die der »Heiden« und die der »positiven Christen«; zweitens, dass die Heiden trotz aller scheinbaren Wut gegen jede Form von Christentum in ihrer Kritik punktuell und in ihrem Abfall vom Christentum unvollständig waren. Hitler, Goebbels, Göring und die meisten anderen Naziparteiführer lehnten unabhängig von ihrem Rang und ihrer Zuständigkeit Versuche der Einführung einer neuen Religion des Heidentums ab. Die Nazipartei als solche kann nicht als anti­christlich gelten. Man muss Kolnai zugutehalten, dass er in seinem Überblick über die religiösen Sichtweisen der ­Nazis viel weiter ging 3

Vgl. Richard Steigmann-Gall, The Holy Reich: Nazi Conceptions of Christianity, 1919–1945, Cambridge 2003.

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als seine Zeitgenossen der 1930er-Jahre. Dennoch fokussierte er sich auf einige wenige Befürworter nazistischer religiöser Politik, während er nationalsozialistische Führer unberücksichtigt ließ, die mit diesen sogenannten Heiden in Konflikt standen und die als Christen in Wort und Tat ein christliches Verständnis ihrer Bewegung und ihrer selbst hatten. Ich werde hier weder Fragen der Kirchengeschichte noch der Ekklesiologie diskutieren, obwohl beide miteinander verbunden sind. Im Verhältnis von Nationalsozialismus und Religion interessieren mich jedoch vor allem Ideologien, nicht Institutionen. Was bei Kolnai besonders auffällt, ist die Art, wie er – überzeugt von seinem eigenen Argument, wonach der Katholizismus der größte Antipode des Nationalsozialismus sei – eine Reihe von Ansichten übernimmt, denen die Nazis zugestimmt hätten. Besonders fatal ist seine Charakterisierung des Judentums – immerhin seiner Geburtsreligion – in etlichen Abschnitten von »Der Krieg gegen den Westen«. Bereits im Vorwort sehen wir eine Wiederholung der kulturellen Sonderweg-­ Theorie, die jedoch nicht aus marxistischer, sondern aus religiöser Kritik herrührt: »Deutschland aber wurde erst spät, und nur indirekt, mit der Gedankenwelt der Antike vertraut. Auch war es nicht so stark vom Christentum durchdrungen wie die anderen Völker im Westen und Süden Europas, und vielleicht ist dies der Grund, warum es sich seine ursprünglichen Charakterzüge bewahrt hat. Es ist vor allem diese doppelte Trägheit, welche es dazu bringt, den Begriff der Kultur als einen Gegensatz zum Begriff der Zivilisation zu verstehen und letztere, nicht ohne eine gewisse Verachtung, dem Westen vor die Füße zu werfen.«4

Ein dem Heidentum ergebener Nationalsozialismus, der ein »kaum existierendes« Christentum überwindet. Im Vorwort wird Deutschland weiterhin beschrieben als »langsam und mühsam christianisiert«, wodurch eine »latente Feindschaft gegenüber Rom überlebt [hat], deren Ausbruch jedes Saeculum deutscher Geschichte kennzeichnet«.5 Der Weg nach Auschwitz war anscheinend auf fatale Weise vorgezeichnet. Im Hinblick auf Religion sehen wir etwas, das auch andere Konservative dieser Zeit vertraten, nämlich eine Identifizierung von Katholizismus und »wahrem Christentum«. Auch das wird im Vorwort deutlich (welches nicht von Kolnai selbst, aber sicher in seinem Sinn geschrieben wurde): »Allerdings haben die römische und die westliche Welt eine Haltung gemeinsam, die sich im metaphysischen Sinn als christlich und individualistisch, rational und rechtlich sowie als egalitär, zumindest vom rassischen und anthropologischen Standpunkt her, beschreiben lässt.«6 Es ist bemerkenswert, dass dies zu genau der Zeit geschrieben wurde, als

4 5 6

Kolnai, Krieg, S. 34. Ebd., S. 37 f. Ebd., S. 582.

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der Vatikan, wie John Connelly in seinem Buch »­ From Enemy to Brother«7 gezeigt hat, die italienische Eroberung Afrikas mitgetragen hat, indem er proklamierte, dass Rasse ein »Vorteil« sei, den Gott bestimmten »ethnischen Gemeinschaften« zugeteilt hätte. Connelly zeigt in seinem Buch, dass Pius XI. diese Auffassung bereits etabliert hatte, die unter seinem Nachfolger Pius XII. nicht abgemildert ­wurde. Die Diskussion des Judentums und der Juden in »Der Krieg gegen den Westen« ist der Ort, an dem die Spannung besonders deutlich wird zwischen Kolnais Fähigkeit, die Ursprünge des Paganismus innerhalb der christlichen Quellen aufzuzeigen, die der Paganismus vermeintlich zu zerstören versucht und dabei gleichzeitig eben jene Sichtweisen des heidnischen und deshalb korrumpierten Christentums zu bekräftigen. Zum Beispiel beschreibt er in seiner Diskussion des »Versuchs, das Christentum zu heidnisieren«: »Die christliche Religion führte zu einer Abkehr vom Judentum als einer religiös privilegierten nationalen Gemeinschaft hin zur Vorstellung einer weltweiten Menschheit der Nichtjuden. An diesem Punkt ließe sich die blasphemische Vorstellung anbringen, dass das Christentum auf die Bestätigung und Rehabilitation diverser nationaler, ethnischer und lokaler Formen der Verehrung und Moral abzielt, im Gegensatz zum intoleranten Monismus der einen jüdischen Form. Das Christentum der Nichtjuden beinhaltet, dass alle Völker außer den Juden auserwählt sind, was nur nachvollziehbar ist, wenn jede Rasse sich für ihre Angehörigen als die auserwählte darstellt.«8

Man könnte meinen, dies sei eine lehrreiche Analyse der latent nationalistischen Potenziale in einem Christentum, das sich zu sehr der Überwindung des Judentums verschreibt. Wenn dies eine »Korrumpierung« des Christentums darstellt, scheint Kolnai zuzugeben, dass sie tatsächlich tief verankert ist in der Geschichte des Christentums selbst. Sie würde scheinbar dem Triumphalismus eine Abfuhr erteilen, der der Praxis des Christentums von Beginn an eigen war. Kolnai referiert theonomistische Positionen, die auch Supersessionisten, also Vertreter einer Ablösungstheologie, verwendeten: »Wir sind nicht Gottes erwähltes Volk wie die eifersüchtigen, aufdringlichen, lärmenden, an verwöhnte Hunde erinnernden Juden.«9 Kolnais Referenz zum Judentum im folgenden Abschnitt kann nur als antisemitisch bezeichnet werden: »Die mosaische Religion [besteht] selbstgerecht auf die korrekte Erfüllung des Gesetzes« und ist »mit einem engstirnigen und selbstsüchtigen geistigen Nationalismus befleckt.« Immerhin relativiert er das durch die nächsten Aussagen: »Das Christentum [trägt] die latente Möglichkeit eines noch katastrophaleren und endgültigeren Rückfalls in das Heidentum in sich: die religiöse Praxis der Heiden.«10     7 John Connelly, From Enemy to Brother: The Revolution in Catholic Teaching on the Jews, 1933–1965, Cambridge 2012.    8 Kolnai, Krieg, S. 279.    9 Ebd., S. 261. 10 Ebd., S. 260.

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Dennoch war das Christentum für Kolnai eine »Reinigung und Transzendierung« des »jüdischen Gesetzes«.11 Ich bezichtige Kolnai nicht eines personalisierten jüdischen Selbsthasses. Aber zumindest hatte er in dieser Periode durch seine Konversion zum Katholizismus praktisch keine andere Möglichkeit, als das Judentum als gottverlassen, egoistisch und überwindungsbedürftig abzulehnen. Die Stammväter des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate, einem der stärksten Auseinandersetzungen des Katholizismus mit seiner eigenen antisemitischen Tradition, demonstrierten in ähnlicher Weise eine innere Vergiftung jener Theologen, die bekämpften, was sie als »heidnische« Form des Antisemitismus verstanden. Diese Männer, darunter einige jüdische Konvertiten wie Kolnai, sahen das Judentum als »absolute Antithese« zum Christentum und zu jüdischem »Ungehorsam« gegenüber Gott, der Verfolgung nach sich zieht, an. John Oesterreicher, der Führer dieser antinazistischen Reform des Katholizismus, vertrat solche Sichtweisen. Wie viele andere meinte er, den Antisemitismus zu bekämpfen, während er gleichzeitig den Juden für dessen Existenz die Schuld gab. Wie John Conelly darlegt, waren die Juden sowohl für nationalsozialistische Rassisten als auch für ihre katholischen Gegner ein Übel. Der Unterschied bestand darin, dass die Katholiken meinten, die Juden könnten dieses Übel überwinden, was die Nazis nicht glaubten. Erst nach dem Holocaust gaben die Christen diese Idee auf, und damit auch ihre Mission, die Juden zu bekehren. Dies geschah erst, nachdem die Juden ihre eigene Überzeugung, dass sie zum Leiden bestimmt seien und dass »Gott ihnen ein Feind sei«, überwunden hatten.12 Alfred Rosenberg, für Kolnai die Inkarnation des Bösen im Nationalsozialismus, hätte all diesen Charakterisierungen des Judentums als korrupt, starr und stammesbezogen sicher zugestimmt. Weiterhin macht Kolnai den liberalen Individualismus und den Relativismus als seine Philosophie für den Nationalsozialismus verantwortlich. Er beschreibt sie an einer Stelle so: »Dogmen sind der formale Ausdruck eines fundamentalen Glaubens an eine unveränderliche göttliche und spirituelle Wahrheit, während der Nationalsozialismus Wahrheit nur als veränderliche Reflexion einer bestimmten Lebensform bzw. eines Herrentypus kennt, der das Recht hat, im Zuge der Machtausübung eine Wahrheit zu meistern.«13 Hier liegt Kolnai völlig falsch. Tatsächlich würden Nationalsozialisten ihre Weltsicht als »den formalen Ausdruck eines fundamentalen Glaubens an eine unveränderliche göttliche und spiri­ tuelle Wahrheit« beschreiben. Während Kolnai gegen kulturellen Relativismus und seinen vermeintlichen Erzeuger, den Liberalismus, schimpfte, würden Natio­nalsozialisten einer solchen Beschreibung nie zustimmen. An anderer Stelle bezichtigt er die Linke eines rechten »Kultes der Relativität«.14 In ­weiteren 11 12 13 14

Vgl. ebd., S. 261. Connelly, From Enemy to Brother, S. 195. Kolnai, Krieg, S. 293. Ebd., S. 264.

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­ bschnitten wirft er dem Nationalsozialismus Liberalismus vor, wenn er zum BeiA spiel ­Wolzogen zitiert, um den Individualismus der Nazis zu belegen. Wesentlicher Bestandteil dieses Angriffs auf den Liberalismus ist eine Attacke gegen Nietzsche, lange der Buhmann des konservativen christlichen Milieus, der in seinem Nihilismus die Grundlagen der »Modernität« der Nazis sah. Zum Beispiel behauptet Kolnai fälschlicherweise: »Unter all denen, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus als einem Bekenntnis beigetragen haben, sind die beiden herausragenden Figuren Friedrich Nietzsche, des vielleicht größten Satanisten aller Zeiten, sowie Stefan George, weniger groß, aber, vielleicht wegen seiner Homosexualität, von größerer Bedeutung für die Erschaffung des Dritten Reichs.«15 Hier sehen wir den höhnisch und zutiefst konservativen Hieb gegen Homosexualität als vermeintlicher Wurzel der nazistischen »Perversität«. Es erinnert an Klaus Theweleits zumindest gutgläubigen Versuch, die nazistische oder völkische Misogynie im Sinne homosozialen Verhaltens zu verstehen.16 Aber nirgendwo in dieser eher journalistischen Analyse begründete Theweleit den Nationalsozialismus mit Homosexualität, was für Autoren wie Kolnai natürlich gleichbedeutend mit Amoralität und bewusster Abwehr des Christentums gewesen wäre. Für Kolnai, den Katholiken, ist der Nationalsozialismus eine Form des Heidentums. Jedoch gibt es bei ihm eine interessante Ambivalenz. Zwar beharrt er darauf, dass es sich um eine Infek­tion des »wahren Christentums« handelt, räumt aber ein, dass diese »Infektion« eine lange Vorgeschichte hat. Sogar in bestimmten Aspekten des »Originals«, des Christentums vor der Reformation, könne man die Samen dieses sogenannten Heidentums erkennen. Sollte nur ein Schritt in die falsche Richtung gemacht worden sein? Ich denke, er reflektiert hier eine typisch innerchristliche Polemik, in der die Kontrahenten innerhalb der eigenen Religion die eigentlichen Ketzer sind, die Abtrünnigen, die Träger der Infektion. Auf diese Weise unterläuft er ungewollt sein eigenes Argument, wonach das Christentum der Nazis eine Abweichung war. Das zeigt sich in seiner Diskus­ sion des Protestantismus, die so befrachtet ist mit sektiererischer Feindschaft, dass es das heutige Opus Dei in den Schatten stellen würde: »Der Protestantismus, wenn er auch einige spezifisch christliche Aspekte der Religion wiederentdeckte, und zwar sowohl judäische im Gegensatz zur heidnischen Weltlichkeit als auch darüber hinausgehende, brachte eine Anzahl neuer Gefahren mit sich: Exzentrik, Konfusion, Desintegration und schließlich Heidnisierung. Die heutige Unterdrückung der lutherischen Kirche in Nazideutschland, wenn sie auch einen wieder auferstandenen Luther dazu bringen könnte, sich zum Papisten oder Kommunisten zu wandeln, beruht zu einem großen Teil auf der ursprünglichen lutherschen Ideologie einer religiösen Amoral, einer persönlichen Gebundenheit jenseits der Stimme des Gewissens, des Antiklerikalismus und der Allmacht, welche die säkularen Autoritäten über den gesamten Bereich der menschlichen Gesellschaft ausüben.«17 15 16 17

Ebd., S. 41 f. Vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bände, München 2000. Kolnai, Krieg, S. 260.

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Kolnai macht das Luthertum für einen apolitischen Gehorsam gegenüber Autoritäten (Zwei-Reiche-Lehre) verantwortlich: »In manchen Varianten christlichen Denkens, besonders im Luthertum, ist diese Perfektionierung der Moral in ihr Gegenteil verkehrt worden. Kein Moralgesetz, kein objektiver Kanon der Tugend verdient Anerkennung, es bleibt nur reines Vertrauen auf den Erretter oder auf die souveräne Entscheidung des individuellen Gewissens bzw., und das ist der entscheidende Punkt, der souveränen moralischen Kompetenz säkularer Instanzen als eines Ersatzes für die praktischen Bedürfnisse des Menschen.«18

Kolnai war ziemlich eindeutig in seiner Aussage, dass der Protestantismus als eine Quelle des modernen »antichristlichen« Heidentums anzusehen sei: »Dieser Weg zurück zum Heidentum ist natürlich dem Protestantismus vorbehalten, dessen Konzeption von Kirche zwischen derjenigen einer unorganisierten, unartikulierten, rein geistigen Gemeinschaft der Seelen und derjenigen einer sozialen Körperschaft hin und her schwankt, die dem Zweck dienen soll, Fürstenautorität auszuüben. Schließlich bestehen einige wohlbekannte Verbindungen zwischen dem Christentum, besonders in seiner Form als organisierter Kirche mit etablierter Macht und Besitzinteressen, und einer konservativen politischen Haltung, die sogar zu stillschweigendem Einverständnis zwischen bestimmten Fraktionen christlichen Denkens und einem totalitären faschistischen Staat führen können.«19

Hier ist nicht mehr klar, was er mit »Heidentum« meint, außer dass er es ablehnt. Zu Recht weist Kolnai auf die politische Nähe des Luthertums zum Nationalsozialismus hin, die jedoch nicht der angeblich apolitischen Natur des Luthertums geschuldet war, seines Machtverzichts zugunsten säkularer Autoritäten, sondern die eher auf ideologischer Nähe basierte. Insbesondere die Empfänglichkeit des protestantischen Milieus für den Nationalismus war nicht strukturell vorbestimmt. Lutheraner waren nicht nur »angepasster« an den säkularen Nationalismus, sondern sie standen, wie der Sedan-Tag illustriert, an vorderster Front des deutschen Nationalismus, so wie in der amerikanischen Geschichte die Protestanten an der Spitze des amerikanischen Nationalismus standen. Das wurde von den Nazis sicher erkannt. Hitler selbst schrieb in »Mein Kampf«: »Der Protestantismus vertritt von sich aus die Belange des Deutschtums besser, soweit dies in seiner Geburt und späteren Tradition überhaupt schon begründet liegt; […] so wird der Protestantismus immer für die Förderung alles Deutschtums an sich eintreten, sobald es sich um Dinge der inneren Sauberkeit oder auch natio­nalen Vertiefung, um die Verteidigung deutschen Wesens, deutscher Sprache und auch deutscher Freiheit handelt, da dieses alles ja fest in ihm selber mit begründet liegt.«20

18 19 20

Ebd., S. 279 f. Ebd., S. 280. Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1943, S. 123.

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In »Mein Kampf« theoretisiert Hitler darüber, dass Schönerers Pan-Germanentum scheiterte, weil es im Augenblick der »Verteidigung nationaler Interessen auf einem Gebiete stattfinden müsste, das in der allgemeinen Linie seiner Vorstellungswelt und traditionellen Entwicklung entweder fehlt oder gar aus irgendeinem Grunde abgelehnt wird«.21 Hitlers Variante des »positiven Christentums« wird meist als ein »infiziertes« Christentum angesehen, weil es auf dem ontologischen Vorrang der germanischen Rasse vor dem Sakrament der Taufe bestand. An dieser Stelle bekundet Hitler jedoch einfach seine Überzeugung, dass eine bereits existierende Vielfalt des Christentums ihre rassische Überprüfung bestehen würde. Sein Verständnis von Protestantismus, wie das einer vorausgegangenen Generation von Nationalisten und sogar vieler vermeintlich antichristlicher Heiden in seiner eigenen Partei, war von dessen Übereinstimmung mit germanischen Werten überzeugt. Wie so viele im religiös-­nationalistischen Milieu, wie der Theologe Gogarten, auf den sich Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen« als Advokaten einer »lutherischen Frömmigkeit«22 bezieht, sah Hitler in Luther einen völkischen Helden, der nur durch Richard Wagner und Friedrich den Großen erreicht werde. Ein anderes Beispiel für Kolnais konzeptionelle Spannung ist seine Gegenüberstellung von reiner und infizierter Religion. Hier wandte er seine Aufmerksamkeit der »christlichen Irrlehre bekannt als ›Theonomismus‹ zu«; oder, in Kolnais eigenen Worten, der »Lehre, dass Gott nicht das Gute will, weil es gut ist, sondern dass alles, was Gott will, gut ist, weil Gott es will«.23 Theonomismus wird herkömmlich verstanden als eine Sichtweise, der zufolge biblische Gesetze auf bürgerliche Gesetze anwendbar sind, woraus sich der Vorschlag ableitet, biblische Gesetze als Standard für nationale Gesetze gelten zu lassen. Würde Kolnai heute leben, würde er wahrscheinlich Ted Cruz’ politische Ideologie der christlichen Vorherrschaft ebenso als eine Form des Theonomismus ablehnen wie die politische Ideologie der fundamentalistischsten Amerikaner. Doch lässt die Ablehnung des Theonomismus die Frage aufkommen, ob Kolnai die ontologische Priorität des traditionellen Christentum richtig versteht: War er der Ansicht, dass Gottes Aufforderung an Abraham, seinen eigenen Sohn zu töten, auch wenn Gott ihn in letzter Minute davon abhielt, entsprechend seiner eigenen Formulierung, eine Form von Theonomismus war? Betreibt Gott in Genesis 22 Ketzerei? Oder scherzt er? Wie dem auch sei, Kolnai irrte, als er schrieb: »Es braucht einen gewaltigen Schritt, allerdings einen Schritt in dieselbe Richtung, um zu argumentieren, dass der Kaiser nicht Kaiser von Gottes Gnaden ist, sondern dass Gott Gott ist, weil der Kaiser seine Gnade ­benötigt.«24 Kolnai formuliert hier elegant und klug. 21 Ebd. 22 Kolnai, Krieg, S. 298. 23 Ebd., S. 261. 24 Ebd.

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Wenn er jedoch den Ursprung des Problems nicht im modernen Cäsarentum sieht – was eine Wiederholung des Arguments der »Infektion« eines einstmals »reinen« Glaubens wäre –, sondern im ersten christlichen Kaiser Konstantin, unter dessen Regentschaft die jahrhundertelange Geschichte des Christentums als Arm der offiziellen Autorität begann, würde er behaupten, dass Konstantins Regentschaft schon die Korruption eines ehemals reinen Glaubens war? Wenn das der Fall wäre, würde er seinen kritischen Blick auf Rom selbst richten, was ziemlich unwahrscheinlich ist. Für Kolnai, wie für andere katholische Konservative dieser Periode, war das bekannteste Gesicht des Nationalsozialismus neben Hitler Alfred Rosenberg, der führende Paganist der Partei. Er deckt einen wahren Zug bei Rosenberg auf, nämlich dass dessen Paganismus nicht ohne Ambivalenzen gegenüber dem Christentum war. Folgendes hat er über Rosenberg zu sagen: »Er hatte sich ausdrücklich als wahren Christen bezeichnet und den Anspruch erhoben, das Christentum zu reinigen, anstatt es zu unterdrücken. Und er hatte es unternommen, das Christentum als ein Produkt des arischen Rassengenius herzuleiten, anstatt ihm entgegenzutreten. Sowohl der Vorrang der Rasse, die Zurückweisung der rationalen Klarheit feststehender Lehren als orientalische Abstraktion und jüdische Beimengung als auch das Plädoyer für eine germanische Religion leiten sich von Chamberlain ab. Er fordert die Wiederherstellung einer echten deutsch-christlichen Religion, die Reinigung des Christentums vom syrischen Aberglauben und die Vertiefung des religiösen Lebens.«25

Diese Beurteilung von Rosenberg ist meiner Ansicht nach richtig. Rosenbergs Schriften schwanken tatsächlich zwischen scheinbarer Verdammung des Christentums als solchem mit Hinwendung zum Paganismus und dem Ruf nach weiterer Reformation des Christentums, die nur innerhalb des Protestantismus stattfinden könne, und das weniger wegen der angeblichen strukturellen Formbarkeit der Landeskirchen oder dem in der Zwei-Reiche-Lehre vermeintlich angelegten apolitischen Charakter, sondern eher wegen des Nationalismus und vor allem des Antisemitismus, den er in Luthers Schriften fand, hauptsächlich in seiner Schrift »Von den Juden und ihren Lügen«, Luthers berüchtigtem aggressivem Schmäh-Traktat. In Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« wird sie nicht erwähnt. In Bezug auf Hitler selbst führt Kolnai richtig aus: »Seine erste Regierungserklärung verspricht feierlich, ›das Christentum als Basis unserer gesamten Moral zu bewahren‹. In den christlichen Bekenntnissen sieht Hitler bewahrende Faktoren des deutschen Volkstums.«26 Kolnai nimmt an, dass Hitler die Festigkeit der katholischen Dogmatik bewundert und diese im nationalsozialistischen Parteiprogramm nachahmen will. Doch dann wiederholt er die Erklärung der Theorie politischer Religion, wonach jede Beziehung zwischen Nationalsozialismus und Christentum eine Nachahmung, kein Original, ist. Das lässt uns mit der 25 26

Ebd., S. 270. Ebd., S. 293.

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Frage zurück, woher die Substanz der nationalsozialistischen Ideen, insbesondere des Antisemitismus, kam. Kolnais Hang, den Nationalsozialismus dem Liberalismus, Sozialismus, der Homosexua­lität und anderen säkularen »Nachkommen« anzulasten, kann man am besten durch seine Verbindung zum politisch konservativen Katholizismus verstehen. »Der Krieg gegen den Westen« ist eine Wiederholung von vielen anderen Totalitarismus-Theorien und ihres Pendants, der Theorie politischer Religion. James Chappel führte dazu aus: »Diese Theorie markiert eine Abwendung von der früheren Auffassung des stato totalitario, die sowohl von Kritikern als auch Verteidigern des Mussolini-Regimes seit den 1920ern vertreten wurde. Das Neue, die notwendige Wendung, um die Theorie von einer lokalen Beschreibung Italiens zu einer allgemeineren Theorie des modernen Staates und seiner Pathologien weiterzuentwickeln, war gekennzeichnet von der Subsumierung des Bolschewismus unter diesen Schirm. Dieser Schritt wurde zuerst von Katholiken in Deutschland, Frankreich und Österreich vollzogen. Er markiert die Geburt der Totalitarismus-Theorie, wie sie im Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus angewendet wurde.«27

Weiter schreibt Chappel: »Die Tatsache, dass weder Liberale noch Sozialisten die voll ausgebildete Totalitarismus-Theorie Mitte der 1930er-Jahre entwickelt hatten, verwundert nicht. Was immer deren sozialwissenschaftlichen Verdienste sein mögen, Theorie war für sie immer ein Werkzeug politischer Polemik. Wer hatte bei der Entstehung der Theorie ein politisches Interesse an Vergleichen zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus? Britische und amerikanische Sozialisten hätten auch ohne elaborierte Theorien Gegner beider sein können. Auch die sozialistische und kommunistische Linke hatte keinen Nutzen von einem solchen Vergleich: Es war die große Zeit der Volksfront, gegründet auf der Nichtvergleichbarkeit von Kommunismus und jeglicher Form von Faschismus. Europäische Katholiken dagegen konnten aus diesem Vergleich politisches Kapital schlagen. Konservative Katholiken sahen den Totalitarismus als die pathologische Konsequenz moderner Freiheit und lasteten sowohl den Nationalsozialismus als auch den Stalinismus der Aufklärung und der Französischen Revolution an. In Frankreich reagierten Katholiken auf den Aufstieg der verhassten Volksfront: Jede Theorie, die Bolschewismus und Nationalsozialismus gleichsetzte, delegitimierte das Konzept einer von Moskau gesteuerten antifaschistischen Volksfront. In Österreich waren katholische Unterstützer von Dollfuß’ Ständestaat in einer ähnlichen Position. Ihre Hauptfeinde waren die Austro-Marxisten – gerade geschlagen in einem Bürgerkrieg, aber immer noch eine Bedrohung – und die Nationalsozialisten, deren Wunsch nach Anschluss besorgniserregende Resonanz in Österreich selbst fand. Die Totalitarismus-Theorie erlaubte es Dollfuß’ Anhängern, die Behauptung der Nationalsozialisten, ein Bollwerk gegen den Kommunismus zu sein, zu unterlaufen.«28

Obwohl Kolnai behauptete, die westliche Demokratie zu verteidigen, ist er symp­ tomatisch für diese Tendenz. Zum Beispiel lobt er Voegelin mit folgenden 27 28

James Chappel, The Catholic Origins of Totalitarianism Theory in Interwar Europe. In: Modern Intellectual History, 8 (2011) 3, S. 561–590, hier 563. Ebd., S. 563 f.

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Worten: »Dieser scharfsinnige Denker einer konterrevolutionären Gesellschaft versteht es, immer eine gewisse Distanz zu leidenschaftlicher Parteilichkeit zu halten. Dies mag der innere Grund dafür sein, dass er sich für den Faschismus Österreichs anstelle des Nazireichs entscheidet.«29 Für Chappel war die »Vision der politischen und bürgerlichen Gesellschaft, wie sie von den Urhebern des Totalitarismus und der politisch-religiösen Theorie – nicht Marcuse, Kohn oder Arendt, sondern Gurian, von Hildebrand und Maritain – entwickelt wurde, in ihrem Kern zutiefst katholisch. Katholische politische Theorie hat mindestens seit dem 19. Jahrhundert für die Dezentralisierung der Souveränität weg vom Nationalstaat hin zu nicht-politischen Institutionen wie Familie oder Kirche plädiert. Das war von Misstrauen gegenüber den ›Massen‹ und, allgemeiner, gegenüber der Inanspruchnahme der Souveränität durch den Nationalstaat unter Schwächung traditioneller Autoritäten begleitet. Die katholische Vision von Gesellschaft als eines sich überlappenden Sets von Hierarchien, legitimiert in letzter Instanz durch Naturgesetze, ihr Organisationsprinzip und Gott als oberstem Führer, ist in der Totalitarismus-Theorie verkörpert. Die Theorie knüpft an eine religiöse Auffassung von Staatsbürgerschaft und menschlicher Individualität an. Danach rühren das Heil des Subjekts und sein Wert nicht von Politik oder Gesellschaft her, sondern von Glauben und Transzendenz. Das heißt nicht, dass prominente Totalitarismus-Theoretiker wie Arendt oder Friedrich verkappte Katholiken waren, sondern dass sie halfen, eine fundamental theologische Idee in akzeptable säkulare Sprache zu übersetzen.«30

Nationalsozialismus als religiöse Politik Nachdem ich Kolnai als katholischen Antinazi identifiziert habe, möchte ich mich der Frage zuwenden, ob die Nationalsozialisten selbst ihre Bewegung als »politische Religion« wahrnahmen. Dazu sollen die Bemühungen einiger Vertreter der Bewegung untersucht werden, den Nationalsozialismus zu einem buchstäblichen Religionsersatz zu machen. Jene, die heute am vehementesten für die »politisch-religiöse« Theorie eintreten wie etwa Richard Weikart, verweisen gewöhnlich auf »Neu-Paganisten« wie Rosenberg und Himmler und gehen davon aus, dass deren esoterisch-religiöse Ideen führend innerhalb der Bewegung waren. Es wird oft geschlussfolgert, dass sich Hitler selbst dem Mystizismus verschrieben hätte. Obwohl Hitler dafür bekannt war, seine Äußerungen so zu formulieren, wie es sein Auditorium hören wollte, war er selbst in Rosenbergs Anwesenheit überhaupt nicht enthusiastisch über dessen völkisches Manifest »Der Mythos des 20. Jahrhunderts«. Kolnai konnte zum Zeitpunkt der Publikation von »Der Krieg gegen den Westen« nicht wissen, dass Rosenberg vor der Veröffentlichung seines Mythos Hitler nach dessen Meinung zu dem Buch fragte. (Sechs Monate, nachdem er das Manuskript erhalten hatte, hatte Hitler es immer noch nicht gelesen.)

29 30

Kolnai, Krieg, S. 486. Chappel, Catholic Origins, S. 565.

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­ itler antwortete kühl: »Es ist ein sehr gescheites Buch, ich frage mich nur, wer H heute solch ein Buch liest und versteht.«31 Rosenbergs Frage, ob er es zurückziehen oder sogar von seiner Parteifunktion zurücktreten solle, wirft ein Licht auf dessen unsichere Stellung. Hitler sagte Nein zu beidem. Es sei Rosenbergs Recht, das Buch zu veröffentlichen, da es sein intellektuelles Eigentum sei.32 Dennoch äußerte Hitler später privat sein Bedauern, dass Rosenberg das Buch überhaupt geschrieben hatte. Laut Albert Speer sprach Hitler über das Buch als »›Zeug, das niemand verstehen kann‹, geschrieben von einem ›engstirnigen Balten, der furchtbar kompliziert denkt. […] ›Ein Rückfall in mittel­alterliche Vorstellungen!‹«33 In seinen »Tischgesprächen« in privatem Kreis äußerte sich Hitler noch ablehnender: »Ich muss darauf bestehen, dass Rosenbergs ›Mythos des 20. Jahrhunderts‹ nicht als Ausdruck der offiziellen Parteidoktrin gesehen werden kann. […] Es ist interessant, dass vergleichsweise wenige der älteren Parteimitglieder unter den Lesern von Rosenbergs Buch zu finden sind und dass die Verleger große Schwierigkeiten hatten, die erste Ausgabe abzusetzen.«34 Wenn Rosenbergs esoterische Religion nur ein begrenztes Publikum innerhalb der Partei fand, so erging es Himmlers Mystizismus nicht besser. Hitler sagte dazu im engeren Kreis: »Welcher Unsinn! Jetzt sind wir endlich so weit, in eine Zeit zu kommen, die alle Mystik hinter sich gelassen hat, und nun fängt der wieder von vorne an. […] Der Gedanke, dass ich einmal zum ›SS-Heiligen‹ gemacht werde!« Während Himmler Karl den Großen als Unterjocher altgermanischer Stämme anprangerte, erklärte Hitler: »Der Tod vieler Sachsen war kein historisches Verbrechen, wie Himmler meint; Karl der Große tat sehr gut daran, Widukind zu unterwerfen, die Sachsen kurzerhand zu töten, denn dadurch hat er das Frankenreich und den Einzug der westlichen Kultur in das jetzige Deutschland möglich gemacht.«35 Hitler wandte sich sogar selbst mit der völligen Ablehnung der Gründung einer neuen Religion an Himmler. Er nannte sie eine »Chimäre«.36 Es

31

Zit. in: Robert Cecil, The Myth of the Master Race: Alfred Rosenberg and Nazi Ideology, London 1972, S. 100. 32 Zit. in: ebd., S. 101. 33 Albert Speer, Erinnerungen, Berlin 1970, S. 110. Zu Goebbels’ Ansichten und seiner Beziehung zu Rosenberg vgl. ebd., S. 138–141; Ralf Reuth, Goebbels, München 1991, S. 303–306. 34 Hugh Trevor-Roper (Hg.), Adolf Hitler, Hitler’s Table Talk 1941–1944: His Private Conversations, London 1953, S. 422 (11. April 1942). Rosenbergs »Mythus« wurde von ihm privat veröffentlicht, ohne jemals als Beispiel nationalsozialistischen Denkens anerkannt zu werden wie Hitlers »Mein Kampf«. Das Buch erhielt niemals die offizielle Anerkennung der NSDAP und wurde auch nicht vom Parteiverlag veröffentlicht. Hitler dachte immer mal wieder darüber nach, das Buch zu verbieten, ohne es jemals zu tun. Der »Mythus« wurde jedoch manchmal von unteren Parteiinstitutionen wie etwa der Breslauer Zweigstelle des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) verboten (BArch Berlin-Lichterfeld, NS 22/410, 8.9.1935: Breslau). 35 Speer, Erinnerungen, S. 108. 36 Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 90.

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gibt viele Belege dafür, dass Hitler für Himmlers antichristlichen Neo-Paganismus kein Verständnis hatte. Sogar unter den anderen Paganisten der Partei galten Himmlers religiöse Ansichten als bizarr. Himmler bestätigte dies unabsichtlich, indem er allen deutschen Wissenschaftlern verbot in irgendeiner Weise dagegen zu polemisieren.37 Himmlers Obsession mit der »Welt-Eis-Lehre« war sogar für Rosenberg zu viel. Er sandte ein Rundschreiben an alle NSDAP-Büros, in dem er versicherte, dass »solchen Theorien anzuhängen nicht zum Nationalsozialist-Sein gehört«.38 Zugegeben, das waren private Äußerungen. Aber Hitler überschüttete seinen paganistischen Kollegen in der Partei auch mit öffentlichem Hohn. In »Mein Kampf« schrieb er: »Es ist das Charakteristische dieser Naturen, dass sie von altgermanischem Heldentum, von grauer Vorzeit, Steinäxten, Speer und Schild schwärmen, in Wirklichkeit aber die größten Feiglinge sind, die man sich vorstellen kann. Denn die gleichen Leute, die mit altdeutschen, vorsorglich nachgemachten Blechschwertern in den Lüften herumfuchteln, ein präpariertes Bärenfell mit Stierhörnern über dem bärtigen Haupte, predigen für die Gegenwart immer nur den Kampf mit geistigen Waffen und fliehen vor jedem kommunistischen Gummiknüppel eiligst von dannen.«39

Er verabscheute »jenen deutschvölkischen Wanderscholaren, deren positive Leistung immer gleich Null ist, deren Einbildung aber kaum übertroffen zu werden vermag«.40 Jeder Versuch, den Nationalsozialismus zu einer religiösen Bewegung zu machen, wurde vollständig zurückgewiesen: »Besonders bei den sogenannten religiösen Reformatoren auf altgermanischer Grundlage habe ich immer die Empfindung, als seien sie von jenen Mächten geschickt, die den Wiederaufstieg unseres Volkes nicht wünschen.«41 Hitler glaubte, dass dies nur dazu führen würde, die nationale Einheit zu verhindern: »Führt doch ihre ganze Tätigkeit das Volk vom gemeinsamen Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den Juden, weg, um es stattdessen seine Kräfte in ebenso unsinnigen wie unseligen inneren Religionsstreitigkeiten verzehren zu lassen. […] Von der Weltfremdheit und besonders der Unkenntnis der Volksseele dieser völkischen Johannesse des zwanzigsten Jahrhunderts will ich dabei ganz absehen.«42 Diese letzte Äußerung hätte auch auf Gauleiter Artur Dinter zielen können, der danach strebte, den Nationalsozialismus von einer säkularen in eine explizit ­religiöse Bewegung zu transformieren. Wegen der wachsenden Kluft zwischen

37 Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 91. 38 Cecil, Myth of the Master Race, S. 119. 39 Hitler, Mein Kampf, S. 396. 40 Ebd., S. 395. 41 Ebd., S. 388. 42 Ebd., S. 397 f.

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ihm und Hitler in dieser Sache wurde Dinter aus der Partei ausgeschlossen; die Gründe dafür erlauben uns weitere Einblicke in Hitlers eigenes Denken über Religion. Außerdem zeigt diese Episode, dass, selbst wenn Hitler religiöse Züge seiner Bewegung sah, er dennoch die Idee, sie zu einer Religion zu machen, völlig ablehnte. Wie viele andere in der nationalsozialistischen Führung, hielt Dinter große Stücke auf Martin Luther. Er sah ihn als nationalistische Figur, die unter anderem die deutsche Sprache erfunden hatte. Ebenso bewunderten viele Nationalsozialisten Luthers religiösen Kampf.43 Dinter gehörte zu ihnen, steigerte seine Bewunderung aber ins Extrem und ging so weit, eine Plattform zur »Vollendung« der Reformation in Deutschland zu entwerfen. Kolnai verweist auf den fanatischen Antikatholizismus Dinters, dessen Bedeutung im deutschen religiösen Milieu er anerkennt.44 Er ordnet ihn fälschlicherweise dem paganistischen Milieu um Ludendorff zu, obwohl Dinter ausdrücklich kein Paganist war. Seinen eigenen religiösen Schriften zufolge sollte der Prozess der Einigung Deutschlands unter dem »wahren Christentum«, den Luther begonnen und nicht vollendet hatte, in der Verantwortung der Nazipartei liegen. Dinter formulierte diese Vision in seinen »197 Thesen zur Vollendung der Reformation« von 1926, in denen er behauptete, Deutschlands einziger Weg zu politischer Erneuerung führe über eine religiöse Revolution. Im darauffolgenden Jahr gründete er in Nürnberg seine eigene Organisation, die Geistchristliche Religionsgemeinschaft, und die Schriftenreihe »Das Geistchristentum«. Wegen Hitlers Desinteresse an seinen Vorschlägen lehnte er dessen Führung immer stärker ab. Bevor Hitler ihn aus der Partei ausschloss, ließ er durch Georg Strasser, den Organisationsleiter der Partei während der Kampfzeit, die Parteiführung dringend auffordern, den Verbreitungsgrad von Dinters Ansichten abzuschätzen. Die entsprechende Formulierung lautete: »In der Zeitschrift ›Geistchristentum‹ versucht Dr. Dinter den Eindruck zu erwecken, es gäbe Meinungsverschiedenheiten in der nationalsozialistischen Bewegung zwischen Adolf Hitler und anderen Führern, und nur Adolf Hitler stünde Dinters Versuch entgegen, die Bewegung in religiöse Diskussionen zu verwickeln. Wir, die unterzeichnenden Führer der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, Protestanten und Katholiken, weisen diesen Versuch entschieden zurück. Wir hegen keine Vorurteile gegenüber unseren jeweiligen persönlichen Ansichten zur Religion und werden es nicht zulassen, dass die politische Bewegung hineingezogen wird in den Strudel religiöser Kämpfe.«45

43 44 45

Vgl. Richard Steigmann-Gall, Furor Protestanticus: Nazi Conceptions of Luther, 1919–1933. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 12 (1999) 1, S. 274–286. Kolnai, Krieg, S. 270 f., 594 f. BArch Berlin, NS 26/487, 8.10.1928: München.

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Unter denen, die reagierten, waren Goebbels und Göring. Beide bestätigten Hitlers Position. Rosenberg gehörte zu denen, die nicht reagierten.46 Hitler setzte sich durch: Der Nationalsozialismus wurde nicht zu einer »religiösen Reformation, sondern [blieb] eine politische Reorganisation unseres Volkes«.47 Wenige Wochen nach Dinters Ausschluss hielt Hitler eine Rede in Passau: »Wir sind ein Volk unterschiedlichen Glaubens, aber wir sind eins. Die Frage ist nicht, welchem Glauben der andere anhängt; die Frage ist, ob das Christentum steht oder fällt. […] Wir tolerieren niemanden in unsren Reihen, der die Idee des Christentums angreift […] unsere Bewegung ist christlich. Wir sind von dem Wunsch erfüllt, dass Protestanten und Katholiken einander erkennen in der tiefen Bedrängnis unseres eigenen Volkes.«48 Hitler betonte unmissverständlich die religiöse Politik des Nationalsozialismus, den er nicht als politische Religion sah. Die Bewegung sollte einer religiösen Ideologie folgen, aber nicht zu einer religiösen Bewegung werden. Mehr noch, Hitler sah das Christentum als religiöse Ideologie und war damit inhaltlich näher bei Dinter und keineswegs antichristlich, wie die Paganisten gehofft hatten. Der größte Teil der nationalsozialistischen Elite folgte Hitlers Ablehnung einer politischen Religion und insbesondere des Paganismus Rosenbergs und Himmlers. Goebbels notierte in seinem Tagebuch, Göring hätte sich beschwert, dass, wenn es nach Rosenberg gegangen wäre, »nur Kult, Ding, Mythos und diese Art Schwindel«49 gewesen wäre. 1939 konfrontierte Göring Rosenberg direkt, indem er ihn fragte: »Glauben Sie, dass also das Christentum zu Ende geht und später eine neue von uns bedingte Form entsteht?« Als Rosenberg dies bejahte, entgegnete Göring, er würde Hitler vertraulich danach fragen.50 Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, ob Göring Hitler diese Frage tatsächlich stellte. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Hitler Rosenbergs Behauptung zurückgewiesen hätte. Goebbels Ansichten zum Paganismus stimmten weitgehend mit denen Görings überein. Seine Meinung von Rosenbergs Fähigkeiten kommt in der Formulierung »fast Rosenberg« zum Ausdruck: »Beinahe hätte es bei Rosenberg zum Gelehrten, zum Journalisten, zum Politiker gereicht, aber eben nur beinahe.«51 An 46 BArch Berlin, Personalakte Dinter. 47 Dinter schlug nach dieser Entscheidung zurück. Ein Polizeibericht schrieb: »Dinter hat Strassers Ariertum bezweifelt. In seinem Geistchristentum schreibt er: ›Der Name Strasser ist ein jüdischer Name. […] ein Blick auf seine üblichen Geschäftsmethoden […] zeigt seine rassische Komposition.‹« (BArch, NS 26/1370). 48 BArch, NS 26/55, 27.10.1928: Passau. 49 Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels: Sämtliche Fragmente, München 1987, Eintrag vom 13.4.1937. 50 Vgl. Hans-Günther Seraphim (Hg.), Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs, Göttingen 1956, Eintrag vom 22.8.1939, S. 91. 51 Alfred Krebs, Tendenzen und Gestalten der NSDAP: Erinnerungen an die Frühzeit der Partei, Stuttgart 1959, S. 166.

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anderer Stelle war Goebbels wesentlich prägnanter, indem er Rosenbergs religiöses Epos als einen »ideologischen Rülpser«52 bezeichnete. In welcher Hinsicht können Hitler bzw. seine Bewegung als religiös charakterisiert werden, wenn Hitler Versuche, den Nationalsozialismus zu einer politischen Religion zu machen, ablehnte? Beginnen wir bei seiner Konzeption von Gott: »Für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, […] auf dass unser Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission heranzureifen vermag. […] Völker, die sich bastardisieren oder bastardisieren lassen, sündigen gegen den Willen der ewigen Vorsehung.«53 Hitler fasste seinen Antisemitismus in ökonomische, politische und sogar eugenische Begriffe, betonte jedoch immer wieder seine religiöse Grundlage: »So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.«54 In diesem eindeutigen Bezug zum »Herrn« sehen wir Hitlers theistische Dimension. Während die Bezugnahme auf eine vage gehaltene Macht der Vorsehung kaum an den biblischen Gott erinnert, entwickelt Hitler an anderer Stelle in »Mein Kampf« einen naturalistischen Pantheismus ohne christlichen Inhalt. Noch einmal, es war in der Frage der Rasse und der Rassen­reinheit, bei der sich Hitler am häufigsten auf solch einen Gott berief. In seinen Augen war es die Pflicht der Deutschen, »der dauernd fortwirkenden Erbsünde einer Rassenvergiftung endlich Einhalt zu tun und dem allmächtigen Schöpfer Wesen zu geben, wie er sie selbst erschuf«.55 Wenn Hitler an anderer Stelle über eine vermenschlichte Natur und die Gesetze der Natur, denen die Menschheit zu folgen hat, spricht, brachte er gleichzeitig seinen Glauben zum Ausdruck, dass dies göttliche, von Gott geschaffene, Gesetze seien: »Gerade der völkisch Eingestellte hätte die heiligste Verpflichtung, jeder in seiner eigenen Konfession dafür zu sorgen, dass man nicht nur immer äußerlich von Gottes Willen redet, sondern auch tatsächlich Gottes Willen erfülle und Gottes Werk nicht schänden lasse. Denn Gottes Wille gab den Menschen einst ihre Gestalt, ihr Wesen und ihre Fähigkeiten. Wer sein Werk zerstört, sagt damit der Schöpfung des Herrn, dem göttlichen Wollen, den Kampf an.«56 Die Bezugnahme auf Gott als Herrn der Schöpfung und die Notwendigkeit, seinem Willen zu gehorchen, entsprechen einer gängigen christlichen Vorstellung. Während Hitler,

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Zit. in: Christian Zentner, Der Nürnberger Prozeß. Dokumentation-Bilder-Zeittafel, München 1984, S. 70. Hitler, Mein Kampf, S. 234, 359. Ebd., S. 70. Ebd., S. 449. Ebd., S. 630.

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nicht weniger als Rosenberg, beabsichtigte, religiöse und rassische Kategorien zu vermischen, behauptete er anders als Rosenberg, dass dies innerhalb eines christlichen Bezugsrahmens getan werden könne. Andere Quellen verweisen auf Hitlers Christentum. Während einer Zusammenkunft der Partei im Münchener Bürgerbräukeller 1922 beschäftigte er sich mit der Frage, ob man sowohl antisemitisch als auch christlich sein könne: »Ich sage, meine christlichen Gefühle verweisen mich auf meinen Herrn und Retter als einen Kämpfer (tumultartiger, langanhaltender Applaus). Sie verweisen mich auf einen Mann, der, einstmals allein und nur von wenigen Gefolgsleuten begleitet, die Juden erkannte und zum Kampf gegen sie aufrief, und der, als der wahre Gott, nicht nur der größte Leidende, sondern auch der größte Krieger war. […] Als Christ und Mensch las ich den Abschnitt, der uns verkündet, wie der Herr schließlich aufstand und die Peitsche ergriff, um die Wucherer, die Schlangenbrut, aus dem Tempel zu verjagen! (tumultartiger Applaus)«57

In seiner Rede vor einem überwiegend aus Nationalsozialisten bestehenden Publikum bezog sich Hitler auf Jesus als den »wahren Gott«. Er machte klar, dass er Christus Kampf als direkte Inspiration für seinen eigenen sah. Für Hitler war Jesus nicht nur ein Archetyp unter anderen, sondern, wie er bei anderer Gelegenheit sagte, »unser größter arischer Führer«.58 Während er sonst Jesus menschliche Eigenschaften betonte, spricht er in diesem Fall seine Göttlichkeit an. Diese Worte wählte Hitler in der Öffentlichkeit. Was mag er hinter verschlossenen Türen gesagt haben? Bei einem privaten Treffen mit Vertrauten in der Kampfzeit, auf dem er erklärte, warum die Politik über der Wirtschaft stehen müsse, sprach Hitler wieder über eine Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Christentum, eine, die tiefer sei als simple »Anleihen«: »Sozialismus ist ein politisches Problem. Und Politik geht die Wirtschaft nichts an. […] Sozialismus ist eine Frage der Lebenshaltung, der ethischen Einstellung zum Leben, und zwar nicht nur zum Leben der eigenen Person, sondern zum Leben aller, die in einem gemeinsamen völkischen oder staatlichen Lebensraum zusammenwohnen. Sozialismus ist eine Weltanschauung! Aber diese Welt­ anschauung ist eigentlich nicht neu. Ich wundere mich immer, wenn ich die Evangelien des Neuen Testaments und auch die Offenbarungen mancher Propheten lese […], was man alles aus dieser so klaren und in ihrer Begebenheit so einzigartigen, ins Religiöse gesteigerten Lehre dieser gottbegnadeten Männer, besonders Jesu Christi, gemacht hat. Sie haben diese neue Weltanschauung, die wir jetzt Sozialismus nennen, geschaffen, aus der Taufe gehoben, gelehrt und gelebt. Aber die Gemeinschaften, die sich dann christliche Kirche nannten, haben sie nicht verstanden! Oder taten sie es, dann haben sie Christus verleugnet und verraten!«59

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Völkischer Beobachter vom 13.4.1922. Eberhard Jäckel (Hg.), Hitler: Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 635. Zit. in: Otto Wagener, Hitler aus nächster Nähe, Aufzeichnungen eines Vertrauten, 1929–1933. Hg. von Henry Ashby Turner, Berlin 1978, S. 257 (Hervorhebung im Original).

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Hitler behauptete, dass da, wo die christlichen Kirchen ihre Mission verfehlten, eine christliche Ethik in einer säkularen Gesellschaft einzuführen, seine Bewegung diese Aufgabe aufgreifen werde. Hitler las nicht nur das Neue Testament, sondern bekannte sich dazu, von diesem inspiriert zu sein: Die Substanz der Sozialtheorie des Nationalsozialismus sei »nichts Neues«. Was auch immer Hitlers persönliche Religiosität gewesen sein mag, sie enthielt ein christliches Element, wenn auch sicher nicht im konventionellen kirchlichen Sinn. Bis zum Ende seines Lebens schätze er Christus so hoch, dass er es für notwendig hielt, diesen vor seinem eigenen Judentum zu retten. Sogar als sein Antiklerikalismus wuchs, behielt er seine hohe Meinung von Jesus. Zu seinen Vertrauten sagte er im Oktober 1941, drei Jahre nachdem Kolnai »Der Krieg gegen den Westen« veröffentlicht hatte: »Der Mann aus Galiläa, der später Christus genannt wurde, beabsichtigte etwas ganz anderes. Er muss als populärer Führer gesehen werden, der sich gegen das Judentum wandte. […] Er wandte sich gegen den jüdischen Kapitalismus und deshalb liquidierten ihn die Juden.«60 Für Hitler war Jesus Arier, nicht Jude. Auch wenn Hitler behauptete, ein Feind der organisierten Religion zu sein, zeigt diese Auffassung von Jesus die klare Grenze seiner vermeintlichen Abtrünnigkeit und die Beibehaltung einer spezifisch christlichen Dimension seines Glaubens. Nicht nur Hitler, auch andere in der Nazibewegung zeigten ein ähnliches Bekenntnis zum Christentum. Einer von ihnen war der Gauleiter von Ostpreußen und späterer Reichsbevollmächtigter für die Ukraine, Erich Koch. Zusätzlich zu seinem Posten als Gauleiter war Koch 1933 gewählter Präsident der protestantischen Kirchensynode. Zeitgenossen von Koch, darunter Gegner der nazifizierten »Deutschen Christen«, bestätigten die Ernsthaftigkeit seiner christlichen Gefühle. Dem Leiter der ostpreußischen Bekennenden Kirche zufolge sprach Koch »mit dem tiefsten Verständnis unserer Kirche« und beschäftigte sich beständig mit »den zentralen Themen des Christentums«. In seiner Aussage nach dem Krieg vor einem öffentlichen Ankläger in Bielefeld 1949 beharrte Koch: »Ich war der Ansicht, dass die nazistische Idee sich von einer grundlegenden preußisch-protestantischen Einstellung her entwickeln müsse.«61 Diese protestantische Orientierung innerhalb der Partei-Elite, offensichtlich sogar in Hitlers Einschätzung des Protestantismus als der »nationalen Religion« der Deutschen,62 passte zur hauptsächlich protestantischen sozialen Basis der

60 Hugh Trevor-Roper (Hg.), Hitler’s Table Talk 1941–1944: His Private Conversations, London 1953, S. 76 (21.10.1941). 61 Institut für Zeitgeschichte MC 1 (Aussage vom 15.7.1949). 62 Vgl. Wagener, Hitler aus nächster Nähe, S. 77–80, 346; Seraphim, Politisches Tagebuch, Eintrag vom 19.1.1940, S. 117.

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Partei. Hans Schemm, Gauleiter von Bayreuth, bayerischer Kultusminister und Leiter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) erläuterte diese Verbindung. Während der Kampfzeit war Schemm für seinen Slogan »Unsere Religion ist Christus, unsere Politik ist das Vaterland!« bekannt. Mit seinen Reden wollte er den Nationalsozialismus als religiöse Politik voranbringen. Einem Polizeireport zufolge sprach Schemm »wie ein Pastor« und beendete seine Auftritte mit der lutherischen Hymne »Ein feste Burg ist unser Gott«.63 In einer dieser Reden sprach er über Gott in nazistischer Begrifflichkeit: »Unser Bekenntnis zu Gott ist ein Bekenntnis zur Ganzheitslehre. Wer zur Ganzheit strebt, strebt immer zum Religiösen, weil die letzte Ganzheit sich immer dort befindet, wo der letzte, höchste Gedanke ist. So ist unsere Lehre im Grunde eine Ganzheitslehre. Zu den Ganzheiten Rasse, Wehr und Persönlichkeit tritt als letzte Sinngebung die größte Ganzheitsparole unseres Volkes ›Religion und Gott‹ hinzu. Gott ist das größte Ganze und überdacht alles andere«.64 Hier nimmt Schemm explizit Bezug auf den »totalitären« Charakter des Nationalsozialismus. Er stellte jedoch klar, dass dessen »totalitäre« Weltanschauung die Möglichkeit verschiedener Varianten des Christentums einschloss. In der Beziehung von Christentum und Nationalsozialismus sah er keinen Loyalitätskonflikt, sondern schrieb: »Wir sind ja keine Theologen, keine Vertreter des Lehramtes in diesem Sinne, treiben auch keine Theologie. Aber eins nehmen wir für uns in Anspruch, dass wir die große grundsätzliche Idee des Christentums im Mittelpunkte unserer Ideenwelt tragen – der Held und Dulder Christus selbst steht im Mittelpunkt.«65 Schemm beschäftigte sich auch mit dem Thema der Heiligsprechung der Wissenschaft von den Rassen. Dabei beharrte er auf der Übereinstimmung von Rassismus und christlicher Einstellung, ja sogar auf der Abstammung des Rassismus aus dieser. Vor einer Versammlung protestantischer Pastoren sagte er: »Wir wollen doch das, was Gott geschaffen hat und er erhalten will, nicht umstoßen, so wie in einem Walde der Eichenbaum und der Tannenbaum ihre Art behalten. – Warum vermischen sich im Walde die Bäume nicht? – Warum entsteht kein Einheitsbaum? Warum soll auf einmal der Rassengedanke bei uns Menschen nach dem Begriffe des Marxismus sich nach dem Einheitsmenschen hin entwickeln? Man wirft uns vor, dass wir den Rassengedanken vergöttern wollen. Aber da die Rasse von Gott gewollt ist, wollen wir nichts anderes als die Rasse sauber halten und damit das Gottesgesetz erfüllen.«66 Das waren zwar ­öffentliche Verlautbarungen, die Schemm

63 Franz Kühnel, Hans Schemm, Gauleiter und Kultusminister, Nürnberg 1985, S. 134 f. 64 Gertrud Kahl-Furthmann (Hg.), Hans Schemm spricht: Seine Reden und sein Werk, Bayreuth 1935, S. 179 (Hervorhebung im Original). 65 Walter Künneth/Walter Wilm/Hans Schemm, Was haben wir als evangelische Christen zum Rufe des Nationalsozialismus zu sagen?, Dresden 1931, S. 19 (Hervorhebung im Original). 66 Ebd., S. 19 f.

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jedoch auch privat nicht zurücknahm. In Schriftwechseln der Partei über den sektiererischen Evangelischen Bund, eine führende Stimme des politischen Protestantismus, der die politische Zusammenarbeit mit den Nazis anstrebte, stellte Schemm fest: «Der Evangelische Bund steht der NSDAP sehr nah. Er ist bewusst deutsch und will durch moralische religiöse Energie zum Aufbau des deutschen Volkes beitragen.«67 Obwohl die rassische Dimension von Schemms Religion scheinbar unvereinbar mit der Botschaft des Christentums war, hatte sie auch eine theologische Herkunft. In Deutschland hatte eine Generation von protestantischen Theologen eine Theologie des Schöpfungsglaubens aufgestellt, die das Volk als Gottes Schöpfung heiligte. Es waren keine unwichtigen Exzentriker oder Opportunisten, die dem zeitgenössischen politischen Trend folgten, sondern einige der geachtetsten christlichen Denker jener Zeit. Ihre Theologie enthielt eine Botschaft der Rassentrennung und -überlegenheit, die sich so auch bei zeitgenössischen amerikanischen und südafrikanischen Theologen bzw. Theologien findet, die ähnliche Theologien der Rasse entwickeln.68 Die Heiligsprechung der Rasse, die für Burleigh den Nationalsozialismus als politische Religion qualifiziert, war in diesen Zusammenhängen eine Angelegenheit religiöser Politik. Diese Motive wurden vom Leiter des Nazi-Parteigerichts und Schwiegervater von Martin Bormann, Walter Buch, fast wörtlich wiederholt. In einer Versammlung des Nationalsozialistischen Studentenbundes (NSDStB) verkündete er: »Das Leben ist Kampf. […] Die nationalsozialistische Weltanschauung steht uneingeschränkt für diese Wahrheit. Er ist die Grundlage aller ihrer Werke und Taten. […] Mit dieser Auffassung folgen wir dem Beispiel des Heiland. Wenn Punkt 24 unseres Programms sagt, die Partei steht für ein positives Christentum, ist das der Grundstein unseres Denkens. Sein Leben war Kampf für seinen Glauben, für den er in den Tod ging. Er forderte von jedermann eine Entscheidung zwischen ja und nein. […] Das ist das Notwendige: dass der Mensch die Kraft findet zwischen ja und nein zu entscheiden.«69

67 BArch, NS 12/638, 6.3.1931: Berlin. In seinem ursprünglichen Brief an Schemm deutete Wilhelm Fahrenhorst, Führer der Protestantischen Liga, an, dass er mit Göring über die Beziehung der NSDAP zum Protestantismus gesprochen hatte (BArch, NS 12/638, 20.12.1930: Berlin). 68 Zum Schöpfungsglauben und seinen theologischen Ursprüngen vgl. Robert Ericksen, Theologians under Hitler, New Haven 1985; Wolfgang Tilgner, Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube: Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes, Göttingen 1966; Daniel Borg, The Old-Prussian Church and the Weimar Republic: A Study in Political Adjustment, 1917–1927, Hannover 1984. Zu Rasse und Religion in Südafrika vgl. T. Dunbar Moodie, The Rise of Afrikanerdom: Power, Apartheid, and the Afrikaner Civil Religion, Berkeley 1975; Leonard Thompson, The Political Mythology of Apartheid, New Haven 1985. Zu den Vereinigten Staaten vgl. Michael Barkun, Religion and the Racist Right: The Origins of the Christian Identity Movement, Chapel Hill 1994. 69 Rede, »Geist und Kampf« (BArch, NS 26/1375, unpaginiert). Die Rede wurde zwischen 1930 und 1932 gehalten.

Nationalsozialismus, Christentum, Theorie der politischen Religion

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Diese starre Schwarz-Weiß-Sicht verdeutlicht den Dualismus der nationalsozialistischen Weltanschauung. Martin Luther hatte es Walter Buch besonders angetan: »Viele Menschen bringen ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass Hitler ­Ideen predigt, die sie selbst immer gehabt haben. […] Vom Mittelalter her sehen wir dasselbe Beispiel bei Martin Luther. Das, was Geist und Seele des deutschen Volkes zur damaligen Zeit bewegt hatte, fand Ausdruck in seiner Person, in seinen Worten und Taten.«70 Buch zitierte sogar im privaten Umfeld gern Luther. An einen Freund schrieb er 1929: »Luthers beredte Worte ›der Intellekt ist des Teufels Hure‹ bestätigen meinen Glauben, dass der menschliche Geist in seiner größten Stärke zu klein ist, um die Gesetze des Lebens zu ändern. Und das höchste Gesetz des Lebens ist Kampf […]. Nichts kommt vom ›Zwar-Aber‹.«71

Zusammenfassung Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« ist ein wichtiger Beitrag zur Bestimmung des Themas der nazistischen Ideologie. Durch seinen Katholizismus war das Buch jedoch auch die frühe Wiederholung einer Position, deren politische Hinterlassenschaft uns immer noch begleitet: das fälschliche Bestehen darauf, dass der Nationalsozialismus von der Wurzel seiner Ideologie und Inspiration her anti­ christlich sei. Die Totalitarismustheorie und die Theorie der politischen Religion mit ihrer Verschmelzung von Nationalsozialismus und Kommunismus dienen diesem Irrglauben. Kolnais im Kern falsche Annahme des »Paganismus« der nationalsozialistischen Bewegung wurde auch von so verschiedenen Intellektuellen wie Hannah Arendt und Roger Scruton vertreten, die versuchten, eine Art Anti­ nationalsozialismus zur überzeugenden Verteidigung des Westens zu etablieren. Das allerdings ging auf Kosten der historischen Erkenntnis, dass »der Westen« seit der Aufklärung im Krieg mit sich selbst war. In diesem Sinn führte der Nationalsozialismus keinen Krieg gegen den Westen schlechthin, sondern er verteidigte vielmehr einen bestimmten Westen gegen einen anderen konkurrierenden – die durch die Französische Revolution entfesselten Häresien. Kolnais Analysekategorien enthüllen eine tiefe Ambivalenz. Einerseits desavouierte er alles, was mit dem Angriff auf den Westen entfesselt wurde. Andererseits argumentierte er, dass die Samen dieses Angriffs tief in der westlichen Erde gepflanzt waren. Kolnais Bestehen darauf, die nationalsozialistische Ideologie ernst zu nehmen, war nützlich in einer Zeit, als der Nationalsozialismus als opportunistisch galt oder ihm Mangel an Überzeugung unterstellt wurde. Seine

70 Ebd. 71 BArch, NS 26/1375, 1.12.1929: Berlin (Hervorhebung im Original).

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Diagnose des Nationalsozialismus als heidnischer Aushöhlung des Christentums und dessen Ersetzung durch einen neuen Inhalt war jedoch falsch. Mit Blick auf das politisch-moralische Erfordernis seiner Zeit, so viele religiöse Europäer wie möglich gegen den Nationalsozialismus zu mobilisieren, missverstand er den Nationalsozialismus als eine Bewegung, die gegen das Christentum Krieg führte, während die Nationalsozialisten selbst ihre Bewegung als Verteidigung des Christentums gegen Freidenker, gegen den Atheismus in Deutschland, gegen gottlose Bolschewisten oder die Juden als Gottesmörder sahen. Meiner Meinung nach scheiterte Kolnai mit seinem Insistieren darauf, dass sich der Nationalsozialismus im Krieg gegen das Christentum befinde, den er entweder als bewussten Angriff des Heidentums von außen oder als mit Luther beginnende »graduelle Infizierung« von innen sah. Dass er seinen Vorstoß inmitten der Ereignisse und deshalb ohne objektive Distanz unternahm, ist ein wichtiger Einwand, der jedoch auf jene, die fast 80 Jahre später diese Argumente immer noch wiederholen, nicht zutrifft. Das Schädlichste an Kolnais Analyse ist ihr kultureller Ballast. In der Annahme, sich vom Makel des Nationalsozia­ lismus zu befreien, indem er sich dessen vermeintlicher Antithese zuwandte, entstand ein Freiraum für seinen eigenen Antisemitismus, Antikommunismus, Antiliberalismus und seine Homophobie.



Micha Brumlik  Aurel Kolnais Überlegungen zum Antisemitismus im zeitgenössischen Kontext

Vorbemerkung Als Weltanschauung reagiert der moderne Antisemitismus auf die krisenhafte Entwicklung der kapitalistischen Moderne: auf Industrialisierung, Modernisierung, auf den Verlust verbindlicher Weltbilder und die Versachlichung menschlicher Beziehungen. Ihm erscheinen die Juden in einer paranoid verschwörungstheoretischen Sicht der Dinge, wie sie etwa in den vom zaristischen Geheimdienst erstellten »Protokollen der Weisen von Zion«1 zum Ausdruck kommen, vor allem als geborene »Zersetzer«: der traditionalen Handwerks- und bäuerlichen Wirtschaft durch das Geld, von Religion und Sitte durch Wissenschaft und Aufklärung, des Staates durch Verrat und Illoyalität, gesellschaftlicher Autorität durch unbotmäßigen Journalismus sowie von Volk und Rasse durch Einbringen kranken Blutes. Dieser Rassendiskurs schloss sich im späten 19. Jahrhundert keineswegs nur in Deutschland zur Ideologie eines integralen Nationalismus zusammen.2 Gegen all diese zersetzenden Kräfte helfen – so Adolf Hitler in einem Brief an einen Bekannten im Jahre 1919 – weder Pogrome noch Wutausbrüche, sondern einzig ein »Antisemitismus der Vernunft«, der in der Entfernung des Juden bestehe.3 Indes: Nicht einmal in dieser Krisenzeit war eine rein rassistische, das heißt erbbiologische und sozialdarwinistische, Deutung des Judenhasses umstandslos akzeptiert. Mitte der 1920er-Jahre etwa publizierte der nationalistische Autor Ernst Jünger einen Artikel, in dem er gegen einen szientistischen Rassismus und für einen Irrationalismus des Blutes votierte: »Ein Blut ohne Schicksal

1 2 3

Vgl. Wolfgang Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, München 2007. Vgl. Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004. Vgl. Eberhard Jäckel/Axel Kuhn (Hg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 88.

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ist wie eine ungeladene Batterie, wie eine Magnetnadel ohne magnetischen Zug. Die Reinheit und Hochzucht des Blutes oder die Güte seiner Mischung ist ohne diese große Kraft bedeutungslos. Nur am Prüfstein des Schicksals beweist das Blut seinen Wert.«4 Man kann Jüngers Ausführungen als Polemik gegen das Rassenverständnis der NSDAP lesen, wenn er fortfährt: »Daher lehnen wir alle jene Bestrebungen ab, die die Begriffe Rasse und Blut verstandesmäßig zu stützen suchen. Den Wert des Blutes durch das Gehirn, durch Mittel der modernen Naturwissenschaften beweisen wollen, das heißt den Knecht für den Herrn zeugen zu lassen. Wir wollen nichts hören von chemischen Reaktionen, von Bluteinspritzungen, von Schädelformen und arischen Profilen. Das alles muss ausarten in Unfug und Haarspaltereien und öffnet dem Intellekt die Einfallspforten in das Reich der Werte, die er nur zerstören, aber niemals begreifen kann.«5

Die Diffusität des nationalsozialistischen Rassenbegriffs, der zwischen naturwissenschaftlichem Obskurantismus, angestrengt naturwissenschaftlicher Haltung und einer willkürlichen, geisteswissenschaftlichen Bestimmung von »Rasse« schwankte, erweist sich beispielhaft an den Debatten, die endlich zu den rassistischen »Nürnberger Gesetzen« führten. Bei der Vorbereitung dieser Gesetze konkurrierten zwei Schulen: die von Gregor Mendel belehrten Erbgenetiker, die die jüdischen bzw. nichtjüdischen Anteile einer Person nach mathematischen Verteilungsmodellen berechneten und so zu den mit unterschiedlichen Folgen belasteten Typen von Halb-, Viertel- und Achteljuden kamen, sowie die sogenannten Kontagionisten – der bekannteste unter ihnen war der thüringische Gauleiter Artur Dinter, den Hitler schließlich aus der Partei ausschloss –, die die Überzeugung vertraten, dass schon der einmalige Geschlechtsverkehr einer nichtjüdischen Frau mit einem jüdischen Mann dazu führte, dass dessen Erbgut in ihren Blutkreislauf Eingang findet mit der Konsequenz, dass auch dann, wenn eine arische Frau mit einem arischen Mann ein Kind zeugt, in dessen Blut jüdisches Erbgut zirkuliert. Artur Dinter hat diese Wahnvorstellung in seinem Roman »Die Sünde wider das Blut« entfaltet.6 Freilich orientieren sich beide Formen des rassistischen Judenhasses am naturwissenschaftlichen Modell, während andere bekannte Ideologen wie H. F. K. Günther in der positiven Bestimmung einer arische Rasse auch subjektive Willensanstrengungen im Sinne des Aufbaus einer Kultur gelten lassen wollte. Der von den Nationalsozialisten als Staatsideologie übernommene völkisch-rassisti-

4 5 6

Ernst Jünger, Politische Publizistik, 1919 bis 1933, Stuttgart 2001, S. 193. Ebd., S. 193 f. Vgl. Cornelia Essner, Die »Nürnberger Gesetze« oder die Verwaltung des Rassenwahns: 1933– 1945, München 2002; vgl. auch Alexandra Przyrembel, ›Rassenschande‹. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003.

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sche »Erlösungsantisemitismus«7 war bei alledem eine in sich inkonsistente und gerade daher zur Exekution von Ausschluss, Ausraubung, Stigmatisierung und schließlich massenhaftem Mord besonders angemessene Ideologie, weil er in seiner Unwissenschaftlichkeit und weltanschaulichen Unschärfe beliebige Willkürmaßnahmen rechtfertigen konnte. Nur eine solche Ideologie konnte das menschheitsgeschichtlich bisher einzigartige Staatsverbrechen der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden in den Jahren 1939 bis 1945 für wenige motivieren und bemänteln. Einige Wissenschaftler und Publizisten reagierten frühzeitig auf die Weltanschauung der Nationalsozialisten, einschließlich ihres Antisemitismus – unter ihnen der viel zu spät wiederentdeckte Aurel Kolnai.

Kolnais »The War against the West« Aurel Kolnais monumentales Werk »The War against the West« erschien im Jahr 1938 und ist nicht mehr und nicht weniger als eine umfassende, beinahe enzyklopädische Darstellung der nationalsozialistischen Weltanschauung in all ihren Schattierungen und Quellen dar – ein Werk, das auch noch heute seinesgleichen sucht. Der Versuch zu bestimmen, welche Rolle der nationalsozialistische, vor allem rassistische Judenhass, also der Antisemitismus, in dem Werk spielt, wirft freilich Schwierigkeiten eigener Art auf: Auf den ersten Blick jedenfalls – und es ist zu überprüfen, ob das auch systematisch gilt – scheint der Judenhass, den Kolnai als »Antijudaismus« zu bezeichnen vorzieht, eine eher periphere Rolle zu spielen: Neben einzelnen Erwähnungen in früheren Kapiteln behandelt er das Thema erst im achten Kapitel als letzten Unterpunkt des Kapitels »Nation und Rasse«. So bezieht sich Kolnai auf die Nietzsche8 und Goethe zugeschriebene Kritik an einer universalistischen Moral,9 verweist auf Hans Blühers Kritik am Judaismus ob dessen heterosexueller Prägung,10 referiert Ansichten der Deutschen Christen,11 berichtet von Alfred Rosenbergs Interpretation des Paulus als einer Art Vorgänger des Bolschewismus12 sowie der Überzeugungen des Grafen Reventlow, wonach es dem jüdischen Monotheismus an metaphysischer Tiefe ermangele.13    7    8    9 10 11 12 13

Vgl. Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München 2006. Vgl. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 266. Vgl. ebd., S. 214, 217. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 260 f. Vgl. ebd., S. 269. Vgl. ebd., S. 272.

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In diesem Zusammenhang geht Kolnai dann auch auf die neopagane Kritik am Christentum ein, eine Erörterung, bei der er sich selbst – als überzeugter Katholik – zum Verhältnis von Judentum und Christentum äußert. So schreibt er: »Es sind drei Aspekte seiner Struktur, an denen der Versuch, das Christentum zu heidnisieren, ansetzen kann. 1. Die christliche Religion führte zu einer Abkehr vom Judentum als einer religiös privilegierten nationalen Gemeinschaft hin zur Vorstellung einer weltweiten Menschheit der Nichtjuden. […] Wie wir die Dinge sehen, stellte die jüdische Gemeinschaft das merkwürdige, in sich selbst widersprüchliche Beispiel eines antitribalistischen Stamms dar, den unmenschlich kleinen Kern eines zukünftigen humanistischen Universalismus, während das Christentum die Menschheit als eine Einheit in der Liebe Gottes sieht, geleitet von seiner Gerechtigkeit und seiner Vernunft […]. Parallel zu Gottes geweihtem und moralischem Stamm, dem königlosen Volk unter dem Gesetz Gottes«, so Kolnais eigener Blick auf das Verhältnis von Juden- und Christentum, »führte das Christentum ebenso einen teilweise veränderten Moralkodex ein: weniger strikt und gesetzmäßig, nicht so eng und fordernd, mehr getragen vom Bewusstsein der Vielfältigkeit der Werte, abgelöst von den historischen und rituellen Traditionen lokaler Gemeinschaften, vor allem aber weniger leicht anwendbar auf korrekte Erfüllung und Überschreitung.«14

In weiteren Abschnitten erwähnt Kolnai die nationalsozialistische Verurteilung »jüdischen Kapitals«,15 er setzt sich intensiv mit dem »Credo der Rasse« auseinander, um schließlich überzeugend zu behaupten: »Kategorien wie arisch oder semitisch sind nicht rassisch im engeren Sinne des Begriffs, sondern beruhen auf einer Mischung aus linguistischen, historischen, rassischen, religiösen und politischen Daten und Korrelationen.«16 Eine Feststellung, vor deren Hintergrund er dann die Obsession der Rassisten mit dem jüdischen Streben nach rassischer Reinheit erwähnen kann.17 Diese peripheren Anmerkungen finden schließlich im Kapitel VIII, 8 »Die Bedeutung des Antijudaismus«18 ihre systematische Entfaltung. Dabei ist es Kolnai wichtig, von einer selbst gewählten universalistischen – in seinem Fall katholischen – Position aus den nationalsozialistischen Antisemitismus zu kritisieren: »Wenn ich auch selbst jüdischer Herkunft bin, so verweigere ich doch einer solchen Haltung jegliche Solidarität.«19 Damit meint Kolnai die Haltung jüdischer deutscher Patrioten, von denen er annimmt, dass sie ihrerseits – so es nicht gegen sie ginge – deutsche Nationalisten wären. Weiterhin bringt er – diese Sätze muten heute zunächst befremdlich an – Folgendes vor:

14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 279. Vgl. ebd., S. 387. Ebd., S. 470. Vgl. ebd., S. 482. Ebd., S. 518 f. Ebd., S. 521.

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»Andererseits dürfen wir nicht blind gegenüber dem symbolischen Wirbel sein, der um die Diskriminierung der Juden durch die Nazis gemacht wird. Auch hier kann mich meine jüdische Herkunft nicht davon abbringen, Zeugnis abzulegen gegen die besondere Barbarei der Nürnberger Gesetze sowie der Gedankenwelt, die ihnen zugrunde liegt. Diese Gedankenwelt liegt auf der allgemeinen Linie des Faschismus, verkörpert jedoch auch unbestreitbar Neues. … Der Nazismus hat eine neue und furchtbare Perspektive rassischer Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit und des Aberglaubens eröffnet, was ihn zu einem besonderen Faschismus macht. Entscheidend bleibt dennoch, dass etwas Derartiges nirgendwo anders als auf faschistischem Boden möglich gewesen wäre.«20

So schrieb es Kolnai hellsichtig 1936. Auch Polen führte 1937 antijüdische Gesetze ein, auch wenn diese weniger einschneidend waren. Es sei dahingestellt, ob das Regime der polnischen Obristen als »faschistisch« zu bezeichnen ist. In seinem Versuch, den nationalsozialistischen Judenhass zu analysieren, geht Kolnai auch auf Hitlers Annahmen über das Judentum ein und scheint ihm zuzubilligen, richtig auf »eine Besonderheit der jüdischen Existenz« hinzuweisen, nämlich: »Der nackte Egoismus der Einzelnen schließt ein jüdisches Staatsleben auf einem bestimmten Territorium aus. Sie haben keinen Sinn für Opfer und können sich daher nicht auf eine bestimmte Sphäre der Souveränität beschränken.«21 Schließlich begründet Kolnai, warum er es vorzieht, von »Antijudaismus« anstatt von »Antisemitismus« zu sprechen – hier übernimmt er die These eines heute vergessenen Autors, Anton Orels, eines Sozialisten, für den das, was man als »jüdische Natur« bezeichnen könnte, Produkt einer religiösen Überzeugung, nicht aber einer rassischen Prägung ist. Kolnais Überlegungen gipfeln in einer These: »Verfolgt werden nicht so sehr die Juden als vielmehr der jüdische Geist und nicht so sehr der jüdische Geist als der Geist. Sie haben dem Judaismus ernsthafte Verletzungen zugefügt, doch eben dadurch haben sie ihm Größe verliehen: Sie haben den Judaismus als Symbol der verfolgten Freiheit, Vernunft und Gerechtigkeit erst erschaffen.«22 Das heißt im Umkehrschluss nichts anderes, als dass der jüdische, in den Propheten wurzelnde Universalismus ein Produkt der Antisemiten ist. Hat Kolnai den Antisemitismus also richtig verstanden und auch analysiert, das heißt erklärt? Hat er ihm eine – mit Blick auf die Bewegung und den Staat des Nationalsozialismus – angemessene Bedeutung zugewiesen?

20 21 22

Ebd., S. 521. Ebd., S. 529. Ebd., S. 537.

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Dialektik der Aufklärung Fünf Jahre nach dem Erscheinen von Kolnais Buch, das sie, nach allem was wir wissen, nicht kannten, verfassten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an der pazifischen Küste der USA Aufzeichnungen, die sie 1947 in einem niederländischen Exilverlag unter dem Titel »Dialektik der Aufklärung« publizierten – Überlegungen, die einen zentralen Teil unter dem Titel »Elemente des Antisemitismus« enthalten. Dieser Philosophie einer ernüchterten Verzweiflung korrespondiert eine ebenso nüchterne Analyse der Lage der Juden nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland, die Horkheimer schon 1939, also ein Jahr nach dem Erscheinen von Kolnais Buch, unter dem Titel »Die Juden und Europa« in der von ihm herausgegebenen »Zeitschrift für Sozialforschung« publizierte. In dieser Schrift verweigert Horkheimer jede transhistorische Erklärung des Antisemitismus und will dieses Phänomen konsequent aus einer Analyse des Nationalsozialismus heraus analysieren. Von Marx’ Schrift zur Judenfrage inspiriert, sieht Horkheimer die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts mitsamt ihren demokratischen Errungenschaften vor allem als ideologische Bemäntelung der Entfaltung kapitalistischer Verkehrsformen. Juden werden hier wesentlich als »Zirkulationssagenten« im Rahmen eines noch liberalen Kapitalismus angesehen, die im Zuge eines monopolistisch planenden, totalitären Kapitalismus entmachtet worden seien. Daher gelten auch die ganze Empörung und das ganze Mitgefühl des Autors den armen, vertriebenen Juden, während sein Misstrauen gegen arrivierte Juden mindestens so groß ist wie gegen arrivierte »Arier«. In dieser Schrift, die noch von der Vorhaltung geprägt ist, dass, wer vom Kapitalismus nicht sprechen möge, vom Faschismus schweigen solle, geht er so weit, jene Juden, die an einer liberalen Gesellschaft naiv festhalten, gegen den Faschismus ins Unrecht zu setzen: »Sie weinen der Vergangenheit viele Tränen nach. Dass es ihnen im Liberalismus besser ging, verbürgt nicht seine Gerechtigkeit.«23 Es war schließlich die Zusammenarbeit mit Theodor W. Adorno an der »Dia­ lektik der Aufklärung«, die diese eher ökonomischen Versuche, den Antisemitismus zu erklären, beendete und Raum für eine anspruchsvollere, psychoanalytisch inspirierte Theorie von Mimesis und Projektion ablöste und dabei zugleich die Möglichkeit bot, unter Rückgriff auf Freuds Kritik am Christentum, dem jüdischen Bilderverbot neue Dignität abzugewinnen: »Die menschliche Selbst­ reflexion im Absoluten, die Vermenschlichung Gottes durch Christus ist das Proton Pseudos. Der Fortschritt über das Judentum ist mit der Behauptung er-

23

Max Horkheimer, Die Juden und Europa. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 8 (1939), S. 129.

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kauft, der Mensch Jesus sei Gott gewesen.«24 Adorno, Horkheimers Partner beim Abfassen der »Dialektik der Aufklärung«, hat sich auch später in seinem Werk verschiedentlich mehr oder minder systematisch zu Fragen des Antisemitismus geäußert. Dabei fällt auf, dass diese Frage in seinen Vorkriegsarbeiten eine geringe bis gar keine Rolle gespielt hat. Prägnanz und Bedeutung gewinnt das Thema frühestens Mitte der 1940er-Jahre – in jener Zeit, als Adorno gemeinsam mit Horkheimer in Los Angeles an der »Dialektik der Aufklärung« arbeitete. In diesem erstmals 1947 bei Querido in Amsterdam erschienenen Werk findet sich ein eigens dem Thema gewidmetes Kapitel, das den Titel »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung« trägt. Die 1944 verfasste Vorrede erklärt, dass es in diesem Abschnitt der »Dialektik der Aufklärung« um eine »philosophische Urgeschichte« des Antisemitismus gehe, der »aus dem Wesen der herrschenden Vernunft selber und der ihrem Bild entsprechenden Welt abgeleitet«25 wird. Zudem vermerkt die Vorrede, dass diese theoretischen Überlegungen in »unmittelbarem Zusammenhang« mit empirischen Forschungen des Instituts für Sozialforschung stehen. Endlich stellen die Autoren fest, dass die ersten drei Thesen der Elemente gemeinsam mit Leo Löwenthal verfasst wurden. Da bisher keine historisch-kritische Ausgabe der »Dialektik der Aufklärung« vorliegt und womöglich niemals vorliegen wird, ist es kaum möglich, aus diesem Textkonvolut mit Sicherheit herauszuarbeiten, welche Überlegungen im Einzelnen Adorno zuzuschreiben sind. Immerhin lässt sich vermuten, dass in den nur von Horkheimer und Adorno verfassten Thesen die spezifischen Überlegungen Adornos stärker zum Ausdruck kommen als in den ersten drei gemeinsam mit Leo Löwenthal verfassten Thesen. Bei alledem ist zu beachten, dass die »Elemente des Antisemitismus« eine Pionierarbeit darstellen. Zwar gab es bereits seit der Jahrhundertwende Stellungnahmen, ja Untersuchungen – meist historischer Art – zum Antisemitismus, jedoch keine dem heutigen Stand vergleichbare, sozialwissenschaftlich professionelle Antisemitismusforschung. Diese Antisemitismusforschung entwickelte sich, wenn auch aufgrund anderer Interessen und Auftraggeber, gleichzeitig mit den Elementen des Antisemitismus in den USA und interagierte auf vielfältige Weise mit deren theoretischen Überlegungen.26 Hinzu kommt, dass Adorno und Horkheimer weder Historiker noch Judaisten waren und sich auch nicht gründlich um entsprechende Literatur und Quellen gekümmert haben – sieht man einmal von Paul Massings erstmals

24 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1988, S. 177. 25 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940– 1950, Frankfurt a. M. 1987, S. 17. 26 Vgl. Eva-Maria Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie: die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, Frankfurt a. M. 2009, S. 95–134.

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1949 auf Englisch erschienener Studie zur Entstehung des modernen Antisemitismus ab, die den Autoren der »Dialektik der Aufklärung« bekannt war und die sie 1959 auf Deutsch herausgaben. Die Arbeiten von Hermann Bahr und Richard Coudenhove-Kalergi waren den Autoren entweder nicht bekannt oder politisch verdächtig. So erklärt sich, dass sich die Interessen Horkheimers und Adornos vor allem auf den modernen, den postemanzipatorischen Antisemitismus richteten bzw. auf die vor allem Freud entlehnten Annahmen zum christlichen Antijudaismus, während ihnen die vielfältigen Formen des Judenhasses in der Antike sowie in den ganz unterschiedlichen Epochen des Mittelalters ebenso fremd waren wie die Realgeschichte der Juden, die durch die monumentalen Arbeiten von Heinrich Graetz und Simon Dubnow im deutschen Sprachraum bereits vorlagen. In historischer Perspektive verbinden die Elemente unter weitgehender Ausklammerung von Mittelalter, Kirchengeschichte und früher Neuzeit eine spekulative Theorie des Christentums mit einer marxistisch und psychoanalytisch inspirierten Analyse des postemanzipatorischen Antisemitismus und untermauern diese Annahmen – Horkheimer und Adornos originäre Leistung – mit einer bis in die Tiefe der Entstehung der menschlichen Gattung zurückreichenden »philosophischen Urgeschichte«. Grob charakterisiert, analysiert die erste These Elemente des Antisemitismus im Rahmen der klassisch sozialpsychologischen Theorie des Sündenbocks, während die zweite These dem spezifischen Charakter antiliberaler Volks- und Massenbewegungen nachgeht. Die dritte These untersucht den Antisemitismus schließlich mit den Mitteln einer marxistischen Theorie der Zirkulationssphäre im Rahmen entfalteter kapitalistischer Gesellschaften, während die vierte These eine im engeren Sinn religionssoziologische Theorie des Christentums postuliert – eine Perspektive, die sich wesentlich auf das späte Werk vor allem Sigmund Freuds in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« bezieht. Erst die fünfte und sechste These präsentieren die spezifische und eigene Perspektive Horkheimers und Adornos, wobei anzunehmen ist, dass es doch vor allem Adornos theoretische Intuitionen waren, die diesen Abschnitt prägten. Die dort entfaltete, neukantianisch grundierte und psychoanalytisch radikalisierte Theorie projektiver Wahrnehmung im Rahmen einer naturalistisch verstandenen Geschichte der Gattung erfüllt präzise das, was die Vorrede als »philosophische Urgeschichte des Antisemitismus« verheißen hatte. Die siebte und letzte These nimmt endlich – paradox genug – das vermeintliche Ende des Antisemitismus in den Blick, mit dem Versuch des Nachweises freilich, dass sich seine ausschließlich destruktiven Gehalte nach der absehbaren, offiziellen Ächtung des völkischen Judenhasses in die Form aggressiven, antidemokratischen Konformismus verzogen hätten.

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»Der Krieg gegen den Westen« oder »Dialektik der Aufklärung«? Will man nun die Thesen und die Leistung Kolnais und der Frankfurter Schule miteinan­der vergleichen, ist zunächst zu fragen, ob die intensive Befassung mit Antisemi­tismus und Holocaust im Falle Adornos und Horkheimers erst Ausdruck der Erfahrung des in den frühen 1940er-Jahren sehr allmählich bekannt werdenden Massenmordes an den europäischen Juden war oder ob sie sich schon früher mit Rassismus und Antisemitismus befassten. Die Antwort fällt ernüchternd aus: Immerhin findet sich in Heft 2 der »Zeitschrift für Sozialforschung« aus dem Jahr 1933 ein etwa 17 eng bedruckte Seiten langer Aufsatz von Paul Ludwig Landsberg unter dem Titel »Rassenideologie und Rassenwissenschaft«. Landsberg, der 1943 in Frankreich von der Gestapo verhaftet wurde, starb 1944 an den Folgen der mörderischen Existenzbedingungen im KZ Sachsenhausen. Seine historisch und naturwissenschaftlich bestens ausgewiesene Studie spart allerdings den Antisemi­tismus völlig aus.27 Gemäß einer ersten Durchsicht erschien ein Beitrag zum Antisemitismus dann erst wieder im Jahrgang 8 der »Zeitschrift für Sozialforschung«, Max Horkheimers immer noch lesens- und diskussionswerter Aufsatz »Die Juden und Europa«, auf den sogleich noch ausführlicher einzugehen ist – und zwar deshalb, weil er Argumente enthält, die so geschrieben sind, als hätte Horkheimer Kolnais Buch zur Kenntnis genommen. In Heft 9, Jahrgang 1941, findet sich dann auf Seite 124 unter der Überschrift »Research Project on Antisemitism« ein 20 Seiten langer Bericht über das Forschungsprojekt des inzwischen in New York angesiedelten Instituts für Sozialforschung. Dort findet sich nicht nur ihre These, dass der nationalsozialistische Antisemitismus eine Begleiterscheinung des Übergangs vom liberalen Kapitalismus zum totalitären Kapitalismus sei,28 sondern auch die Annahme, dass der Antisemitismus den außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Interessen des NS Regimes diene: »As religion formerly won foreign soil for civilization and for home industry, today the missionaries of anti-Semitism conquer the world for barbarism and German exports.«29 In den einleitenden Bemerkungen zu dem abgedruckten Forschungsantrag weisen die Autoren sechs Arten von Theorien des Antisemitismus zurück:

27

Paul Ludwig Landsberg, Rassenideologie und Rassenwissenschaft. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 2 (1933), S. 388–406. 28 Vgl. Max Horkheimer/Theodor Adorno, Research Project on Antisemitism. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 9 (1941) 1, S. 124–143, hier 141. Tatsächlich ist die Rede vom »totalitarian system«. 29 Ebd., S. 142.

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1. Theo­rien, die bezweifeln, dass es dieses Phänomen in Wahrheit überhaupt gäbe, 2. apologetische Thesen, dass alle Einwände von Antisemiten gegen Juden lediglich Lügen oder Bemäntelungen seien, 3. Theorien, die unter Bezug etwa auf Georg Simmel den Antisemitismus vor allem als »Fremdenhass« verstehen, 4. Theorien, die als Anlass des Judenhasses eine tatsächliche höhere Intelligenz der Juden annehmen, 5. Theorien, die den Antisemitismus als Ausdruck eines »Sozialismus der Narren« ansehen, also als eine Form des verqueren Antikapitalismus, sowie 6. Theorien, die den Antisemitismus als eine Form der Abwehr revolutionärer Theorie und Praxis ansehen.30 Unter diese Systematik würden sich Überlegungen wie die von Kolnai nicht einordnen lassen. Wohl aber fänden sie Platz in einer Polemik, die Max Horkheimer in seinem Aufsatz »Die Juden und Europa« gleich zu Anfang entfaltet. Dort heißt es: »Der neue Antisemitismus ist der Sendbote der totalitären Ordnung, zu der die liberalistische sich entwickelt hat. Es bedarf des Rückgangs auf die Tendenzen des Kapitals. Aber es ist«, schreibt Horkheimer, als habe er Kolnais Buch gekannt, »als seien die vertriebenen Intellektuellen nicht bloß des Bürgerrechts, sondern auch des Verstandes beraubt worden. […] Der jüdisch-hegelianische Jargon, der einst aus London bis zur deutschen Linken drang und schon damals in den Brustton von Gewerkschaftsfunktionären übertragen werden musste, gilt jetzt als völlig überspannt. Aufatmend werfen sie die unbequeme Waffe weg und kehren zum Neuhumanismus, zu Goethes Persönlichkeit, zum wahren Deutschland und anderem Kulturgut zurück.«31

Tatsächlich: In seiner Jugend gehörte Kolnai in Wien linksintellektuellen Zirkeln an, wenngleich er aus Gründen, die hier nicht zu erörtern oder gar zu bewerten sind, vergleichsweise früh zum Katholizismus übertrat. Und: Auf den letzten Seiten seines Buches schreibt Kolnai tatsächlich von der »Seele des Westens«, die alles sei und die er – als habe Horkheimer ihn doch gelesen – unter anderem mit den »großen geistigen Werten eines christlichen, humanistischen und fortschrittlichen Deutschtums« in Verbindung bringt. Im Weiteren sieht er – als später Gegner des Habsburger Reiches, anders etwa als Joseph Roth – in antiimperialen, westlichen Nationalstaaten die künftige Aufgabe: »Wir müssen unser eigenes Leben der neuen Erfahrung, Wiederherstellung und Erneuerung der westlichen Demokratie widmen.«32 Tatsächlich aber war Kolnai – anders etwa als Hannah Arendt und die New Yorker Intellektuellen des Kalten Krieges – in seinen späteren Jahren ein Anhänger des politischen Katholizismus, wobei er so weit ging,

30 31 32

Vgl. ebd., S. 125 f. Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 115. Kolnai, Krieg, S. 700.

Überlegungen zum Antisemitismus

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Francos Spanien mehrere durchaus wohlwollende Reisen abzustatten. In Kanada, so lesen wir bei Ingrid Vendrell Ferran »freundete sich Kolnai in den 1950er-Jahren mit dem spanischen Philosophen Leopoldo Palacios an, der es ermöglichte, dass 1952 zwei Bücher von Kolnai in Spanien erscheinen: ›Errores del Anticomunismo‹ und ›La Divinización y la suma Esclavitud del Hombre‹. Beide Werke werden begeistert aufgenommen und Kolnai wird noch im selben Jahr von mehreren spanischen Institutionen nach Madrid, Burgos, Barcelona und Valladolid zu Vorträgen eingeladen.«33 Damit wird klar, dass Kolnai stets im Rahmen des politischen Katholizismus dachte und sich in dessen Denkraum von links nach rechts bewegte. Mit dieser Haltung war er als antikommunistischer Intellektueller in den 1950er-Jahren keineswegs allein – Horkheimer, Adorno und Marcuse etwa standen bei aller Kritik an dem jetzt als »Verwaltete Welt« bezeichneten Kapitalismus in der politischen Sache während des Kalten Krieges bis hin zum Vietnamkrieg auf der Seite des Westens – bei aller Schärfe der Kritik an einer kapitalistischen Form der Vergesellschaftung. Gleichwohl fragt sich, ganz unabhängig von politischen Stellungnahmen, ob Kolnais Wahrnehmung und Analyse des nationalsozialistischen Antisemitismus in der Sache überzeugt. Das wiederum scheint jedenfalls meiner Überzeugung nach nicht der Fall zu sein. Kolnai Hauptaussage unterstellt, dass es dem Antisemitismus in erster Linie gar nicht um die Juden, sondern um den »Geist« ginge und tatsächlich: Die natio­ nalsozialistischen Ideologen folgten etwa Ludwig Klages in der Annahme, dass der Geist ein Widersacher der Seele sei und dass sowohl der jüdische Glaube als auch die jüdische Lebensweise von einem destruktiven Intellektualismus geprägt sei, der seine Wurzeln im alttestamentlichen, in der Wüste geborenen Eingottglauben habe. Mit seiner Hochschätzung des Geistes nun, die bei Kolnai in einen überzeugten rationalistischen Thomismus mündet, scheint hier eine enge Wahlverwandtschaft zu einem so gekennzeichneten Judentum zu bestehen. Indes: Es fällt auf, dass Kolnai etwa mit der Freud’schen Kritik am Christentum nichts anfangen kann, ja, dass er sogar zu einem so krassen Fehlurteil kommt wie jenem, dass Klages Freud nicht fernstehe.34 Mindestens an dieser Behauptung wird aber deutlich, dass Kolnais Rationalismus nicht nur in mancher Hinsicht unbelehrt, sondern selbst mit einem blinden Fleck geschlagen war: Einer sozialwissenschaftlichen

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Ingrid Vendrell Ferran, Zwischen Phänomenologie und analytischer Philosophie: Aurel Kolnai. In: Bruno Accarino/Matthias Schloßberger (Hg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Band 1, Berlin 2008, S. 285–296, hier 291. Auch abrufbar unter: https://www.uni-marburg.de/fb03/philosophie/institut/mitarbeiter/vendrell/vendrell-kolnai. pdf; 4.5.2017. Vgl. Kolnai, Krieg, S. 43.

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Micha Brumlik

Analyse setzte er einen reinen Normativismus entgegen, der letzten Endes in der Zeit des Zweiten Weltkrieges wie auch im anschließenden Kalten Krieg die westliche Lebensweise von jeder Kritik ausnahm und sogar soweit ging – Kolnais Vorliebe für Francos Spanien – auch eher undemokratische Regimes nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar zu unterstützen.

Kolnai im Vergleich mit zeitgenössischen Analysen des Nationalsozialismus



Dan Stone Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« und der britische ­Versuch, den Nazismus vor dem Krieg zu verstehen1

»Der Krieg gegen den Westen« in Großbritannien Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« ist eine der besten Analysen des nationalsozialistischen Denkens, die jemals geschrieben wurde. 1938 war das Buch eine Offenbarung. Es unterschied sich im Ton und im Herangehen wesentlich von den meisten anderen Analysen des Nazismus, die es in englischer Sprache gab. Es war bemerkenswert im Hinblick auf die Gründlichkeit und Ernsthaftigkeit, mit der die Schriften der nationalsozialistischen Denker analysiert wurden. Nur wenige andere britische Gelehrte, darunter R. G. Collingwood und E. O. Lorimer sowie emigrierte Autoren wie Franz Borkenau und Sebastian Haffner, nahmen die Natio­ nalsozialisten beim Wort, aber keiner von ihnen lieferte eine so tiefgehende Analyse der nazistischen Schriften. Im Folgenden werde ich auf die Einzigartigkeit von Kolnais Leistung mit dem Buch »Der Krieg gegen den Westen« eingehen und sein Herangehen vergleichen mit sowohl populären als auch wissenschaftlichen Analysen des Nazismus, die in Großbritannien vor dem Krieg veröffentlicht wurden. Im Allgemeinen waren emigrierte Autoren besser als englische dazu in der Lage, den Nazismus zu verstehen, aber »Der Krieg gegen den Westen«, insbesondere seine Analyse des Rassendenkens, war einzigartig. Kolnai war nicht in Großbritannien, als er das Buch schrieb und war auch noch nie dort gewesen. Aber seine Fähigkeit, die Denkart der Nazis zu durchdringen und in englischer Sprache darzulegen, war unübertroffen. Das fand Anerkennung in der Rezep­tion des Buches. Angesichts der Tatsache, dass »Der Krieg gegen den Westen« in englischer Sprache geschrieben und in London veröffentlicht worden war, wäre es naheliegend anzunehmen, dass der britische Kontext zeitgenössischer Analysen und des zeitgenössischen Verständnisses des Nationalsozialismus wesentlich für den ­Erfolg des Buches waren. »Der Krieg gegen den Westen« unterschied sich jedoch 1

Für diesen Text wurde Material aus dem 1. Kapitel von Dan Stone, Responses to Nazism in Britain 1933–1939: Before War and Holocaust, Basingstoke 2012, verwendet.

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stark von den meisten britischen Publikationen über das Dritte Reich. Die Beurteilung des Buches sollte auch weder von Kolnais späterer Rolle als kaltem Krieger beeinflusst sein noch durch den Fakt, dass das Buch von Victor Gollancz’ Linkem Buchclub (Left Book Club, LBC) veröffentlicht wurde. Es befasste sich weder mit dem Kommunismus (bzw. dem Totalitarismus), noch war es eines der üblichen orthodoxen sozialdemokratischen (Labour-)Werke des Buchclubs. Victor Gollancz, der Verleger, bezeichnete den Band als das »sicher wichtigste Buch, das der Club bis dahin veröffentlicht hatte« und als »die Bibel des Antifaschismus«,2 ein bemerkenswertes Lob, wenn man bedenkt, wie weit es entfernt war von den üblichen britischen Analysen des Faschismus als »Krisenkapitalismus mit Totschläger« – von Orwell die »Strachey-Blimp-These« genannt, der zufolge »Hitler eine Marionette mit Thyssen als Strippenzieher«3 war. Während Kolnai und Gollancz einige Positionen des christlichen Sozialismus teilten, ging Kolnais Verständnis des Nazismus weit über jenes des LBC hinaus. Ebenso stellte sein personalistischer christlicher Konservatismus eine Gegenposition zu der von Labour-Intellektuellen wie John Strachey4 und Harold Laski5 dar, die beide eng mit dem Club verbunden waren.6 So sympathisierte er zum Beispiel mit Hilaire Bellocs Beschreibung des »servilen Staates« und dem Argument der Distributisten, wonach Freiheit auf der breitest möglichen Verteilung von Privateigentum beruhe. Er sah es als seine Aufgabe an, die britischen Leser über die wahre Bedeutung des Nazismus aufzuklären: »Die englische öffentliche Meinung wird noch lernen müssen, dass die simple Bereinigung von Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen den Kern des deutschen Problems nicht berührt und sicher nicht dazu führen wird, den Nationalsozialismus zu stürzen.«7 Es überrascht daher nicht, dass, während der »Manchester Guardian« das Buch lobte, andere Rezensenten von dem ungewöhnlich scharfen Ton weniger angetan waren. »The Sunday Times« schrieb, dass das Buch wie Churchill klinge, seine Ausdrucksweise jedoch unenglisch sei, die »TLS« lobte lediglich Kolnais Grammatik. Viele Rezensenten schienen Hermann Rauschnings »Revolution des Nihilismus« zu bevorzu2 3

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Victor Gollancz, The Most Important Book the Club Has Issued. In: Left News vom 25.5.1938, S. 790 f. George Orwell, Rezension zu The Totalitarian Enemy by F. Borkenau. In: Time and Tide vom 4.5.1940. Wiederveröffentlicht in: Sonia Orwell/Ian Angus (Hg.), The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell. Vol. 2: My Country Right or Left 1940–1943, Harmondsworth 1970, S. 40. Vgl. John Strachey, The Menace of Fascism, London 1934. Vgl. Harold Laski, Democracy in Crisis, Chapell Hill 1935. Zum Personalismus vgl. John Hellman, From the Söhlbergkreis to Vichy’s Elite Schools: The Rise of the Personalists’ in The Intellectual Revolt Against Liberal Democracy 1870–1945. In: Zeev Sternhell (Hg.), The Intellectual Revolt Against Liberal Democracy 1870–1945, Jerusalem 1996, S. 252–265. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 542.

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gen (ebenso 1938 bzw. im Juni 1939 in Englisch veröffentlicht), ein Buch, das mehr die Selbstzerstörung des Dritten Reiches von innen behandelte als die Notwendigkeit, es von außen zu zerstören.8 Als »Der Krieg gegen den Westen« erschien, hatte sich Kolnai bereits zehn Jahre mit dem Thema beschäftigt. Er hatte das Buch seit mindestens 1933 geplant. Vielleicht machte Gollancz’ eigener christlicher Sozialismus die Überwindung der Gegensätze zwischen Kolnai und dem LBC möglich.9 Gollancz versprach sich offenbar viel von Kolnais Buch, denn er versprach eine Veröffentlichung, lange bevor Kolnai es zum Ende bringen konnte: »Gollancz scheint ein Fels zu sein, er schreibt sogar: Mein Instinkt sagt mir, dass dies ein sehr wichtiges Buch werden wird. Was für ein anständiges Englisch. Stellen Sie sich einen deutschen Verleger vor, der solches schriebe.«10 Glücklicherweise war Gollancz bereit zu warten. Abgesehen von der enormen Menge an Schriftgut, das Kolnai untersuchen wollte, war dessen Inhalt nicht gerade erbaulich: »Es ist mir klar, dass mein Buch so bald wie möglich erscheinen sollte«, schrieb er 1936 an seine künftige Frau, »es macht mich aber krank, daran zu arbeiten.«11 Die Tatsache, dass er große Teile des Buches in Englisch schrieb, während er in einem Nazicafé in Wien saß, machte es wahrscheinlich nicht besser, obwohl es ihm doch auch diebische Freude bereitete. Das Buch wurde schließlich im Juli 1938 als zusätzlicher Band für Abonnenten des Linken Buchclubs veröffentlicht und bleibt eine der besten Studien der nationalsozialistischen Philosophie und vieler ihrer Denker. In einem Brief von 1934 schrieb Kolnai, dass er versuche herauszufinden, ob der Nazismus »für den Kampf reorganisierter Kapitalismus« oder »mystischer Rückfall in Stammes-Barbarei« oder ob nicht das eine die bloße Maske für das andere sei.12 Zu der Zeit, als das Buch veröffentlicht wurde, war für Kolnai klar, dass Letzteres der Fall war, nur dass diese Art der Barbarei in moderner Gestalt auftrat. Kein noch so umfangreiches Zitieren kann Kolnais grimmiger Ironie, seiner scharfsinnigen Analyse und seinem kaum verhehlten Abscheu gerecht werden.13

    8 Rezensionen zitiert von Kolnai in: Twentieth-Century Memoirs (1952–55) VII, S. 84 (Kings College Archiv London, MV29/8).     9 Kolnais Freundin und Korrespondentin Irene Grant, die er in Wien kennengelernt hatte, war in die Wiederbelebung des englischen Christlichen Sozialismus involviert. Vgl. Francis Dunlop, The Life and Thought of Aurel Kolnai, Aldershot 2002, S. 131. 10 Kolnai an Irene Grant vom 11.12.1934. Vgl. auch Kolnais Brief vom 16.1.1935, in dem er sich darüber amüsiert, britischer Steuerzahler geworden zu sein, nachdem er von Gollancz einen Vorschuss bekommen hatte. Die veröffentlichten Briefe Kolnais wurden vom Autor eingesehen, als sie im Besitz von Francis Dunlop waren. Sie befinden sich nun im Archiv der Universität von St Andrews und werden nachfolgend als Kolnai Papers, University of St Andrews angegeben. 11 Kolnai an Elizabeth Gémes vom 20.3.1936 (Kolnai Papers, University of St Andrews). 12 Kolnai an Irene Grant vom 30.11.1934. Zit. in: Dunlop, Life, S. 145. 13 Ich benutze diesen Begriff absichtlich. In seinem faszinierenden Artikel über den Abscheu (1929) argumentiert Kolnai, dass Abscheu durch die Nähe eines Objekts hervorgerufen wird,

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Ein Großteil des circa 700 Seiten starken Buches diente dazu, die Nationalsozialisten und jene, die Kolnai als ihre Wegbereiter ansah (Nietzsche, George, Sprenger, Klages), für sich selbst sprechen zu lassen. Besonders interessant sind jedoch die Passagen mit Kolnais Interpretationen. Obwohl diese keine authentisch »konservative« Kritik des Nazismus darstellen, sondern Kolnais liberal-demokratischen Tendenzen entspringen, ist das Buch eines der wenigen, die darauf bestehen, das Phänomen ernst zu nehmen, unabhängig davon, wie absonderlich einige der Behauptungen für britische Ohren klingen mögen. Während Kolnai einräumte, dass einige der von den Nazi-Denkern vorgebrachten Argumente beeindruckend aufgebaut waren – »Es stellt keinen unmittelbaren Widerspruch dar, den Intellekt mit den Mitteln des Intellekts zu bekämpfen […]«14 –, kritisierte er unerbittlich ihre Lehren und Glaubenssätze. Diese Kritik hielt Kolnai nicht davon ab zu tun, was die meisten anderen Kommentatoren ablehnten: die Anziehungskraft des Faschismus anzuerkennen. »Die nationalsozialistischen Lehren«, so schrieb er, »wenn sie auch letztendlich falsch und unmoralisch sind und wahrscheinlich zu einer schon komischen Vulgarität degenerieren werden, sind dennoch in ihren höchsten Ergebnissen von geistiger Größe und Relevanz.«15 Eine solche Aussage ist sogar heute noch schockierend; man ist geneigt, sie instinktiv zurückzuweisen. Kolnai brachte damit jedoch keine persönliche Vorliebe für den Nazismus zum Ausdruck, sondern versuchte, die Ursachen seiner Anziehungskraft zu verstehen. Zu diesem Zweck teilte er seine Studie thematisch auf. Er zeigte, welche Rolle Konzepte wie Gemeinschaft, Staat, Glaube, Moral, Recht, Gesellschaft, Rasse, Nation und Reich im Denken der Nazis spielten und wie das Ganze durch bestimmte Schlüsselkonzepte zusammengehalten wurde. Kolnais fundamentale Kritik am Nazismus warf diesem vor, dass er objektive Standards und rationales Denken durch »den geheimnisvollen und nicht ausdrückbaren ›Adel‹ einer bestimmten Menschenrasse«16 ersetzte. Der »entscheidende Punkt der nazistischen Geisteshaltung« war nicht die Rassentheorie als solche, sondern »die subjektivistische Konzeption einer bestimmten Züchtung des Menschen, die aus der Tugend ihrer eigenen Besonderheit den Anspruch ableitet, ihr eigenes Gesetz und schließlich das Gesetz der ganzen Welt zu sein«.17 Mit diesem Ansatz analysierte Kolnai, wie die wichtigsten Konzepte der westlichen Philosophie häufig bemerkenswert artikuliert und suggestiv verzerrt wurden.

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welches uns zugleich ängstigt und anzieht, und daher verstört. Zu den Symptomen »ethischen Abscheus« zählt Kolnai überschüssige Vitalität (»extra-vitality«), die, wie er sagt, oft mit einem »Verfall moralischer Substanz« einhergeht. Vgl. Kolnai, Der Ekel. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 10 (1929), S. 515–568; Dunlop, Life, S. 123–125. Kolnai, Krieg, S. 84. Ebd., S. 46. Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 61.

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Kolnai verstand den Nazismus ebenso wie später den Kommunismus als einen »Abfall vom Christentum«18 und bekämpfte ihn wegen seines Atheismus und seiner Ablehnung der Vernunft. Der Nazismus, so argumentierte er, repräsentierte, noch bevor er in Deutschland an die Macht gelangte, nicht die bloße Konterrevolution, sondern einen Umsturz der Werte.19 Daher war er wie Franz Borkenau der Meinung, dass es keinen Sinn hätte zu versuchen, mit den Nazis Kompromisse zu schließen. Man müsse den Nazismus jedoch verstehen, um ihn zu bekämpfen. Wenngleich das die unschöne Aufgabe bedeutete, sich in das Denken der Nazis hineinzubegeben, beharrte er darauf, dass dies der einzige Weg sei, dem Phänomen des Nationalsozialismus beizukommen. Diese Methodologie implizierte einige potenziell gefährliche Annäherungen. Kolnai wollte die Anziehungskraft des Faschismus für seine Anhänger aufzeigen. Er tat dies in einer Weise, die für britische Leser, für die er ja schrieb, ziemlich schockierend gewesen sein muss. Englische Autoren wie R. G. Collingwood, die einen solchen Ansatz vorher versucht hatten, wurden intellektuell isoliert. Kolnai aber hatte es nicht mit hochnäsigen Oxford-Kollegen zu tun und setzte da an, wo Collingwood aufgehört hatte. Außerhalb der von Anhängern des Faschismus verfassten Berichte von Nürnberger Reichsparteitagen hörte man Äußerungen, wie die von Kolnai über »spirituelle Größe und Relevanz« der Lehren der Nazis, selten, am wenigsten in den Publikationen des LBC. Sie zeugen von Kolnais intellektuellem Mut und von seinem Versuch, den Antifaschismus mit der gleichen Energie auszustatten, die die Faschisten antrieb.20 In einem Artikel von 1939 schrieb Kolnai: »Wir […] hängen dem selbstgerechten Glauben an, dass das Wesen der Demokratie der Kompromiss sei; daher verbuchen wir ›Kompromiss‹ mit den Faschisten, zum Beispiel den Münchener Typ, als Triumph nicht nur des Friedens, sondern auch der Demokratie. Wir vergessen dabei, dass es einen bedeutenden Unterschied gibt zwischen ­Kompromissen innerhalb der Demokratie, die eine von den verschiedenen konkurrierenden Gruppen und dem Volk akzeptierte gemeinsame Grundlage voraussetzen, und Kompromissen mit überzeugten und kompromisslosen Todfeinden der Demokratie. Wir haben extreme Angst davor, die Reinheit der Demokratie zu trüben durch jede Anwendung von Gewalt oder Intoleranz; nicht aber davor, die Demokratie selbst in ihrer Integrität zu kompromittieren.«21

18 Dunlop, Life, S. 137. 19 Vgl. Kolnai, Die Credo der neuen Barbaren. In: Der österreichische Volkswirt vom 3.9.1932, S. 1174. 20 Zu jüngeren Neubewertungen des Antifaschismus vgl. Kasper Braskén, The International Workers’ Relief, Communism, and Transnational Solidarity: Willi Münzenberg in Weimar G ­ ermany, Basingstoke 2015; sowie Hugo García/Mercedes Yusta/Xavier Tabet/Cristina Clímaco (Hg.), Rethinking Antifascism: History, Memory and Politics 1922 to the Present, New York 2016. 21 Aurel Kolnai, Must Democracy Use Force? I: Pacifism Means Suicide. In: The Nation, 148 (21.1.1939) 4, S. 86–88, hier 88.

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Oder, wie er es während des Sommercamps des Linken Buchclubs 1939 ausdrückte: »Den naiven Leuten, die den Deutschen im März 1939 einen Vertrauensbruch vorwarfen, weil sie Mr. Chamberlain in München betrogen hätten, wäre ihre Überraschung erspart geblieben, wenn sie sich nicht so dogmatisch geweigert hätten, der Nazi-Ideologie Bedeutung beizumessen.«22 Kolnais und Borkenaus Botschaft stimmten darin überein, dass es sinnlos war, den Nazismus mit den Mitteln der Diplomatie, der Analyse von Reden der Naziführer oder der Nazigesetzgebung zu verstehen. Stattdessen, so argumentierte er, müsse man die Dynamik des Nationalsozialismus verstehen, der ihn in Richtung Krieg und Katastrophe trieb: Faschisten würde Krieg führen, nicht um ihre Unterstützer zu befriedigen oder allgemeiner Unzufriedenheit zu begegnen, sondern um die Seele des Faschismus zu retten: um die Aufdeckung seiner im Kern inneren Dürftigkeit und Leere der Verzweiflung abzuwehren. Diese Analyse führte Kolnai und seine Leser notwendigerweise unangenehm nah an den Kern des Nazismus. Darum ging es jedoch gerade, denn den Nazismus als eine schwierige, aber ansonsten gewöhnliche, politische Bewegung zu behandeln, war für Kolnai zum Scheitern verurteilt. Auch die bloße Verurteilung des Faschismus trüge wenig dazu bei, seine Anziehungskraft zu verstehen. Jeder vernünftige Mensch würde ihn verurteilen, das genüge aber nicht, um ihn zu bekämpfen. Daher hatte Orwell sicher Kolnais Argument im Sinn, als er im Mai 1940 seine Besprechung von Borkenaus Buch »Der totalitäre Feind« begann: »Wir können den Faschismus nur bekämpfen, wenn wir willens sind, ihn zu verstehen, was sowohl Linke als auch Rechte in auffälliger Weise versäumt haben – vor allem natürlich, weil sie es nicht wagten.«23 Kolnais Schriften zeigen, dass sich die Einsicht in die Notwendigkeit, den Faschismus zu zerschlagen und keine Kompromisse mit ihm einzugehen, zum Beginn des Krieges über die radikale Linke hinaus erweitert hatte und dazu beitrug, jene Entschlossenheit zu festigen, derer es bedurfte, um die Appeasement-Politik der politischen Rechten, den Pazifismus und den Schreibtisch-Antifaschismus der politischen Linken zu beenden und dem Dritten Reich in der einzig möglichen Weise zu begegnen. In seinen Memoiren schrieb Kolnai: »Mit der Geburt des Dritten Reiches hatte der Zweite Weltkrieg im Prinzip begonnen und gegen die Nazis gerichtetes Handeln war daher ab sofort nicht mehr Innenpolitik, sondern Kriegs-Operation.«24 22 Kolnai, Die grundlegenden Prinzipien der NS-Ideologie. In: Totalitarismus und Demokratie. Zeitschrift für Internationale Diktatur- und Freiheitsforschung, 7 (2010) 2, S. 287–301, hier 290. 23 Orwell, Rezension, S. 40. 24 Kolnai, Twentieth-Century Memoirs, VII, S. 10 (Kings College Archiv London, MV29/8). Vgl. Analysen der verschiedenen Arten von Antifaschismus in Großbritannien von Nigel Copsey/ Andrzej Olechnowicz (Hg.), Varieties of Anti-Fascism: Britain in the Inter-War Period, Basing­ stoke 2010; sowie Daniel Tilles, British Fascist Antisemitism and Jewish Responses, 1932–40, London 2015.

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Es war dieser Ansatz, der Kolnai vom Mainstream britischer Analysen des Nazismus unterschied, die nicht verstanden, dass die Nazis wirklich meinten, was sie sagten. Das zeigte sich nirgendwo so deutlich wie in der Frage des nazistischen Rassendenkens und ihres Antisemitismus. Bezüglich der Frage der Gemeinschaft war Kolnai subtil in der Analyse und entschieden in der Verurteilung. Kolnai erkannte, dass eine der Stärken des Natio­nalsozialismus in der Beschwörung der rassischen Volksgemeinschaft bestand. Er wollte deshalb zeigen, dass die Nationalsozialisten eigentlich nicht verstanden, was dieser Begriff wirklich bedeutete: »Ich behaupte nicht nur, dass unsere Widersacher die Bedeutung der Gemeinschaft überbetonen, sondern bestreite, dass sie überhaupt eine Vorstellung davon haben, was Gemeinschaft tatsächlich ausmacht. Ich bin davon überzeugt, dass wahre Gemeinschaft nur auf der Persönlichkeit beruhen kann, welche mit ihrer Empfänglichkeit für moralische Erhöhung den unverzichtbaren Kern menschlicher Existenz darstellt.«25

Daher ist die »Übermenschen-Gemeinschaft der Tribalisten, wie machtvoll sie auch sein mag, nichts als ein gottloser Geist, ein Ungeheuer, das die Hingabe der Menschen missbraucht […]«.26 Besonders hellsichtig war Kolnai in Bezug auf die Bedeutung des Krieges bei den Nationalsozialisten, denn er sah, wie auch Borkenau, dass das drängendste Problem nicht darin bestand, wie die internationale Diplomatie zu führen, sondern wie der Expansion und Aggression zu begegnen sei, die dem nazistischen System inhärent war: »Die faschistische Diktatur ist gezwungen, früher oder später den Versuch spektakulärer Expansion zu wagen, die zu ihrem Wesen und dem ungeschriebenen Gesetz ihrer Verfassung gehört. Sie braucht imperialistische Unternehmungen, nicht um Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu ­beschwichtigen, sondern um ihre eigenen Anhänger zu befriedigen und ihnen den versprochenen Sinn des Lebens zu geben. […]. Der Faschismus muss Krieg führen, um seine Seele zu retten und die Aufdeckung seiner inneren Leere, des Vakuums der Verzweiflung, das seinen Kern ausmacht, zu verhindern.«27

Diese nihilistische Energie war furchterregender als alle Drohungen und Versprechen Hitlers, denen westliche Politiker, Journalisten und Intellektuelle, die gewöhnt waren, an eine gewisse Realitätsnähe solcher Äußerungen zu glauben, so viel Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Kolnai zeigte, dass die wahre Bedrohung viel tiefer ging und viel schwerer zu beseitigen war.

25 Kolnai, Krieg, S. 93. Hier bezieht sich Kolnai auf John Dewey, der argumentierte, dass Demokratie die Persönlichkeit als erste und letzte Realität sieht. Vgl. John Dewey, The Ethics of Democracy (1888). In: Louis Menand (Hg.), Pragmatism: A Reader, New York 1997, S. 182–204, hier 199. 26 Kolnai, Krieg, S. 93. 27 Ebd., S. 655 f.

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Ähnliches gilt in Bezug auf die Eugenik. Kolnai stellte nicht die Möglichkeit einer humanistischen und rationalen Bedeutung der Wissenschaft in Abrede, schränkte jedoch ein, dass eine solche Möglichkeit im Dritten Reich durch »abergläubischen ›germanischen‹ Tribalismus und der faschistischen Willkür in ihrer nationalsozialistischen Form«28 unterdrückt war. Er nahm die heutige ­Diskussion über die Verbindung moderner Technologie und Rationalität mit phobischen Fantasien und dem Wunsch nach erlösender Gewalt vorweg, wenn er darauf verwies, dass die Hyperrationalität hinter der Eugenik auch in sozialem Wahnsinn enden könne: »Selbstverständlich geraten die unschönen Implikationen einer fehlgeleiteten sozialen Rationalisierung und Planung dann in den Blickpunkt des Interesses, wenn sie als Bestandteil eines Systems staatlicher Macht, das auf einem irrationalen Bekenntnis zu politischer Herrschaft und rassischer Diskriminierung aufgebaut ist, mehr sind als nur abstrakte Ideen und Pläne. Arroganter Wahnsinn wird dann zu einer Gefahr, wenn der Drang nach rationaler Kontrolle unter Ausschluss des Common Sense und einer gesunden Skepsis übermächtig wird. Dann können Wahnsinnige, die die Maschinerie technischer Rationalität bedienen, tatsächlich gewaltigen Schaden anrichten.«29

Kolnais Methode bestand durchgängig darin, die potenzielle Gültigkeit der ­Ideen, auf denen der Nazismus basierte, zu akzeptieren und dann zu zeigen, dass die Nazis selbst das Wesen des von ihnen Bewunderten weder verstanden noch in der Lage waren, die Kräfte, die sie entfesselt hatten, zu kontrollieren. Kolnais bedeutendster Beitrag in diesem Buch ist seine Diskussion der rassischen Anthropologie, auf dem der Nationalsozialismus basierte. Das Kapitel über »Nation und Rasse«, zusammen mit anderen wichtigen Unterkapiteln, bietet eine kluge und nuancierte Beschreibung der Rassentheorien der nationalsozialistischen Philosophie und verweist auf den Unwillen, »das Problem des germanischen Rassismus als Gemeinplatz oder idealistischen Nationalismus zu verharmlosen«.30 Kolnai betonte, dass die Rassenpolitik der Nationalsozialisten jeden betreffe, nicht nur die Juden, was einen bezeichnenden Kommentar zur Stimmung der Zeit darstellt: »Wenn ich auch selbst jüdischer Herkunft bin, so verweigere ich doch einer solchen Haltung jegliche Solidarität. Unser Urteil über das neue, nationalsozialistische Deutschland muss vor allem von dessen Feindschaft gegen die Menschheit und die westlichen demokratischen Gesellschaften bestimmt sein und nicht von seiner besonderen Abneigung gegen die Juden.«31 Er ging sogar so weit zu behaupten, dass »die germanische Konterrevolution die christliche, römische und demokratische westliche Zivilisation« durch »antijüdi­ sches Handeln bekämpft«.32 Da die Anschuldigungen gegen die Juden in der Rea­ 28 29 30 31 32

Ebd., S. 507. Ebd., S. 510. Ebd., S. 505. Ebd., S. 521. Ebd., S. 536.

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lität nicht begründet waren, stand hinter dem Angriff auf sie die »Psychologie einer im Abstieg begriffenen aristokratischen Klasse […], die jede Vorstellung einer rationalen Neuorganisation mit einer unheimlichen Hexerei in Zusammenhang bringt, praktiziert von einer Bande fremder Verschwörer«.33 Das beinhaltete mehr als die Verfolgung der Juden: »Verfolgt werden so nicht so sehr die Juden als vielmehr der jüdische Geist, und nicht so sehr der jüdische Geist als der Geist.«34 Kolnai verwies auf die bittere Ironie der Tatsache, dass die Nationalsozialisten zwar den Judaismus beschädigten, »doch eben dadurch haben sie ihm Größe verliehen: Sie haben den Judaismus als Symbol der verfolgten Freiheit, Vernunft und Gerechtigkeit erst geschaffen«.35 Mit anderen Worten, Kolnai räumte dem Nachweis der wissenschaftlichen Irrtümer der nazistischen Rassentheorie keinen großen Raum ein, obwohl er ihn nicht gänzlich ignorierte. Er regte an, sich »eher auf die im Credo der Rassenherrschaft enthaltene moralische Falschheit und grundsätzliche Aggressivität zu konzentrieren als auf ihre wissenschaftliche Absurdität«.36 Auf diese Weise ist Kolnai in der Lage zu erklären, wie konkurrierende und sogar gegensätzliche Stränge anthropologischer und rassischer Theorie in die nationalsozialistische Philosophie aufgenommen werden konnten: »In der konkreten Wirklichkeit der Nazibewegung (unterstützen sich) rassische Schönheit und politische Zuverlässigkeit sowie Tapferkeit gegenseitig, trotz des gelegentlichen Fehlens einer Personalunion zwischen beiden. Gemeinsam bieten sie eine unschätzbare Garantie einer gründlichen rassischen Überlegenheit, die keiner von ihnen allein garantieren könnte. Hieraus ersehen wir, wie das Rassencredo im Dienst der rassischen Konterrevolution genutzt und verletzt wird. Wir sehen aber auch, wie ernst diese Konterrevolution gemeint ist, wie weit sie über jedes Ziel reiner Restauration hinausgeht, wie ausdrücklich sie auf eine Neuschöpfung anstatt nur die Wiederherstellung einer Welt aus Herren und Sklaven abzielt.«37

Kein anderes in diesen Jahren auf Englisch publizierte Buch bot eine so gründliche Untersuchung der nationalsozialistischen Philosophie, keines forderte so glaubwürdig und beharrlich, den Nazismus nicht lediglich als abartig abzutun, sondern mit der ganzen Ernsthaftigkeit, die eine Bewegung mit unermesslichen Vorräten an »mystischer« Energie verdient, zu untersuchen. Das hieß nicht, die Selbsteinschätzung der Nazis zu akzeptieren, sondern in Tiefen vorzudringen, die den Leser und Kolnai selbst so nah an die Identifikation mit dem Objekt der Untersuchung führte, wie das ethisch und emotional gerade noch tragbar war. 33 Ebd., S. 527. 34 Ebd., S. 537 (Hervorhebung im Original). 35 Ebd. 36 Ebd., S. 607; vgl. auch Kolnai, Der Sinn des Rassenwahnes. In: Der österreichische Volkswirt vom 17.3.1934, S. 539, ein ähnliches Argument: »Wenn es das Interesse des Volkes erfordert, können Shakespeare und Rabelais deutsch sein, Haeckel oder Ebert undeutsch, Ungarn können Arier sein, Japaner Europäer, Juden Asiaten, und Jesus von Nazareth germanisch.« 37 Kolnai, Krieg, S. 504.

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Britische Ansätze Es lohnt sich, Kolnais Ansatz kurz mit einigen anderen Ideen über das nationalsozialistische Rassendenken zu vergleichen, die man in britischen Publikationen finden konnte. Ich werde mich hier nicht mit den ziemlich zahlreichen Apologeten des Nazismus beschäftigen,38 ebenso wenig wie mit den populären Büchern von Konrad Heiden oder Hermann Rauschning, sondern nur mit eindeutig anti­ nazistischen Autoren. Ungeachtet ihrer politischen Position verstanden diese oft weder den Kern des Nazismus als antisemitische Verschwörungstheorie noch erkannten sie die Leidenschaft, mit der die führenden Nationalsozialisten dieser Theorie anhingen. Emily Lorimer zum Beispiel, Autorin des Penguin-Bestsellers »What Hitler Wants« (1939) und Hauptakteurin in Debatten über die Übersetzung von »Mein Kampf« ins Englische, brachte es fertig, ihre antinazistische Einstellung mit Referenzen auf Stereotype über Juden zu rechtfertigen: »Der englische Leser erinnert sich mit Dankbarkeit daran, in welchem Maß die Stabilität der britischen Finanzen der Kooperation von Generationen britischer Juden mit englischen Bankern zu verdanken ist und hätte gern von Hitler Belege dafür, dass jüdisches Kapital so fatal für Deutschland gewesen ist. Hitler versucht jedoch nicht, irgendeine seiner erstaunlichen Thesen zu beweisen. Er behauptet etwas und in Nazi-Deutschland wird es geglaubt: Das ist die Magie des Wortes des Führers.«39

Lorimer gab später den Ton für das britische Verständnis des Nazirassismus vor: »Um seine Absicht, die Juden auszurotten, zu rechtfertigen, musste er [Hitler] eine Rassentheorie entwickeln. Daher erschuf er den mythischen Arier, auch genannt den Nordischen oder, unverblümter, den Deutschen.«40 Diese Kombina­ tion aus suggestivem Verständnis dessen, wohin die nationalsozialistische Judenverfolgung führen würde (»die Absicht, die Juden auszurotten«) und spöttischem Ton, der Hitlers Unfähigkeit, selbst zu denken, verhöhnte und die Substanz seines Denkens als lächerlich abtat, ist absolut typisch für die britische Reaktion auf das nationalsozialistischen Rassendenken. Auf der einen Seite steht hier eine ziemlich weitsichtige Behauptung; auf der anderen Seite eine Erklärung, die die Hellsichtigkeit der Beobachtung untergräbt. In der Tat zögerten britische Autoren, die Rassenideen der Nazis ernst zu nehmen. Eine partielle Ausnahme war die »Verteidigungsliteratur«, die Dokumente zusammenstellte, um die Judenverfolgung der Nazis zu belegen. Typisch dafür sind Gollancz’ Veröffentlichungen »The Brown Book of the Hitler Terror« (1933)

38 Vgl. Stone, Responses, S. 83–92. 39 Emily Lorimer, What Hitler Wants, Harmondsworth 1939, S. 49. Vgl. zu Lorimer, Dan Stone, »The ›Mein Kampf Ramp‹: Emily Overend Lorimer and Hitler Translations in Britain«. In: German History, 26 (2008) 4, S. 504–519. 40 Lorimer, What Hitler Wants, S. 58.

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und »The Yellow Spot: The Extermination of the Jews in Germany« (1936). Beide betonten die Bedeutung des Antisemitismus für das Naziregime. Weitere Beispiele sind Gustav Warburgs »Six Years of Hitler« (1939), in welchem argumentiert wird, dass »Judenhetze in Deutschland kein Zufall ist, sondern das Fundament des Regimes«,41 und Joseph Kings »The German Revolution« (1933). Hier wird, ähnlich wie bei Kolnai, behauptet, dass »der Nazi-Terror gegen Juden eine Tragödie für die Welt ist; die nicht weniger als eine große Mauer zwischen der großen deutschen Nation und dem Rest der westlichen Zivilisation errichtete«.42 Solche Worte waren vorsichtige Aufrufe zum Handeln; wie Otto Dov Kulka bemerkte: »Genau wegen ihrer Position als Gegner und verfolgte Partei« erlegten die Autoren dieser Bücher »sich selbst ein außerordentliches Maß an methodologischer Objektivität auf – vielleicht nur möglich in diesem Stadium, welches dem Wissen um den konkreten Horror des Holocaust vorausging.«43 Da jedoch das Konzept der Rasse Bestandteil der mentalen Welt der meisten Menschen in den 1930er-Jahren war und Vorstellungen von rassischer Überlegenheit zu den grundlegenden Annahmen im britischen Empire gehörten, brachten es die meisten Autoren fertig, sowohl das Rassendenken der Nazis zu verurteilen als auch ihre eigene rassische Weltsicht zu reproduzieren, ohne den Widerspruch zu bemerken. Sie verurteilten die Praxis, schworen aber der Konzeption nicht ab. Hugh Sellon, Dozent am Bonar Law College, war typisch für eine solche Haltung, wenn er die Idee einer arischen Rasse verurteilte, dann aber meinte, dass »es ziemlich sinnlos wäre zu leugnen, dass es so etwas wie Rasse gibt«. Obwohl Sellon zögerte, endgültige Schlüsse darüber zu ziehen, ob die Juden als Rasse betrachtet werden sollten oder nicht, stellte er doch fest: »Während es zutrifft, dass jeder europäische Staat viele Juden hat, die nicht europäisch in Bezug auf rassische Eigenschaften und Gepflogenheiten sind, trifft es genauso zu, dass jeder dieser Staaten viele Menschen hat, die, obwohl jüdischer Abstammung, keine jüdischen Eigenschaften besitzen, sondern vollständig europäisiert sind.«44 Auf diese Weise bestätigte er seinen Glauben an eine jüdische Rasse, auch wenn er zugab, sich dabei nicht sicher zu sein. Kolnais Herangehen war ein völlig anderes. Die meisten Akademiker und Journalisten, die den Nazismus als politisches Phänomen betrachteten, 41 42 43

44

Gustav Warburg, Six Years of Hitler: The Jews under the Nazi Regime, London 1939, S. 14. Joseph King, The German Revolution: Its Meaning and Menace, London 1933, S. 128. Otto Dov Kulka, »Major Trends and Tendencies in German Historiography on National Socia­ lism and the ›Jewish Question‹ (1924–1984)«. In: Michael Marrus (Hg.), The Nazi Holocaust: Historical Articles on the Destruction of European Jews. Volume 1: Perspectives on the Holocaust, Westport 1989, S. 337–364, hier 341. Hugh Sellon, Europe at the Cross-roads, London 1937, S. 179. Sellon wurde 1940 Professor für Internationale Politik an der University of Reading.

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k­ onzentrierten sich auf die Frage, ob das Konzept des Totalitarismus hier zutreffend sei oder nicht.45 Andere verlegten sich vor allem nach Ausbruch des Krieges auf eine Propaganda des Typs »von Luther zu Hitler« oder betonten ihre Gegnerschaft zu Hitler.46 Zu den populärsten Büchern über Nazideutschland gehörten Berichte früherer Insassen von Nazigefängnissen und Konzentrationslagern.47 Sogar britische Autoren wie die Journalisten Vernon Bartlett und Robert Dell,48 die das Rassendenken der Nazis analysierten und diskutierten, bezweifelten, dass die Nazis es ernst meinen könnten, und verurteilten zugleich den Exzess, zu dem dieses Denken führe. Sie versäumten es jedoch, ihre eigenen rassischen Annahmen zu hinterfragen. Ausnahmen waren emigrierte Autoren wie Franz Borkenau, Sebastian Haffner und Leopold Schwarzschild. Aber auch wenn sich ihre Bücher gut verkauften, hatten sie Probleme, die breitere Öffentlichkeit und die Regierung davon zu überzeugen, dass die Nationalsozialisten meinten, was sie sagten.49 Kolnai zeigte nicht nur, dass sie das Konzept der Rasse tatsächlich ernst nahmen, sondern er verfolgte auch die intellektuellen Wurzeln ihrer Rassenideen. Er führte die Diskussion weg von anthropologischen Überlegungen darüber, ob die Juden eine Rasse konstituierten, was die Bedeutung der Rassenidee als solche verfehlte, um stattdessen zu zeigen, dass Rasse für die Nazis ein Gefühl war, das die Volksgemeinschaft generierte. Kolnai verstand, dass die Mehrdeutigkeit und Unklarheit des Begriffs der Rasse, die Tatsache, dass sie sowohl »wissenschaftlich« als auch der Erfassung durch wissenschaftliche Praxis eher unzugänglich war, gerade seine Stärke ausmachte. 1939 sprach Kolnai im Sommercamp des LBC. Er fasste dort die Argumentation seines Buches »Der Krieg gegen den Westen« zusammen und schärfte seine Thesen über die Notwendigkeit, dem Nationalsozialismus mit Ernsthaftigkeit zu begegnen. Die Kurzversion der Hauptargumente des Buches in dieser Rede ist vielleicht das klarste Statement von Kolnais Sicht darauf, wie mit dem Nazismus umgegangen werden muss. Seine Beurteilung der Eigenheiten des Nazismus ist wiederum erstaunlich: 45 46 47

48 49

Vgl. Peter Lassman, Responses to Fascism in Britain, 1930–1945: The Emergence of the Concept of Totalitarianism. In: Stephen P. Turner/Dirk Käsler (Hg.), Sociology Responds to Fascism, London 1992, S. 214–240. Vgl. dazu Rohan Butler, The Roots of National Socialism, New York 1942; Ivan Lajos, Germany’s War Chances as Pictured in German Official Literature, London 1939; Heinrich Fraenkel, The German People versus Hitler, London 1940; René Kraus, Europe in Revolt, London 1943. Vgl. z. B. Wolfgang Langhoff, Rubber Truncheon: Being an Account of Thirteen Months Spent in a Concentration Camp, London 1938; Stefan Lorant, I was Hitler’s Prisoner: Leaves from a Prison Diary, Harmondsworth 1939; G. R. Kay, Dachau: The Nazi Hell. From the Notes of a Former Prisoner at the Notorious Nazi Concentration Camp, London 1939. Vgl. auch Dan Stone, Concentration Camps: A Short History, Oxford 2017, insbes. Kapitel 3. Vgl. Stone, Responses, S. 106 f. Vgl. Franz Borkenau, The New German Empire, Harmondsworth 1939; Sebastian Haffner, Germany: Jekyll and Hyde, London 1940; Leopold Schwarzschild, World in Trance, London 1943.

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»Ebenso hat das faschistische System seinen Untertanen ein mentales Freiheitserlebnis beschert: auch wenn es in extremem Widerspruch zu dem steht, was wir unter Freiheit verstehen. Faschistische Freiheit eröffnet dem Subjekt die Möglichkeit, in mystischer Weise an einer unbegrenzten Macht teilzuhaben: durch patriotische Loyalität, Verwandtschaft mit Gleichartigen im Gegensatz zu Fremden, durch ihre absolute, totale Unterwerfung.«50

Weiterhin betont er, dass es ein Fehler wäre, den Faschismus als lediglich destruktiv auszufassen, denn wäre das der Fall, »so wäre er weit weniger gefährlich«.51 Wie in »Der Krieg gegen den Westen« argumentierte Kolnai: »An Stelle der Ethik […] führt der Nazismus eine Anthropologie ein, die erfüllt ist von der Vorstellung des Wertes.«52 Seine Botschaft war klar: Es sei nicht sinnvoll, den Nazismus nur zu verdammen, als würde das allein ihn besiegen. Es sei notwendig, sich in sein Denken zu versetzen, seine emotionalen Kräfte und seine Anziehungskraft zu verstehen. Sein Aufruf zum Handeln stellt immer noch eine Herausforderung dar: »Wir müssen einen Gegner aber auch dann bekämpfen bzw. eine Überzeugung zurückweisen, wenn wir deren Größe, positive Implikationen und kreative Kraft anerkennen. Das Böse mag destruktiv sein, es ist aber nie nur und ausschließlich destruktiv.«53 Nur wenige Denker hatten den Mut, Kolnai zu folgen. Sie fürchteten, das, was sie zerstören wollten, durch zu viel Aufmerksamkeit aufzuwerten. Aber er ebnete den Weg für ein philosophisches Verständnis des Nationalsozialismus, das immer noch aussteht.

Kolnais Beitrag Nach dem Krieg erhielt Gollancz Hunderte Briefe von Bewunderern, die überzeugt davon waren, dass der LBC geholfen hatte, einen Sieg der Labour-Partei herbeizuführen. Ein Mitglied aus Leeds schrieb: »Wie Tausende anderer bin ich dankbar für das außerordentliche Werk politischer Bildung, welches Sie in den letzten zehn Jahren geleistet haben, welches, da bin ich sicher, zu den Ergebnissen der allgemeinen Wahlen beigetragen hat.«54 Kolnais Beitrag zu diesem E ­ rgebnis

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Kolnai, Prinzipien, S. 288. Ebd., S. 289. Ebd., S. 290. Ebd., S. 289. Das erinnert an Heideggers berüchtigte Aussage zur »inneren Größe« der nationalsozialistischen Bewegung. Vgl. dazu Kolnais unter dem Pseudonym Dr. A. von Helsing geschriebenen Artikel »Heidegger und der Nationalsozialismus«. In: Der Christliche Ständestaat (17.6.1934), S. 5–7, in dem er Heidegger beschuldigt, »Prophet, Visionär und Inspirator des Dritten Reiches« zu sein. 54 Kenneth Muir an Gollancz vom 12.9.1946, University of Warwick, Modern Records Centre (­Gollancz Archive, MSS157/3/LB/1/61).

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war, wenngleich nicht so direkt »politisch« wie die Bücher von G. D. H. Cole, John Strachey oder Wal Hannington, wesentlich für die Abkehr der Buchclub-Mitglieder vom Antikriegslager und festigte daher die antifaschistische Entschlossenheit in Großbritannien. Er selbst formulierte es mit bewundernswerter Zurückhaltung: »Ich habe den ›Krieg gegen den Westen‹ veröffentlicht, der sich eine gewisse Reputation in der Englisch sprechenden Welt erworben hat, daher bin ich kein völlig unwichtiger Teil.«55 Nach 1945 wurde Kolnai ein kalter Krieger und widmete einen großen Teil seiner Zeit dem Kampf gegen den Kommunismus. Ihm gefiel die Atmosphäre in Francos Spanien, das er mehrere Male besuchte und wo er gern gelebt hätte.56 Er veröffentlichte Artikel mit Bezügen zum Distributismus und zum Konservatismus, die er in den 1920er- und 1930er-Jahren entwickelt hatte.57 In einer Analyse von Nazismus, Kommunismus und fortschrittlicher Demokratie – den drei Bedrohungen für eine stabile und freie Gesellschaft – argumentierte er, dass Kommunismus »der absolute, klassische und unüberwindbare Typ von Totalitarismus«58 sei. Die Einbeziehung von »fortschrittlicher Demokratie« in diese Aufreihung von Ideologien zeigt, dass Kolnai den Liberalismus, wenn er nicht durch transzendentale religiöse Bindungen eingerahmt ist, als genauso gefährliche Bedrohung für eine stabile und freie Gesellschaft ansah wie den Faschismus. In seinen Memoiren beharrte er weiterhin auf der »einzigartigen Bösartigkeit« des Nazismus. Er schrieb jedoch auch, dass er zwar glücklich über die Veröffentlichung seines Buches durch Mr. Gollancz war, aber damals »nicht erkannt hatte, dass die elementare Zerstörung der Zivilisation und des unverfälschten, vielfältigen Sinns des Menschen für Werte, wie sie der Kommunismus betrieb, von keinem Faschismus erreicht wurde, noch erreicht werden konnte«. Er hätte zu jener Zeit unter dem Schock des Nazismus gestanden, war der Illusion erlegen, dass »›Anti-Faschismus‹ eine entschiedene Links-Ausrichtung (nicht Kommunismus) als Grundlage und Ausgangsbasis voraussetze«. In Wirklichkeit, so habe er später erkannt, »hatte es nicht nur größeres morali-

55 56 57 58

Kolnai an Irene Grant vom 16.1.1939 (Kolnai Papers, University of St Andrews). Dunlop, Life, S. 249. Es ist wichtig, festzuhalten, dass Kolnai sich früher in einem anderen Sinn geäußert hatte, nämlich »dass es einen gewissen Unterschied mache, wer [den Spanischen Bürgerkrieg] ›gewinne‹ und wer ihn ›verliere‹. Vgl. Kolnai, Pacifism, S. 87. Vgl. z. B. Aurel Kolnai, Bellocs Wirkungen des Kapitalismus – Wege zu seiner Überwindung. In: Schönere Zukunft?, 4 (4.11.1928) 6, S. 116–118; ders., G. K. Chesterton, Der Christliche Stände­ staat, 28.6.1936, S. 619–621. Aurel Kolnai, Three Riders of Apocalypse: Communism, Naziism and Progressive Democracy. In: Appraisal, 2 (1998) 1, S. 4–11, hier 7. Vgl. auch ders., Notes sur l’utopie réactionnaire. In: Cité libre, 13 (1955), S. 9–20 ; sowie ders., La mentalité utopienne. In: La table ronde (September 1960), S. 62–84. Borkenau wurde auch zum kalten Krieger, was für einen Ex-Kommunisten jedoch weniger überraschend ist; vgl. Franz Borkenau, European Communism, London 1953.

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sches Gewicht, den Faschismus auf konservativer Grundlage zu bekämpfen, der Anti-­Faschismus als solcher ließ uns auch das Besondere des Nazismus verkennen.«59 Kolnai bezweifelte nie die Notwendigkeit, den Nationalsozialismus zu vernichten, aber Mitte der 1950er-Jahre schien es ihm, dass »Kommunismus ein unvergleichlich größeres Übel als der Nazismus [ist], der verglichen damit beschrieben werden kann als eine harmlose und kraftlose Angelegenheit, eine bloß oberflächliche Störung der gesellschaftlichen Ordnung«.60 So ist es kein Wunder, dass seine Schriften heute jenen Typ antiliberaler Kritiker inspirieren, die Denkern wie Friedrich von Hayek folgen. Kolnai war tatsächlich kein typischer Autor des Linken Buchclubs, was sein Buch 1938 nur umso besser machte.

59 60

Kolnai, Memoirs, S. 72 f., 77. Ebd., S. 82.





Michaela Hoenicke Moore  Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« und die amerikanische Diskussion des Nationalsozialismus

»Triftige Gründe, die sich ihrer Grenzen bewusst, aber zugleich auch ihrer Anwendung auf Gegenstände außerhalb des Geistes sicher waren, Ehrfurcht vor der Vielfalt der Wirklichkeit, die unvoreingenommene Anerkennung der Ordnung des Universums und der Werteordnungen als in unserer Erfahrung der Welt gegeben – all das aufrechtzuerhalten oder zu schützen war mit Sicherheit nicht notwendig, um dem Katholizismus anzugehören. Der Kirche beizutreten […] gab mir jedoch auch das Gefühl, als würde ich mit meinesgleichen ein fundiertes, universelles und unvergängliches Medium der Kommunikation bewohnen. Insofern die Phänomenologie sich mit jeder politischen Konzeption verträgt, sollte es eine konservative sein und die Vielfalt, Unterschiede und Balance gegenüber jedem vermeintlich plausiblen Konstruktionsprinzip betonen. Das entspricht dem Gemeinwohl bei Aristoteles, das sich bei ihm tatsächlich nicht auf einen besonderen Willen, Geschmack oder eine stimmige Präferenz reduzieren lässt.«1

Dieses Kapitel ordnet Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« in den politischen Zusammenhang der amerikanischen Diskussion des Nationalsozialismus ein. Geschrieben in den frühen 1930er-Jahren, beendet 1936 und 1938 gleichzeitig in Großbritannien und den Vereinigten Staaten veröffentlicht, ist das Buch eine von wenigen frühen Analysen des Nationalsozialismus, die davor warnten, dass das nationalsozialistische Deutschland entschlossen war, die wertvollsten Bestandteile der westlichen Zivilisation zu zerstören.2 Kolnais Bestimmung des Westens oder der westlichen Zivilisation hebt die üblichen Merkmale hervor, also sein römisches, griechisches und christliches Erbe, die Herrschaft des Gesetzes, rationale Ethik und säkularisierte Politik, das demokratische Prinzip, individuelle Freiheit und persönliche Würde. Mit seiner Entscheidung, das Buch auf Englisch zu publizieren, wollte er sicherstellen, dass seine Botschaft die beiden westlichen Länder erreichen würde, die wahrscheinlich an der Spitze eines militärischen Bündnisses gegen Nazideutschland stehen würden. 1 2

Aurel Kolnai, Political Memoirs. Hg. von Francesca Murphy, Lanham 1999, S. 108, 139. Vgl. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 51–54. Zu anderen zeitgenössischen antinazistischen Analysen vgl. Wolfgang Bialas’ Einleitung zu Kolnai, Krieg, S. 9–31.

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Als Historikerin amerikanischer Außenbeziehungen konzentriere ich mich auf das, was ich als Hauptanliegen von Kolnais Buch sehe, nämlich mit einem Weckruf an die westliche Welt, diese zugleich zu den Waffen zu rufen. »Der Krieg gegen den Westen« sollte nicht nur als eine der frühesten und gründlichsten Analysen des Dritten Reichs anerkannt werden, sondern auch als Versuch eines Moralphilosophen, englischsprachige westliche Leser politisch, ja sogar propagandistisch zu alarmieren und zu mobilisieren, sodass sie bereit sein würden, wenn nötig auch militärisch zum zweiten Mal innerhalb einer Generation gegen Deutschland zu kämpfen.3

Der Moralphilosoph als politischer Propagandist »Der Krieg gegen den Westen« wirft zwei große Fragen nach seine Ursprüngen und seinem Einfluss auf, die auf eine Weise verbunden sind, die Historikern der Politik und Diplomatie häufig entgeht: Warum gehörte Kolnai zu den wenigen Zeitgenossen, die weitsichtig das Wesen Nazideutschlands begriffen, während sich viele andere Reaktionen in einem Spektrum bewegten, in dem sie der nationalsozialistischen Politik etwas abzugewinnen versuchten oder aber eine abwartende Haltung einnahmen? Und welches Vermächtnis hinterließ dieses frühe Beispiel eines antinazistischen Aktivismus, der zum Handeln aufrief, insbesondere für die amerikanische Außenpolitik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs? Bevor ich damit beginne, im Detail zu diskutieren, in welcher Beziehung Kolnais Buch von 1938 zu den politischen und intellektuellen amerikanischen Auseinandersetzungen mit dem Dritten Reich steht, möchte ich betonen, dass sich die Antwort auf beide Fragen daraus ergibt, dass Kolnai ein Moralphilosoph war, der sich eindringlich mit den Herausforderungen des Humanismus im 20. Jahrhundert auseinandersetzte.4 Wie die Zitate zu Beginn dieses Beitrags nahelegen, war Kolnai, der ungarische, jüdischstämmige Philosoph und Phänomenologe, ebenso wie seine verehrten Helden, C. K. Chesterton und Hilaire Belloc, ein Katholik und Konservativer. Seine religiösen und politischen Wege waren jedoch so verschlungen, wie die

3

4

Die Frage, ob Demokratien die Mittel der Propaganda in ihrem Kampf gegen totalitäre Regimes benutzen sollten, wurde zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten ebenso heiß diskutiert wie der Begriff selbst. Vgl. Walter Lippman, Public Opinion, New York 1922; Allan M. Winkler, The Politics of Propaganda: The Office of War Information, 1942–1945, New Haven 1978; Clayton D. Laurie, The Propaganda Warriors. America’s Crusade against Nazi Germany, Lawrence 1996. Für weitere wesentliche Zusammenhänge vgl. die Essays von Zoltán Balázs und Graham M ­ cAleer in diesem Band. Vgl. auch Aurel Kolnai, Exploring the world of human practice: readings in and about the philosophy of Aurel Kolnai. Hg. von Francis Dunlop und Zoltán Balázs, Budapest 2004, S. 1–14. Kolnai selbst erklärte 1947 in einem Essay die »Unentbehrlichkeit der Philosophie«, wiederabgedruckt in: ebd., S. 143–154.

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sein Leben umspannende Reise von Wien über die USA und Kanada nach Großbritannien, der Heimat seiner geistigen Helden. Diese Reisen führten ihn durch die existenziellen Täler des 20. Jahrhunderts, die beiden Weltkriege und den Völkermord, vor dem er floh. Sie zeugen ebenfalls von einer kurzen Affäre mit der Psychoanalyse und einer etwas längeren Liebesbeziehung mit der westlichen liberalen Demokratie. Sprachlich und literarisch begnadet, sprach er verschiedene europäische Sprachen und war alles andere als ein religiöser oder politischer Dogmatiker. Vielmehr lebte er sein Leben im Exil wie andere von Neugier und Forscherdrang beseelte Geister fernab jeglicher konventioneller religiöser oder politischer Gewissheiten. Kolnais hellsichtige Verdammung Nazideutschlands und sein Ruf zu den Waffen sind retrospektiv in Gefahr, sowohl in ihrer prophetischen Nachdrücklichkeit unterschätzt zu werden, die sie Mitte der 1930er-Jahre hatten, als auch als Beitrag zur Militarisierung und Selbstgerechtigkeit der westlichen Politik des Kalten Krieges nach 1945 abgetan zu werden. In beiden Fällen wäre eine solche Einschätzung falsch. Kolnais Scharfsichtigkeit im ursprünglichen Sinn des Wortes lag nicht nur in seiner kulturellen Vertrautheit mit den intellektuellen und politischen Traditionen begründet, die im Dritten Reich gipfelten. Solche Einsichten teilte er mit vielen europäischen Flüchtlingen, wie die deutsch-jüdische Emigrantin Toni Sender später erklärte: »Wir saßen auf einem Vulkan, und diejenigen, die seinen Ausbruch tatsächlich erlebt haben, wissen mehr über seinen Krater als andere.«5 Es war insbesondere Kolnais Moralphilosophie, die es ihm ermöglichte, schon sehr früh zu verstehen, dass sich Deutschland selbst aus der westlichen Zivilisation ausgeschlossen hatte. Als die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren, waren seine antifaschistischen Mitstreiter von Kolnais Konvertierung zum Katholizismus und seiner Wende zum Konservatismus überrascht und verstört, während spätere Historiker beide Positionen als vorschnellen Anschluss an die vorherrschende antikommunistische und antitotalitäre Stimmung missverstehen konnten, die die politische Bühne auf beiden Seiten des Atlantik beherrschte und das ­westliche Bündnis im Kalten Krieg zusammenhielt. Kolnais Ansichten lassen sich jedoch nicht so ohne Weiteres in die politische Entgegensetzung eines einfachen Links-rechts-Schemas einordnen. Er selbst war sich natürlich seiner sperrigen

5

Toni Sender, »We Must Face the Issues«. In: Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 216 (Juli 1941), S. 16–23. Zur Diskussion des größeren Zusammenhangs, in dem die frühen antinazistischen Analysen insbesondere der Emigranten und Flüchtlinge vom europäischen Kontinent erschienen, vgl. Dan Stone, Responses to Nazism in Britain, 1933– 1939. Before War and Holocaust, Basingstoke 2003; Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile, Minneapolis 2009; Richard Bodek/Simon Lewis (Hg.), The Fruits of Exile. Central European Intellectual Immigration to America in the Age of Fascism, Columbia 2010.

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­ ositionen bewusst, wie eine kleine Episode aus einem Gespräch während eines P Abendessens 1940 in der amerikanischen Wohnung des französischen katholischen Philosophen Jacques Maritain nahelegt: »Ich hatte über die Demokratie gesprochen, nicht abfällig, aber skeptisch und ziemlich pessimistisch. ›Sie glauben also nicht an die Demokratie?‹ […] riefen die Damen weniger empört als erschrocken. ›Glauben an die Demokratie? Nein, das bestimmt nicht‹, sagte ich entschieden. Großes Entsetzen bei meinen Gesprächspartnern. ›Dann sind Sie also ein Faschist?!‹ war die nächste Frage, die wie ein Peitschenhieb kam. Nun war es an mir, entrüstet zu sein. ›Ein Faschist? Um Gottes Willen.‹ Die Damen waren sichtlich erleichtert, aber umso verwirrter. ›Aber was sind Sie denn dann?‹ Ich sagte: ›Wissen Sie, um es kurz zu machen, mehr als alles andere bin ich ein Konservativer.‹ ›Oh, … ein Konservativer, ich verstehe‹, sagte eine der Damen nachdenklich, während die andere betroffen schwieg, ganz so, als hätte ich gesagt, dass ich ein primitiver Methodist oder ein Anhänger von Mithras wäre.«6

Kolnais eigentümlicher Konservatismus, der mehr ein philosophischer Blick auf die menschliche Gesellschaft und Geschichte als ein politisches Programm war, irritierte auch weiterhin viele aus seinem Umfeld und führte zweifellos zu weiteren Missverständnissen. Ich möchte jedoch anmerken, dass es gerade sein Konservatismus war, der Kolnai dazu befähigte, andere politische Ansichten mehr zu tolerieren und anzuerkennen, als das vielen politisch engagierten Emigranten in seinem Bekanntenkreis möglich war.7

Bedeutung und Wirkung in den Vereinigten Staaten Einige der Themen aus Kolnais Buch »Der Krieg gegen den Westen«, das er geschrieben hatte, als er noch in Wien lebte, korrespondieren mit den späteren amerikanischen Kriegsanstrengungen gegen Nazideutschland. So nimmt Kolnais Arbeit die während des Krieges ausgesprochene amerikanische Warnung vorweg, dass man seinen Feind kennen muss, um ihn effektiv zu bekämpfen, oder in einer weniger martialischen Formulierung, dass das Verstehen eines Problems seiner effektiven Lösung vorhergeht. Genauer sind es drei Strategien von Kolnais Darstellung des Nationalsozialismus, die sich in der amerikanischen Propaganda wiederfinden, nämlich:

6 7

Kolnai, Political Memoirs, S. 200. Diejenigen, die ihn persönlich kannten oder die seinen Briefwechsel gelesen haben, sind der Auffassung, dass Kolnai eine ungewöhnliche »Fähigkeit hatte, die Ansichten anderer gelten zu lassen und zu würdigen«, und dass ihn eine tiefe Wertschätzung des Pluralismus auszeichnete. Vgl. Francis Dunlop, The Life and Thought of Aurel Kolnai, Aldershot 2002, S. 297.

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1. seine bewusst gewählte Methode, die Nationalsozialisten für sich selbst sprechen und dadurch diskreditieren zu lassen, 2. sein Herunterspielen der Bedeutung des Antisemitismus im nationalsozialistischen Universum und 3. seine Darstellung der nationalsozialistischen Doktrin als tief im deutschen Denken verwurzelt, mit anderen Worten, die Annahme, dass es bedeutende Vorläufer des Nationalsozialismus in der deutschen Geistesgeschichte gab, dass also der Nationalsozialismus ein spezifisch deutsches Phänomen war. Dieses Verständnis der nationalsozialistischen Ideologie wurde in der zeitgenössischen angloamerikanischen Debatte über das Dritte Reich Vansittartismus genannt. Ich werde auf diese zentrale, wenn auch kontroverse Position der amerikanischen Debatte während des Kriegs gleich zurückkommen. Kolnai fasst seine Analyse des Nationalsozialismus am Ende seines Buchs in zehn Thesen zusammen, von denen ich insbesondere vier Schlussfolgerungen herausheben möchte, die wieder auf eine Aufforderung zum Handeln hinauslaufen, der die amerikanische Regierung unter Präsident Roosevelt schließlich folgte. Kolnai argumentiert, dass sich erstens der Westen entweder der Vorherrschaft der Nationalsozialisten unterwerfen oder aber sich darauf vorbereiten müsse zu kämpfen. In Anknüpfung an diese Beschwörung einer rigorosen Entscheidung besteht er darauf, dass kein Kompromiss zwischen dem Dritten Reich und dem Westen möglich ist, dass keine Vereinbarungen, keine Verständigung und keine Zugeständnisse zu etwas führen würden.8 Kolnai besteht weiterhin darauf, dass zweitens  der Nationalsozialismus nur militärisch zerstört werden kann, womit er eine der wichtigsten amerikanischen Formulierungen im militarisierten globalen Kalten Krieg vorwegnahm: »Sie verstehen nur eine Sprache.« Beides, die scharfe Kritik an der Diplomatie und der Ruf nach militärischer Gewalt, waren vorherrschend in der Kriegszeitrhetorik der USA gegen Nazideutschland und wurden später als sogenannte Munich Lesson verinnerlicht, die die Außenpolitik der USA in der Nachkriegszeit überschattete und Diplomatie als schwach abtat, während der Gebrauch militärischer Gewalt als effektivstes Mittel der Bekämpfung des Bösen galt.9 In der Tat hatte Kolnai selbst zu diesem Zeitpunkt an einem Werk mit dem Titel »Pazifismus bedeutet Selbstmord« gearbeitet.10 Es ist jedoch wichtig, nicht zu vergessen, dass Kolnai, als er 1936 diese Schlussfolgerungen

   8    9

10

Vgl. Kolnai, Krieg, S. 693. Vgl. Gerhard L. Weinberg, Munich After 50 Years. In: Foreign Affairs, 67 (1988) 1, S. 165–178; Joseph M. Siracusa, The Munich Analogy. In: Encyclopedia of American Foreign Policy, Band 2, New York 2002, S. 443–454; Jeffrey Record, The Specter of Munich. Reconsidering the Lessons of Appeasing Hitler, Washington 2007. Vgl. Kolnai, Krieg, S. 696; Dunlop, Kolnai, S. 162–164; Kolnai, Political Memoirs, S. 172–175.

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zog, damit sowohl gegen die damals vorherrschende westliche Politik als auch gegen den Zeitgeist stand. Mehr noch warnt Kolnai gleichzeitig davor, dass drittens das Problem, das Nazideutschland darstellt, nicht allein mit militärischer Gewalt zu lösen ist. Und schließlich endet er viertens mit dem universalistischen Anspruch, dass die Sache des Westens die Sache der Weltzivilisation ist, die sich »im Bewusstsein ihrer Moral gegen die Feinde der Menschheit wappnet«.11 Jede dieser vier Schlussfolgerungen und drei Strategien fand ihre Entsprechung in dem damaligen amerikanischen Diskurs über den Nationalsozialismus. Kolnai leitet seine zehn Thesen mit der Ablehnung einer Beschwichtigungspolitik ein, obwohl er den Begriff Appeasement nicht benutzte, der viel mehr Meinungen, Argumente und Strategien einschloss, als das diplomatische Vorgehen, das in der Münchener Konferenz vom September 1938 kulminierte. Diese kurze, aber geistreiche Darstellung eines politisch engagierten Philosophen der Zeit ist besonders aufschlussreich für Historiker, deren wichtigste Herausforderung darin besteht, plausibel zu machen, dass die Menschen in den 1930er-Jahren nicht wussten, wie sich die Geschichte weiterentwickeln und wie sie enden würde. Aus der Perspektive der Zeit nach 1945 ist es schwierig zu verstehen, dass die sogenannte Zwischenkriegszeit faktisch eine andere Nachkriegszeit war. Jedes Nachdenken über den Faschismus und Nationalsozialismus fand in einem geistigen Rahmen statt, der geprägt war von einer weitverbreiteten und tief empfundenen Ablehnung des Kriegs als Mittel zur Lösung politischer Konflikte, also mit anderen Worten durch eine in der modernen Welt beispiellose Woge des Pazifismus, oder, spezifischer, durch die vielfältige Ablehnung des Versailler Vertrags und anderer Beispiele der Nachkriegspolitik der Alliierten gegenüber dem geschlagenen Deutschland. Gleichzeitig wurde der Zusammenbruch der Weimarer Republik insbesondere vom Ausland im Zusammenhang eines generellen Glaubwürdigkeitsverlustes der liberalen Demokratie und insbesondere des Parlamentarismus gesehen. Und schließlich galten die frühen Beispiele des nationalsozialistischen Revisionismus und Expansionismus insbesondere in den Vereinigten Staaten lediglich als weiteres Beispiel von europäischer Machtpolitik und Imperialismus.12 »Der Krieg gegen den Westen« war so eine der frühesten und beeindruckendsten Analysen des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen dem Nationalsozialismus und dem Westen, der zu einer radikalen Veränderung der Haltung und Politik des Westens gegenüber dem Nationalsozialismus aufrief.

11 12

Kolnai, Krieg, S. 693. Vgl. Mikkel Vedby Rasmussen, The history of a lesson: Versailles, Munich, and the social construction of the past. In: Review of International Studies, 29 (2003), S. 499–519.

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Die amerikanische Nazismusdebatte bis 1938 Kolnais Darstellung des Nationalsozialismus und des Westens von 1936 und 1938 hat, wie der Titel nahelegt, einen manichäischen Beigeschmack. Im Gegensatz jedoch zu der weitverbreiteten Bedeutung manichäischer Feindbilder, die sich in der Geschichte amerikanischer Außenpolitik finden, bildete sich in den zeitgenössischen amerikanischen politischen und kulturellen Nazismusdebatten kein einheitliches Feindbild Nazideutschlands als das eines radikal anderen heraus.13 Stattdessen waren die populären Kommentare zum Dritten Reich und auch die der amerikanischen politischen und kulturellen Eliten, zu denen 1938 Kolnais 700-seitige Analyse dazukam, sowohl kenntnisreich als auch äußerst widersprüchlich.14 Die zeitgenössische Aufforderung »Kenne deinen Feind!« drückte zutreffend den Modus operandi aus, nämlich die Notwendigkeit, den Nationalsozialismus richtig zu verstehen, um ihn nicht nur militärisch zu besiegen, sondern sich auch wirksam politisch gegen ihn zu schützen. Wie der Philosoph und Lehrer Horace M. Kallen zeitgeisttypisch formulierte, müsse eine zutreffende Diagnose der wirksamen Lösung des deutschen Problems vorausgehen: »Die Genesung der ausgebluteten und gebrochenen Welt zu einer neuen und gesunden Welt wird vor allem dadurch entschieden, wie ihre Medizinmänner den deutschen Nationalcharakter interpretieren.«15 Selbst jenseits des geläufigen, häufig metaphorischen Verständnisses des Nationalsozialismus als psychische Störung und Krankheit verwendeten sowohl populäre als auch politische Analysen des Dritten Reichs häufig mit Bezug auf den Patienten, also Deutschland, den Dreischritt einer Fallgeschichte, die dann zu einer politischen oder psychokulturellen Diagnose führte, gefolgt von der vorgeschlagenen Behandlung (den Nachkriegsplänen für Deutschland). Gleichzeitig waren jedoch die amerikanischen Kriegsanstrengungen gegen das Dritte Reich, die im öffentlichen Bewusstsein Amerikas schrittweise zu einer Heldengeschichte wurden, in der sich das Gute militärisch gegen das Böse verteidigte, alles andere als ein unbeirrbarer Kreuzzug.16 Das amerikanische Verständnis Nazideutschlands war ein beeindruckendes Gegenbeispiel zur üblichen Verunglimpfung des Gegners als des substanziell anderen. Der amerikanische 13 Vgl. Michaela Hoenicke Moore, The Nazis and U.S. Foreign Policy Debates. History, Lessons, and Analogies. In: Michael P. Cullinane/David Ryan (Hg.), U.S. Foreign Policy and the Other, New York 2016, S. 142–162. 14 Vgl. Michaela Hoenicke Moore, Know Your Enemy: The American Debate on Nazism, 1933– 1945, New York 2010. 15 Vgl. Horace M. Kallen, What Shall We Do With Germany? In: Saturday Review of Literature, 26 (1943), S. 4. 16 Vgl. Steven Casey, A Cautious Crusade. Franklin D. Roosevelt, American Public Opinion, and the War Against Nazi Germany, Oxford 2001.

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­ orkriegs- und Kriegsdiskurs über eines der extremsten historischen Beispiele V eines unmoralischen und kriminellen Staates blieb komplex und widersprüchlich. Ich möchte kurz die verschiedenen Elemente darlegen, die zu dieser Situation führten und dadurch den Hintergrund der amerikanischen Rezeption von Kolnais Buch rekonstruieren und erklären, wie seine Argumente und Bedenken im amerikanischen Kontext wirkten. In den Vereinigten Staaten begann die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus 1932 mit journalistischen Beiträgen wie Edgar A. Mowrers »Germany Puts the Clock Back«, ein Buch, das Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen« zitierte.17 1934 erschien eine Sammlung von 20 Beiträgen über verschiedene Aspekte der Ideologie und Politik des Dritten Reichs unter einem Titel, der Kolnais Titel vorwegnahm, »Nazism: An Assault on Civilization«.18 Die Autoren waren amerikanische Rabbis, Sozialisten, Gewerkschaftsführer, New-Deal-Politiker, Journalisten und Emigranten. Sie beurteilten das Regime nach seinen Worten und Taten und organisierten Proteste, Scheinprozesse und Boykotte gegen das Naziregime.19 Die wichtigste Gruppe, die das amerikanische Verständnis des neuen Deutschland prägte, war jedoch eine Gruppe talentierter Auslandskorrespondenten, die in den 1930er-Jahren aus Europa berichteten. Mehr als jede andere Gruppe trugen sie zu einem frühen kritischen Verständnis des Dritten Reichs bei. Ihnen war mit Kolnai gemeinsam, dass sie die Nationalsozialisten beim Wort nahmen und ihr amerikanisches Publikum zwangen, ihnen darin zu folgen. Ein kleiner erster Erfolg in dieser Hinsicht war der neu gewählte Präsident Franklin D. Roosevelt, der zu Beginn des Jahres 1933 in einer handschriftlichen Bemerkung Houghton Mifflin für ein Exemplar von Hitlers »Mein Kampf« dankt, jedoch hinzufügt: »Diese Übersetzung ist so bereinigt, dass sie ein völlig falsches Bild davon gibt, was Hitler wirklich ist oder sagt. Das deutsche Original würde einen ganz anderen Eindruck vermitteln.«20 Obwohl Roosevelt behauptete, Deutsch von verschiedenen Sommeraufenthalten als Schulkind im deutschen Kaiserreich zu können, verdankte er sein Gespür für die Unzulänglichkeit dieser frühen Übersetzung engen persönlichen Beziehungen zu einigen amerikanischen antinazistischen Aktivisten und Journalisten, die ihre Leser dazu aufforderten, die Nationalsozialisten beim Wort zu nehmen.21 17 18

Vgl. Edgar A. Mowrer, Germany Puts the Clock Back, New York 1933. Vgl. Pierre Van Paassen/Robert F. Wagner (Hg.), Nazism: An Assault on Civilization, New York 1934. 19 Vgl. Detlef Junker, Kampf um die Weltmacht: Die USA und das Dritte Reich, 1933–1945, Düsseldorf 1988, S. 62–64. 20 President’s Personal File [PPF] 373, FDR Papers, FDR Library. Erst 1939 erschien eine zweite englische Übersetzung in den USA, die dem Original eher gerecht wurde. Adolf Hitler, Mein Kampf, New York 1939. 21 Vgl. Hoenicke Moore, Enemy, S. 21–40, 78–80, 318–320.

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Zusammengenommen formulierten die Auslandskorrespondenten eine Reihe zutreffender Interpretationen zum Wesen des Dritten Reichs. Zur zentralen Frage der Unterstützung der Deutschen für Hitler und ihrer späteren Verstrickung in die Verbrechen der Nazis beschrieben die Journalisten das gewöhnliche Verhalten der Deutschen als Spektrum, das von sporadischen Handlungen, die Mut und Anstand bezeugten, bis zu Feigheit, stillschweigender Zustimmung und gelegentlichem Fanatismus reichte, zumeist jedoch von Opportunismus und Apathie geprägt war und eigenen Interessen folgte. Mowrer, dessen Buch veröffentlicht wurde, als die Nationalsozialisten gerade an die Macht kamen, hob auf der einen Seite deren Unterstützung durch die traditionellen Eliten Deutschlands hervor, betonte jedoch auch das Versagen der Liberalen und Sozialdemokraten bei der Verteidigung der Republik. Zur generellen Frage, weshalb das deutsche Volk den Nationalsozialisten so wenig Widerstand entgegengesetzt hatte, schrieb sein Kollege William L. Shirer, dass »die Mehrheit der Deutschen […] hinter Hitler steht und an ihn glaubt«.22 Mowrer und Shirer verwiesen ebenso wie Kolnai auf die tiefen Wurzeln des Nationalsozialismus in der deutschen politischen Kultur sowie die breite öffentliche Unterstützung für Hitler. Im Gegensatz dazu konzentrierte sich ihr Kollege John Gunther in seinem viel gelesenen Buch »Inside Europe« (1936) auf die nationalsozialistischen Führer. Gestützt auf populäre psychologische Interpretationen stellte er sie als zugleich erschreckende wie unterhaltsame Monster vor.23 Diese Ambivalenz amerikanischer Darstellungen des Nationalsozialismus hielt an: Er war sicherlich nicht attraktiv, aber konnten diese Clowns wirklich gefährlich sein? Ohnehin passierte das alles da drüben, am anderen Ende des Ozeans. Dorothy Thompson, die prominenteste Journalistin, die über das deutsche Problem schrieb, wurde in den 1930er-Jahren als Kriegshetzerin diffamiert und in den 1940er-Jahren als Sympathisantin Deutschlands. Sie war diejenige, die die gründlichste und umfangreichste Analyse des Dritten Reichs vorlegte. Unterstützt von einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen, die ihr bei ihren Recherchen halfen, führte Thompson einige der wichtigsten Denkfiguren in die Debatte ein: der Diktator als Hanswurst, die Massen als das Problem, die frühe Einsicht (1936) in Übereinstimmung mit Kolnai, dass der Nationalsozialismus Krieg bedeutete, der Glaube, dass Deutschland gerettet werden könne, die Beschäftigung mit dem amerikanischen Antisemitismus, der die Mobilisierung Amerikas für den Krieg behindern konnte, und schließlich die Ansicht, dass der N ­ ationalsozialismus

22 23

William L. Shirer, Berlin Diary: The Journal of a Foreign Correspondent, 1934–1941, New York 1941, S. 84 f. Vgl. John Gunther, Inside Europe, New York 1937.

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»eine Krankheit mit mehr als nur deutschen Wurzeln« war – das in klarem Gegensatz zu Shirer, Mowrer und dem ersten Anschein nach auch Kolnai.24 Innerhalb der USA wurden die journalistischen Portraits des neuen Deutschland durch jüdische Gruppen und linke politische und gewerkschaftliche Organisationen unterstützt, von denen einige Kontakte zur Opposition in Deutschland hatten. Trotz stimmiger Berichterstattung und bemerkenswerter Einsichten vermittelten die Auslandskorrespondenten jedoch kein einheitliches Bild des National­sozialismus, das in Kriegszeiten zum leicht verdaulichen Feindbild etwa der Deutschen als Hunnen hätte werden können. Deshalb beklagten die Journalisten und antinazistischen Aktivisten während der 12 Jahre des Deutschen Reiches die anhaltende Kluft zwischen ihren eigenen Berichten und dem Bild Nazideutschlands, wie es sich auf der anderen Seite des Atlantik darstellte. Seit März 1933 wurden Städte wie New York zu Zentren antinazistischer Proteste, Boykotte und Massendemonstrationen. Im folgenden Jahr wurde, initiiert von religiösen, politischen und Gewerkschaftsführern, ein Scheinprozess im Madison Square Garden gehalten, der die deutsche Regierung für Verbrechen gegen die Zivilisation anklagte. Abscheu und Empörung der Amerikaner gegenüber dem Dritten Reich erreichten 1938 mit Hitlers Forderungen an die Tschechoslowakei und dem Novemberpogrom sowie den ersten Deportationen ihren Höhepunkt. Neben anderen ist es dem CBS-Radioberichterstatter H. V. Kaltenborn und seinen mehr als 100 Berichten in 18 Tagen von der Münchener Krise im September 1938 zu verdanken, dass sich viele Amerikaner der europäischen Ereignisse bewusst waren, jedoch unentschieden blieben, was ihr Land tun sollte. 70 Prozent der Amerikaner empfanden den Kriegseintritt der USA während des Ersten Weltkrieges als Fehler. Gleichzeitig waren jedoch 73 Prozent davon überzeugt, das ein neuer Krieg kommen werde, für dessen Ausbruch Deutschland verantwortlich sein würde.25 Umfragen zeigten, dass eine ständig wachsende Zahl der Amerikaner vom kriminellen Charakter des deutschen Regimes überzeugt war und seine Politik verurteilte. Befragt nach ihrer Meinung zum Münchener Abkommen, empfanden 41 Prozent die Bemühungen der Westmächte um Vermittlung als Fehler, 60 Prozent fürchteten, dass dieses Abkommen einen Krieg nicht verhindern würde. 77 Prozent sahen die deut-

24 25

Vgl. Dorothy Thompson to Tom Lamont, 1 October 1941 (Box 1, Series II, Thompson Papers, George Arents Research Library, Syracuse University, New York [DT Papers]) sowie Hoenicke Moore, Enemy, S. 52–60. Vgl. George H. Gallup, The Gallup Poll: Public Opinion, 1935–1971, Band 1 (1935–1948), New York 1972, S. 65, 137; Hadley Cantril/Mildred Strunk (Hg.), Public Opinion, 1935–1946, Princeton 1951, S. 201, 203.

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sche Besetzung des Sudetenlandes als ungerechtfertigt, und schließlich glaubten 92 Prozent nicht an Hitlers Zusage, dass er keine weiteren territorialen Forderungen stellen werde.26 Die Mehrheit der Amerikaner wollte keine Aus­ einandersetzung mit den Deutschen, zugleich befürchteten sie jedoch, dass diese unvermeidlich sein würde.27 Die heftigste öffentliche Reaktion gegen Deutschland wurde jedoch durch den Novemberpogrom von 1938 ausgelöst: Überwältigende 94 Prozent verurteilten die Ausschreitungen. Die Frage nach der »Behandlung der Juden durch die Natio­nalsozialisten in Deutschland« wurde jedoch zusammen mit der Frage nach der »Behandlung der Katholiken durch die Nationalsozialisten in Deutschland« gestellt, worauf ebenfalls 97 Prozent mit Kritik reagierten. Diese Formulierung zeigt die strategische Fehlinterpretation des nationalsozialistischen Anti­semitismus als Ausdruck von einer unter anderen antireligiösen Stimmungen im Dritten Reich. Diese Strategie hatten amerikanische antinazistische Aktivisten einschließlich der jüdischen Non-Sectarian Anti-Nazi League bereits früher eingeführt. Sie wurde von der amerikanischen Agentur für Propaganda während des Kriegs, dem Office of War Information (OWI), später fortgesetzt.28 In seinem Werk »Der Krieg gegen den Westen« mochte Kolnai andere Gründe gehabt haben, die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für die nationalsozialistische Weltanschauung herunterzuspielen. Er hätte jedoch verstanden, dass diese eher pragmatische Strategie, die auf ein breiteres Publikum zielte, ebenfalls universelle Werte unterstützte. Wenn man berücksichtigt, dass das die Blütezeit des amerikanischen Antisemitismus war, schien es einfach nicht ratsam, ja wäre es sogar kontraproduktiv gewesen, zugunsten einer bestimmten Minderheit zu argumentieren. Später hob die amerikanische Kriegspropaganda den Universalismus der Kriegsziele des Westens hervor, so wie es Kolnai 1936 und 1938 empfohlen hatte – aus Angst, dass ein besonderer Fokus auf die Juden die allgemeine Wirkung einschränken würde.29

26 27 28 29

Vgl. Gallup, Poll, S. 112, 121, 179; sowie Cantril, Opinion, S. 781. Vgl. Susan Brewer, Why America Fights. Patriotism and War Propaganda from the Philippines to Iraq, New York 2009, S. 93. Vgl. Gallup, Poll, S. 128; Hoenicke Moore, Enemy, S. 57–60., S. 152 f. Vgl. Kolnai, Krieg, S. 51–54, 698–700. Zum Ursprung von Kolnais Verpflichtung auf den westlichen Universalismus vgl. seine Political Memoirs, S. 25–28. Dazu, wie der amerikanische Antisemitismus die amerikanische Mobilisierung und Rettungsbemühungen behinderte vgl. Richard Breitman/Allan J. Lichtman (Hg.), FDR and the Jews, Cambridge 2013. Zur Idee, dass westliche universelle Werte, wiedererstarkt durch die Konfrontation mit dem Nationalsozialismus, die amerikanischen Nachkriegspläne während des Kriegs prägten, vgl. Elizabeth Borgwardt, A New Deal for the World: America’s Vision for Human Rights, Cambridge 2007.

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Die amerikanische Rezeption von »Der Krieg gegen den Westen«: Kolnai als Vansittartist Das ist der Kontext, in dem Kolnais Buch veröffentlicht wurde. In der Oktoberausgabe 1938 von »The Nation« begrüßte der jüdisch-amerikanische Nationalis­ musforscher Hans Kohn Kolnais Buch als »den ersten zusammenfassenden Überblick der nationalsozialistischen Ideologie als Konterrevolution gegen den Westen auf Englisch«. Er wünschte dem Buch emphatisch eine »weite Verbreitung«, obwohl er die Bemerkung nicht zurückhalten konnte, dass »sich der durchschnittliche Leser […] an manchen Stellen eine Verdichtung gewünscht hätte, während der akademische Leser detailliertere Bezüge vermissen«30 würde. Einige Monate später schrieb Carl Joachim Friedrich, der spätere Autor von ­»Totalitarian Dictatorship and Autocracy« (1956), in der »Review of Politics«: »Obwohl man mit der leidenschaftlichen Kritik der nationalsozialistischen Doktrin sympathisiert, ist Kolnais Vorgehen selbst auch kritikwürdig«, da es »den tieferen moralischen Problemen, um die es hier geht, nicht gerecht wird« und es ihm sowohl an Verständnis als auch an Tiefe mangelt«. Friedrichs Hauptkritik war jedoch, dass Kolnai »seine Behandlung des Nationalsozialismus in den Rahmen oberflächlicher und überholter Propagandasprüche stellt und dadurch fast auf das Niveau der Naziliteratur zum Liberalismus herabsinkt«.31 Die meisten anderen amerikanischen Besprechungen von »Der Krieg gegen den Westen« schlossen sich Kohn und nicht Friedrich an, und tatsächlich hoben alle lobend die Bedeutung des Buches als Warnung vor und Zurückweisung einer Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Nationalsozialismus hervor.32 Kolnai habe, in den Worten einer anderen Besprechung, die Einzigartigkeit und Vitalität der nationalsozialistischen Ideologie hervorgehoben, ihren »absoluten Gegensatz zur liberalen Zivilisation des Westens«, ihre tiefen Wurzeln in der deutschen Geschichte und dem deutschen Geist. Ebenso herausgestellt wurden die akute Kriegsgefahr, die vom Nationalsozialismus ausgehe, und die Vergeblichkeit von Zugeständnissen sowie die Starrköpfigkeit der westlichen kollektiven Selbstzwei-

30 31

Hans Kohn, The Spirit of Nazism. In: The Nation vom 1.10.1938, S. 329 f. C. J. Friedrich, Rezension zu Aurel Kolnai, The War Against the West. In: The Review of Politics vom 1.1.1939, S. 101. 32 Kolnais »Political Memoirs« und Dunlops »Life and Thought« beschreiben die Netzwerke bereits etablierter Emigranten, die zusammenarbeiteten mit amerikanischen Gegnern des Nazismus, Befürwortern des Interventionismus unter den Eliten, die Flüchtlingen halfen, in die USA zu kommen und dort Arbeit zu finden und dann der Kampagne der Interventionisten anzuschließen. Vgl. z. B. Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner: Leben und Werk im amerikanischen Exil, Frankfurt a. M. 2011; sowie Lewis Mumford, My Works and Days. A Personal Chronicle, New York 1974.

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fel am Versailler Vertrag, der Demokratie und dem Völkerbund, die häufig von Appellen zu einer Modifizierung der Vereinbarungen begleitet waren.33 Ich habe Friedrichs Besprechung ausgewählt, da sie illustriert, wie Kolnai einer besonderen Sicht des Deutschen Reichs zugeordnet wurde, die abwertend Vansittartismus genannt wird nach dem hochrangigen britischen Diplomaten Robert Lord Vansittart.34 Ihre wichtigste These war, dass der Nationalsozialismus auf besondere Weise deutsch sei und dass er weit zurückreichende und tiefe Wurzeln in der deutschen Kultur und Geschichte habe, was häufig mit langen Zitaten belegt wird, die sich auch in Kolnais Buch finden. Amerikanische Anhänger des Vansittartismus, eine bunte Gruppe von einfluss­ reichen Journalisten, Kommentatoren und Politikern, zu der privat auch Franklin D. Roosevelt gehörte, machten einen historischen Trend des deutschen militaristischen aggressiven Verhaltens aus und bestanden auch darauf, dass es eine starke öffentliche Unterstützung für die außenpolitischen Ziele, das Rassendenken und den extremen Nationalismus der Nationalsozialisten gebe. Die Vansittartisten argumentierten, dass tatsächlich etwas nicht stimme mit den Deutschen.35 Um ihre zentrale These zu begründen, griffen die Vansittartisten auf den Mythos von einem deutschen Sonderweg zurück, der ursprünglich positiv besetzt war, und argumentierten, dass es in der Tat weit zurückreichende und tiefe Wurzeln für einen deutschen Überlegenheitskult gebe.36 Um die Aussage zu bekräftigen, dass Nazismus Krieg bedeute und Deutschland eine Bedrohung der westlichen Zivilisation sei, kam der Vansittartismus auch auf das vor dem Ersten Weltkrieg geprägte Feindbild der Reichsdeutschen als Hunnen zurück. C. J. Friedrich fand diesen Aspekt höchst kritikwürdig und widmete einen Großteil seiner Besprechung von Kolnais 700-seitigem Buch Wickham Steeds sieben Seiten umfassender Einleitung, die eine solche Kontinuität herausstellt. 33

Vgl. Richard H. Heindel, Rezension zu Aurel Kolnai, The War against the West. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science, 200 (1938), S. 314 f., hier 314; Oscar Jászi, Rezension zu Aurel Kolnai, The War Against the West. In: American Political Science Review, 32 (1938) 6, S. 1166 f., hier 1166. Zur lebenslangen Freundschaft zwischen Kolnai und Jászi, vgl. Dunlop, Life and Thought. 34 Vgl. Jörg Später, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis, 1902–1945, Göttingen 2003. 35 Die Vansittartisten hatten ebenfalls ernsthafte Bedenken gegenüber dem Begriff »das andere Deutschland«, also einem gebildeten, liberalen, demokratischen Deutschland. Sie bestritten nicht, dass es solche Deutsche gab, bezweifelten jedoch deren Wirksamkeit. Vgl. Hoenicke Moore, Enemy, S. 247 f. 36 Journalisten wie Mowrer und Shirer hatten diese Sicht seit den 1930er-Jahren geprägt. Die Gesellschaft zur Verhinderung eines Dritten Weltkriegs unterstützte diese Interpretation sehr wirkungsmächtig gegen Ende des Krieges. Präsident Roosevelt, der das vansittartistische Buch »Black Record« seinem Koordinator für psychologische Kriegsführung, Bill Donovan, empfohlen hatte, teilte privat insbesondere die Annahme, dass das deutsche Volk tief in die Verbrechen des Naziregimes verstrickt sei. Vgl. Hoenicke Moore, Enemy, S. 116–120, 256–258.

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Ungeachtet ihrer Attraktivität als Feindbild blieb die vansittartistische Darstellung des Dritten Reichs in den Vereinigten Staaten umstritten und wurde sogar bis 1944 scharf kritisiert. Offensichtlich waren zahlreiche Amerikaner einschließlich politischer Experten und öffentlicher Intellektueller nicht bereit, die Deutschen des Dritten Reichs als »die anderen« zu sehen, sodass das vansittartistische Argument empörte Gegenargumente provozierte. Der häufigste Vorwurf an die Vansittartisten war, wie wir an Friedrichs Besprechung sehen, ­ arstellung »auf eine umgekehrte Form von Hitlers Rassentheoridass diese D en« hinauslief und dass die Vansittartisten »über die Deutschen in nahezu der gleichen Weise redeten, wie die Nationalsozialisten über die Juden«.37 Dieses selbstkritische Bestehen darauf, sich anders als der Feind zu verhalten, war beim amerikanische Publikum ebenso wie in offiziellen Erklärungen während des Krieges weit verbreitet. Um eine wichtige Variante der amerikanischen Ablehnung des Vansittartismus zu beleuchten, möchte ich mich jetzt der deutsch-jüdischen sozialistischen Politikerin, ehemaligen Pazifistin und Emigrantin Toni Sender zuwenden. Sender war 1933 nach einer persönlichen Todesdrohung durch die Nationalsozialisten aus Deutschland geflohen. Seit 1939 hatte sie sich für einen amerikanischen Kriegseintritt eingesetzt, und wenig später begann sie für die Regierung Roosevelt zu arbeiten. Was Deutschland betraf, hatte sie kaum Illusionen, wies jedoch seit 1942 den Vansittartismus mit der Begründung zurück, dass dann, wenn man Deutschland als »hoffnungslosen Fall« und »angeborene Barbarei« betrachte, die Demokratien der westlichen Welt keine Lösung dieses Falls anzubieten hätten. Sie argumentierte, dass »die Demokratie darauf gegründet ist, an den Mann von der Straße zu glauben, während der Faschismus an die dauernde Ungleichheit der Individuen und Nationen glaubt. Zwischen diesen beiden Alternativen muss sich jeder von uns entscheiden. Niemand kann gleichzeitig beiden Lagern angehören.«38 Auch wenn sich diese beiden deutschsprachigen, mitteleuropäischen, jüdischen, antinazistischen Emigranten, die sich für eine Intervention aussprachen, in ihren politischen Zugehörigkeiten unterschieden, zeigen Kolnais und Senders Schriften dieser kritischen Jahre die Zustimmung beider zum westlichen Universalismus, die ihnen wichtiger war als parteiische Zuschreibungen.

37 38

Malcolm Cowly, Vansittartism. In: The New Republic, 109 (1943) 17, S. 586–588, hier 586. Vgl. Toni Sender, Is Germany a Hopeless Case? In: Jewish Frontier, 9 (August 1942), S. 19 f.

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Kolnais Vorwegnahme der US-amerikanischen Strategie und Rhetorik der Kriegszeit 1940 waren die durch interventionistische Gruppen initiierten Bemühungen zur Mobilisierung in den USA, durch die europäische Emigranten innerhalb und außerhalb der Regierung in wichtige Positionen gerückt sind, zweigleisig. Sie schlossen die militärische Vorbereitung ein, waren jedoch auch an einfache Amerikaner adressiert. Während der deutschen Siege dieses Jahres warnte Dorothy Thompson, zu dieser Zeit Teil der hinter den Kulissen laufenden Bemühungen der Regierung, Unterstützung für eine aktivere Politik zu bekommen: »Es scheint keinen anderen Weg zu geben, den Übermenschen aus Stahl zu widerstehen, als nachzuweisen, dass diejenigen von uns, die das ganze Geschäft (des Krieges) verabscheuen, dennoch und gegen ihre Vernunft, ihren Geschmack und ihren Verstand diese auf ihrem eigenen Feld schlagen.«39 Ihr Ruf zu den Waffen berührte zwei fundamentale Grundsätze des interventionistischen Glaubensbekenntnisses, die Kolnai in seiner Zusammenfassung in »Der Krieg gegen den Westen« vorweggenommen hatte: Der Nationalsozialismus musste sowohl militärisch als auch ideologisch bekämpft werden. »Man kann eine Idee nicht dadurch bekämpfen, dass man denjenigen, der sie vertritt, tötet«,40 schrieb ein anderer Berater von Roose­velt. Der Westen und insbesondere die Vereinigten Staaten mussten sich etwas anderes einfallen lassen und eine attraktivere Nachkriegsvision bieten – eine, die der nationalsozialistischen »geistigen Größe und Relevanz« gewachsen war und diese noch übertraf, wie Kolnai gefordert hatte.41 In Übereinstimmung mit den amerikanischen Vansittartisten und gegen das vorherrschende amerikanische Verständnis der Ursprünge des Dritten Reiches widersprach Kolnai der Idee, dass Versailles oder sozioökonomische Entbehrungen Hitler hervorgebracht hätten: »Selbst heute noch sehe ich die hauptsächliche Gefahr in der berühmten Theorie der Habenichtse, ihrer engstirnigen Simplizität und billigen Großzügigkeit, hinter der sich Selbstgefälligkeit und Arroganz verbergen. Als ob das dämonisch Böse tatsächlich das Produkt ungerechter Beschränkung wäre und durch großzügige Zuwendungen hätte verhindert werden können.«42

39 40

Dorothy Thompson, The Nazis [ms.], no date [1940] (Box 5, Series VII, DT Papers). Attachment (Stanley P. Lovell) to note by Basil O’Connor to FDR, 31 May 1941 (PPF 1820, Box 5 1941, FDR-P, FDR-L). 41 Vgl. Kolnai, Krieg, S. 45 f. Im Gegensatz zu den meisten Emigranten, die Roosevelt verehrten, bezweifelte Kolnai, dass die amerikanische liberale Demokratie unter Roosevelt eine solche Vision entwickeln könne. Vgl. Joachim Radkau, Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluss auf die amerikanische Europapolitik, 1933–1945, Düsseldorf 1971. 42 Kolnai, Krieg, S. 690 f. Für eine populäre sozioökonomische Erklärung des Nationalsozialismus vgl. Benjamin Alpers, Dictators, Democracy and American Public Culture: Envisioning the Totalitarian Enemy, 1920s–1950s, Chapel Hill 2003.

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Später, während der US-amerikanischen Debatte über den Nationalsozialismus zur Zeit des Krieges wurden die Psychologie, die Psychiatrie und andere Verhaltenswissenschaften bemüht, um zu erklären, was sich der Vernunft oder der Erklärung entzog, wie übereinstimmend formuliert wurde. Wie Horace ­Kallen 1943 schrieb: »Besonders seit Hitlers Machtübernahme haben die Behauptungen und Praktiken der Apostel des Deutschtums etwas jenseits des gesunden Menschenverstands und des allgemeinen Anstands enthalten, etwas so Unglaubliches, dass für viele nur als Werk bösartiger Propagandisten vorstellbar war. Diejenigen auf der anderen Seite, die seine Existenz anerkennen, finden die üblichen religiösen, ökonomischen und politischen Kategorien der Interpretation unzureichend, um dieses unglaubliche Element zu begreifen.«43

Nur wenige amerikanische Kommentatoren waren bereit, die Grenzen des sozialwissenschaftlichen Diskurses zu überschreiten und auf eine ­transzendente Sphäre zu verweisen, um den Nationalsozialismus z. B. als Ausdruck des Bösen zu erklären, wie das Kolnai getan hatte. Eine Ausnahme war Vizepräsident Henry A. Wallace, ein wichtiger Befürworter einer fortschrittlichen Vision der Nation und der Welt und auch des Krieges gegen den Nationalsozialismus, der das Dritte Reich in einer berühmten Rede im Mai 1942 als Heidentum charakterisierte, woraus später ein Propagandafilm mit dem Titel »Das Jahrhundert des gemeinen Mannes« wurde. Wallace prophezeite, dass das amerikanische Volk »die altertümlichen teutonischen Götter in ihre Höhlen zurückzwingen würde. Die Götterdämmerung kam für Odin und seine Leuten.« Für Wallace waren die Deutschen nicht nur gottlos, sondern ein Werkzeug des Teufels: »Mithilfe der Führer der nationalsozialistischen Revolution versucht der Teufel jetzt, die einfachen Menschen der ganzen Welt in die Sklaverei und Finsternis zurückzuführen.« Wallace stellte die Deutschen als »geistig und politisch heruntergekommene Strohmänner dar, die meinen, dass sie nur dadurch mit der Welt ins Reine kommen, dass sie andere Menschen geistig und politisch erniedrigen. Diese Handlanger sind wirklich psychopathische Fälle. Der Teufel hat die Verrückten auf uns losgelassen.«44 Bevor wir uns den verbleibenden Elementen von »Der Krieg gegen den Westen« zuwenden, in denen sich die amerikanische Kriegspolitik und -rhetorik andeutet, müssen wir noch einmal einen Schritt zurücktreten und uns

43 Kallen, What Shall We Do With Germany?, S. 4. 44 Die Rede von Henry A. Wallace ist wiederabgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Band 1, Frankfurt a. M. 1986, S. 255–257. Kolnais Hoffnung am Ende von »Der Krieg gegen den Westen«, dass die »freie Menschheit« auf »dem Vormarsch« sei, zeigt seine frühzeitige Erkenntnis, die fast zehn Jahre später zum Schlüsselthema von Henry Wallace’ »March of freedom«-Rede wird. Vgl. Kolnai, Krieg, S. 691.

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den schweren Kampf vor Augen führen, den Kolnai, andere Emigranten, interventionistische Gruppen und die Roosevelt-Regierung führten. Während der 1930er- und 1940er-Jahre schienen zu ihrer Bestürzung viele Amerikaner bereit, die Idee zu akzeptieren, dass es Diktaturen und sogar totalitäre Diktaturen in dieser Welt gab, ohne dass ihr Land etwas gegen sie unternehmen musste. Um ein durchschnittliches Beispiel eines solchen nicht-interventionistischen Ansatzes gegenüber internationalen Krisen zu nehmen, der die Philosophie des Lebens und Leben-Lassens vertrat, möchte ich den bekannten Historiker Will Durant zitieren, der 1938, also in dem Jahr, als Kolnais Ruf zu den Waffen erschien, schrieb: »Demokratie, Kommunismus und Faschismus sind lediglich Formen, in denen verschiedene Völker unter unterschiedlichen Bedingungen organisiert wurden, um ähnliche Ziele auf unterschiedliche Weise zu verfolgen. Sie sind das Ergebnis unterschiedlicher geografischer und historischer Bedingungen, und nicht nationaler Tugenden oder Mängel. […] Nur Unbedarfte können in diesen verschiedenen Formen politischer und industrieller Organisation eine Grund sehen, in den Krieg zu ziehen.«45

Während so Roosevelts Regierung die nationalsozialistische Ideologie als Gegensatz zu den amerikanischen Werten definierte und in einem anderen, aber damit zusammenhängenden Argument Hitlers außenpolitische Ziele als Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA darstellte, wurde ihre Mobilisierungskampagne ebenso wie andere frühe pro-interventionistischen Bemühungen durch eine Reihe politischer, ethnischer und kultureller Faktoren behindert, die zugunsten des deutschen Feindes wirkten und den wahren Charakter des Naziregimes in der amerikanischen öffentlichen Wahrnehmung verschleierten. Dazu gehörten der Schock über die Gemetzel des Ersten Weltkriegs und die Ernüchterung gegenüber dem Wilsonianismus und der missionarischen, auf Kreuzzüge setzenden Richtung amerikanischer Außenpolitik, die darauf zielte, die Welt durch militärische Interventionen sicherer für die Demokratie zu machen. Diese Gegenreaktion auf den Großen Krieg und die amerikanische Intervention verursachte einen beispiellosen Glaubensverlust in den Krieg als politisches Mittel, ein weit verbreitetes Gefühl, das Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen« und seinem unterdrückten »Pazifismus bedeutet Selbstmord« mit eindringlichen Worten zu entkräften versuchte.46

45 46

Will Durant, No Hymns of Hatred. In: Saturday Evening Post vom 4.6.1938, S. 23, 48 f., 51 f. Gallup, Poll, S. 65, 137; Kolnai, Krieg, S. 693; Dunlop, Life and Thought, S. 164. Dass der protestantische Theologe und Interventionist Reinhold Niebuhr Kolnai gegen den Pazifismus und für einen Krieg gegen das Dritte Reich unterstützen würde, kam nicht überraschend. Vgl. Andrew Preston, Sword of the Spirit, Shield of Faith: Religion in American War and Diplomacy, New York 2012, S. 297–314.

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Faktoren, die zum »falschen Schlummerlied der B ­ eschwichtigungspolitik« geführt haben Während der 1930er-Jahre mit einem Höhepunkt während der sogenannten großen Debatte 1938 bis 1941 waren die Amerikaner politisch und ideologisch mit sich selbst im Krieg, bevor sie in den Zweiten Weltkrieg eintraten.47 Skepsis und Ungläubigkeit zu Hause standen der beeindruckenden journalistischen Behandlung des Dritten Reiches in einigen kritischen Punkten gegenüber. Zu Beginn der nationalsozialistischen Revolution gab es verständnisvolle Überlegungen, ob nicht ein starker Führer oder eine Diktatur in einigen Fällen besser wären als scheiternde Demokratien.48 Mit Bezug auf Berichte über die Verfolgung politischer Gegner und Juden gab es Zweifel, ob es wirklich so schlimm war wie berichtet. Gegen Ende des Jahrzehnts, als der Krieg in Europa ausbrach, ging es in der großen Debatte darüber, ob die Vereinigten Staaten in diesen Krieg ­eintreten sollten, vor allem um die Frage der Kriegsziele des Nationalsozialismus. Die Behauptung, dass Hitler vorhabe, den Westen anzugreifen und dass er nach der Weltherrschaft strebe, sahen viele Amerikaner als unrealistische Übertreibung Roosevelts und anderer »Kriegstreiber«. 1940, im Jahr der ersten amerikanischen Mobilmachung in Friedenszeiten, in dem ein Präsident seine dritte Wiederwahl anstrebte, was es so noch nicht gegeben hatte, warfen republikanische Führer wie Robert Taft und Herbert Hoover nicht Hitler, sondern Roosevelt Totalitarismus vor und beschuldigten ihn, ein Diktator zu sein. Auf ihrem Parteitag trugen die Republikaner Plaketten mit der Aufschrift »Drittes Reich. Dritte Internationale. Dritte Amtszeit« und setzen damit den Nationalsozialismus mit dem Kommunismus und Roosevelts New Deal gleich.49 Auf dem Parteitag der Demokraten forderte Roosevelt seinerseits die Amerikaner auf, Hitler beim Wort zu nehmen. Und wie Kolnai einige Jahre früher widmete sich Roosevelt dem Thema des unvereinbaren Gegensatzes zwischen dem Nationalsozialismus und dem Westen. Er forderte die Amerikaner auf, sich die fundamentale Entscheidung bewusst zu machen, vor der sie standen: »Regierung des Volkes oder Diktatur, […] Freiheit oder Sklaverei, […] Religion oder Gottlosigkeit; das Ideal der Gerechtigkeit oder die Politik der Gewalt; moralischer Anstand oder das Erschießungskommando; der Mut, offen zu reden und zu handeln oder das falsche Schlummerlied der Beschwichtigungspolitik.«50 Bemerkenswert an dieser 47 Vgl. Michaela Hoenicke Moore, The Idea of the Dictator and Totalitarianism in the 1930s. In: Nancy Beck Young (Hg.), Oxford Handbook of the New Deal, New York (im Druck). 48 Vgl. Alpers, Dictators, Democracy and American Public Culture. 49 Vgl. Hoenicke Moore, Idea of the Dictator. 50 Radio Address to the Democratic National Convention in Chicago, Illinois, from the White House vom 19.7.1940. In: Samuel I. Rosenman (Hg.), Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, Vol. 9, New York, S. 293–302, hier 302.

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Wahlkampfrede sind drei Formulierungen: das wiederkehrende Thema »Freiheit oder Sklaverei«, ein Leitmotiv der politischen Rhetorik amerikanischer Außenpolitik; die Betonung der Religion als wichtigem Element liberaler Demokratie und die Entgegensetzung von Handeln und Beschwichtigung, mit der Roosevelt den äußeren Feind in Beziehung zur amerikanischen Kritik seiner Politik setzte. Fünf Monate später zitierte der Präsident während eines Gesprächs am Kamin aus Hitlers jüngster Rede, in der er von den »zwei Welten, die sich gegenüberstanden und von denen eine auseinanderbrechen müsse«,51 sprach. Mit Befriedigung stellte Roosevelt fest, dass »die Achsenmächte nicht nur zugeben, sondern ausdrücklich erklären, dass es letztlich keinen Frieden zwischen unserer und ihrer Philosophie des Regierens geben kann«.52 Ein letzter Faktor, der dem Ruf zu den Waffen von Kolnai und anderen entgegenstand, war der weitverbreitete amerikanische, kulturell und ethnisch bedingte gute Wille gegenüber dem deutschen Volk selbst. Die meisten Amerikaner dachten während der 1930er- und 1940er-Jahre, dass die Deutschen »wie wir« sind. Die einfache sprachliche Unterscheidung zwischen den Nazis und den Deutschen diente dazu, die Deutschen aus Gründen ethnischer Solidarität, kultureller Nähe, Ähnlichkeit in der Religion und liberalen Bedenken zu entschuldigen. Einem Monat, nachdem Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, stimmten 66 Prozent der Amerikaner in einer Umfrage der Aussage zu, »dass das deutsche Volk im Wesentlichen friedliebend und freundlich ist, aber leider zu oft von skrupellosen und machtgierigen Führern in die Irre geleitet wurde«. Nicht einmal 20 Prozent (19,6) stimmten der entgegengesetzten Behauptung zu, dass »das deutsche Volk schon immer eine nicht unterdrückbare Vorliebe für brutale Gewalt und Eroberung hatte, die das Land zu einer Bedrohung für den Weltfrieden macht, solange es ihm erlaubt wird, stark genug zu sein, um zu kämpfen«.53 Andere Umfragen bestätigten dieses Bild: Eine große Mehrheit der Amerikaner unterschied einfach zwischen einem im Wesentlichen anständigen deutschen Volk, das wahrscheinlich zum Opfer schlechter Führer geworden sei. Diese Unterscheidung zwischen dem Volk und der Regierung spiegelte eine seit Langem geschätzte liberale Tradition der amerikanischen Demokratie wider und war zugleich Ausdruck ethnischer Präferenzen.54 51 Hitlers Rede vom 10.12.1940. Zit. in: The New York Times Magazine vom 25.5.1941, S. 26. 52 Department of State, Peace and War: United States Foreign Policy, 1931–1941, Washington 1943, S. 599–608, hier 600. 53 Gallup, Poll, S. 500. 54 Gallup and Fortune Polls. In: Public Opinion Quarterly, 4 (March 1940), S. 94, 96, 99. In Meinungsumfragen stand Deutschland regelmäßig mit an der Spitze derjenigen Länder, die die Amerikaner mochten oder denen sie sich nahe fühlten. Vgl. Thomas A. Baily, The Man in the Street: The Impact of American Public Opinion on Foreign Policy, New York 1948, S. 224 f.; sowie Quincy Wright, A Study of War, Chicago 1942, S. 1241–1260.

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Während des Krieges prägten diese Faktoren auch, wie das United States Office of War Information (OWI, das Amt für Kriegsinformationen der Vereinigten Staaten) das Dritte Reich darstellte: Der Feind war die Ideologie, nicht das Volk. Dadurch passte sich das OWI der öffentlichen Meinung eher an, als dass es sie herausforderte.55 Das OWI verfolgte auch die Strategie, die Nazis für sich selbst sprechen zu lassen und sich dadurch zu diskreditieren. Das beste Beispiel dafür war Lidice. Die Bedeutung dieser Strategie hatte sich jedoch verändert: In den 1930er-Jahren, als Kolnai und andere frühe explizite Kritiker des Nationalsozialismus direkt Reden und Schriften der Nazis zitierten, nahmen sie diese damit beim Wort.56 Sechs Jahre später, während des Krieges, war es vor allem ein wirksames Propagandamittel, die Nazis selbst sprechen zu lassen. Zum Beispiel war der »Nazi Guide to Nazism«, 1942 herausgegeben von Robert Tell, einem britischen antinazistischen Journalisten, den Kolnai zitierte, und veröffentlicht vom amerikanischen Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten, voll von enthüllenden Zitaten bedeutender und weniger bedeutender Nationalsozialisten zu jedem nur vorstellbaren Thema von der Familie bis zu den Kolonien. Eine Besprechung vom Januar 1943 in der Zeitschrift »Foreign Affairs« kommentierte: »Wenn Lächerlichkeit tödlich wäre, wäre der Nazismus jetzt schon ausgerottet.«57

Zusammenfassung Es ist für uns schwierig, das an Verzweiflung grenzende Gefühl der Dringlichkeit nachzuvollziehen, das diejenigen erfasst hatte, die die Nationalsozialisten beim Wort nahmen. Deutschlands totale Niederlage ebenso wie Amerikas spätere Rolle im Kalten Krieg versperren uns den Blick für den mühseligen Kampf, den Kolnai und andere gegen die sogenannte Appeasement-Politik führten, also die tiefe Verpflichtung auf den Pazifismus, den guten Willen im Allgemeinen und die Toleranz für eine Welt unterschiedlicher Ideologien.58 Auch der Vertrauensverlust in die als krank wahrgenommene liberale Demokratie, der die westliche Welt tief

55 Vgl. Hoenicke Moore, Enemy, S. 105 f., 131–155. 56 Vgl. Später, Vansittart, S. 439, 447 f. 57 Rolf Tell, Nazi Guide to Nazism, rezensiert von Robert Gale Woolbert (https://www.foreign­ affairs.com/reviews/capsule-review/1943-01-01/nazi-guide-nazism, 26.6.2016). 58 Vgl. Kolnai, Krieg, S. 696 f.; vgl. auch Hans J. Morgenthau, »The Resurrection of Neutrality in Europe«. In: American Political Science Review, 33 (1938) 3, S. 483 f. Darin wurde Kolnais Krieg gegen den Westen zitiert, und zwar insbesondere in den Kapiteln 1, 3, 6, 8, 9. Der realistische Experte für internationale Beziehungen schrieb über die »ethisch-rechtlichen Abgrenzungen der Sphäre des Politischen«, in denen die internationalen Beziehungen einschließlich von Kriegen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert stattfanden, die nun »durch totalitäre politische Philosophien und Praktiken der vergangenen Jahre beiseite gewischt« würden.

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erschüttert hatte, ist nach dem Triumphalismus des Zweiten Weltkriegs und dem Kalten Krieg nur schwer nachzuvollziehen, jedoch der Hintergrund von Kolnais lyrischer Ode an die Entente und die »Seele des Westens«, also die Demokratie, mit der Forderung, das »eigene Leben der neuen Erfahrung, Wiederherstellung und Erneuerung der westlichen Demokratie zu widmen«.59 Das Bestehen Kolnais und anderer liberaler Interventionisten darauf, dass die Vereinigten Staaten auf Hitlers Reich mit einer besseren Vision für die Nachkriegszeit antworten müssten, wurde verwirklicht, wenn auch wahrscheinlich nicht vollständig so, wie Kolnai sich das vorgestellt hatte.60 Die amerikanische Nazismusdebatte regte die Planungen einer neuen multilateralen, kooperativen, internationalen Ordnung an und schloss eine erweiterte und gestärkte Agenda der Menschenrechte und staatliche Unterstützung für den ökonomischen Wiederaufbau als Mittel zur Beförderung demokratischer Haltungen ein. Das Versprechen des New Deal, die liberale Demokratie und den sozialen Wohlfahrtskapitalismus zu bewahren, wurde mit dem Eintritt der USA in den Krieg erfüllt.61 Es ist angemessen, diese Überlegungen darüber, wie »Der Krieg gegen den Westen« in die amerikanische Nazismusdebatte passte, mit einigen Bemerkungen darüber abzuschließen, wie sich das Buch in Kolnais politisch-moralisches Universum einordnet. Seine Sensibilität als Phänomenologe und Moralphilosoph, die ihn dazu befähigte, in den 1930er-Jahren vorausschauend und effektiv Alarm zur Verteidigung der westlichen Demokratie zu schlagen, ermöglichte es ihm auch, die philosophisch-psychologischen Fundamente der liberalen, kapitalistischen Ökonomie in den Nachkriegsjahrzehnten zu untersuchen, als geopolitische Ängste und der westliche, insbesondere amerikanisch-ideologische Triumpha­lismus die liberale Demokratie und den Kapitalismus als fraglos überlegen darstellten. Während sich Kolnais Analyse des Nationalsozialismus schließlich als politisch brauchbar für die westliche Demokratie erwies, führte seine fortgesetzte kritische Auseinandersetzung mit allen Formen des politischen utopischen Denkens dazu, dass er sich im Gegensatz zum vorherrschenden westlichen politischen Denken nach 1945 befand.62

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Kolnai, Krieg, S. 700. Vgl. Kolnai, Political Memoirs, S. 194 f., 200–202. Vgl. Kiran Klaus Patel, The New Deal: A Global History, Princeton 2016, S. 274; Elizabeth Borgwardt, A New Deal for the World: America’s Vision for Human Rights, Cambridge 2007; Ira Katznelson, Fear Itself: The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2011, S. 9, 48–51. 62 Kolnai, Political Memoirs. Einen Einblick in Kolnais politische Ansichten Ende des Zweiten Weltkriegs geben auch Dunlops Zusammenfassungen seiner nicht veröffentlichten Schriften »Liberty and the Heart of Europe« und »Three Riders of Apocalypse: Communism, Naziism, and Progressive Democracy« (1950). In: Dunlop, Life and Thought, S. 197–202, 212–220.

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Außerdem konnten seine Beiträge zur Kampagne gegen den Nationalsozialismus nun für einen anderen Krieg genutzt werden. Die Konstruktion eines totalitären Feindes, den linke Liberale inner- und außerhalb der Roosevelt-Regierung unter entscheidender Mithilfe von Emigranten wie Kolnai entwickelt hatten, um damit Nazideutschland zu kennzeichnen, wurde nach 1945 auf die S­ owjetunion übertragen. Insbesondere das Streben Nazideutschlands nach Weltherrschaft, das auf die Zerstörung der westlichen Lebensweise zielte, und die ideologische Begründung der nationalsozialistischen Politik, angesichts derer Kompromisse aussichtslos waren, ebenso wie der sich abzeichnende globale Konflikt zwischen Sklaverei und Freiheit – alle diese Kernelemente von Kolnais Analyse des Dritten Reichs und später des amerikanischen Feindbildes vom Nationalsozialismus wurden gleich nach dem Mai 1945 sowohl in internen Memoranden als auch in öffentlichen Verlautbarungen auf die Sowjetunion angewandt. Nun, da sie benutzt wurden, um die Ideologie, die Strategie und das Streben der Sowjetunion nach Weltherrschaft zu beschreiben, waren sie im amerikanischen innenpolitischen Kontext überzeugender und weniger umstritten, als in ihrer propagandistischen Charakterisierung des Dritten Reichs.63 Kolnais Buch und seine Rezeption in den Vereinigten Staaten zeigen zwei wichtige Dimensionen des antitotalitären Diskurses der 1930er- und 1940er-Jahre, der häufig als Kontinuum wahrgenommen wird, angemessener jedoch als vielschichtiger Diskurs gesehen werden sollte, in dem akademische, politische und populistische Stimmen miteinander konkurrierten. Sie zeigten darüber ­hinaus, dass die Rechts-Links-Dichotomie weniger brauchbar ist als gemeinhin angenommen wird.64 Einerseits unterstreicht der breitere Zusammenhang der Antworten auf das Dritte Reich, wie vorausahnend und scharfsinnig Kolnais Analyse war. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es für ihn und andere gewesen sein mag, vor dem Nationalsozialismus zu warnen, angesichts vordergründiger beruhigender Versicherungen, dass »alles nicht so schlimm sei«. Auf der anderen Seite wurden seit der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre eine Reihe von Quellen in die neu gegründete Politik des Anti-Appeasement und einer militanten Demokratie eingespeist, die den neuen Feind in einer Art Selbstjustiz bekämpfen

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Hoenicke Moore, Enemy, S. 348. Ebenso wurde die Idee, dass der Nazismus eine heidnische Religion sei, an der Roosevelt vor allem aus propagandistischen Gründen zeitweise ebenfalls interessiert war (ebd., S. 91), nach 1945 wiederverwendet: Der kommunistische Atheismus war ein wichtiges Thema der Propaganda während des Kalten Krieges. Und wie Kevin Kruse in »One Nation Under God. How Corporate America Invented Christian America«, New York 2015, gezeigt hat: Pastor James Fifields rechtsextreme Organisation, die sich Geistige Mobilisierung nannte, setzte ihre 10 000 Geistlichen ein, um Argumente gegen den »heidnischen Atheismus nicht etwa des Sowjetregimes in Moskau, sondern des Neuen Deal« zu verbreiten. Vgl. Hoenicke Moore, Idea of the Dictator; vgl. auch Abbott Gleason, Totalitarianism: The Inner History of the Cold War, New York 1997.

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wollten. Es gab verschiedene nationale Varianten zu diesem Thema. Im Zusammenhang der amerikanischen Außenpolitik ist ziemlich klar, dass ein spezifisch amerikanischer Antikommunismus als innenpolitische Kraft der Mobilisierung immer schon stärker war als der Antifaschismus. Aus dem Blickwinkel des frühen 21. Jahrhunderts und für den Zweck dieses Textes, der den intellektuellen Kontext der amerikanischen außenpolitischen Debatte beleuchten wollte, können Kolnais Schriften leicht als lediglich eine weitere Position missverstanden werden, deren Gegnerschaft zur Appeasement-Politik und zum Totalitarismus und der Befürwortung einer militanten Demokratie nicht nur die amerikanische Außenpolitik nach 1945 auf die problematische Linie bewaffneter Selbstgerechtigkeit gesetzt haben. Das war jedoch, so möchte ich betonen, weder Kolnais Absicht noch seine Wirkung: Nach einem kurzen Aufstieg zu einer antifaschistischen Berühmtheit geriet der Autor wieder ziemlich in Vergessenheit. Francesca Murphy bewunderte Kolnai »für seinen Misserfolg«.65 Wir sollten ihn auch für seine mangelnde Berühmtheit loben. Im Gegensatz zu anderen Husserl-Schülern wie Jean-Paul Sartre oder Martin Heidegger schlug sich Kolnai nicht auf die Seite einer modischen rechts- oder linksextremen Ideologie, sondern fuhr fort, sich außerhalb des Rampenlichts der Öffentlichkeit mit den großen gesellschaftspolitischen und ethischen Fragen auseinanderzusetzen.

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In ihrem Vorwort zu Kolnais »Political Memoirs«, S. xi, gesteht Francesca Murphy, dass sie den Philosophen bewundert »für seinen Misserfolg. Er versteht mehr von Differenz als diejenigen, die zu Hause einen marktfähigen Postmodernismus vertreten.«





Rolf Zimmermann  Aurel Kolnai und Franz Neumann: Normative Kritik und strukturelle Analyse des Nationalsozialismus

Aurel Kolnai hat hellsichtig die Gefahr erkannt, die vom Nationalsozialismus ausging, um der modernen westlichen Welt eine fundamentale Alternative entgegenzusetzen. Dabei ist der Titel seiner Schrift »Der Krieg gegen den Westen« in einem umfassenden Sinn zu verstehen: geistig, moralisch, politisch, metaphysisch. Ich greife im Folgenden die normativen Hauptpunkte seiner Kritik am Nationalsozialismus heraus und systematisiere sie zu einer Gegenüberstellung moralisch-politischer Formationen: westlicher Universalismus versus völkischer Partikularismus. Als normativer Maßstab von Kolnais Untersuchung tritt klar ein objektiver Universalismus hervor, der einerseits den Vorteil der scharfen Abgrenzung zum Nationalsozialismus bietet, andererseits aber selbst zu differenzieren ist. Mit Blick auf die wichtige Untersuchung von Franz Neumann stellt Kolnai einen normativen Rahmen zur Verfügung, in den sich die Analyse des »Behemoth« mit detaillierten Vertiefungen zur Ökonomie und Herrschaftsstruktur des Natio­ nalsozialismus, der Zerstörung des bürgerlichen Rechtsstaats und Völkerrechts sowie den Exzessen des Antisemitismus eingliedern lässt. Was zunächst Kolnais Ansatz betrifft, so verfolgt er methodisch einen gut nachvollziehbaren Weg, der jedoch ein Problem aufwirft. Denn seine Maxime »Lassen wir sie sich selbst darstellen«1 verweist auf die Herausarbeitung von nazistischen Selbstverständnissen aus verschiedenen Quellen, die zugleich eine Abwägung verlangen, welche von ihnen ins Zentrum der nazistischen Formation gehören, die 1933 die Macht übernommen hat. Dass Hitler, Rosenberg, Goebbels und Darré, deren Schriften Kolnai anführt, aufgrund ihrer Funkionen im inneren Kreis anzusiedeln sind, liegt auf der Hand, doch verweisen diese Namen auch auf deutliche Unterschiede im Gefüge des Nationalsozialismus (NS). Noch

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Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 46.

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mehr gilt dies für geistige Strömungen im Vorfeld des NS, die Kolnai zu Recht mit der Verarbeitung der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg in Verbindung bringt. Es genügt hier, beispielhaft Moeller van den Bruck oder Ernst Jünger zu nennen, um auf weitere Differenzierungen zu verweisen, da solche Autoren nicht umstandslos dem Nationalsozialismus zuzuschlagen sind. Erst recht weit hergeholt erscheint der Rückgriff auf Nietzsche, den man weder – wie Kolnai das tut – als »Satanisten«2 noch als Präfaschisten einordnen kann. Ich weise auf solche Ungereimtheiten vorab hin, weil der geistesgeschichtliche Strang von Kolnais Studie – wie vergleichbare andere – eine ungelöste Problematik mit sich führt, die von den normativ-substanziellen Teilen seiner Analyse abgetrennt werden sollte. Denn die These, dass der NS »tief in der deutschen Geschichte verwurzelt und Ausdruck des deutschen Geistes« sei,3 ist entweder trivial wahr oder falsch. Sie ist trivial wahr, insofern Deutsche oder Österreicher die Grundlagen und Umsetzungen des Nationalsozialismus geschaffen haben. Sie ist falsch, insofern der deutsche Geist keine monolithische Einheit bildet, wie auch Kolnai einräumt, wenn er feststellt, dass der Nationalsozialismus nicht mit dem Deutschtum identisch sei.4 Was sich allenfalls sagen ließe, wäre, dass bestimmte deutsche Traditionen eine Affinität zum Nationalsozialismus nahelegen oder eine Identifikation mit ihm begünstigen, was ihn jedoch nicht aus dem deutschen Geist erklärt. Damit der Nationalsozialismus eine Macht werden konnte, die für die deutsche Geschichte ab 1933 dominant wurde, bedurfte es konkreter politischer Umstände, die – prinzipiell gesehen – auf geschichtlich kontingente Konstellationen verweisen. Mit dieser Klarstellung wende ich mich den Stärken von Kolnais Analyse zu. Dazu gehe ich aus von seinem Kapitel VI: Moral, Recht und Kultur. In diesem Kapitel stellt Kolnai fest, dass ein »faschistischer Staat reinen Blutes« für ein »Ideal irrationaler Partikularität« steht, das sich in Konflikt mit allgemeinen Begriffen von Menschlichkeit befindet. Das Wir des Deutschtums erklärt sich zum Wir der »besten aller Menschen« und schwört einem für alle Menschen geltenden moralischen Gesetz ab. Exemplarischer Ausdruck dafür ist, dass Kants kategorischer Imperativ durch Darré auf deutsche Lebensbedingungen eingeschränkt wird.5 Die partikularistische Begrenzung von Kants Ethik, die auch aus anderen Quellen des Nationalsozialismus zu belegen ist, markiert treffend den Gegensatz zwischen dem von Kolnai immer wieder betonten »moralischen Universalismus«6 und dem Partikularismus des Nationalsozialismus mit seiner Orientierung an Volk, Rasse und Blut.

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Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 309. Vgl. ebd., z. B. S. 577.

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Obwohl Kolnai dazu neigt, dem Partikularismus des Nationalsozialismus die moralische Qualifikation abzusprechen, sieht er sich gleichwohl veranlasst, ein »Ideal der Nazi-Moral« in Form von historischer Größe zu diagnostizieren und dies als Schlüssel zum Verständnis der »neudeutschen Ethik« zu kennzeichnen.7 Zugleich jedoch werden deren Vertreter – wie z. B. Alfred Baeumler – der »Pseudo-Ethik« oder der »heidnischen Amoral« geziehen.8 In dieser Ambivalenz kommt eine Sachfrage zum Vorschein, die das von Kolnai ausgebreitete reichhaltige Material an gegenwärtige Analysen und Diskussionen zu Begriff und Charakterisierung der nationalsozialistischen Moral heranführt. Ich gehe an diese Frage heran, indem ich deskriptiv unterschiedliche inhaltliche Ausprägungen von Moral unterscheide und ihre normative Bewertung davon abhebe. Das bedeutet, dass Inhalte dieser Moral deskriptiv zu bestimmen und zu analysieren sind, auch wenn wir sie – in Übereinstimmung mit Kolnai – nicht teilen. Sicherlich gibt es eine emotionale Hürde, im Fall der nationalsozialistischen Moral von Moral zu reden, doch wenn zugleich unser moralischer Maßstab des egalitären Universalismus deutlich wird, sind Missverständnisse ausgeschlossen. Der Vorteil besteht in einem Gewinn an methodischer Klarheit. Der Preis dafür ist ein historisch belehrter moralischer Pluralismus, der Kolnai in der inhaltlichen Ablehnung der nationalsozialistischen Moral folgt, jedoch auf dessen moralischen Monismus, der nicht zuletzt auf religiöse Instanzen verweist, verzichtet.9 All das tut den produktiven Analysen Kolnais keinen Abbruch. So kann man ihm nur beipflichten, wenn er die Moral des völkischen Partikularismus des Nationalsozialismus in ihrer Relevanz für das Rechtssystem verfolgt und aufzeigt, durch welche Theoreme die Zerstörung des bürgerlichen Rechtsstaats betrieben wird. Die Politisierung des Rechts bei Carl Schmitt, die Rückbindung des Rechts auf das »Wesen des deutschen Volks« bei Erik Wolf oder die im organischen Volksleben angesiedelte Rechtsauffassung Roland Freislers werden klar herausgestellt.10 Kolnai verweist dementsprechend auf Revisionen im deutschen Gesetzbuch, die mit der Einführung des Kriteriums des »gesunden Volksempfindens« ins Strafrecht der Willkür von Gerichtsentscheidungen Tür und Tor öffnen. Das nazistische Rechtssystem betreibt die »Verachtung der Menschenrechte«, wie sich nicht zuletzt an den antijüdischen Gesetzen zeigt, die mit dem Tatbestand der »Rassenschande« die Heirat oder den intimen Verkehr zwischen Deutschen und Juden sanktionieren.11

   7    8    9 10 11

Vgl. ebd., S. 321. Vgl. ebd., S. 322 f. Vgl. ebd., S. 308 »göttliches Gesetz«; sowie S. 450 Schelers objektivistische Ethik. Vgl. ebd., S. 331 f., 336. Vgl. ebd., S. 338 f.

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Dem Stichwort »Rasse« nachzugehen, ist eine weitere Stärke der Untersuchung Kolnais, weil die dabei zutage kommende Mehrdeutigkeit des Begriffs zeigt, dass es im Nationalsozialismus zwar einen radikalen Rassismus, aber keinen einheitlichen oder verbindlichen Rassenbegriff gibt. Davon ist auch Hitler nicht auszunehmen, dessen Betonung der Rasse als Mittelpunkt des völkischen Staats12 keineswegs das Schwanken zwischen biologischen, kulturellen oder anthropologisch-philosophischen Konzeptionen von Rasse beseitigt.13 Gleichwohl ist offensichtlich, dass die mit der Konzeption von Rasse verbundene Hierarchie von Rassen universelle Maßstäbe für die Menschheit ablehnt.14 Insofern ist es verständlich, wenn Kolnai den Antisemitismus des Nationalsozialismus im Rahmen seiner Kritik der »rassischen Unmenschlichkeit«15 thematisiert und dessen »antijüdische Obsession« primär auf die »fatale Spannung zwischen Deutschland und dem Westen« zurückführt.16 Dem entspricht, dass er dem Begriff des Anti­ judaismus den Vorrang einräumt, weil damit der normative Antisemitismus, der die Juden als »Träger des Bazillus der Freiheit und des Fortschritts« sieht, adäquater zum Ausdruck kommt. Auch dieser Gedanke verweist auf Forschungen der Gegenwart. Wie man an der Untersuchung von Barbara Zehnpfennig zu Hitlers »Mein Kampf« sehen kann, ist Hitlers Rassismus nur scheinbar biologisch und zielt in Wahrheit auf die Homogenität seelischer Qualitäten, die in verschiedenen Völkern oder Rassen verankert sind.17 Kolnai kommt dieser Analyse nahe, wenn er die »jüdische Gegenrasse«18 im Anschluss an Hitler als »historischen und universalen Widerpart des Ariers« beschreibt, die für universale Normen steht.19 Dass die militanten und exterministischen Zuspitzungen des Antijudaismus für Kolnai noch nicht in ganzem Umfang greifbar waren, ist der Abfassungszeit seiner Untersuchung (bis Sommer 1936) zuzuschreiben. Doch die Militanz des Nationalsozialismus kommt auf anderer Ebene zur Sprache und artikuliert insofern auch die Bedrohung, die vom Antijudaismus ausgeht. Denn wenn man den Nationalsozialismus als neue Formation ernst nimmt, wofür Kolnai nachdrücklich plädiert,20 dann muss man sehen, dass die Radikalität des völkischen, »tribalen« Partikularismus21 mit dem nationalsozia-

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 466. Vgl. ebd., S. 468 f. Vgl. ebd., S. 471. Vgl. ebd., S. 521. Vgl. ebd., S. 536. Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, 3. Auflage München 2006. Kolnai, Krieg, S. 471. Vgl. ebd., S. 528. Vgl. ebd., S. 45 f. Vgl. ebd., S. 432.

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listischen Ideal der historischen Größe auf kriegerische Auseinandersetzungen angelegt ist. Kolnai bringt diese Kriegsgefahr deutlich zur Sprache.22 Auch seine Wahrnehmung von Thesen Hitlers gehört in diesen Zusammenhang, wenn er etwa den bewusst einseitigen Kommentar Hitlers zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs anführt und auf dessen Satz verweist, dass die Welt nicht für feige Völker da sei. Hinzu kommt Hitlers These, dass Menschenrecht Staatsrecht bricht, wobei als Menschenrecht das Existenzrecht des Volkes, insbesondere des deutschen, zu gelten hat. In diesen Thesen wird die den Nazismus leitende Überzeugung fokussiert, dass das Volkstum die Grundkraft der geschichtlichen, kulturellen und politischen Entwicklung verkörpert.23 Wenn das Volkstum über dem Staat steht, ergibt sich in politischer und rechtlicher Hinsicht eine Entdifferenzierung oder Instrumentalisierung von humanen Ordnungsgefügen, die Kolnai treffend namhaft macht. Schließlich ist das Gesamtbild hervorzuheben, das Kolnai unter kulturellen Perspektiven zeichnet. Mit Bezug auf protestantische oder katholische Autoren, die auf eine Verbindung zwischen Christentum und Nationalsozialismus hinarbeiten spricht er von »tobenden Wellen des Kulturkampfs«, die den weitreichenden geistigen Umbruch anzeigen, der mit dem Nationalsozialismus zu einer Art von heidnisiertem Christentum führe.24 Vergleichbares gilt für die Anpassung von Wissenschaft und Erziehung an tribale Doktrinen des Nationalsozialismus.25 Das menschliche Selbstverständnis wird insgesamt einer Deutschtumsmetaphysik unterworfen, die eine Welt für sich schafft, in der das Individuum als »Träger einer Volkssubstanz« fungiert, nicht mehr als »Persönlichkeit mit einem autonomen Selbst«. Daher wird in kultureller Hinsicht »Der Krieg gegen den Westen« von Kolnai als »Religionskrieg« bezeichnet, als ein »Krieg der Welten«.26 Ob dieser Krieg zu einem neuen Weltkrieg führt, muss Kolnai offenlassen, doch seine Analyse macht genau das wahrscheinlich, was dann ab 1939 eingetreten ist. Die Hauptpunkte, die ich von Kolnai aufgenommen habe, lassen sich unter Berücksichtigung der späteren Entwicklung des Nationalsozialismus und vorblickend auf Franz Neumanns Analysen dadurch systematisieren, dass man im Sinne von Max Weber Idealtypen von moralisch-politischen Formationen bildet. Der westliche Typus und der nazistische Typus können wie folgt unterschieden werden: Erstens ist ein moralisches Grundverständnis anzusetzen, das als dominierendes Zentrum für jeweilige Ich- und Wir-Perspektiven als verbindlich

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Vgl. ebd., S. 435, 442, 455. Vgl. ebd., S. 463. Vgl. ebd., S. 280. Vgl. ebd., S. 339 f., 346 f. Vgl. ebd., S. 585.

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a­ ngesehen wird. Für die universalistisch-westliche Formation heißt das: Jeder Mensch schreibt sich selbst denselben moralischen Status wie jedem anderen Menschen zu und versteht sich als Mitglied einer Wir-Gemeinschaft, in der jedes Mitglied diesem Selbstverständnis folgt. Ausdruck dafür ist die wechselseitige Anerkennung gleicher Rechte für jeden Menschen. Diesem egalitär definierten Zentrum setzt der Nazismus sein eigenes Zentrum entgegen: Die Deutschen oder Arier beanspruchen einen höheren moralischen Status als Nicht-Deutsche oder Nicht-Arier und folgen dem Selbstverständnis einer Wir-Gemeinschaft, die diesen Anspruch durchsetzt. Das partikularistische Selbstverständnis ist der existenziell-konkrete Widersacher egalitär-universalistischer Selbstverständnisse, die als »jüdisch« abgelehnt werden. Bei Kolnai gibt es eine analoge Unterscheidung in einen »moralistischen Typ«, zu dem der Judaismus gehört, und einen »imperia­ len Typ«, der dem Nazismus entspricht.27 Zweitens gibt es für beide Typen ein mit dem moralischen Zentrum verbundenes Netz an gesellschaftlichen Normen und Institutionen. Für den westlichen Typus bedeutet das: gewaltfreies Zivilleben, gesellschaftlich-öffentliche Ächtung von Diskriminierungen und ein an Menschenrechten orientiertes Rechtssystem, das auch die demokratisch verfasste politische Sphäre der jeweiligen Gemeinschaft nach innen und außen bindet. Demgegenüber gilt im Nazismus die Ausrichtung allen gesellschaftlichen und politischen Lebens auf die Stärkung der arisch-deutschen Volksgemeinschaft nach dem Führerprinzip. Weder nach innen noch nach außen existieren rechtliche Schranken zur Durchsetzung der Interessen der Volksgemeinschaft. Im Gegenteil: »Der Führer schützt das Recht«, wie Carl ­Schmitt formulierte, er setzt für die Gemeinschaft sozusagen das »wahre Recht«.28 Drittens geht es für beide Typen um das Verhältnis zur Gewalt. Die westliche Form verlangt die gewaltfreie Austragung von Konflikten im Innern jeweiliger Wir-Gemeinschaften und die Respektierung des staatlichen Gewaltmonopols. Für den nazistischen Typus – Kolnais imperialen Typ – ist Gewalt ein legitimes Mittel, um die innere Homogenität der Wir-Gemeinschaft gegen »artfremde« Gegner durchzusetzen. Ebenso gibt gewaltsamer Rassenkampf nach außen die Grundorientierung zur Erhaltung und Fortentwicklung der arisch-deutschen Volksgemeinschaft ab und rechtfertigt Angriffskriege, die als Notwehraktionen kaschiert werden. Demgegenüber ist für den westlichen Typus militärische Gewalt nur im Verteidigungsfall und in Einklang mit dem Völkerrecht akzeptabel. Entlang dieser Systematisierung kann nicht nur die Fülle an Material, die Kolnai aufbietet, gelesen werden. Sie gibt auch einen Rahmen ab, um Franz Neumanns Untersuchung »Behemoth« näher zu würdigen. 27 Vgl. ebd., S. 435. 28 Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht. In: Deutsche Juristen-Zeitung, 15 (1934) 39, S. 945–950.

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Als Überleitung zu Neumanns »Behemoth« kann Kolnais Beschreibung des »totalitären Staats« dienen, die er in die folgenden Charakteristika fasst: »Der totalitäre Staat ist das genaue Gegenteil eines Staats mit einer Vielzahl von Parteien […]. Der totalitäre Staat ist erstens ein Staat, der beansprucht, einen einheitlichen und verbindlichen Wertekanon gegenüber der gesamtem Gesellschaft durchzusetzen und zu einem gewissen Grad auch gegenüber jedem Einzelnen […] und zweitens ein Staat, der eine politisch einheitliche Färbung aufweist, d. h. mit einer bestimmten Strömung oder Partei sowie mit einem geschlossenen Kreis von Herrschern identisch ist. Kurz, es handelt sich um den Einparteienstaat. Das faschistische Italien wie auch Nazi-­ Deutschland sind Einparteienstaaten. Der politische Eingriff der Partei ist allerdings im Nazi-Reich unvergleichlich stärker […]. Der totalitäre Staat ist die Wiederkehr des tribalen Staats auf dem Niveau des Industriezeitalters […].«29

Kolnai verbindet mit dem Begriff des Einparteienstaats das Verhältnis von Staat und Partei zu einem Gebilde, dessen innere Problematik ins Zentrum von Neumanns Analysen aus den Jahren 1941 bis 1944 führt. Neumann entwickelt aus seiner Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Staat und Partei die These, dass die dabei zu beobachtende Umstrukturierung des Staates darauf hinausläuft, einen Unstaat (a non-state) hervorzubringen, einen chaotischen Zustand, eine »Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie«, dem er den Namen Behemoth gibt. Abgesehen von biblischen Anklängen bezieht sich die politiktheoretische Anknüpfung dieser Namensgebung auf Thomas Hobbes, dessen Schrift »Behemoth oder das lange Parlament« die Gesetzlosigkeit zu Zeiten des englischen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert thematisiert. Dem gegenüber steht sein Leviathan als ein Ordnungsgebilde, das im Grundsatz die Herrschaft des Gesetzes und individuelle Rechte bewahrt.30 Neben die Analyse der politischen Struktur des Nationalsozialismus im Ausgang von Grundzügen des »totalitären Staats« (»Behemoth«, Teil I) tritt bei Neumann die Untersuchung der »totalitären Monopolwirtschaft« (»Behemoth«, Teil II). Dieser Teil zur Ökonomie des Nationalsozialismus nimmt bei Neumann breiten Raum ein. Kolnai widmet der Wirtschaft gleichfalls ein Kapitel, doch greift Neumanns Untersuchung weiter und tiefer. Allerdings kommt auch Kolnai schon zur Einsicht, dass das nazistische Verständnis von Sozialismus eher auf eine Umstrukturierung des Kapitalismus als auf dessen Aufhebung zielt. So spricht er von der »Rückkehr der Klassengesellschaft« unter Vorzeichen eines »militaristischen Kommunitarismus«31 und sieht deutlich die Verbindung des »Konzern-Kapitalismus« mit der politischen Führungselite des Nationalsozialismus, die seines Erachtens auf eine »Sklavengesellschaft«32 hinausläuft. 29 30 31 32

Kolnai, Krieg, S. 190. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt a. M. 1993, S. 16. Kolnai, Krieg, S. 360–372. Vgl. ebd., S. 401–420.

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Dass Neumann noch weit intensiver auf eine ökonomische Analyse des Natio­ nalsozialismus abhebt, ist vor dem Hintergrund seines marxistischen Ansatzes zu sehen. Dieser Marxismus gehört in den Kontext der II. Internationale und in den Kontext von Neumanns Tätigkeit für die SPD in der Weimarer Republik. Neumann setzte zunächst – wie der bekannte Ökonom Rudolf Hilferding – auf eine evolutionäre Überwindung des Kapitalismus durch die reformistische Arbeiterbewegung unter Führung der SPD. Doch zunehmend distanzierte er sich von der Konzeption eines »organisierten Kapitalismus«, die für Hilferding von der Hoffnung begleitet war, dass eines Tages der von der Arbeiterschaft bestimmte demokratische Staat den Kapitalismus domestizieren und in sozialistische Formen transformieren könnte. Stattdessen führt für Neumann die empirisch zu belegende fortschreitende Monopolisierung der Wirtschaft auf das Problem, dass der Klassenkampf auf politischer Ebene stattfindet, um die Richtung der Staats­ intervention zu bestimmen. Es geht darum, wie das Primat der Politik über die Ökonomie vollzogen wird: »Wer greift ein und um wessen willen – dies wird zur wichtigsten Frage der modernen Gesellschaft.«33 Diese Problemstellung gibt die Orientierung für die herrschaftstheoretische Analyse des Nationalsozialismus. Ich greife zunächst Hauptpunkte aus Neumanns Analyse der totalitären Monopolwirtschaft auf und kommentiere danach seine politisch-rechtliche Strukturbetrachtung mit Blick auf Kolnai. Neumann charakterisiert die natio­ nalsozialistische Wirtschaft durch zwei besondere Kennzeichen: »Sie ist eine Monopolwirtschaft – und eine Befehlswirtschaft. Sie ist eine privatkapitalistische Ökonomie, die durch einen totalitären Staat reglementiert wird. Als den besten Namen schlagen wir totalitärer Monopolkapitalismus vor.«34 Dieser Begriff schließt aus, dass es sich im Nationalsozialismus um eine Form des Staatskapitalismus oder gar um eine Form von klassenloser Gesellschaft aufgrund der Volksgemeinschaftsideologie handelt. Indem Neumann solche Vorstellungen zurückweist und in eine Detailanalyse der nationalsozialistischen Wirtschaft eintritt, arbeitet er heraus, wie sich drei Typen von Wirtschaft unterscheiden und aufeinander beziehen lassen: Wettbewerbswirtschaft, Monopolwirtschaft und Befehlswirtschaft. Märkte und Wettbewerb sind keinesfalls abgeschafft, sondern wirken auch in einer stark auf Kartelle und monopolistische Großunternehmen abgestellten privatkapitalistischen Ordnung weiter.35 Hinzu kommen die Wirtschaftssektoren der Partei (»Göring-Werke«), die sich einer Gründung durch Gangster-Methoden verdanken.36 Weitere Hauptfaktoren be-

33 34 35 36

Neumann, Behemoth, S. 312. Ebd., S. 313. Vgl. ebd., S. 347. Vgl. ebd., S. 354 f.

Normative Kritik und strukturelle Analyse des Nationalsozialismus

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stehen in der Ministerialbürokratie und den Anforderungen der Wehrmacht. Die Organisation der Arbeit ist autoritär, der Arbeitsmarkt wird unter Ausschaltung von Gewerkschaften kontrolliert,37 doch führt das nicht dazu, dass arbeitsvertragliche Regelungen insgesamt aufgegeben werden.38 Neumann verbindet seine Wirtschaftsanalyse mit einer Strukturbeschreibung der im Nationalsozialismus herrschenden Klasse, die aus vier Gruppen besteht: »Die Armee braucht die Partei, weil der Krieg total ist. Die Armee ist außerstande, die Gesellschaft ›total‹ zu organisieren; das ist Sache der Partei. Andererseits ist die Armee auf die Partei angewiesen, um den Krieg zu gewinnen und damit ihre eigene Macht zu festigen […]. Beide brauchen die monopolistische Industrie, die ihnen für die kontinuierliche Expansion bürgt. Und alle drei brauchen die Bürokratie, um die technische Rationalität zu erlangen, ohne die das System nicht funktionsfähig wäre. Jede der vier Gruppen ist souverän und autoritär, jede ist mit eigener legislativer, administra­ tiver und judikativer Macht ausgestattet, und jede ist somit in der Lage, die zwischen den vieren notwendigen Kompromisse schnell und skrupellos durchzusetzen.«39

In dieser Strukturbeschreibung tritt hervor, dass im Grunde die ungeteilte Souveränität einer einheitlichen staatlichen Gewalt in vier Machtblöcke zerfallen ist, deren eigene Souveränitätsansprüche sich konkurrierend gegenüberstehen. Damit ist eine konsistente Verfassungsordnung nach dem Beispiel des bürgerlichen Rechtsstaats in Auflösung begriffen, sodass die in der Sekundärliteratur anzutreffende Kennzeichnung des »totalitären Pluralismus« nachvollziehbar wird.40 Wenn der einheitliche staatliche Souverän entfällt, dann entsteht ein Zustand, der souveränitätstheoretisch der Situation des Bürgerkriegs entspricht. Daher die Analogie des »Behemoth« zu Hobbes und daher die evolutionär progressive Funktion des bürgerlichen Rechtsstaats in der Tradition des »Leviathan«. Neumann bestreitet, dass das nationalsozialistische System ein Staat genannt werden kann und hält als Ergebnis fest: »Ich wage zu behaupten, dass wir es hier mit einer Gesellschaftsform zu tun haben, in der die herrschenden Gruppen die übrige Bevölkerung direkt kontrollieren – ohne die Vermittlung durch den wenigstens rationalen, bisher als Staat bekannten Zwangsapparat. Noch ist diese neue soziale Form nicht voll verwirklicht, aber die Tendenz ist vorhanden, und sie bestimmt das eigentliche Wesen des Regimes.«41 Anstelle der rationalen Staatsfunktion übernimmt im Nationalsozialismus der charismatische Führer die Vermittlung zwischen der Bevölkerung und den Herrschaftsapparaten, die er ihrerseits untereinander kompromissfähig zu halten hat.

37 38 39 40 41

Vgl. ebd., S. 395 f. Vgl. ebd., S. 397, 487. Ebd., S. 460 f. Vgl. Jürgen Bast, Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analysen der politischen und rechtlichen Struktur der NS-Herrschaft, Tübingen 1999, S. 296 f. Neumann, Behemoth, S. 543.

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Zugleich bleibt der Führer jedoch selbst den Bedingungen der aufgezeigten Herrschaftsstruktur verpflichtet und kann z. B. den verfassungsmäßigen Widerspruch zwischen Staat und Partei, der sich bald nach der Machtübernahme durch die NSDAP abzeichnete, nicht lösen, sondern allenfalls ad hoc glätten.42 Neumann greift auf die Charisma-Theorie Max Webers zurück und verortet die Quelle von Hitlers Charisma in der Ideologie des Volkstums und in dem Amalgam aus Rassismus und Antisemitismus, der sich beim Führer wie in der nationalsozialistischen Bewegung findet.43 Viel deutlicher als Kolnai erkennt er, dass der Nationalsozialismus »die erste antisemitische Bewegung (ist), die die völlige Ausrottung der Juden verficht«44 und in seiner Bevölkerungspolitik »wie das Tun durch und durch heidnischer Menschen anmutet«.45 Diese Diagnose setzt Neumann in eine detaillierte Kritik der Zerstörung des Rechtsstaat durch seine antijüdische Gesetzgebung um, die zur völligen Beseitigung des vom Strafgesetzbuch früher garantierten Rechtsschutzes führt und ab 1943 die Juden endgültig außerhalb von Gesetz und Gesellschaft stellt.46 Neumann unterscheidet zwischen nicht-totalitärem und totalitärem Antisemitismus, wobei man den letzteren auch als exterministischen oder gattungsverneinenden Antisemitismus bezeichnen könnte. Dieser hat, so Neumann, »magischen Charakter« und ist rational nicht zu diskutieren.47 Andererseits zwingt die tatsächlich eingetretene physische Vernichtung der Juden erneut zur Frage: »Warum?«48 Dazu bietet Neumann zwei Gesichtspunkte an: einmal den Antisemitismus als »Speerspitze des Terrors«, der dazu diene, Methoden der Repression gegen andere Völker oder Dissidenten zu testen. Zum anderen sieht er in der Zuspitzung der Judenverfolgung und -vernichtung eine Art Identitätspolitik in Begriffen »kollektiver Schuld«: »Die Teilnahme an einem so ungeheuren Verbrechen wie der Ausrottung der Ostjuden macht die deutsche Wehrmacht, das deutsche Beamtentum und breite Massen zu Mittätern und Helfern dieses Verbrechens und macht es ihnen daher unmöglich, das Naziboot zu verlassen.«49 Diese Überlegung verweist auf die Frage, inwieweit der Nationalsozialismus durch eine Sozialpsychologie der Tätergemeinschaft, die sich in seinem Herrschaftsgefüge entfalten konnte, weiter aufzuklären wäre. Das gesamte Ausmaß

42 43 44 45 46 47 48 49

Vgl. ebd., S. 90 f., 113. Vgl. ebd., S. 131 f. Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. Vgl. ebd., S. 150 f., 581. Vgl. ebd., S. 159. Vgl. ebd., S. 581. Ebd., S. 583.

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und die Details der Judenvernichtung konnte sich Neumann nicht vergegenwärtigen, zumal auch noch nicht die Breite einschlägiger Dokumente zur Verfügung stand. Diese Aufarbeitung hat sein Schüler Raul Hilberg geleistet, dessen Standardwerk zum Holocaust bleibende Maßstäbe gesetzt hat.50 Die so weit genannten Elemente von Neumanns Untersuchung lassen erkennen, dass er in zwei entscheidenden Punkten das Paradigma des orthodoxen Marxismus hinter sich lässt. Erstens macht er nicht den Versuch, eine ökonomistische Erklärung des Nationalsozialismus aus Entwicklungsbedingungen des Kapitalismus zu präsentieren. Der NS ist nicht einfach ein Werkzeug der deutschen Industrie,51 sondern aus Quellen seiner radikalen Ideologie und Massenwirksamkeit sowie den Umständen des Scheiterns der Weimarer Demokratie zu analysieren. Die Verschränkung von Nationalsozialismus und Monopolkapitalismus stellt eine daran anschließende Aufgabe der Analyse dar, die primär auf das entstandene Herrschaftsgefüge zielt. Zweitens verweist die souveränitätstheoretische Kritik des Nationalsozialismus und die Betonung der formalen Rationalität des bürgerlichen Rechtsstaats auf wichtige Abgrenzungen, die den Nationalsozialismus im Sinne der oben herausgestellten Idealtypen als eigenständige geschichtliche Formation dem westlichen Typus gegenüberzustellen erlauben. Indem Neumann dem Bereich des Rechts einen breiten Raum der Analyse widmet, dokumentiert er die moralische Schutzfunktion des Rechts. Dabei kommt er zu Kontrastierungen, die der oben im Anschluss an Kolnai definierten Typologie substanzielle Ergänzungen hinzufügen. Als ein Ergebnis hält er fest: »Ist das generelle Gesetz die Grundform des Rechts, ist Gesetz nicht nur voluntas, sondern auch ratio, dann können wir nicht davon sprechen, dass im faschistischen Staat ein Recht existiert. […] Aber in einer Gesellschaft, die auf Gewalt nicht verzichten kann, ist wahre Allgemeinheit nicht möglich. […] Die absolute Leugnung der Allgemeinheit des Gesetzes ist der Kernpunkt nationalsozialistischer Rechtstheorie.«52 Dem ist die Preisgabe von gesetzlicher Allgemeinheit auf der Ebene des Völkerrechts hinzuzufügen, die Neumann anhand der von Carl Schmitt propagierten antiuniversalistischen Großraumtheorie zum Völkerrecht demonstriert. Nicht mehr eine bindende Rechtsform zwischen souveränen Staaten, sondern Grundlage der internationalen Ordnung soll der Raum sein, eine Konzeption, die dem Ziel folgt, den deutschen Großraumimperialismus gegen mögliche gegnerische Interventionen abzusichern. Das traditionelle Völkerrecht wird dagegen als Schöpfung der Juden und des britischen Imperialismus verworfen.53 Damit

50 51 52 53

Vgl. Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago 1961. Vgl. Neumann, Behemoth, S. 232. Ebd., S. 522. Vgl. ebd., S. 198 f.

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wird erneut der Gegensatz zwischen westlichem Universalismus und Nazipartikularismus unterstrichen. Ähnlich wie Kolnai stellt Neumann schon 1935 fest, dass das NS-System auf einen imperialistischen Krieg hinarbeitet.54 Neumann kann sich mit seiner späteren Analyse darin bestätigt sehen. Indirekt bestätigt er damit auch die hellsichtigen Antizipationen von Aurel Kolnai.

54

Vgl. ebd., S. 421.

Werkgeschichte und Rezeption



Lee Congdon*  Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« im zeitgenössischen Kontext

Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen«, ein Sonderband des Linken Buchclubs (Left Book Club, LBC) für den Monat Juli 1938 (von Gollancz dennoch als »das wichtigste bis dahin im Buchclub veröffentlichte Buch«1 bezeichnet), war auf subtile Weise russo­phil und germanophob. Kolnai stammte aus einer slowakisch-jüdischen Familie und wurde im Jahr 1900 als Aurel Stein in Budapest geboren. Er war intellektuell frühreif, las ungeheuer viel, und das in mehreren Sprachen. Um seinen zwölften Geburtstag ­herum gab er zu verstehen, er sei Atheist, schätze jedoch auch weiterhin die jüdisch-­christliche moralische Tradition. Und in der Tat, als die Sturmwolken des Krieges heraufzogen, kam er, anders als die Mehrheit seiner Landsleute, zu der Auffassung, dass das zaristische Russland weniger »feindlich gegenüber den moralischen Traditionen des Christentums« war als das preußische Deutschland, »mit seiner Mischung aus allgegenwärtigem Militarismus und wildem Kommerz, unterlegt von einem unterbewussten Heidentum und verzerrter Lutherischer ›Frömmigkeit‹«.2 Als der Krieg kam, sympathisierte er daher mit der Entente und war gegen Deutschland, Österreich-Ungarns Verbündeten. Wie Kolnai später einräumte, »war es leichter für einen Juden – egal wie assimiliert, liberal und eindeutig ungarisch in seinem nationalen Bewusstsein – als für einen Nichtjuden, als Schiedsrichter ohne eigene Interessen einen ­distanzierten Blick auf die ausländische Situation einzunehmen und seine Seite zu ­wählen«.3 *

1 2 3

Auszugsweise nachgedruckt und übersetzt aus Lee Congdon, Seeing Red. Hungarian Intellectuals in Exile and the Challenge of Communism, S. 54–59, 162–168. Copyright © 2001 by Northern Illinois University Press. Reprinted by Permission. Ab dem Absatz »In Verteidigung des christlichen Europas« übersetzt und nachgedruckt aus Lee Congdon, Exile and Social Thought: Hungarian Intellectuals in Germany and Austria 1919–1933, S. 241–253. Copyright ©1991 by Princeton University Press. Reprinted by Permission. John Lewis, Left Book Club, Littlehampton 1970, S. 91. Aurel Kolnai, Political Memoirs. Hg. von Francesca Murphy, Lanham 1999, S. 7. Ebd., S. 11.

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Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die ungarische nationale Tradition eine antideutsche Tendenz und eine starke Affinität für alles Französische und, mehr noch, alles Englische in sich hatte. »Insofern entsprang meine Loyalität ­gegenüber unseren westlichen ›Feinden‹, verräterisch wie sie war, der Heimaterde, die mich hervorgebracht hatte.«4 Zu der Zeit, als die USA in den Krieg eintraten und Woodrow Wilson Sprecher der Alliierten wurde, sah Kolnai den Kampf weniger als einen für die westliche, christliche Zivilisation als einen für Demokratie und nationale Selbstbestimmung – Ideale, die viele Konflikte ausgelöst hatten. »Meine Pro-Alliierten-Einstellung«, so erinnerte er sich später mit Bedauern, »machte mich zu einem Linken, während die linke Bewegung [in Ungarn] an Fahrt aufnahm und eine explizit Pro-Alliierten-Einstellung einnahm. Die Alliierten selbst entwickelten sich in Richtung der Linken.«5 Selbstverständlich war er kein Marxist geworden. Als Verehrer von Oszkár Jászi und selbst ernannter »liberaler Sozialist« bevorzugte er eine progressive Evolution gegenüber dem, was er als regressive Revolution bezeichnete. Er unterstützte die Karolyi-Regierung, ging aber in die schweigende Opposition, als Béla Kun an die Macht kam. Zwei Wochen bevor die Sowjetrepublik zusammenbrach, machte er sich mit seinen Eltern auf den Weg zuerst in die Tschechoslowakei, dann nach Österreich. Zu Beginn des Jahres 1920 kehrten die Steins nach Ungarn zurück, wo jedoch noch der weiße Terror wütete. Kolnai wusste, dass er in so einer Welt nicht leben konnte, und ging deshalb allein nach Österreich zurück. Erst 20 Jahre alt, gelang es ihm, sich als Lektor und Autor ungarisch-deutscher Publikationen durchzuschlagen. Noch in Budapest hatte ihn die Psychoanalyse in ihren Bann geschlagen. Er fand auch genug Zeit, auf Deutsch eine psychoanalytische Kritik des Kommunismus mit dem Titel »Psychoanalyse und Soziologie: Zur Psychologie von Masse und Gesellschaft« zu schreiben. Als das Buch in psychoanalytischen Kreisen und in Sowjetrussland Aufsehen erregte, veranlasste das Londoner Verlagshaus Georg Allen & Unwin schnell eine englische Übersetzung. Solcherart internationale Aufmerksamkeit hätte Kolnai den Kopf verdrehen können, wäre er nicht sehr ernsthaft in Bezug auf Leben und Arbeit gewesen. Wie belesen er auch für sein Alter war, erkannte er doch, dass er vieles nicht wusste, insbesondere im Hinblick auf Ethik, ein Thema, das ihn immer beschäftigt hatte. Im Herbst 1922 schrieb er sich daher als Student der Philosophie an der Universität Wien ein. Von Anfang an zog ihn die Phänomenologie an, »diese herrliche

4 5

Ebd., S. 13 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 26.

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Bewegung des neuen Realismus, der wichtigste philosophische Ansatz seit Sokrates und Aristoteles«.6 Er war weniger ein Anhänger der Phänomenologie Edmund Husserls als der Max Schelers, jenes gepeinigten und brillanten Denkers, der versuchte, einen objektiven und absoluten Charakter ethischer Werte zu etablieren, ohne Kants Formalismus zu übernehmen und dadurch den Reichtum und die Vielfalt des konkreten, inhaltsgebundenen, moralischen Lebens zu verfehlen. Wie viele deutsche Phänomenologen war Scheler vor seinem Glaubensabfall römisch-katholisch. Sein Werk trug dazu bei, in Kolnai einen profunden Respekt für das historische Christentum zu erwecken. Am Ende jedoch wurde der Ungar durch G. K. Chestertons apologetische Schriften für den Katholizismus gewonnen. Er las sie im Original, nachdem er an der Verbesserung seines Englisch gearbeitet hatte. Dank dieses bemerkenswerten englischen Autors, der selbst ein Konvertit war, entdeckte Kolnai, dass er Sozialreformer und zugleich konservativer Christ sein konnte, »dass ein Bestehen auf das, was sein sollte, sinnlos ist, wenn es nicht gegründet ist auf einer vorhergehenden Bestätigung dessen, was ist; dass unsere Kritik an der Realität keine Substanz haben kann, wenn wir nicht ›Optimisten‹ in Bezug auf die Realität sind; dass wir eine perfektere Ordnung nur anstreben können, wenn wir Ordnung zunächst akzeptieren«.7 Chesterton machte Kolnai auch auf die Möglichkeit aufmerksam, zugleich englisch und katholisch zu sein. Auf diese Weise stärkte er die dem Ungarn »eigene und unheilbare Anglomanie.« Gab es nicht, so spekulierte Kolnai, eine »besondere Verwandtschaft zwischen dem englischen und dem katholischen Gemüt, eine Affinität beider zum gesunden Menschenverstand (als solcher seiner eigenen Grenzen bewusst), zu Tradition und gemäßigter Weisheit; zu einer gewissen Nachlässigkeit gegenüber Inkonsistenzen; zum wahren Geist jedes Objekts, Dings oder einer Tradition, der als wichtiger angesehen wird als das Zeigen systematischer Kohärenz; zu einem Geschmack an Eigenartigkeit und Asymmetrie, eine ruhige Wertschätzung des Konkreten, Beiläufigen und Ungewissen.«8 Wie zur Besiegelung der engen Beziehungen, die Kolnai nun zwischen christlichen und bestimmten philosophischen Gemütern wahrnahm, wurde er am gleichen Tag in die römische Kirche aufgenommen, an dem er an der Universität Wien graduierte (1926). Obwohl er in seiner Dissertation, die er anschließend als »Der Ethische Wert und die Wirklichkeit« veröffentlichte, eine Begabung für philosophische Probleme nachgewiesen hatte, strebte er keine akademische Anstellung an. Er wusste, dass seine Chancen gering waren und eine Laufbahn als Dozent für mehrere Jahre kein Einkommen bringen würde.

6 7 8

Ebd., S. 126. Ebd., S. 114 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 113.

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Wichtiger noch war, dass sich Kolnai in einer Zeit, in der sich Europa in der Agonie zunehmender spiritueller und politischer Krise befand, nicht in einen Elfenbeinturm zurückziehen wollte. Daher arbeitete er als freiberuflicher Lektor und Autor mit der Mission, »die christliche Zivilisation mit einer konstitutionellen Demokratie als angemessener Regierungsform durch Hebung einiger ihrer Themen, Werte oder Axiome auf eine höhere Bewusstseinsebene zu erhalten und zu stärken und sie so sicherer und unverwundbarer zu machen durch die Kritik nicht nur der zufälligen und aktuellen Mängel ihrer inneren und äußeren Feinde, sondern ihres Wesenskerns«.9 Die größte Aufmerksamkeit widmete Kolnai dabei der Psychoanalyse, die er vollständig ablehnte, dem Kommunismus und dem Faschismus. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass er bis etwa 1934 den Kommunismus, der sich selbst als Höhepunkt fortschrittlicher Bewegungen präsentierte, für die gefährlichste Ideologie hielt. Weil der Bolschewismus vorgibt, auf eine historisch vorbestimmte Zukunft gerichtet zu sein und den Willen des Volkes zu verkörpern, sei er in der Lage, eine umfassendere Tyrannei zu rechtfertigen. »Im Bolschewismus«, so Kolnai, »ist ungleich mehr Gutes und Edles, wie auch mehr finstere Bosheit und grenzenlose Überhebung, als im Faschismus. Er steht zugleich Gott und dem Teufel näher als dieser. Darum ist er, in Anbetracht des gemeinsamen Grundzugs, eine diabolische Macht in größerem Maßstab – und für solche, die Gott suchen, eine nähere Gefahr.«10 Kolnai bezog sich hier selbstverständlich auf den italienischen Faschismus, nicht auf den deutschen Nationalsozialismus. Mit der wirtschaftlichen Depression und Hitlers darauffolgendem Aufstieg zur Macht jedoch kam er bald zu dem Schluss, dass der Nazismus eine einzigartige Gefahr für das christliche – und demokratische – Europa darstellte. »Ich vergaß damals den Grundsatz«, erinnerte er sich später, »dass, solange nur eine Spur kommunistischer Macht existiert, diese als der Hauptfeind zu betrachten ist.« Beeinflusst von seinem engen Freund und Mentor Karl Polanyi spielte er mit der Idee, dass sich die sowjetische Diktatur letztlich zu einer echten Demokratie entwickeln könnte und dass sie jedenfalls »unser Hauptgegner sein sollte«.11 Kolnais Vergleich von Bolschewismus und Faschismus erschien in »Der deutsche Volkswirt«. Er warf den Bolschewiki vor, auf der Grundlage der Annahme zu handeln, dass Fortschritt mechanisch sei, und daher Bolschewismus allein durch seine Existenz eine bessere Gesellschaft sei. In Wirklichkeit de   9 10 11

Kolnai, Political Memoirs, S. 33 f. Aurel Kolnai, Fascismus und Bolschewismus. In: Der deutsche Volkswirt, 1 (1926) 7, S. 206–213, hier 213. Kolnai., Political Memoirs, S. 133, 144.

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monstrierten die Bolschewiki durch ihr historisches Auftreten, das eine solche Konzeption von Fortschritt zu Barbarei führen könne. Indem Männer und Frauen einem allumfassenden Staat untergeordnet würden, der sich als Gemeinschaft tarne, hätten sie eine der wichtigsten Lehren des Christentums negiert: die der spirituell freien Persönlichkeit und einer ihr angemessenen Gemeinschaftsordnung.12 Kolnais scharfe antibolschewistische Kritik machte klar, dass er den Kommunismus für die größte langfristige Gefahr für das christliche Europa hielt. Der Kommunismus entwickle eine konsistente Ideologie, appelliere an das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft und bezeichne sich selbst als den historischen Erben der fortschrittlichen Bewegungen. Von seiner eigenen Legitimität überzeugt, etabliere er in Russland und in Ungarn blutige Diktaturen, die mit gutem Gewissen handelten. Seine Ambitionen zielten auf nichts Geringeres als ein kommunistisches Europa, sogar eine kommunistische Welt. »Antifaschismus« war Kolnais Credo geworden und hierfür begann er, an einer Studie des nationalsozialistischen Geistes in englischer Sprache zu arbeiten: »Der Krieg gegen den Westen«. Im Herbst 1934 hatte er eine eindrucksvolle Menge an Zitaten aus mehreren Dutzend nationalsozialistischer und konterrevolutionärer Bücher gesammelt, aber er hatte noch keinen Verleger. Er wusste nicht, an wen er sich wenden konnte, als Karl Polanyis Freundin Irene Grant ihn darauf hinwies, dass Victor Gollancz Interesse geäußert hätte. Schnell schickte er ein Exposé an Gollancz, der antwortete, dass er »es sehr gern publizieren würde«.13 Nachdem er das erste Kapitel eingereicht hatte, bekam Kolnai 1935 einen Vertrag. Während der darauffolgenden eineinhalb Jahre schrieb er fieberhaft, fast immer in Cafés. Ironischerweise wurde eines von österreichischen Nazis frequentiert, die natürlich keine Ahnung von dem Projekt des Ungarn hatten. Das Manuskript war im Juli 1936 fertiggestellt. Wegen seiner Länge, über die Gollancz berechtigterweise verärgert war, sowie aufgrund notwendiger sprachlicher Überarbeitung in London, erschien das Buch erst zwei Jahre später. Zu dieser Zeit hatte Kolnai sein geliebtes Wien verlassen, um weiter nach Westen, ins »Gelobte Land« zu gehen. Kolnai nahm irrtümlich an, dass Lewis, der damals sein Manuskript bearbeitete, »keine Passage in meinem Text in Richtung marxistischer Dogmen oder der

12 Aurel Kolnai, René Fülöp Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus. In: Das Neue Reich, 38 (1927) 9, S. 793 f., hier 794; vgl. auch ders., Die Ideologie des sozialen Fortschritts. In: Der deutsche Volkswirt, 30 (1927) 1, S. 933–936, sowie ders., Kritik des sozialen Fortschritts. In: Der deutsche Volkswirt, 31 (1927) 1, S. 965–969. 13 Kolnai, Political Memoirs, S. 162.

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Parteilinie«14 verzerren würde. Zu der Zeit, als seine Aufenthaltserlaubnis auslief und er nach Paris ausreisen musste, hegte Kolnai die naive Zuversicht, dass sein Werk sich in guten Händen befand. Im Juli 1938 veröffentlichte Gollancz »Der Krieg gegen den Westen«. Was immer Mitglieder des Linken Buchclubs über das Buch gedacht haben mögen, sie können es nicht leicht verständlich gefunden haben. Über 700 Seiten lang, war es ein Kompendium von Zitaten aus nazistischen oder konterrevolutionären Publikationen, versehen mit Kommentaren. Es brauchte dringend ein Lektorat, denn es war redundant, unkonzentriert und undifferenziert in seinem kritischen Angriff. Tatsächlich gehörte es zu einer Kategorie, die man am besten mit »von Luther zu Hitler« bezeichnen kann, so umfassend ist Kolnais Liste von Nationalsozialisten und ihren vermeintlichen Vorläufern. So informierte er seine Leser, es sei »ein gründliches Verständnis des Geistes Nazi-Deutschlands ausschließlich im Lichte der ökonomischen und moralischen Krise der Nachkriegszeit unmöglich. Die Katastrophen der Niederlage und des Finanzdesasters mögen den Boden bereitet haben, in dem die Erreger gedeihen konnten, doch diese Erreger selbst lassen sich definitiv bis in die Zeit vor dem Krieg zurückverfolgen.«15 Kolnai zufolge war der Nationalsozialismus tief in der deutschen Geschichte verwurzelt und Ausdruck des »deutschen Geistes«. Daher sei kaum ein moderner deutscher Denker nicht nazistisch infiziert gewesen. Luther hätte keine Reformbewegung geführt, sondern eine gegen Rom und den Westen. Praktisch seien Hegel und Hitler gleich; Nietzsche und Stefan George hätten am meisten zum Aufstieg des Nazismus beigetragen.16 Max Schelers Argumente »verdienen es, im Zusammenhang mit dem geistigen Panorama Nazi-Deutschlands erwähnt zu werden«;17 Eric Voegelin sei ein faschistischer Gelehrter.18 Karl Jaspers’ Werk verströme einen Geist willentlicher Barbarei; und, nicht völlig unberechtigt, aber dennoch einseitig, Carl Schmitt und Martin Heidegger seien durch und durch Nazis.19 Mit Letzteren sei der deutsche Geist bewusst zu seinen Ursprüngen zurückgekehrt: »Heidegger ist im Verhältnis zu Luther das, was die strikte totalitäre Tyrannei des Faschismus im Verhältnis zum monarchischen Absolutismus ist, verstärkt durch den lutherischen Abscheu gegenüber der pragmatischen Moral sowie ihre Säkularisierung.«20

14 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 168. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 58. Vgl. ebd., S. 35, 42. Ebd., S. 450. Vgl. ebd., S. 475. Vgl. ebd., S. 249 f. Ebd., S. 313.

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Jahre später, als er seine Memoiren schrieb, räumte Kolnai ein, dass einige der Theorien, die er in »Der Krieg gegen den Westen« verdammt hatte, »nicht nur geistreich, sondern auch nur sehr geringfügig mit dem Nationalsozialismus verbunden waren. Sogar in der durch Nietzsche und Stefan George inspirierten Jugendbewegung war Protest gegen die öde Seichtigkeit der liberalen Gesellschaft und die spirituelle Zerstörung durch den Industrialismus ein innerer Kern.« Dennoch »war sie von den Wurzeln her verdorben durch einen übermäßigen pervertierten Naturalismus und vitalistisches Heidentum, und weniger gegen den Verfall der Zivilisation gerichtet als gegen die Zivilisation an sich.«21 Letztlich war es Kolnais Erkenntnis, dass »Der Krieg gegen den Westen« in seinem Kern ein Krieg des Heidentums gegen das Christentum war, die seinem mit Fehlern behafteten Buch wirkliche Bedeutung verlieh. Mit zahlreichen Zitaten von Hitler, Goebbels und anderen Nazis wie Alfred Rosenberg, Wilhelm Stapel und Ernst Krieck legte er die obsessiven Bemühungen der Nazis offen, das Christentum durch eine rohe heidnische germanische Religion zu ersetzen und das christliche Kreuz in ein Hakenkreuz zu verwandeln. Die Stammesreligion der Germanen sollte jenen Glauben ersetzen, der Männer und Frauen unabhängig von ihrer Nationalität einschloss, um so die Deutschen von den moralischen Schranken zu befreien, die ihnen durch die jüdisch-christliche Tradition auferlegt worden waren. An deren Stelle setzten die Nazis »die Moral der Größe und Rücksichtslosigkeit, der rohen Kraft und Effektivität«.22 Selbstverständlich war es nicht diese Einsicht, die Gollancz und Lewis beeindruckte. Sie wählten »Der Krieg gegen den Westen« für den Linken Buchclub aus, weil ihnen der Volksfront-Geist des Textes gefiel. Beeinflusst von Karl Polanyi argumentierte Kolnai, dass Christentum, Kommunismus und Demokratie Geschwister im Geiste, Mitglieder der westlichen Gesellschaft, waren. Daher könnte ein russischer Bolschewik, konfrontiert mit der Weltanschauung der Nazis, »dem römischen Katholizismus eine gewisse Sympathie entgegenbringen, ebenso wie ein britischer Tory die Anziehungskraft des russischen Bolschewismus entdecken konnte. Selbst ein englischer Linksintellektueller konnte bestimmte Merkmale der französischen Demokratie anerkennen.«23 Kolnai zog daraus den Schluss, dass der Westen ein Bündnis mit Sowjetrussland, wie lose auch immer, eingehen müsse. Kolnais Idol, Oszkár Jászi, sah das nicht so und äußerte das auch in einem ansonsten schmeichelhaften Brief:

21 22 23

Kolnai, Political Memoirs, S. 144. Kolnai, Krieg, S. 324. Ebd., S. 619.

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»Ihr Buch hat mir sehr gut gefallen. Es ist das beste und vollständigste Buch über den Nazismus, das bisher erschienen ist. Ich stimme mit Ihren Thesen in allen wichtigen Punkten überein; aber ich denke, dass Sie den Marxismus sorgfältig vermieden haben (um den heißen Brei herum geredet haben, oder Polanyis christlicher Kommunismus hat einen Einfluss auf Sie ausgeübt). Aber der Marxismus ist am meisten verantwortlich für die Zerstörung der demokratischen, liberalen Lehre – mit einem Wort, der Prinzipien der Naturgesetze. Mehr noch, Sie haben die Bolschewiken ein wenig vorschnell eingeladen, frisch von ihren politischen Massenmorden ins Lager der Verteidiger der demokratischen Weltordnung.«24

Jászi betonte, dass diese Kritik seine Bewunderung für das Buch nicht mindere und zeigte sich erfreut über die Einladung der »American Political Science Review«, das Buch zu rezensieren. Die Rezension war voll des Lobes, jedoch wiederholte Jászi seine Einwände gegen die »voreilige und unbegründete Einladung an die Bolschewiki zur gemeinsamen Verteidigung humanitärer Werte«25 durch seinen jüngeren Freund. Was für Jászi eine Schwäche war, sah die prokommunistische Linke als Stärke. Es war daher nicht überraschend, dass Lewis Kolnai zu Vorlesungen im LBC Sommercamp im August 1939 einlud. Thema war »Die faschistische Bedrohung der westlichen Zivilisation«. Umgeben von Kommunisten und Sympathisanten, die ihn verdächtigten, »ein Reaktionär und Agent des kapitalistischen Imperialismus zu sein«,26 fühlte er sich dennoch wohl, und er bedauerte, nach Paris zurückkehren zu müssen. Am 25. November 1940 gingen die Kolnais an Bord eines Schiffes nach New York. Sie verbrachten die nächsten viereinhalb Jahre in New York und Cambridge, Massachusetts. Kolnai passte nicht zu Amerika, wie er später anmerkte, nicht zuletzt wegen seiner Abneigung gegen die amerikanische Religion der Demokratie. Diese war für ihn selbst überraschend, da er sich lange für einen Demokraten gehalten hatte, sogar für einen Sozialdemokraten. Er erkannte, dass er die verfassungsmäßige Freiheit schätzte, nicht die Gleichheit, und dass die Demokratie zum Egalitarismus tendierte, dazu, »gegensätzlich zum Konstitutionalismus zu reagieren, indem sie die qualitativen, intellektuellen und moralischen Grundlagen einer rationalen und verantwortlichen Staatsbürgerschaft unterminiert und so demagogische Tyrannei und populistische Diktatur einlädt«.27 Nach dem Krieg beschäftigten Kolnai die Ereignisse in Europa weiter, insbesondere die Sowjetisierung Osteuropas. Nachdem der Nazismus besiegt war, 24 25 26 27

Oszkár Jászi, Brief an Kolnai vom 10.10.1938. In: »Sorai ismét választ követelnek: Jászi Oszkár és Kolnai Aurél levelezéséből«, Világosság, 38 (1997) 5–6, S. 75. Oscar Jászi, The War Against the West by Aurel Kolnai. In: American Political Science Review, 32 (1938) 6, S. 1166–1167, hier 1167. Kolnai, Brief an Béla Menczer vom 4.9.1939. Unterlagen von Aurel Kolnai im Besitz von Prof. David Wiggins, mit der Erlaubnis, daraus zu zitieren. Kolnai, Political Memoirs, S. 195 f., 203.

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schien der Kommunismus eindeutig die größte Gefahr für das, was von der christlichen Zivilisation übrig geblieben war. Kolnai wusste, dass er mit dieser Erkenntnis nicht allein stand, aber er war überzeugt davon, dass zu viele Antikommunisten falsche Vorstellungen vom Wesen der kommunistischen Gefahr hatten. Kolnai teilte die von ihm identifizierten antikommunistischen Irrtümer in vier Kategorien, die erste Gruppe von Irrtümern bezeichnete er als »pragmatisch oder nebensächlich«. Darunter war die von Szamuely und anderen vertretene Idee, wonach der Kommunismus das Werk der Zaren fortgesetzt habe und dass das zaristische wie das kommunistische Russland Formen des orientalischen Despotismus seien. Kolnai räumte ein, dass ein Körnchen Wahrheit in dieser Idee stecke, sie verschleiere jedoch den zutiefst subversiven und universalistischen Charakter der kommunistischen Lehre.28 Eine zweite Kategorie antikommunistischer Irrtümer nannte Kolnai »progressive Kritik«. Manche, wie Koestler nach seinem Austritt aus der Partei (und Mészáros nach 1956), meinten, der Kommunismus hätte seine Versprechen nicht gehalten, er hätte einen neuen Staatskapitalismus institutionalisiert, ausbeuterischer und ungleicher als der alte Privatkapitalismus. Solch eine Kritik, bemängelte Kolnai, zeige eine Akzeptanz der kommunistischen Ideale bei bloßer Ablehnung des sowjetischen Experiments; sie lasse den eigentlichen Kern des Kommunismus unberührt. Ebenso wie jene Kritik, der zufolge das Sowjetregime keine Diktatur, sondern nur eine Diktatur des Proletariats sei. Kolnai schrieb: »Kommunismus ist nicht deshalb ein scheußliches Regime, weil es dem Willen des Volkes entgegensteht, sondern weil es im Wesentlichen eine Gott entgegen­geschleuderte Herausforderung ist. Kommunismus verletzt die göttliche Ordnung der Natur, nicht weil er eine mangelhafte Diktatur des Proletariats ist, sondern weil er danach strebt, eine perfekte zu werden.«29 Als Rebellion des Menschen gegen Gott und daher gegen die natürliche (einschließlich der moralischen) Ordnung, die Gott geschaffen hat, kann der Kommunismus nicht, so Kolani, in rein »naturalistischen und pseudo-wissenschaftlichen« Begriffen interpretiert werden, als bloße Reaktion auf Armut oder soziale Ungerechtigkeit. Im Gegenteil, er sei selbst das eigentliche Übel. Einige erkannten das und dachten laut darüber nach, ob die westliche Zivilisation mit ihren Idolen des Fortschritts, der Prosperität, Technologie und dem Volk, es Wert war, verteidigt zu werden. Kolnai erkannte die Stärke dieser Kritik, sprach sich aber für die Anerkennung eines »Gebotes der Dringlichkeit«30 aus. Kommunismus sei

28 29 30

Vgl. Aurel Kolnai, Errores del anticomunismo, übers. von Salvador Pons, Madrid 1952, S. 27. Ebd., S. 46 f., 63. Aurel Kolnai, Ethics, Value and Reality: Selected Papers of Aurel Kolnai. Hg. von Francis Dunlop und Brian Klug, Indianapolis 1978, S. 39.

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das weltweit wichtigste und unmittelbarste Übel; die Kritik an der Demokratie könne daher warten, bis er besiegt sei. Sicher in seinem Glauben und befriedigt darüber, dass er sein Möglichstes getan hatte, um den Kommunismus bekämpfen, widmete Kolnai die ihm verbleibenden Jahre hauptsächlich der Ausarbeitung einer Moralphilosophie, die weniger im engen Sinn katholisch als allgemein christlich war, insbesondere im Bestehen auf der Existenz des Bösen. Kolnai erachtete die Pflicht zur »Nicht-Bösartigkeit« als thematisch – theoretisch und existenziell – vorrangig.31 Denn als Phänomenologe schlussfolgerte er, dass moralische Erfahrung »vor allem eine Erfahrung des Bösen ist, der Wegweiser, Tabus oder Verbote, die uns vor seiner Anwesenheit warnen«.32 Das moralische Bewusstsein beschäftigt sich weitaus mehr mit begangenem Übel als mit unterlassenem Guten; es verbringt keine schlaflosen Nächte, weil sein Besitzer kein Heiliger ist, aber es hat Gewissensbisse, wenn sein Besitzer Versprechen gebrochen, Vertrauen verraten oder gelogen hat. Die Notwendigkeit, den moralischen Intrinsikalismus (Realismus) zu betonen, erwuchs für Kolnai aus der in den 1960er-Jahren aufkommenden »Situations­ ethik« und deren Ersetzung aller moralischen Imperative durch »Liebe«. In einem Austausch mit dem Situationisten Joseph Fletcher warnte er vor der »infantilen Fantasie« der menschlichen »allgemeinen Güte, garantiert durch Betätigen des einen magischen Knopfes der Liebe«. Den Satz »Gott ist Liebe« hielt er für übertrieben, auch wenn er biblisch sei, schlimmer noch war die subtilere Umkehrung – »Liebe ist Gott« – benutzt von immer mehr Menschen, die meinten, sich dadurch von jeder Verantwortung für objektive moralische Normen zu befreien. Nur ihr individuelles Gewissen sollte der moralische Souverän sein.33 Eine solche Auffassung konnte Kolnai nur zurückweisen, aber nicht, weil er das Gewissen für unbedeutend hielt. Im Gegenteil, er hatte Kardinal Newmans »Essay in Aid of a Grammar of Assent«, insbesondere die Abschnitte über das Gewissen, gelesen. »Das Gefühl des Gewissens«, hatte Newman geschrieben, »ist ein moralisches Gefühl, ein Gefühl der Pflicht; ein Urteil der Vernunft und ein maßgebendes Gebot.«34 Kolnai stimmte dem zu, wobei ihm der Aspekt des »Urteils der Vernunft« besonders wichtig war, da Moralität für ihn nicht bloß eine Angelegenheit der Konvention und noch weniger eine eines vagen »Gefühls«35 war.

31 Vgl. W. D. Ross, The Right and the Good, Indianapolis 1988, S. 22. 32 Aurel Kolnai, The Thematic Primacy of Moral Evil. In: Philosophical Quarterly, 6 (1956) 22, S. 27–42, hier 27. 33 Vgl. Aurel Kolnai, A Defense of Intrinsicalism Against ›Situtation Ethics‹. In: Robert L. Cunning­ ham (Hg.), Situationism and the New Morality, New York 1970, S. 232–271, hier 251 f., 255. 34 John Henry Cardinal Newman, An Essay in Aid of a Grammar of Assent, New York 1947, S. 80. 35 Kolnai, Ethics, Value and Reality, S. 148.

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Bei aller Bedeutung des Gewissens wusste Kolnai, dass Handeln in Übereinstimmung mit dem Gewissen nicht das einzige Kriterium für richtiges oder falsches Verhalten sein konnte. Das Gewissen konnte irren, vor allem wenn es »überlagert« war; das heißt, wenn es sich an ein nicht-moralisches Absolutes, wie den Kommunismus, anpasste. Echtes Gewissen, Gewissen wie es sein sollte, war stets im Dialog mit dem moralischen Gewissen der Menschheit. »Dieser Konsens ist nicht korrekt oder erschöpfend repräsentiert durch ein spezifisches System, eine Lehre, eine Person oder ein Kollektiv. Es ist festgeschrieben in den moralischen Institutionen, Traditionen und Codes, die notwendigerweise unvollständig, ambivalent und unzulänglich und daher interpretationsbedürftig, ergänzungsbedürftig und reproduktionsbedürftig durch das Gewissen sind.«36 Das Gewissen müsse aktiv und kritisch innerhalb des moralischen Konsens oder der Tradition wirken. Nur so könne ein Individuum einen sicheren Weg zu moralischer Führung finden. Das erste Problem, mit dem sich Kolnai auseinandersetzen musste, war die Frage, ob es so etwas wie moralischen Konsens überhaupt gab. Hatten nicht unterschiedliche Individuen verschiedene moralische Werte, wie Relativisten behaupteten? Seine Antwort war, dass es natürlich Differenzen moralischer Bewertungen gibt. Jedoch erkenne die überwältigende Mehrheit der Menschen an, und nicht nur die Besten und Klügsten, dass man zum Beispiel nicht seine Versprechen brechen oder Vertrauen missbrauchen sollte, dass man jenen, denen es schlechter geht als einem selbst, eher helfen sollte, anstatt sie ausnutzen. Moralisches Fehlverhalten, das Nicht-Erreichen moralischer Standards, sei irrelevant für die universelle Anerkennung ihrer Verbindlichkeit. Kolnai richtete seinen Blick nicht nur auf den moralischen Konsens seiner eigenen jüdisch-christlichen Zivilisation; zumindest nicht nachdem er H ­ usserls posthum veröffentlichtes Werk »Erfahrung und Urteil« gelesen hatte. Mit dieser Schrift im Hinterkopf bemerkte er, dass es für einen Philosophen wichtig sei, im Kontext eines immer begrenzten, sich jedoch stetig erweiternden »Horizonts« relevanter, doch unklarer moralischer Intuition »weltbewusst zu sein«.37 So könne sich das moralische Gewissen des Philosophen auf die kollektive Weisheit jener außerhalb seiner kulturellen Welt stützen und dadurch zu noch größerer Wertschätzung moralischer Objektivität gelangen. Natürlich seien unterschiedliche Zivilisationen manchmal auffallend vom moralischen Konsens abgewichen, aber »der Missklang zwischen dem Glauben der Menschen, ihren Religionen, ihren para- oder nichtreligiösen Perspektiven, ganz zu schweigen von ihren dominierenden individuellen und kollektiven Interessen [ist weitaus größer als]

36 37

Ebd., S. 19. Ebd., S. 160 f.

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der zwischen ihren moralischen Überzeugungen in der ganzen Welt und durch die Geschichte hindurch!«38 Kolnais Argument ist, dass es in Bezug auf moralische Normen viel mehr kulturübergreifende Übereinstimmung und daher mehr Identität des moralischen Gewissens gibt als Relativisten glauben machen wollten. Diese Übereinstimmung werde besonders deutlich, wenn man bizarre und untypische moralische Behauptungen und Systeme ignoriere und solche wichtigen moralischen Kompendien wie den Code von Hammurabi, die Zehn Gebote, ägyptische ethische Texte, den Koran usw. betrachte. Nachdem er argumentierte, dass es einen moralischen Konsens der Kulturen gebe, widmete sich Kolnai der Frage, ob dieser absolut im Sinne von unveränderlich sei, was er verneinte. Stattdessen charakterisierte er den moralischen Konsens als »quasi absolut«, wo er besser den Begriff autoritativ verwendet hätte. Wie bei Personen mit starkem Charakter sei der moralische Konsens in ständigem Dialog, immer offen für Kritik und Verbesserung. Moralische Normen seien nicht, wie der heilige Thomas gelehrt hatte, »Naturgesetze«, ein für alle Mal durch Vernunft zu entdecken, sondern Kristallisationen der kollektiven moralischen Weisheit der Menschen aller Zeiten und Orte. Neue Einsichten könnten und würden auch Modifikationen dieses Konsens bewirken. In der Mehrheit der Fälle etablierten diese Modifikationen eher neue Verantwortlichkeiten als neue »Freiheiten«, und die Last des Beweises liege immer bei denen, die sich für Veränderung einsetzten. Mehr noch, dieser Beweis müsse mehr als eine kleine Gruppe angepasster Westler überzeugen. Es existiere ein großer Unterschied, so Kolnai, zwischen dem objektiven Moralkonsens und einem einfachen historischen Ethos wie »unserem eigenen extravaganten, destruktiven und dümmlich dogmatischen Glauben in eine alles umfassende Gleichheit«.39 Kolnais Moralphilosophie gründete sich auf seinem Glauben an intrinsische moralische Prinzipien, die zwar durch Intuition entdeckt, sich zugleich jedoch auf die kollektive moralische Weisheit aller Menschen beziehen würden. In jedem speziellen Fall müsse man natürlich sein moralisches Urteilsvermögen im Kontext des nie endenden Dialogs zwischen dem eigenen Gewissen und dem Moralkonsens erproben. Das konstituiere eine »individualistische Konzeption der menschlichen Gemeinschaft«, weil es innerhalb dieser einen Platz für das individuelle Gewissen sichere. Das heißt, es erlaube und ermuntere eine disziplinierte Form der menschlichen Freiheit. Auf diese Weise lokalisiere es seine politischen Gegner im Regime des verfassungsmäßigen Liberalismus.40

38 39 40

Ebd., S. 158. Ebd., S. 154, 161. Vgl. ebd., S. 138.

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In Verteidigung des christlichen Europa Mit offensichtlichem Bedauern identifizierte Kolnai die Psychoanalyse als einen der prinzipiellen Feinde des christlichen Europa. Kolnai betitelte seine Kritik an Freud im »Volkswohl« als »Eine Illusion der Zukunft«. Seine prinzipielle Ablehnung kam natürlich von seiner schrittweisen Abkehr von der Psychoanalyse und seiner Hinwendung zur Phänomenologie, vom Unbewussten zum Bewusstsein. Freud, so bemerkte er, blieb sich selbst und der »Wissenschaft«, die er erfunden hatte, treu, wenn er Gesunde zu Kranken machte und höhere Werte zu verachtenswerten erklärte. Nur, warum man diese Reduktion vornehmen solle, sei nicht klar. Und wenn, wie Kolnai verschmitzt fortfuhr, die religiöse Phase der Menschheit eine der Unreife war, so hätte sie doch wundersame »Kinderspiele« wie die griechische Philosophie, das römische Recht, mittelalterliche Kathedralen und die Theorien von Newton und Descartes hervorgebracht. Er schlussfolgerte, dass Freuds Denken nichts war als eine moderne Version der alten Illusion der Menschen, die dachten, sie bräuchten Gott nicht mehr, eine Illusion symbolisiert durch den Turmbau zu Babel.41 Für Kolnai war klar, dass eine solche Illusion gefährliche Konsequenzen haben konnte. Daher verstörte ihn die Begegnung mit Thomas Manns gefeiertem Aufsatz »Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte«. Im Kern argumentierte Mann, dass Freud der authentische Erbe der Romantiker des 19.  Jahrhunderts sei, der größte moderne Erforscher der dunkleren Regionen des menschlichen Herzens. Das heiße nicht, wie Mann sich beeilte zu ergänzen, dass das österreichische Genie Vernunft und Aufklärung verwerfe. Im Gegenteil, wie seine romantischen Vorgänger sei Freud ein Revolutionär, der verstehe, dass der wahren Aufklärung am besten gedient ist, wenn die Mächte der Dunkelheit dem Licht der Vernunft ausgesetzt würden, die irrationalen Instinkte, die erkannt werden müssten, bevor sie gezähmt werden könnten. Mann schreibt, dass in der Psychoanalyse, »der tiefste Kennersinn für die Krankheit nicht endgültig um der Tiefe und der Krankheit willen, nicht im vernunftfeindlichen Sinn also, am Werke ist, dass es hier vielmehr, bei allen Vorteilen, die der Lebenserkenntnis aus der Erkundung des Dunkels erwachsen, zuerst und zuletzt um Lösung und Heilung, um Aufklärung in des Wortes menschenfreundlichster Bedeutung geht«.42 Zweifellos war ein wahrer Kern in dieser Idee, die Mann in »Der Zauberberg« ausgeführt hat. Kolnai stellte jedoch infrage, ob die Beschäftigung mit der dunklen Seite der menschlichen Natur die Menschen wirklich zu höheren Dingen

41 42

Vgl. Aurel Kolnai, Eine Illusion der Zukunft. In: Volkswohl, 19 (1928) 2, S. 53–56. Thomas Mann, Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929). In: ders., Essays Band 3: Ein Appell an die Vernunft 1926–1933, Frankfurt a. M. 1994, S. 122–154, hier 144 f.

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führen würde. Tieferes Nachdenken würde zu der Einsicht führen, so glaubte er, dass ein Vertiefen in erotische Erfahrungen der Kindheit nur dazu diene, die Aufmerksamkeit von wichtigen Fragen, einschließlich solcher die gesellschaftlichen und politischen Institutionen betreffend, abzulenken. Ungeachtet des Lobes von Thomas Mann habe Freud das komplexe Problem der Beziehung zwischen Instinkt und Moral, zwischen der dunklen Gefangenschaft der Seele und den hellen Zielen der Person nicht gelöst. Das katholische Christentum allein sei fähig, alle Aspekte der menschlichen Natur zu ihrem Recht kommen zu lassen, ohne in die Falle der Unterordnung der höheren unter die niederen zu gehen.43 Der Hauptgrund für die Ignoranz von Thomas Mann gegenüber den Gefahren der Psychoanalyse läge darin, dass er, wie Freud, einen allgemeinen Glauben an den Fortschritt hege. Dieser Glaube mache ihn blind für das Problem des Bolschewismus, einer Ideologie, die vorgab, der Höhepunkt aller fortschrittlichen Bewegungen zu sein. In Wirklichkeit, so Kolnai, sei er teuflischer und mörderischer als der Faschismus, den Mann zu Recht fürchtete, eben weil er neuartiger war, weniger durch die Vergangenheit beherrscht. Kolnai nahm die kommunistischen Machtambitionen ernst, jedoch bereiteten ihm auch jene in Ungarn, Österreich und an anderen Orten in Europa wachsende Sorgen, die für die Konterrevolution arbeiteten. Diese Aktivisten stellten eine unmittelbarere, wenngleich weniger tiefgehende, Gefahr für das christliche Europa dar. Aufgrund seines Wissens über das Horthy-Regime in Ungarn erkannte Kolnai, dass die Konterrevolution mindestens so viel gemeinsam hatte mit der Revolution wie mit dem traditionellen Konservatismus. So stellte sie sich keine Wiederherstellung der vorrevolutionären Periode in Reinform vor, sondern strebte stattdessen eine Integration von Elementen der revolutionären Ordnung an.44 Kolnai bewertete das als Beleg dafür, dass die Konterrevolution mit keiner speziellen Klasse identifiziert werden konnte; sie sprach isolierte, deklassierte Individuen an.45 Darin unterschieden sich freilich konterrevolutionäre Regimes vom revolutionären Bolschewismus, der das Proletariat zur erlösenden Klasse ausrief. Sie unterschieden sich ebenso darin, dass ihnen eine klare Ideologie fehlte. Kolnai zufolge waren sie Kirchen, die auf vielen und sich widersprechenden Häresien gegründet waren, Despotismen des Willens auf der Suche nach legitimierenden Ideen. Theoretiker, die den liberalen Individualismus ablehnten und sich nach einer Erneuerung des Gemeinschaftssinns sehnten, standen bereit, solche Ideen zu 43 44 45

Vgl. Aurel Kolnai, Thomas Mann, Freud und der Fortschritt. In: Volkswohl, 20 (1929) 9, S. 326 f.
 Aurel Kolnai, Gegenrevolution. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, 10 (1931) 2, S. 171– 199, hier 172. Ebd., S. 187, 189.

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liefern. Kolnai war besonders besorgt über österreichische Unterstützer des sogenannten korporatistischen Staates. Die Theorie des Korporatismus reichte zurück zu den Romantikern des 19. Jahrhunderts, Adam Müller und Karl von Vogelsang, die beide darauf hofften, das wiederherzustellen, was sie als die harmonische soziale Ordnung des Mittelalters ansahen, nämlich eine Ordnung unberührt von Demokratie und Kapitalismus. Nach 1918 aktualisierte und verbreitete Othmar Spann, Professor für Ökonomie und Soziologie in Wien, Müllers und Vogelsangs Ideen. Er lehnte Demokratie und Kapitalismus ab, weil beide im »Individualismus« wurzelten. Seinem »neoromantischen Universalismus« zufolge war die Gesellschaft »eine Ganzheit, deren Teile nicht unabhängig voneinander, sondern Mitglieder dieser Ganzheit waren«.46 Wahre Individualität setze immer eine Gezweiung voraus – von Künstler und Öffentlichkeit, Mutter und Kind, Lehrer und Schüler. Das eine würde sich nur in Beziehung zum anderen entwickeln. Spann sah diese Beziehung als Modell für die Beziehung zwischen der Gesellschaft als Ganzem und ihren Mitgliedern. Den Kapitalismus verdammte er als das dem Individualismus entsprechende ökonomische System. Er sei entstanden als Resultat aus »der Zersplitterung des ständischen Geistes, der ständischen Harmonie des Mittelalters, die ihren Ausdruck fand in der Gilde, der Kirche, dem Lehen, ständischen und brüderlichen Organen aller Art«.47 Als das dem Universalismus angemessene Wirtschaftssystem empfahl er den Korporatismus. Sein System war detailliert und so kompliziert, dass er sich selbst manchmal seiner rigiden Logik nicht bewusst war. Die Grundkomponenten seiner neuen Gesellschaft würden nicht Individuen sein, sondern hierarchisch organisierte Gemeinschaften, genannt Stände. Obwohl das System stark dezentralisiert sein sollte, würde ein überlegener Stand jederzeit bindende Anordnungen gegenüber einem niederen Stand erteilen können. Auf diese Weise würde der politische Stand, welcher als einziger für die Nation als Ganze sprechen könnte, die Kontrolle über die gesamte Hierarchie der Stände haben. An einem Dezemberabend des Jahres 1928 besuchte Kolnai eine Vorlesung, die Spann vor einer dankbaren Versammlung der Leo-Gesellschaft hielt. Erbost über das, was er gehört hatte, schrieb er einige Reflexionen über den antikatholischen Charakter der Ideen des berühmten Soziologen nieder.48 Er verhehlte nicht, dass es Berührungspunkte zwischen Katholizismus und Spanns Universalismus gab, einschließlich der Zurückweisung individueller Autonomie und der Anerkennung der Bedeutung von Gemeinschaft. Er betonte jedoch, dass ­Katholiken

46

Zit. in Alfred Diamant, Austrian Catholics and the First Republic: Democracy, Capitalism, and the Social Order, 1918–1934, Princeton 1960, S. 132. 47 Ebd., S. 136. 48 Aurel Kolnai, Ist O. Spanns ›Universalismus‹ mit katholischem Denken vereinbar? In: Volkswohl, 20 (1929) 3, S. 81–85, 126–131.

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niemals Spanns Vergötterung der sozialen Totalität billigen könnten. Vom Standpunkt der Kirche war Gott die ultimative Realität, der sowohl die Gemeinschaften als auch die in ihnen lebenden Individuen untergeordnet seien. Diese Autorität zu ignorieren und die primäre Bedeutung von Personen herabzumindern, wie Spann es tat, bedeute, in die Falle des »Universalismus« zu gehen, der lediglich ein Euphemismus für zentralstaatliche Tyrannei sei. Kolnai bezog zusätzliche Munition für seine Kritik an Spann von Dietrich von Hildebrands »Metaphysik der Gemeinschaft« (1930), einer »vernichtenden Kritik an Othmar Spanns totalitaristischer, faschistischer Philosophie des ­Staates«,49 ebenso aus Diskussionen mit Polanyi, der große Teile eines Essays über den Faschismus von 1930 einer kritischen Auseinandersetzung mit Spanns Werk widmete. Der konterrevolutionäre Theoretiker attackiere zumindest den atheistischen Individualismus zu Recht, so Kolnais Freund. Der Individualismus von Dostojews­ kis Atheisten – Kirilow, Raskolnikow, Stawrogin und Iwan Karamasow – erkenne keine Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen an. Es sei das Credo der Übermenschen, die glaubten völlig autonom und letztlich Gott zu sein.50 Aber, so bemerkte Polanyi, es gäbe auch ein christliches Verständnis von Individualismus, und Spann war bereit, auch dieses auf dem Altar einer zwangsweisen und entmenschlichenden Totalität zu opfern. Nach christlicher Auffassung vom Individualismus würde ein vollständig autonomes Wesen, wenn ein solches denkbar wäre, keine »Person« sein. Persönlichkeit leite sich ab aus einer Beziehung zu Gott und den Mitmenschen, sie existiere nicht außerhalb der Gemeinschaft. »Die Realität der Gemeinschaft«, so Polanyi, »ist die Beziehung zwischen Personen.« Jede Konzeption von Gemeinschaft, die die Persönlichkeit in dem Bemühen untergrabe, ein undifferenziertes Eins-Sein zu erreichen, sei grundlegend antichristlich. »Der Kampf«, so schlussfolgerte er, »findet statt zwischen den Repräsentanten jener Religion, die die menschliche Persönlichkeit entdeckt hat, und denen, die die Abschaffung der Person zum Mittelpunkt ihrer neuen ­Religion gemacht haben.«51 Da er kein Katholik war, war Polanyi weniger als Kolnai über den stärker werdenden Anschluss des österreichischen Katholizismus an das korporatistische Modell verärgert. Die Spaltung innerhalb des katholischen Lagers zwischen jenen, die Sozialpolitik bevorzugten, Bemühungen um graduelle Veränderungen innerhalb des existierenden sozioökonomischen Rahmens, und denen, die an Sozialreform festhielten, einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft entlang

49 Ders., Katholizismus und Demokratie. In: Der österreichische Volkswirt, 26 (1933–34) 1, S. 318–321, hier 319 f. 50 Karl Polanyi, The Essence of Fascism. In: John Lewis/Karl Polanyi/Donald K. Kitchin (Hg.), Christianity and the Social Revolution, Freeport 1972, S. 368 f. 51 Ebd., S. 370, 390.

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korporativer Linien, bestand weiterhin. Doch in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren verschob sich das Gleichgewicht von ersteren zu letzteren. Dafür gab es eine Reihe von Gründen, darunter die lang anhaltende Unzufriedenheit der Katholiken mit dem modernen Staat und der kapitalistischen Ökonomie. Am wichtigsten war vielleicht die Veröffentlichung der päpstlichen Enzyklika »Quadragesimo anno« von 1939 (Papst Pius XI.), »Umbau der gesellschaftlichen Ordnung und ihre Vervollkommnung entsprechend den Geboten des Evangeliums«. Darin versuchte der Papst, das »Rerum novarum« von Leo XIII., welches allgemein für den Sieg der Sozialpolitik gehalten wurde, zu aktualisieren. Obwohl er vieles sagte, was als Fortsetzung der Unterstützung dieser Positionen interpretiert werden könnte, befürwortete er eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung entlang korporativer Linien. Der soziale Frieden könne am besten gesichert werden, so behauptete er, indem Klassen durch Berufsgruppen ersetzt werden, indem »Menschen vereinigt werden nicht nach den Positionen, die sie auf dem Arbeitsmarkt bekleiden, sondern nach den verschiedenen Funktionen, die sie in der Gesellschaft ausüben«.52 Es sei die Aufgabe des Staates, diese grundlegende Reform umzusetzen. Die Enzyklika des Papstes signalisierte klar die Hinwendung der Kirche zu den Prämissen der Sozialreform. Es gab zu dieser Zeit Gerüchte, dass Ignaz Seipel, Geistlicher und ehemaliger Kanzler, einer der Autoren des Dokuments gewesen sei. Zweifellos hatte der christlich-soziale Führer seine frühere Position der Sozialpolitik verlassen und begonnen, für den korporativen Staat zu werben. Bald nachdem er im April 1929 als österreichischer Kanzler zurückgetreten war, gab Seipel seine Unterstützung für die Heimwehr bekannt. Etwa zur gleichen Zeit machte er Spann ausfindig, dem gegenüber er vormals sehr ambivalent eingestellt war, und schlug eine intellektuelle Allianz vor.53 »Wir haben vor uns«, klagte Kolnai, eine »faschistische Interpretation der päpstlichen Enzyklika ›Quadragesimo anno‹, die Übernahme von Spanns ›Doktrin der Totalität‹, dieser pseudochristlichen, heidnischen Ideologie von Autorität, die die Maske der Wissenschaft und des Katholizismus trägt.«54 1932 übernahm Engelbert Dollfuß die österreichische Kanzlerschaft. Als im darauffolgenden Jahr Hitler von Hindenburg zum Kanzler ernannt wurde, verstärkte dies das Bestreben des österreichischen katholischen Lagers, eine neue Verfassung zu entwerfen, die einen Staat nach dem Muster der päpstlichen Enzyklika »Quadragesimo anno« schaffen würde. Im März 1933 hob Dollfuß das Parla­ment auf und im September sprach er auf einer Massenveranstaltung der 52 53 54

Zit. in Diamant, Austrian Catholics, S. 177.
 Vgl. Klemens von Klemperer, Ignaz Seipel: Christian Statesman in a Time of Crisis, Princeton 1972, S. 363.
 Aurel Kolnai, Das Seipel-Bild. In: Der österreichische Volkswirt, 24 (1932) 2, S. 1102.

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sich formierenden »Vaterländischen Front«. »Die Tage des kapitalistischen Systems, die Ära der liberal-kapitalistischen Wirtschaft sind vorbei«, erklärte er. »Wir verlangen ein soziales, christliches, germanisches Österreich auf korporativer Grundlage unter starker, autoritärer Führung.«55 Das Schlimmste befürchtend, versuchte Kolnai in letzter Minute, die Österreicher vor der drohenden Gefahr zu warnen. Korporatisten, sagte er, benutzten den Begriff »Stand«, um ihre wahren Absichten zu verbergen. Ihre Rede von einem Staat nach dem Muster des »Quadragesimo anno« sei bedeutungslos, da Pius XI. keine spezielle gesellschaftliche Verfassung, sondern eine ökonomische Organisation beschrieben hätte. Die Berufsstände, von denen er gesprochen hatte, seien Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, keine administrativen Arme des Staates; streng genommen sei ein Ständestaat ein Widerspruch in sich. »Quadragesimo anno« sei daher mit Spanns Theorie, der zufolge der Herrschaftsstand lediglich einer der Berufsstände war, unvereinbar. Seine Aufgabe war, die Angelegenheiten des Staates zu lenken. In der Praxis hieße das, die faschistische Partei würde die Macht ausüben und die anderen Stände hätten Befehle auszuführen.56 Bald zeigte sich, wie recht Kolnai hatte. Im Februar 1934 organisierten die Sozialisten, mit dem Rücken zur Wand, einen Generalstreik. Dollfuß war zu dieser Zeit in Budapest und Emil Fey, Minister für innere Sicherheit, forderte die Heimwehr zum Kampf mit dem Schutzbund auf. Der folgende Bürgerkrieg war kurz. Die Mitglieder des Schutzbundes verbarrikadierten sich in den riesigen, festungsartigen Mietskasernen, die die sozialistische Regierung zehn Jahre zuvor gebaut hatte. Dort hielten sie sich für 24 Stunden, bevor sie kapitulierten. Mit dem Ende des Bürgerkrieges war das Rote Wien Geschichte.

Konkreter Konservatismus Als sich die katholische Obrigkeit und die christlich-soziale Partei dem korporativen Staat zuwendeten, gab Kolnai seinen »Anfällen von Antiklerikalismus« nach und näherte sich Ende 1930 der sozialdemokratischen Partei.57 Er blieb jedoch überzeugter und praktizierender Katholik und pflegte weiterhin enge Beziehungen zur österreichischen Liga religiöser Sozialisten. Die religiösen Sozialisten organisierten eine Reihe von Konferenzen im Jahr 1928, die im November mit dem zweitägigen »Kongress für Christentum und Sozialismus« ihren Höhepunkt hatten. Kolnai war einer von 1 500 Teilnehmern, 55 Zit. in Diamant, Austrian Catholics, S. 194. 56 Vgl. Aurel Kolnai, Die Ideologie des Ständestaates. In: Der Kampf, 27 (1934) 1, S. 13–23, hier 13 f., 21. 57 Vgl. ders., Twentieth-Century Memoirs, S. 37 f.

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die hofften, eine Antwort auf jene Frage zu finden, die er in »Der österreichische Volkswirt« formuliert hatte: »Kirche und Sozialismus, die beiden einzigen Hoffnungen unserer desillusionierten Zeit, tasten sich ab. Wer sollte als Erstes die Hand ausstrecken?«58 Nach dem Kongress hatte er seine Antwort, die er in einer begeisterten Besprechung im »Volkswirt« referierte. »Die Bewegung schreitet voran«, schrieb er, »von der Ablehnung der angeblichen Gegensätzlichkeit von Sozialismus und Religion, insbesondere der christlichen Religion und am meisten der katholischen Religion (Österreich als katholisches Land) ist sie bestrebt, die historisch bedingten Gegensätze zwischen der sozialistischen Arbeiterbewegung und der katholischen Kirche zu überwinden und die letztliche Gemeinsamkeit der Ideale beider herauszuarbeiten.«59 Nur wenige Katholiken waren davon beeindruckt. Die meisten glaubten, dass die Konzeption der religiösen Sozialisten mehr mit Sozialismus zu tun hatte als ihre Konzeption von Sozialismus mit dem Christentum. Der Bund ließ sich dadurch jedoch nicht zurückhalten. Am Pfingstsonntag 1930 eröffnete Otto Bauer eine Konferenz in der kleinen Stadt Berndorf mit einem Aufruf an alle Mitglieder: »Wir brauchen für unsere Konferenz eine innere und eine äußere Beziehung zu Pfingsten. Etwas von dem Wunder der Gemeinschaft der ursprünglichen Pfingstgemeinde muss auch in uns lebendig sein. Wir wollen die neue soziale und wirtschaftliche Ordnung nach dieser Gemeinschaft und für die Gemeinschaft schaffen.«60 In diesem Sinn arbeiteten die Konferenzteilnehmer das »Berndorfer Programm« aus. Es verkündete die Ersetzung des Kapitalismus durch eine neue soziale und wirtschaftliche Ordnung nach demokratischen Prinzipien. Staats­ eigentum würde auf ein Minimum beschränkt und Genossenschaften gefördert werden. Wenn sie die Kontrolle über die Produktionsmittel erlangt hätten, würden sich die Arbeiter zu Persönlichkeiten entwickeln und nicht länger dazu degradiert werden, Waren zu sein. Die Autoren des Programms wandten sich gegen die Bildung separatistischer Parteien und befürworteten ein Engagement innerhalb der größeren sozialistischen Bewegung. Gleichzeitig rieten sie der Sozialdemokratischen Partei, individuelle Freiheit in weltanschaulichen Fragen zuzulassen. Die Partei sollte eine politische und wirtschaftliche, ideologisch neutrale Organisation der arbeitenden Menschen sein. So könnten Freidenker und christliche Sozialisten in kulturellen Angelegenheiten ihrem Gewissen folgen.61 Nachdem er das Programm sorgfältig studiert hatte, trat Kolnai dem Bund bei. 58 Aurel Kolnai, Das Weihnachtsmanifest der österreichischen Bischöfe. In: Der österreichische Volkswirt, 18 (1925–26) 1, S. 390–392, hier 392. 59 Ders., Religiöse Sozialisten. In: Der österreichische Volkswirt, 21 (1928–29) 1, S. 190. 60 Zit. in Josef Außermair, Kirche und Sozialdemokratie, Der Bund der religiösen Sozialisten 1928–1938, Wien 1979, S. 70. 61 Vgl. ebd., S. 205, 207, 210–212, 214.


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Von Pius XI. kompromissloser Erklärung war er enttäuscht: »›Religiöser Sozialismus‹, ›christlicher Sozialismus‹ sind in sich widersprüchliche Begriffe. Niemand kann zur gleichen Zeit ernsthafter Katholik und wahrer Sozialist sein.«62 Öffentlich betonte er, dass der Papst den Unterschied zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie kenne und den Sozialismus als sozialökonomisches System nicht verdamme. Verbittert schrieb er jedoch: »Es liegt absolut nicht auf der Hand, nicht einmal für einen gläubigen und der Kirche gegenüber loyalen Katholiken, die konkrete Frage der politischen und sozialökonomischen Ordnung auf der Basis päpstlicher Enzykliken zu beantworten.«63 Zusammen mit Polanyi arbeitete er weiterhin für den Bund. Im »Menschheitskämpfer« schrieb er, dass nur ein im Glauben wurzelnder Sozialismus die politische Religion des Faschismus besiegen könne. Aber die Zeit lief ihm davon. Nachdem Dollfuß die Macht übernommen hatte, betrachtete die Regierung die Zeitschrift mit wachsender Missbilligung. Die Ausgabe vom Oktober 1933 wurde konfisziert und die Redakteure kurz darauf gezwungen, die Publikation zurückzuziehen. Der Bund musste sich auflösen. Im Gegensatz zu Otto Bauer, der mehr Sozialist als Katholik war, kam für Kolnai der Glaube zuerst. Noch vor seiner Konversion hatte ihn Hilaire Bellocs Statement beeindruckt, wonach »Europa zu seinem Glauben zurückkehren oder seine Zivilisation scheitern« müsse. In seinen Memoiren schrieb er: »Dass Europa nur es selbst sein kann, oder sogar sein bestes Selbst, in seiner mittelalterlichen Form, schien lediglich ein arbiträres Paradox. Dass jedoch sein Leben irgendwie gebunden ist an das Überleben seiner religiösen Grundsubstanz, dass seine Lebenskraft letztlich katholisch ist und seine Krise damit zu tun hatte, dass es sich zu weit von dieser religiösen Grundlage entfernt hatte, schienen begründete Annahmen zu sein.«64

Als Konsequenz dieser Überzeugung waren Kolnais Sozialtheorien im Wesen konservativ. Später erinnerte er sich an die Zwischenkriegsjahre als eine Zeit, in der er dem »grundlegenden Konservatismus« nicht gerecht wurde. Jedoch meinte er gleichzeitig, seine Auffassungen seien »nicht völlig unkonservativ« gewesen.65 1934 hatte er die wesentlichen Züge dessen umrissen, was er als »konkreten Konservatismus« bezeichnete.66 Sowohl Konservative als auch Denker der Linken beklagten den Verlust der Gemeinschaft und machten die

62 Zit. in Diamant, Austrian Catholics, S. 181 (Fußnote).
 63 Kolnai, Ständestaat, S. 14, 20; sowie ders., Quadragesimo anno. In: Der österreichische Volkswirt, 23 (1931) 2, S. 892.
 64 Ders., »Chesterton and Catholicism«, S. 140.
 65 Vgl. ders., Twentieth-Century Memoirs, S. 37.
 66 Vgl. ders., Die Aufgabe des Konservativismus. In: Der österreichische Volkswirt, 26 (1934) 2, S. 946.


»Der Krieg gegen den Westen« im zeitgenössischen Kontext

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atomisierenden Effekte der kapitalistischen Ökonomie zum großen Teil dafür verantwortlich. Kolnai glaubte, dass Ausbeutung, Armut, Klassenhass und die Zerstörung jeder Gemeinschaft vom ökonomischen Liberalismus herrührten und daher eine religiöse und moralische Kritik des Kapitalismus nötig sei. Das gelte umso mehr, weil die Zerstörung der Gemeinschaft durch den Kapitalismus revolutionären Kommunismus und konterrevolutionären Faschismus hervorgebracht hätten. Das, was die Anziehungskraft beider ausmache, sei das Versprechen der Wiederherstellung von Gemeinschaft. Stattdessen versuchten beide, den Vorrang der spirituellen Person zu zerstören, indem sie diese in eine unpersönliche ­Ersatzeinheit zwinge, die keine Unterschiede toleriere. Darin läge die Quelle einer satanischen Entmenschlichung. »Tatsächlich«, schrieb Kolnai in seinen Memoiren, »je mehr ich über das ›Endziel‹ des Kommunismus nachdachte, desto weniger gefiel es mir; bald kam ich zu dem Schluss, dass die ›Gemeinschaft der Liebe‹ der wahren kommunistischen Gesellschaft, die der Voraussage zufolge jenseits jeder Diktatur und jedes staatlichen Zwangs sei, noch abscheulicher ist als die Gegenwart des Übergangs, des kommunistischen Staatsterrors selbst. Weit vor dem Ziel die Mittel rechtfertigend, war es die Amoralität des Endes, die wirklich verantwortlich für die Amoralität der Mittel war und diese überstieg. Denn das spezifische und gigantische Böse des Kommunismus lag nicht in der unbegrenzten Anwendung von Gewalt als solcher, sondern in der Negierung der individuellen menschlichen Persönlichkeit – in ihrer rechtlichen, wirtschaftlichen und intellektuellen Unterscheidung von jeder ›Gemeinschaft‹.«67

Gegen die allmächtigen Staats-»Gemeinschaften« des Kommunismus und des Faschismus verteidigte Kolnai die Würde der menschlichen Persönlichkeit und ihre Selbstbestimmung innerhalb kleiner hierarchischer Gemeinschaften. »Der Weg zu Frieden und Selbstbestimmung«, schrieb er, »führt durch vertraute Gemeinschaften. Das ist das christliche, das katholische Prinzip: die lebendige Gemeinschaft vertrauter […] Bereiche zu verteidigen gegen die Allmacht eines Erleuchteten oder anderer Formen staatlichen Absolutismus, gegen die atomisierende Isolation des Individuums.«68 Das politische System, welches am besten mit diesem Prinzipien übereinstimme, so argumentierte er, ist Demokratie, verstanden in einem entschieden konservativen Sinn. Jene Demokratie, die Kolnai verteidigte, war nicht die Rousseaus, in dessen Konzeption des allgemeinen Willens er den Samen der Tyrannei und der sicheren Zerstörung von Gemeinschaften sah, die als Mittler zwischen dem Individuum und dem Staat fungierten. Es war auch nicht die Demokratie naiver Optimisten, die an den unaufhaltsamen Fortschritt glaubten. Und es war nicht die Demokratie der fanatischen Gleichmacher. »Gleichheit heißt hier gleiche Rechte (nicht

67 68

Kolnai, »Chesterton and Catholicism«, S. 136.
 Ders., Das Weihnachtsmanifest, S. 390.

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gleiche Kompetenz), gleiche menschliche Würde (nicht soziale Gleichrangigkeit aller). Da bestimmte Kompromisse in Bezug auf die Position im Leben erforderlich sind, heißt das nicht, dass alle gleich denken, handeln und aussehen sollen, sondern gleiche Rechte und Möglichkeiten haben sollen, ›ungleich‹ entsprechend ihrer persönlichen Besonderheit zu sein.«69 Während jedoch Kolnais Programm der politischen Demokratie in weiten Teilen ein Programm der Bewahrung war, enthielt das der ökonomischen ­Demokratie grundlegende Veränderungen. In seiner Suche nach Alternativen zum entwickelten Kapitalismus wandte er sich dem Ständesozialismus zu. »Wie untrennbar verbunden«, schwärmte er, »sind Englands ständische sozialistische (funktionalistische) Strömungen mit christlich-mittelalterlichen Ideen.«70 Die ständischen Sozialisten seien bestrebt, die Gemeinschaftsatmosphäre der vorkapitalistischen Ära wiederherzustellen, indem sie Klassen durch Berufsstände ersetzen, die Gemeinschaften in Selbstverwaltung seien. Kolnai wusste, dass dieser Plan nicht über Nacht umgesetzt werden konnte, aber wie Polanyi glaubte er, dass die Gesellschaft bereits Elemente enthielt, wie Gewerkschaften und Genossenschaften, die zu industrieller Selbstverwaltung führen könnten. Kolnais Verständnis vom Ständesozialismus war durch den Distributismus beeinflusst, einer von Chesterton und Belloc vertretenen sozioökonomischen Theorie. Im »Sklavenstaat« von Belloc las er, dass eine mittelalterliche Gilde »eine teilweise kooperative Gesellschaft war, hauptsächlich jedoch aus Privateigentümern von Kapital bestand, deren Kooperation auf Selbstverwaltung beruhte, die den Wettbewerb zwischen ihren Mitgliedern überwachen sollte: um das Wachstum des einen auf Kosten anderer zu verhindern. Vor allem sicherte die Gilde die Teilung des Eigentums, sodass sich weder ein Proletariat noch kapitalistische Monopole bilden sollten.«71 Im Sinne solcher Gilden empfahl Belloc, dass ein distributiver Staat den kapitalistischen Staat ersetzen sollte, bevor der kollektivistische sozialistische Staat eine neue und schlimmere Form von Unterwürfigkeit institutionalisieren würde. Im distributiven Staat würden Eigentum und wirtschaftliche Macht unter den Bürgern breit verteilt sein. Unterstützt wurde dieses Modell von »Konservativen oder Traditionalisten. Das sind Männer, die die alten Formen christlichen europäischen Lebens respektieren und, wenn möglich, erhalten.«72 Kolnai teilte die

69 70 71 72

Vgl. ders., Autorität und Demokratie. In: Volkswohl, 20 (1929) 10, S. 364; ders., Tote und lebendige Demokratie. In: Der deutsche Volkswirt, 26 (1928) 2, S. 854–857, hier 855; ders., Persönlichkeit und Massenherrschaft. In: Der österreichische Volkswirt, 26 (1933–34) 1, S. 442 f. Kolnai, Das Weihnachtsmanifest, S. 392. Hilaire Belloc, The Servile State, New York 1946, S. 49. Ebd., S. 105 f.

»Der Krieg gegen den Westen« im zeitgenössischen Kontext

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Auffassung, dass die Wiederherstellung einer breiten Streuung von Privateigentum wichtiger war als die Verringerung des Elends.73 Kolnai erkannte die dogmatischen und utopischen Aspekte des Distributismus. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass Belloc sehr vage wurde, wenn es darum ging zu erklären, wie das Eigentum umzuverteilen sei. Zugleich erinnerte ihn die Theorie an Jászis vor dem Krieg veröffentlichten Aufruf zur Teilung der großen ungarischen Ländereien und zur Schaffung einer freien Klasse kleiner Bauern. Außerdem zollte Belloc der christlichen Idee der freien spirituellen Person Respekt. Anders als der Staatssozialismus und der Ständestaat stelle der Distributismus eine Verbesserung des monopolistischen Kapitalismus dar. Viel später in seinem Leben war Kolnai der Meinung, »dass eine ganzheitliche Struktur der Gesellschaft die Vorherrschaft des Bauern, und ganz allgemein des Kleineigentümers, unter den Bürgern erfordere«.74 Was aber musste sofort und konkret getan werden, um den Kapitalismus zu überwinden? In Beantwortung dieser Frage lobte Kolnai die christlichen Gewerkschaften und bestand darauf, dass eine Arbeiterbewegung auf christlicher Grundlage ihren säkularen Pendants überlegen sei, denn ein auf Liebe gegründeter Kampf ist besser als ein auf Hass gegründeter; ein Kampf für Gerechtigkeit, der nicht von blindem Glauben in ein ›Gesetz‹ des Klassenkampfes getragen ist, sondern durch den Glauben an moralische Gesetze und den freien Willen des Menschen, ist besser.75 Im gemeinsamen Kampf könnten christliche Arbeiter von Mitgliedern einer Klasse zu Mitgliedern eines Standes werden. Das würde nicht die Proletarisierung aller Menschen bedeuten, aber die Erweiterung zu Arbeitern mit persönlichem Eigentum. Nur so können Arbeiter als Eigentümer eine neue Kultur hervorbringen, jedoch eine, die in bürgerlichen Werten und christlichen moralischen Wahrheiten wurzelt. Kolnai erkannte, dass dieses konservative Projekt in seiner Zeit vor schier unüberwindlichen Hindernissen stand. Als gläubiger Christ fand er Trost in seinem Glauben. Er schrieb: »Immer wenn eine Ära zu Ende geht, scheint die Kirche unterzugehen. Die Ära jedoch verschwindet von der Bühne der Welt und die Kirche erscheint wieder. ›Himmel und Erde werden vergehen, nicht aber meine Worte.‹«76

73 Vgl. Aurel Kolnai, »Bellocs Vision vom Sklavenstaat«. In: Schönere Zukunft, 9 (1928), S. 116– 118, hier 117. 74 Ders., »Chesterton and Catholicism«, S. 137. 75 Vgl. Aurel Kolnai, Die christlichen Gewerkschaften im Kampfe gegen den Kapitalismus. In: Volkswohl, 20 (1929) 11, S. 405–415, 410. 76 Ders., Chestertons Religionsphilosophie. In: Das Neue Reich, 40 (1927) 9, S. 821–823, hier 823.





Wolfgang Bialas  Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen«: Konturen einer zeitgenössischen Analyse und Kritik des Nationalsozialismus

Der Nationalsozialismus als Vernichtungsdrohung gegen den Westen Kolnai gab sich in seinem Buch nicht mit einer bloßen Beschreibung nationalsozialistischer Politik und Ideologie zufrieden, sondern stellte diese in den Zusammenhang einer Krise der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Humanismus als ihres Wertesystems. Das übergreifende Motiv seines Buches ist, wie schon der Titel nahelegt, die vom Nationalsozialismus ausgehende Vernichtungsdrohung gegen das bürgerliche Gesellschafts- und Wertesystem, die auf die religiösen Grundlagen, ethischen Ideale und menschlichen Werte der liberalen Gesellschaft zielte. Damit hatte Kolnai schon zu einem Zeitpunkt den Nerv der Zeit getroffen, als eine Mehrheit der westlichen Staaten noch der Meinung war, der Nationalsozialismus werde nach einer Phase radikaler Rhetorik und temporärer politischer Grenzüberschreitungen zur Normalität bürgerlicher Politik zurückfinden. Mit seiner Analyse und historischen Kontextualisierung der nationalsozialistischen Ideologie will Kolnai den Westen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus bewegen, den er als tödliche Gefahr für die Grundlagen seiner Zivilisation und Lebensweise sieht. An der westlichen Gesellschaft hebt er deren rationale Ethik und säkularisierte Politik sowie ihre christlichen Grundlagen hervor, ebenso wie den Liberalismus, die universale Moral und die Menschenrechte.1 Gegen eben diese universale Moral und Rechtsordnung richte sich der Nationalsozialismus. In der westlichen Zivilisation sieht Kolnai eine rationale Ordnung, gegründet auf persönlicher Freiheit und Sicherheit, gegenseitigem ­Respekt, Humanismus und der Balance verschiedener Lebensentwürfe sowie objektiver Wahrheit und unparteilichem Urteil, während der Nationalsozialismus eine plurale Öffentlichkeit, Persönlichkeit, Gesellschaft und Menschheit ablehne

1

Vgl. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 52–54.

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ebenso wie er jede Hinordnung des Menschen auf Gott, objektive Wahrheit und objektiven Wert sowie unbedingte zwischen- und mitmenschliche Verpflichtungen leugne.2 Der Nationalsozialismus fühle sich sowohl durch das Christentum und den Universalismus rassenindifferenter Menschenliebe als auch durch das Menschenbild der Aufklärung, das allen Menschen gleichermaßen Menschenund Bürgerrechte gewähre, zu dem aggressiven Gegenkonzept rassenspezifischer Zuschreibungen provoziert. Zugleich werde der bürgerlichen Demokratie die politische Schuld für die Demütigung von Versailles gegeben und die Weimarer Republik als Manifestation dieser nationalen Demütigung abgelehnt. Kolnai beklagt die Selbstzerstörung des bürgerlichen Idealismus durch die Glorifizierung natürlicher Triebkräfte und Instinkte.3 Die naturwissenschaftlich begründete ideologiekritische Demontage universeller Werte habe der unkritischen Verherrlichung natürlicher Instinkte durch die nationalsozialistische Ideologie den Weg bereitet. Damit habe die liberale Gesellschaft Kräfte freigesetzt, die der Nationalsozialismus nutzen konnte, um die bürgerliche Gesellschaft und den liberalen Staat in ihren Grundlagen zu untergraben. Der Nationalsozialismus habe auf die inneren Spannungen und Widersprüche der westlichen Zivilisation in einer Weise reagiert, die ihn als Lösung ihrer Probleme und Defizite erscheinen ließen.4 Aus Kolnais Sicht stand der Westen vor der Wahl, entweder seine führende und beispielgebende Rolle in der Welt aufzugeben und sich dem Nationalsozialismus zu beugen oder die Herausforderung der geistigen, gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit ihm anzunehmen. Diese Herausforderung könne der Westen nur dann bestehen, wenn er sie mit der selbstkritischen Reflexion seiner konzeptionellen Grundlagen verbinde. Seine kritische Selbstbefragung müsse ergänzt werden durch die unbedingte Bereitschaft, das eigene Wertesystem in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Weltanschauungen und politischen Systemen durchzusetzen. In dieser durch die aggressive Hegemonialpolitik des Nationalsozialismus geprägten komplexen Gemengelage gehe es darum, Kompromissbereitschaft und diplomatisches Geschick mit der Entschlossenheit zu verbinden, die machtpolitischen Konflikte und Interessengegensätze wenn nötig auch mit der Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt zu lösen. Dabei sei die Hoffnung einer Verständigung mit Nazideutschland vergeblich, dem die Idee von Verständigung, gleicher Würde, Rechtsordnung sowie einer gemeinsamen Menschheit fremd seien. Zugeständnisse

2 3 4

Vgl. Aurel Kolnai, Heidegger und der Nationalsozialismus. In: Der Christliche Ständestaat, Juni 1934, S. 5–7, hier 6. Vgl. ders., Krieg, S. 43 (Vorwort). Vgl. ebd., S. 57.

Zeitgenössische Analyse und Kritik des Nationalsozialismus

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würden die nationalsozialistische Bedrohung nicht beseitigen, sondern nur als Zeichen der Schwäche des Westens wahrgenommen werden.5 Die Konfrontation mit dem Nationalsozialismus sei für den Westen unausweichlich. Da es mit dem Nationalsozialismus keine Verständigung oder Kompromisse geben könne, müsse dieser zerschlagen und auf allen Ebenen bekämpft werden. Kolnai warnt den Westen davor, davon auszugehen, dass auch das natio­ nalsozialistische Deutschland bei aller gegenteiligen aggressiven ideologischen Rhetorik letztlich doch auch Argumenten politischer Vernunft zugänglich sei. Der Nationalsozialismus sei weder eine normale Regierungsform wie die Demokratie noch legitimer Ausdruck des Deutschen. Zu unterstellen, auch das nationalsozialistische Deutschland unterscheide sich nicht grundsätzlich von der politischen Verfassung westlicher Demokratien, käme einem moralischen Selbstmord gleich.6 Nur gleichzeitiges geistiges, politisches, ideologisches, moralisches, wissenschaftliches, gesellschaftliches, ökonomisches, diplomatisches und notfalls militärisches Handeln einer kämpferischen Demokratie, die sich alle strategischen Optionen offenhalte, könne den Nationalsozialismus besiegen. Dieser könne nur durch Gewalt vernichtet werden, denn er beruhe auf Gewalt und verstehe keine andere Sprache als die der Gewalt.7 Territoriale Zugeständnisse an Nazideutschland und die moralische Anerkennung seiner Innenpolitik würden den Frieden nicht sichern, da dieses keinerlei Grenzen anerkennen und mit der Zeit neue Ansprüche erheben würde. Ein Krieg mit Nazideutschland sei nicht unvermeidlich, dürfe aber auch nicht prinzipiell als Möglichkeit ausgeschlossen werden.

Analyse und Kritik der nationalsozialistischen Ideologie In seiner Analyse des Nationalsozialismus konzentriert Kolnai sich auf dessen ideologische Selbstdarstellung sowie die politischen Versuche, diese Ideologie zur Grundlage der Staatspolitik zu machen. Dabei diskutiert er auch den deutschen Anspruch auf politische Expansion und Hegemonie. Das Buch ist eine umfassende Darstellung der Ideen des Nationalsozialismus, aber auch von weit in die deutsche Geschichte zurückreichender Entwicklungen. Späteren Argumentationen, die den Nationalsozialismus als Betriebsunfall der deutschen Geschichte sahen, ist damit schon früh der Boden entzogen.

5 6 7

Vgl. ebd., S. 693. Vgl. ebd., S. 696. Vgl. ebd., S. 695.

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In der Diagnose einer Krise des politischen Humanismus prognostizierte Kolnai eine mögliche Schlüsselrolle Deutschlands bei der Bewältigung dieser Krise und damit einer geistigen und politischen Erneuerung Europas. In diesem Kontext der weltanschaulichen und politischen Krise des Westens, der faktisch vor der politischen Herausforderung des Nationalsozialismus kapituliert habe, hatte sich die nationalsozialistische Ideologie als Humanismus der Rasse und Stärke gegen den rassenindifferenten bürgerlichen Humanismus der Schwäche und Zweifel in Stellung gebracht. In der fortgeschriebenen Paralysierung durch das Trauma des Ersten Weltkrieges sei die Demokratie der Bedrohung durch den Nationalsozialismus nicht gewachsen, weshalb sie sich erneuern müsse. Auf welche Weise sie erneuert werden soll, lässt Kolnai offen. Die entschlossene Konfronta­tion mit dem Nationalsozialismus, so gibt sich Kolnai überzeugt, werde zur Erneuerung Europas und des politischen Humanismus führen. Dazu müsse allerdings zunächst Nazideutschland durch die vereinten Anstrengungen der westlichen Demokratien unter Einbeziehung Sowjetrusslands politisch überwunden und durch eine kämpferische Demokratie ersetzt werden.8 Die vom Nationalsozialismus ausgehende Gefahr für den Westen macht Kolnai nicht nur an dessen Politik aus. Vielmehr versucht er, eine Tiefenschicht des Nationalsozialismus zu bestimmen, die von konjunkturellen und strategischen Schwankungen der Politik unabhängig das Selbstverständnis und das politische Handeln der Akteure geprägt habe. Er findet diese Schicht in den ideologischen Denkfiguren und Interpretationsmustern des Nationalsozialismus. Diese folgten einer eigenen Logik, die nicht automatisch durch die ihr widersprechende Wirklichkeit ad absurdum geführt werde. Aus der Analyse verschiedener Elemente des Nationalsozialismus, von denen er das rassenbiologische Menschenbild und die Versuche seiner politischen Durchsetzung hervorhebt, versucht er die wirkungsmächtige Verbindung von quasireligiöser Irrationalität und technischer Rationalität zu bestimmen, die aus seiner Sicht ein wichtiger Grund für den politischen Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung war. Kolnai warnte vor der Gefahr, das intellektuelle Niveau und die politische Bedeutung des Nationalsozialismus zu unterschätzen, auch wenn dessen Ideologie unhaltbar und im Kern falsch sei. Er nahm die nationalsozialistische Ideologie ernst, in der es offensichtlich Elemente gab, die Anhänger der Bewegung im Anschluss an lebensweltliche Probleme der Deutschen und politische Turbulenzen der Zeit mobilisierte. Diejenigen, die den Nationalsozialismus aus ideologisch-weltanschaulichen Gründen unterstützten, folgten dabei zugleich ihren eigenen Interessen. Die originär nationalsozialistische Substanz ihrer Überzeugungen unterstützte ihren interessegeleiteten Opportunismus.

8

Vgl. ebd.

Zeitgenössische Analyse und Kritik des Nationalsozialismus

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Seine Kritik des Nationalsozialismus gründet auf einem bürgerlichen Humanismus und Liberalismus, der sich seiner christlichen Grundlagen bewusst ist. In dieser Kritik benutzt er die großen Begriffe bürgerlicher Philosophie wie Vernunft, Menschheit, universelle Moral, individuelle Verantwortung und Freiheit – Begriffe und Konzepte, die der Nationalsozialismus als rassenindifferent ablehnte und durch entsprechende rassenspezifische Konzepte ersetzte. Diese allgemeine philosophische Kritik des Nationalsozialismus ergänzt Kolnai durch die Analyse des politischen und strategischen Vorgehens der nationalsozialistischen Bewegung, in der er zugleich diese philosophischen Konzepte bzw. ihre nationalsozialistischen ideologischen Gegenkonzepte zu identifizieren sucht. Auch aus dieser Verknüpfung bezieht Kolnais Buch einen Teil seiner Faszination. Kolnai begnügt sich gerade nicht damit, das eine unvermittelt neben dem anderen stehen zu lassen – das Pathos der höheren Werte und Ideen neben der primitiven, triebgeleiteten Anwendung von Gewalt oder pseudowissenschaftliche rassenideologische Konzepte neben der geisteswissenschaftlichen Rhetorik der deutschen Philosophie. Vielmehr versucht er mit der Annahme einer Komplementarität nationaler Hochkultur und missionarischem politischen Aktivismus nachzuweisen, dass sich das eine im anderen spiegelt, aneinander steigert und radikalisiert, gegenseitig rechtfertigt und unterstützt, kurz, aufeinander bezogen an der gemeinsamen Sache der Durchsetzung deutscher Höherwertigkeit und Herrschaftsansprüche arbeitet. Der Nationalsozialismus stelle sich gegen Vernunft, Ethik, Recht und Kultur sowie den gesunden Menschenverstand. Die nationalsozialistische Moral der Größe und Rücksichtslosigkeit, der rohen Kraft und Effektivität stehe in direktem Gegensatz zur Idee universaler Verantwortlichkeit und Rücksichtnahme. Wie die Natur, so kenne auch der Nationalsozialismus keine Moral, außer dem Recht des Stärkeren, sich gegen Schwächere durchzusetzen. Die nationalsozialistische Rassenideologie rechtfertige soziale Ungleichheit mit der natürlichen Ungleichheit der Menschen. Inspiriert durch die Freund-Feind-Dichotomie Carl Schmitts erkläre der tribale Imperialismus des Nationalsozialismus den Rassenkampf zur entscheidenden Triebkraft der Geschichte. Dieser kenne kein auf die Menschheit bezogenes moralisches oder rationales Prinzip und lehne individuelle Bürgerund Menschenrechte ab.9 Gesetze und Ideale sehe der Nationalsozialismus als Ausdruck historischer Machtverhältnisse, um diese dann entsprechend seiner ideologisch begründeten Interessen zu bestimmen. Dennoch sei das nationalsozialistische Deutschland eine mit moralischen Bedeutungen aufgeladene Gesellschaft, die als politische

9

Vgl. ebd. S. 74 f., 143 f., 174 f.

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Bewegung über ein eigenes, durch die Rassenanthropologie der biologischen Begründung höher- und minderwertiger Rassen geprägtes moralisches Wertesystem verfüge, auf dessen Grundlage sie entschied, was als moralisch oder unmoralisch galt. Das neue Heidentum der Nazis stehe so zwar auf der einen Seite für den Niedergang der Religion, intensiviere zugleich aber das quasireligiöse Gefühl, an etwas Großem teilzuhaben. Dieses neue Heidentum beschleunige den religiösen Verfall, lade die Gesellschaft aber gleichzeitig mit einer falschen und barbarischen Religiosität auf.10 In seinem Vergleich von Nationalsozialismus und Liberalismus diskutiert Kolnai den Bedeutungswandel des Politischen, indem er das Paradox »Alles ist politisch« und »Nichts ist mehr wirklich politisch« an diesem Vergleich durchspielt. Der Bürger der liberalen Welt sei nicht wirklich politisch, da ihm keine verbindlichen Entscheidungen zugestanden wurden. Ihn ersetzt zu haben, sei die größte Leistung der nationalen Revolution gewesen, wodurch wieder Verbindlichkeit in die Politik eingezogen sei.11 Gegen die liberale Unverbindlichkeit von Pluralismus und Toleranz, die sich auf keinen Wert festlege, deren unbedingte Geltung sie bereit sei, gegen ihre Relativierung und Infragestellung zu behaupten, habe der Nationalsozialismus die politische Gleichschaltung durch seine als absolut gesetzte Rassenideologie gestellt. Im totalen Staat ist alles ohne Ausnahme politisch, ohne dass es in ihm jedoch noch politische Debatten und Parteien, Entscheidungen und Überzeugungen unabhängig von der einzig zugelassenen Ideologie gibt.12 Das soziale Leben ist hier dem Einfluss einer politischen Strömung unterworfen, während es in der Demokratie noch einen bestimmten Freiraum gegenüber der Politik behaupten konnte. Aus welchen Beweggründen die Menschen sich den bestehenden Herrschaftsverhältnissen unterwerfen, bleibt ihnen überlassen. Fanatische Gefolgschaft ist ebenso möglich wie pragmatische Zustimmung aus dem rationalen Kalkül der Verfolgung eigener Interessen. Es zählt ihre Loyalität zum politischen System in den machtpolitisch relevanten Bereichen. Auch der totalitäre Staat zieht die innere Zustimmung der Menschen zu seiner Weltanschauung und Politik ihrer äußeren Unterwerfung vor. Das prinzipielle Bekenntnis zum Nationalsozialismus soll durch persönliche Beweggründe unterstützt werden. Es genügt die Bereitschaft, Versatzstücke der Ideologie in das eigene Weltbild einzubauen. Kolnai hebt den politischen Aktivismus der nationalsozialistischen Bewegung hervor, die von ihren Mitgliedern Selbstaufopferung und Selbstlosigkeit fordere, aber keinen Altruismus; Selbstverleugnung, aber keine Zurückhaltung; Selbst-

10 11 12

Vgl. ebd., S. 267. Vgl. ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 199.

Zeitgenössische Analyse und Kritik des Nationalsozialismus

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aufgabe, aber keine Selbstkritik.13 Der Nationalsozialismus reklamiere für sich die Durchsetzung höherer Werte und Zwecke der Gemeinschaft und Rasse oder auch des Volkes und der Nation. Von den Deutschen werde erwartet, sich diesen Werten unterzuordnen und sie zur Maxime ihres Lebens und Handelns zu machen. Ihre Loyalität sollten sie durch die Unterstützung der politischen Durchsetzung dieser Ideologie zeigen. Der Begriff Gemeinschaft bezeichne in der nationalsozialistischen Ideologie einen organisch gewachsenen Sozialkörper, Gesellschaft dagegen ein System formalen Rechts – eine Vereinigung von Menschen, die auf der rationalen Berechnung von Interessen und der Entscheidung ihrer Mitglieder beruht.14 Für den Nationalsozialismus hätten die Interessen der Gemeinschaft Vorrang gegenüber den Ansprüchen der Individuen. Gemeinschaft sei für ihn das Universum des Partikularen ohne Kontrolle durch eine universale Instanz von Werten, Normen und Kompetenzen. Der Nationalsozialismus missbrauche die Hingabebereitschaft der Menschen und lenke ihre Energien in die falsche Richtung eines kollektiven Egoismus. Er suggeriere, dass nur durch ihre bedingungslose Unterordnung unter die Gemeinschaft das Leben des Einzelnen Inhalt und Sinn habe.15 Kolnai sieht das Individuum vor der Herausforderung, eine gleichmäßige Balance zwischen unterschiedlichen Ansprüchen verschiedener Gemeinschaften aufrechtzuerhalten. Menschen könnten eine wahre Gemeinschaft bilden, ohne sich dieser zu unterwerfen. Gleichberechtigung und menschliche Würde seien nur auf der Grundlage der Anerkennung menschlicher Verschiedenheiten möglich. Die Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft beantwortet er mit der begrifflichen Bestimmung der Gesellschaft als einem ausbalancierten System von Gemeinschaften, in dem Raum sei für die Entwicklung von Persönlichkeiten im gemeinsamen Bezug auf die alle verbindende Menschheit.16 Im totalitären Führerstaat des Nationalsozialismus werde das Volk nicht verachtet. Vielmehr werde die nationalsozialistische Volksgemeinschaft als Inbegriff einer Einheit geschätzt, in der das Volk im Führer sich selbst in seinem innersten Wesen wiedererkennen soll.17 Von ihm wird die Bereitschaft erwartet zu tun, was die Geschichte erfordert. Den »totalitären Staat« beschreibt Kolnai als »das genaue Gegenteil eines Staats mit einer Vielzahl von Parteien [ … ] Der totalitäre Staat ist erstens ein Staat, der beansprucht, einen einheitlichen und verbindlichen Wertekanon gegenüber der gesamtem Gesellschaft durchzusetzen und zu einem

13 14 15 16 17

Vgl. ebd., S. 327. Vgl. ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. Aurel Kolnai, Persönlichkeit und Massenherrschaft. In: Der österreichische Volkswirt, 26 (10.2.1934), S. 442–444.

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gewissen Grad auch gegenüber jedem Einzelnen […] und zweitens ein […] Einparteienstaat.«18 Totalitäre Politik ist unvereinbar mit universeller Religion und Ethik, Humanismus und Christentum. Der totalitäre Staat des Nationalsozialismus setze nicht ausschließlich auf Masseninstinkte und intoleranten Fanatismus, sondern sei die Wiederkehr des Tribalismus auf dem Niveau des Industriezeitalters, organisiert mit modernen Sozialtechniken des demokratischen Staates.19 Die Widersprüche und Spannungen zwischen biologischem Primitivismus und politischer Hyperaktivität, unterstützt durch den Anschluss an moderne Techniken der Massenmobilisierung, begründeten die ideologische Macht des Nationalsozialismus, die durch die Omnipotenz des Führers noch gesteigert wurde. Er lege den Deutschen rationale Beweggründe ihrer Entscheidung für den Nationalsozialismus nahe, die sie in Übereinstimmung mit ihren Interessen treffen sollen. Neben ideologisch-weltanschaulichen, macht- und weltpolitischen sowie philosophisch-anthropologischen Gründen für den Erfolg des Nationalsozialismus würdigt Kolnai auch den persönlichen Anteil Hitlers an der beispielhaften Erfolgsgeschichte des Nationalsozialismus. Auch ihn diskutiert er nicht als Karikatur einer politischen Führungsfigur, in deren Schatten das deutsche Volk selbst, das ihm auf nicht nachvollziehbare Weise verfallen sei, offensichtlich beschädigt wurde. Vielmehr nimmt er auch ihn ernst und fragt nach den Gründen seiner persönlichen Ausstrahlung. In Hitler sah Kolnai einen strategisch fähigen politischen Führer mit besonderer Anziehungskraft für seine Anhänger, die ihn als praktisch unfehlbaren gottähnlichen Führer verehrten. Die Übernahme der Macht durch Hitler und die nationalsozialistische Bewegung habe das politische Chaos in Deutschland beendet und durch eine neue Verlässlichkeit ersetzt, die sich u. a. in der Bereitschaft Hitlers zu Kompromissen und zeitweiligen Bündnissen zeige, wenn das der Durchsetzung seiner Ziele diente. Kolnai erkennt den persönlichen Anteil Hitlers am Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung an, dessen politische Fähigkeiten für ihn außer Frage stehen, auch wenn er deren Überhöhung zur Verkörperung einer quasigöttlichen Schicksalsmacht im Dienste höherer Werte ablehnt. Er gestand ihm strategische Fähigkeiten zu, die im Zusammenspiel mit seinem nur bedingt erklärbaren, aber zweifellos vorhandenen Charisma zu seinem politischen Erfolg beitrugen. Der Anspruch des Führers auf Loyalität entsprang nicht wie in der Demokratie der Wahl und Entscheidung der Bürger in Abhängigkeit von seinen Fähigkeiten und Qualifikationen, auch nicht wie in einem konservativen System der Würde seines Amtes, sondern der Annahme, dass er in mystischer Weise das innere 18 19

Kolnai, Krieg, S. 190. Vgl. ebd.

Zeitgenössische Analyse und Kritik des Nationalsozialismus

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Wesen seiner Anhänger verkörperte.20 Er gab überzeugend vor, besser als diese selbst zu wissen, wonach sie sich in ihrem Inneren sehnten. Ein emotionaler Sozialismus gleich ursprünglicher Nähe zum Führer ergänze die machtpolitischen Befehlshierarchien, in denen Hitler unangefochten an der Spitze stehe. 21 Für seine fanatischen Anhänger, die ihm in quasireligiöser Gefolgschaft verfallen seien, sehe es so aus, als habe sich Gott selbst in Hitler verwirklicht, weshalb dieser an ein stolzes Raubtier auf zwei Beinen erinnere, das nicht bereit sei, eine Macht über sich anzuerkennen.22 Diese ironische Konterkarierung des quasi­religiösen Sendungsbewusstseins des Führers, der als Heilsbringer des deutschen Volkes nicht weniger als dessen Wiederauferstehung aus nationaler Demütigung zu natio­naler Größe versprach, findet die Balance zwischen irritierter Befremdung und prinzipieller Skepsis.

Nationalsozialismus und Rasse Als wichtigstes Element der nationalsozialistischen Ideologie bestimmt Kolnai den aggressiven Aktionismus der Rassenpolitik, der die Deutschen dazu auffordere, sich als Angehörige der nordischen Rasse moralisch nur ihrer eigenen Rasse verpflichtet zu fühlen. Der Nationalsozialismus wende die christliche Ethik der Nächstenliebe auf die politische Gemeinschaft der nordischen Rasse an. Nur Angehörige der eigenen Rasse verdienten als moralische Subjekte Empathie und Zuwendung, die fremdrassigen und minderwertigen Elementen bewusst verweigert werden müsse. Dieser »zoologische Rassismus«23 der biologischen Neubestimmung menschlicher Werte und Wertunterschiede nach Kriterien rassischer Zugehörigkeit zielte auf alle Bereiche der deutschen Gesellschaft. Das nationalsozialistische Rassendenken behaupte ein Naturgesetz sozialer Ungleichheit, das biologisch die Etablierung einer rassischen Hierarchie und die Ungleichheit der Menschen begründet, für die es keine moralische Einheit gebe. Angeborenen Dispositionen des Menschen würden den Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten biologisch festlegen. Folgerichtig sucht eine biologische Moral die Ungleichwertigkeit der Rassen und deren unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Wert zu begründen. Der Nationalsozialismus sah sich in Übereinstimmung mit vermeintlichen Lebens- und Naturgesetzen der Rasse, die Menschen auf ihre rassische Zugehörigkeit festlegte und ihr Leben gleichsam schicksalhaft bestimmte. Die ethische 20 21 22 23

Vgl. ebd., S. 180 f. Vgl. ebd., S. 431 f. Vgl. ebd., S. 261. Vgl. ebd., S. 497.

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Begründung rassischer Höher- und Minderwertigkeit stellte das moralische Recht der vermeintlich Höherwertigen zur Unterdrückung und Vernichtung der Minderwertigen heraus. Dagegen erlaube es die bürgerliche Moral eines rassen­ indifferenten universellen Humanismus, den zur Herrschaft prädestinierten Angehörigen der nordischen Rasse nicht, mit gutem Gewissen historische Fehlentwicklungen durch den Eingriff von Sozialhygiene und Eugenik zu korrigieren. Die nationalsozialistische Ideologie versuchte, Nation, Volk und Rasse in einem Konzept zusammenzuführen, um die Formierung der rassischen Volksgemeinschaft ebenso wie den expansionistischen Drang der Nation zum Reich als aufeinander abgestimmte Innen- und Außenpolitik zu begründen. Ein künftiger Rassenkrieg zielt auf die Versklavung und Vernichtung als minderwertig stigmatisierter Rassen und soll zugleich ein Imperium der nordischen Rasse begründen. Diesen Zusammenhang stellt Kolnai heraus, wobei die Fokussierung der nationalsozialistischen Ideologie auf das Rassendenken für ihn zu diesem Zeitpunkt noch für die Priorität der Formierung einer Volksgemeinschaft gegenüber außenpolitischen Ambitionen von Expansion und Krieg spricht. Der Nationalsozialismus müsse sich zwischen dem Isolationismus der Formierung einer rassischen Volksgemeinschaft und dem Imperialismus der expansionistischen Ausweitung der Nation zum Reich entscheiden, so Kolnai.24 Die von Kolnai hier formulierte Alternative zwischen einem rassenpolitischen Isolationismus und einem expansionistischen Imperialismus lässt offen, welcher dieser Optionen der Nationalsozialismus folgen wird. Die Rassenpolitik wird hier auf die Funktion der Formierung eines politischen Gemeinwesens festgelegt, also der Absicherung und Stabilisierung der inneren Herrschaftsverhältnisse. Die Formierung der Nation zur handlungsfähigen politischen Einheit schließt jedoch ein, dass sie auch nach außen handlungsfähig ist. Der rassenideologische Naturalismus und Vitalismus betone die biologische Herkunft und Bestimmung der Menschen und setze auf die Bereitschaft, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Durch die Rassenpolitik wird der Mensch zum Objekt von Züchtung, Rassenhygiene und biologischer Planung. Wie andere Organismen so würden auch Volk und Nation biologische Lebenszyklen durchlaufen und für entsprechende Krankheiten anfällig sein. Auch sie gelte es, durch Sozialhygiene vor solchen Krankheiten zu schützen bzw. durch eugenische Maßnahmen die Volksgesundheit wiederherzustellen. Gegen pseudohumanistische Ressentiments gelte es, den tribalen Egoismus des deutschen Volkes zu stärken. Die planmäßige Züchtung der nordischen Rasse soll die biologische Selektion unterstützen und die Überlegenheit der von Kontaminierungen durch fremde, kranke und schwache Elemente befreiten nordischen Rasse sichern. Unterstellt

24

Vgl. ebd., S. 117 f., 445.

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wird dabei, dass die Kreuzung höher- und minderwertiger Rassen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der höheren Rasse verringert. Der nordischen wird eine jüdische Gegenrasse gegenübergestellt, von der eine tödliche Gefahr für die deutsche Rasse ausgehe. Ziel des Nationalsozialismus, der den Arbeiter als politischen Soldaten zum Gegentypus des urbanen, hedonistischen Menschen erklärt habe, sei es, eine rassische Elite in Abhängigkeit von rassenbiologischen Qualitäten zu schaffen. Die biologische Züchtung rassisch hochwertiger Menschen ersetzt die Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen und sozialen Beziehungen am Maßstab der Gerechtigkeit und Gleichheit durch die Orientierung an der geistigen und körperlichen Gesundheit von Menschen, die noch nicht einmal geboren sind.25 An die Stelle der Verbesserung ihrer Existenzbedingungen trete das Versprechen der biologischen Vervollkommnung rassisch hochwertiger Menschen durch eugenische Maßnahmen.26 Produziert werden sollen neue und biologisch besser ausgestattete Menschen. Die nationalsozialistische Rassenanthropologie ziele auf die Konstituierung von Menschen, die bereit und in der Lage seien, sich uneigennützig in höhere Zusammenhänge einzuordnen und hier ohne individuelle Ambitionen als Teil eines kollektiven Subjekts zu funktionieren. Der heidnische romantische Vitalismus und Naturalismus27 legte das ganze Gewicht der menschlichen Existenz auf die Erschütterungen des Geborenwerdens und Sterbens, auf Zeugen und Töten und darauf, das eigene Leben gegen das eines anderen zu stellen oder es für den Stamm zu opfern. Gegen diese Herausstellung von Kampf und Opfer, existenziellen Erschütterungen und Tod gelte es, sich wieder auf den eigentlichen Zauber des Lebens zu besinnen, nämlich überlegt und unaufgeregt zu entscheiden, wie die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod am sinnvollsten zu gestalten wäre.28 Der Übermensch wurde von der nationalsozialistischen Ideologie als Repräsentant einer noch im Entstehen begriffenen höheren Rasse vorgestellt, die durch die militaristische, antihumanistische und asketische Umerziehung der Deutschen geformt werden sollte. Dieser neue Mensch erfülle das Gebot der Natur nur im exklusiven Bezug auf sich selbst, ohne noch in Kategorien der Menschheit zu denken. Dem steht das Christentum mit seinem Ethos unbedingter Nächstenliebe und der Gleichheit aller Menschen vor Gott im Wege. Seine Verkündung universaler Gleichheit und Brüderlichkeit aller in der Gemeinschaft des Glaubens lasse alle Rassen- und Klassenunterschiede verschwinden. Das christliche

25 26 27 28

Vgl. ebd., S. 507. Vgl. ebd., S. 466–480. Vgl. ebd., S. 223 f. Vgl. ebd., S. 233.

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Dogma, nach dem Christus sowohl Gott als auch Mensch war und damit die vollkommene Vereinigung göttlicher und menschlicher Natur in einer Person, garantiert das Recht jedes Menschen auf mitmenschliche Zuwendung. Es beschreibt die Inkarnation Gottes im Körper eines einzigartigen Menschen, Jesus Christus, nicht das glückliche Zusammentreffen von Gottheit und perfektem Körper, aus der der Nationalsozialismus eine militaristische Religion körperlicher Leistungsfähigkeit entwickelt habe.29 Die Nationalsozialisten hätten Gott zu einem tribalen ethnischen Hausgott degradiert, einem nationalen Gott des deutschen Volkes, der Recht und Unrecht, wahr und unwahr nach Rassen und Völkern unterscheide. Ihre heidnische Amoral diene der Macht- und Selbstvergötterung unter einem christlichen Deckmantel. Der Nationalsozialismus ersetze den schwachen und barmherzigen Gott des Christentums durch einen mächtigen, strengen und unbarmherzigen Gott.30 Dem Christentum warf der Nationalsozialismus vor, das artfremde Prinzip der Moral in die germanische Naturreligion eingeführt zu haben. Das Gesetz der Nächstenliebe sei eine jüdische Doktrin.31 Deshalb soll es von der Deutschreligion ersetzt werden, die morbide christliche Vorstellungen von menschlicher Schwäche, Sünde, Buße und Gnade beenden werde. Nach der Reinigung des Christentums von jüdischen Elementen rassenindifferenter Nächstenliebe berufe sich der Nationalsozialismus auf die von gegenseitigen Rücksichten und Verpflichtungen freie Natur. Der Nationalsozialismus sei eine »heidnische Religion des Lebens und des Todes, der Zeugung und Ausdehnung des Lebens, des Todbringens und der Todesbereitschaft, […] eine Religion des Triebes und der Furcht, des Trium­ phators oder aber des gejagten Tieres«.32 Außer der Ersetzung der christlichen Moral und des Universalismus der Bürger- und Menschenrechte durch eine selektive Rassenmoral war es insbesondere das bürgerliche Rechtssystem, dessen ideologischen Umbau zu einem Instrument der Rassenpolitik Kolnai im Zentrum nationalsozialistischer Machtpolitik sah. Neben dem völkischen Partikularismus verwies er dabei auf die Bedeutung des »gesunden Volksempfindens« für das nationalsozialistische Strafrecht und dessen generelle »Verachtung der Menschenrechte«, die sich nicht zuletzt an den antijüdischen Gesetzen zeige, die germanisch-jüdische Ehen und sexuellen Verkehr zwischen Deutschen und Juden als kriminell und unmoralisch verfolgten und als »Rassenschande« stigmatisierten.33

29 30 31 32 33

Vgl. ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 266. Vgl. ebd., S. 282. Ebd., S. 237 (mit Bezug auf Heidegger). Vgl. ebd., S. 338 f., 470.

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Der Nationalsozialismus ersetzt liberale und humanistische durch nationale und rassische Rechtsprinzipien und ist damit unvereinbar mit der Annahme gleicher Rechte für alle. Die Menschen haben keine bürgerlichen Rechte mehr. Gerichtet gegen die christliche Ethik sowie die Freiheit und Rechtsgleichheit der Menschen habe die nationalsozialistische Ideologie einen rassenbiologischen Rechtsinstinkt an die Stelle einer universellen Moral gesetzt,34 was sich auch im nationalsozialistischen Täter-Strafrecht zeige, das Taten nach der Rassenzugehörigkeit von Opfern und Tätern beurteile. Im nationalsozialistischen Rechtsverständnis entschied die Rassenzugehörigkeit des Täters über die politische Einschätzung der Tat und damit darüber, ob und wie diese bestraft wurde. Mit der Verrechtlichung des auf dem Rasseninstinkt gegründeten gesunden Volksempfindens wurde das Recht zum Mittel der Durchsetzung politischer Interessen und ideologischer Werte.35 Im nationalsozialistischen Staat wird das Recht bestimmt von politischen Machtinteressen, rassischem Partikularismus und der Aversion gegen das bürgerliche Rechtssystem. Es soll den Herrschenden nützen, nicht die Staatsbürger gegen Unterdrückung und Schikane schützen. Mit der Aufhebung der Unabhängigkeit der Richter wird es zu einem Instrument der Herrschenden, das Willkür und Gewalt rechtfertigt. Im nationalsozialistischen Täter-Strafrecht gehe es nicht um die sachliche Qualifizierung von Taten wie Diebstahl, Körperverletzung oder Mord unabhängig von der Rassenzugehörigkeit von Opfern und Tätern, sondern um die Vernichtung von als Volksschädlingen oder als rassisch minderwertig identifizierten Tätern. Kriminelles Verhalten wird im Nationalsozialismus auf minderwertige Erbanlagen zurückgeführt. Die Bestrafung der Täter zielt deshalb nicht mehr auf deren Besserung, die durch die Annahme ihrer rassischen Veranlagung für kriminelles Verhalten ausgeschlossen ist, sondern auf die Eliminierung der Minderwertigen, denn rassische Erbanlagen ließen sich nicht verändern. Das Strafrecht soll von leblosen Paragrafen auf die Verrechtlichung des im Prinzip unfehlbaren Rasseninstinkts umgestellt werden.36 Mit der Rückführung des Menschen auf seine Natur wurde die Annahme eines allgemeinen Rechts, universeller Werte oder von der Rassenzugehörigkeit unabhängiger mitmenschlicher Solidarität als Illusion bürgerlicher Moral diskreditiert. Menschen werden als exemplarische Typen der »experimentierenden Natur«37 gesehen, die an ihnen die Gesetze der natürlichen Auslese und des Daseinskampfes exerziert. Dieses Experiment unterstützt der Nationalsozialismus

34 35 36 37

Vgl. ebd., S. 334 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 338. Ebd., S. 208.

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durch seine Bevölkerungs- und Rassenpolitik, die ebenfalls die Verbesserung der menschlichen Natur und ihre Säuberung von naturwidrigen Elementen wie einer universellen Moral und Menschenrechten anstrebt. In diesem Verständnis zielt die Politik darauf, es den Menschen zu ermöglichen, in Übereinstimmung mit ihrer Natur zu leben. Eben das sei ihnen in der Orientierung an Gleichheit, Demokratie, Sozialismus und Pazifismus nicht möglich, die sie zwingen würden, gegen ihre Natur zu leben.38 Das Leben der Menschen, darauf läuft diese rassenbiologische Argumentation hinaus, kann nicht gegen ihre Natur verbessert werden. Die Indifferenz des bürgerlichen und christlichen Humanismus gegenüber Fragen der Rasse, also die in ihren biologischen Grundlagen festgelegte menschliche Natur, hätten die Menschen von sich und ihrer biologischen Natur entfremdet. Als exemplarisches Beispiel für die ihnen politisch aufgezwungene Entfremdung von ihrer Natur wird die Demokratie angeführt, die der Nationalsozialismus als widernatürliches gescheitertes politisches Experiment beenden will. In der rassischen Volksgemeinschaft seien die Deutschen nicht länger gezwungen, gegen ihre Natur zu leben. Der Nationalsozialismus präsentiert sich damit als emanzipatorische Bewegung, die die Unterdrückung der menschlichen Natur beendet und die Deutschen zu ihrer Rassennatur befreit hat. Als Instanz dieser Unterdrückung macht er das jüdisch kontaminierte Christentum, Liberalismus und Aufklärung sowie alle mit universellen rassenindifferenten Konzepten argumentierenden und agierenden Bewegungen aus. Zugleich findet es Kolnai durchaus nachvollziehbar, rassische Gründe für Hier­archien der Bedeutung und Wertigkeit unterschiedlicher Völker und Kulturen anzunehmen, auch wenn es gewichtige Gegenargumente gegen eine solche Ansicht gebe. Mit der Festlegung auf die biologische Selektion verhindere der nationalsozialistische Tribalismus die rationale und humanistische Gestaltung der Eugenik, die auch, so gibt sich Kolnai überzeugt, sozialistische Intentionen verfolgen könne.39 Er belässt es bei dieser Anmerkung, ohne die Idee einer sozialistischen Eugenik weiter zu verfolgen. Kolnai sieht überragende Fähigkeiten der Deutschen, die ihnen zu Recht eine herausragende Rolle in der Geschichte der menschlichen Kultur und Zivilisa­ tion gesichert hätten. Diese Rolle als führende Kulturnation berechtige sie jedoch nicht dazu, für sich rassische Überlegenheit gegenüber anderen Völkern und Nationen zu reklamieren und etwa einen Herrschaftsanspruch gegenüber den Slawen als einer geringerwertigen Rasse abzuleiten, da die historische Bedeutung der Rasse und ihr Gewicht bei der Strukturierung gesellschaftlicher Verhältnisse wissenschaftlich nicht erwiesen sei.40 Sollte Nazideutschlands An38 39 40

Vgl. ebd., S. 476. Vgl. ebd., S. 470 f. Vgl. ebd., S. 471, 563 f., 606.

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spruch auf rassische Überlegenheit berechtigt sein, so wäre dieser Anspruch nur um so anrüchiger und bedrohlicher. Das Rassendenken und die auf ihm gegründete Rassenherrschaft seien in ihrem aggressiven Anspruch auf biologische Überlegenheit vor allem unmoralisch. Bemerkenswert sei die »nebulöse Ungenauigkeit und Raffinesse der Rassenbegriffe und -definitionen«.41 Ohne einen einheitlichen oder verbindlichen Rassenbegriff entwickelt oder politisch durchgesetzt zu haben, wurde die Rasse zum Mittelpunkt des völkischen Staats erklärt,42 in dem biologische, kulturelle und anthropologisch-philosophische Konzeptionen von Rasse miteinan­der konkurrierten.43 Universelle Maßstäbe lehnt das die Existenz höher- und minderwertiger Rassen unterstellende nationalsozialistische Rassenkonzept ab.44 Dass das Rassendenken, wie Kolnai annimmt, wissenschaftlich absurd ist, ist für ihn sekundär. Der Wissenschaft dürfe nicht das letzte Wort überlassen werden, wenn es um Moral und Humanität geht.45 Die Naturwissenschaften, so der Kern dieser Argumentation, können nicht die letzte Instanz der Entscheidung über richtig oder falsch in Angelegenheiten sein, die das Zusammenleben der Menschen betreffen. Selbst wenn das Rassendenken wissenschaftlich fundiert wäre, selbst wenn also die Höherwertigkeit und der Herrschaftsanspruch der nordischen Rasse wissenschaftlich begründbar wären, bleiben sie doch inhuman und unmoralisch und müssten deshalb abgelehnt werden.

Kolnais Analyse des Nationalsozialismus – der nationale Sozialismus Deutschlands: Kapitalismus oder Sozialismus Den Nationalsozialismus sah Kolnai als einen charismatischen Führerstaat, organisiert um eine rassische Volksgemeinschaft, die beanspruchte, alle sozialen und politischen Gegensätze der Deutschen zu beenden und diese zu einer um Volk, Nation und nordische Rasse organisierten Gemeinschaft zusammenzuschließen. Durch eine erfolgreiche Konterrevolution habe dieser einen »Überschuss an revolutionärer Energie«46 abgebaut, wobei die Irrationalität der nationalsozialistischen Ideologie rationales politisches Handeln nicht ausschließe. Zwar sieht Kolnai politische und ökonomische Umstände, die den Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung befördert hätten, der sich dennoch nicht

41 42 43 44 45 46

Ebd., S. 607. Vgl. ebd., S. 466. Vgl. ebd., S. 468–470. Vgl. ebd., S. 471. Vgl. ebd., S. 340 f. Ebd., S. 136.

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aus diesen Umständen wie etwa der ökonomischen und moralischen Krise der Nachkriegszeit erklären lasse. Dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg der Anschluss an den Westen verweigert wurde, habe jedoch zu ihrem Erfolg beigetragen. Hitlers politische Mobilisierung der Deutschen war auch deshalb so effektiv, weil er die Demütigung des deutschen Volkes durch die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dessen Festschreibung durch den Schandfrieden von Versailles mit dem Versprechen einer nationalen Wiedergeburt politisch zu nutzen verstand. Die radikale Infragestellung des Versailler Vertrages und der europäischen Nachkriegsordnung habe es dem Nationalsozialismus ermöglicht, sich als nationale Bewegung und glaubwürdiges Versprechen einer politischen Erneuerung Deutschlands zu profilieren. Dadurch, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die gleichberechtigte Zugehörigkeit zum Westen verweigert worden sei, sei es ein Fremdkörper in Westeuropa geblieben.47 Hitler versprach den Deutschen eine Zukunft, in der diese als Angehörige einer geachteten und gefürchteten Nation wieder stolz darauf sein konnten, Deutsche zu sein. Der Konflikt zwischen dem Westen und dem Nationalsozialismus sieht Kolnai untrennbar mit den inneren Problemen der westlichen Gesellschaft verbunden. Diese sei unfähig, mit der sozialen Frage und ihren ökonomischen Problemen umzugehen. Die westliche Demokratie, so Kolnai, könne sich nicht behaupten, ohne sozialistische Prinzipien wie Gleichberechtigung, öffentliche Kontrolle und gemeinschaftliche Verantwortung für die Organisation der Produktion einzuführen. Deshalb müsse die Arbeiterbewegung in ihrem Kampf für soziale Gerechtigkeit und Solidarität und gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit der sozialen Bedingungen unterstützt werden. Dagegen versprach der Nationalsozialismus, durch die Lösung sozialer Probleme und den organisatorischen Zusammenschluss von Arbeitern und Unternehmern in einer Einheitsgewerkschaft, der Deutschen Arbeitsfront, die soziale Spaltung Deutschlands zu beenden und damit den Marxismus auf seinem eigenen Terrain zu schlagen. Durch einen strategisch geschickten Schachzug habe er die Arbeiterbewegung damit sowohl zerschlagen als auch die Arbeiter in das politische System des Nationalsozialismus integriert. Zugleich wurden deutsche Unternehmen als Teil der nationalen Volksgemeinschaft vor der Arbeiterbewegung geschützt und für die politischen Ziele des Nationalsozialismus instrumentalisiert.48 Der Nationalsozialismus will das reibungslose Funktionieren des Kapitalismus durch die Harmonisierung des Verhältnisses zwischen den Verbänden der Besitzenden und den Gewerkschaften der Arbeiter sowie die Unterdrückung der freien Arbeiterorganisationen und politischen Parteien sichern. Durch die

47 48

Vgl. ebd., S. 230, 346. Vgl. ebd., S. 418.

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Vernichtung der Arbeiterautonomie soll der Klassenkampf beendet werden. In der faschistischen Einheitsgewerkschaft agiert der Fabrikbesitzer als Betriebsführer mit den Arbeitern als seiner Gefolgschaft. Dem Arbeitgeber gegenüber ist der Arbeiter ohne organisierte Repräsentation. Zugleich wird der Unternehmer zu sozialem Verhalten verpflichtet.49 Hitler sei es gelungen, die deutschen Kapitalisten davon zu überzeugen, dass die politische Demokratie untrennbar von einer freien Arbeiterbewegung sei und deshalb unvermeidlich zu staatlichen Eingriffen in das Privatvermögen und damit zu einer Schwächung der deutschen Unternehmer führen werde.50 Um dieses Szenario zu verhindern, musste in der Tat, so wie Hitler das sah, die internationalistische und sozialistische Linke daran gehindert werden, die Macht zu ergreifen. Die für das Überleben der deutschen Wirtschaft notwendige Zerschlagung der sozialistischen Linken aber könne nur die nationalsozialistische Bewegung unter seiner Führung leisten, während ein lediglich autoritäres und konservatives Regime vor der vollständigen Vernichtung der demokratischen Verfassung und der Parteien zurückschrecken würde. Ohne die nationalsozialistische Bewegung sei der Kapitalismus in Deutschland ernsthaft in Gefahr. Hitler habe es geschafft, die deutsche Wirtschaft davon zu überzeugen, dass sie die nationalsozialistische Bewegung zur Zerschlagung der sozialistischen Linken und damit der Sicherung ihres Überlebens brauche. Er habe gewusst, dass sich eine Weltanschauung nicht mit Machtmitteln, sondern nur durch eine überlegene Weltanschauung besiegen lasse. Am Fehlen einer solchen Weltanschauung sei die Bekämpfung des Marxismus bisher gescheitert. Der Marxismus könne nur durch eine junge und energische völkische Bewegung besiegt werden, eben den Nationalsozialismus. Die Schuld für den Erfolg der Sozialdemokratie habe Hitler bei der Bourgeoisie gesehen, deren bornierte Ablehnung sozialer Forderungen die Arbeiter in deren Arme getrieben habe. Den bürgerlichen Parteien werde es nie gelingen, so Hitler, die Arbeiter für sich zu gewinnen.51 Überzeugend legte Hitler dar, dass die linken Massen immer noch zu zahlreich und zu gut organisiert waren, um sich die Herrschaft einer Handvoll von Offizieren, Baronen und Industriellen gefallen zu lassen. Nur die nationalsozialistische Bewegung könne die Arbeiterbewegung zerstreuen, um ihre Effektivität bringen, auflösen und absorbieren.52 Diese Doppelstrategie der Zerschlagung und Integration der Arbeiterbewegung ist für Kolnai das Erfolgsgeheimnis der nationalsozialistischen Bewegung. Vor diesem totalitären Scheinsozialismus,53

49 50 51 52 53

Vgl. ebd., S. 355. Vgl. ebd., S. 355, 418. Vgl. ebd., S. 359 f. mit Verweis auf Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1932, S. 189. Vgl. ebd., S. 374. Vgl. ebd., S. 356.

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wie er es nannte, mussten die Unternehmer keine Angst haben. Sahen sie in der nationalsozialistischen Bewegung zunächst das kleinere Übel, so lernten sie ihn schnell als Lösung ihrer Probleme durch die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und die Beendigung des Klassenkampfes zu schätzen. Der auf gegenseitigen Interessen basierte Deal mit der deutschen Wirtschaft versprach, diese von den ökonomisch verheerenden und nur schwer kalkulierbaren Turbulenzen von Arbeiterbewegung und Klassenkampf zu erlösen, während der Nationalsozialismus seinerseits die Wirtschaft zur ökonomischen Vorbereitung des Krieges brauchte. Die kapitalistische Wirtschaft wird vor strukturellen Störungen durch Arbeitskämpfe, revolutionäre Erhebungen u. Ä. bewahrt und muss dafür die Herrschaft der militanten nationalsozialistischen Bewegung ertragen. Die Strukturierung der Gesellschaft nach rassenideologischen Kriterien ersetzte die soziale Strukturierung entsprechend der Zugehörigkeit zu sozialen Klassen, die zutreffend als Grund der nationalen Spaltung identifiziert wurde. Diese soziale Spaltung Deutschlands sollte durch die nationale Einheit der rassischen Volksgemeinschaft überwunden werden. Durch die erfolgreiche Überlagerung des Staates durch die nationalsozialistische Partei und Bewegung seien in Deutschland Verkrustungen der Staatsbürokratie aufgebrochen worden. Kolnais Versuch, den Nationalsozialismus aus dessen Haltung zu Kapitalismus und Sozialismus zu bestimmen, definiert ihn als militaristischen nichtegalitären Pseudo-Sozialismus, der die kapitalistische Wirtschaft ausdrücklich bejaht. Klassenkampf und Klassenherrschaft ersetzt er durch die Interessengemeinschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in der die Arbeiter keine Rechte haben. Der Nationalsozialismus habe den Arbeiter als politischen Soldaten zum Gegentypus des urbanen, hedonistischen Menschen aufgebaut. Das Volk wird »einer Arbeitsdienstverpflichtung nach militärischem Muster unterworfen. Die erwachsenen Männer sind nicht länger für kurze Zeit bewaffnete Soldaten, sondern das ganze Volk, Männer und Frauen, Erwachsene und Jugendliche, sind ihr Leben lang Arbeitssoldaten unter militärischem Kommando.«54 Der Nationalsozialismus strebt die totale Militarisierung der Gesellschaft an. Die Nationalsozialisten lehnen den auf Gleichberechtigung gegründeten Arbeitersozialismus ab. Der deutsche Sozialismus der Nazis ist nicht der Parteisozialismus, der den Gegner im eigenen Volke sucht, auch nicht der Klassensozialismus, der die Frage nach dem Privateigentum stellt. Es ist vielmehr der Völkersozialismus. Der nationalsozialistische Sozialismus der Ungleichheit ist auch kein Staatssozialismus, Staatskapitalismus oder konservativer Sozialismus. Ihm geht es nicht um eine effektive staatliche Kontrolle der Wirtschaftsproduk­ tion und Güterverteilung. Vielmehr wird der Kapitalismus hier von einem militä-

54

Ebd., S. 406 f.

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rischen Staatsapparat sowohl aufrechterhalten als auch vereinnahmt. »Der Natio­ nalsozialismus ist kein Kompromiss zwischen Nationalismus und Sozialismus, sondern die völlige Unterwerfung der Gesellschaft unter den Nationalismus als einem sozialen Gegenbekenntnis zum Sozialismus.«55 Sozialismus und Kapitalismus, Militarismus und Nationalismus sind die Koordinaten, mit denen Kolnai zu erfassen versucht, was das Besondere am Nationalsozialismus ist. Durch die Militarisierung der deutschen Gesellschaft habe es der Nationalsozialismus geschafft, sozialistische und kapitalistische Elemente in eine moderierte Einheit zu zwingen. Der Kapitalismus soll reibungslos funktionieren, muss sich dafür aber dem Diktat des militärischen Kommandos unterwerfen. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft suggerieren einen Staatssozialismus, der jedoch keine staatliche Kontrolle der Wirtschaft anstrebt. Die Arbeiter haben keine Interessenvertretung gegenüber den Unternehmern mehr, die jedoch durch den Staat zu dem sozialen Verhalten gezwungen werden, das ihnen sonst im Klassenkampf die Arbeiter aufgezwungen hätten. Kolnais Versuch einer konzeptionellen Bestimmung des Nationalsozialismus versucht, dessen paradoxe Vielschichtigkeit aufzunehmen. Im Durchgang durch dessen ideologische und gesellschaftspolitische Elemente spielt er eine Vielzahl solcher Bestimmungen durch, die er letztlich alle als einseitige Überhöhung einzelner Elemente unter Vernachlässigung anderer ebenso wichtiger Merkmale des Nationalsozialismus verwirft. Dadurch gelingt es ihm, die Paradoxie der strategischen und ideologischen Verknüpfung eigentlich unvereinbarer Elemente als besonderes Merkmal des Nationalsozialismus herauszuarbeiten und als Geheimnis seines politischen Erfolgs zu bestimmen. Mit der Betonung so unterschiedlicher Werte wie Autorität, Organisation, Gemeinschaft, Disziplin und soziale Gerechtigkeit habe es die nationalsozialistische Bewegung verstanden, ein vielschichtiges Konglomerat zu einer paradoxen ideologischen Einheit zusammenzuführen. Der folgende Versuch, diese Paradoxie in einer eigenen Begriffsbestimmung festzuhalten, spiegelt diese Herangehensweise vielleicht am Besten wider: Das nationalsozialistische Deutschland ist kein bürgerlicher, sondern ein sozialistischer Staat, der die Arbeiter daran hindert, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Hier gibt es keine kapitalistische Ökonomie im klassischen Sinne mehr, ebenso wenig wie der Staat noch als unparteiische Autorität und Ordnung agiert. Ökonomisch und politisch zeigen sich die Umrisse einer unbeschränkten Macht um ihrer selbst willen. Ökonomisch laufe der Nationalsozialismus auf eine militaristische »Rückkehr der Klassengesellschaft«56 hinaus, sei er eine Umstrukturierung des Kapitalismus im Sinne des Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus habe

55 56

Ebd., S. 354. Vgl. ebd., S. 360 f.

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das Überleben der kapitalistischen Marktwirtschaft mit dem Profitprinzip als Leitmotiv durch die Ausweitung staatlicher Kontrolle und die Militarisierung der Gesellschaft gesichert und den Konzernkapitalismus gegen das egalitäre System der Demokratie unterstützt.57 Er sichert die kapitalistische Klassenherrschaft, indem er Teile der Arbeiterklasse in den faschistischen Staat und die ökonomisch herrschende Klasse einbindet und die organisierte Arbeiterschaft eliminiert. Der Industrie ging es darum, die Löhne herabzudrücken, die Klassenherrschaft zu modernisieren und eine demokratische Gesellschaft zu verhindern. Der nationalsozialistische Staat hat die Wirtschaft dem politischen Kommando unterworfen und sie zum Bekenntnis zu Führerstaat und nationaler Einheit gezwungen. Dennoch wird die Wirtschaft, die keine Enteignung oder Verstaatlichung befürchten muss, immer noch mit ökonomischem Sachverstand von den kapitalistischen Berufsverbänden und Unternehmen organisiert. Zugleich ersetzen staatliche Planung, Zwang und Überwachung das freie Spiel der ökonomischen Kräfte, um systematisch einen Krieg vorzubereiten.58 Das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus braucht charismatische politische Führer nicht weniger als eine traditionelle Wirtschaftsordnung, um den hochindustriellen Faschismus zu sichern. Der Nationalsozialismus ist weder ein nationalistischer Sozialismus noch ein moderater sozialer Liberalismus oder Staatssozialismus. Die soziale Frage des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, ökonomischer Gleichberechtigung und gleichberechtigter Verteilung stehen nicht auf seiner Agenda. Was an Sozialismus übrig bleibt, ist eine äußerst vage Ideologie der Planung, Disziplin und diktatorischer Eingriffe des Staates gegen Freiheit und wirtschaftlichen Liberalismus. In der vagen und unbestimmten Natur des nationalsozialistischen Sozialismus sieht Kolnai jedoch keine Schwäche, sondern einen Grund für den Sieg des Nationalsozialismus über den marxistischen Sozialismus. Diese Unbestimmtheit lässt Raum für ganz unterschiedliche Erwartungen und überlässt es potenziellen Anhängern, aus welchen für sie stimmigen Gründen sie den Nationalsozialismus unterstützen. Kolnais Versuch einer politisch-ökonomischen Bestimmung des Nationalsozialismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus bleibt unentschieden und trifft eben dadurch das Changieren nationalsozialistischer Politik, die durch die politische Integration der Arbeiter und der Unternehmer die rassenpolitische Überwindung der Klassengegensätze und damit die Herstellung einer nationalen Volksgemeinschaft zu erreichen suchte. Dabei übernahm sie traditio­ nelle Forderungen der Arbeiterbewegung, die sie unter nationalsozialistischen Vorzeichen einlöste, wie etwa die Einführung des 1. Mai als Tag der Arbeit. Im

57 58

Vgl. ebd., S. 384 f. Vgl. ebd., S. 395.

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Zeichen nationaler Einheit und Harmonie wurde der Klassenkampf für überwunden erklärt. Die Arbeiter sollten weder Gelegenheit noch Grund haben, die ökonomische Herrschaft der Unternehmer infrage zu stellen, die ihrerseits in die Verantwortung für bessere Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen genommen wurden, ohne die bestehenden Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich zu verändern. Kriegsvorbereitung und imperialistisches Expansionsstreben des Nationalsozialismus wurden als Anreize ökonomischer Expansion der Unternehmen und ihres Profitstrebens gesetzt. Nicht die internationale Verflechtung der Unternehmen, sondern die territoriale Erweiterung ihrer unternehmerischen Aktivitäten im Zuge der kriegerischen Expansion des Deutschen Reiches sicherte ihnen neue Profitquellen. Was mit der Enteignung und Übernahme jüdischen Eigentums begann, setzte sich in der Beschäftigung ausländischer und jüdischer Zwangsarbeiter und der Errichtung neuer Dependancen in den besetzten Gebieten fort.

Nationalsozialismus und Krieg Kolnai fragt nach der Wahrscheinlichkeit, mit der vom nationalsozialistischen Deutschland ein europäischer und Weltkrieg ausgehen werde und kombiniert zur Beantwortung dieser Frage geo- und außenpolitische Überlegungen mit der Annahme eines dem Nationalsozialismus zugeschriebenen Bellizismus, der diesen auch unabhängig von taktischen und strategischen Kalkülen zwingend zum Krieg treiben werde. Weder sei ein Krieg unvermeidlich noch ein Frieden um jeden Preis anzustreben. Sollte der Nationalsozialismus einen Krieg beginnen, müsse der Westen seine moralische, rechtliche, materielle und strategische Überlegenheit ausspielen.59 Die gewaltsame Assimilierung fremder Völker gehöre mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu den vorrangigen politischen Zielen des Nationalsozialismus, zumal sich die führenden Nationalsozialisten wahrscheinlich darüber im Klaren seien, dass in einem Krieg viele junge Leute ihres eigenen Volkes fallen würden und dass ein Krieg zu ihrem eigenen Sturz führen könnte.60 Dennoch habe der Nationalsozialismus eine Affinität zu Krieg, Hegemonialität und Weltherrschaft, was ihn unberechenbar und gefährlich in den weltpolitischen Auseinandersetzungen mache.61 Der Nationalsozialismus sehe den Krieg als Selbstzweck, der über die Verfolgung strategischer Ziele hinaus den Kampf ums Dasein und die Durchsetzung der Stärkeren, das Ausmerzen der Schwachen und ­Minderwertigen und die

59 60 61

Vgl. ebd., S. 694 f. Vgl. ebd., S. 654. Vgl. ebd., S. 441.

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Auslese eines starken »neuen Menschen« im Kampf vorantreibe. Er akzeptiere ihn fatalistisch als Schicksal und schätze ihn als eine Lebensweise, weniger als Mittel zur Erlangung von Vorteilen. Für den Rassennationalismus sei der Aufbau der neuen Gesellschaft wichtiger als der Krieg. Ihm geht es nicht darum, fremde Völker gewaltsam zu erobern, weshalb er sich auch nicht vorzeitig auf Konflikte einlassen werde. Ob Deutschland tatsächlich einen neuen Weltkrieg riskieren werde, könne nicht mit Sicherheit vorhergesehen werden. Alles deute jedoch auf einen solchen Krieg hin, den schon die geistige Verfassung Nazideutschlands wahrscheinlich mache: Lediglich unblutige Eroberungen Nazideutschlands, denen jedoch Grenzen gesetzt seien, könnten das verhindern.62 Die Aufrüstung Nazideutschlands, seine außenpolitischen Pläne sowie seine nationalen und rassischen Ideologien zeigen seine prinzipielle Bereitschaft zum Krieg: Es ist zu imperialistischer Expansion entschlossen. Kolnai belässt es nicht bei der Beschwörung einer vom Nationalsozialismus ausgehenden Gefahr, sondern versucht sich an der hypothetischen Rekonstruk­ tion strategischer Überlegungen der nationalsozialistischen Führung, deren zwischen Ost- und Westexpansion changierende Optionen er nüchtern gegeneinander abwägt. Dabei berücksichtigt er sowohl geostrategische Kalküle und machtpolitische Konstellationen als auch ideologisch-weltanschauliche Tiefenschichten, deren Differenzierung es ihm ermöglichen soll, kurz- und mittelfristige Prioritäten nationalsozialistischer Politik von historisch weitreichenden, in nicht überbrückbaren weltanschaulichen Gegensätzen begründeten Langzeitperspektiven zu unterscheiden. Bemerkenswert ist dabei, dass er den weltanschaulichen Gegensatz zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus für weniger gewichtig hält als den zwischen Nationalsozialismus und bürgerlicher bzw. westlicher Welt. Während der Nationalsozialismus eine eindeutig antiwestliche und unmoralische Ordnung sei, gestand er dem Kommunismus des Sowjetsystems zu, programmatisch auf eine universale moralische Ordnung der Menschheit zu zielen. Der Nationalsozialismus sei stärker antiwestlich als der Bolschewismus, der bürgerlichen Vorstellungen viel näher stehe. Ebenso habe der Atheismus der Linken mit christlicher Moral und ihren sozialen Implikationen viel mehr gemein als das Heidentum der Nazis.63 Während sich der Bolschewismus noch in der Tradition der Französischen Revolution und ihren Kampfbegriffen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als Humanismus darstelle und verstehe, ohne deshalb selbst humanistisch zu sein, habe der Nazismus die Idee der Menschheit durch seine Konzepte von Rasse und Vitalität ersetzt und verabschiedet.64 Für

62 63 64

Vgl. ebd., S. 654. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 211, 251.

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den Westen und die bürgerliche Gesellschaft sei der Nazismus eindeutig gefährlicher als der Bolschewismus.65 Später bedauerte Kolnai, in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus den Kommunismus als die weit größere Gefahr für die westliche Welt unterschätzt zu haben.66 Nazideutschland bedrohe vor allem den Bolschewismus und scheine zunächst eine Expansion Richtung Osten zu planen, bevor es sich der Vernichtung des Westens zuwende, da er die Stärke des anglofranzösischen Westens höher einschätze als die des slawischen Ostens. Zugleich biete die Expansion nach Osten eine deutlich bessere Aussicht auf territoriale und wirtschaftliche Gewinne, wobei die Nationalsozialisten mit der pazifistischen Sentimentalität des kapitalistischen Westens rechnen könnten, der sich im Falle eines Angriffs auf Russland eher zurückhalten als eingreifen werde.67 Der Westen sei jedoch der wahre Gegner des Nationalsozialismus, auch wenn dieser aus strategischen Gründen zunächst Sowjetrussland angreifen sollte. Der russische Bolschewismus werde zwar als Bedrohung wahrgenommen und als Beute begehrt, er soll zurückgedrängt und vernichtet werden, um das slawische Europa unter deutsche Herrschaft zu bringen. Im Kern gehe es dem Nazismus jedoch um die Vernichtung der geistigen und moralischen Werte des Westens und den Sturz der westlichen Demokratie. Das deutsche Volk jedenfalls werde auf die Anforderungen eines künftigen Krieges vorbereitet. Auch wenn Deutschland den Krieg nicht ausdrücklich wolle, erzeuge es dennoch eine Atmosphäre des Krieges und bereite das Land sowohl technisch als auch psychologisch auf die militärische Erreichung seiner Ziele vor. Zu dieser Vorbereitung gehört auch die Umstellung der Wirtschaft auf eine Kriegsökonomie. Wenn Nazideutschland einen Krieg beginnen würde, so Kolnai, dann sicher nicht, um von wachsenden inneren Problemen und wirtschaftlicher Not abzulenken. Der Nationalsozialismus habe genug enthusiastische Anhänger und politische Erfahrung, um mit inneren Schwierigkeiten fertigzuwerden. Die Deutschen seien bereit, Entbehrungen zu ertragen, die jedes demokratische Regime in Unruhe versetzen würden. Auf die Disziplin und Opferbereitschaft des deutschen Volkes könne sich der Nationalsozialismus verlassen. Die faschistische Diktatur brauche imperialistische Unternehmungen, jedoch nicht um die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu beschwichtigen, sondern um ihre eigenen Anhänger durch ein deutsches Weltimperium zu befriedigen. Deutschland müsse keinen Aufstand der Opposition fürchten, sondern das Nachlassen der Spannung innerhalb seiner Elite. Der Faschismus muss Krieg führen, um seine innere Leere zu überdecken.68 65 66 67 68

Vgl. ebd., S. 46. Vgl. Kolnai, Political Memoirs, S. 144. Vgl. Kolnai, Krieg, S. 583. Vgl. ebd., S. 656.

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Diese philosophisch-metaphysische Bestimmung der inneren Dynamik des Nazismus kommt zu dem Schluss, dass Nationalsozialismus Krieg bedeutet, wenn auch nicht in der Konsequenz innen- und außenpolitischer Konstellationen, sondern im Ergebnis einer bellizistischen Anthropologie, die den Krieg als Vehikel des globalen Kampfes ums Dasein einsetzt. Diese sozialdarwinistische Anthropologie billigt den Stärkeren das Recht zu, ihre Überlegenheit in der Auseinandersetzung mit anderen Rassen und Völkern nachzuweisen. Im Kampf sollen die Deutschen humanitäre Skrupel, die ihnen bürgerlicher Humanismus und Christentum eingeimpft haben, überwinden und für die entsprechende Behandlung der Gegner in einer ausschließlich am Sieg orientierten Kriegführung, aber auch rassisch Minderwertiger und Schwächerer schlechthin sozialisiert werden. Ihnen wird vermittelt, dass der Krieg zum Wesen der Herrenmenschen gehört, die in ihm die Gelegenheit haben, moralische Hemmungen einer bürgerlich-humanistischen Sozialisation zu überwinden und zu ihrer ursprünglichen Rassennatur zurückzufinden, die ihnen als Angehörigen der höherwertigen nordischen Rasse die moralische Lizenz zur Versklavung und Vernichtung minderwertiger Rassen gibt. In diese Richtung ließe sich Kolnais Identifizierung einer bellizistischen Rassennatur als anthropologischem Kern der nationalsozialistischen Rassenideologie weiterentwickeln. Zu einer Zeit, als die Rassenideologie zur Staatsdoktrin wurde und das gesellschaftliche Leben und die politische Kultur Deutschlands nachhaltig veränderte, ohne dass sich jedoch der künftige rassische Vernichtungskrieg und die Vernichtung der Juden im Holocaust bereits vorhersehen ließen, musste Kolnai es bei dieser allgemeinen Bestimmung belassen. Fragwürdiger ist die Behauptung einer inneren Leere des Faschismus bzw. Nationalsozialismus, die nur durch Krieg gefüllt werden könne. Innerlich leer haben sich die Deutschen, die überzeugt und enthusiastisch oder opportunistisch und pragmatisch dem Nationalsozialismus gefolgt sind, sicher nicht gefühlt. An populistischen Angeboten ideologischer Sinnstiftung bestand kein Mangel: Karrieren wurden verfolgt, Besitz wurde vermehrt, Gemeinschaftserlebnisse ermöglicht, und nicht zuletzt bot das nationalsozialistische Regime reichlich Gelegenheit, sich politisch zu profilieren und für Höheres zu empfehlen. Deutschlands auf die Errichtung eines nationenübergreifenden Reichs zielenden Expansionsdrang und Hegemonialanspruch erklärt Kolnai aus dessen geografischer Mittellage und verspäteter Nationalstaatsbildung, jedoch ohne den deutschen Anspruch auf eine europäische Sonderstellung damit zu rechtfertigen. Um den deutschen Nationalismus aus der besonderen geografischen Lage Deutschlands zu verstehen, müsse man berücksichtigen, dass Deutschland die dominierende Nation in Mitteleuropa sei. Das von Deutschen besiedelte Gebiet habe keine natürlichen Grenzen, und viele Deutsche lebten außerhalb der Grenzen des Reichs teilweise verstreut unter anderen Völkern. Deutschland fehlten die territorialen Möglichkeiten anderer westlicher Nationen. Seine Lage sei z­ entral

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jedoch nur im Verhältnis zum europäischen Kontinent. Aus der Perspektive der westlichen Zivilisation sei sie eher peripher. Deutschland als Nation der Mitte stilisiert sich als ursprüngliches, überlegenes und zur Herrschaft bestimmtes, aber auch als umzingeltes, verhasstes, isoliertes und verfolgtes Volk. Als natürlicher Führer Europas werde Deutschland von seinen Gegnern als Gefahr für Europa diskriminiert. Das deutsche Volk habe erst verspätet und unvollständig zu nationaler Einheit gefunden. Das könnte der Grund dafür sein, dass die deutsche Vorstellung einer Nation von Ansprüchen auf rassische Überlegenheit und imperiale Einzigartigkeit geprägt sei. Angesichts dieser Gemengelage hält es Kolnai für notwendig zu betonen, dass sich aus ihrer spezifischen geografischen und historischen Konstellation keine religiösen und metaphysischen Eigenheiten der Deutschen ableiten ließen. Er sieht eine geopolitisch herausgehobene Sonderstellung Deutschlands in der Mitte Europas, aus der sich jedoch keine Sonderrolle Deutschlands begründen lasse, während der Nationalsozialismus die deutsche Hegemonie als logische Konsequenz einer zur Herrschaft bestimmten Rasse herausstellt.69 Es sei möglich, dass der Nationalsozialismus, der die Verkrustungen des dynastischen Föderalismus beseitigt habe, als brutaler Geburtshelfer Deutschland zu einem normalen Nationalstaat westlichen Typs machen werde. Auch dann werde Deutschland jedoch auf einer herausgehobenen Stellung innerhalb westlicher Völker bestehen. Deshalb sei es müßig, auf einvernehmliche diplomatische Lösungen der Differenzen und Konflikte mit dem Nationalsozialismus zu hoffen. Der Nationalsozialismus werde sich nicht damit begnügen, eine normale deutsche Nation zu sein, sondern ein Reich mit dem deutschen Volk als Zentrum eines hierarchisch gegliederten Imperiums anstreben.70

69 70

Vgl. ebd., S. 563 f. Vgl. ebd., S. 632.





Graham J. McAleer  Sexualpolitik des Nationalsozialismus: Aurel Kolnai zur Gefahr eines Rückfalls in den Primitivismus

Politische Diskussionen reduzieren sich oft auf gegenseitige Beschimpfungen. Es gibt viele diffamierende Begriffe, die man dem politischen Gegner anheften kann: Absolutist, Bonapartist, Totalitarist, Stalinist, Kommunist, Ayatollah, Reaktionär, Falangist, sogar Ultramontanist, zwei permanente Favoriten sind jedoch Faschist und Nazi. Als eine interessante Abwandlung wurden in einem Zeitungsartikel IS-Kämpfer »heimliche Nazis«1 genannt. Obwohl der Begriff also leichtfertig gebraucht wird, können die meisten Menschen die wichtigsten politischen Eigenschaften eines Faschisten sicher nicht benennen. Und auch was die Nazis betrifft, haben die Menschen höchst wahrscheinlich nur vage Vorstellungen von der Gestapo, den Konzentrationslagern, Braunhemden oder, dem Begriff der Stunde, Hass. Aurel Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« von 1938, vom deutschen Philosophen Axel Honneth als grundlegend bezeichnet,2 ist sicher die detaillierteste und analytischste Dokumentation der Gedankenwelt des Nazismus von einem Philosophen. In einigen Kreisen glaubt man heute, dass der Westen wieder dem Nazismus verfällt. Wenn man jedoch »Der Krieg gegen den Westen« liest, ist der überwältigende Eindruck, wie befremdlich und merkwürdig das Denken der Nazis war. Weder die Anhänger der Linken noch der Rechten sind heute so bizarr. In keiner Hinsicht ist das so offensichtlich wie in den Vorstellungen der Nazis über Erotik. Die Sexualpolitik der Nazis deformierte Personen, Familien und die Gemeinschaft auf katastrophale Weise.3

1

2 3

James Rothwell, Isil are a gang of cowardly »repressed Nazis«, says France’s leading philosopher as he urges Britain to back Peshmerga forces. In: The New Telegraph vom 25.6.2016 (https:// www.telegraph.co.uk/news/2016/06/25/isil-are-a-gang-of-cowardly-repressed-nazis-saysfrances-­leading/; 23.5.2016). Anmerkung aus einer privaten Korrespondenz. Zur fortgesetzten Bedeutung der Sexualpolitik im Westen vgl. Graham McAleer, Veneration & Refinement: The Ethics of Fashion, insbes. Kapitel 8, Fashion and Power: Agamben and P ­ ryzwara on the Vestments of Power (www.ethicsoffashion.com; 25.6.2017).

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Als roter Faden zieht sich durch die 700 Seiten von »Der Krieg gegen den Westen«, wie der Nazismus den Vitalismus zelebrierte, unabhängig von allen veredelnden Werten, die unsere Triebe kontrollieren oder erheben. Im Folgenden fasse ich das Buch und verschiedene Aufsätze von Kolnai zusammen, und zwar insbesondere seine frühen Aufsätze, Vorläufer von »Der Krieg gegen den Westen«, wie »The Total State and Civilisation« von 1933 sowie »The Abuse of the Vital« von 1934.4 Ich nehme auch Anleihen bei Edmund Burke, der Kolnai beeinflusste, um die philosophische Struktur von Kolnais Buch zu verstehen. Burke empfiehlt, dass Politik einer »Methode der Natur« gehorche, dies ist jedoch sehr verschieden vom nazistischen »heidnisch-romantischen Vita­lismus«.5 Die Nazis lehnten Burkes Bemühungen, den »Geist eines Ehrenmannes und den der Religion«6 mit politische Leidenschaften anzureichern, ab.

Hintergrund Aurel Kolnai wurde im Jahr 1900 im niedergehenden Österreich-Ungarischen Kaiserreich geboren. Er war gebürtiger Budapester, ein exzentrischer Philosoph und Lehrer. Seine exzentrischen Seiten zeigten sich bereits früh. Als Jugendlicher während des Ersten Weltkriegs ergriff er Partei für die Alliierten: Er war ein frühreifes Kind, anglophil und beeinflusst von englischen Autoren, insbesondere Chesterton. Seine Wesenszüge verstärkten sich, als er im Alter von 20 Jahren zum Katholizismus konvertierte – er stammte aus einer stark assimilierten liberalen jüdischen Familie – und seinen Namen von Aurel Stein in Aurel Thomas Kolnai änderte. Er fühlte sich nie zur deutschen Kultur hingezogen und hielt deren Einfluss auf Österreich-Ungarn für verheerend. Diese Distanz half ihm im Gegensatz zu vielen anderen, jenes Monster, das sich in Deutschland entwickelte, im richtigen Licht zu sehen. Obwohl er zu der Zeit in Österreich lebte und bereits drei philosophische Bücher in Deutsch verfasst hatte, schrieb er sein Buch »Der Krieg gegen den Westen« auf Englisch. Kolnai wollte, dass die angloamerikanische Welt gegen Hitler in den Krieg zog, und stellte deshalb ausführlich dar, wie bizarr, bösartig und desaströs der Nationalsozialismus war. Heute ist Kolnai in intellektuellen Kreisen vor allem bekannt durch seine wegweisenden Beiträge zur konservativen Theorie in den Nachkriegsjahren. 1938 gehörte er dagegen als Journalist der Christlichen Linken an.7 Victor Gollancz, ebenfalls Mitglied der Christlichen Linken, veröffentlichte das Buch in einer einfach gestalteten Ausgabe des Linken Buchclubs. 4 5 6 7

Diese Texte sind veröffentlicht in Aurel Kolnai, Politics, Values, and National Socialism. Hg. von Graham McAleer, London 2013, S. 45–52, 117–124. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, Indianapolis 1999, S. 180. Ebd., S. 179. Vgl. Francis Dunlop, The Life and Thought of Aurel Kolnai, Aldershot 2002.

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Obwohl ein bemerkenswert undogmatischer Linker, analysiert Kolnai auch die politischen Optionen der Rechten: Er unterscheidet Konservatismus und Reaktion von Nazismus, und Nazismus von Faschismus. Der Konservatismus versucht, existierende Privilegien vor dem Verfall durch Progressismus zu bewahren, während es der Reaktion darum geht, verlorene Privilegien wiederzuerlangen. Der Nazismus zielt auf eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft, von den Ambitionen her vergleichbar der Französischen Revolution. 1938 gab es keinen erklärten Krieg, was also war der Krieg der Nazis gegen den Westen? Warum war der Nazismus nicht eine bloße Kritik am Westen, eine Reform oder eine Erweckung, so wie einige Kreise es annahmen? Kolnai glaubte, dass es nicht um einen bevorstehenden offenen Kampf ging, sondern um einen revolutionären Angriff auf die Wertestruktur des Westens: seine Moral, seine politischen, metaphysischen und kulturellen Überzeugungen und Tendenzen wurden im Nationalsozialismus insgesamt infrage gestellt.8 Als revolutionäre Bewegung war der Nazismus jedoch merkwürdig. Mit Blick auf gegenwärtige westliche Politik scheint es nicht abwegig, Kontinuitäten mit Mussolinis Formel für den Faschismus festzustellen. So sei der Faschismus »für die Freiheit, und zwar für die einzige, ernsthaft zu nehmende Freiheit des Staats und des Individuums im Staate«.9 Kolnai betont, dass diese kalte Formel von einer »bösartigen Idealisierung der Tyrannei«10 der Nazis bei Weitem übertroffen wurde. Es ist diese Fetischisierung der Tyrannei und ihrer Wurzel in den Trieben, die das Bestreben der Nazis, den Westen zu Fall zu bringen und »die Wiederkehr der spirituellen Barbarei«11 zu fördern, auszeichnet. Die Methode des Buchs ist sehr interessant. Kolnai wählte breite Themenfelder, die den Nazis besonders wichtig waren, wie zum Beispiel den Wunsch nach nationaler Größe oder die Erotik des militärischen Lebens. Dann sammelte er unter diesen Überschriften Dutzende von Zitaten von Naziautoren. Bis auf eingestreute Kommentare ließ er die Zitate für sich selbst sprechen. Kolnai sammelte im wahrsten Sinne des Wortes Naziliteratur, wie sie in den Straßen und Cafés in Wien verteilt wurde. Obwohl er meistens die Nationalsozialisten für sich selbst sprechen lässt, bringt auch Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« seine damalige linke Einstellung zum Ausdruck. Das zeigt sich etwa in der These, dass der Nazismus antiwestlicher ist als der Bolschewismus und fundamental entgegengesetzt zum Liberalismus oder dass er danach strebe, eine Zivilisation zu reprimitivieren.12     8     9 10 11 12

Vgl. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 340 f. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 46, 124–126.

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Das Werk hat etwas Prophetisches an sich. Als katholischer Konvertit war Kolnai entsetzt zu sehen, wie katholische Intellektuelle Gemeinsamkeiten mit Hitler fanden:13 Viele begrüßten den Nationalsozialismus als eine antiutilitaristische, antiliberale und antikommunistische Bewegung und glaubten, sie könnten seine hässlichsten Aspekte ignorieren und die Bewegung in höhere spirituelle Sphären umlenken.14 Kolnai warnt immer wieder davor, dass jeder religiöse oder politische Kompromiss mit den Nazis verheerend wäre. Der Nationalsozialismus sei keine Erweckungsbewegung, sondern eine Revolution zur Untergrabung der Zivilisation. Heute neigen wir dazu, den Zweiten Weltkrieg für eine moralisch eindeutige Angelegenheit zu halten. Man muss sich jedoch daran erinnern, dass seine Helden, Leute wie de Gaulle und Churchill, als Hardliner an die Macht kamen: Sie wurden wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Kompromissen mit Hitler skeptisch betrachtet. Im Krieg selbst fassten Lord Halifax und Neville Chamberlain die Möglichkeit von Kompromissen mit Hitler ins Auge. Manche waren sogar der Meinung, dass Kompromiss und radikale Vielfalt zur Demokratie dazugehören, eine Position, die Kolnai ohne Wenn und Aber ablehnte. Am Ende des Krieges war Kolnai zu einem brillanten konservativen Theoretiker geworden. Seine theoretisch reichhaltige Schrift »Privileg und Freiheit« erschien 1949. Das provokative »Three Riders of the Apocalypse« von 1950 greift die Themen aus »Der Krieg gegen den Westen« am pointiertesten auf, diese hatten sich nun jedoch wesentlich verändert.15 1950 argumentiert Kolnai, dass die drei modernen Massenregimes – Nazismus, Kommunismus, progressive ­Demokratie  – als dreiköpfiges Monster mit einem einzigen Körper verbunden seien: dem des »emanzipierten Menschen«. Jedes sei, wenngleich in unterschiedlichem Grad, infiziert »vom Virus der subversiven Utopie gebunden an ein totalitäres Ziel«:16 Der Marxismus-Leninismus stelle jedoch »die authentischste und mächtigste Art des Totalitarismus«17 dar. Der sowjetische Totalitarismus, so glaubte er, akzeptiere die westlichen Werte, verrate sie aber kaltblütig. Der Kommunismus versuche, die westliche Wissenschaftlichkeit zu nutzen, um eine tiefgreifende, durchdringende Transformation der Natur voranzutreiben. Deshalb hielt Kolnai nun den Bolschewismus für den vollständigeren Totalitarismus. Die Wissenschaftlichkeit des Kommunismus, so seine These, werde zur vollständigen »Selbstversklavung« des Menschen führen und damit sogar den »spirituellen Barbarismus der Nazis übertreffen«.18 13 14

Ebd., S. 288–293. Zur gegenwärtigen Diskussion, vgl. Aaron Pidel, Erich Przywara, S. J., and Catholic Fascism. In: Journal for the History of Modern Theology, 23 (2016) 1, S. 27–55. 15 Vgl. Aurel Kolnai, Privilege and Liberty and Other Essays in Political Philosophy, Lanham 1999, S. 105–108. 16 Ebd., S. 108. Zu Kolnais Beobachtung der dem Humanismus inhärenten totalitären Züge vgl. Graham McAleer, Ecstatic Morality and Sexual Politics, New York 2005. 17 Kolnai, Privilege, S. 105. 18 Vgl. ebd., S. 106.

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Das Kernproblem: Vitalismus Die »Emanzipation des Menschen« sei die Grunddoktrin dieses »dreiköpfigen Monsters«.19 Ein Schlüssel zur Bedeutung dieser Formulierung findet sich gleich am Anfang von »Der Krieg gegen den Westen« in Kolnais eindrucksvollem Kommentar, wonach Klages Freud »nicht allzu fern«20 stehe. Ludwig Klages, von Kolnai beschrieben als hoch bewunderter Dionysos,21 war ein führender Vertreter des Vitalismus – ein wiederkehrendes Thema in »Der Krieg gegen den Westen« ist die von den Nazis vorgenommene Reduktion der Person auf Triebe. Die Nazis kamen nicht aus dem Nichts, daher die Erwähnung von Vitalisten wie Nietzsche und Freud.22 Nietzsches Formulierung vom Adel als Personen von »verzehrender Temperatur« war für Kolnai zutiefst subversiv. Klages griff diese Art zu denken in seinem Biozentrismus auf, der die Metaphysik zur Biologie umbog.23 Das bereitete die Obsession der Nationalsozialisten mit dem Rassenbegriff vor und half ihnen, intellektuelles Ansehen zu gewinnen. Sie bedienten sich einfach der Muster des zeitgenössischen deutschen Denkens, so Kolnai. Ein langer und bedeutsamer Trend westlichen Denkens ende im Nazismus: »Hier wird die Metaphysik der faschistischen Konterrevolution vervollständigt.«24 Kolnai mag nicht so frühreif gewesen sein wie David Hume, aber schon mit 22  Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch »Psychoanalyse und Soziologie«, und war bereits Teilnehmer am Wiener Zirkel. 1925 jedoch las er in Anwesenheit von Freud aus seinem Aufsatz »Max Schelers Kritik und Beurteilung von Freuds Theorie der Libido«. Es stellt einen definitiven Bruch mit Freud dar, indem Kolnai argumentiert, dass Freuds Beschränkung auf wenige elementare Triebe jene Rücksicht gegenüber der objektiven Ordnung der Werte unterminiert habe, die jede Zivilisation brauche. Wesentlich für die spätere Philosophie Kolnais ist folgende Passage aus diesem Aufsatz: »Die phänomenologische Methode geht, wie der Name schon anzeigt, an die Dinge genau anders­ herum heran als die psychoanalytische. […] Statt die Phänomene auf ihre Gemeinsamkeiten hin zu untersuchen, zu entziffern, abzuleiten und zu reduzieren, oder die Gesetze ihres Erscheinens und ihrer Entwicklung zu definieren, versucht sie, deren unmittelbare ›Essenz‹ intuitiv zu erkennen und durch die geeignetsten Konzepte und Beschreibungen mit allen ihren Variationen, zusammen mit ihrem Ideal, die beständigen ›Verbindungen von Bedeutung‹ festzuhalten. Ziel dieser letzteren Methode ist es nicht, die Kontrolle zu erlangen und die Sache, die untersucht wird, zu manipulieren, um sie zu heilen, sondern sie zu analysieren, um sie zu verstehen.«25 19 Ebd. 20 Kolnai, Krieg, S. 43. 21 Vgl. ebd., S. 96. 22 Vgl. ebd., S. 42. 23 Vgl. ebd., S. 228–231. 24 Ebd., S. 211. 25 Aurel Kolnai, Politics, Values, and National Socialism, London 2013, S. 1.

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Kolnai steht in einer langen Reihe von Denkern der Moral, die der Objektivität der Werte verpflichtet waren. Unter anderen repräsentieren diese Tradition Platon, Thomas von Aquin, Lord Shaftesbury, Burke und für Kolnai waren vor allem Thomas Reid und Max Scheler wichtig.26 Anthony Ashley-Cooper, Lord Shaftesbury spricht für sie alle, wenn er schreibt: »Es ist eine Macht in Zahlen, Harmonie, Proportion und Schönheit jeder Art, die auf natürliche Weise das Herz erobert und die Vorstellung erhebt zu einer Meinung oder Einbildung von etwas Majestätischem und Göttlichen.«27 Zivilisationen existieren, so glaubt Kolnai, um der Kultivierung des Menschen willen. Das erfordert Rücksicht auf eine Reihe moralischer, ästhetischer und technischer Werte, ihre Anerkennung als über uns stehend, nicht ein Fasziniert-Sein vom Vitalismus.28 Freud ist in philosophischer Hinsicht unklar: Seine Faszinationen werden lediglich die Persönlichkeit beeinträchtigen (Jungs Kritik ist vergleichbar29). Zivilisation macht die menschliche Persönlichkeit frei, aber Zivilisationen zehren von einer komplexen Hierarchie von Werten: hedonistischen, moralischen, intellektuellen und religiösen. Emanzipation von dieser Hierarchie ist nicht Freiheit, sondern Barbarei.30 Von Burke entlehnt Kolnai eine Politik des Sexuellen. Dessen Methode der Natur wurzelt im »Geist der philosophischen Analogie«, wo Natur und Politik eine symbiotische Beziehung eingehen. Die leitenden Institutionen der Entwicklung einer Nation haben eine Geschichte, aber auch stabile Koordinaten in Zeit und Raum. Wie eine Familie, so haben auch politische Institutionen Vergangenheit (Geschichte), Gegenwart (Raum) und Zukunft (eine Entwicklung). In der natürlichen Welt gedeihen Lebewesen, indem sie Erbgut, Territorium und Reproduktion ausbalancieren. In Anlehnung daran ist die Grundlage der Politik Familieneigentum, daher Heim und fruchtbare Ehe. Politische Rücksicht gilt den moralischen, ästhetischen und technischen Werten als den Säulen des Lebens.31 Burke argumentierte, dass eine energische Verteidigung von Rechten von der Aufrechterhaltung des Establishments abhängt. Rechte, so glaubte er, sind historisch erworben: Es gibt kein sogenanntes natürliches Recht, denn Rechte entstehen mit Institutionen des Rechts. Revolution, so warnte er, sei kein großartiges Drama, das es zu feiern gilt, sondern eine Zerstörung von Institutionen, die 26 27

Vgl. Kolnai, Krieg, S. 449 f. Anthony Ashley Cooper, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, Cambridge 2003. Dazu auch Kolnais schöne Zeilen: »Sie werden in das Traumland einer idealisierten Menschheit gezaubert, in die unschuldige Sphäre reiner Mathematik, in die abstrakte und freie Welt ewiger Formen.« In: Kolnai, Krieg, S. 347. 28 Vgl. Aurel Kolnai, Ethics, Value, and Reality, with opening essays by Bernard Williams, David Wiggins and Graham McAleer, London 2008. Insbes. seinen Text The Sovereignty of the Object, S. 23–43. 29 Vgl. Carl Jung, Seminar on Nietzsche’s Zarathustra, Princeton 1998. 30 Vgl. ders., Krieg, S. 239–242. 31 Vgl. Burke, Reflections, S. 122.

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die Menschen der rohen Regierungsmacht ausliefere. In Verbindung mit einem Angriff auf Religion wird Revolution monströs. Ein göttlicher Gesetzgeber außerhalb und größer als der Staat relativiert die Reichweite des Staates. Entferne das göttliche Gesetz, und staatliche Macht wird grenzenlos, rottet das Erbe aus, weil Angriffe auf Religion unvermeidlich auch Angriffe auf Eigentum bedeuten. Kircheneigentum ist für die Ewigkeit, als physische Erinnerung an die Regierung, dass ihre Macht einer sozialen Bindung dient, die über den unmittelbaren Druck hinausgeht: der Bindung zwischen den Toten, Lebenden und Nachkommenden.

Sexualpolitik des Nationalsozialismus Die Nationalsozialisten lehnten diese Sexualpolitik ab. Der nazistische Männerbund, so Kolnai, »beruht auf seinem eigenen Gesellungsprinzip, das sich von allem Anfang unterscheidet von natürlichen und traditionellen Formen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit wie der Familie, dem patriarchalischen Königtum oder eingespielten sozialen Gebräuchen. Er unterscheidet sich auch vom rationalen, auf dem Vertrag aufgebauten Typus der Vereinigung […].«32 Nazismus bezieht sich nicht auf Analogie, sondern feiert Eindeutigkeit – »tribalistische Abschottung« und Mehrdeutigkeit – eine vollständige Loslösung von den überkommenen Kennzeichen der westlichen Zivilisation, beruhend auf dem »Negieren der christlichen Zivilisation als solcher (als Brutstätte der Moderne und des Fortschritts), als auch des Glaubens, auf dem sie beruht, ihren Grundlagen in der griechisch-römischen Antike; rückwärtsgewandtem Bestreben nach ­›Regeneration‹ antimoderner Traditionen quer durch den preußischen Glanz von gestern und den brutaleren Aspekten des deutschen Mittelalters hin zur barbarischen Welt des teutonischen Heidentums – nicht ohne Seitenblick, meiner Meinung nach zumindest, auf den hinduistischen Rassismus und die Religion der Kasten.«33 Das ist es, was den Nazismus vom Faschismus unterscheidet. Beide sind subversiv, aber für Kolnai ist entscheidend, wer die bleibenden Werte der ­Zivilisation beschützt. Er hielt Kompromisse mit dem Nazismus für unmöglich, weil der Nazismus in den Institutionen der Aufklärung, im christlichen Mittelalter oder im griechisch-römischen Erbe Europas nichts Wertvolles sah. Er setzte sich von diesen etablierten Einrichtungen ab und strebte einen großen Sprung rückwärts in obskure Bindungen und Praktiken teutonischer Stämme an. Universelle Prinzipien von Recht, Moral, Wissenschaft und Einheit der menschlichen Gattung wurden allesamt verworfen. Für die Nazis war Mussolinis faschistische Formel –

32 33

Kolnai, Krieg, S. 103. Ders., Privilege, S. 111.

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»Freiheit des Staates und des Menschen im Staat« – nicht revolutionär genug. Diese hielt immer noch fest an unterscheidbaren Polen: Person und Staat. Der Nazismus aber brachte einen »unheimlichen Idealismus der Tyrannei« zum Ausdruck: die vollständige Abschaffung der Autonomie der Person nach dem Willen des Staates. Und der Staat war nicht lediglich im Sinne römischer Bürokratie gemeint als Verwaltung ansonsten selbstbestimmten Lebens, sondern als reine Vitalität einer in den Gesten, der Stimme und der Miene des Führers34 uneingeschränkt wachsenden Rasse.35 Faschismus denkt noch in den Begriffen von Unterscheidung,36 Nazismus in Begriffen der Identität der »vorwärtstreibenden Energien eines neu erwachenden Nationalismus«.37 Normale zivilisatorische Werte finden, wie auch immer geschädigt, bis zu einem bestimmten Grad Schutz in den verengten Räumen, die der Person in der faschistischen Politik bleiben. Indem er Rasse zum absoluten Zentrum seiner Politik macht, reduziert der Nazismus Personen zu elementaren Kräften und beraubt sie ihres Willens, ihrer Gedanken, ihrer Autonomie, ihrer Eigenart. Kolnai nennt das die Politik des »zoologischen Perfektionismus«.38 In der Konsequenz war die fragile Spannung zwischen persönlichem Verlangen und zivilisatorischen Errungenschaften in Nazideutschland eliminiert. Spengler spricht von »einer bestimmten Rasse bzw. Menschenschlag«,39 Schmitt von einem Männerbund, Stapel von »sittlich Zugehörigen«40 und »unserer nationalen Biologie«.41 Stammesegoismus ist, so Kolnai, »für die neue Rebellion der Sache der Geknechteten«;42 eine »Emanzipation der Tyrannei«, in der »die vorrangigen Prinzipien zivilisierter menschlicher Existenz« »auf den Kopf gestellt«43 scheinen. So wird in der nationalsozialistischen Literatur vom Zirkel der Erwählten oder Ersten gesprochen: »Im Idealfall stellt der Bund eine geschlossene Körperschaft dar, heißblütig und mit eisernem Zugriff auf das gesamte Leben seiner Mitglieder. Er bringt eine konzentrierte und unverzüglich reagierende Vitalität zum Ausdruck.«44 Die Empfänger ordnen sich einem »verehrten Führer mit seinem außergewöhnlichen Genie, seiner Grandiosität und seinem Charisma«45 unter. Aus diesem Zirkel entsteht eine besondere Sorte von Männern, die eigenen Gesetzen unterliegen und Empfänger privilegier34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Kolnai, Krieg, S. 179–183. Vgl. ebd., S.438 f., 573. Vgl. ebd., S. 602. Ebd., S. 424. Ebd., S. 432. Ebd., S. 75. Ebd., S. 80. Ebd., S. 319. Ebd., S. 144, Kolnais Zusammenfassung von Moeller van den Bruck. Ebd., S. 150 f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 104.

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ten und offenbarenden Wissens sind, ein elitärer Kreis der Selbst-Idolisierung.46 Im Gegensatz dazu sind die Nachgeordneten bloße Brüter und Arbeiter. Burkes »Familienerbe« wird abgelehnt zugunsten von Eindeutigkeit, die Liga oder Sekte als Leitmotiv gegenüber der Familie bevorzugt: daher nicht Erbschaft, sondern »Wir der Herren der letzten Entscheidung«.47 Kolnai weist darauf hin, dass die Nazis einem Spektrum religiösen Glaubens anhingen. Es gab einige linke Nazis, die Hitlers Arbeitspolitik attraktiv fanden, während einige Christen im Nazismus eine Wiederbelebung des Christentums sahen. Kolnai bezieht sich auf den Nationalsozialismus als einer christlichen Ketzerei, die meiste Zeit jedoch dokumentiert er das dezidierte Heidentum von Nazis wie Himmler und Rosenberg. Mit Vitalismus als Kern identifiziert Kolnai mindestens drei Eigenheiten, die den Nationalsozialismus vom Christentum trennen. Alle stammen aus der Quelle des jugendlichen männlichen Vitalismus, den Kolnai »Stammesegoismus«48 nennt. Larenz setzt den Ton: »Jeder nicht an das Blut gebundene Geist ist lediglich ein steriles Produkt des Niedergangs. Das Blut muss das Wagnis unternehmen, den Geist zu erwecken; der Geist muss sich aus dem Blut erneuern.«49 Nationalsozialistischer Rassismus bedeutete, dass Partikularismus Recht außer Kraft setzte50 und einen »Gattungsbruch« (Rolf Zimmermann in diesem Band) hervorbrachte, der eine allgemeine Moral und Bestimmung des Menschen ablehnte. Sein Rassen­ nationalismus wies das Ethos des Westens zurück, was seinen Antisemitismus bestätigte, so wie Athen und Rom unvollständig sind ohne Jerusalem. Die Nazis behaupteten, dass eine Regierung Legitimität erlangt, wenn sie Ausdruck tribalistischer Vitalität ist: nur eine Regierungsform kann diese absolute Einheit widerspiegeln, der Totalitarismus. Kolnai argumentiert, dass der Nationalsozialismus die Übertreibung einer bereits von Luther übertriebenen Aufwertung nationaler säkularer Autorität war. Dieser Aspekt der deutschen Theologie stellte den Nazis einen bereitwilligen Gehorsam gegenüber dem Führer zur Verfügung, der sich einfach an den christlichen Skeptizismus gegenüber weltlicher Regierung hielt.51 Natürlich bekam der Antijudaismus der Nazis auch erheblichen Auftrieb durch die nationalsozialistische Vetternwirtschaft. Der jüdische Kosmopolitismus wurde für spekulative Finanzmärkte verantwortlich gemacht, der deutsche Kapitalismus jedoch als auf das soziale Wohlergehen gerichtet dargestellt. Die Sexualität des Bundes unterscheidet sich von der Sexualität der Familie. Kolnai verweist auf die Bedeutung der Homoerotik im Nazismus. Blüher sagt

46 47 48 49 50 51

Vgl. Kolnai, Politics, S.49. Ders., Krieg, S. 119. Vgl. ebd., S. 83 f. Ebd., S. 224. Ebd., S. 329, Zitat Stapel. Vgl. ebd., S. 223.

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ganz klar, dass die Familie nicht das Modell für den Bund ist, sondern der »Eros zwischen Männern«, die zu einer genuinen anthropologischen Gattung, dem Typus inversus, gehörten.52 »Mensch ist der Menschen Freude.«53 Dieser Eros ist eine »primitive Kraft«, ein »Instinkt der Verbindung«, eine »metaphysische Armee«, er unterscheidet sich vom sexuellen Impuls, der Geburten und Familien hervorbringt. Das Leben des Bundes ist asketisch und einfach, eine Verehrung des männlichen Körpers mit einer Beimengung »dorischer Härte«.54 Dieser Biozentrismus erklärt zwei Tendenzen des Nazismus, seine Eindeutigkeit und seine Mehrdeutigkeit. Beide sind bei Blüher vermischt. Die Hauptformen menschlicher Gesellschaft, so argumentiert er, wurzeln in »sexuellen, erotischen, instinktgeleiteten, irrationalen Kräften«, aber dieser Vitalismus teilt sich in zwei wesentliche Typen: den fruchtbaren Eros in der Familie und die »umgekehrte Liebe« des Eros zwischen Männern als der wahren Quelle der Staatenbildung. Der stammesbezogene Egoismus des Bundes ist der banalen Gesellschaft des fruchtbaren Eros entgegengesetzt. Widersacher des Männerbundes ist das System der Urbanität: Die Feminität des kommerziellen Lebens und die soziale Substanzlosigkeit von Wirtschaftsverbänden sind dem Militär als Prototyp der Gemeinschaft entgegengesetzt. Rosenberg warnt, dass die Jesuiten kein Modell für den Männerbund sind, da sie männliche Würde unterdrücken wollen. Sie »sind die Bazillen des radikalen Anti-Nationalismus«.55 Hitler warf der Linken vor, sie entwerte Deutschland zu einer reinen Handelsfirma.56 Der Natio­ nalsozialist ist kein Verwalter des Eigentums, da »nichts real ist außer Ekstase und Ruin, Eruption und Verschwinden«.57 Der Bund wechselt von Eindeutigkeit zu Mehrdeutigkeit, da wirklich heroisches Soldatentum nur bestehen kann als ein fundamentales Gesetz des Lebens in einer durch und durch nicht-bürgerlichen Gesellschaft.58 Es gibt keine Liebe zum Guten – weder zu Personen noch zu Dingen – sondern nur die Liebe zum Helden: »Die Germanen oder die Nacht ist heute die Losung wie einst.«59 Kolnai zitiert Hitlers Behauptung, wonach der Existenzkampf »ästhetische Verpflichtungen«60 annulliert. Daher Rosenberg: »Geschichte wird von starken, harten Menschen gemacht.«61

52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. ebd., S. 105. Ebd., S. 276. Vgl. ebd., S. 105 f. Ebd., S. 590. Vgl. ebd., S. 543. Ebd., S. 238. Vgl. ebd., S. 113. Zit. in: ebd., S. 604. Ebd., S. 203. Zit. in: Kolnai, Krieg, S. 321.

Sexualpolitik des Nationalsozialismus

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Neuer Primitivismus Bäumler verfolgt dieses mehrdeutige Verhältnis zwischen dem Nazismus und der Erbschaft der westlichen Zivilisation und identifiziert den »gebildeten und besitzenden Privatmann«,62 der die Sitten festlegt als Feind. Hielscher will die bürgerliche Zivilisation abschaffen; sie sei nicht mehr als ein »Zusammentreffen bloßer Oberflächen«, daher zu verwerfen und zu ersetzen durch die Authentizität der Bruderschaft des Bundes. Somit lehnt der Nazismus das ab, was er merkwürdigerweise »den englischen Geist des Wikinger-Liberalismus«63 nennt. Dieses Wechseln zwischen tribalistischer Eindeutigkeit und zivilisatorischer Mehrdeutigkeit erfasst Kolnai in beeindruckender Weise in der Idee des Nazismus als Reprimitivierung. Der Nationalsozialismus ist weder konservativ noch kapitalistisch, er ist antibürgerlich, Totalitarismus als Primitivismus:64 eine Zielrichtung, die laut Kolnai von 1938 der sowjetische Totalitarismus nicht teilt. Er ist nicht christlich, da für die Nazis Körper und Geist gleichwertige »Realitäten« (Eindeutigkeit) sind, sondern Biozentrismus, der in der Behauptung gipfelt »Zeugen, Leben und Morden sind eins«.65 Kolnai diskutiert ausführlich eine Rede Goebbels’, die den Vitalismus und Primitivismus des Nazismus zusammenführt und glossiert: »Die ursprüngliche Form des Preußentums lässt sich am besten als ein militanter Bund beschreiben, der in den leeren Raum expandierte, dessen wenig entwickelte Bevölkerung er unterwarf. Dieses flache Land ist arm, doch gut geeignet, um eine umfangreiche und mobile Militärorganisation aufzubauen. Diese Leere lädt ein zu schnellem und rücksichtslosem Handeln, doch ist sie keineswegs einfach ein entlegener Rand der Welt, sondern sie liegt im Herzen Europas. Das Preußentum selbst knüpft an die germanische Eroberung in der Zeit der römischen Zivilisation an. Es ist eher dynamisch als konservativ, eher aggressiv als einfach nur auf Organisation konzentriert.«66

Dieser Primitivismus ist, so argumentiert er, »eine kritische Antwort auf eine bereits existierende Zivilisation«.67 Der Stamm ist eine vorsätzliche Abkehr und der Beginn eines »trüben, verschlafenen und befangenen Seins ohne die ­zivilisatorischen Merkmale menschlicher Autonomie, Rationalität, ­Vielseitigkeit und Weltoffenheit«.68 Gleichmacherei69 steht zwei komplementären Agenten des Universalismus entgegen: der katholischen Kirche und dem Humanismus. 1938, als Teil der Christlichen Linken, hatte Kolnai den Humanismus als christliches Phänomen gesehen, 1944 jedoch hatte er Max Schelers Skeptizismus gegenüber 62 Ebd., S. 118. 63 Ebd., S. 171. 64 Vgl. Kolnai, Politics, S. 45. 65 Ders., Krieg, S. 614. 66 Ebd., S. 554. 67 Kolnai, Politics, S. 45. 68 Ebd. 69 Vgl. ebd., S. 51.

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dem Humanismus übernommen.70 In seinem Essay von 1966 »Menschlicher Anstand heute« betrachtet Kolnai den impliziten Materialismus des Humanismus mit seiner Aufwertung des Medizinischen, Psychiatrischen, Technologischen und Ökonomischen als nur wenig mehr als eine Wiederholung des faschistischen Vitalismus. Der neue Primitivismus ist ein Sprung über Jahrhunderte zurück, die Hervorbringung von Neuem im Geist totaler Umkehrung der allgemeinen Entwicklung.71 Er ist, wie Kolnai faszinierend formuliert, das Ablegen »des Gewandes der Zivilisation«.72 Und nicht nur das: Er zeigt auch Verachtung für die nicht-moralischen Werte, die das normale Leben umgeben. Dies ist die Wurzel der Ablehnung der Nazis gegenüber demokratischer Sensibilität. Es gibt einen großen Raum für Handlungen des täglichen Lebens, die, auch wenn sie das menschliche Leben nicht verschönern oder perfektionieren – die Sportseiten lesen zum Beispiel –, es sicher auch nicht verderben. Gelebte Werte des normalen Lebens, von denen die meisten nicht direkt moralisch sind, stellen dennoch eine unverzichtbare Bedingung für das Erreichen der höheren, bestimmenden Werte einer reich artikulierten, gehobenen und moralischen Kultur dar. Wahrer aristokratischer Charakter muss, anders als die trügerische Spielart der Nazis, eine Sensibilität bejahen, mit der Höflichkeit zur Zuvorkommenheit veredelt werden kann; wo das vorsichtige Risikoverhalten einer begüterten Klasse schließlich übergehen kann in die Extravaganz des Modischen und wo sich gewöhnlicher Anstand entwickeln kann zu Güte (siehe dazu Kolnais großartigen letzten Aufsatz »Das Konzept der Hierarchie«).73

Schlussfolgerungen und Bedeutung für die Gegenwart Was unabhängig von Kolnais wechselnder politischer Zugehörigkeit bleibt, ist seine durchgängige Reflexion der Gefährdung der Zivilisation. Sein Fokus auf Reprimitivierung ist theoretisch sehr reichhaltig. Wie Kolnai ausgeführt hat, sind viele praktizierte Werte wie zum Beispiel Bräuche, Sexualität, Überwachung und sogar Krieg im Inneren moralisch aufgeladen. Ihre theoretische Bearbeitung kann schnell in ausweglose Sackgassen führen. Das Problem besteht darin, dass es in der Politik um genau diese Sachverhalte geht. Während ich dieses schreibe, geht es in den Nachrichten um den modischen Spott gegen die altmodischen Brexit-Befürworter, um ein dschihadistisches Massaker in einem Schwulenclub 70 71 72 73

Vgl. Kolnai, Humanitarian versus Religious Attitude. Vgl. Kolnai, Krieg, S. 151. Ders., Politics, S. 49. Ders., The Concept of Hierarchy. In: ders., Ethics, Value, and Reality, London 2008, S. 165–186.

Sexualpolitik des Nationalsozialismus

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in San Francisco, den Freddie-Gray-Prozess gegen Polizisten in meiner Stadt Baltimore und den verzwickten Krieg in Syrien. In der Politik geht es immer um solche Dinge. Kolnai schreibt 700 Seiten über ein sonderbares Verhalten, aber er tut die Absonderlichkeiten nie einfach ab. Und er sagt auch, warum: weil sich die Nazis mit ernsthaften Fragen beschäftigten. Widmen wir uns unseren ernsten Fragen mit der Geduld und Reife Kolnais? Ein Beispiel: Nach dem Pariser Massaker vom 13. November 2015 sagte der französische Präsident François Hollande, dass Frankreich sich im Krieg befinde, da es von »einer Armee« attackiert worden sei. US-Präsident Barack Obama sprach dagegen lediglich vom einem »Netzwerk von Mördern«. Die Attentate waren ein externer Effekt des Krieges in Syrien. In deren Gefolge wurde Hilary Benn, Großbritanniens Schatten-Außenminister, für »eine der großartigsten Reden« im Parlament gerühmt (das Kompliment kam vom britischen Außenminister Philip Hammond). Trotz dieses Lobes ist es eine merkwürdige Rede. Oliver Cromwell hatte in seinen Reden stets von Englands »natürlichem Feind« gesprochen und Benn folgte ihm darin. Natürlich meinte er nicht das katholische Spanien, so wie Cromwell. Um seine kriegsskeptische sozialistische Partei für einen Militäreinsatz in Syrien gegen den IS hinter sich zu bringen, identifizierte Hilary Benn den Faschisten als den natürlichen Feind der sozialistischen Partei bzw. Großbritanniens. Er sprach zunächst über den Widerstand seiner Partei gegenüber dem faschistischen Spanien unter Franco, dann über das faschistische Deutschland. Nachdem er seine Partei daran erinnert hatte, dass sie stets gegen Faschisten gekämpft hatte, kam er zum Punkt: »Wir haben es hier mit Faschisten zu tun. Nicht nur ihre kalkulierte Brutalität, sondern ihr Glaube an ihre Überlegenheit gegenüber jedem Einzelnen von uns in diesem Raum heute Abend und aller, die wir repräsentieren. Sie verachten uns.«74 Die Rede ist gut. Aber ist sie richtig? Sind die IS-Kämpfer Faschisten? Ist ihre Ideologie wirklich mit der von Francos Falangisten vergleichbar? Haben sie, die sich dem göttlichen Gesetz verschreiben, wirklich so viel gemein mit dem Vitalismus der Nazis? Scott Atran hat darauf hingewiesen, dass der IS nicht tribalistisch ist: Die IS-Kämpfer sind die vielfältigste Truppe seit dem Zweiten Weltkrieg.75 Kolnais sorgfältige Unterscheidungen in »Der Krieg gegen den Westen« können hier weiterhelfen. Mit seiner Norm des Reprimitivismus haben wir einen Maßstab zur Lösung unserer eigenen schwierigsten Fragen.

74 »We Must Now Confront This Evil«, Rede von Hilary Benn. In: The Guardian vom 3.12.2015 (­https://www.theguardian.com/politics/video/2015/dec/03/hilary-benn-airstrikes-vote-speech-­ full-must-confront-isis-evil-video; 28.9.2017). 75 Vgl. Scott Atran, »Mindless terrorists? The truth about Isis is much worse« (https://www.the­ guardian.com/commentisfree/2015/nov/15/terrorists-isis; 2.6.2017).



Kolnais Politik- und Moralphilosophie



Zoltán Balázs  Aurel Kolnais Verständnis vom Krieg in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt: der Krieg aller Kriege*

Im Folgenden wird Kolnais bekanntestes Buch im Kontext von Carl Schmitts Theorie des Politischen diskutiert. Kolnais Buch, das er selbst als Waffe in einem wirklichen Krieg sah, ist sehr polemisch und politisch. Das wirft die Frage auf, wie es zu Schmitts Konzept des Politischen steht. Kolnai hat diese Konzeption scharf kritisiert und sie zurückgewiesen, allerdings nicht, weil er sie unmoralisch gefunden hätte. Vielmehr akzeptierte er Schmitts Unterscheidung zwischen den Sphären und Themen der Moral und denen der Politik. »Der Krieg gegen den Westen« kann deshalb nicht einfach die Erklärung des Nazismus zum Gegner oder Feind sein. Ebenso wenig zielen seine Argumente nur darauf, die einfache existenzielle politische Botschaft zu verkünden, dass der Westen und der Natio­ nalsozialismus verschieden sind. Das Buch ist auch nicht einfach eine weitere moralische Verurteilung der Unmoral des Nazismus. Vielmehr geht es ihm darum, einen Krieg gegen den Nationalsozialismus als moralische Pflicht, aber auch als politische Verpflichtung zu begründen und zu rechtfertigen, der Tyrannei zu widerstehen und sie zu überwinden – der Tyrannei des Nationalsozialismus als der größten politischen Gefahr für die westliche Zivilisation.

Carl Schmitt in »Der Krieg gegen den Westen« In »Der Krieg gegen den Westen«1 bezieht sich Aurel Kolnai einige Male auf Carl Schmitt und seine Theorie des Politischen. Wie viele Autoren, die Kolnai in diesem Buch zitiert und diskutiert, wird auch Schmitt als einer der bösen Geister und Dämonen der nationalsozialistischen Ideologie eingeführt. In der * 1

Die Forschung für diesen Artikel wurde durch einen Zuschuss des Nationalen Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsfonds Ungarns unterstützt. Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015.

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längsten Passage charakterisiert er die Politikkonzeption des »Kronjuristen« als ­Zelebrierung der Feindschaft, die die regulative Rolle der Politik zur Konfliktbewältigung ignoriert. Wenn die Politik ihrem Wesen nach auf den Krieg zielt, dann würde die Abschaffung des Krieges, die die Existenz einer souveränen Universalmacht einschließt, dazu führen, dass »die unglücklichen Menschen, die einer derart demütigen Herrschaft unterworfen wären, tatsächlich in einem staatenlosen Zustand existieren«.2 Kolnai ist sich bewusst, dass Schmitt scharf zwischen privater und öffentlicher Feindschaft unterscheidet, kommentiert diese Unterscheidung jedoch mit einer kurzen abfälligen Bemerkung. Eine andere Idee Schmitts ist die Annahme unterschiedlicher Lebensbereiche, die durch spezifische Wertepaare geprägt sind. Auch das diskutiert Kolnai ausführlich,3 wobei er den Kern dieses Konzepts zutreffend dadurch charakterisiert, dass die Politik aus Schmitts Sicht keine eigenständige Sphäre ist, sondern aus unterschiedlichen Konflikten dieser Lebensbereiche resultiert. Dabei sieht er die Politik jedoch als eigenständiges Phänomen, das sich nicht auf diese Konflikte reduziert: Sie ist die Entscheidung, etwas, den anderen, zum Feind zu erklären. Weiterhin zitiert Kolnai Schmitt in einer kurzen Bemerkung zu dessen Behauptung, dass Führertum und die ähnliche Denkweise von Führer und Volk die Grundlage des nationalsozialistischen Rechts bilden.4 Ein anderes Zitat bezieht sich auf die organische Einheit von Staat, Bewegung und Volk, die im Kontrast zur liberalen Entgegensetzung von Volk und Staat oder privat und öffentlich stehe.5 Ein weiteres hat die Entwertung des Volkes als Subjekt der Politik zum Gegenstand,6 ein anderes bezieht sich auf die nationalsozialistische politische Ordnung, die nicht nur über die liberale Idee der Herrschaft der Normen und Gesetze, sondern auch über die der Rolle des politischen Führers hinausgeht.7 Das heißt, um den bekannten Satz Lincolns zu paraphrasieren, dass die nationalsozialistische politische Führung nicht nur für das Volk, sondern auch durch das Volk realisiert wird.8 Natürlich sind solche und andere knappe Bezüge auf Schmitt noch keine ernsthafte Diskussion oder Kritik seiner Theorie oder seiner faktisch sich immer wieder verändernden Ansichten. Sie sind jedoch auch mehr als bloße Illustrationen. Zweifellos hat Kolnai niemals daran gedacht, z. B. Rosenberg oder Goebbels als Denker ernst zu nehmen. Houston Chamberlain, Hans Blüher, Othmar Spann, Friedrich Gogarten und eben auch Carl Schmitt sind für ihn jedoch ernsthafte 2 3 4 5 6 7 8

Ebd., S. 174. Vgl. ebd., S. 174 f. Vgl. ebd., S. 185. Vgl. ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 201. Vgl. ebd., S. 205 f. Vgl. ebd., S. 332.

Der Krieg aller Kriege

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Gegner, auch wenn er ihre Konzepte ablehnt. Insbesondere Schmitt gab ihm die Gelegenheit, seine eigenen Überlegungen zur Politik zu entwickeln. Warum ist all das von Interesse im Kontext von Kolnais Arbeit an »Der Krieg gegen den Westen«? Die Antwort ist ganz einfach: Kolnai hat sein Buch als politische Waffe in einem Krieg verstanden, den er für unvermeidlich und existenziell hielt. In Kolnais Augen ging es dabei tatsächlich um das Überleben des Westens. Angesichts der wilden Entschlossenheit der Nationalsozialisten, das alte Europa zu zerstören, würde dieser Krieg zur Verteidigung des Westens ein Kampf auf Leben und Tod sein. Ebenso wie deren Entschlossenheit absolut war, verstand sich auch das Buch als kompromisslose, unermüdliche und vollständige Darstellung des Monsters, dessen Besonderheit aus Kolnais Sicht darin bestand, das Wesen des Westens zu verneinen. Da Kolnais Buch eine gewaltige intellektuelle Anstrengung darstellte, den Gegner zu vernichten, scheint es, als wäre es genau im Geiste Schmitts geschrieben, dessen Theorie der Feindschaft als Wesen der Politik jedoch eines der Hauptziele von Kolnais Polemik in »Der Krieg gegen den Westen« war.9 Ist das nicht ein Widerspruch? Es ist wichtig, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass Kolnai ein objektivistischer philosophischer Phänomenologe war, dessen besondere Stärke die Beschreibung, Erhellung und Entdeckung von Fakten war, die er zunächst akzeptierte. Für ihn war der Nationalsozialismus vor allem ein interessantes und komplexes Phänomen, von dem eine große Verführungskraft ausging. In diesem Sinne ähnelt Kolnais Faszination vom Nationalsozialismus Edmund Burkes nicht nachlassender Faszination von der Französischen Revolution, die deren moralischer und politischer Ablehnung jeweils zugrunde lag. Ich möchte weiterhin daran erinnern, wie Kolnai in seinen politischen Memoiren seine Haltung gegenüber dem Ersten Weltkrieg rekonstruiert. Zu dieser Zeit war er ein Teenager, der natürlich noch nicht über die notwendigen philosophischen Konzepte verfügte, um diese Haltung angemessen auszudrücken. 50 Jahre später, als ihm diese Konzepte und Begriffe zur Verfügung standen, schrieb er, dass er sich selbst damals trotz der sehr starken nationalistischen Gefühle, die die meisten Menschen zu dieser Zeit in Ungarn und Budapest hatten, was in anderen Ländern und Metropolen nicht sehr viel anders war, immer leidenschaftlicher mit den Zielen der Entente identifizierte, und nicht mit der ­Position der ­Zentralmächte. Zusammengefasst zeigte sich seine ­nonkonformistische ­Haltung 9

Ich kann hier nicht die Besonderheiten von Kolnais Buch diskutieren. Klar ist jedoch, dass Kolnai antinazistische politische Haltungen befördern wollte und dass er dazu zahlreiche Nationalsozialisten und mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Denker benutzte, die er nicht nur kommentierte. Er schien zu glauben, dass der intellektuellen Wahrheit mit dieser Methode am besten gedient sei, auch wenn er dabei häufig Autoren wie etwa Schmitt Unrecht tat und nicht berücksichtigte, dass die nazistische Ideologie ein komplexes intellektuelles, politisches und moralisches Phänomen war, das deshalb eine vielschichtige Analyse erforderte.

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darin, dass er darauf bestand, eine bestimmte Meinung zu begründen. Ein Grund bzw. Vernunftgrund ist eine moralische Angelegenheit, die sich auf die Zivilisation und die Menschheit bezieht und die es deshalb verdient, verteidigt zu werden, während eine politische Meinung oder Position weniger wertvoll ist. Die Zen­tralmächte, so sein Argument, hatten keinen solchen universellen Vernunftgrund, sondern bezogen sich im Wesentlichen auf Missstände oder folgten stärker einem an Gewalt orientierten machtzentrierten Verständnis von Politik als ihre Gegner.10 Das war sicher keine übliche Begründung und Rechtfertigung für den Krieg, nicht einmal aufseiten der Alliierten, ungeachtet ihrer propagandistischen Verurteilung des deutschen Barbarentums. Kolnais subtile Gefühle und politischen Instinkte gegenüber der politischen Natur des Konflikts, der zum Krieg um eine politische Ordnung geworden war, bestimmten seine Haltung gegenüber dem nächsten und dem vorhergegangenen Weltkrieg. In dieser Hinsicht waren Schmitts und Kolnais Konzepte des Politischen in ihren jeweils unterschiedlichen Erfahrungen des Kriegs und der Art und Weise, in der dieser ihre persönliche und politische Identität geprägt hatte, begründet. Ungeachtet ihrer Unterschiede war für beide der Krieg nicht das absolut Böse, sondern sie sahen vielmehr, dass der Krieg die Grundlagen politischer Identität und Überzeugung infrage stellt. Es sieht so aus, als hätten sie hier einen sehr ähnlichen Ansatz verfolgt. Wenn wir die Ähnlichkeit ihres Ansatzes berücksichtigen, können wir auch die sich entwickelnden konzeptionellen Unterschiede besser verstehen. Um diese darzustellen, möchte ich auf weitere Schriften Kolnais eingehen, und zwar insbesondere auf sein Konzept des Politischen, wie er es in dem Text »Der Inhalt der Politik« entwickelt hat, sowie auf seinen späteren Artikel »The Moral Theme in Political Division« und einige unveröffentlichte Schriften wie vor allem dem geplanten Buch »The Fallacies of Pacifism«. Diese Texte vermitteln wertvolle Einsichten in sein Denken, das, wie ich behaupte, eine ständige, wenn auch häufig indirekte Auseinandersetzung mit Schmitts Theorie war.11

10

11

»Das ursprüngliche Ziel der Alliierten kann als konservativ beschrieben werden: Die Alliierten standen für eine ältere und stabilere Zivilisation, die durch eine relativ neue, aufsteigende und expandierende Macht bedroht wurde. Es war eine friedliche Ordnung, die in Gefahr war, durch brutale Gewalt und unbändige Vitalität zerstört zu werden.« Aurel Kolnai, Political Memoirs. Hg. von Francesca Murphy, Lanham 1999, S. 29. Durch ein großzügiges Stipendium der Royal Society of Edinburgh hatte ich 2015 die Gelegenheit, Kolnais unveröffentlichte Vorträge und Schriften am Centre for Ethics, Philosophy and Public Affairs der St Andrews University einzusehen. Für ihre Hilfe und Unterstützung möchte ich mich besonders bei Professor John Haldane sowie den Mitarbeitern und Kollegen des Moral Philosophy Department bedanken. Diese verschiedenen Manuskripte sind inzwischen gut geordnet. Einen Überblick zum Archiv gibt Chris Bessemans, A Glimpse of the Aurel Kolnai Nachlass. In: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica, 1 (2012), S. 153–173. Ich werde aus dem Nachlass wie folgt zitieren: Titel, MS (Manuskript), KA (Kolnai-Archiv), Nummer (der jeweilgen Box), Title (des Ordners), Seite (wenn möglich).

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Das Praxiskonzept Kolnai hat sehr früh auf Schmitts bahnbrechenden Essay zum Begriff des Politischen reagiert. In seinem Text »Der Inhalt der Politik«, der in der ersten Ausgabe des Jahrgangs 1933 der »Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft«12 erschien, gab er eine relativ zustimmende Bewertung von Schmitts Schrift »Der Begriff des Politischen«, die er »eine ungemein tiefgründige und schwungvolle Schrift«13 nannte, wobei er hinzufügte, was wie eine Vorwegnahme dessen klingt, was er später in »Der Krieg gegen den Westen« schrieb, dass die Position Schmitts »jener heute gerade in Intellektuellenkreisen deutscher Zunge überaus verbreiteten Denkrichtung zuzuordnen [ist], die man kurz als einen ›Irrationalismus des Lebens und der Macht‹ bezeichnen könnte«.14 Aus Kolnais Sicht liegt der Irrationalismus von Schmitts Begriff in seiner entschiedenen Leugnung jeder Substanz von Kriegen und also auch der Politik. Deshalb hat Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen« in seiner allgemeinen Abrechnung mit Schmitt geschrieben, »dass dies ein geringfügiges Element an Vernunft und Wahrheit und ein zentrales Element offensichtlicher Perversität«15 enthalte. Diese Einschätzung ist verkürzt, wenn auch sicher verständlich im Kontext von Kolnais Buch. Wenn man Schmitt als Theoretiker des Politischen ernst nimmt, kann man ihn nicht so einfach abfertigen. Um seinen wichtigsten Kritikpunkt richtig einschätzen zu können, muss man wissen, dass sich Kolnai in seiner langen Karriere als Philosoph der Moral und Politik mit allen möglichen Spielarten des philosophischen und ideologischen Reduktionismus auseinandergesetzt hat. Er hat dieses Thema aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt und seine wichtigsten Argumente immer wieder in verschiedenen Varianten wiederholt, wobei er an seinem Hauptargument festhielt. In »The Fallacies of Pacifism« hat er sich mit dem Holismus und Monismus auseinandergesetzt, an anderer Stelle hat er den Subjektivismus und Naturalismus angegriffen, wobei er den Subjektivismus als ideologischen Reduktionismus der nationalsozialistischen Ideologie bestimmt, den Naturalismus dagegen als den des Kommunismus. Diesen entgegengesetzten ideologischen und philosophischen Positionen, so Kolnai, war die Weigerung gemeinsam, die Souveränität des Objekts anzuerkennen. Mit Blick auf das menschliche Wesen weigerten sich beide, den objektiven Pluralismus des Lebens zu akzeptieren. Während der Holismus und Subjektivismus den Pluralismus des Lebens leugnen, reduzieren der Monismus und Naturalismus ihn auf einen Aspekt des Lebens unter anderen.

12 13 14 15

Aurel Kolnai, Der Inhalt der Politik. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 94 (1933), S. 1–38. Ebd., S. 2. Ebd. (Hervorhebung im Original). Kolnai, Krieg, S. 176.

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Obwohl Kolnais Kritik des Reduktionismus wirklich heraussticht, hat er in einem mehr konstruktiven Sinn auch sehr viel über das menschliche Leben selbst zu sagen, das für ihn aus einer Reihe von Praktiken, Ambitionen, Handlungen, Interessen und Beziehungen besteht, die auf eine objektiv gegebene Ordnung der Werte verweisen. In diesem Sinne ist das Leben selbst eine Praxis, die nicht auf einen Aspekt, auch nicht den der Moral, reduziert werden kann: »Die Praxis bezieht sich auf die Erreichung oder das Verfehlen der Ziele des Handelnden, egal, um welche es sich dabei handelt, während die Moral sich auf die Qualität dieser Ziele fokussiert.«16 Die plurale Welt der Ziele, Werte und verschiedenen Handlungsweisen steht insofern für eine im Allgemeinen positive Haltung, mit der Menschen normalerweise ihr privates und gesellschaftliches Leben zustimmend, bejahend und positiv leben wollen. Jeder möchte ein gutes Leben haben, wobei das Gute hier vor allem individuell und subjektiv bestimmt wird. Dennoch folgt daraus nicht, dass das Gute lediglich eine innere Verfassung wäre, die mit der objektiven Welt des Guten nichts zu tun hat. Die meisten Menschen möchten konkrete, wenn auch nicht nur materielle Güter, die objektiv gut sind. Das ähnelt George Edward Moores bekanntem Begriff des inneren Guten. In der Praxis begegnet uns das Gute in verschiedenen Varianten, nach denen wir streben und nach denen wir uns sehnen. Das Gute dieser Dinge ist eine elementare Erfahrung, die keine Moral einfach ignorieren kann. Die Moral unterscheidet sich deshalb wesentlich von der Praxis, obwohl sie sich aus ihr entwickelt: »Moralische Empathie entsteht in einer nichtmoralischen praktischen Welt, der sie etwas Spezifisches hinzufügt. Das Leben und seine vielfältigen Aspekte, einschließlich der ästhetischen, intellektuellen und im weitesten Sinne auch politischen Interessen, wäre auch ohne das Eingreifen der Moral verständlich, während die Moral ohne den Hintergrund des Lebens und seiner miteinander konkurrierenden, sich aber dennoch zur Einheit fügenden Aspekte unvorstellbar wäre.«17 Das moralische Thema, so Kolnais Formulierung, wird durch unsere Neigung, das Gute zurückzuweisen, es zu verzerren, zu verfälschen oder auszulöschen, zum Bestandteil praktischer Reflexion. Deshalb ist es vor allem in negativen Begriffen präsent – in Verboten und Verurteilungen sowie der Zurückweisung, Verzerrung

16

Aurel Kolnai, Morality and Practice I: The Ambiguity of Good. In: ders., Ethics, Value and Reality. Hg. von Francis Dunlop und Brian Klug, London 1977, S. 63–94, hier 64. 17 Ders., Morality and Practice II: The Moral Emphasis, S. 95–122, hier 101. Früher hatte Kolnai argumentiert, dass die Moral in der Praxis verankert, wenn auch nicht mit ihr identisch ist: »Es ist erwiesen, dass die Moral im Kontext der Praxis gedacht werden muss, da das natürliche Leben, das der Praxis zugrunde liegt, die Moral nur indirekt und äußerlich tangiert. Dagegen ist jede Praxis dem moralischen Urteil ausgesetzt, und Wahl ist der Brennpunkt sowohl des moralischen Urteils als auch der Praxis.« Vgl. ders., Morality and Practice I, S. 89 f.

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usw. des Guten. Die Moral besteht also vor allem darauf, das Gute zu schützen und nicht unmoralisch zu handeln, weniger darauf, ein als »gut« Ausgezeichnetes zu verfolgen und in einer bestimmten Weise moralisch zu handeln. Die Praxis umfasst die pluralistische Welt vieler Varianten des Guten und eine Vielzahl von Situationen. Die Moral enthält einen Kodex von Regeln, die uns helfen, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden und in der Wahl zwischen richtigen und falschen Handlungen uns entsprechend zu entscheiden. Weder schafft sie noch sanktioniert sie das Gute noch ist sie identisch mit dem Guten wie etwa in einer an Kant orientierten Ethik, in der das Pflichthandeln das einzig Gute ist. Kolnai fasst seine Position in seiner eigenen Begrifflichkeit in einer Weise zusammen, die auch ohne zusätzliche Erklärung verständlich ist: »In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, dass das Böse mit Bezug auf das Leben, das als gut angenommen wird, sekundär ist. Zugleich ist das Böse mit Blick auf das moralische Bewusstsein, die moralischen Gesetze und das Gewissen thematisch primär.«18 Deshalb ist nichts, nicht einmal die Moral, uneingeschränkt in der Lage, menschliches Handeln anzuleiten und die Totalität menschlicher Handlungen und Interessen zu formen. Die wichtigste Rolle der Moral besteht darin, das Gute und den Wert des Lebens in seiner vielfältigen pluralistischen Realität zu bekräftigen und das Böse durch Verbote und Regeln zu kontrollieren und einzugrenzen: Das thematische Primat des Bösen rechtfertigt keine moralische Theorie des guten Lebens. Deshalb ist jeder Versuch, die Pluralität der Praxis auf einen einzigen Aspekt zu reduzieren, und sei es den ihrer unterstellten moralischen Qualität, etwa in der Erklärung einer bestimmten Regel als universell gültig und immer anwendbar, sowohl philosophisch als auch moralisch unzulässig. Die reiche Wirklichkeit der Praxis macht Konflikte unvermeidlich. Konflikte und Macht sind deshalb normale Bestandteile menschlichen Lebens. Oder, wie Kolnai schreibt, was wir »Machtsphären« nennen, sind keine durch klare Grenzen abgetrennte Provinzen wie etwa Staaten oder Verwaltungsbezirke. Vielmehr überlagern sie sich und durchdringen einander, da Macht und Machtpositionen zur normalen Textur des nationalen und internationalen Lebens gehören. Sie sind durch die Existenz von Werten miteinander verbunden, die von einer Gemeinschaft geschätzt werden, und durch die Möglichkeit, die Missstände, vor denen sich die Gemeinschaft fürchtet, von ihr fernzuhalten. Machtpolitik entsteht aus der konfliktgeladenen Natur des Menschen und ist sowohl Ausweis als auch Lösung dieser Konflikte. Sie ist seine Darstellung, weil, wie Kolnai schreibt, »Machtpolitik« nicht von der Politik, der Wirklichkeit, dem Leben oder der Gesellschaft abgetrennt werden kann. Sie ist jedoch auch seine

18

Ebd., Morality and Practice I, S. 85 (Hervorhebung im Original).

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Lösung, so Kolnai weiter, »insofern, als die Macht mit dem Guten angereichert ist und ihm dient. Sie führt nicht nur dazu, dass sich dieses Gute besser behauptet und gesichert wird, sondern auch dazu, dass es besser verstanden, wahrgenommen, formuliert und gesucht wird.«19 In der Politik geht es so nicht nur um Konflikte, sondern auch um deren Überwindung. Weder das Begreifen von Konflikten noch ihre Lösung sind jedoch möglich, ohne zu akzeptieren, dass diese Konflikte, wie ernst sie auch sein mögen, ihren Ursprung immer in unserem Alltagsleben haben. Politik ist nur insofern irrational, als es keine wissenschaftliche Möglichkeit oder Prozeduren gibt, die es ermöglichen vorherzusagen, welche Konflikte wie und warum entstehen werden: »Ob, wieweit und wann die sozialen Dinge politisiert werden, zum Substrat der politischen Diskussionen und Gruppenbildung aufsteigen, hängt von unterschiedlichen Realfaktoren ab.«20 Sie ist jedoch nicht irrational in dem Sinne, dass sie lediglich einen reinen Willensakt, ein Gefühl oder einen Lebensinstinkt ausdrückt. Politik ist deshalb möglich, weil Konflikte einen objektiven Kern haben, egal, ob es sich dabei um philosophische oder religiöse Differenzen handelt, um einen ökonomischen Interessenskonflikt oder moralische Fragen. Ohne einen solchen objektiven Kern würden Konflikte tatsächlich irrational werden. Die Möglichkeit einer solchen Wendung ins Irrationale verweist jedoch nicht auf das Entstehen der Politik, sondern verkündet vielmehr ihr Ende. Die politische Existenz schließt ein, sich mit besonderen Problemen zu beschäftigen, die das eigene Leben als Angehöriger einer Gemeinschaft betreffen. Es geht dabei eben nicht nur um die Sorge, um das eigene Überleben oder einige obskure animalische oder rassische Instinkte, die nur oberflächlich durch die Moral, Kultur, Ökonomie oder Religion überdeckt sind. Für Kolnai ist die Politik so als Ausdruck unserer Interessen Teil des praktischen Lebens, das sie jedoch auch überwindet, allerdings auf eine andere Weise als die Moral. Die Politik ist deshalb Teil des praktischen Lebens, weil sie sich mit der objektiven Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft und menschlicher Gemeinschaften beschäftigt. Mehr noch, so Kolnai: »Unzweifelhaft aber kann auch von eigentlich ›politischen Werten‹ gesprochen werden. Zu ihnen gehört etwa das Erfolgreiche, Sinnvolle, Kraftvolle, Kunstvolle, Schöpferische, Zeit- und Lagegemäße des politischen Verhaltens: Werte, die von der inhaltlichen Richtung einer Politik im Allgemeinen unabhängig sind, ebenso einer konservativen wie einer revolutionären Politik usw. anhaften können.«21

19 20 21

Ders., The Fallacies of Pacifism (MS KA, Box 3, S. 187–190, hier 190). Kolnai, Inhalt der Politik, S. 34. Ebd., S. 36 f.

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Deshalb ist die Politik eine Art Praxis innerhalb der Praxis, ein Spiel innerhalb der Welt der Spiele. Die Politik steht jedoch auch über den vielfältigen Spielen des Lebens insofern, als sie diese zu ordnen und in das Leben zu integrieren sucht: »Die Ordnungstheorie der Politik wird hingegen zwischen der reinen Kategorie des subjektiven Kampferfolgs und den außerpolitischen Wertfundamenten den Mittelbereich jener eigentlich politischen Werte erkennen, die wohl nicht einfach dem Sieg des Besseren, des Einen über jenen Anderen, sondern etwa dem richtigen und haltbaren Zusammenstimmen der Faktoren einer sozialen Bezugseinheit, wiewohl gewiss vom Vorzugsstandpunkt eines dieser Faktoren aus, entsprechen.«22 Die Überwindung von Konflikten muss deshalb als Frage der Macht verstanden werden, nicht einfach als Ergebnis von Überlegungen und Kommunikation in der häufig vergeblichen Hoffnung, einen Konsens zu erreichen. Die Macht ist jedoch immer nur ein Mittel, niemals Selbstzweck.23 In mancher Hinsicht erinnert Kolnais Vision politischer Entscheidungsfindung deshalb an Gerichtsverhandlungen.24 Das setzt bereits existierende institutionelle Regelungen voraus. Offensichtlich war Kolnai nicht an der Frage interessiert, wie sich Institutionen entwickeln und ob ihre Einrichtung selbst eine Aufgabe der Politik ist.25 Er sah in der Politik eine normale Funktion gesellschaftlicher Kooperation, wobei die Politik im Unterschied zu anderen Handlungen legitime Entscheidungen für das ganze Gemeinwesen treffen könne, wenn nötig, aber nur dann, auch unter Anwendung von Gewalt und Zwang. Die Moral ist für Kolnai ein spezifischer Aspekt gesellschaftlichen Lebens. Ihr negativer Universalismus, also z. B. ihre einfachen Verbote von Mord, Diebstahl und nicht gerechtfertigter Grausamkeit, die von den meisten Menschen als universell gerechtfertigt anerkannt werden, stellt einen allgemeineren Rahmen des Denkens und Handelns als die Politik bereit, die im Kern hinsichtlich ihrer Ziele und der Reichweite ihres Denkens einseitig ist. Die Politik, so Kolnai an anderer Stelle, ist nur in dem Sinne universell, als auch die verschiedenen Lebenspraktiken universell sind, da die Elemente des Guten praktischer Interessen und Ziele objektiv, vergleichbar, flüchtig und universell verständlich sind.26 Zum Beispiel mögen wir kein Interesse daran haben, uns dem Wohl der Familie in dem Maße unterzuordnen, wie das für Menschen anderer Kulturen üblich ist. Dennoch sind 22 23

Ebd., S. 37 (Hervorhebung im Original). Political and Non-Political Interests (MS KA 1/Political Thought). Es muss ergänzt werden, dass dieser Text wesentlich später als »Der Inhalt der Politik« verfasst wurde, wobei sich Kolnais Zugang zum Wesen der Politik nicht geändert hatte. 24 Ebd. 25 Persönlich war Kolnai jedoch daran interessiert, weil er darin ein Spiel sah: Er konstruierte eine imaginäre Monarchie, die er mit verschiedenen Parteien und Politikern bevölkerte, erdachte sich deren Geschichte, erfasste die Wahlergebnisse der Parlamente usw. 26 Universality and Political Attitudes (MS KA 1/Political Thought).

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auch uns familienbezogene Werte und, allgemeiner, solche, die sich auf die Gemeinschaft beziehen, vertraut und wertvoll. Daraus folgt, dass, obwohl alle politischen Konflikte und ihre Lösungen partikulär sind, sich auf einen bestimmten Kontext, besondere Interessen und eine spezifische Situation beziehen, ihr Gegenstand notwendig objektiv oder objektiv gegeben ist. Deshalb ist die Moral der Politik sowohl überlegen als auch unterlegen. Sie ist ihr in dem Sinne überlegen, dass sie eine eigene Autorität gegenüber dem praktischen Leben hat, die die Kontrolle der Politik einschließt. Was die Moral verbietet, ist universell verboten. Interessanterweise ist die Politik – insofern auch die Moral an besondere Güter, moralische Überlegungen und situative Unwägbarkeiten gebunden ist – der Moral überlegen. Um ein einfaches Beispiel zu benutzen: Während es absolut verboten ist, Menschen zur Unterhaltung der Öffentlichkeit zu foltern, selbst wenn das politisch nützlich sein sollte, ist es die Aufgabe der Politik zu entscheiden, ob Gerechtigkeit, Gleichheit oder Sicherheit in einer bestimmten Situation Vorrang haben sollen. Wenn bestimmte ethische Theorien nahelegen, dass die Politik einem bestimmten moralischen Code und einer Reihe besonderer moralischer Prinzipien oder auch nur einem moralischen Gebot folgen sollte, sind sie zum Scheitern verurteilt. Das zu entscheiden, ist die Aufgabe der Politik, was nicht heißt, dass deshalb alles erlaubt sei. Die Moral behauptet ihre Autorität durch die Kraft ihrer Verbote und, so könnte man argumentieren, durch ihre allgemeine Bestimmung eines guten Lebens, einschließlich des gesellschaftlichen Lebens, für das die Politik verantwortlich ist.

Praxis und Kriege Das Dilemma

Man könnte dem entgegenhalten, dass es sehr ernste Diskrepanzen innerhalb einer politischen Gemeinschaft über schwerwiegende Probleme wie die Form einer Kultur und Zivilisation geben kann. Kann und sollte man wirklich bereit sein, für den Liberalismus oder Konservatismus oder für bestimmte Ideale der Deutschen oder Engländer oder auch eine bürgerliche Lebensform zu sterben? Oder ist das Sterben für solche Werte oder moralisch ehrenwerte Gründe wie die Abschaffung der Sklaverei etwas, das den Raum des Politischen übersteigt? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob Kriege noch Teil normaler Politik im skizzierten Sinn sind oder ob sie zu jenen unumkehrbar irrationalen Ereignissen gehören, die sich der Kontrolle der Politik entziehen. Es ist sicher einfach, Schmitt auf der Grundlage des üblichen Politikbegriffs zu kritisieren, was jedoch die Frage unbeantwortet lässt, wie sich Kriege in der Begrifflichkeit politischer Theorie erklären lassen.

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Es stimmt, dass Kolnais verschiedene Schriften einander widersprechende Argumente enthalten. In »The Fallacies of Pacifism« findet sich beispielsweise die Bemerkung, dass es in Kriegen auch um »den Wert und die Würde von Menschen und Gemeinschaften«27 geht. Das klingt naiv und erinnert an eine sentimentale Ritterlichkeit angesichts derer, dass es schwerfällt, sich einen Krieg ohne ein ungeheures Ausmaß an Barbarei vorzustellen. Wir mögen Irrtümer kritisieren, dem Bösen widerstehen oder eine andere Lebensweise ablehnen. Es bleibt jedoch fragwürdig, ob solche negativen Haltungen die Tötung anderer Menschen rechtfertigen. Kolnai scheint geradezu verzweifelt zu versuchen, das Argument zu begründen, »dass sich für etwas einzusetzen, weder notwendig noch üblicherweise Gewalt und Massaker um ihrer selbst willen einschließen«, sondern dass sie »eine persönliche Präsenz und die Bereitschaft zu leiden und anderen Leid zuzufügen sowie die Entschlossenheit zum Opfer und zur ursprünglichen Entscheidung beinhalten«.28 Diese »persönliche Präsenz« und »ursprüngliche Entscheidung« sind eine eigenartige Wortwahl, die dem nationalsozialistischen Verständnis davon, was es heißt, in der Welt zu stehen, sehr nahekommt. Sie sind die Aufforderung, stark und selbstbewusst zu sein bis zur Bereitschaft zu sterben. Ist das eine angemessene politische Rechtfertigung des Krieges? Wohl kaum, wie Kolnais gedankenreicher Text über die politische Theorie zeigt, in dem er schreibt, dass die normale Politik mit dem Krieg endet: »Das Wesensmerkmal des politischen Bereichs ist nicht das Freund-Feind-Verhältnis, sondern das Zusammenleben von Gegnern auf dem Boden eines sozialen Einheitsbezugs.«29 Eine Wahlniederlage mag eine schmerzliche Erfahrung für den Verlierer sein, was jedoch nichts im Vergleich zum Leiden im Krieg ist. Wenn jedoch eine »gesellschaftliche Bezugseinheit« die Voraussetzung aller Politik ist, müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass Kriege und Bürgerkriege, in denen für eine moralisch gerechtfertigte Sache wie die Abschaffung der Sklaverei gekämpft wird, letztlich jenseits des Politischen liegen. Der Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik, sondern ihr Gegensatz, da er unvereinbar mit der Aufrechterhaltung einer gemeinsamen gesellschaftliche Bezugseinheit und damit dem Wesen aller Politik ist. Es stimmt schon, dass nicht alle Kriege in der menschlichen Geschichte Kriege im existenziellen Sinn Schmitts waren, in denen es darum ging, den anderen buchstäblich zu vernichten. Seit den griechisch-persischen Kriegen ist jedoch die Idee, dass Kriege deshalb geführt werden, um den Gegner aus moralischen G ­ ründen,

27 28 29

Kolnai, The Fallacies of Pacifism, S. 26. Ebd., S. 68. Kolnai, Inhalt der Politik, S. 29 (Hervorhebung im Original).

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im Namen eines politischen Ideals oder einer Religion oder Lebensweise zu vernichten, zur eigentlichen Rechtfertigung von Kriegen geworden ist – im Unterschied zu Kriegen als Auseinandersetzungen aus materiellen Gründen, die immer weniger akzeptabel wurden. Auch wenn solche Kriege nicht darauf zielen, das andere Volk oder die Bevölkerung buchstäblich zu töten, gehen sie doch über die Austragung politischer Gegensätze hinaus. Solche Kriege sind nach Kolnais Theorie des Politischen keine Fortsetzung der Politik, sondern deren Ende, da die Basis gegenseitigen Verstehens verloren gegangen ist. Wenn solche Kriege nicht mehr Teil der Politik sind, dann kann auch »Der Krieg gegen den Westen«, der als Waffe in einem solchen Krieg gedacht war, kein politisches Mittel sein. Kolnai mag mit seiner Kritik an Schmitts vollständiger Vernachlässigung themenbezogener Innenpolitik recht haben. Dann müssen wir jedoch zugeben, dass die Verteidigung des Westens gegen das natio­nalsozialistische Deutschland außerhalb der Politik liegt, ebenso wenig wie es so etwas wie eine nationalsozialistische oder wie auch immer bestimmte Rassenpolitik gibt. Eine Endlösung ist keine Politik. Ist es jedoch wirklich wahr, dass dann, wenn Rassenpolitik jenseits der Politik im eigentlichen Sinne liegt, der Krieg gegen ein Regime, das beansprucht, eine Rassenpolitik zu verfolgen, auch jenseits des Politischen liegt? Ist das nichts anderes, als die Schmitt’sche Zurückweisung des anderen wegen seines Andersseins, wie widerwärtig und unmoralisch das auch sein mag? Kolnai würde diese Schlussfolgerung nicht akzeptieren. Der Konflikt, den er in »Der Krieg gegen den Westen« diskutiert, geht offensichtlich um das objektiv Gute oder Wertvolle der einen Seite und dessen Zurückweisung durch die andere Seite als etwas abgrundtief Böses. Es geht nicht um eine existenzielle Nichtübereinstimmung darüber, wer Europa dominieren sollte. Es ist nicht ein einfacher Machtkampf ohne objektive Grundlage, der sich auf die Absicht reduzieren würde, die einzig politisch handlungsfähige Kraft auf der europäischen Bühne zu bleiben. Der thematische Reichtum des Buchs erschließt sich nur dann, wenn wir der Überzeugung sind, dass es wichtig ist zu verstehen, wie die Nationalsozialisten denken und was sie wollen. Deshalb geht es darum, darauf zu bestehen, dass es in der Politik nicht vor allem um Kampf geht, auch wenn sie sich mit Konflikten auseinandersetzt, gleichzeitig jedoch auch zu begründen, dass zumindest bestimmte Kriege immanent politisch sind. Es muss also überzeugend nachgewiesen werden, dass der Krieg gegen den Westen nicht Schmitts auf der Freund-Feind-Beziehung gegründete Theorie des Politischen bestätigt, obwohl es ein Krieg ist, der sich durch ein richtiges Konzept des Politischen begründen lässt.

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Eine rein moralische Rechtfertigung des Krieges

Zu sagen, dass ein Krieg politisch gerechtfertigt werden muss, unterstellt, dass sich bestimmte Typen von Kriegen relativ einfach moralisch rechtfertigen lassen. Die reine Selbstverteidigung wäre hierfür ein Beispiel. Für die meisten Menschen ist es klar, dass es nach Beginn einer Aggression moralisch gerechtfertigt ist, diesem Widerstand entgegenzusetzen, da Aggression um ihrer selbst willen oder in der Absicht der Eroberung, Unterwerfung, Plünderung oder auch, um berühmt zu werden, moralisch verwerflich ist und Selbstverteidigung in dieser Situation moralisch gerechtfertigt und geboten ist. Der Aggression zu widerstehen, ist nicht nur eine instinktive Reaktion, sondern auch ein Handeln, das durch die universelle Moral unterstützt wird: Menschen und Gemeinschaften haben ein Recht, sich zu verteidigen und zu schützen, wenn nötig auch mit Gewalt. Ernsthafte Konflikte würden einen Krieg jedoch nur dann rechtfertigen, wenn es dabei um ein moralisch relevantes Problem geht, wenn also eine der gegnerischen Parteien wirklich unmoralisch handelt und etwa den anderen moralisch ungerechtfertigt angreift, einfach deshalb, weil er anders ist, wie Schmitt nahezulegen scheint. Die Rechtfertigung eines Krieges wäre dann eine rein moralische Angelegenheit. Theorien des gerechten Krieges werden z. B. innerhalb dieses theo­retischen Rahmens behandelt. Die Politik kann keine Lösung eines Konflikts durch militärische Gewalt rechtfertigen. Kriege gehen über das Reich des Politischen hinaus und sind verboten, es sei denn, ein universelles moralisches Prinzip erlaubt sie. Als »Der Krieg gegen den Westen« geschrieben wurde, war noch Frieden in Europa, auch wenn die Nationalsozialisten schon dabei waren, das alte Europa und viele europäische Staaten einzuschüchtern, und sie einige von ihnen offen mit Aggression bedrohten. Das rechtfertigten sie vor allem damit, die Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrages und der Pariser Verträge zu beenden. 1935/36 glaubte niemand ernsthaft an einen Krieg gegen Frankreich, Großbritannien, Polen, die Tschechoslowakei, Russland, Jugoslawien und die Vereinigten Staaten, also die halbe Welt. »Der Krieg gegen den Westen« war sicher nicht darauf gerichtet, den Widerstand gegen eine bereits laufende oder bevorstehende militärische Aggression zu initiieren. Er untersuchte auch nicht das moralische Recht, Deutschland durch eine präventive militärische Aktion anzugreifen. Das Buch entstand auch nicht aus einem einfachen moralischen Interesse, etwa dem, ernsthaften Verletzungen der Menschenrechte zu begegnen, obwohl klar war, dass das Deutsche Reich schon schlimme Gesetze eingeführt hatte. Es reagierte auch nicht auf ein moralisches Dilemma wie dem möglichen Konflikt zwischen persönlichen und politischen Loyalitäten. Vielmehr war es in der ausdrücklichen politischen Absicht geschrieben, eine Zivilisation, Tradition und Kultur zu verteidigen, also eine im praktischen Leben verankerte besondere Identität, die zugleich dieses besondere Konzept praktischen Lebens ausdrückte und verkörperte.

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Aus Kolnais Sicht steht die Moral in einer besonderen Beziehung zum praktischen Leben. In ihr geht es im Wesentlichen um Verbote, nicht um Gebote. Aus Kolnais Konzept des praktischen und moralischen Lebens folgt, dass das thematische Primat des Bösen, das moralischen Verboten zugrunde liegt, problemlos Selbstverteidigung rechtfertigen kann. Die Anwendung moralischer Verbote ist dennoch einfacher für das alltägliche moralische Leben als für komplexe gesellschaftliche und internationale Problemlagen. Es ist insbesondere dann nicht so einfach zu bestimmen, was eine Aggression oder tödliche Bedrohung auszeichnet, wenn der vermeintliche Aggressor selbst moralisch ernst zu nehmende Argumente vorbringen kann wie etwa das, etwas wiederzubekommen, was ihm einmal rechtmäßig gehört hat. So wurde die Revision des Versailler Vertrags von vielen auch außerhalb Deutschlands als moralisch gerechtfertigt gesehen. Es mag ähnlich schwer sein, den Aggressor zu benennen: Ist es eine andere Regierung, ein Volk, eine Klasse, eine Kultur oder eine Zivilisation? Deshalb ist die Anwendung selbst universell gültiger moralischer Verbote (militärische Aggression ist verboten) und ihrer moralischen Konsequenzen (es ist moralisch und außerdem eine Pflicht, der Aggression zu widerstehen) häufig eine äußerst komplizierte Angelegenheit, deren Bewertung uns in die reiche Welt praktischer Urteile zwingt, in der die Moral nur ein Aspekt unter anderen ist. Solche Probleme, die über die einfache Anwendung einer moralischen Regel hinausgehen, provozieren eine ethische Diskussion. Selbst wenn zum Beispiel Deutschland moralisch im Recht wäre, die Revision des Versailler Vertrags wegen seiner Ungerechtigkeiten zu fordern, würde das doch Bedenken über die möglichen moralischen Konsequenzen einer solchen Revision für Deutschlands künftiges Verhalten hervorrufen, etwa die Frage, ob es in ihrem Ergebnis gieriger und aggressiver werden würde. Das gilt auch für die europäische Machtbilanz, die nur in dem allgemeinen Sinn moralisch gut ist, dass sie eine Bedingung des Friedens ist. Neben diesen allgemeinen Überlegungen ergeben sich eine Reihe weiterer Fragen, die die Bewertung solcher komplexer Themen zu einer Angelegenheit der praktischen und politischen Vernunft machen. Solche Diskussionen und Konflikte, bei denen moralische Intuitionen und Wertungen aufeinandertreffen, zeigen, weshalb die Politik notwendig ist. Es kann Konflikte mit starken moralischen Konnotationen geben, die dennoch nicht durch die bloße Anwendung moralischer Prinzipien geklärt werden können. Das Aufeinandertreffen moralischer Intuitionen und Prinzipien ist eine ernsthafte Angelegenheit, die nach einer politischen Lösung verlangt. Eine solche Lösung kann nicht das Ergebnis einer reinen Entscheidung oder ein willkürlicher Willensakt sein: Sic volo, sic iubeo. Das wäre die Schmitt’sche Position, die Kolnai entschieden zurückweist. Hier braucht es Argumente und Gründe, die viel weiter und tiefer gehen, als diejenigen, die in einer Debatte zwischen Konservativen und Liberalen über die beste Regierungsform gebraucht werden. Diese Gründe müssen so gewichtig sein, dass sie Krieg, Leiden und Tod rechtfertigen.

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Die Moral als zweischneidiges Schwert

Um Kolnais Ansatz zu verstehen, empfiehlt es sich, sein »The Fallacies of Pacifism« anzusehen. Das Buch ist offensichtlich eine Fortsetzung von »Der Krieg gegen den Westen«. Kolnai schrieb es während des Krieges in der Absicht, diejenigen, die wegen der zahlreichen Niederlagen auf den Schlachtfeldern und den nicht weniger großen zivilen Opfern zu wanken schienen, in ihrer Entschlossenheit, zu bestärken, das nationalsozialistische Deutschland zu bekämpfen. Der Einfluss von Bert­rand Russell und ähnlich gestimmten Personen des öffentlichen Lebens, die nicht aus religiösen, sondern aus humanistischen und moralischen Gründen gegen den Nationalsozialismus waren, war beträchtlich. Obwohl das Buch nie veröffentlicht wurde, bleibt es wichtig für die Interpretation von »Der Krieg gegen den Westen« und für das Verständnis von Kolnais Beziehung zur politischen Theorie. Der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass selbst harmlos scheinende oder nur zum Teil berechtigte moralische Argumente zu zweifelhaften politischen Theorien und Positionen zur Unterstützung der Tyrannei werden können. Vor diesem Hintergrund sollte man solche Positionen mit aller Entschlossenheit bekämpfen. Das kann zum Krieg führen, der durch das berechtigte Anliegen, das Gute in seinen vielfältigen Facetten zu unterstützen, ohne es auf einen einzigen wie auch immer überzeugenden Wert zu reduzieren, gerechtfertigt erscheint. Die einseitige Herausstellung solcher komplexer Ideen wie der des Lebens, der Nation oder der Gesundheit reduziert den Pluralismus der Vielfalt auf eine einzige Sache. Entsprechend unterscheidet Kolnai zwischen negativem oder falschem Pazifismus, den er vor allem wegen seiner Absolutsetzung kritisiert und zurückweist, und realistischem Pazifismus, den er verteidigt. Im negativen oder falschen Pazifismus sieht er das moralische Ideal des »niemals und nirgendwo mehr Krieg«, das er als absolute Zurückweisung des Krieges und manische Verfolgung des Friedens interpretiert und mit der Zelebrierung des Krieges um seiner selbst willen auf eine Stufe stellt. Das einfache moralische Verbot von Aggression zwinge dieses moralische Ideal der Praxis auf. Er formuliert ohne Umschweife: »Der falsche Pazifismus ist ebenso naturalistisch und deshalb ebenso barbarisch wie die Religion des Militarismus: Er glaubt, dass sich die kriegerische Natur des Menschen durch seine friedliche Natur ersetzen lasse, nicht jedoch an die Möglichkeit einer vernünftigen Kontrolle und emotionalen Ausbalancierung gegensätzlicher Instinkte.«30

30

Kolnai, The Fallacies of Pacifism, S. 33.

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Kolnai meint, dass Konflikte zwischen Menschen unvermeidlich, ja sogar wünschenswert sind. Sie seien nicht durch innere Widersprüche zwischen Prinzipien und Werten verursacht, sondern vor allem durch Unterschiede ihrer Bewertung, die unabhängig davon, wie schwerwiegend sie seien, jedoch nicht unvermeidlich zum Krieg führen müssten. Die Angst vor der Möglichkeit eines Kriegs mag dazu führen, nach einer vollständigen und endgültigen Beseitigung von Kriegen durch ein besonderes moralisches Ideal zu suchen. Eine effektive Lösung des Kriegsproblems jedoch, so Kolnai, verlangt nach einer utopischen politischen Ordnung, in der Konflikte einschließlich moralischer unmöglich geworden sind. Um eine solche moralisch perfekte Lösung zu erreichen, braucht man politische Macht. Faktisch geht es hier schon weniger um eine moralische als um eine politische, und zwar totalitäre Antwort auf die moralische Pluralität des Lebens: »In der Ethik geht es immer um Proportionen. Jeder Versuch, absolute Verantwortung für die Resultate unseres Handelns zu übernehmen, führt zu einer vollständigen Zerstörung der Verantwortung. Während der relative Pazifismus ein Maximum an moralischer Ordnung bedeutet, führt der absolute Pazifismus zu absoluter Anarchie.«31 Der falsche oder negative Pazifismus ist nichts anderes als ein Krieg gegen Konflikte unter dem Vorzeichen der Moral. In einem solchen Krieg führt ein vollständiger Sieg zur Tyrannei, da die Verabsolutierung jedes Wertes oder moralischen Prinzips gefährlich ist, wie Kolnai immer wieder betont. Selbst der moralischste Wert wie etwa Liebe oder Respekt kann zu einem Dogma werden, das Unterordnung und Ehre auszeichnet und damit den Krieg gegen seine Feinde rechtfertigt. Kolnai spricht hier vom magischen Moralismus. Das erinnert an eine andere These Schmitts über die Tyrannei der Werte, die sich jedoch auch von Kolnais Idee unterscheidet.32 Für Kolnai sind es weder die Werte selbst noch ihre Darstellung, sondern unsere Antwort auf sie, die falsch sein kann. Es ist eine ständige Versuchung, Werte zu vergöttern, der der Nationalsozialismus wie auch andere totalitäre Formationen erlegen sind. Die Vergötterung beginnt mit der Vereinheitlichung aller Werte, die alle auf einen reduziert. In Kolnais Worten: »In einer magischen Perspektive wird Einheit als gegebene Identität von etwas angenommen, das die gegebene Ordnung der Menschheit als sekundär vernachlässigt. In einer realistischen, wirklich moralischen Perspektive wird Einheit als Möglichkeit des Verstehens und der vernünftigen Abstimmung von Zielen verstanden, von deren Verwirklichung in der aktuellen Ordnung der Menschheit alles abhängt.«33

31 32 33

Ebd., S. 138. Vgl. Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979. Schmitt beklagte sich über das, was er als rechtlich gefährliche philosophische Entwicklung sah, nämlich die direkte Verordnung von Werten und ihre Anwendung als Argument in der Rechtsprechung. Kolnai, The Fallacies of Pacifism, S. 85.

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Auf den ersten Blick scheint die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie einfacher als die mit dem falschen Pazifismus, der zu Unrecht beansprucht, wie Kolnai argumentiert, von einer universellen Moral getragen zu sein, was ihn jedoch für Menschen mit guten Absichten attraktiv macht. Die natio­nalsozialistische Moral dagegen ist bewusst partikularistisch und ausschließend und dadurch für anständige Menschen abstoßend. Was jedoch scheinbar eindeutig als Verneinung der Moral als universell gültiger Unterscheidung zwischen gut und schlecht bzw. richtig und falsch erscheint, hat auch eine moralische Komponente, so paradox das auch scheinen mag. Diese moralische Komponente hebt das innere Gute der Lebenswelt, wie es von Individuen und Gemeinschaften erlebt wird, hervor. Wie wir in unserer Diskussion von Kolnais ethischem Denken gesehen haben, spricht nichts gegen eine Anerkennung verschiedener konkreter Lebensweisen, solange diese moralische Verbote einhalten. Problematisch ist die subjektive Moralisierung des Guten: »›Wir müssen seinsmäßig und von Natur gut sein, damit gute Gedanken und Zielvorstellungen in uns aufsteigen.‹ Somit wird die Frage danach, was richtig und was falsch ist, aufgegeben. Warum sollten wir uns Vorbilder des Guten ausdenken, wenn wir doch sicher sein können, das lebendige Gute in uns zu haben?«34 Kolnai sieht, dass das Gute viele Gesichter hat und mehr beinhaltet, als das Richtige. Es ist auch nicht identisch mit der Moral, wobei das Konzept des Guten jedoch seine ethische Bestätigung einschließt. Weiterhin hat die nationalsozialistische Philosophie durch die extensive Benutzung des Begriffs des Guten, den sie nicht nur missbraucht hat, sehr effektiv eine auf dem subjektiv Guten gegründete Ethik mit der Macht verknüpft. Die Verletzung moralischer Verbote erscheint dadurch als notwendig begründet, dass sie das höhere Gute erreicht und sichern hilft. Zum Beispiel wird das Deutsche als subjektiv gut begründet, wobei das Subjekt hier das Volk oder die Nation der Deutschen, der Geist o. Ä. ist. Dieses Gute hat jedoch auch universelle Bedeutung und eine starke moralische Konnotation insofern, als es eine überzeugende philosophische Begründung, ein attraktives Konzept der menschlichen Natur, der Geschichte, der Ethik usw. beansprucht und diesen Anspruch teilweise auch einlöst. Darum geht es u. a. in »Der Krieg gegen den Westen«. Deshalb hat es den Anschein, als wäre die nationalsozialistische Weltanschauung moralisch gerechtfertigt. Wer würde nicht wünschen, das lebendige Gute in seinem Inneren zu tragen? Dennoch ist diese Weltanschauung gleichzeitig eine entschiedene Philosophie des Ausschlusses, der Zurückweisung und schließlich Vernichtung bestimmter Individuen

34

Kolnai, Krieg, S. 311 – erster Teil des Zitats aus Jakob Hommes, Lebens- und Bildungsphilosophie als völkische und katholische Aufgabe, Freiburg i. Brsg. 1934, S. 52.

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und Menschengruppen. Kolnai zitiert W. Stapel: »Die jüdische Vorstellung von Gerechtigkeit, individualistisch, nomistisch, kasuistisch, ist ›mit der deutschen Seele aus rassischen Gründen unvereinbar‹, für die es sich verbietet, das Gewissen in Formeln zu gießen.«35 Das ist eine präzise Formulierung, die sowohl die Ablehnung einer formalistischen Moral ausdrückt, was berechtigt sein mag, aber dabei auch diese Art des Denkens einfach für unangemessen für die Deutschen erklärt, auch wenn sie die Möglichkeit offen lässt, dass Andere sich der deutschen Moral anschließen. Das nationalsozialistische moralische Denken weist das universelle moralische Prinzip der Gleichheit aller Menschen zurück, und zwar nicht wegen seines Reduktionismus, einem Argument, dem Kolnai sicher zugestimmt hätte, sondern wegen seiner Fremdheit. Die Idee menschlicher Gleichheit wird als Bedrohung interpretiert, als moralisches Übel, welches das moralische Recht des deutschen Volkes gefährdet, so zu leben, dass es ein höheres, nicht kommunizierbares Gutes verkörpert. Obwohl also ein partikularer Moralismus oder ein moralischer Partikularismus ethisch begründbar sind, sind diese Konzepte im nationalsozialistischen Denken in einem Maße deformiert, dass das individuelle Gewissen einer Autorität absolut untergeordnet ist, die allein berechtigt ist, das höhere Gut zu bestimmen. Das ist nichts anderes als Unmoral.36 Kolnai schlägt einen Mittelweg zwischen der Tyrannei des universellen Moralismus und der des partikularen Moralismus vor, den er in »Der Krieg gegen den Westen« so zusammenfasst: »Sicherlich kann nicht ein einziges ethisches Wertesystem für die ganze Welt gültig sein. Völker auf ihren unterschiedlichen Entwicklungsstufen sowie unterschiedliche soziale Gruppen im Allgemeinen müssen ihre jeweiligen Vorlieben haben und ihre jeweiligen Schwerpunkte bezüglich der moralischen Werteordnung setzen dürfen. Doch die Krux des Problems liegt darin, ob angesichts der unvermeidlichen Begrenzungen und Unzulänglichkeiten des menschlichen Geistes solche Unterschiede nur als verschiedene Modalitäten des Verständnisses der objektiven Wahrheits- und Werteordnungen gemeint sind, die als eins und universal gültig angenommen werden, oder ob die Wahrheits- und Werteordnung selbst als ein Lebensprodukt, eine Blüte der Stammeseigenschaften und der nationalen Interessen gesehen werden.«37

Der Partikularismus ist in der ethischen Theorie und Praxis unvermeidlich und sogar insofern zu begrüßen, als er den Pluralismus und die Komplexität der Welt objektiver Werte bestätigt. Seine Verabsolutierung jedoch führt zum Relativismus, der in der ethischen Theorie und moralischen Praxis dazu führt, dass besondere moralische Ideale oder Werte wie Stärke oder Ruhm dem praktischen Leben aufgezwungen werden. Während Kolnai in seinem Buch »The Fallacies of Pacifism« gegen die Tyrannei des universellen Moralismus kämpft, war der »Der 35 36 37

Kolnai, Krieg, S. 315. Kolnai benutzt dieses konstruktive Argument in »Der Krieg gegen den Westen« in einem Kommentar zu Wilhelm Stapels Ansichten. Kolnai, Krieg, S. 318.

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Krieg gegen den Westen« wenigstens teilweise ein philosophischer Krieg gegen den moralischen Partikularismus und dessen Tyrannei der offenen Unmoral. Mit der Macht der Tyrannei wird eine klare politische Gefahr angesprochen. Deshalb sind für Kolnai sowohl der Nationalsozialismus als auch der falsche Pazifismus zwei Extreme bzw. zwei Seiten der Medaille, deren extremer Charakter und deren innere Beziehung sich nur einer politischen Perspektive erschließen. Kolnais Bemerkung, dass das Leben ein Pluralismus der Werte und menschlichen Interessen ist, legt nahe, dass die Moral in dem Maße unter Kontrolle gehalten werden sollte, als sie zu einem politischen Werkzeug in den beiden extremen Varianten eines falschen Universalismus und eines falschen Partikularismus werden kann: die Übertragung eines Wertes oder Prinzips oder eines besonderen Verständnisses des Guten auf die Praxis als Ganzer. An dieser Stelle zeigt sich die besondere politische Natur beider Bücher, die den denkbar fundamentalsten politischen Konflikt behandeln, nämlich den zur Bestimmung eines guten Lebens und der Moral, der nicht zur Routine normaler politischer Konflikte gehört.

Der Widerstand gegen die Tyrannei als politische Rechtfertigung des Krieges Wie sieht ein Politikbegriff aus, der nicht moralistisch ist und deshalb den Krieg zumindest international als letztes politisches Mittel rechtfertigen kann? Im Inneren zerstört der Krieg die Politik, selbst wenn es eine moralische Pflicht sein mag, sie zu zerstören. Und wie kann sich ein solcher Politikbegriff zugleich freihalten von der mit Schmitt verbundenen Versuchung, die Politik einfach als Bereitschaft zu definieren, für die eigene Existenz zu kämpfen, ohne dafür einen gewichtigen Grund zu geben? Auf der Suche nach einem solchen Begriff sind wir gut beraten, Kolnais Zusammenfassung des nationalsozialistischen totalitären Politikbegriffs zu berücksichtigen: »Im totalen Staat ist alles auf die Politik bezogen, und dennoch ist die Politik in gewissem Sinne abgeschafft. […] Wo es keine Parteien gibt, da kann es auch keinerlei Überzeugungen mehr geben. […] Der Untertan der Einparteien-Totalität ist ein sowohl panpolitisches als auch unpolitisches Wesen und gleicht damit einem Menschen, dessen Verhalten von einem rigorosen und umfassenden moralischen Kodex bis ins kleinste Detail reguliert wird, der aber über kein moralisches Bewusstsein verfügt und der daher vollkommen moralisch und gleichzeitig nicht-moralisch ist.«38

Obwohl sich Kolnai in dem Kapitel von »Der Krieg gegen den Westen«, in dem er die politische Natur des Nationalsozialismus unter Einbeziehung anderer seiner Schriften diskutiert, auf verschiedene Autoren bezieht, ist es doch Schmitt, den 38

Ebd., S. 199 f.

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er wirklich ernst nimmt. Das Zitat lässt sich deshalb am besten vor dem Hintergrund von Schmitts Theorie verstehen. Es ist ein ziemlich klar formulierter Anspruch seines Begriffs des Politischen, dass es eine ontologische Differenz zwischen privaten und öffentlichen Feinden gibt, wobei die öffentlichen Feinde die Grundlage des Politischen konstituieren. Ein nationalsozialistischer Nachbar kann ehrlich und angenehm sein, ein kommunistischer Kollege hilfsbereit und anständig. Als politische Gegner sind sie jedoch potenzielle Feinde, wobei der Begriff Feind für die Möglichkeit steht, sich gegenseitig zu töten. Das ist eine sehr scharfe Wendung. Der politische Aspekt entsteht aus dem Nichts und ist nur auf einer Entscheidung gegründet. Er taucht auf, weil es keinen anderen Grund gibt, den Feind zu bekämpfen, als seine Existenz, in der er anders als wir und unseresgleichen ist: »Wo es keine Parteien gibt, da kann es auch keinerlei Überzeugungen mehr geben.«39 Die politische Existenz und Realität des Feindes ist vollständig relational. Folglich hängt auch die individuelle menschliche Existenz in einer Gesellschaft vollständig von der Existenz und dem Leben der Gemeinschaft ab (der überpolitische Aspekt), ohne jedoch eine persönliche, praktische und objektive Möglichkeit zu haben, sich selbst auf diese Gemeinschaft durch verschiedene Vereine, Interessengruppen, Kirchen, Berufsverbände u. Ä. zu beziehen (der unpolitische Aspekt). Nichts könnte absurder und schrecklicher für Kolnai sein als eine solche Vorstellung. Seinen eigenen Begriff des Politischen entwickelt er aus den vielfältigen Interessen und Konflikten menschlichen Lebens, das nicht identisch ist mit einer Welt subjektiver Güter, offenbarter Präferenzen, Emotionen oder souveräner Entscheidungen auf der Grundlage nichtkommunizierbarer Vorstellungen und innerer Zustände der individuellen und kollektiven Seelen. Deshalb gibt es keine frei schwebenden Beziehungen wie die zwischen Freunden und Feinden. Feinde, auch Feinde auf internationaler Ebene, sind erkennbare Wesen, zu denen wir uns vernünftig und verantwortlich in Beziehung setzen müssen. Ironischerweise macht Schmitts Übertreibung der Möglichkeit, Entscheidungen in der Politik über Freunde und Feinde zu treffen nur dann Sinn, wenn die eigene Identität sowohl durch Freunde als auch durch Feinde bestimmt wird. Schmitt argumentiert: »Was moralisch böse, ästhetisch hässlich oder ökonomisch schädlich ist, braucht deshalb noch nicht Feind zu sein; was moralisch gut, ästhetisch schön und ökonomisch nützlich ist, wird noch nicht zum Freund in dem spezifischen, das heißt politischen Sinn des Wortes.«40 Dennoch ist politisch klar, dass es unmöglich ist, nicht zu sagen, warum der andere der Feind ist, der tatsächlich als moralisch böse, ästhetisch hässlich, ketzerisch oder pervers dargestellt wird. Wahrschein-

39 40

Ebd., S. 115. Carl Schmitt, Begriff des Politischen, S. 27.

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lich ist das politische Bedürfnis, Gründe zu finden, den Feind zu hassen, stärker als das, politisch bewusst einen Feind zu wählen. Das schließt die Darlegung und argumentative Begründung solcher Gründe ein. An dieser Stelle triumphiert das praktische Leben mit seinen vielfältigen Varianten des Guten und Bösen und eines lebenswerten Lebens über die Politik im Schmitt’schen Sinne. Aus Kolnais Perspektive setzt volle persönliche Reife eine Art moralisches Bewusstsein voraus, das die Souveränität des Objektiven anerkennt, oder in Kolnais bereits zitierten Worten, »die objektive Ordnung der Wahrheit und Werte«. Kollektive Wesen und insbesondere politische Gemeinschaften, von denen wir im Allgemeinen annehmen, dass sie besonders wichtig für das Wohlbefinden der Menschen sind und außerdem dafür verantwortlich, die fundamentalen moralischen Normen zu sichern, müssen das anerkennen und bereit sein, es gegen die Zumutung totaler Unterordnung in einer Tyrannei zu verteidigen. Tyrannei ist ein Begriff, der in fundamentalem Gegensatz zu Schmitts Politikbegriff bzw. seinem Begriff des Politischen steht. Für Schmitt ist der Begriff der Tyrannei ungeeignet und bestenfalls ein Synonym des öffentlichen Feindes: Tyrannei ist nichts Anderes, als der Wille des Feindes, uns zu beherrschen. Es gibt keinen Grund zu erklären, warum und wie die Tyrannei entsteht und in welchem Sinne sie der Freiheit, Ordnung, der Geltung der Gesetze und ähnlichen Prinzipien und Werten entgegengesetzt ist. Tyrannei ist deshalb kein Begriff, der etwas anderes als das politische Anderssein ausdrückt. Der richtige Herrscher, derjenige, der die Macht und den Willen hat, der politischen Gemeinschaft zu erklären, wer der Feind ist, kann kein Tyrann sein. Schmitts Unterstützung von Hitler war eine logische Konsequenz seines Politikkonzepts. Aus einer Kolnai’schen Perspektive jedoch ist der Begriff der Tyrannei stark an die alte politische Tradition des Standhaltens und der Verteidigung der von einer Gemeinschaft geschätzten Werte gebunden. Aus dieser Sicht ist der Widerstand gegen die Tyrannei keine willkürliche Entscheidung darüber, wer der Tyrann, also der Feind, ist. Ohne klares und mündiges Denken ist es unmöglich, das moralische und politische Übel der Tyrannei zu erfassen. Mit einem solchen Denken dagegen sind die Gefahr der Tyrannei und die Identität des Tyrannen klar zu erkennen: Es ist nicht der Andere, sondern die Macht des Bösen mit menschlichem Antlitz, mit einem Willen und Verstand. Es scheint deshalb so, dass Kolnais Begriff des Politischen in »DerKrieg gegen den Westen«, der sich aus seinen ethischen und politischen Schriften ableiten lässt, uns eine Möglichkeit eröffnet, den Krieg als politisch zu rechtfertigen, und zwar eben auf der bekannten, wenn auch heutzutage vernachlässigten Grundlage des Widerstandes gegen Tyrannei und Tyrannen. Der Nationalsozialismus ist nicht vor allem der Feind, der den Westen existenziell bedroht, was Schmitts Begriff des Politischen als Kampf auf Leben und Tod in der Freund-Feind-Beziehung nahe käme, sondern ein philosophisch, kulturell, moralisch und sogar

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emotional begründetes Übel, das gründlicher Erklärung und argumentativer Widerlegung bedarf. Wenn wir uns auf den anderen Teil der Schmitt’schen Dichotomie konzentrieren, nämlich den Begriff des Freundes, kommen wir zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Es ist ein altes aristotelisches Konzept, dass Freundschaft als Grundlage der Politik dienen kann. Diese Sicht mag immer schon sowohl naiv als auch aristokratisch gewesen sein. Sie reflektiert jedoch eine politische Erfahrung, die in der vielfältigen Welt menschlicher Beziehungen gegründet ist. Wir idealisieren das politische Leben nicht schon dadurch, dass wir annehmen, dass auch Gegner schließlich Partner in einem Spiel sind. Wenn wir Verständnis für die Sicht des Gegners als Ausdruck legitimer Interessen des Gemeinwesens haben, so enthält das auch einen Aspekt gesellschaftlicher Intimität, der selbst in der modernen Politik an das Ideal der Freundschaft erinnert. Mehr noch, auch wenn Freundschaft im aristotelischen Sinn auf Individualität gründet, geht es in ihr nicht nur um Intimität, sondern auch um Distanz, nämlich Respekt für die Autonomie des Freundes und seine Überzeugungen und Sichtweisen des Lebens, die sich von meinen unterscheiden mögen. Diese Konzeption von Freundschaft kann dem gegenübergestellt werden, was Kolnai »den mysteriösen Bund« nennt, der »kein entsprechendes Äquivalent im Englischen, noch weniger im Lateinischen oder Französischen«41 hat. Kolnai bietet hier eine sehr interessante und komplexe phänomenologische Beschreibung, die nicht so einfach zusammengefasst werden kann.42 Interessant ist dabei, dass er den Begriff der Freundschaft, der uns helfen könnte zu verstehen, was der Bund ist, überhaupt nicht erwähnt. Der Grund dafür mag die gemeinschaftliche Natur des Bundes sein, die Persönlichkeit, Individualität und Distanz ausschließt. Die Intimität und Männlichkeit jedoch ebenso wie das hochmoralische Ideal der Loyalität und des Dienstes am anderen, um bündische Bindungen herzustellen, erinnern an die Freundschaft, sodass Kolnai eigentlich seine Analyse des Bundes am Begriff der Freundschaft hätte orientieren sollen. Die verhängnisvolle Konsequenz dieser Ähnlichkeit besteht darin, dass das aristotelische Konzept politischer Freundschaft oder einer auf Freundschaft gegründeten Politik durch das fundamental andere Schmitt’sche Konzept des Freundseins ersetzt wird. Aber auch in diesem Teil von »Der Krieg gegen den Westen« erwähnt Kolnai Schmitt nicht, ebenso wenig wie Schmitt den Begriff des Bundes in seiner Entwicklung des Begriffs des Politischen als Freund-Feind-Beziehung benutzt. Dennoch gibt es eine wichtige Verbindung zwischen einem verzerrten Verständnis politischer Freundschaft (dem Bund) und Schmitts Idee des Politischen. Diese Verbindung ist durch das Ideal des Führertums vermittelt,

41 42

Kolnai, Krieg, S. 102. Vgl. ebd., S. 102–112.

Der Krieg aller Kriege

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einem ähnlich mysteriösen Begriff wie dem des Bundes. Faktisch identifiziert Kolnai diesen als einen der konstitutiven Bestandteile des Bundes: »Der Bund dient keiner abstrakten Idee oder administrativen bzw. beruflichen Abgrenzung, sondern ist in einem tiefen persönlichen Sinn um einen verehrten Führer mit seinem außergewöhnlichen Genie, seiner Grandiosität und seinem Charisma als sein Lebenszentrum angeordnet.«43 Das Führertum ist die höchste Form der Freundschaft, ein Bund, der Führer und Volk in einer mystischen und ekstatischen Ganzheit vereinigt. Obwohl es also Unterschiede zwischen Freunden dahingehend geben kann und wohl zumeist auch gibt, wer die Freundschaft dominiert, kann Freundschaft im aristo­ telischen Sinn als zwar nicht perfektes, jedoch sinnvolles Modell der Politik dienen, da es sehr stark durch Gleichheit und Autonomie geprägt ist. Im Bund treibt die mystische Einheit von Führer und Geführten die Intimität zum Ex­ trem, wodurch Gleichheit und Autonomie bedeutungslos werden. Kolnai zitiert Schmitt, der sagt, dass »Führertum und Artgleichheit als Grundbegriffe des nationalsozialistischen Rechts«44 bestehen. Wenn wir Artgleichheit als Synonym für Freundschaft und Intimität nehmen, sehen wir die konzeptionelle Verbindung zu dem spezifisch deutschen oder nationalsozialistisch pervertierten Konzept des Führertums, wodurch Freundschaft vermittelt durch die Idee des Bundes zu einer übertriebenen und tyrannischen politischen Beziehung wird. In Schmitts Verständnis kann jeder der Feind sein. Der Freund dagegen, so könnten wir jetzt argumentieren, ist der Führer, in dessen Person die ganze Gemeinschaft aufgehoben und vereinigt ist. Die an die Tradition anknüpfende, durch Aristoteles inspirierte Konzeption der Freundschaft bietet uns zumindest ein sinnvolles Gegenkonzept zur Führer-­ Bund-Vision der Politik, die, noch einmal, sowohl panpolitisch ist (jeder ist eng mit dem Führer vertraut) als auch unpolitisch (nichts bleibt von der Autonomie, Individualität und dem Pluralismus der Menschen und ihren Interessen, aus denen sich die Politik konstituiert). Der mit dem Konzept des Führer-Bundes arbeitende Begriff der Politik rechtfertigt keinen Krieg. Er ist jedoch entscheidend dafür zu verstehen, wie und warum Politik beseitigt und wie aus einer politischen Gemeinschaft ein totalitäres Regime werden kann, das wohl die höchste Form der Tyrannei ist. Kolnai zwingt Schmitt in »Der Krieg gegen den Westen«, wenn auch mehr implizit als explizit, die Karten auf den Tisch zu legen und sich zu den politischen Bindungen zwischen den Bürgern zu äußern. In der Konsequenz besteht die politische Rechtfertigung eines Kriegs, in diesem Fall eines Kriegs gegen den Westen, aus der Kolnai’schen Perspektive ­darin, dass man der Idee der Tyrannei Widerstand entgegensetzen sollte, da diese 43 44

Ebd., S. 104. Ebd., S. 185.

224

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nicht nur einige moralische Wahrheiten und Prinzipien gefährdet, sondern das menschliche Leben und die Moral als Ganze, so wie sie sich im individuellen und kollektiven Gewissen darstellt, ebenso wie die Politik als Modus gemeinsamen Nachdenkens über Werte, Tatsachen und Konflikte. Der nur moralische Widerstand gegen den Nationalsozialismus reicht nicht aus. Notwendig ist vielmehr eine umfassende politische und moralische Anstrengung, ihn zu bekämpfen, und zwar nicht deshalb, weil er anders ist oder eine existenzielle, wenn auch äußere Bedrohung darstellt, sondern weil er für unser Versagen steht. Die nationalsozia­ listische Ideologie, wie monströs sie auch sein mag, ist aus unserer Geschichte, unserer philosophischen Tradition und sogar, wenn Kolnai recht hat, aus unseren gemeinsamen christlichen Wurzeln entstanden. Sie mag eine Verfälschung und Entstellung großer Dinge und Ideen sein, aber, wie Prospero in der letzten Szene von Shakespeares Sturm zu Caliban sagt: »Und dies Geschöpf der Finsternis erkenn’ ich für meines an.«45 Indem er in »Der Krieg gegen den Westen« das nationalsozialistische Denken äußerst sorgfältig und mit unverkennbarer Faszination analysierte, hat Kolnai es als Teil der europäischen Geistes-, Politik- und Religionsgeschichte anerkannt. Dadurch konnte er Schmitts Position vermeiden, das Böse einfach als das andere zurückzuweisen, mit dem wir nichts gemeinsam haben. Das Böse ist in uns, und es zu bekämpfen, mag das letzte Opfer fordern und rechtfertigen. Der Krieg gegen den Nationalsozialismus ist damit ein traditioneller Krieg gegen eine Tyrannei. Er ist aber zugleich auch mehr als das, nämlich ein Krieg zur Wiederherstellung einer Ordnung. Es ist nicht nur ein negativer Krieg gegen etwas, kein bloßer Widerstand, sondern eine machtvolle Bekräftigung der richtigen Moral und politischen Ordnung. Mit Kolnais prägnanten Worte möchte ich diesen Text beenden: »Ein Verhalten ist dann schlecht, wenn es das persönliche, würdevolle, wohlgeordnete, materiell gesicherte Leben der in gemeinschaftlicher Solidarität vereinten Menschen entweder ausdrücklich oder symbolisch beeinträchtigt.«46

45 46

William Shakespeare, Der Sturm. In: ders., Sämtliche Werke, Essen o. J., S. 1–27, hier 25. Kolnai, The Fallacies of Pacifism, S. 180.



Chris Bessemans  Die Relevanz von Kolnais moralischer Phänomenologie: Moralisches Bewusstsein und Antiutopismus

Die Entdeckung der »menschlichen Welt« Kolnais politische Philosophie ist durch eine subtile konservative Haltung gekennzeichnet. Kolnai lehnte sowohl die moderne Demokratie als auch den Totalitarismus wegen ihres Bekenntnisses zu einer Identität und ihrer Unfähigkeit ab, das Gute oder andere Werte auf angemessene Weise auf der Grundlage der menschlichen Verfassung und der Anerkennung der Bedeutung von Partizipa­ tion und Recht anzuwenden. Anders gesagt, wies Kolnai die Illusion von Gleichheit und harmonischer Identität zurück. Während der Totalitarismus natürlich dem normalen menschlichen Leben, so wie wir es kennen und schätzen, entgegensteht, folgt die moderne liberale Demokratie den Ideen der Identität und Selbstbehauptung des Menschen, die für Kolnai unweigerlich zu menschlicher Selbstversklavung oder zumindest zur Deformation des Menschseins führen. Das liegt an ihrer Missachtung der Pluralität oder der Tatsache, dass wahre politische Freiheit gegründet sein muss in der Anerkennung, dass wir an einer schon gegebenen Welt teilhaben, in der der Mensch nicht absoluter Herrscher ist.1 Auch wenn Kolnai sicher nicht gegen die Demokratie war, hielt er die moderne Demokratie doch für anfällig gegenüber einem identitären Egalitarismus, was sie für den utopischen Glauben an eine umfassende Identität und die mögliche Überwindung von Widersprüchen, Heterogenität und Pluralität empfänglich mache. Deshalb betont Kolnai sowohl in seiner politischen als auch in seiner Moralphilosophie die Notwendigkeit der Erneuerung des auf dem gesunden Menschenverstand gegründeten Urteilens und Denkens. Das Verbindungsglied zwischen Kolnais politisch-philosophischen und seinen ethischen Schriften2 ist sein A ­ nliegen,

1 2

Aurel Kolnai, Privilege and Liberty and Other Essays in Political Philosophy. Hg. von Daniel J. Mahoney, Lanham 1999, S. 14. So auch Daniel J. Mahoney in seiner Einleitung zu Kolnai, Privilege, S. 3 f.

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der normalen menschlichen Welt und dem gesunden Menschenverstand ihre Bedeutung für die philosophische Reflexion zurückzugeben. Zweifellos ist Kolnais politische Philosophie durch diese Absicht und dadurch auch durch seine ethischen Ansichten geprägt. Das erklärt, weshalb Kolnai häufig moralische Kategorien auf die Politik und die politische Philosophie angewendet hat.

Die utopische Mentalität Dieses Vorgehen findet sich vor allem in Kolnais antiutopischen Schriften, die deshalb bestens dafür geeignet sind, die Verbindung zwischen seinen politischen und ethischen Arbeiten zu verstehen. Der Utopismus folgt aus einem verzerrten Glauben an die Möglichkeit der Vollkommenheit und die trügerische Idee, dass die menschliche Verfassung von vielfältigen Konflikten, Spannungen und Unvollkommenheiten befreit werden könne. Er hat seinen Ursprung in der permanenten menschlichen Versuchung, dem Wunsch nachzugeben, Spannungen im gewöhnlichen praktischen Leben zu vermeiden und zu beseitigen und dasjenige, was uns wichtig ist oder nach dessen Vervollkommnung wir streben, zu verbessern. Diese Tendenz liegt der utopischen Haltung zugrunde, dass wir unsere durch Spannungen und Konflikte bestimmte menschliche Verfassung überwinden müssen. Kolnais Herangehen verdeutlicht, dass das Problem die utopische Mentalität ist: eine bestimmte Idee, ein Begriff oder eine Haltung, für die wir alle empfänglich sind, die wir jedoch nicht umfassend und stimmig begreifen können. Diese Inkohärenz ergibt sich daraus, dass es für den utopischen Denker unmöglich ist, die Identität zwischen Wert und Wirklichkeit, nach der er zu streben behauptet, tatsächlich zu begreifen. Es ist unmöglich, unsere menschliche Verfassung zu überwinden und eine neue Wirklichkeit an ihre Stelle zu setzen. Deshalb klammert sich der utopische Denker an den utopischen Willen als Vergewisserung, dass er nach dem höchsten Gut strebt, wonach alle Unvollkommenheiten, Spannungen und also auch die Heterogenität beseitigt werden müssen. Terror ist die Kehrseite des utopischen Verlangens. Darin liegt der Widerspruch des Utopischen: Der ideale nichtentfremdete Daseinszustand lässt sich nur durch die revolutionäre totale Entfremdung erreichen. Kolnai hat seine Überlegungen als konzeptionelle und phänomenologische Studie der utopischen Mentalität vorgelegt, die aus seiner Sicht deshalb auch ohne historische Erläuterung und den Nachweis ihrer situativen Bedeutung auskam. Sein Antiutopismus ist zugleich auch eine moralische Anthropologie, die die Wurzeln der selbstzerstörerischen menschlichen Versuchungen aufzeigt, die in dem illusorischen Glauben gründen, die Überwindung der Entfremdung sowie Vollkommenheit und Identität seien möglich. Er ist zugleich eine Mahnung und herausragende Beschreibung der Mechanismen des Totalitarismus. Verkürzt

Kolnais moralische Phänomenologie

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gesagt, arbeitet Kolnai den Utopismus als illusorischen Glauben an die Möglichkeit der Überwindung der konfliktreichen und problematischen menschlichen Verfassung heraus, der eine Identität von Wert und Wirklichkeit verspricht. Der Glaube an eine solche Identität bestimmt die Handlungen und führt zu ernsthaften Störungen, die der gesunde Menschenverstand niemals akzeptieren würde, die jedoch als notwendige Übergangserscheinungen zur Erreichung einer idealen Ordnung verkündet werden.

Kolnais ethische Phänomenologie Kolnai hat sein Interesse an realistischer Phänomenologie und Common-sense-­ Philosophie oder Intuitionismus in einer Sicht zusammengeführt, die vor allem die philosophische Relevanz und Bedeutung normaler moralischer Erfahrung und phänomenologischer Beschreibung und Reflexion ethisch relevanter Phänomene herausstellt. Dadurch war es ihm möglich, einen besonderen moralischen Kognitivismus und Kontextualismus zu entwickeln, der von Bedeutung für den moralischen Realismus und die Objektivität und Universalisierung moralischer Urteile war.3 Kolnai wies rationalistische und reduktionistische Tendenzen der ethischen Theorie zurück und verfolgte die Idee, dass Ethiker, anstatt moralische Phänomene wegzuerklären, diese angemessen erfassen sollten. Er war überzeugt, dass die ethische Theorie von der in der Wirklichkeit existierenden Moral ausgehen müsse und dass dafür die Phänomenologie die einzig angemessene Methode sei. Darüber hinaus führten ihn seine Überlegungen zur gewöhnlichen Moral zu der Überzeugung, dass der Wert die wichtigste Kategorie der Ethik sei. Für ihn erschloss die ethische Phänomenologie, dass wir ein Wertebewusstsein haben, das heißt, dass wir für einen vormoralischen Sinn empfänglich sind und dass wir mit einem moralischen Bewusstsein bzw. einer moralischen Sensibilität ausgerüstet sind. Die Moral bezieht sich auf dieses vormoralische Wertebewusstsein, das sie gegen die Untergrabung des Wertvollen und Guten, also gegen das Böse, schützt, auch wenn sie selbst auf ursprünglichen positiven Werten gründet. Es ist dieses moralische Bewusstsein, auf das sich Kolnai mit seinem Begriff der moralischen Emphase bezieht. Weil wir empfänglich für das Wertvolle sind und uns bewusst ist, was in der Lebenspraxis wertvoll ist, sind wir auch empfänglich für die moralische Emphase. Dieser Begriff der moralischen Emphase erlaubt es uns, all das zu erfassen, was moralisch relevant oder bedeutsam ist. Es handelt sich dabei

3

Vgl. Chris Bessemans, A short introduction to Aurel Kolnais moral philosophy. In: Journal of Philosophical Research, 38 (2013), S. 203–232; sowie ders., Moral conflicts and moral awareness. In: Philosophy, 86 (2011) 4, S. 563–587.

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weder um eine einfache psychische Begleiterscheinung noch um die Eigenschaft eines Objektes. Vielmehr gehört die moralische Emphase zu einem Objekt oder Sachverhalt und drückt die Beziehung zwischen einem Sachverhalt bzw. Objekt und einem Subjekt aus. Das moralische Subjekt kennt die Folgen seines Handelns und Verhaltens. Dieses Bewusstsein ist durch einen oder mehrere Werte verursacht und dadurch bestimmt, was der Handelnde für wichtig hält. Diese Werte sind dem Handelnden entweder in einer bestimmten Situation bewusst, oder sie beziehen sich auf mögliches Verhalten und seine Konsequenzen. Für Kolnai ist die Anerkennung des bereits Gegebenen und dessen, was wir durch einfaches Denken verstehen können, die entscheidende Quelle der Wahrheit. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Kolnai »eine auf der Phänomenologie des Wertebewusstseins gegründete analytische Ethik entwickelt hat«.4

Nationalistische Ideologie und moralischer Nihilismus In seinen wahrscheinlich 1939 geschriebenen »grundlegenden Prinzipien der NS-Ideologie«5 beschrieb Kolnai die nationalsozialistische Ideologie als Grundlage des offiziellen Parteiprogramms. In diesem Essay argumentierte er gegen die Annahme, der Nationalsozialismus habe keine Philosophie, da seine Ideologie moralisch nihilistisch sei: Die nationalsozialistische Ideologie lehnt alle moralischen Normen ab und ersetzt sie durch einen auf rassischer Gliederung der menschlichen Gesellschaft gegründeten Dynamismus. Sie bietet eine auf Werten aufgebaute Anthropologie, während sie zugleich indifferent gegenüber den wirklichen Normen der Ethik wie der objektiven, universalisierbaren Beurteilung von Handlungen, Verhalten und Politik ist. Die Berufung auf den objektiven Wert in der menschlichen Gemeinschaft wird ersetzt durch das, was in einer besonderen Gemeinschaft als wertvoll und wahr und, da es sich um unsere Werte handelt, als besser gilt. Entscheidend für diese Entwicklung ist die Rolle totaler Macht, die Gewissheit und Orientierung und eine, wenn auch fiktive Identität bietet, wo nichts anderes mehr gilt. Diese wird durch den absoluten Herrscher und seinen Willen, der die Seele der Gemeinschaft verkörpert, garantiert. Das Ziel einer neuen Menschheit und Zivilisation kann jedoch durch das Streben nach politischer Hegemonie und Macht und die totale Mobilisierung nicht erreicht wer-

4 5

David Wiggins und Bernhard Williams, Einleitung. In: Aurel Kolnai, Ethics, Value and Reality: Selected Papers of Aurel Kolnai. Hg. von Francis Dunlop und Brian Klug, London 1977, S. xxii. Vgl. Aurel Kolnai, Die grundlegenden Prinzipien der NS-Ideologie (1939). In: Totalitarismus und Ideologie. Zeitschrift für internationale Diktatur- und Freiheitsforschung, 7 (2010) 2, S. 287–300.

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den, wodurch die Affinität zu einer Utopie noch deutlicher wird. Das damit verbundene Übel wird als Übergangsmaßnahme dargestellt oder noch schlimmer: »Durch ihre Entschlossenheit zur Kriegführung unterstreicht die Nazi-Macht, dass eine höhere Heiligkeit, eine übermoralische Rechtfertigung […] auf ihrer Seite sind.«6 Der diesem totalen Streben nach Fortschritt immanente Widerspruch besteht, so Kolnai in »Progress and reaction«,7 »in dem unmöglichen Ziel bzw. dem nicht realisierbaren Konzept des Menschen, der sich als sein eigenes Seinsprinzip setzt und damit als unmittelbar und absolut gut, ohne etwas Höheres anzuerkennen, das über seinen Willen hinausgeht«.8 Problematisch an diesem Streben ist die Diskontinuität zwischen dem, was wir sind und wonach wir streben, und den davon grundsätzlich unterschiedenen Bedingungen, die wir hervorzubringen versuchen. Noch einmal: Es ist uns nicht möglich, einen über unser eigenes Sein hinausgehenden künftigen Seinszustand zu bestimmen. Es hat keinen Sinn, »eine Zukunft im Bruch mit der Gegenwart zu schaffen«.9 Außerdem gibt es keine Möglichkeit zu bestimmen, ob es Fortschritt gibt. Im gleichen Text führt Kolnai aus, weshalb die Rechte oder der Konservatismus gegenüber der Linken zunächst einen Vorteil hat. Während die Linke eine Art Naturgesetz oder die Geschichte braucht, in der Kontinuität und Veränderung eine wichtige Rolle spielen, sind Konservative mehr damit beschäftigt, was von Wert ist, wobei sie sich vorrangig auf mögliche Bedrohungen oder Störungen konzentrieren. Der Progressivismus ist viel monistischer und totalitärer, da er an ein einheitliches Bewusstsein appelliert, das erweckt werden müsse, um nach totaler Identität und Einheit der Menschen zu streben. Natürlich ist die Rechte in anderer Hinsicht unterlegen: Sie mag zum Traditionalismus führen oder zur Zustimmung gegenüber dem Verbesserungsfähigen. Und sie neigt dazu, willkürlich eine bestimmte Gruppe, Gemeinschaft, Zeit oder Kultur zu favorisieren. Für Kolnai ist die einzige Lösung hier die Anerkennung der Pluralität und des Primats objektiver Werte sowie das Streben nach schrittweisen Verbesserungen.

Moralische Bewusstheit Kolnai hat an seinen philosophischen und ethischen Überzeugungen sein ganzes Leben lang festgehalten. In seinen ethischen Reflexionen bestand er darauf, dass jede philosophische Studie zur Moral der phänomenologischen Methode folgen

6 7

Ebd., S. 296. Kolnai, Progress and reaction (CEPPA, Kolnai archives St Andrews, box 1, folder ›Political thought‹). 8 Ebd., S. 4 f. 9 Ebd.

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sollte, um ethische Phänomene zu beschreiben. Um die Moral angemessen zu erfassen, müssen ethische Reflexionen von der moralischen Erfahrung und »dem existierenden Guten«10 ausgehen. Nur dann, wenn er »von der lebendigen Wirklichkeit ausgeht«,11 kann der Moralphilosoph die Moral verstehen. Für Kolnai war der Ausgangspunkt die Tatsache, dass das Leben selbst und seine Bestandteile vormoralische Bedeutung haben. Diese Überlegung scheint plausibel, da wir uns nicht nur daran erfreuen, am Leben zu sein, sondern auch das schätzen, was unser Leben ausmacht, also die Beziehungen zu anderen Menschen, unsere Ziele und Projekte, die Dinge, die wir genießen usw. Außerdem scheint es so etwas wie eine natürliche Neigung zu Menschlichkeit und Nächstenliebe und eine ebenso natürliche Abneigung gegenüber dem radikal Bösen zu geben. Die erste Beobachtung hat Kolnai z. B. so beschrieben: »Wenn jede Werteproduktion ihren Ausgangspunkt in gegebenen Werten der Wirklichkeit hat, so wie das sicher im Allgemeinen und ganz offensichtlich in der ethischen Sphäre der Fall ist, müssen wir anerkennen, dass das Sein oder das Gegebene als solche einen bestimmten ihnen eigenen Wert haben. […] Das, aus dem heraus wir handeln, muss schon grundsätzlich gut sein.«12 Das bedeutet, dass »die Praxis des Lebens a priori gut ist«13 oder dass die menschliche Wirklichkeit als solche schon »als moralisch wertvolle Existenzweise«14 erfahren und vorausgesetzt wird. Das schließt natürlich ein, dass wir die Bestandteile des Lebens werten und dass wir sensibel und empfänglich für den Wert und das Wertvolle sind. Aus Kolnais Sicht wird auch das von der ethischen Phänomenologie offenbart. Die Beobachtung, dass wir das Leben und seine Bestandteile vormoralisch schätzen, enthüllt, dass Menschen bewusst ist, was Wert hat, und dass das Gute existiert, welches sie bewerten. Kolnai bietet jedoch keine von der phänomenologischen Beschreibung verschiedene Rechtfertigung für dieses Wertebewusstsein und die entsprechende Erfahrung. Auch wenn er »die primären Daten der Ethik« in seiner Dissertation15 spezifizierte und weitere phänomenologische Beschreibungen der gewöhnlichen Moral in seinen späten ethischen Schriften gab, blieb er davon überzeugt, dass »der phänomenologische Ansatz sich als der fruchtbarste bewährt hatte und nicht daran gezweifelt werden könne, dass das Konzept des moralischen Wertes als Währungseinheit der Ethik gesehen werden müsse«.16

10 11 12 13 14 15 16

Aurel Kolnai, Early Ethical Writings of Aurel Kolnai. Hg. von Francis Dunlop, Aldershot 2002, S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 39. Kolnai, Ethics, S. 104. Ebd., S. 105. Kolnai, Early Ethical Writings, S. 17 f. Ebd., S. 20.

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Für Kolnai können Fragen zur Berechtigung solcher phänomenologischer Ansprüche wie dem, dass Werte in der Wirklichkeit existieren, nur durch die phänomenologische Beschreibung selbst beantwortet werden. Weiterhin müssten sie gründen auf der »Auseinandersetzung mit der Metaphysik. Die reine Ethik muss sich mit dieser Annahme zufriedengeben, ebenso wie die Logik davon absehen muss, die Existenz von Wahrheit oder Falschheit zu behaupten oder gar zu beweisen, was sich auf dieser Voraussetzung begründen lässt. Es lässt sich schwer vorstellen, wie wir uns angemessen mit der Ethik beschäftigen können, ohne das Gute und Böse und den Konflikt zwischen ihnen zu empfinden.«17 Kolnai bestand auf der Unverzichtbarkeit der phänomenologischen Methode für das Verständnis der Moral und damit der Notwendigkeit, jede philosophische Reflexion mit der Beschreibung ethischer Phänomene zu beginnen. Da solche Beschreibungen und die Phänomenologie im Allgemeinen häufig von moderner Moralphilosophie ignoriert werden, eröffnet Kolnai eine bedenkenswerte Alternative, um moralische Phänomene durch Beschreibung und Reflexion angemessen und besser zu verstehen und dabei die gewöhnliche moralische Erfahrung zu berücksichtigen. In Kolnais Ansatz scheinen die Erfahrung und der Wert des Guten und dessen Wertung im gewöhnlichen Leben eingebettet zu sein. Werteerfahrung und Wertung sind uns in einem vormoralischen Sinn nicht fremd. Deshalb kann man sagen, dass das Leben mit moralischen Bedeutungen aufgeladen ist. Diese Beobachtung des vormoralischen Bewusstseins spielt eine wichtige Rolle in seiner Moralphilosophie. Dennoch lässt sich damit allein die Moral noch nicht erklären, wohl aber unsere vormoralischen Probleme. Kolnai machte noch eine weitere Beobachtung: Die Moral betrifft insbesondere die Erhaltung, den Schutz und die Verbesserung des Guten, wodurch deutlich wird, weshalb »das Gute eine eigene Wirklichkeit in sich selbst, gleichzeitig aber eine abwesende und unvollkommene Wirklichkeit ist«.18 Kolnai bestand weiterhin darauf, »dass die moralische Erfahrung vor allem ein Interesse daran voraussetzt, das Böse und den Widerstand gegen das Böse selbst zu erfahren«,19 da »das moralisch Böse im Zusammenhang des Lebens steht«20 und uns deshalb »mit noch größerer moralischer Wucht als das Gute trifft, da es mit der Gestaltung des Lebens selbst weniger zu tun hat«,21 und schlimmer noch, »gegen das Leben wirkt«.22 Deshalb beginnt emphatische moralische Erfahrung mit dem

17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 17. Ebd., S. 13. Ebd., S. 18. Ebd., S. 126. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126.

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Schutz vor dem Bösen, also damit, das Schlechte zu vermeiden oder auszuschließen, da es die gute Ordnung deformiert oder sogar zerstört. Diese Abwehrhaltung ist mitverantwortlich für die Beziehung zwischen der vormoralischen Existenz des Guten, unserem Bewusstsein von seiner Existenz und der Moral selbst. Für Kolnai sind auch mit Werten aufgeladene Handlungen unmittelbare Erfah­ bereinstimmung rungen moralischer Werte. Zugleich sind diese jedoch, da sie in Ü mit der Ordnung des Guten stehen, niemals in gleicher Weise Ausdruck einer emphatischen Moral, da sie nicht die gleiche Dringlichkeit haben wie Handlungen, die aus der Erfahrung des negatives Wertes oder, wie es Kolnai in seiner Dissertation nennt, des Ausschlusses kommen. Außerdem ist der Ausgangspunkt der Moral die Erfahrung des Guten oder positiver Werte und nicht die emphatische Erfahrung des Ausschlusses, die thematisch primär ist. In seinen späteren Schriften »Morality and Practice«23 hat Kolnai das explizit formuliert: »Es gibt eine vormoralische Ordnung des Guten, die auf den moralischen Druck dieser Ordnung und ihrer Loyalitäten reagiert. Was im gegenwärtigen Zusammenhang zählt, ist die Zweitrangigkeit des Bösen mit Bezug auf das Leben, das als gut angenommen wird, und zwar nicht als Verkörperung moralischer Tugend, sondern als Nährboden von Befriedigungen, gegenseitiger Versorgung und Modi der Anerkennung von Wertschätzung; eine Ordnung, die Zustimmung einfordert und das ontologische Primat des Guten behauptet. Zu ihr gehört das thematische Primat des Bösen, das sich auf ein spezifisches moralisches Bewusstsein bezieht.«24

Vormoralisch schätzen wir, was gut ist, und missbilligen, was schlecht ist. Moral entsteht dann, wenn uns bewusst wird, ob unsere Handlungen in Übereinstimmung mit dem Guten sind oder ihm entgegen stehen, wodurch uns klar wird, ob wir richtig oder falsch handeln. Das moralische Bewusstsein oder das Gewissen klären uns über unser Verhalten und seine moralische Bedeutung auf, also über seine Bedeutung für das, was von Wert ist.25 Nun verstehen wir, dass wir nur in Bezug auf das schon existierende gute Leben, »nur in seinem Referenzrahmen und vor seinem Hintergrund das Gute dem Schlechten gegenüberstellen können«.26 Der Maßstab des Guten ist die schon existierende Lebensweise. Während es eine Übereinstimmung zwischen dem praktischen Alltagsleben und dem moralisch Guten zu geben scheint, besteht zwischen dem normalen Leben und dem moralisch Schlechten eine Diskrepanz und Diskontinuität.

23 24 25 26

In: Kolnai, Ethics, S. 63–122. Ebd., S. 85. Kolnais Sicht unterscheidet klar zwischen dem, was richtig oder falsch oder moralisch böse ist, und dem, was gut oder schlecht ist. Die Handlung kann falsch sein, auch wenn die Intentionen des Handelnden gut waren und umgekehrt. Kolnai, Ethics, S. 83.

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Das Letztere passt zu Kolnais Erklärung. Die Annahme, dass die Moral primär eine Art Schutz der normalen und guten Ordnung ist, erklärt plausibel, weshalb Menschen darauf bestehen, nichts Schlechtes zu tun. Was uns beunruhigt, sind Brüche in unserem Leben wie Krankheit, Unglück, Katastrophen und Verbrechen. Es scheint dann, als würde das moralisch Böse die existierende wertvolle gute Ordnung des Lebens korrumpieren, zerstören und negieren. Da wir schon den Wert des Lebens selbst ebenso wie in der Realität bereits existierende moralische und nichtmoralische Werte schätzen, können wir diese emphatisch erleben, wenn sie geschützt werden müssen. Der vormoralische Wert des Lebens wird vorausgesetzt und gebraucht, um das moralisch Böse zu verstehen. Wenn man den Wert des irdischen Lebens nicht schätzt, versteht man nicht, dass Unmoral das Ende aller Werte ist, die sie überschattet. Zwar können moralische Werte nicht aus natürlichen Sorgen und Nöten abgeleitet werden,27 was jedoch nicht heißt, »dass diese nicht im Zusammenhang des Lebens und seiner nichtmoralischen Primärnöte interpretiert werden können«.28 Kolnai beschreibt zwei primäre Phänomene. Das erste ist, dass moralische Intuitionen und die Häufigkeit moralischer Wertungen und Urteile in jeder Gesellschaft Beleg für den universalen Charakter des ethischen Bedürfnisses29 sind, das definiert ist als »Streben nach ethischer Selbstbehauptung und Orientierung auf der Grundlage habituellen, wenn auch unbewussten Denkens in ethischen Kategorien«.30 Es ist eine Tatsache, dass die Wirklichkeit, also das, was gegeben ist und uns geschieht, oder was wir erreichen wollen, oft in moralischen Begriffen verstanden wird. Es scheint damit richtig zu sein, dass wir unsere Wirklichkeit immer schon werten und dass die Moral sich auf vormoralische Werte oder das bereits existierende Gute bezieht. Das zweite Phänomen, auf das Kolnai aufmerksam machte, ist die Tatsache, dass die ethische Phänomenologie aufdeckt, dass die Menschen »moralisch bewusste Wesen sind«.31 Die Rolle moralischer Sensibilität, des moralischen Bewusstseins, mit dem Menschen ausgestattet sind bzw. die Bedeutung des moralischen Bewusstseins sowie des Gewissens sollte nicht unterschätzt werden. Das moralische Bewusstsein ist eine spezifische Form des Wertebewusstseins, in dem es darum geht, wie menschliche Handlungen und Verhalten sich zu den Werten und dem Guten verhalten, derer wir uns schon vormoralisch bewusst sind.

27

Vgl. z. B. Aurel Kolnai, The thematic primacy of moral evil. In: The Philosophical Quarterly, 22 (1956) 6, S. 27–42, hier 27. 28 Ders., Exploring the world of human practice: readings in and about the philosophy of Aurel Kolnai. Hg. von Francis Dunlop und Zoltán Balázs, Budapest 2004, S. 53. 29 Vgl. ders., Der ethische Wert und die Wirklichkeit, Freiburg 1927, S. 7. 30 Ders., Early Ethical Writings, S. 17 f. 31 Ders., Ethics, S. 96.

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Das besondere moralische Bewusstsein32 ist Teil des Gewissens, das Kolnai so beschreibt: »Das Gewissen verweist nicht vorrangig auf moralische Überzeugungen, sondern auf das moralische Bewusstsein und Selbstkritik – Reue, Warnung, Entlastung oder Zustimmung in Bezug auf das eigene Verhalten: die Vergangenheit, die Gegenwart oder das vorläufig Geplante. Das Gewissen unterstreicht die Bedeutung des moralischen Urteils für die Formung des eigenen Verhaltens. Es ist nicht nur die Aufgabe meines Gewissens, konkrete Verpflichtungen gegenüber universellen moralischen Gesetzen einzufordern, die es als für mich verbindlich aufzeigt, sondern diese so anzuwenden, zu spezifizieren und zu ergänzen, dass sie zum moralischen Aspekt meiner konkreten Situation passen. Es geht also nicht nur darum, mein allgemeines Wissen von richtig und falsch zu bestätigen und mich dazu zu bringen, das Richtige zu tun und das Falsche bleiben zu lassen, sondern mir zu sagen, was jetzt und hier richtig oder falsch ist, und damit die Moral meines aktuellen Verhaltens zu bestimmen.«33

Die Normativität der Moral ergibt sich daraus, dass wir schon vormoralisch das Leben und seine Bestandteile werten und schätzen. Da die Moral den Schutz dessen betrifft, was wir schon schätzen, sollten wir moralisch handeln und uns auch der moralischen Bedeutung unseres Handelns und Verhaltens bewusst sein. Kolnai hebt weiter hervor, dass das moralische Bewusstsein uns über unser Verhalten in einer bestimmten Situation aufklärt. Es sagt uns, ob wir richtig oder falsch handeln und ob wir in Übereinstimmung mit dem Guten handeln oder ob unsere Handlungen diesem entgegenstehen. Aber auch das Gewissen bleibt ein moralisches Urteil und kann wie jedes Urteil auch falsch sein. Gleichzeitig ist jedes Urteil dadurch gekennzeichnet, dass wir danach streben, die Dinge in Ordnung zu bringen und richtig zu urteilen, also in Übereinstimmung damit, wie die Dinge wirklich sind. Auch hier zeigt sich wieder Kolnais Konzept eines moralischen Realismus. Es gehört zu unserem Gewissen, zu zweifeln, nach der Wahrheit und Richtigkeit zu streben und den Irrtum zu fürchten. Genau das sagt Kolnai, wenn er schreibt: »Das Gewissen, welches nicht hofft, richtig zu sein oder fürchtet, sich zu irren, ist kein Gewissen im herkömmlichen Sinn moralischer Selbstkritik, des Urteilens und Glaubens. Es strebt nach Wahrheit, versucht den Irrtum zu vermeiden und drückt faktisch das Bemühen des Handelnden aus, seine Entscheidungen mit universellen Begriffen zu begründen und sein Verhalten öffentlich gegenüber der objektiven Moral zu rechtfertigen.«34 Eben wegen dieser moralischen Rechtfertigung gehört es zum Gewissen dazu, uns mitzuteilen, »dass wir das richtige Gewissen haben sollten«.35 Einem falschen Gewissen zu folgen, reicht nicht aus, um unsere Entscheidungen zu rechtferti-

32 33 34 35

Dieser Abschnitt bis Fußnote 37 ist übernommen aus Bessemans, Moral conflicts. Kolnai, Ethics, S. 4. Ebd., S. 7. Ebd., S. 6.

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gen. Das wird durch die Beobachtung bestärkt, dass unser eigenes Gewissen nicht nur unser vergangenes Verhalten und Gewissen beurteilt und kritisiert, sondern auch dadurch, dass andere und auch wir »von einem Menschen erwarten, dass er sich richtig und entsprechend seiner Wertung verhält. Wir halten jemanden, der guten Gewissens sündigt, für schuldig und missbilligen eine Person moralisch, wenn sie falschen Werten folgt.«36 Wir erwarten, dass richtiges Handeln aus bewusst getroffenen richtigen Entscheidungen folgt. Außerdem erwarten wir, dass jemand ein richtiges Gewissen hat und loben ihn nicht dafür, einem fehlerhaften Gewissen zu folgen. Das erklärt, warum moralische Konflikte uns auch etwas über den moralischen Charakter des Handelnden erzählen und unweigerlich dazu führen, dass wir diesen entweder kritisieren oder loben.37 Dieses moralische Bewusstsein durch die moralische Emphase wird »als Verpflichtung auf den Wert verstanden, als Gefühl, dass im eigenen Handeln Werte wirken. Das Gefühl kann sich in einer Reihe von wertenden Haltungen ausdrücken, von Anerkennung, Entscheidungen oder Projekten – als Gefühl für den Wert der Objekte oder Ziele, als Gefühl, dass man verpflichtet ist, etwas Bestimmtes zu tun oder als Gefühl der Dringlichkeit von etwas usw.«38 In seinem Buch »Morality and Practice« beschreibt Kolnai diese Emphase als »die besondere charakteristische Eigenart jeder Erfahrung, die uns als moralisch relevant erscheint, als Unterton der Warnung, Nötigung, des Einspruchs und der Anweisung, der mit absoluter und unbedingter Ernsthaftigkeit daherkommt«.39 Die moralische Emphase drückt damit die Beziehung zwischen der objektiven Existenz der Werte und der Sensibilität des Subjekts aus. Die Empfänglichkeit des Subjekts, das sich der moralischen Relevanz dessen, dem es gegenübersteht, bewusst ist, entweder als etwas, das der Fall ist, oder als etwas, das seinen Handlungen immanent ist, oder auch als gestörte, abwesende Wirklichkeit, konfrontiert den Handelnden mit dem Wert, unabhängig davon, ob er das will und dem gewachsen ist oder nicht. Mehr noch wird von einem Menschen erwartet, moralisch verantwortlich zu handeln und durch die Präsenz moralisch relevanter Werte positiv, auf ihr Fehlen jedoch mit Unbehagen zu reagieren. Gleichzeitig sieht Kolnai jedoch auch die Schwierigkeit und sogar Unmöglichkeit, die moralische Emphase und Werteerfahrung umfassend zu b ­ eschreiben. Er

36 Ebd., S. 1. 37 Dann, wenn der Konflikt äußerst schwer zu lösen ist oder ein Dilemma einschließt, orientiert sich das moralische Urteil am Bewusstsein und der Absicht des Handelnden und nicht so sehr an seiner Entscheidung und dem Resultat. 38 Kolnai, Ethics, S. 63 f. 39 Ebd., S. 100.

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hob jedoch richtig hervor, dass »das Problem darin besteht, die Unterstellung oder ­ nmittelbare moradas Postulat zu vermeiden, dass eine einheitliche Ethik unsere u lische Erfahrung und unsere vielfältige moralische Emphase verdrängen könnte. Der Versuch, das moralische Bewusstsein zu verstehen, ist so lange gerechtfertigt, wie er nicht dazu entartet, moralische Intuitionen hinwegzuinterpretieren, um ihre vermeintliche Obskurität loszuwerden. […] In der Tat gehört eine nicht durchdringbare Undurchsichtigkeit zum Wesen der moralischen Emphase.«40 Dieses Phänomen, um das herum Kolnai seine Philosophie entwickelt hat, kann nicht umfassend artikuliert werden. Es scheint, als ob moralische Sensibilität am Ende von der menschlichen Verfassung abhängt: Das, was wir sind, sensibilisiert uns für Werte und macht uns bewusst, was an unseren Handlungen moralisch relevant ist. Die phänomenologische Methode zeigt, dass sowohl das Wertebewusstsein als auch die Vielfalt der Werte keine Fiktion sind, sondern dass sie der gewöhnlichen menschlichen Praxis entsprechen. Folgerichtig muss jeder Versuch, »die Vielfalt der Werte und ihre Erfahrung und Untersuchung durch die Einführung besser handhabbarer Konzepte wie des Nutzens, des Gesetzes oder des Genusses zu vermeiden, die das direkte Begreifen ethischer Werte ersetzen sollen, zurückgewiesen werden«.41 Kolnai entwickelt seine Moralphilosophie um eine vormoralische, bereits existierende wertvolle und gute Ordnung. Seine Dissertation enthielt den Kern seiner späteren Moralphilosophie fast vollständig.42 Seine phänomenologische ­Überzeugung taucht explizit in seinen Schriften »Morality and Practice«, »The Thematic Primacy of Moral Evil«43 ebenso wie in »A note on the meaning of Right and Wrong«44 und seinen antiutopischen Werken45 wieder auf und spielte in allen seinen ethischen Schriften eine Rolle. Kolnai beschrieb jedoch auch die implizite und positive Moral und reduzierte diese nicht auf die negative oder thematische Moral.

40 41 42 43

44 45

Ebd., S. 119. Kolnai, Early Ethical Writings, S. 19. Ebd., S. xviii (Dunlops persönliches Gespräch mit Kolnais Ehefrau Elisabeth). Vgl. Kolnai, Thematic Primacy. Kolnais ethische Ansichten, insbesondere die vom Primat des Bösen ebenso wie sein Bestehen auf dem konfliktträchtigen Charakter der menschlichen Verfassung sind eng mit seinen antiutopischen Schriften verbunden. Erst deren Berücksichtigung würde es ermöglichen, Kolnais ethische Ansichten umfassend zu verstehen. Vgl. Aurel Kolnai, A note on the meaning of Right and Wrong. In: Scientiis Artisbusque, 1958 (for the Hungarian Catholic Academy of Science and Art in exile). Wiederveröffentlicht in: Kolnai, Exploring the World, S. 45–57. Vgl. Aurel Kolnai, The Utopian Mind and Other Papers. A Critical Study in Moral and Political Philosophy. Hg. von Francis Dunlop, London 1995.

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Meta-Ethik Aus der Vielfältigkeit moralisch relevanter Probleme folgt, dass Handelnde, wenn sie in einer normativ aufgeladenen Situation mit praktischen Entscheidungen konfrontiert sind, zwischen verschiedenen Werten und Belangen wählen müssen. Diese unterschiedlichen Werte und Belange, von denen nicht alle gleich gewichtig sind, zwingen sie, auf verschiedene Weise zu handeln. Deren Bedeutung hängt ab von den jeweiligen Umständen. Damit ist das Phänomen der Abstufung angesprochen, das aus Kolnais Wertepluralismus folgt und ein anderes wichtiges Thema seiner Ethik ist. Abstufung meint, dass in einer bestimmten Situation moralische Überlegungen von einer objektiven hierarchischen Werteordnung und anderen nichtmoralischen Bedingungen abhängen. Einige Werte und Belange sind objektiv höher oder stärker als andere, denen gegenüber sie, wenn auch nur in diesem bestimmten Kontext, Priorität einfordern. Dem sensiblen Handelnden ist diese hierarchische Ordnung aufgrund der dringlicheren oder stärkeren Gewichtung einiger dieser Werte und Belange bewusst. Kolnai erklärt diese hierarchische Werteordnung mithilfe des Konzepts moralischer Gewichtung und seinem Objektivismus und Kontextualismus. Insbesondere hat, wie Dunlop schrieb, »Kolnai Schelers These aufgenommen, dass Werte in einer Werteordnung stehen, die entsprechend ihrer Höhe gestaffelt sind. Dieses Konzept hat er zu einer Werteordnung entsprechend der moralischen Gewichtung dieser Werte mit Bezug auf die Wirklichkeit transformiert.«46 Die Stärke einer Überlegung hängt ab von ihrer Gewichtung, die ihrerseits bestimmt ist von den Menschen, die dabei involviert und betroffen sind, von den Umständen usw. Die dynamische hierarchische Abstufung der Werte bedeutet, dass das, was man tun soll, durch die Stärke der entsprechenden moralischen Gewichtung bestimmt ist. Das wiederum heißt, dass das Nachdenken darüber, was getan werden muss, geprägt ist durch das Urteilsvermögen des Handelnden, was von Bedeutung ist. Man kann sagen, dass sich uns die moralische Bedeutung durch einen moralischen Wert oder eine moralisch relevante Tatsache erschließt. Die moralische Bedeutung ist die unwiderstehliche Anziehungskraft eines moralischen Wertes oder von etwas, das moralisch relevant ist, deren Wirkung von den Umständen abhängt. Zum Beispiel kann es in einer bestimmten Situation wichtiger sein, nicht die volle Wahrheit zu sagen, um jemanden zu schützen. Ein solcher Schluss hängt ab vom Charakter der betreffenden Menschen, den Folgen, die die Offenbarung der Wahrheit oder ihr Verschweigen haben usw. Für

46 Francis Dunlop, A »Completion« of Scheler’s value-ethics. In: Kolnai, Exploring the World, S. 271 f.

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­ enjenigen, der sich zum Verschweigen der Wahrheit entschließt, ist die Sorge d um den anderen wichtiger als Wahrheit und Aufrichtigkeit. Diese Umstände entscheiden als kontextuelle Eingebundenheit der Werte die Stärke der Gewichtung eines Wertes und sind als ihre kontextuelle Relevanz oder das Gewicht der Gründe, die für sie sprechen. Manche mögen den metaphorischen Gebrauch solcher Bestimmungen wie Stärke, Höhe und Gewicht ablehnen. Kolnais Ansatz ermöglicht es jedoch, gerade diese Metaphern zu entmystifizieren. Ob etwas ein guter oder zwingender Grund ist, lässt sich objektiv auf der Grundlage der relevanten Umstände entscheiden. Dem mag man mit dem Argument widersprechen, dass sich diese nicht bestimmen lassen, was jedoch gegen die Erfahrung spricht, da in den meisten Fällen die Handelnden und die Beobachter in der Lage sind zu bestimmen, was es ihnen ­ermöglicht, ihr Handlungen und Urteile zu begründen. Moralische Überlegungen beinhalten Reflexionen darüber, was in welchem Maße eine Rolle spielt. Natürlich sind moralische Erwägungen immer anfechtbar. Wenn wir jedoch gründlich und bewusst über eine bestimmte Situation nachdenken, können wir zu einem richtigen und stimmigen Urteil kommen. Natürlich kann jedes moralische Urteil infrage gestellt und diskutiert werden, was jedoch nicht heißt, dass wahre und richtige Urteile nicht möglich wären. Aus dieser Pluralität und kontext­spezifischen Abhängigkeit folgt eine dynamische hierarchische Werteordnung, die faktisch darauf hinausläuft, dass einige Werte und moralisch relevante Tatsachen in Abhängigkeit von einem bestimmten Kontext wichtiger und dringender sind als andere, die dennoch auch relevant bleiben. Das Phänomen der Abstufung ist deshalb so komplex, weil es auch Beziehungen und Linien der Abstimmung, wie Kolnai das nennt, zwischen den Werten selbst gibt. Das heißt, dass die relative Stärke bestimmter Werte die Bedeutung anderer Werte bestimmt. Zum Beispiel kann Ehrlichkeit der Gerechtigkeit untergeordnet sein, was jedoch nicht heißt, dass Ehrlichkeit immer von geringerer Bedeutung als Gerechtigkeit ist. Kolnai hat im Gegenteil gerade unterstrichen, dass es keine universell gültige Werteskala gibt. Sein Verweis auf das Phänomen der Abstufung hebt hervor, dass »unterschiedliche Ordnungen der Realität unterschiedliche Werte und Abstufungen zwischen ihnen entsprechend unterschiedlicher Wertefunktionen zur Folge haben. Ihre Gewichtung hängt jedoch eben nicht ausschließlich von Faktoren der Wirklichkeit ab, sondern auch von den gegenseitigen Beziehungen zwischen den Werten.«47 Kolnais ethischer Kontextualismus und sein Bestehen auf der Komplexität der Abstufung gehen noch weiter, da sein Objektivismus und Kontextualismus auch die betroffenen Personen einschließt. Der Handelnde ist selbst verantwortlich für seine selektive Aufmerksamkeit und die Anerkennung der unterschied47

Kolnai, Early Ethical Writings, S. 71.

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lichen Rolle und objektiven Bedeutung verschiedener Werte und moralisch relevanter Belange. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, auch das sieht Kolnai, dass diese Entscheidung vom moralischen Subjekt selbst abhängen kann: »Hier zeigt sich die Wichtigkeit des moralischen Subjekts selbst, da die Gewichtung eines Wertes nichts anderes ist als dessen begründete Verpflichtung auf einen Wert, die selbst in objektiver Übereinstimmung mit diesem Wert steht, dennoch aber seine Verpflichtung ist. Es gibt eine Entsprechung zwischen Subjekt und Objekt. […] Der Objektivismus lässt das Subjekt nicht außen vor, sondern bezieht dessen Situation ein.«48 Wenn es also darum geht zu beurteilen, ob das Handeln eines Subjekts moralisch richtig war, muss der Beobachter die objektive Situation berücksichtigen. Das heißt, dass der Beobachter, der die Entscheidung und Handlung des Subjekts beurteilt, für diese Situation objektiv relevante Werte und Belange und ihre Beziehung zueinander berücksichtigen muss. Der Beobachter muss also sicherstellen, dass er selbst situativ verortet ist, was für Kolnai nicht nur heißt, die relevanten Elemente einer Situation zu berücksichtigen, sondern auch die für diese besondere Situation objektiv relevanten Besonderheiten, Bindungen und Werte des handelnden Subjekts. Das heißt, dass der Beobachter, der die Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der Entscheidung und Handlung eines anderen Subjekts beurteilt, sich so in dessen Situation versetzen muss, als ob er selbst dieser Handelnde wäre. Dazu muss er Überlegungen anstellen und Gründe bedenken, die er selbst in dieser Situation nicht bedacht hätte. Ob der Beobachter tatsächlich solche subjekt­spezifischen Überlegungen anstellt, hängt jedoch von ihrer objektiven, also kontextuellen Bedeutung und Begründbarkeit ab. Kolnais Kontextualismus, der einen Personalismus einschließt, geht davon aus, dass jeder Beobachter oder Richter der Handlungen eines Subjekts dessen Natur in dem Maße berücksichtigen muss, in dem diese objektiv begründet die jeweilige Situation beeinflusst. Angemessen in einer Situation verankert zu sein heißt, dass nur solche Überlegungen, die für eine Situation bzw. das handelnde Subjekt relevant sind, von einem Beobachter berücksichtigt werden müssen, wenn er die Entscheidungen und Handlungen dieses Subjekts beurteilt.49 Kolnais Ethik folgt einer Variante des moralischen Realismus,50 für den Werte unabhängig und objektiv existieren, zugleich aber einen sensiblen Beobachter brauchen, um relevant für die Wirklichkeit zu sein. Unabhängig von der Verfassung des Subjekts und

48 49 50

Ebd., S. 71 f. Kolnais Personalismus bedeutet, dass etwas objektiv die Natur der Situation beeinflusst, und auch die Verfassung des handelnden Subjekts als Teil der objektiv relevanten Elemente der Situa­tion berücksichtigt werden muss, also seine Werte, seine Belange usw. Der folgende Text bis einschließlich Fußnote 55 ist die Übersetzung von Bessemans, Moral conflicts.

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seiner Beziehung zu einem Wert kann dieser nicht bestimmt werden. Kolnais Konzept ist pluralistisch und kontextualistisch, was zur Folge hat, dass die Konfiguration der Fakten, die Situation selbst, die objektiv gültigen51 persönlichen Werte und Belange des Handelnden und andere nichtmoralische, aber moralisch relevante Elemente wie die Effizienz und das erwartete Resultat berücksichtigt werden müssen, um zu einer moralisch begründeten Beurteilung der Situation und der Entscheidung des handelnden Subjekts zu kommen.52 Für Kolnai sind Werturteile insofern faktisch, als sie über die Konfiguration von Fakten und also über objektiv existierende Werte urteilen. Was immer bewertet und geschätzt wird, wird mit Bezug auf etwas gewertet, oder »mit anderen Worten, das moralische Urteil muss sich als Urteil auf universelle Begriffe beziehen, also etwas von einem Objekt behaupten, anstatt einfach die Zustimmung oder Ablehnung des Urteilenden auszudrücken«.53 Und noch einmal Kolnai: »Ich kann nicht etwas billigen oder ablehnen außer mit Bezug auf dessen objektive Qualität, ebenso wenig wie ich etwas moralisch unterstützen oder ablehnen kann, ohne mich dabei auf etwas zu beziehen, dem ich zustimme oder das ich ablehne. Richtig und falsch beziehen sich auf Handlungen. Die darin zum Ausdruck gebrachte Haltung des Für oder Gegen bezieht sich jedoch mit logischer Notwendigkeit auf bekannte und beschreibbare Qualitäten, die dieser Handlung oder diesem Verhalten immanent sind.«54 Für viele Philosophen sagt ein Urteil darüber, was ist, nichts darüber aus, was man machen soll – die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen. Was jedoch geschätzt wird oder moralisch relevant ist, liefert auch Gründe, entsprechend zu handeln. Deshalb haben solche Überlegungen einen Einfluss auf die Entscheidung des handelnden Subjekts über sein Handeln. Moralische Werturteile sind nur dann richtig, wenn sie der Wahrheit entsprechen, also in Übereinstimmung stehen mit den Dingen, wie sie sind. Behauptungen über den Wert von etwas beziehen sich auf die Welt. Aussagen darüber, was wir tun sollen, beziehen sich jedoch nicht auf die Welt als solche, sondern darauf, was wir in einer gegebenen Welt tun sollen bzw. darauf, welchen Einfluss auf die Welt wir von unserem Handeln erwarten. Wenn das Wertebewusstsein und moralisch relevante Fakten unsere Überlegungen beeinflussen und uns Auskunft darüber geben, was ein mo51

Welche Werte gelten, ist objektiv durch die Situation bestimmt und begründet. Kolnais Kontextualismus steht auch für die Universalisierbarkeit und Objektivität moralischer Urteile mit Blick auf die Unterschiede der Wertung einer bestimmten Handlung und darauf, wie diejenigen, die hier urteilen, selbst in dieser Situation gehandelt hätten. 52 Zu Kolnais Kognitivismus vgl. Kolnai, Exploring the World, S. 83–93, sowie ders., Ethics, S. 144–164. 53 Ders., Exploring the World, S. 83. 54 Aurel Kolnai, A defense of intrinsicalism against »Situation Ethics«. In: Robert L. Cunningham (Hg.), Situationism and the New Morality, New York 1970, S. 264.

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ralisches Subjekt tun soll, lässt sich die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen im moralischen Denken nicht mehr vollständig aufrechterhalten. Anders gesagt: Wertungen beeinflussen Entscheidungen. Eine Entscheidung ist dann wahr oder richtig mit Bezug auf die gegebene Konfiguration der Fakten in der Beurteilung einer Situation durch das Subjekt. Kolnai betont, dass uns Werte immer nur als Werte in einer Wirklichkeit gegeben sind,55 was bedeutet, dass jeder Wert immer von den Umständen abhängt. Es sind eben diese Umstände und der Kontext, die über das Gewicht des Wertes entscheiden, also die Bedeutung eines Wertes in einer bestimmten Situation, in der dieser eine Rolle spielt. Damit ist klar, dass Kolnais Werteethik nicht nur pluralistisch, kontextualistisch und objektivistisch ist, sondern auch personalistisch insofern, als sie das Subjekt als Person in seinem Einfluss auf die Situation und die Einschätzung seiner Handlungen berücksichtigt. Kolnai hebt aber auch hervor, dass nicht alle persönlichen Werte und Bindungen als relevant gesehen werden, womit wir beim Problem moralischer Freiheit und Beschränkung sind. Seine Betonung moralisch relevanter Fakten und der moralischen Verantwortung des handelnden Subjekts dafür, die Situation zu prüfen und alles, was moralisch relevant, ist zu berücksichtigen, hat wichtige Konsequenzen für die Objektivität moralischer Urteile. Das Besondere an Kolnais Ethik ist sein Bestehen auf der Bedeutung des moralischen Bewusstseins, das wir gewöhnlich als Gewissen bezeichnen. Die Spezifik seiner Moralphilosophie ist die phänomenologische Perspektive seiner Axiologie. Sich des Wertes und dessen, was wertvoll und moralisch relevant ist, bewusst zu sein, ist der Ausgangspunkt der Moral. Als moralisches Subjekt muss man moralisch sensibel sein. Dafür muss man den Wert der guten Ordnung und des Widerstandes gegen das Böse, das das schon bestehende Gute und Wertvolle bedroht, selbst erfahren. Deshalb haben Bernard Williams und David Wiggins Kolnais Moralphilosophie zutreffend als »auf der Phänomenologie des Wertebewusstseins gegründete analytische Ethik«56 beschrieben. Kolnai sieht die Möglichkeit, dass persönliche Bindungen und Werte in einer bestimmten Situation objektiv relevant sein können, was für den Beobachter bedeutet, dass er diese berücksichtigen muss in seiner Einschätzung, ob das Subjekt richtig oder falsch gehandelt hat. Wenn wir diese Werte und persönlichen Bindungen verstehen, sind wir in der Lage, die Frage zu beantworten, ob das Subjekt die richtigen Überlegungen angestellt und entsprechend gehandelt hat oder nicht. Wir können dann verstehen, warum ein bestimmter Wert für jemanden in

55

56

Vgl. z. B. Kolnai, Early Ethical Writings, S. 20: »Nicht nur ist die Existenz eines Wertes selbst ein Wert. Vielmehr ist es nur seine Existenz, die einem Wert Geltung verleiht. […] Das bedeutet, dass die Art und Weise, in der wir einem Wert begegnen oder ihn realisieren, für dessen Natur nicht marginal ist […], sondern untrennbar vom Phänomen des Wertes selbst.« Ders., Ethics, S. xxii.

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einer bestimmten Situation attraktiv ist und ob ein Wert angesichts der Umstände auf eine Situation angewandt werden kann. Wir können auch die relative Stärke und Wichtigkeit des Wertes bestimmen und entscheiden, ob das handelnde Subjekt angesichts der Umstände und moralisch relevanter Überlegungen richtig oder falsch gehandelt hat. Kolnai argumentiert, dass relevante Unterschiede der Bedingungen, unter denen die Akteure handeln, zu unterschiedlichen Beurteilungen führen können, ohne den Anspruch der Universalisierbarkeit aufzugeben. Moralische Urteile sind immer noch universalisierbar, da die relevanten Unterschiede zwischen handelnden Subjekten Teil der für das Handeln und seine Beurteilung relevanten Umstände sind. Unter den exakt gleichen Umständen würde jedes handelnde Subjekt auf die gleiche Weise handeln. Kolnais Ansatz ermöglicht es zu beurteilen, ob ein Subjekt angesichts der Umstände richtig gehandelt hat, was einschließt, dass der Beobachter unter diesen Umständen genauso gehandelt hätte. Aus der Sicht dieses Ansatzes gehören die Person und ihre besonderen Bindungen zu den relevanten Bedingungen des Handelns und seiner Beurteilung. Deshalb lässt das Ziel, die Dinge in Ordnung zu bringen und nach Richtigkeit und Universalisierbarkeit zu streben, die Einbeziehung relevanter persönlicher Unterschiede und Sichtweisen zu.57

Moralische Konflikte Kolnais auf das moralische Bewusstsein moralischer Subjekte fokussierter Ansatz könnte dazu führen, moralische Konflikte als Teil moralischer Entscheidungen zu sehen, statt als Anomalien moralischer Theorie.58 Dieser Ansatz würde ein angemesseneres Verständnis moralischer Konflikte ermöglichen, ohne den moralischen Realismus abzulehnen. Angesichts eines moralischen Dilemmas ist es normal, Zweifel an der eigenen Wahl zu haben, da man Gründe zu ihrer Rechtfertigung braucht, die es hier nicht gibt. Das ist in einem nichtdilemmatischen Konflikt anders, in dem das Subjekt sich zwar auch bewusst ist, was es verloren hat, ohne jedoch Zweifel an seiner Entscheidung zu haben, für die es gute Gründe hatte. In einem wirklichen Dilemma ist das Subjekt beunruhigt, da es ohne gerechtfertigte Gründe für seine Entscheidung ohne kognitive Sicherheit ist und weder moralisch noch psychisch zur Ruhe kommt. Wenn ein Subjekt seine Handlung moralisch rechtfertigen kann, ist der Konflikt praktisch und auch moralisch lösbar, was heißt, dass das handelnde Subjekt 57 Das habe ich entwickelt in Chris Bessemans, Universalizability in moral judgments: Winch’s ambiguity. In: International Philosophical Quarterly, 52 (2012) 4, S. 397–404. 58 Vgl. dazu Bessemans, Moral conflicts.

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relativ sicher ist, da es praktisch weiß, was zu tun ist. In dem Maße, in dem es immer schwieriger wird, sich begründet zu entscheiden, wird der Konflikt dilem­ matisch. Dadurch macht sich das moralische Urteil über das Subjekt und sein Handeln immer mehr daran fest, ob es tatsächlich alle relevanten Umstände bedacht hat, anstatt sich nur auf das Ergebnis seiner Entscheidung zu fokussieren. Das moralische Urteil gründet so stärker auf der moralischen Sensibilität und dem moralischen Bewusstsein des Subjekts als auf seiner praktischen Entscheidung. Jedes Handeln und also auch moralisches Handeln ist begrenzt durch die Gründe und Intentionen aus denen wir handeln sowie durch die möglichen Konsequenzen unseres Handelns. Diese Grenzen schließen miteinander konkurrierende Werte und Belange im Blick darauf ein, was als moralisch legitim und gerechtfertigt gilt. Obwohl die besonderen Bindungen eines handelnden Subjekts die unterschiedlichen Gewichtungen der Werte und anderer Belange beeinflussen, können sie das, was relevant ist, nicht irrelevant machen oder Irrelevantes aufwerten. Kolnais Herausstellung des Wertepluralismus und des Konfliktcharakters der Praxis sind weitere Elemente seines Kontextualismus. Um moralisch richtig zu handeln, muss das handelnde Subjekt alle moralisch relevanten Elemente der Situation wie die wahrscheinlichen Kosten und Wirkungen, die Möglichkeit und Plausibilität des Ziels, seine Intentionen, die mit­ einander konkurrierenden moralischen und nichtmoralischen Werte und praktische Überlegungen bedenken. Ob ein Subjekt moralisch richtig entschieden hat, hängt also davon ab, ob es die Umstände seines Handelns hinreichend berücksichtigt hat. Auch wenn das handelnde Subjekt im Prinzip frei in seinem Handeln und in seiner Entscheidung ist, sind die Moralität seines Handelns und indirekt auch sein moralischer Charakter objektiv bestimmt durch das, was moralisch relevant ist und wie das Subjekt damit umgeht. Mit dem Konzept der Begrenzung bezieht sich Kolnai auf eben jene moralisch relevanten Eigenschaften einer Situation, die die moralische Freiheit des Subjekts einschränken und bestimmen, ob es moralisch im Recht ist oder nicht. Während dieses Thema eine wichtige Rolle in Kolnais Dissertation spielte, die vor ihrer Veröffentlichung den Titel »Die Begrenzung und die Abstufung der Ethik« trug,59 verzichtete Kolnai in seinen späteren ethischen Schriften auf diesen Begriff, in denen er sich jedoch weiterhin mit der Frage beschäftigt, wie unser moralisches Handeln durch das, was in einer bestimmten Situation moralisch relevant ist, begrenzt wird. In seiner Dissertation konzentriert er sich auf die Grenzen des Ethischen und führt eine formelle Klassifizierung nach der Gewichtung unterschiedlicher Begrenzungen und moralisch relevanter Überlegungen ein. Im Folgenden wird dargelegt, weshalb diese Begrenzungen Kriterien für die Moralität des Handelns darstellen. 59

Vgl. Francis Dunlop in: Kolnai, Early Ethical Writings, S. xix; vgl. auch Dunlop in: Kolnai, Exploring the World, S. 269.

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Ein moralisches Subjekt weiß, was moralisch relevant ist, und ist sich der entsprechenden Werte und anderer Belange bewusst. Wenn es darüber nachdenkt, was zu tun ist, muss es entscheiden, was es vor allem erreichen will, und das unter Umständen auf Kosten anderer Ziele und Werte. Dabei muss es sich entscheiden, welches Ziel es verfolgen und wie es dabei vorgehen will. Wenn ein Subjekt ohne intentionale Klarheit willenlos und ohne sich entscheiden zu können handelt, verfehlt es seinen Status als handelndes Subjekt, indem es unverantwortlich nachlässig handelt. Für Kolnai ist das Ziel des Handelns ein wichtiger Aspekt moralischer Handlungsfähigkeit, da jede Handlung intentional ist. Es entscheidet sowohl über die Realitätshaltigkeit als auch die moralische Integrität des Handelns. In unseren moralischen Überlegungen geht es u. a. um solche Fragen: Welches Handeln ist unter den gegebenen Umständen möglich, legitim und moralisch gerechtfertigt? Welche Ziele sind moralisch wünschenswert und berechtigt? Wenn wir moralisch handeln, sind wir in unseren Entscheidungen und Handlungen eingeschränkt. Handlungen beziehen sich auf die Welt, in der wir leben, und suchen diese zu beeinflussen. Deshalb muss das moralische Urteil die zu erwartenden Ergebnisse des Handelns berücksichtigen ebenso, wie die Ethik diese in ihre Überlegungen einbeziehen muss. Damit sind wir bei der ersten Einschränkung, nämlich der Realisierbarkeit der Ziele und der Folgen der Handlungen. »Deshalb ist die Formulierung eines ethischen Ziels nur dann legitim und vernünftig, wenn dieses gut begründet ist und gezeigt werden kann, dass die angestrebten Veränderungen des komplexen Lebensbereichs, um den es geht, sowohl möglich als auch mit Blick auf das avisierte Ziel wertvoll sind.«60 Die Anerkennung dieser Einschränkung bedeutet jedoch nicht, dass die Konsequenzen von Handlungen allein von Bedeutung wären. Ohne ausreichende Berücksichtigung der Folgen einer Handlung wären diese jedoch weltfremd und bedeutungslos. Deshalb sind für Kolnai die Wahrscheinlichkeit und Realisierbarkeit einer Handlung der Maßstab dafür, ob diese Handlung gerechtfertigt und moralisch richtig ist. Kolnai stellt weiter fest, dass zwar »die Frage, ob es Sinn macht, nach etwas zu streben, an dessen Realisierbarkeit gebunden ist«,61 was jedoch nicht heiße, »dass die Frage der Realisierung eines Ziels sich durch die Sinnfrage entscheiden würde«.62 Dass der Wert und die Legitimität einer Handlung von der Wahrscheinlichkeit ihres Erfolgs abhängen, heißt nicht, dass es nicht wert wäre, nach einem Ziel zu streben, das schwierig zu erreichen ist. Zu erwartende Schwierigkeiten bei der Erreichung eines Ziels verweisen nicht darauf, dass es moralisch falsch wäre, nach diesem Ziel zu streben, sondern raten davon ab, ein solches Ziel zu verfolgen. Je schwieriger es ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, desto gewichtiger sind 60 Kolnai, Early Ethical Writings, S. 33. 61 Ebd. 62 Ebd.

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die Einwände gegen ein solches Ziel, was jedoch nicht heißt, dass das Ziel selbst falsch wäre. Dennoch sollten Überlegungen darüber, wie wahrscheinlich ein Erfolg ist, angestellt werden.63 Im Reich des Ethischen »hat jede Handlung und Veränderung ihre eigene kosmische und einzigartige Bedeutung«64 und es ist ausgesprochen schwierig, alle Folgen und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der Handlungen genau zu bestimmen. Obwohl also im Feld des Ethischen nicht experimentiert werden sollte, da es keine Handlungen gibt, die nicht moralisch zu verantworten wären,65 müssen auch mögliche Fehler und Irrtümer berücksichtigt werden. Moralische Unfehlbarkeit gibt es nicht, weshalb kein Subjekt absolut sicher sein kann, dass sein Handeln die Welt tatsächlich besser macht, auch wenn das immer seine Intention sein sollte. Eine andere wichtige Einschränkung ist die Existenz konfligierender Werte und anderer Belange von Gewicht, die zu einer gegenläufigen Abstufung führen, die ethisches Handeln jedoch nicht einfach einschränken. Wir haben schon gesehen, dass die Stärke der moralischen Gewichtung von der Relevanz eines Wertes in einer bestimmten Situation abhängt. Es kann sein, dass eine bestimmte Handlung in Übereinstimmung mit einem bestimmten Wert unter den gegebenen Bedingungen besonders wichtig ist, dass diese Handlung jedoch im Widerspruch zu etwas anderem steht, das ebenfalls wichtig ist, wodurch dann eine andere Abstufung der Bedeutung ins Spiel kommt, die andere Handlungsmöglichkeiten eröffnet und nahelegt, auch andere Werte und Überlegungen zu berücksichtigen.66 Verantwortlich für die gegenläufige Abstufung und die Gründe, (nicht) in einer bestimmten Weise zu handeln, sind also nicht nur Werte. In Kolnais Dissertation findet sich eine Systematisierung der Gewichtung solcher Gründe moralischer Relevanz: 1. Varianten ethischer Gewichtung oder die »Träger einer bestimmten Gewichtung«, 2. bedeutungsloser »Ballast ethischen Handelns«, 3. Konstanten ethischer Gewichtung oder die »Träger einer Hintergrundbedeutung« und schließlich 4. ethisch bedeutungslose Konstanten oder »die natürlichen Grenzen der Veränderung«.67 63

Dadurch drückt Kolnai seine Präferenz für das uneingeschränkte Streben nach für gut, wertvoll und wichtig befundenen Zielen aus, womit er offensichtlich utopische Ambitionen als zu weit hergeholte Ziele ablehnt, was in seinen späteren antiutopischen Schriften thematisiert wird. 64 Kolnai, Early Ethical Writings, S. 34. 65 Kolnai betont jedoch, dass, obwohl letztlich alle Handlungen moralisch relevant sein können, das faktisch nicht für alle unsere alltäglichen Handlungen der Fall ist. Vgl. z. B. Kolnai, Ethics, S. 64, 100. 66 Es kann auch sein, dass verschiedene Werte in einer Handlung eine Rolle spielen. Das nennt Kolnai multipolare Gewichtung, vgl. Kolnai, Exploring the World, S. 87. 67 Kolnai, Early Ethical Writings, S. 40.

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Varianten ethischer Gewichtung (1) sind Ziele, die wir verfolgen – z. B. wollen wir ehrlich sein, uns um unsere Familie kümmern, uns gegen Ungerechtigkeit einsetzen usw. Da diese Werte den Fokus dessen bilden, wofür wir uns in einem bestimmten Moment einsetzen, sind sie wichtig dafür, was wir anstreben. Sie haben Priorität gegenüber anderen Überlegungen, sodass es schon sehr gewichtige Gründe geben muss, uns dazu zu veranlassen, nicht in Übereinstimmung mit unserer moralischen Intention zu handeln. Da unser Streben auf unterschiedliche Gegenstände zielt, ist unsere Gewichtung variabel und hängt davon ab, was wir uns zum Ziel setzen, was wiederum davon abhängt, womit wir in der Wirklichkeit konfrontiert sind. Die unwichtigen Varianten (2) und Konstanten (4) sind nichtmoralische praktische Überlegungen. Während die ethisch bedeutungslosen Konstanten als physische und natürliche Grenzen oder das »natürlich Gegebene«68 unseres Handelns gesehen werden können, also dessen, was faktisch möglich ist oder auch nicht, verweisen die Varianten auf den größeren Zusammenhang des Handelns. Zum Beispiel kann ein bestimmtes moralisches Handeln in jeder Hinsicht, bis auf eine, gut sein, wenn es etwa in ökonomischer Hinsicht schlecht ist. Oder Freundschaft, die eine wichtige Rolle in gesellschaftlichen Beziehungen spielt, verliert einen Teil ihrer Bedeutung in der Rechtsprechung, wo es zum Beispiel schwierig ist, durch eine Lüge einen Freund zu schützen, von dem wir wissen, dass er schuldig ist. Die gleiche Lüge mag ohne Weiteres in einem Gespräch zwischen Freunden erzählt werden, wenn wir es vorziehen, die Angelegenheit zunächst mit dem betroffenen Freund selbst privat zu besprechen. Aus den unwichtigen Varianten als dem größere Rahmen, in dem unser Handeln stattfindet, können moralisch relevante Überlegungen und Gründe hervorgehen, die dazu führen, in einer bestimmten Weise zu handeln. Dieser Rahmen als der besondere Kontext eines bestimmten Handelns und seiner Konsequenzen kann wichtig sein, um die moralische Qualität dieses Handelns zu bestimmen. Die ethisch bedeutungslosen Konstanten sind natürlich moralisch relevant, haben aber für sich keinen Wert und verändern sich nicht. Konstanten ethischer Gewichtung (3) sind immer moralisch relevante Überlegungen. Beispiele dafür sind Menschen, soziale Gegebenheiten, andere Werte, moralische Regeln usw. Diese Elemente der Wirklichkeit sollten nicht vernachlässigt, sondern respektiert werden, da sie selbst wertvoll sind. Sie geben unserem Handeln Wert und Gewicht, die im Hintergrund präsent bleiben und Aufmerksamkeit verlangen, sobald es zwischen ihnen und dem Ziel des Handelns Konflikte gibt und sie bedroht sind.

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Ebd., S. 57.

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Schlussfolgerung Kolnais Grundvertrauen in unsere gewöhnlichen Erfahrungen und unsere Fähigkeit, diese zu verstehen, ebenso wie seine phänomenologische Haltung sind entscheidend für das Verständnis der Moral und Kolnais selbst. Die kontextualistische Idee und die Bedeutung der verschiedenen moralisch relevanten Überlegungen und Gewichtungen ziehen sich durch das Gesamtwerk Kolnais. Für Kolnais Moralphilosophie, die die Wichtigkeit des Wertebewusstseins und der phänomenologischen Methode herausstellt, ist das moralische Bewusstsein wichtig. Der Verdienst seiner phänomenologischen und axiologischen Sicht besteht darin aufzuzeigen, in welcher Hinsicht die moderne Moralphilosophie zu kurz greift, die nur zu oft die Phänomenologie und die angemessene Beschreibung ethischer Phänomene vernachlässigt. Kolnais besonderer Lebensweg, sein Eklektizismus und die permanente Überschneidung seiner ethischen und politischen Ansichten ebenso wie seine Gabe phänomenologischer Beschreibung und Reflexion zeigen die Tiefe und den Reichtum seiner Einsichten.





Andrew S. Cunningham  »Der Krieg gegen den Westen« und Kolnais moralische und politische Theorie nach dem Krieg

Einführung Es war nie leicht, sich ein Bild vom Gesamtwerk Aurel Kolnais zu machen. Seine philosophischen Aufsätze und Zeitschriftenartikel aus fünf Jahrzehnten sind oft in unbedeutenden Publikationen erschienen. Sie können in Englisch, Französisch oder Deutsch (gelegentlich auch in Ungarisch oder Spanisch) geschrieben sein. Während uns posthume Neuveröffentlichungen einiger Schlüsseltexte einen besseren Zugang zu Kolnais Werk eröffnet haben, bleibt ein anderes grundlegendes Problem bestehen; dass nämlich heute nur wenige mit den kulturellen und intellektuellen Milieus vertraut sind, in denen der rastlose Kolnai lebte und arbeitete.1 Diese Milieus reichten von seiner jüdischen Herkunft in Budapest und seinen Studienjahren in Wien, den Freudianern und dem »­Wiener Kreis«, der Welt des Anglo-Katholizismus um Chesterton, dem er sich als junger Mann anschloss (wenn auch aus der Ferne) über jenes Nazi-Café, in dem er größere Teile von »Der Krieg gegen den Westen« schrieb, Paris in Zeiten des heraufziehenden Krieges, einem Regierungspropagandabüro in New York City, dem traditionalistischen Katholizismus der Universität Laval von Québec bis hin zum modernen, analytisch orientierten Philosophie-Department der Universität London in den 1960er- und 1970er-Jahren. Dieser Beitrag wird sich auf einige der Kontinuitäten seiner Lehre zwischen »Der Krieg gegen den Westen« und seiner kanadischen bzw. britischen Periode konzentrieren, wobei besonders seine Moralpsychologie sowie eine Anzahl wenig bekannter Zeitschriftenartikel im Mittelpunkt stehen werden.

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John D. Beach schrieb über Kolnai in einem Artikel von 1981: »Er gehörte – zum Teil selbst gewählt, zum Teil aufgrund der Umstände – keiner permanenten Schule, Ideologie, Kultur und Nationalität an.« Ders., The Ethical Theories of Aurel Kolnai. In: The Thomist, 45 (1981) 1, S. 132–143, hier 132.

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Die Moraltheorie von »Der Krieg gegen den Westen« Die Ablehnung von Universalität

Beginnen wir mit einem Überblick über jene Abschnitte von »Der Krieg gegen den Westen«, in denen Kolnais Verständnis der nationalsozialistischen Moraltheo­ rie dargelegt ist. Das sechste Kapitel – »Moral, Recht und Kultur« – enthält den Kern von Kolnais Erörterung. Er argumentiert dort, dass die Philosophen der nationalsozialistischen Bewegung im Endeffekt Ethik in allen ihren traditionellen Formen zugunsten von Ethos ablehnten. Mit anderen Worten, der Maßstab für menschliches Verhalten war keine »emotionalem Egoismus und kalkulierendem Selbstbezug übergeordnete Norm des Denkens und Fühlens«,2 sondern eher eine Destillation des Gemeinschafts- oder Rassengeistes, was in einem teutonischen Kontext als »Sichtweise eines mächtigen und rassisch begründeten germanischen Imperiums«3 formuliert wurde. In diesem Sinn wurde die Idee moralischer Universalität wie etwa von Friedrich Gogarten und Martin ­Heidegger auf der Grundlage »reaktionärer Resignation«4 abgelehnt, die die vermeintliche Unfähigkeit des Menschen, universelle moralische Standards zu erfüllen, als Beleg für die Falschheit dieser Standards ansah. Wenn »das Gute im Menschen« irgendeine Bedeutung haben sollte, müsse es etwas dem Menschen Erreichbares sein.5 Daher war der grundlegende moralische Ansatz des Nationalsozialismus nicht Kants »kategorischer Imperativ« – der natürlich universalistisch par excellence war – sondern eine Reihe ethnozentrischer subjektivistischer Prinzipien wie etwa Richard Walter Darrés verzerrte Version Kants: »Handle als Deutscher stets so, dass dich deine Volksgenossen zum Vorbild erwählen können!«6 Die Amoralität der Verzweiflung

Eine der wichtigsten Einsichten von »Der Krieg gegen den Westen« war, dass im Gegensatz zu dem, was seither vorherrschende Meinung geworden ist, die nationalsozialistische »Moral« nicht im Glauben an die deutsche Überlegenheit gegründet war – jedenfalls nicht in dem Sinn, dass die Deutschen mit Eigenschaf2 3 4 5 6

Aurel Kolnai, Der Krieg gegen den Westen. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Bialas, Göttingen 2015, S. 308. Ebd., S. 309. Ebd., S. 315. Hier zeigt sich der Einfluss von Kants berühmtem »Sollen schließt Können ein«, wenn auch auf unerwartete Weise. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A548/B576. Kolnai, Krieg, S. 309. In gleicher Weise zitiert Kolnai Alfred Rosenberg: »Der Nationalsozialismus setzt hier auch weltanschaulich ein. Für ihn ist nicht Seele gleich Seele, nicht Mensch gleich Mensch, für ihn gibt es kein Recht an sich, sondern sein Ziel ist der starke deutsche Mensch.« Ebd., S. 326.

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ten ausgestattet waren, die sie zu »aktiven und einzigartigen Sachwalter[n] einer universalen Menschheitsangelegenheit«7 prädestiniert hätten. Die zentrale Lehre der nationalsozialistischen »Ethik« bestand im Gegenteil in der Leugnung der Existenz moralischer Universalien und daher der Möglichkeit, dass »es nach unserem Glauben kein höheres Gesetz gibt, dem die Menschheit gehorchen sollte«.8 Diese »lutherische Amoral der Verzweiflung«9 im Hinblick auf die Unmöglichkeit, Moralität in der äußeren Welt zu finden, hat die Anhänger dieser Philosophie dazu geführt, sich auf moralische Standards zurückzuziehen, die von innen heraus als Übereinstimmung mit dem eigenen »Wesen« und vor allem mit dem eigenen Überlebensinstinkt entstehen. Daraus erwuchs die Identifikation von Verhaltensstandards bzw. des »Gutseins« mit der Ausübung von Macht im Interesse subjektiver Verwirklichung der eigenen Anlagen in der Formulierung von Darré. Kolnai bezeichnete dies als eine Ethik »irrationaler Partikularität«.10 Es sei »absolut unmöglich, [diese] in Begriffen der Menschlichkeit auszudrücken«.11 Mit anderen Worten, »wir« sind das Beste der Menschheit nicht aufgrund objektiver moralischer Exzellenz im Vergleich zu anderen, sondern, nachdem wir die bloße Möglichkeit universeller moralischer Standards abgelehnt haben, allein dadurch, dass wir »wir« sind. Die Amoralität der Verzweiflung war das Produkt einer absolutistischen Geisteshaltung, die den in der traditionellen Ethik enthaltenen Ansatz ablehnt, wonach Verhalten in völliger Übereinstimmung mit den Anforderungen der Welt des »Sollens« ein unerreichbares Ideal ist, sodass man bestenfalls einem Set von Regeln folgen kann, die sich nicht einfach aus der eigenen Natur ergeben, sondern die diese Natur beschränken und frustrieren.12 Eine solche »pragmatische Moralität« wurde etwa von Heidegger und Gogarten als »Bereich der Oberflächlichkeit, Armseligkeit und Illusion« abgelehnt, als eine »trügerische Konstruktion« und bloße »technische Ausführungsbestimmungen«.13 Für Heidegger ist in Kolnais Interpretation die einzige für den Menschen erreichbare Form der Perfektion »das absolut wahre Selbst […]; in dem sich die Erfahrung einer unverbrüchlichen und unteilbaren absoluten Gemeinschaft der Existenz und des Kampfs manifestiert«.14 Diese tugendhafte Authentizität15 wurde kontrastiert     7 Ebd., S. 309.     8 Ebd.     9 Ebd., S. 313. 10 Ebd., S. 309. 11 Ebd. 12 Vgl. ebd., S. 313 f. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 312. 15 Kolnai behandelte Authentizität in seinem Aufsatz »Existence and Ethics«. In: Aurel Kolnai, Ethics, Value and Reality: Selected Papers of Aurel Kolnai. Hg. Francis Dunlop und Brian Klug, London 1977, S. 123–143, hier 130 f.

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mit der »jüdischen« Auffassung von Gerechtigkeit als »­ individualistisch, nomistisch, kasuistisch«, die entschieden abgelehnt wurde. Für Wilhelm Stapel war diese Auffassung »›mit der deutschen Seele aus rassischen Gründen unvereinbar‹, für die es sich verbietet, das Gewissen in Formeln zu gießen«.16 Stattdessen ist die »im Blut verwurzelte Ordnung das Gesetz des Menschen«.17 In diesem Sinn wurde dem englischen Proto-Nazi H. S. Chamberlain von Kolnai nachgesagt, er halte das positive Recht für eine »Geschmacklosigkeit aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem freien Willen, wie er eher im jüdischen und römischen Recht als im germanischen Denken betont werde«.18 Die Irrlehre des Moralismus und das Primat der Rasse

Tatsächlich nahm in den nationalsozialistischen Schriften, auf die sich Kolnai bezog, »Moralismus« den Charakter einer Irrlehre an: »Der Germane kannte keine Pflicht […]. Alle Helden germanischer Geschichte handelten aus innerem Drang (nicht Zwang), aus einem: Ich will!«19 Deshalb charakterisierte Kolnai das nationalsozialistische Projekt als »Enteignung der Ethik«.20 Die Philosophen des Nationalsozialismus zielten auf die Beseitigung konventioneller Moralität sowie darauf, sich deren moralische Kraft für ihren eigenen Ethos, die »radikale Gebundenheit«,21 anzueignen, und dabei deren Kern, die Universalität, ebenso zurückzulassen wie ihr angespanntes und oft frustrierendes Verhältnis zu natürlichen menschlichen Impulsen. Umgekehrt hielten die Nationalsozialisten diese Impulse für rassisch bestimmte Natur, was Kolnai so beschrieb: »Das Gute ist nicht an definierbare Verhaltensweisen gebunden, sondern an gegebene Blutstypen.«22 Wissen in all seinen Formen »muss von einem völkischen Standpunkt aus bewertet und geleitet werden«.23 Dazu Stapel: »Die Gesundheit der Ethik besteht also nicht in einem allgemeinen System logischer Art, sondern in der Angemessenheit des Sollens

16 Kolnai, Krieg, S. 315. 17 Ebd., S. 311. Kolnai bezog sich hier auf die nationalsozialistische Jugendzeitschrift »Wille und Macht« vom 1.12.1936. Offensichtlich hatten jene, die der Zeitschrift ihren Namen gaben, die von Kolnai beschriebene Philosophie verinnerlicht. 18 Kolnai, Krieg, S. 59, wo Kolnai Chamberlain mit offensichtlicher Missbilligung zitiert: »Willkür an Stelle von Instinkt in den Beziehungen zwischen den Menschen ist Recht.« 19 Ebd., Fußnote c, S. 311, bezogen auf einen Artikel von Georg Halbe in »Wille und Macht« vom 1.12.1936. 20 Vgl. ebd., S. 308, 309, 312. 21 Ebd., S. 314; ein Ausdruck, mit dem Kolnai deren »Eingebundenheit in die konkrete und gebieterische Gemeinschaft« beschrieb. 22 Ebd., S. 311. 23 Ebd., S. 310.

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zum biologischen Stand der Gemeinschaft, wie er durch das Lebenserbe und durch die lebendige Entwicklung bestimmt ist.«24 Sollte es noch irgendeinen Zweifel am Subjektivismus und an der Überspanntheit des Antiuniversalismus der nationalsozialistischen Moralphilosophie geben, so werden diese durch die Worte Alfred Rosenbergs, dem »offiziellen Hohepriester der nationalsozialistischen Partei-Weisheit« ausgeräumt: »Die ›nordische Rassenseele […] begreift, dass sich rassisch und seelisch Verwandtes eingliedern lässt, dass aber Fremdes unbeirrbar ausgesondert, wenn nötig niedergekämpft werden muss. Nicht weil es falsch oder schlecht an sich, sondern weil es artfremd ist und den inneren Aufbau unseres Wesens zerstört‹.«25 Moralischer Universalismus passt nach dieser Auffassung nicht zu den Imperativen, die sich aus dem rohen Instinkt, das Wohlergehen der eigenen Rasse zu befördern, ergeben. Kolnais Verständnis von Rosenberg zufolge ist »der ›Neuaufbau der seelischen Zellen der nordisch bestimmten Völker‹ die vorrangige Aufgabe unserer Generation«.26 Das Kriterium der Nationalsozialisten zur Unterscheidung von richtigem und falschem Handeln ist dessen potenzieller Beitrag zum Überleben und zum Erfolg der eigenen Gemeinschaft oder Rasse. Daraus folgt, dass der Weg zum Gutsein dieser minderwertigen Form darin besteht, die eigene Bindung als Eingebunden-Sein in »die Gemeinschaft der radikalen Gebundenheit des animalischen Heroismus und der nackten Existenz« zu akzeptieren, in der »Sein« und »Gutsein« zwei Seiten einer Medaille sind.27 Die Verzweiflung, die aus dem unvermeidlichen Versagen resultiert, die Standards konventioneller Moral (in all ihrem »falschen Idealismus«) zu erreichen, wird es nicht mehr geben. Alle Spuren der zerstörerischen »Selbstbehauptung eines Strebens nach sittlicher Vollkommenheit«28 werden sich verlieren. Destruktiv ist das Prinzip; die »Moralisten, wie zum Beispiel die empirischen Utilitaristen, stehen der Wirklichkeit des Krieges hilflos gegenüber«29 und werden dazu verurteilt, dass die »Begegnung mit den unverständlichen Mächten der Welt scheitern muss«.30 Kehren wir zu Kolnais zentraler Behauptung zurück, die Nationalsozialisten beanspruchten keine moralische Überlegenheit als solche, sondern verfolgten stattdessen die verstörende und gefährliche These, dass es einfach keine 24 Zit. in ebd., S. 317 f. Kolnais Abneigung gegen »evolutionäre Ethik« im Stil Herbert Spencers wird von David Wiggins und Bernard Williams angemerkt in ihrer Einleitung in Kolnai, Ethics, S. x. 25 Zit. nach Kolnai in ders., Krieg, S. 60. 26 Ebd. 27 Vgl. ebd., S. 314. 28 Ebd., S. 315. 29 Ebd., S. 311. 30 Ebd., S. 314 f.

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­ niversellen Standards gäbe und dass im wesentlichen Macht das Recht bestimu me, vorausgesetzt, »Recht« ist geleitet von der Beförderung nationalen Überlebens und »Macht« ist das direkteste Mittel zu diesem Zweck. Wenn sich solch ein Amoralismus erst einmal in den Köpfen einer menschlichen Rasse festgesetzt hat, gibt es keine Hoffnung für Anpassung oder Korrektur der moralischen Werte in ihrer Anwendung auf jene außerhalb der Rasse, weil jeder Versuch einer solchen Wertbestimmung ungültig wäre – ein »kategorischer Fehler«, in der berühmten Formulierung von Gilbert Ryle.31 Das wäre nicht der Fall, wenn moralische Überlegenheit der Rasse definiert wäre von einem Standpunkt der Anerkennung der Universalität moralischer Kategorien. Solch eine moralische Behauptung, wie krude oder scheinheilig auch immer, wäre wenigstens nach ihren eigenen Kriterien korrigierbar.32 Die Vitalität und Ungeduld einer jungen Philosophie

Wie Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen« in einem Abschnitt mit dem Titel »Die Bedrohung und die Verlockung« argumentiert, übt der nationalsozialistische Absolutismus eine perverse Art von Anziehung aus. Denn es gibt »radikale Intellektuelle, die nicht anders können, als von Totalität, Vitalität, Endgültigkeit, Bedingungslosigkeit usw. beeindruckt zu sein«.33 Die Anziehungskraft einer Philosophie, in den Worten Jakob Hommes erklärt: »Wir müssen seinsmäßig und von Natur gut sein, damit gute Gedanken und Zielvorstellungen in uns aufsteigen«,34 ist nicht schwer zu verstehen. Kolnai war der Meinung, dass solche Ideen manche dazu anhalten könnten, gut umzudefinieren als das, was am leichtesten aus unserem Geist strömt, was immer dies sei, faktisch also wohl eine Mischung aus Eigeninteresse und Gruppeninteressen in einer traditionellen universellen Ethik. So begeistert sich Stapel: »Vollbringe solche Taten, die Ruhm mit sich bringen«, während Werner Best »die Stärke zum einzig gültigen Gesetz«35 für den nationalsozialistischen Staat erklärte. Im dritten Kapitel von »Der Krieg gegen den Westen« erklärt Kolnai, wie sich diese Sicht ausweitete von der moralischen auf die politische Sphäre. Kolnai 31 Vgl. Gilbert Ryle, The Concept of Mind, Chicago 1949. 32 Dahingehend stellte Kolnai in Bezug auf den Kommunismus fest: »Die wildeste Spielart des Bolschewismus steht bürgerlichen Vorstellungen viel näher als der Antiliberalismus der Nazis. Der extremste Atheismus der Linken hat mit christlicher Moral und ihren sozialen Implikatio­ nen unendlich mehr gemein als das Heidentum der Nazis.« Kolnai, Krieg, S. 50, und Kolnai weiter: »Grundsätzlich ist der Nationalsozialismus unvergleichlich stärker antiwestlich als der Bolschewismus.« Ebd., S. 46. 33 Ebd., S. 50. 34 Ebd., S. 311. 35 Ebd., S. 323 f.

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nannte die antibolschewistische Vorgabe Arthur Moeller van den Brucks, dass »nicht Klassen, sondern Typen die Menschheit teilen«, »eines der großen Mottos des Nazismus«. Sie implizierte seiner Meinung nach, »[…] dass die Geschichte angetrieben wird von der Tragik und ewigen Irrationalität des Rassenkampfs und dass der Kampf nicht um Recht und Fortschritt gehen kann. Konflikte werden nicht von Übeln verursacht, die nach moralischen Kriterien erkannt und korrigiert werden könnten. Der Bruch in der menschlichen Gesellschaft, der diesen Kampf auslöst, beruht nicht auf moralisch falschem oder unzureichendem Denken und kann deshalb auch nicht vom menschlichen Bewusstsein geheilt werden. Vielmehr handelt es sich um einen Aufruhr tribaler Lebenskräfte jenseits jeder Diskussion, Überredung oder möglicher Lösung.«36

Es war das Verlangen nach einer »Lösung« für fortdauernde soziale Spannungen, die die Feindschaft der Nationalsozialisten gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft antrieb, deren Präferenz für heikle Gleichgewichte, salomonische Kompromisse und einen »Geist gegenseitiger Übereinkunft«, die sie »in den Augen Moeller van den Brucks und seiner Anhänger so anrüchig macht«.37 Die Rede von der »Endlösung der Judenfrage« erinnert rhetorisch an die charakteristische Ungeduld einer jugendlichen Geisteshaltung, die jene von Kolnai beschriebene Philosophie formte. Schlussfolgerung: das verrückte Leben

Kolnais eigene Philosophie, wie sie in den Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln, denen wir uns in Kürze zuwenden werden, ausgearbeitet ist, zeigt sich in seiner Diskussion von Moeller van den Brucks wachsender Unzufriedenheit mit dem Liberalismus, die dieser in Bonmots zum Ausdruck brachte, die an H. L. Menckens erinnern: zum Beispiel »die Freiheit, keine Prinzipien zu haben und zu verkünden, dieses wäre das Prinzip« oder »Freiheit für jeden, ein Mittelmaßmensch sein zu dürfen«.38 Mit anderen Worten, die bloße Langeweile liberalen Lebens mit seinen ermüdenden Kompromissen und kleinlichen Kontrollen war eine bedeutende Ursache für die Feindseligkeit der nationalsozialistischen Denker ihm gegenüber. Aus seiner spezifischen Perspektive sah Kolnai konkurrierende und inkompatible Einstellungen zur Verbesserung des »einfachen Menschen«39 als Beleg signifikanter Verschiedenheit von liberalem und nationalsozialistischem Denken:

36 Ebd., S. 143 f. (Hervorhebung im Original). 37 Ebd., S. 145. 38 Ebd. Mencken, der amerikanische Journalist und Sozialkritiker, hatte 1907 die erste längere Studie über Nietzsche in englischer Sprache verfasst. 39 Oder der »gewöhnliche Mensch« – eine wesentliche Unterscheidung, wie wir bald sehen werden.

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»Denn wieder einmal befinden wir uns hier im Herzen des großen spirituellen Kampfs. […] In jedem Fall haben wir es mit der durchschnittlichen Natur und Lebensweise des Menschen zu tun. Der entscheidende Punkt ist, ob wir diese durchschnittliche Lebensweise eines jeden Menschen mit so viel Freiheit wie möglich ausstatten wollen oder ob wir uns dafür entscheiden, durchschnittliche Lebensweisen zu veredeln, indem wir sie dazu verurteilen, im Dienst des außergewöhnlichen Lebens ihrer Herren aufzugehen.«40

Kolnai charakterisiert die daraus resultierenden Dilemmata folgendermaßen:41 »Im ersten Fall halten wir an der Freiheit des Menschen fest, ungeachtet der Beschränkungen, die zwangsläufig damit verbunden sind. Im letzten Fall bestreiten wir dem Menschen die Freiheit, gestehen ihm aber die Freude zu, als Diener an einer Freiheit teilzuhaben, die nicht die seine ist, aber dafür weit weniger beschränkt, als es seine eigene je sein könnte. Anstatt ihn an die Freiheit zu gewöhnen, machen wir ihn zum gelehrigen Schüler der Sklaverei, was vielleicht sogar leichter ist.«42

Wie Kolnai gleich zu Beginn von »Der Krieg gegen den Westen« einprägsam feststellt, hatte er sich die Aufgabe gestellt, »nachzuweisen, anstatt zu widerlegen, dass der Nationalsozialismus etwas Großartiges an sich hat«.43 Er sah die Anziehungskraft der Philosophie des Nationalsozialismus vor allem in dem echten Verlangen nach einer lebendigen und bedeutsamen Existenz. Der Nazismus war voll von »rücksichtsloser Aggressivität« und konnte einen »großartigen Elan« hervorrufen, aber es war »Vitalität« im destruktiven Sinn eines schnell wachsenden Tumors, so Kolnai.44 Daher war es im Sinne der Gesundung der europäischen Gesellschaften für Philosophen geboten, den unmodischen und unromantischen Gegenstand des Gewöhnlichen, der Kompromisslösungen und all der anderen banalen Bausteine der liberalen Gesellschaft aufzugreifen.45 Das war es, was Kolnai selbst auf sich nahm: zu streiten für den Wert ungelöster Spannungen, für die Mannigfaltigkeit von Werten und Wertkategorien und vor allem für die »einfachen Werte« gegen alle großen Entwürfe. Er verstand: »Wahnsinnig gewordenes Leben, mag es auch eine Zeit lang als ein großartiger Festzug daherkommen, ist dem Tod geweiht.«46

40 Kolnai, Krieg, S. 145. 41 Das ist nur auf den ersten Blick ein Dilemma, da er von einem praktischen Standpunkt aus sicher keine Probleme hatte, zwischen den beiden Alternativen zu wählen. 42 Kolnai, Krieg, S. 145 f. 43 Ebd., S. 50. 44 Ebd., S. 51. 45 Kolnai schrieb in seiner Autobiografie, dass er sich während der Arbeit an »Der Krieg gegen den Westen« als »geistigen Agenten des Westens auf besonderer Mission in Wien« sah. Vgl. Aurel Kolnai, Political Memoirs. Hg. von Francesca Murphy, Lanham 1999, S. 159. 46 Ders., Krieg, S. 51.

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Themen von Kolnais späteren moralischen und politischen Werken Einführung: Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten

Der Zweck der bisherigen Zusammenfassung von Kolnais Darstellung der national­ sozialistischen Moraltheorie war, bestimmte Themen in »Der Krieg gegen den Westen« herauszuarbeiten, die mit Ideen in vielen seiner Nachkriegsschriften korrespondieren. Es mag sinnvoll sein, Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« mit seinen früheren Schriften zu vergleichen, um psychoanalytische Wurzeln seines Fokus auf die Jugendzentriertheit47 und homosexuelle Aspekte48 der Naziphilosophie zu suchen. Das wird jedoch Forschern mit besserer Kenntnis der Geschichte der Psychoanalyse vorbehalten sein. In Kolnais Werken aus den 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahren gibt es genügend relevante Themen für einen Vergleich. Der Verweis auf »Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten« bezieht sich auf die besondere Bedeutung zweier miteinander zusammenhängender, jedoch verschiedener Punkte: Zum einen verschob sich Kolnais Fokus in den Nachkriegsjahren zum Sozialismus, weg vom nicht mehr existierenden Nationalsozia­lismus, und er fand viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden utopischen Glaubensbekenntnissen. Zum anderen führte er viele Themen von »Der Krieg gegen den Westen« in seinen Nachkriegswerken fort, als er vom Polemiker zum akademischen Philosophen wurde. In diesen weniger polemischen Werken werden diese Themen sogar gründlicher und sachlicher behandelt. Die Asymmetrie der Moralität

Kolnai zufolge vergöttert »das reine Ideal der Nazi-Moral« die »historische Größe« und stellt sie über die »moralische Größe«:49 »Die Entfaltung ›unserer‹ Eigenschaften und Energien, großartig, rein und effektiv, muss sich als das Beste erweisen, das überhaupt geschehen kann, unabhängig von jedem abstrakten ethischen ­Wertesystem, das in unnatürlicher Weise gute menschliche Substanz auf 47

In seinem frühen Werk »Psychoanalysis and Sociology«, London 1921, bemerkte der 21-jährige Kolnai zum Beispiel: »Der esoterische Charakter des Anarchismus erinnert stark an die Klans und die geheimen Gesellschaften von Wilden.« Ebd., S. 122. Obwohl dieses Werk vorrangig ein Versuch war, den anarchistischen Kommunismus zu »psychoanalysieren«, nimmt »Der Krieg gegen den Westen« stellenweise einen ähnlichen Ton an. 48 Zum Beispiel in seiner Referenz zu Stefan George und Friedrich Nietzsche, die Kolnai als »Augustinus-Figuren dieses neuen Heidentums, […] die Kants der Amoral« etc. im Vorwort von »Der Krieg gegen den Westen« schmäht. Vgl. Kolnai, Krieg, S. 42; sowie ebd., S. 102–106, mit Bezug zu Hans Blühers Konzeption des Bundes. 49 Eine Unterscheidung, die er den britischen Philosophen Samuel Alexander und William de ­Burgh zuschrieb. Vgl. ebd., S. 321.

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die Ebene von Bastarden und Degenerierten herabzwingen würde.«50 Eine solche »Götzen­anbetung historischer Größe«, der zufolge es wesentlich ist, »dass wir viel Wirbel machen und durch unsere Eigenart und gewaltsame Intervention den Lauf der Geschichte bestimmen«, ist selbst, wie Kolnai bemerkte, ein Resultat der nationalsozialistischen Vitalität.51 Kolnais Nichtübereinstimmung mit vitalistischer Ethik, und zwar nicht nur der nationalsozialistischen, erscheint beständig in seinen philosophischen Schriften nach dem Krieg. In einem seiner besten moraltheoretischen Aufsätze, »The Thematic Primacy of Moral Evil«, argumentierte er gegen die vitalistische Sicht, dass Moralität in einem Spannungsverhältnis mit vitaler Praxis steht, die sie zugleich reguliert. Belege dafür sah er in der Tatsache, dass Moralität dann am wirkungsvollsten ist, wenn sie in menschliche Angelegenheiten in einer ihrer negativen Formen eingreift, als Kritiker (in Form des Gewissens) oder als Träger von Bestrafungen: »Wenn ich heute gemordet, gestohlen oder gelogen habe, ist das ein moralisches Ereignis, das es verdient, kommentiert zu werden und mein Gewissen aufzustören; während es unwahrscheinlich ist, dass ich dafür gelobt werde, mit einem Menschen nicht einverstanden gewesen zu sein, ohne ihn gleich zu töten, oder dafür, dass ich davon Abstand genommen habe, aus der vollen Börse eines anderen in meiner Reichweite zu stehlen. Ich werde mich ebenfalls nicht stolz fühlen am Abend, wenn ich am Tag in mehreren Gesprächen immer die Wahrheit gesagt habe.«52

Als weiteren Beleg für die Asymmetrie zwischen Bösem und moralisch Gutem sah er die Tatsache, dass Kriminalgerichte Personen, die etwas Verbotenes getan haben, verurteilen oder sie im besten Fall freisprechen, obwohl sie freigesprochene Angeklagte nie für fehlerfrei oder moralisch rein erklären. Außerdem haben Gerichte keine Gegeninstitution eines Tribunals der Belohnung.53 In vielen Sprachen sind die negativsten moralischen Begriffe (wie »evil« und »sin« im Englischen) tendenziell reserviert für moralische Situationen. Anders dagegen viele positive oder lobende moralische Begriffe, die leichter auf einen nicht-moralischen Bewertungskontext übertragbar sind.54 Zum Beispiel mag ein gut gemaltes Bild von einem ästhetischen Standpunkt aus als »gutes Gemälde« bezeichnet werden, aber ein schlecht gemaltes Bild ist ästhetisch gesehen nicht »böse«. ­Kolnai argumentiert weiter, dass dasselbe Phänomen in anderen linguistischen K ­ ontexten be-

50 Ebd., S. 321. 51 Ebd., S. 322. Zu weiteren historischen Konnotationen des Begriffs »Vitalismus« in der westlichen Medizin und Philosophie siehe Andrew S. Cunningham, Hume’s Vitalism and its Implications. In: British Journal for the History of Philosophy, 15 (2007), S. 59–73. 52 Kolnai, The Thematic Primacy of Moral Evil. In: Philosophical Quarterly, 6 (1956), S. 27–42, hier 29. 53 Ebd., S. 30. 54 Ebd., S. 34.

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obachtbar ist, bis hin zur ultimativen moralischen Paarbildung: »Gott« und »Teufel«. Ersterer, so führt er aus, ist bekannt und wird geliebt für sein moralisches Gutsein, aber auch für andere Manifestationen von Perfektion, während Letzterer bekannt ist und verabscheut wird allein für seine Boshaftigkeit.55 Das Leben besteht nicht aus Moralität

Wir müssen nicht sämtliche Belege bei Kolnai für diese Sichtweise, wonach Moralität vorrangig negativ ist, durchgehen. Verwiesen sei hier lediglich auf den starken Einfluss von Tabus und den ächtenden Charakter der Zehn Gebote. Es ist an der Zeit, sich der Beziehung zwischen dieser Sicht und dem Vitalismus zuzuwenden, den Kolnai mit den Nationalsozialisten, die, wie er in »Der Krieg gegen den Westen« ausgeführt hatte, den »positiven« gegenüber dem lediglich »verhindernden« Charakter von Moralität überbetonten,56 aber auch mit utopischen Denkern generell, verband. Die Verbindung zwischen diesen beiden Positionen des thematischen Vorrangs des moralisch Bösen und der Ablehnung des Vitalismus besteht darin, dass das Reich der Moralität und das der Praxis (oder des »Sollens« und des »Seins«57) nicht deckungsgleich sind. Kolnai glaubte, dass die Rolle der Moral im menschlichen Leben wichtig, aber begrenzt ist – nicht in dem Sinn, dass es eine »Moralsphäre« gäbe, in der die menschliche Aktivität auf einen moralischen Zweck gerichtet ist, während sie in anderen Sphären keine Rolle spielt, sondern in dem Sinn, dass Moral, während sie in jedem Bereich der menschlichen Praxis Einfluss ausübt, niemals die eigentliche Substanz des Lebens ist. Dieser Punkt kam am prägnantesten zum Ausdruck in dem Aufsatz »Moral Consensus«, in dem Kolnai unverblümt feststellte: »Das Leben besteht, Gott sei Dank, nicht aus Moral.« Stattdessen ist in seiner Sicht Moral (metaphorisch) ein Set von Wegweisern, »verteilt über die Landkarte der Praxis«, die »nicht die Geografie der Praxis kartografieren, sondern ein wichtiges Netzwerk von Orientierungen darstellen, die diese Geografie durchziehen. Eher als den Reisenden mit Informationen über jene Orte zu versorgen, die er meiden s­ ollte,

55 Vgl. ebd., S. 35. 56 Kolnai, Krieg, S. 326. 57 Wo »Sollen« beschränkt ist auf ein moralisches »Sollen« in Übereinstimmung mit Kolnais weiterer Theorie der Werte, in der die Vielfalt der Werte anerkannt wird, einschließlich derer, die zu nicht-moralischen Bewertungen führen (ästhetischen oder solchen der Interessantheit). Aurel Kolnai, Morality and Practice II: The Moral Emphasis. In: ders., Ethics, S. 95–122, hier 118, wo er bemerkt, dass moralische Qualitäten besitzt, was lediglich »eine Art evaluativer und imperativer Emphase« ist, wahrscheinlich eine unter vielen. Und in »Ästhetik und moralische Erfahrung«: »Es gibt viele, vielleicht sollte ich sagen unzählige, andere Formen der Erfahrung von Werten als ästhetische oder moralische.« Ebd., S. 187–210, hier 187.

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warnen sie ihn vor Gefahrenzonen und lenken seine Aufmerksamkeit auf attraktive Orte, so verschieden diese auch sein mögen, die er dringend vor allen anderen besuchen sollte.«58 Es ist die Funktion von Moral, uns vor bestimmten Dingen im Feld der Praxis zu warnen, während wir jene nicht-moralischen Zwecke verfolgen, die tatsächlich die Substanz des Lebens sind. »Moralisch« ist nicht »das, was wir tun«: Moral ist weder unser Ziel noch eine Form der Aktivität, sondern eine Begrenzung unserer nicht moralischen Bestrebungen. Wenn wir uneins sind darüber, was in einer bestimmten Situation das »richtige« Handeln ist, entsteht eine Nichtübereinstimmung innerhalb der »Landschaft der Praxis«, in der wir nicht nur Regeln befolgen. Eine gute Analogie ist das Autofahren. Die Beachtung von Verkehrsschildern ist wichtig und notwendig. Dennoch richtet sich die Aktivität des Fahrens auf etwas Anderes. Sie schließt mögliche Zweifel und unterschiedliche Auffassungen über Routen und Ziele ein, die nicht durch Verweis auf die Straßenverkehrsordnung behoben werden können. Die aristotelische Mehrdeutigkeit

In diesem Modell steht also Moralität in einem Spannungsverhältnis mit der Lebenspraxis, die sie leitet und begrenzt, deren Ziele sie aber nicht bestimmt. Aus Kolnais pluralistischer liberaler Perspektive ist die »Güte des Menschen«, das, wonach er strebt, einzig und allein eine Angelegenheit seiner eigenen Bestimmung, vorausgesetzt, er beachtet die moralischen Wegweiser, denen er begegnet. Eine »gute Person« zu werden heißt dann, den »Vorrang des Moralischen« in der Landschaft der Praxis anzuerkennen.59 Kolnai sah jene kritisch, die das Gute im Menschen verglichen mit der Güte des Menschen, also dem, was ein bestimmtes Individuum moralisch lobenswert macht; ein Fehler, den er »die aristotelische Mehrdeutigkeit«60 nennt: »Das Gute im Menschen und die Güte des Menschen in einen konzeptionellen Rahmen zusammenzuschließen, kann nur zu einer verzerrten Sicht sowohl der Moralität als auch des menschlichen Wollens führen, sowohl des ›Glücklich-Seins‹ als auch der Praxis.«61 Nur die Manier der Philo-

58 Kolnai, The Moral Emphasis, S. 122. 59 Kolnai, Political Memoirs, S. 3. 60 Wahrscheinlich bezugnehmend auf Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, Kapitel. 7, 1097b22–1098a17. Vgl. Peter Glassen, A Fallacy in Aristotle’s Argument About the Good. In: Philosophical Quarterly, 7 (1957), S. 319–322, hier 320. 61 Aurel Kolnai, Morality and Practice I: The Ambiguity of Good. In: ders., Ethics, S. 66; vgl. auch ders., The Utopian Mind and Other Papers. Hg. von Francis Dunlop, London 1995, S. 124.

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sophen, die Dinge zu verdrehen, so Kolnai, kann »das moralische Gutsein des Handelnden aus der Verfolgung seines Nutzens beschwören«.62 Der nationalsozialistische Ethos ist beispielhaft für eine Moralphilosophie, die genau dieses tut. Sie definiert den »guten Menschen« als einen, der bestimmte Zwecke anstrebt, namentlich das Gedeihen der Rasse. Eben weil die Denker der Nazis keine Spannung zwischen Moral und Praxis sehen konnten, sind wir aus ihrer Sicht berechtigt, unsere Persönlichkeit mit »rücksichtsloser Aggressivität« auf die Welt loszulassen. Statt eine Balance zwischen dem »Sollen« und dem »Sein« herzustellen, verleugnen die nationalsozialistischen Philosophen die Realität des ethischen »Sollens«, während sie das traditionelle Ansehen der Moral und ihre rhetorische Macht im Namen des »Seins« enteigneten. Linke und Rechte: die Utopien des Seins und des Sollens

Im Unterschied zum Werk »Der Krieg gegen den Westen« ging es Kolnai in seinen Nachkriegsschriften vorrangig um Argumente gegen Sozialismus und linken Utopismus. Es ist daher interessant, dass er im Denken der Linken einen ähnlich grundlegenden Defekt wie in dem der Nationalsozialisten fand – ein Nichtverstehen der negativen, korrigierenden Natur der Moral in ihrer Beziehung zur Praxis. Der Linke, wie er in Kolnais späterem Werk beschrieben wird, unterscheidet sich von dem Rechten in »Der Krieg gegen den Westen« in seinem Glauben an die Erreichbarkeit moralischer Perfektion, die die pessimistischen Denker der Nazis zurückgewiesen hatten. Diese schloss die Akzeptanz der Universalität moralischer Wahrheit und anderer Konsequenzen ein, die, zumindest in den 1930er-Jahren, den traditionellen Sozialismus für Kolnai weniger bösartig antiliberal erscheinen ließen als den Nationalsozialismus.63

62 Kolnai, The Ambiguity of Good, S. 69. Tatsächlich ist, wie Peter Glassen (ein anderer ungarischer Emigrant und Philosoph, dessen Moraltheorie viel mit Kolnais gemeinsam hatte) argumentiert, »das Gute« nicht einmal ein im Kern moralischer Begriff. Es ist ein Wertebegriff, und das ist etwas völlig anderes. Zum Beispiel beginge man keinen kategorialen Fehler, sondern hätte gute Argumente, wenn man behauptete, dass Schönheit »gut« ist. Es gäbe keine logische Verbindung zwischen dem Guten und der Moralität im Gegensatz zu anderen Arten der Erfahrung von Werten (der ästhetischen, dem »Interessanten« etc.). Vgl. Peter Glassen, The Classes of Moral Terms. In: Methodos, 11 (1959), S. 233–244, hier 241–244. 63 Vgl. Kolnai, Krieg, S. 323 f., wo der Nazismus als dem Bolschewismus vergleichbar – ohne dessen Akzeptanz von Gerechtigkeit und Rationalität – beschrieben wird. In seiner Autobiografie (»Political Memoirs«) bekennt sich Kolnai klar zur einzigartigen Bösartigkeit des Nazismus, der nicht einmal die Verständlichkeit der kommunistischen Doktrin in Bezug auf das Schicksal der Bourgeoisie hätte, die trotz aller Bösartigkeit zumindest verstanden werden könne »als die Vollendung eines historischen Trends«. Der Aufstieg der Nationalsozialisten, so schrieb er, »widersetzt sich meiner Vorstellung bis zu lebenslanger Fassungslosigkeit«. Kolnai, Political Memoirs, S. 147.

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Kolnai schrieb über diese Gemeinsamkeit in »The Utopian Mind«. Der utopische Sozialist hat, nicht unähnlich dem Nationalsozialisten, die dynamische Beziehung zwischen Moral und Existenz nicht verstanden: »Die Betonung der Perfektion unterscheidet sich von der Betonung von Werten erstens in ihrem Bezug auf eigenständige Vollständigkeit des Seins, welche unabhängig von Wertschätzung denkbar ist, und zweitens in ihrem Bezug auf die Idee der Koinzidenz mit Werten. Letzteres impliziert eine entscheidende Modifikation unserer primären Erfahrung von Wert als inhärent in, aber keineswegs identisch mit dem Sein, eingeschrieben in die Textur der Realität, aber weder ein Ausdruck noch ein konstitutives Prinzip dieser Textur.«64

Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den Nationalsozialisten und den linken utopischen Sozialisten besteht daher darin, dass durch den Wegfall der Sein-Sollen-Unterscheidung die Nationalsozialisten einer fixen Idee des »Seins« folgen, während die linken utopischen Sozialisten Enthusiasten des »Sollens« sind, das heißt der moralischen Kategorie des Wertes.65 In beiden Fällen geht die vitale Spannung zwischen dem »Sein« und dem »Sollen« verloren. Es ist die Negierung dieser Spannung, die den linken Utopismus nicht nur praktisch nicht wünschenswert, sondern als »Verlangen nach einer spannungslosen Einheit von Werten und Sein«66 absurd macht, wie Kolnai es in »The Utopian Mind« beschreibt. Ein wiederkehrendes Thema in Kolnais Werk, sowohl vor als auch nach dem Krieg, war die Fähigkeit, die Sein-Sollen-Spannung zu erkennen und zu akzeptieren (und sogar zu feiern) als Voraussetzung einer glücklichen, freiheitlichen und humanen Existenz. In der Tat, so argumentierte er, kann moralische Perfektion allein im Kontext der Realität des unvollkommenen Seins mit all seinen inneren Widersprüchen überhaupt ein sinnvoller Begriff sein: »Wir haben keinen Standard, kein Maß, kein Modell, keine anwendbare Definition von ›Perfektion‹ außer im Kontext der Realität mit ihrer Vielschichtigkeit von Gut und Böse, des mehr oder weniger Perfekten, Gelingendem und Scheiterndem. Wenn wir diesen Kontext verlassen, dann wird die bloße Idee der Perfektion so bedeutungslos wie zum Beispiel die Idee einer ›perfekten Speise‹, die weder Fleisch noch Früchte noch Korn ist, deren gegenseitig unvereinbare Vorzüge vereint und dabei frei von ihren jeweiligen Nachteilen ist.«67

In der inneren Welt des Selbst wird diese Spannung als Gewissen erlebt, dessen Bedeutung ein ständiges Thema in Kolnais Schriften ist. Bei den Philosophen, die in »Der Krieg gegen den Westen« behandelt werden, erscheint es nur in einer 64 65

66 67

Kolnai, The Utopian Mind, S. 59 f. (Hervorhebung im Original). Vgl. sein Statement in »The Moral Theme in Political Division«: »Während die Linke das ›Ideal erkennt‹, ›idealisiert‹ die Rechte die ›Realität‹.« Für beide Varianten sieht er eine Reihe problematischer Konsequenzen (»die Rechte wird leicht in Scheinheiligkeit verfallen, die Linke in moralischen Nihilismus«). Aurel Kolnai, The Moral Theme in Political Division. In: Philo­sophy, 35 (1960) 134, S. 234–254, hier 242. Kolnai, The Utopian Mind, S. 70. Ebd., S. 29 (Hervorhebung im Original).

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abgeschwächten Form und fordert nur, dass wir das »eigentliche Seinkönnen« oder einen »inneren Dialog«68 führen, während die Linken die Notwendigkeit einer moralisch zufriedenstellenden gesellschaftlichen Organisation herausstellen, die das moralische Gewicht der Gesellschaft trägt, während »sie das angepasste und gesunde Verhalten der Menschen« sichert, die dazu nicht ihr persönliches Gewissen befragen müssen.69 Auf unterschiedliche Weise neigen damit sowohl der Nationalsozialismus als auch der utopische Sozialismus dazu, die Bedeutung des Gewissens, der Persönlichkeit und der Individualität herunterzuspielen und sogar zu diffamieren. Kolnai betont dagegen in seinen Schriften, wie wichtig es ist, Moral und Praxis grundsätzlich zu unterscheiden, da diese Unterscheidung für die Entwicklung der liberalen Gesellschaft und der Aufklärung von entscheidender Bedeutung war. Wie ich selbst in meiner Diskussion des moralischen und ökonomischen Denkens der schottischen Philosophen David Hume und Francis Hutcheson geschrieben habe: »Es ist sicher keine Übertreibung zu sagen, dass die Eröffnung oder Erweiterung des Raums zwischen Tugend und Laster eine wichtige Rolle für die Geburt der Moderne gespielt hat, indem sie es erlaubt hat, Entscheidungen zu treffen, Interessen zu verfolgen und Individualität auszudrücken, ohne dabei Angst vor moralischen Sanktionen haben zu müssen. Dieser neutrale Raum, in dem, wie Hutcheson es formuliert hat, Handlungen der Vermittlung stattfanden, war nach der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Überzeugung das Reich des Handels.«70

Diese Einsichten der Aufklärung, so Kolnai, wurden von den modernen utopischen Sozialisten zurückgewiesen. Indem sie die Vervollkommnung des Menschen zu ihrem politischen Ziel erklärten, identifizierten die Kommunisten und ihre Verbündeten den moralischen Wert mit einer Art idealem Sein. Sie bedrohten die Individualität, indem sie das ganze Feld der Praxis moralisierten und ­darauf bestanden, dass alles menschliche Handeln nur dann gerechtfertigt sei, wenn es zur Herausbildung eines einheitlichen Gemeinschaftsmenschen beitrage. Dabei stellte Kolnai fest, dass der Wunsch »nach einem Leben in Einklang mit der Moral nicht nur eine utopische Idee ist, sondern den Kern utopischen Denkens überhaupt ausmacht«.71 Auf dem Spiel standen in dieser negativen Moral Kolnais der Pluralismus der Werte und die Errungenschaften der Aufklärung. 68 Kolnai, Krieg, S. 312. Heidegger, den Kolnai später als »halbherzigen und desillusionierten Nazi« bezeichnete, ist der Philosoph, mit dem Kolnai diesen zahnlosen Typ eines Gewissens am meisten assoziierte. Vgl. Existence and Ethics. In: ders., Ethics, S. 125. 69 Kolnai, Political Division, S. 246. 70 Vgl. Andrew S. Cunningham, David Hume’s Account of Luxury. In. Journal of the History of Economic Thought, 27 (2005), S. 231–250, hier 244. 71 Vgl. Kolnai, Moral Evil, S. 28. Besonders kritisch sah er Existentialisten wie Heidegger und Jean-Paul Sartre, denen er vorwarf, bescheidene Einsichten über Scheinheiligkeit und Selbsttäuschung als Rechtfertigung dafür zu benutzen, »das hohe Gut von Anstand und Loyalität« zu denunzieren als etwas, »das nicht besser ist, als ein homogenes Gebilde der Heuchelei«. Kolnai, Existence and Ethics, S. 129.

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Die einfachen Leute: »Common Men« and »Plain Men«

In zwei langen Artikeln aus seiner Zeit in Québec72 beschrieb Kolnai den Unterschied zwischen dem einfachen Mann der englischen Moralphilosophie73 und dem einfachen Mann, dessen sozialen Aufstieg die Kommunisten beförderten. Der einfache Mensch ist nicht »der seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bewusste Mensch«. »Er beansprucht nicht, die Menschheit zu verkörpern« und ist sich auch nicht selbst das wichtigste Thema.74 Der einfache Mann der Kommunisten ist »ein verrückt gewordener einfacher Mensch«, der »durch die Übertreibung und Aufbauschung seiner Einfachheit beansprucht, als vollkommener Mensch autark zu werden, jedoch nicht durch Verzicht und Entsagung, sondern durch universellen Überfluss«.75 Kolnai fuhr fort: »Im Unterschied zum ›plain man‹, der das Gewicht auf praktische Überlegungen legt, jedoch durch feste, wenn auch flexible Bindungen höheren Dingen verpflichtet ist, interessiert sich der ›common man‹ eigentlich nur für sein eigenes Wohlbefinden und für das Universum nur in einem ganz allgemeinen Sinn. Beide sind für ihn identisch. Er würde sein konkretes Selbst wesentlich großzügiger als der ›plain man‹ dem Imperativ eines fortschrittliche Idealismus unterordnen. Vollkommen respektlos gegenüber allem, das beansprucht, über ihm zu stehen, verlangt er geradezu danach, jeglicher Macht zu gehorchen, die ihm in seinem eigenen oder im Namen eines progressiven Ziels Anweisungen gibt, was seinem Anspruch schmeichelt, alles zu sein. Während ihm Einschränkungen, Spannungen und Unterordnung zuwider sind, ist er zugleich nur allzu bereit, die schwersten Ketten zu tragen, wenn sie denn von ihm selbst geschaffen zu sein scheinen.«76

Die Werte des von den Kommunisten idealisierten einfachen Mannes sind per Definition identisch mit den einer Gesellschaft inhärenten Werten und generieren das Paradox, dass sich der einfache Mensch überschwänglich als Verkörperung aller Werte sieht, während er in Gemeinschaft zugleich machtlos ist. Dabei kann er auch nicht annähernd jene dafür notwendigen Eigenschaften besitzen, die ihn zu einer unabhängigen Macht machen würden, die sich wenn nötig gegen die ihn umgebende Gesellschaft behaupten könnte. Die Doktrin des Identitarismus, nach der jedes Element der Gesellschaft, also jeder Bürger die Werte der Gesellschaft im Kleinen kopiert, stand im star72

Beide Artikel wurden 1949 erstmals veröffentlicht. Nach Kolnais Tod in einem Sammelband erneut veröffentlicht: Aurel Kolnai, Privilege and Liberty and Other Essays in Political Philosophy. Hg. von Daniel J. Mahoney, Lanham 1999. 73 Dabei ging es mehr oder weniger um den »Menschen im Clapham Omnibus«, den einfachen, aber robusten Durchschnittstyp, auf den sich englische Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts immer wieder wegen seines gesunden Menschenverstands als verlässliche Quelle beriefen, wenn es darum ging, einen Ausweg aus verzwickten moralischen Situationen zu finden. 74 Aurel Kolnai, The Meaning of the »Common Man«. In: The Thomist, 12 (1949) 3, S. 272–335, hier 307. 75 Ebd., S. 310 f. 76 Ebd.

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ken Gegensatz zu dem, was Kolnai idealtypisch als wichtigsten Vorteil liberaler Gesellschaften sah. In solchen Gesellschaften, so argumentierte er, funktioniert Privileg (ein Begriff, den er umfassend in seinem Essay »Privilege and Liberty«77 diskutierte) als Bollwerk der Freiheit, das die Erhaltung äußerer Machtzentren unterstützt und häufig in axiologischer Spannung zur Macht des Staates steht: »Wegen der Reichen, der relativ unabhängigen Kapitalbesitzer und Subjekte privater Initiative habe ich als Armer eine eigene Würde und kann mich in manchen Angelegenheiten und in bestimmten Situationen vom Kollektiv separieren und dem Druck der herrschenden Mächte widerstehen, so, als wäre ich selbst reich.«78 Für Kolnai bestand der Wert der Aristokratie und gesellschaftlicher ­Privilegien nicht in der tatsächlichen Überlegenheit dieser Menschen. Kolnais »einfacher Mann« war sich der Schwächen der Privilegierten bewusst, die in Versuchung waren, Dinge zu sagen wie »ich erkenne einen Ehrenmann, wenn ich ihn sehe«. Sie wussten, dass sie für die Möglichkeit standen, die Macht und das anerkannte Wissen des Kollektivs herauszufordern.

Die Verachtung der Persönlichkeit im Utopismus Nachdem einige Merkmale von Kolnais Kritik des utopischen Sozialismus zusammengefasst wurden, soll nun zur Frage der Persönlichkeit zurückgekehrt werden. Dazu schrieb Kolnai 1951: »Ich möchte die Idee des egalitären Identitarismus wie folgt zusammenfassen: Menschsein bedeutet nicht länger eine Vielzahl von Personen, die durch eine objektive Ordnung gemeinsamer Beziehungen, gegenseitiger Verpflichtungen und Solidarität vereint sind. Vielmehr wird der Mensch das eine Subjekt menschlichen Handelns und Schicksals sein. Individuen werden Ausdruck und Porträts des Kollektivmenschen sein, alle gleich, mit Ausnahme verschiedener, biologisch bestimmter Funktionen.«79

In »Privilege and Liberty« argumentierte Kolnai, dass für den einfachen Mann »jedes menschliche Antlitz, in dem er sich nicht selbst wie in einem Spiegel wieder­erkennt, verrückt, unheimlich und irgendwie unrein erscheint«.80 Persönlichkeit sieht der einfache Mann als Bedrohung, da sie eine Abweichung von der Norm ist und Merkmale oder Werte verkörpert, die den Merkmalen und Werten des einfachen Mannes entgegenstehen und die deshalb außerhalb von ihm selbst als mahnende Herausforderung der Fülle seines eigenen Seins und des sozialistischen Traums menschlicher Vervollkommnung stehen. 77 78 79 80

Vgl. Kolnai, Privilege and Liberty. In: Laval théologique et philosophique, 5 (1949) 1, S. 66–110. Ebd., S. 94. Aurel Kolnai, The Cult of the Common Man and the Glory of the Humble. In: Integrity, 6 (1951), S. 3–43, hier 20 f. Kolnai, Privilege and Liberty, S. 76.

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Eine ähnliche Kritik findet sich mit Bezug auf den Nationalsozialismus in »Der Krieg gegen den Westen«. Die Verachtung der Persönlichkeit als Thema des deutschen Denkens führte Kolnai auf Schelling und insbesondere G. W. F. Hegel zurück, deren »Bewunderung des Staates« nicht verstanden werden könne, »wenn man sich nicht die dem zugrunde liegende Abneigung gegen den Verstand und die menschliche Persönlichkeit bewusst macht«.81 Kolnai zitierte umfangreiche Nachweise, die belegten, dass sich diese Verachtung im nationalsozialistischen Denken wiederfand: »Du bist nichts, dein Volk ist alles!« (E. Bergmann)82 »Ein überindividuelles Etwas, für das der Mensch sich opfert […]. Sie ist eine konkrete Idee, wie sie in einem Verband sich darstellt.« (W. Sombart)83 »Person und All sind feindliche Gegensätze; nur durch Aufhebung jener steht der zu diesem offen.« (L. Klages)84

Wie Kolnai in seiner Diskussion von Franz Haiser anmerkte, ist der faschistische Geist unfähig, die Gesellschaft als System gegenseitiger Beziehungen zu sehen, die freie und unabhängige Individuen miteinander eingehen, die diesen als »lebendigen Körper sehen, als eine lebendige Einheit, dessen Angehörige funktionale Organe darstellen«.85 Die Abwertung der Persönlichkeit, die Kolnai als »unverzichtbaren Kern menschlicher Existenz«86 und jeglicher Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft sah, ist ein Merkmal vieler, wenn nicht aller Formen des Utopismus. Aus Kolnais Sicht war sie eine der Dogmen, durch die der Nationalsozialismus den gewöhnlichen Konservatismus und reaktionären Ethnozentrismus hinter sich ließ und überbot, mit denen er manchmal assoziiert wird: »Hier lässt sich wieder einmal beobachten, wie der faschistische Radikalismus an die Stelle lediglich konservativer Vorsicht oder eines reaktionären Misstrauens tritt. Der Mensch als moralische Person wird verleugnet, nicht das allgemeine Wahlrecht oder die Kontrolle der eigenen Persönlichkeit jenseits bestimmter Grenzen.«87

81 82 83 84 85 86 87

Kolnai, Krieg, S. 158. Zit. in ebd., S. 117. Zit. in ebd., S. 94. Zit. in ebd., S. 96. Ebd., S. 127. Ebd., S. 93. Ebd., S. 99.

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Interessantheit als Modus der Werteerfahrung Dass Kolnai die Abwertung der Persönlichkeit als das Wesen utopischer politischer Philosophie bestimmt hat, ist keine Überraschung. Seine autobiografischen Schriften belegen, dass er die moralische und normative Komplexität bestimmter menschlicher Charaktere zu schätzen wusste. Ein typisches Beispiel dafür ist ein Wiener Verwandter, an den sich Kolnai so erinnert: »Onkel Leopold war nicht besonders tugendhaft, aber sicher der glücklichste Mensch, den ich kannte. Er war ein moderater Trinker, ging auch ab und an zu Prostituierten, verstand es, sich jeder Verantwortung zu entziehen oder sich um etwas Sorgen zu machen. Er trug niemandem etwas nach und war bis zu seinem Tod in hohem Alter niemals krank. Er hat es sogar geschafft, den Zeitpunkt seines Todes als Lebenskünstler perfekt zu bestimmen, denn er starb wenige Tage, bevor die Deutschen in Wien einmarschierten. Ich hoffe, dass er sich mit seiner kindlichen Sanftmut und seiner Arglosigkeit die Barmherzigkeit des Himmels verdient hat.«88

Nachdem er sich schließlich eine akademische Position als Philosoph gesichert hatte,89 zeigte sich Kolnais Faszination von der Komplexität des menschlichen Wesens in einer Reihe von Essays über die »Phänomenologie der Werteerfahrung«, wie man es nennen könnte, also über die Beziehung zwischen Güte und dem Guten, zwischen der Moral und der Ästhetik,90 über die Würde als Wertekategorie91 und über das Gefühl des Ekels.92 Einer von Kolnais besten Texten über die Werteerfahrung und meiner Meinung nach ein Schlüssel zum Verständnis seines Denkens wurde 1964 im »­British Journal of Aesthetics« veröffentlicht. In ihm ging es um eine Wertekategorie, die zuvor und seitdem nur wenige Philosophen interessiert hat, nämlich die der Interessantheit. In diesem Text argumentierte Kolnai, dass sich das Urteil, ob etwas interessant oder uninteressant ist, nicht auf ästhetische Urteile reduzieren lässt, von denen es sich axiologisch unterscheidet, mit denen es aber oft in einen Topf geworfen wird. Den Unterschied zwischen den Wertekategorien des Schönen und des Interessanten illustrierte er etwa durch folgende Beispiele:

88 Kolnai, Political Memoirs, S. 3 f. 89 Er schrieb, dass er eher deshalb zur Philosophie kam, weil es an der Universität Laval keine freien Stellen an für ihn besser geeigneten Departments gab. Vgl. ebd., S. 215. 90 Kolnai, Aesthetic and Moral Experience. In: ders., Ethics, S. 187–210. 91 Aurel Kolnai, Dignity. In: Philosophy, 51 (1976), S. 251–271. 92 Aurel Kolnai, Der Ekel. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 10 (1929), S. 515–569.

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»Gogols ›Tote Seelen‹ ist eine außerordentlich interessante große Erzählung, die jedoch wegen ihrer strukturellen Unzulänglichkeiten und der Schwerfälligkeit ihrer Erzähltechniken alles andere als eine wirklich gute Erzählung ist. Goncharovs ›Oblomov‹ dagegen, ebenfalls eine große Erzählung, ist alles in allem eine bessere Erzählung, wenn auch vergleichsweise langweilig. Und nichts von dem, was Tolstoi jemals schrieb, ist auch nur annähernd so interessant, wie das meiste von dem, was Dostojewski schrieb. Dennoch ist Tolstois ›Krieg und Frieden‹ in seiner künstlerischen Größe jedem Roman Dostojewskis überlegen.«93

Die Elemente des Interessanten, die Kolnai herausarbeitete, wie Exzentrizität, das Exotische, das Geheimnisvolle, Bewegung, Vielfältigkeit und Originalität ähneln in ihren Umrissen Rudolf Ottos »ideeller« Trinität – mysterium, tremendum, fascinans – die er in seinem bekanntesten Buch »Das Heilige« von 1917 einführte. Ob Kolnai diese Elemente im Katholizismus kannte und ihre Rezeption eine Rolle bei seiner Konvertierung zum Christentum als Erwachsener gespielt hat, wissen wir nicht. Bewegung und Streunen

Unter den Elementen des Interessanten verdient Bewegung in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit, und zwar deshalb, weil Handlung und Aktion, wie wir gesehen haben, Kennzeichen des nationalsozialistischen Vitalismus sind und sie auch dem Aktivismus der sozialistischen Utopien korrespondieren. Deshalb müssen wir uns fragen, ob Kolnais Ansichten nicht gleichermaßen vom rechten und linken Utopismus entfernt sind. Das ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. In dem Text »On the Concept of the Interesting« unterscheidet Kolnai zwischen der aktivistisch-vitalistischen Bedeutung von Bewegung – »einer utopischen, ekstatischen oder sich selbst reformierenden Anpassung oder Verwandlung« – und der entgegengesetzten Bedeutung als einem Element des Interessanten. Diese zweite Bedeutung von Bewegung war nicht ekstatisch, sondern eher »ein abenteuerliches Streunen in einem noch nicht erforschten Bereich, der uns auffällt«.94 Das Wort Streunen war sorgfältig gewählt. Aus Kolnais Sicht sind das Fremde und Exotische deshalb interessant, weil sie in Beziehung stehen zu dem, was uns vertraut ist: »Der entwickelte philosophische Verstand ist weniger empfänglich für das radikal Neue und Fremde als der unreife Verstand. Er fühlt sich mehr zur Wiederkehr des Gleichen in dem, was sich verändert hat, hingezogen, von dem er erwartet, dass es die Welt als Ganze in neuem Licht erscheinen lässt. Er ist sich bewusst, dass jede Reise, die sich gelohnt hat, in gewissem Sinn […] eine Reise nach Hause ist. Mobilität aus der Perspektive des Interessanten jedenfalls bedeutet eher die Aufrechterhaltung einer Spannung als das Reißen einer Sehne; nicht den Sprung in etwas Fremdes, das mit mir nichts zu tun hat, sondern die Verkörperung des Zusammenspiels von Vertrautheit und Fremdheit.«95 93 Aurel Kolnai, On the Concept of the Interesting. In: British Journal of Aesthetics, 4 (1964), S. 22–39, hier 23. 94 Ebd., S. 32. 95 Ebd., S. 33.

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Bewegung im Sinne von Streunen ist ein Element des Interessanten, da sie uns über die Verbindungen führt, die, wie prekär auch immer, unsere komplexe, vielfältige und offensichtlich in sich widersprüchliche Welt zusammenhalten. Dadurch können wir zwischen unterschiedlichen Perspektiven hin- und herwechseln, die als unvereinbar erschienen wären, wenn wir uns zu schnell bewegt und dabei das Gefühl für den Weg verloren hätten, in den diese Perspektiven schließlich münden, wie indirekt, spannungsgeladen und problematisch dieser auch sein mag. Diese zu schnelle, sprunghafte Bewegung, bei der die Sehnen reißen, ist natürlich die der Utopisten.96 Eine weitere bemerkenswerte Passage führt auf faszinierende Weise das Interessante neben dem Schönen und moralisch Guten als wichtigen Modus der Werteerfahrung ein und verweist dabei auf Kolnais Persönlichkeit selbst als Grundlage dieser Ansicht: »Nicht die Undurchdringlichkeit individueller Dinge oder Personen selbst ist interessant, sondern das veränderte Licht, in dem die Welt nach dem Eindringen in ihre Struktur und der Entdeckung erscheint, was zeigt, dass unsere gewöhnlichen Begriffsapparate nur unzureichend für deren Erfassung geeignet sind. […] Ich meine, dass nichts als isoliertes Etwas ohne Austausch mit anderen interessant ist und dass das Individuelle, Originelle, Exzentrische oder nicht auf anderes Reduzierbare als Bestandteil der Welt interessant ist, also dadurch, dass es die Welt als einen interessanten Ort darstellt, der sich nicht in ein fertiges Schema von Begriffen und Kategorien auflösen lässt, die in verborgenen Zugängen zu unbekannten Räumen reichlich vorhanden sind. Außergewöhnliche Besonderheiten sind dann interessant, wenn sie uns daran erinnern, dass wir in einer bekannten, jedoch nicht hinreichend erforschten Welt leben, die mit Transparenz und Verlockung ihrer außergewöhnlichen Varianten durchsetzt ist, deren Gesetze und Zwänge uns eher auf einen Geltungsbereich als auf eine sphärische Umlaufbahn im Sinne Parmenides’ verweisen.«97

Interessantheit, so Kolnais Schlussfolgerung, ist die auf unseren Erfahrungen gegründete Tatsache, dass »diese Welt so eingerichtet ist, dass sie es uns ermöglicht, über sie hinauszuschauen«,98 oder so, wie er es in »Privilege and ­Liberty« 96 Kolnais Faszination vom Problem des Interessanten zeigt sich auch in folgendem Zitat: »Die Forderung nach monistischer Vereinfachung … steht dem Interessanten absolut entgegen. Die gleiche kühle Langeweile folgt aus Spinozas Pantheismus, aus Parmenides’ Konstruktion einer einfachen und ungeteilten Realität als einer vollkommenen Sphäre und ähnlichen philosophischen Ungereimtheiten, zu denen auch Aristoteles’ Gott gehören, die sich selbst genügende, eben unbewegte Ursache und deren scholastische Weiterführung. Weiterhin gehören dazu der moderne irreligiöse Materialismus in seinen verschiedenen Formen sowie die utopische Vision des Schreckensszenarios der Perfektion.« Ebd., S. 33 f. 97 Ebd., S. 34 f. 98 Ebd., S. 36. Vgl. seine Bestimmung von Träumen als etwas, das den Träumer verspottet oder verhöhnt: »(Als Person, die, nachdem sie aufgewacht ist, sich bewusst ist, dass sie geträumt hat) deutlicher erkennt, als wenn sie dazu nur auf ihre Imagination angewiesen wäre, dass es eine anders strukturierte und artikulierte Welt gibt, die hinsichtlich Zeit und Identität anders als die aktuelle Wirklichkeit aufgebaut ist«. Aurel Kolnai, The Dream as Artist. In: British Journal of Aesthetics, 12 (1972), S. 158–162, hier 160.

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f­ormulierte, die Tatsache, »dass in dem Menschen, der über sich selbst hinausweist, viele Menschen erscheinen, die auf unterschiedliche Weise das jeweilige Niveau der Menschheit überschreiten«.99 Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Interessantheit eine Wertungskategorie ist, die utopische Sozialisten deshalb stört, weil sie als ein Aspekt unserer Werte­ erfahrung die Existenz von Wissen, Erfahrungen und Perspektiven aufzeigt, die außerhalb unserer selbst liegen, die die Ansprüche des vermeintlich gesunden Menschenverstands widerlegen, und zwar nicht nur den auf Machtfülle, sondern wahrscheinlich auch die auf Identität und sogar Gleichheit. Ohne Identität und Gleichheit erwachsen Spannungen und eine hartnäckige Nichtübereinstimmung zwischen gleichrangigen ebenbürtigen Menschen und, was deprimierend aus einer utopischen Perspektive ist, das Gefühl der Aussichtslosigkeit, einen vollkommenen gewöhnlichen Menschen zu erzeugen, der alle nur denkbaren Tugenden in sich vereint. Umgekehrt kann Vollkommenheit als Ziel des Utopischen oder jeder anderen politischen Überzeugung nur durch Gewalt gegen die menschliche Natur und, was unweigerlich daraus folgt, durch Gewalt gegen andere Menschen erreicht werden. »Terror«, so Kolnai, »ist nicht nur das Mittel, sondern das Wesen der direkten und wirklichen Herrschaft des Volkes«.100 In »Der Krieg gegen den Westen« wurde dieses Prinzip für den totalitären Nationalsozialismus herausgearbeitet. In »Privilege and Liberty« und »The Meaning of the ›Common Man‹« sowie anderen Schriften der Nachkriegszeit hat sich Kolnai dagegen auf den Sozialismus und Kommunismus fokussiert.

Kolnais Denken im Kontext des Konservatismus des 21. Jahrhunderts Kolnais Ansichten haben sich in einigen wichtigen Punkten von denen anderer politisch konservativer Philosophen seiner Zeit unterschieden, wobei auf zwei seiner Zeitgenossen genauer eingegangen werden soll: Sir Karl Popper (1902–1994) und Michael Oakeshott (1901–1990).

    99 Kolnai, Privilege and Liberty, S. 69. In einem Text von 1944, den Kolnai, als er in Cambridge lebte, aus einer religiösen Stimmung heraus, die sich so in seinen späteren Texten nicht findet, verfasste, heißt es, dass der Humanist durch die Verneinung Gottes das größte Bedürfnis des Menschen »ignoriert, verstümmelt und erstickt« und damit »einen Sinn seines Lebens verwirkt, der über seine Bedürfnisse hinausweist«. Aurel Kolnai, The Humanitarian versus the Religious Attitude. In: The Thomist, 7 (1944) 4, S. 429–457, hier 457. 100 Kolnai, The Meaning of the Common Man, S. 330 (Hervorhebung im Original).

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Kolnais Haltung zum Perfektionismus zeigt, dass er Poppers bekannte These der Falsifizierung als Maßstab wissenschaftlicher Theorie teilt. Aus Kolnais Sicht ist der utopische Perfektionismus vor allem eine psychologische Haltung des Subjekts, in der es allgemeinste und abstrakteste werterelevante Sichtweisen auf einer Ebene entwickelt, auf der es kaum mit irgendwelchen Fakten oder Daten in Berührung kommt. Wie Popper argumentiert er in »The Utopian Mind«: »Eine wissenschaftliche Hypothese oder jegliche auf Fakten bezogene Annahme kann überzeugend durch das Experiment, die Beobachtung oder einen Augenzeugen falsifiziert werden. Konkrete, eingegrenzte und vergleichsweise technische Werteprobleme hängen vor allem von faktischen Beziehungen ab, die eindeutig getestet werden können ebenso wie von als fraglos gültig anerkannten und deshalb faktisch geltenden Bewertungen. Im allgemeinen lässt sich die Werteauffassung jedoch nicht mit einfachen Erfahrungstatsachen konfrontieren und ist auch nicht etablierten Grundsätzen der Bewertung verpflichtet wie den grundlegenden Verboten der einfachen Moral. Sie kann immer wieder formalisiert und neu interpretiert werden. Deshalb mag die perfektionistische Falsifizierung sich über jeden detaillierten Test erheben und die perfektionistische Haltung insgesamt sich selbst genügen.«101

Popper selbst hat die Bedeutung der Falsifizierung für die Legitimität wissenschaftlicher Theorien als Ergebnis seiner eigenen kurzen und desillusionierenden Liaison mit dem wissenschaftlichen Marxismus gegen Ende des Ersten Weltkrieges beschrieben.102 Dem sollen die Bezüge auf Kolnai in Poppers ­Veröffentlichungen hinzugefügt werden. In seinem Buch »The Open Society and its Enemies«103 erklärte Popper, dass er Kolnais »Der Krieg gegen den Westen« viel zu verdanken habe. In seiner Autobiografie »Unended Quest«104 bezog er sich erneut auf dieses exzellente Buch. Ungeachtet der bemerkenswerten biografischen Parallelen zwischen Popper und Kolnai, die beide zum Christentum konvertierte Söhne von jüdischen Mittel­ klassefamilien Österreich-Ungarns waren, von Hitler ins englischsprachige Exil getrieben wurden und schließlich an der University of London studierten, waren beide zweifellos politische Konservative unterschiedlichen Kalibers. Pierre Ma­ erausgestellt. nent hat das in seiner Einführung zu Kolnais »The Utopian Mind« h 101 Kolnai, The Utopian Mind, S. 83. 102 Wie Popper in seiner Autobiografie schrieb: »Mich hat die Tatsache schockiert, dass die Marxisten, deren zentraler Anspruch es war, Sozialwissenschaftler zu sein, und die Psychoanalytiker aller Schulen es verstanden, jedes nur denkbare Ereignis als Bestätigung ihrer Theorien zu interpretieren. Das […] führte mich zu der Ansicht, dass nur versuchte Widerlegungen, die sich selbst nicht widerlegen ließen, als Verifizierung gelten konnten.« Karl Popper, Unended Quest: An Intellectual Autobiography, Glasgow 1976, S. 42. Vgl. Kolnais Beschreibung seiner Desillusionierung von der Psychoanalyse, die bis 1920 zurückreicht. Dabei stellte er fest, dass Freud und seine Anhänger »zu viel bewiesen, um irgendetwas zu beweisen«. Vgl. Kolnai, Political Memoirs, S. 78. 103 Karl Popper, The Open Society and Its Enemies, 2 Bände, Princeton 1962, Band 1, S. 230, Band 2, S. 315. 104 Ders., Unended Quest, S. 105.

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Aus seiner Sicht war Kolnai der Meinung, »dass Poppers Konservatismus zu ausschließlich epistemologisch ist, zu sehr fokussiert auf den Wert in einem traditio­ nellen, auf Erkenntnisfortschritt und die Beurteilung von Reformen bezogenen Referenzrahmen, sodass Popper nicht hinreichend sensibel ist für die inneren moralischen und vitalen Vorzüge einer konservativen Haltung«.105 Vielleicht hat Kolnai deshalb Popper als »nicht-millenaristischen Linken« bezeichnet, eine Bezeichnung, die Julien Benda und Reinhold Niebuhr106 einschloss. Diese sehr kurze Diskussion Poppers ermöglicht es uns, die Bedeutung der von Kolnai angeführten inneren Vorzüge des Konservatismus zu würdigen. Aus Kolnais Sicht bestanden diese Vorzüge in psychologischen Belohnungen für die explizit konservative Haltung der Akzeptanz und Anerkennung der inneren, nicht hintergehbaren Komplexität menschlicher Existenz. In seiner Autobiografie äußerte Kolnai die Ansicht, dass der Verstand wenigstens dann, wenn er sich selbst überlassen ist, uns ganz selbstverständlich zu dieser Anerkennung führt: »Das geistige Leben des Menschen ist gleichzeitig ein unaufhörlicher Prozess der Integration, Konzentration, Verhärtung und Auskristallisierung auf der einen Seite; der Mäßigung, Abmilderung und Abschwächung auf der anderen. Die Konfrontation und Koordinierung führt den Verstand zu einer höheren Stufe des Ausgleichs, auf der das Wahre klarer und eindeutiger bestimmend ist. Das führt zu einem stärkeren Bewusstsein der Grenzen der Integration und zu mehr Einsicht in die eigene Vielschichtigkeit, auch wenn das zugleich den Verdacht der Widersprüchlichkeit aufwirft, und es bewirkt die Anerkennung der fragmentarischen Natur des Lebens und seiner Werte.«107

Die Fähigkeit, die Welt als interessant zu erfahren, hilft uns dabei, diese Integration zu erreichen, indem sie uns auf die vielfältigen Perspektiven aufmerksam macht, in denen sich die Welt auf eine Weise zeigt, die nur schwer miteinander zu vereinbaren sind, da sie als widersprüchlich erscheinen. Im Gegensatz dazu versucht sowohl das rechte als auch das linke utopische Denken in seiner Ungeduld gegenüber solchen Unvollkommenheiten und offensichtlichen Konflikten einen neuen und verbesserten Menschen zu schaffen, der sich durch Sicherheit und moralische oder amoralische Eindeutigkeit auszeichnet, wobei diese Eindeutigkeit entweder durch die Übernahme des moralischen Nihilismus der Rechten oder der moralischen Unendlichkeit der Linken zu sichern versucht wird. Kolnai sah den Extremismus jeder Art als Ablenkung von der wirklichen und erreichbaren Aufgabe unserer Versöhnung mit der Komplexität, den Widersprüchen und Spannungen in uns selbst, zwischen Menschen und anderen Lebewesen oder, noch breiter gefasst, der moralischen, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit, in der wir alle leben.108 105 106 107 108

Pierre Manent, Introduction. In: Kolnai, The Utopian Mind, S. xiii–xxvi, hier xxii f. Kolnai, Political Division, S. 252; vgl. ders., The Utopian Mind, S. 9. Ders., Political Memoirs, S. 25. Wie Pierre Manent in seinem Vorwort schrieb, sah Kolnai es als »unsere Pflicht ebenso wie ein grundsätzliches Element unseres Glücks, Gott in der zwiespältigen Realität zu entdecken«. Ders., Foreword. In: Kolnai, Privilege and Liberty and Other Essays, S. vii.

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Michael Oakeshott

1965 rezensierte Kolnai Michael Oakeshotts Werk »Rationalism in Politics« für die anerkannte britische Zeitschrift »Philosophy«. Oakeshott hatte argumentiert, dass rationalistische Gesellschaftsutopien, die meinten, eine von Grund auf neue ideale gesellschaftliche Vernunftordnung entwickeln zu können, übersahen, welche Rolle Tradition und Gewohnheit bei der Konstruktion und Stabilisierung der Gesellschaft spielten. Weiterhin verwies Oakeshott ungeachtet der leidenschaftlichen Unbeirrbarkeit, mit der die Rationalisten die Vernunft herausstellten, auf die Bedeutung von Traditionen und Gewohnheiten, die in nahezu jedem Detail der entworfenen Vernunftordnungen zu finden waren.109 Obwohl er seine Bewunderung für viele der in Oakeshotts Buch »Rationalism in Politics« behandelten Themen zum Ausdruck brachte, sah er auch eine Kehrseite in dessen Denken, über »die er nicht hinwegsehen«110 wollte. So schrieb er: »Professor Oakeshott schießt über das Ziel hinaus, wenn er die Bedeutung von Gewohnheit, Routine, Tradition, sich zufällig ergebenden Lösungen, der Fähigkeit und des ›Know-how‹ der erfahrenen und sich selbst vorantreibenden Tugend des Handelns hervorhebt, denen er einen größeren Raum im menschlichen Leben und mehr Unabhängigkeit zuschreibt als ihnen tatsächlich zukommt.«

Für das uns hier interessierende Problem noch wichtiger, fährt er fort: »Auf eine Weise, die irgendwie an die verschiedenen irrationalistischen Strömungen im Europa der Zwischenkriegszeit erinnert, allerdings ohne, dass sich bei ihm irgendeine Spur morbider Freude an der Barbarei findet, vertraut [Oakeshott] dem Test des Lebens selbst und neigt dazu, die innere geistige Natur des Menschen und seine entsprechenden intellektuellen Ansprüche zu unterschätzen. […] Auf beeindruckende Weise erklärt er, dass es keinen leeren Verstand gibt, der erst mit entdeckten Wahrheiten gefüllt werden müsste, und dass das Denken niemals bei null beginnt, sondern immer auf eine Reihe von Voraussetzungen und Vorurteilen zurückgreift. Dabei unternimmt er jedoch keinen Versuch, was unbedingt nötig wäre, zwischen nützlichen, anregenden, die Wahrheit befördernden allgemeinen Vorurteilen, die die ursprüngliche und provisorische Substanz des Wissens ausmachen, und jenen Vorurteilen im engeren Sinne zu unterscheiden, die die Wahrheit zu erübrigen scheinen, die dem Verstand den Zugang zur Realität versperren, Urteile pervertieren und das Denken durch illusionäre Konstruktionen in die Irre führen.«111

109 Das wird besonders eindringlich in Oakeshotts witziger Bemerkung zur Bewegung für viktorianische Kleidung in seinem Essay »Rational Conduct« illustriert, die eine Neugestaltung menschlicher Kleidung auf rein vernünftiger Grundlage vorsah. Ders., Rationalism and Politics and Other Essays, Indianapolis 1991, S. 99–131. 110 Aurel Kolnai, Rezension zu Michael Oakeshotts »Rationalism in Politics«. In: Philosophy, 40 (1965), S. 68–71, hier 68. 111 Ebd., S. 69. Siehe auch die Kritik zu Thomas Hardys Gedicht »We Are Getting to the End« (ca. 1925–1928): »Unsere Einbildungskraft kommt an ihr Ende/Das Unmögliche im Universum,/Sodass bessere Zeiten schlechteren folgen mögen,/Und sich unsere Rasse durch die Vernunft verbessern wird.« Kolnai teilte Hardys Antiutopismus, nicht jedoch den übertriebenen

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Kolnai sah in Oakeshotts Werk zumindest einen Schatten jenes vitalistischen Impulses, den die nationalsozialistischen Philosophen so energisch herausgearbeitet hatten. Auch wenn er sich nicht so primitiv ausgedrückt hat oder zu vergleichbar brutaler Konsequenz getrieben wurde, ähnelte Oakeshotts Herausstellung des Handelns als eine Art Zweck in sich selbst doch der »Romantisierung des Handelns«, die Kolnai in »Der Krieg gegen den Westen« kritisiert hatte. Oakeshotts Buch veranlasste Kolnai auch dazu, die Stimmigkeit des Konservatismus als eine politische Position zu hinterfragen: »Ist es möglich, ein Konservativer und nichts anderes zu sein, oder auch ein Revolutionär und nichts anderes?«112 In Kolnais Verständnis ist der Konservatismus als ein Kennzeichen der menschlichen Psychologie eher eine Haltung als ein politisches Programm – eine Haltung, die in der Anerkennung, ja einer Neigung zur Spannung zwischen Sein und Sollen gründet. Wie er in »The Moral Theme in Political Division« schrieb: »Rechts und Links unterscheiden sich nicht so sehr in ihren moralischen Wertungen […] als vielmehr in ihrer gegensätzlichen Haltung zur Spannung zwischen Sein und Sollen. Die Rechten sehen diese Spannung als unaufhebbar, […] während die Linken im Gegenteil dazu neigen, die Disjunktion zwischen Sein und Sollen zu übertreiben und diese Spannung als inakzeptabel sehen, weshalb sie dringend beseitigt werden müsse.«113

Kolnai stimmte mit Oakeshott überein, der einen »aufgeklärten, toleranten, pragmatischen und flexiblen Konservatismus« verteidigte, für den »Führung eine bestimmte eingegrenzte Handlung ist, eher die eines Schiedsrichters, als eines Führers oder Managers«, der »die Energien der Gemeinschaft nicht einem zentralen Zweck unterordnet«.114 Kurz: »Worauf es ankommt in unserer vom Fortschritt als wichtigstem, nicht weiter hinterfragtem Ziel besessenen Welt ist, wach zu bleiben und eine konservative Geisteshaltung bewusst zu kultivieren und zu sichern und ihrem ernüchternden Tun freien Lauf zu lassen.«115 Das geht über einen Traditionalismus hinaus, der, wie er in »The Utopian Mind«116 feststellte, »dazu neigen mag, den bestehenden Stand der Dinge als das ­ ntirationalismus der letzten beiden Strophen: »Warum sollten nicht bessere Zeiten schlechA teren folgen«, wenigstens manchmal? Und insbesondere: »Warum erklären, dass die Vernunft nicht zur Verbesserung der Zivilisation beitragen oder zur Verbesserung unserer Rasse führen kann?« Kolnai, The Utopian Mind, S. 68. 112 Kolnai, Rezension zu Oakeshott, S. 71. 113 Ders., Political Division, S. 252. 114 Ders., Rezension zu Oakeshott, S. 70. 115 Ebd. 116 Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass er die Arbeit an diesem Buch, das zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, 1956 begann, als seine Zeit an der Fakultät der Universität Laval gerade beendet war. In seiner Autobiografie erinnert sich Kolnai an diese naive Sicht bei seiner Ankunft in Québec 1945, dass der bekannte Traditionalismus, der an der Universität vorherrschte nur Ausdruck ihrer Achtung der Vergangenheit war: »Von ihrer konterrevolutionären Aggressivität und ihrer selbstgefälligen Anmaßung hatte ich damals noch keine Ahnung.« Kolnai, Political Memoirs, S. 216.

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bereits erreichte unantastbar Vollkommene zu idealisieren« und dadurch noch utopischer zu sein als die Visionen der Reformisten.117 Ähnlich verstand Kolnai den linken Utopismus in seiner Untersuchung als psychologisches Phänomen (deshalb der Titel »The Utopian Mind«) und nicht als etwas, das uns dazu führen sollte, die konkreten Aspekte programmatischer Politik, die utopische Denker in der Regel favorisieren, als Ganze zurückzuweisen: »Der revolutionäre Utopismus ist nicht das unermüdliche Streben nach längst überfälligen Reformen, die Verschärfung von Regeln oder das wachsame Bestehen auf der richtigen Ausführung öffentlicher Pflichten. Vielmehr zeichnet er sich durch die Vision einer realitätsfernen Welt ohne Unvollkommenheiten und Spannungen aus.«118

Zusammenfassung Kolnai sah die Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts zwischen rechten und linken Anhängern und Gegnern von Utopien als Kampf zwischen verschiedenen Psychologien, als Kampf zwischen Haltungen. Aus seiner Sicht zeichnen den utopischen Geist bestimmte typische Haltungen aus, die nichtutopische Anhänger von Spannungen und Unvollkommenheit so wie er selbst nicht teilten. In seinem Buch »The Utopian Mind« gestand Kolnai zu, dass das Verständnis dieser Nicht­ übereinstimmung als Auseinandersetzung von Haltungen komplizierte Probleme von Objektivität und Nachweis aufwarf: »Sicher kann ich nicht ohne Weiteres Stimmungen, Haltungen, Zustimmung und Ablehnung oder das Streben nach Vielfalt mit meiner eigenen Vorliebe für das Endliche und Begrenzte, das ich, wenn auch mit kritischem Vorbehalt bevorzuge, widerlegen, ebenso wenig wie meine Präferenz für pluralistische und abgewogene ­Perspektiven, kurz, für das Bewusstsein von Spannung.«119

Dennoch, so fuhr er fort, zeigt eine Diagnose des rechten wie linken Utopismus und seiner Dogmen, dass diese objektiv falsch sind. Der Grund ihrer Fehlerhaftigkeit ist, dass der Perfektionist,120 der verzweifelt nach Sicherheit im Reich der Werte einschließlich denen der Ethik sucht, dazu neigt, sein Verständnis richtigen Handelns aus Werteaussagen zu begründen, die vage, allgemein und tautologisch sind und ihm nichts Brauchbares über diese Werte sagen. Vielmehr kommt seine Sicherheit daher, dass seine ­Philosophie auf sich von selbst verstehenden

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Kolnai, The Utopian Mind, S. 42. Ebd., S. 70. Ebd., S. 78. »Perfektionismus« ist ein Begriff, den Kolnai sowohl mit der revolutionären Linken als auch der extremen Rechten verband. Aurel Kolnai, Conservative and Revolutionary Ethos. In: ders., Privilege and Liberty and Other Essays, S. 135–166, hier 149.

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trivialen Aussagen gründet. Um ein Beispiel zu geben: »›Das Gute sollte gefördert, das Böse sollte behindert werden‹ ist eine inhaltsleere Aussage, die sich von selbst versteht. Der Perfektionist greift diese Aussage auf, deren Gewissheit für ihn außer Frage steht, und fährt fort, diesen Bereich des sich von selbst Verstehenden […] immer weiter auszubauen.«121 »Wenn das moralisch Gute gefördert und das Böse eingegrenzt werden soll, warum sollte man sich dann nicht eine Gesellschaft vorstellen, in der Menschen nur gute Motive haben und schlechte, denen die Grundlage entzogen ist, nicht mehr vorkommen? Der utopische Moralist, dem ein solches Ziel plausibel erscheint, wird wahrscheinlich der Anwendung übler Methoden zustimmen, die überzeugend eine Erneuerung des Menschen in der Zukunft und ein für alle Mal versprechen.«122

Dieser einseitige Fokus auf das Allgemeine, Abstrakte und Realitätsferne bedeutet, dass von der Moral besessene Utopisten paradoxerweise häufig nur oberflächliche Einsichten in aktuelle moralische Probleme haben. Ein Grund dafür ist, dass »so lange das Böse existiert, moralische Belanglosigkeiten es nicht wert scheinen, sich ihnen aufmerksam und geduldig zuzuwenden«.123 Mit anderen Worten, wenn man darauf fokussiert ist, eine Welt zu schaffen, in der das Böse vollkommen eliminiert ist, in der »nichts dem Absoluten entgegenstehen kann«,124 warum sollte man sich dann mit den kleinen Unterschieden z. B. zwischen einer Notlüge und bewussten Falschinterpretationen oder dem zwischen einem Schlag aufs Handgelenk und einem brutalen Angriff abgeben? Im Ergebnis neigen die Utopisten dazu, die aktuellen moralischen Kämpfe zu übersehen, die unser wirkliches Leben bestimmen. Damit sind wir wieder beim Nationalsozialismus, der aus Kolnais Sicht psychologisch von der Ungeduld mit der kleinlichen und komplizierten Welt der traditionellen Moral motiviert war, deren zahllose Kompromisse die kleinlichen Interessen durchschnittlicher, auf Kosten der Entwicklung und des Wohlergehens vermeintlich überlegener Menschen zu favorisieren schien. Aus Rosenbergs Sicht, so wie es Kolnai sah, war das von Nachteil für die wirklichen Tugenden, die »nur aus dem tiefgründigen Genius der jeweiligen Gruppe erblühen«.125

121 Kolnai, The Utopian Mind, S. 80. 122 Ebd., S. 81. Vgl. dazu auch Kolnais Interpretation der nationalsozialistischen Überreaktion auf seine Aufdeckung innerer Schwächen der liberalen Demokratie, die ihn dazu veranlasste, nicht nur bestimmte Modifikationen vorzunehmen, sondern das ganze System zugunsten des Nationalsozialismus aufzugeben, dass den Menschen riet, »die Dunkelheit über das Licht zu setzen, die Ketten des Lebens zu umarmen, als ob sie das Paradies wären, und die Erfahrung einer furchtbaren Wirklichkeit in rühmliche Ideale umzudeuten«. Kolnai, Krieg, S. 151. 123 Ders., The Utopian Mind, S. 81 124 Ders., Revolutionary Ethos, S. 149. 125 Ders., Krieg, S. 87.

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Kolnais lebendige Beschreibung von Moeller van den Brucks vitalistischem Denken ist ähnlich: »Die heilige Jugend weist die Demokratie zurück, und sie tut dies noch mehr wegen der Banalität der Demokratie, als wegen ihrer Verdorbenheit. Eine höchst bemerkenswerte Reihenfolge. Der bestimmende Faktor ist nicht moralische Ablehnung, sondern die Gier nach intensiverem Erlebnis. Verdammt wird nicht die Freiheit, sondern ihre Beschränkung der Zurschaustellung von Macht. Es ist weit weniger das Fehlen oder die Fadenscheinigkeit von Regeln und Verpflichtungen als vielmehr das Vorhandensein von Balance und Haltung, von Zähmung und dem Geist gegenseitiger Übereinkunft, was den Liberalismus in den Augen Moeller van den Brucks und seiner Anhänger so anrüchig macht. Der auffallendste Vorwurf gegen den Liberalismus ist seine Bevorzugung von Mittelmäßigkeit und Mittelklasseprinzipien, und das insbesondere soweit diese an die französische Mittelklasse mit ihrer selbstbewussten und eigenständigen Kultur des Denkens und Lebens erinnern.«126

Abschließend möchte ich festhalten, dass Kolnais umfangreiche Studie nationalsozialistischer Schriften ihn annehmen ließ, dass »Der Krieg gegen den Westen« ebenso, wenn nicht sogar mehr, einen Kampf unterschiedlicher Haltungen darstellte wie eine rationale Nichtübereinstimmung mit Blick auf Fakten. In den frühen 1930er-Jahren, in Vorbereitung auf seine Arbeit an dem Buch, trug er Beispiele solcher Haltungen in Schriften der Nationalsozialisten, ihrer Sympathisanten und Vorläufer zusammen und begann, diese zu analysieren. In seinen Schriften der Nachkriegszeit erweiterte er die dabei gewonnenen Einsichten zu einer breiteren Analyse der Unterschiede zwischen utopischen und nichtutopischen Sichtweisen einschließlich ihrer psychologischen Grundlagen und Haltungen. Man kann in der Tat vermuten, dass er sich für seinen zutiefst persönlichen Schreibstil mit seinen interessanten Anekdoten, Erinnerungen und Beobachtungen unter anderem deshalb entschieden hat, weil sich Unterschiede in der Haltung kaum rational auflösen lassen. Hier zieht man den Leser dadurch auf seine Seite, dass man ihn mit seiner eigenen Weltanschauung konfrontiert, um dadurch seine Sympathie und Bewunderung zu bekommen. Mit anderen Worten, die vielen Anekdoten, die sich in Kolnais philosophischen Schriften finden, in denen er von seinen persönlichen Erfahrungen und seinem Geschmack berichtet, sind nicht lediglich stilistische Verzierung, sondern ein wichtiger substanzieller Teil seiner Philosophie. Zum Erfolg dieses Herangehens lässt sich lediglich sagen, dass, obwohl es nie zahlreiche intellektuelle Anhänger Kolnais gab, er doch darin erfolgreich gewesen zu sein scheint, dass er viele seiner Studenten und Leser davon überzeugt hat, dass »die aus einer kritischen Distanz entwickelte Vorliebe für das Endliche und Begrenzte, […] das Fragmentarische und Unvollkommene«127 begründet ist.

126 Ebd., S. 145 (Hervorhebungen im Original). 127 Kolnai, The Utopian Mind, S. 78.





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Abkürzungsverzeichnis BArch CBS FDR Gestapo IS KA KZ LBC MS NS NSDAP NSDStB NSLB OWI P. O. U. M. PPF SS TLS UdSSR US USA

Bundesarchiv Columbia Broadcast Franklin D. Roosevelt Geheime Staatspolizei Islamischer Staat Kolnai-Archiv Konzentrationslager Left Book Club Manuskript Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistischer Lehrerbund Office of War Information Partido Obrero de Unificación Marxista President’s Personal File Schutzstaffel The Times Literary Supplement Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United States (of America) United States of America





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Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Adorno, Theodor W. 18, 20, 72–75, 77 Aquin, Thomas von 190 Arendt, Hannah 55, 76 Aristoteles 97, 137, 223, 260*, 269* Ashley-Cooper, Anthony (alias Shaftesbury, 3. Earl of) 190 Atran, Scott 197 Bäumler, Alfred 195 Bahr, Hermann 74 Bartlett, Vernon 92 Bauer, Otto 27, 153 f. Beach, John D. 249* Belloc, Hilaire 41, 82, 98, 154, 156 f. Benda, Julien 272 Benn, Hilary 197 Bergmann, Ernst 266 Best, Werner 254 Blüher, Hans 69, 193 f., 202 Borkenau, Franz 81, 85–87, 92, 94* Bormann, Martin 64 Bry, Carl Christian 33 Buch, Walter 64 f. Burke, Edmund 186, 190, 193, 203 Burleigh, Michael 64 Cassirer, Ernst 9 Chamberlain, Houston Steward 53, 86, 202, 252 Chamberlain, Neville 188 Chappel, James 54 f. Chesterton, Gilbert Keith 41 f., 98, 137, 156, 186, 249 Churchill, Winston 82, 188 Cole, George Douglas Howard 94 Collingwood, Robin George 81, 85 Connelly, John 48 Coudenhove-Kalergi, Richard 74 Cromwell, Oliver 197 Cruz, Ted 52

Darré, Richard Walther 121 f., 250 f. de Gaulle, Charles 188 Dell, Robert 92 Descartes, René 147 Dewey, John 87* Dinter, Artur 57–59 Dollfuß [Dollfuss], Engelbert 25, 42, 54, 151 f., 154 Donovan, Bill 109* Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 150, 268 Dubnow, Simon 74 Duhamel, Georges 36 Dunlop, Francis 83*, 108*, 117*, 236 Durant, Will 113 Ebert, Friedrich 38, 89* Ehrenburg, Ilja 35 f. Fey, Emil 152 Fletcher, Joseph 144 Forsthoff, Ernst 29 Fraenkel, Ernst 43* Freisler, Roland 123 Freud, Sigmund 38, 72, 74, 77, 147 f., 189 f., 271* Friedländer, Elfriede 38 Friedrich, Carl Joachim 17, 55, 108–110 Friedrich II., der Große 52 George, Stefan 19, 50, 84, 140 f., 257* Gide, André 34–37 Glassen, Peter 261* Goebbels, Joseph 46, 56*, 59 f., 121, 141, 195, 202 Göring, Hermann 46, 59, 64* Goethe, Johann Wolfgang von 69, 76 Gogarten, Friedrich 52, 202, 250 f. Gogol, Nikolai 268 Gollancz, Victor 8, 34, 42, 82 f., 90, 93 f., 135, 139–141, 186

294 Goncharov, Ivan 268 Graetz, Heinrich 74 Grant, Irene 83*, 139 Günther, Hans F. K. 68 Gunther, John 105 Gurian, Waldemar 32, 39*, 55 Haffner, Sebastian 81, 92 Haiser, Franz 266 Halifax, 1. Earl of (alias Edward Wood) 188 Hammond, Philip 197 Hannington, Wal 94 Hardy, Thomas 273* Hayek, Friedrich von 95 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 30, 140, 266 Heidegger, Martin 93*, 119, 140, 250 f., 263* Heiden, Konrad 90 Heindel, R. J. 17 Helsing, A. von (alias Aurel Kolnai) 93* Hielscher, Friedrich 195 Hilberg, Raul 131 Hildebrand, Dietrich von 55, 150 Hilferding, Rudolf 128 Himmler, Heinrich 55–57, 59, 193 Hindenburg, Paul von 151 Hitler, Adolf 15, 42, 46, 49, 51–53, 55–62, 65, 67 f., 71, 82, 90, 92, 104–107, 110– 115, 117, 121, 124 f., 130, 138, 140 f., 151, 166 f., 174 f., 186, 188, 193 f., 221, 271 Hobbes, Thomas 127, 129 Hollande, François 197 Hommes, Jakob 254 Honneth, Axel 27*, 185 Hoover, Calvin B. 29 Hoover, Herbert 110 Horkheimer, Max 18, 20, 72–77 Huber, Ernst Rudolf 29 Hume, David 189, 263 Husserl, Edmund 137, 145 Hutcheson, Francis 263 Jászi, Oszkár [Oscar] 31*, 109*, 136, 141 f., 157 Jaspers, Karl 140

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Jünger, Ernst 19, 67 f., 122 Jung, Carl Gustav 190 Kant, Immanuel 122, 137, 207, 250, 257* Kallen, Horace M. 103, 112 Kaltenborn, Hans V. 106 Karl I., der Große 56 Klages, Ludwig 77, 84, 189, 266 Koch, Erich 62 Kohn, Hans 55, 108 Kolnai, Elisabeth 236* Kolzow, Michail 36 Koestler, Arthur 143 Kulka, Otto Dov 91 Konstantin I. 53 Krieck, Ernst 141 Kun, Béla 136 Landsberg, Paul Ludwig 75 Larenz, Karl 193 Laski, Harold 82 Lenin, Wladimir Iljitsch 31, 37 Leo XIII. 151 Lévy-Bruhl, Lucien 30 Löwenthal, Leo 73 Löwenthal, Richard 43* Lorimer, Emily Overend 81, 90 Ludendorff, Erich 58 Lukács, Georg 9 f. Luther, Martin 46, 50, 52 f., 58, 65 f., 92, 140, 193 Manent, Pierre 271, 272* Mann, Thomas 147 f. Marcuse, Herbert 55, 75 Maritain, Jacques 55, 100 Martin du Gard, Roger 36 Marx, Karl 72 Masaryk, Tomáš G. 27 Massing, Paul 73 Mauriac, François 36 Mencken, Henry Louis 255 Mendel, Gregor 68 Mészáros, István 143 Mifflin, Houghton 104 Moeller van den Bruck, Arthur 122, 192*, 255, 277

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Personenverzeichnis

Moore, George Edward 206 Mowrer, Edgar A. 104–106, 109* Müller, Adam 149 Murphy, Francesca 119 Mussolini, Benito 187, 191 Nazareth, Jesus von 46, 61 f., 72, 89*, 170 Negrín, Juan 36 Neumann, Franz 18, 20, 121, 125–132 Newman, John Henry 144 Newton, Isaac 147 Niebuhr, Reinhold 113*, 272 Nietzsche, Friedrich 19, 50, 69, 84, 122, 140  f., 189, 255*, 257* Noske, Gustav 38 Oakeshott, Michael 22, 270, 273 f. Obama, Barack 197 Oesterreicher, John 49 Orel, Anton 71 Orwell, George 82, 86 Otto, Rudolf 268 Palacios, Leopoldo 77 Parmenides 269 Paz, Octavio 37 Pius XI. 48, 151 f., 154 Pius XII. 48 Platon 30, 190 Plessner, Helmuth 9–11 Polanyi, Karl 30, 40, 138 f., 141 f., 150, 154, 156 Popper, Karl R. 22, 30, 270–272 Rauschning, Hermann 82, 90 Reid, Thomas 190 Reventlow, Ernst Graf zu 69 Roosevelt, Franklin D. 20, 101, 104, 109–111, 113–115, 118* Rose, W. J. 17 Rosenberg, Alfred 46, 49, 53, 55–57, 59–61, 69, 117, 135, 187 f., 194, 242*, 245, 268 Roth, Joseph 76 Rousseau, Jean-Jacques 30, 155 Russel, Bertrand 215 Ryle, Gilbert 254

Sartre, Jean-Paul 119, 263* Scheidemann, Philipp 38 Scheler, Max 137, 140, 190, 195, 237 Schelling, Friedrich Wilhelm 266 Schemm, Hans 63 f. Schmitt, Carl 21, 29, 42, 123, 126, 131, 140, 163, 192, 201–205, 210–213, 216, 219–224 Schuschnigg, Kurt 25 Schwarzschild, Leopold 92 Scruton, Roger 65 Seipel, Ignaz 151 Sellon, Hugh 91 Sender, Toni 99, 110 Shaftesbury, 3. Earl of (alias Anthony Ashley-­Cooper) 190 Shakespeare, William 89*, 224 Shirer, William L. 105 f., 109* Simmel, Georg 76 Sokrates 137 Sombart, Werner 266 Spann, Othmar 42, 149–152, 202 Speer, Albert 56 Spencer, Herbert 253* Spengler, Oswald 192 Spinoza, Baruch de 269* Sprenger, Jakob 84 Stapel, Wilhelm 46, 141, 192, 218, 252, 254 Steed, Henry Wickham 27, 109 Stolper, Gustav 38 Strachey, John 82, 94 Strasser, Georg 58, 59* Sturzo, Luigi 32 f., 40 Szamuely, Tibor 143 Taft, Robert 114 Talmon, Jacob L. 30 Theweleit, Klaus 50 Thompson, Dorothy 105, 111 Thyssen, Fritz 82 Tolstoi, Alexej 37, 268 Trotzki, Leo 37 Vansittart, Robert Lord 109 Vendrell Ferran, Ingrid 77 Voegelin, Eric 54, 140

296 Vogelsang, Karl von 149 Voigt, Frederic 33 Wagner, Richard 52 Wallace, Henry A. 112 Weber, Max 125, 130 Weikart, Richard 45*, 55 Widukind 56 Wiggins, David 142*, 241, 253* Williams, Bernard 241, 253*

Anhang

Wilson, Woodrow 136 Wolf, Erik 122 Wolter, Waldemar 46 Wolzogen, Ernst von 50 Wood, Edward (alias Halifax, 1. Earl of) 188 Zehnpfennig, Barbara 124 Ziegler, Heinz Otto 30 Zimmermann, Rolf 193

Autorinnen und Autoren Uwe Backes ist stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung und Professor am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dresden. Er ist u. a. Herausgeber von Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band I–III, Göttingen 2013. Zoltán Balázs ist Professor für Politikwissenschaft an der Corvinus Universität (Budapest) and Senior Research Fellow am Centre for Social Sciences, Akademie der Wissenschaften (Ungarn). Er ist Herausgeber, zusammen mit Francis Dunlop, von Exploring the World of Human Practice: Readings in and about the Philosophy of Aurel Kolnai, New York 2004. Chris Bessemans promovierte über Kolnais Moralphilosophie und a­nalytischphänomenologischer Werteethik (2012) am Institut für Philosophie an der KU Leuven (Belgien), gefördert von der Research Foundation – Flanders (FWO). Er hat zu Kolnais Moralphilosophie und über moralische Konflikte publiziert, z. B.: A Short Introduction to Aurel Kolnai’s Moral Philosophy. In: Journal of Philosophical Research, 38 (2013), S. 203–232; A glimpse of the Aurel Kolnai Nachlass, Rivista di Filosofia Neoscolastica, 1 (2012), S. 153–173. PD Dr. Wolfgang Bialas arbeitet als freiberuflicher Dozent und Übersetzer. Er ist Herausgeber von Aurel Kolnai. Der Krieg gegen den Westen, Göttingen 2015, und Autor des Buches Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2015. Micha Brumlik ist emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, war von 2000 bis 2005 Leiter des Fritz Bauer Instituts Frankfurt am Main und ist seit 2013 Senior Professor am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Letzte Buchpublikation: Wann, wenn nicht jetzt. Versuch über die Gegenwart des Judentums, Berlin 2015. Lee Congdon ist emeritierter Professor für Geschichte an der James Madison University. Er ist Autor eines dreibändigen Werkes zu den ungarischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts sowie weiterer Publikationen zu George Kennan und Alexander Solschenizyn. Er war Fulbright Research Scholar in Budapest und Gastprofessor am Institute for Advanced Study in Princeton. Veröffentlichungen u. a.: Seeing Red: Hungarian Intellectuals in Exile and the Challenge of Communism, DeKalb 2001.

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Anhang

Andrew S. Cunningham ist kanadischer Anwalt, der 1999 an der University of Toronto in Philosophie promovierte. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur Moralpsychologie des 18. Jahrhunderts und beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit Kolnais Werk.  Michaela Hoenicke Moore ist Professorin für Geschichte an der University of Iowa und Autorin des Buches Know Your Enemy: The American Debate on Nazism, 1933–45, Cambridge 2010. Graham J. McAleer ist Professor für Philosophie an der Loyola University Maryland und Autor des Buches Ecstatic Morality and Sexual Politics, Fordham 2005, und der Einleitung zu Aurel Kolnai, Ethics, Value and Reality, London 2008. Richard Steigmann-Gall ist Professor für Geschichte an der Kent State University und Autor des Buches The Holy Reich: Nazi Conceptions of Christianity, 1919–1945, Cambridge 2003. Dan Stone ist Professor für moderne Geschichte und Direktor des Holocaust Research Institute at Royal Holloway, University of London. Letzte Publikatio­ nen: Responses to Nazism in Britain 1933–1939, 2. Auflage 2012 Basingstoke, und The Liberation of the Camps: The End of the Holocaust and its Aftermath, London 2015. Rolf Zimmermann ist emeritierter Professor für Philosopie an der Universität Konstanz und Autor von Philosophie nach Auschwitz, Reinbek b. Hamburg 2005, und Ankommen in der Republik. Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie, Freiburg 2017.