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German Pages 142 [145] Year 1990
AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske, Rudolf Vierhaus
Jahrgang 4, Heft 2, 1989
Thema: Patriotismus Herausgegeben von Günter Birtsch
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG
Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1991. ISBN 978-3-7873-09778-8· ISBN eBook 978-3-7873-3497-1 · ISSN 0178-7128
© Felix Meiner Verlag 1991. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.meiner.de/aufklaerung
Inhalt Einleitung Günter Birtsch: Erscheinungsformen des Patriotismus
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Abhandlungen Michael Stolleis: Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Otmar Freiherr von Aretin: Reichspatriotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harm Klueting: . Bürokratischer Patriotismus". Aspekte des Patriotentums im theresianisch-josephinischen Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hartmut Zückert: Republikanismus in der Reichsstadt des 18. Jahrhunderts . . .
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Conrad Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden
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Kurzbiographie Hans Erich Bödeker: Thomas Abbt (1738-1766)
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Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution. Das europäische Naturrecht im ausgehenden 18. Jahrhundert, 14. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. J ahrhunderts in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 22. bis 24. November 1989 . .
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Rezensionen
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J ahresinhalt
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Register der rezensierten Werke
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AUFKLÄRUNG JSSN 0178-7128. Jahrgang 4, Heft 2. 1989. ISBN 3- 7873--0978--0 Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. JahrhundertS und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung milder Deutschen Gesellschaft fOrdie Erforschung des 18. Jahrhundens herausgegeben von Günter Binsch. Karl Eibl, Norbcn Hinske, Rudolf Vierhaus Reda ktion: Prof. Dr. Klaus Geneis, Universität Trier, Fachbereich III - Geschichte, Postfach J825, 5500 Trier, Telefo n (0651 ) 20 1-2200 o Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1991. Printed in Gcrmany.
Die Zei1s.chrift und a11c in ihr enthaltenen Bdträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Vcrwenung außerhalb der engen Grcnun des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung dc-s Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere (Dr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
EINLEITUNG
Günter Birtsch
Erscheinungsformen des Patriotismus
Das Patriotismusthema hat in Deutschland angesichts der wiederhergestellten politischen Einheit eine besondere Aktualität gewonnen. In den meisten Nationen hoch respektiert, erscheint hier der Patriotismus durch den Mißbrauch unter dem Nationalsozialismus umstritten; doch nicht der Patriotismus, sondern ein extremer Nationalismus hat Deutschland in die politische Katastrophe geführt. Seit der Französischen Revolution von 1789 auf die Loyalität zur Nation und zum Nationalstaat übertragen, verlor sich der Patriotismus weitgehend im Nationalismus. Dabei nahm er oftmals die häßliche Gestalt eines Leistungen und Traditionen des eigenen Volkes überschätzenden Chauvinismus a1.1. Im neuzeitlichen Nationalismus gewann das Bekenntnis zum eigenen Volk, zur Nation den Primat vor allen anderen sozialen und ideologischen Bindungen, der Patriotismus hingegen verband als eine Frühform politischer Bewußtseinsbildung, die sich auf Heimat, Region, Territorium oder Reich bezog, mit der Bindung an traditionale Werte, an lokale und regionale Institutionen regelmäßig eine kosmopolitische Grundeinstellung. Die frühneuzeitliche Geschichte kennt zahlreiche Spielarten des Patriotismus, wesentlich erscheint, daß nahezu allen eine ideale freiheitliche und zeitkritische, sich an den gegebenen sozialen und politischen Zuständen reibende Komponente eigen war. Von diesem freiheitlichen und kosmopolitischen Patriotismus führt keine Brücke zum extremen Nationalismus, so unstreitig es Berührungspunkte zwischen Patriotismus und Nationalismus gab. Dies ist freilich nur Teilaspekt eines breiteren Forschungsthemas, zu dem wohl wegweisende und zusammenfasende Studien vorliegen, das aber längst nicht ausgeschöpft ist. 1 Als Äußerung eines literarischen und bürgerlichen Selbstverständnisses, als soziale Integrationsideologie, die Bürgertugenden für das Zusammenleben in politischer, sozialer und geistiger Kultur zu mobilisieren suchte, bedarf der Patriotismus ebenso eingehender Erforschung
Rudolf Vierhaus, . Patriotismus" - Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: Rudolf Vierhaus, Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, sozia.les Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 96-109; Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Pat riotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981 . - Zu Fragen des Zusammenhangs und der Überschneidung von Patriotismus und Nationalismus siehe: Otto Dann and John Dinwiddy (Hg.), Nationalism in the Age of the French Revolution, London 1988, insbesondere die Einleitung von Otto Dann, S. 1-11.
Aulldä rung 4/2 (' Felix Mei ner Ve rlag . 1989. ISS N 0 178-7 128
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wie als politisches und kulturelles Programm, das von der Vision eines idealen Vaterlandes jenseits der gegebenen Verhältnisse bestimmt war. Das Vaterland des Patrioten mochte an einer idealisierten Vergangenheit, an einem pragmatisch konstitutionellt>n oder utopisch-idealen Verfassungsentwurf orientiert sein, beinahe regelmäßig waren ihm freiheitliche und über das jeweils engere Vaterland hinausweisende weltbürgerliche Züge eigen. Durchgehend verpflichtete der aufgeklärte Patriotismus zum Dienst am gemeinen Besten. „Patriot„ war für Zedlers Universallexikon 1740 „ein rechtschaffener Landes-Freund, ein Mann, der Land und Leuten treu und redlich vorstebet, und sich die allgemeine Wohlfahrt zu Herzen gehen lässet" .2 Die Formel vom gemeinen Besten läßt sich allerdings, worauf die moralischen und obrigkeitlich-ständischen Aspekte dieser Begriffsbestimmung deuten, unterschiedlich auslegen. Provinzialismus, traditioneller Paternalismus und staatspädagogische Propaganda mochten den Patrioten zu bedingungsloser Loyalität gegenüber seinem Monarchen verpflichten und enggezogene Vaterlandsgrenzen und Vorurteilsanfälligkeit nicht nur dem Kosmopolitismus Fesseln anlegen, sondern selbst der Xenophobie Nahrung geben. So läßt denn auch der Problemzusammenhang: Paternalismus - Kosmopolitismus - Xenophobie trotz fruchtbaren Ansatzes noch viele Fragen offen. 3 Hier wäre mit der interdisziplinären Zusammenarbeit vor allem die vergleichende Methode gefordert, von der allein ein differenziertes Gesamtbild des Patriotismus als internationaler Erscheinung zu erwarten ist. - Das setzt freilich eine Lernbereitschaft voraus, die - wie das jüngste verständnislose Echo auf eine vergleichende Studie dieser Zeitschrift bezeugt - zumindest nicht durchgehend gegeben ist! Das vorliegende Heft öffnet sich dem breiten Fragespektrum in vierfacher Hinsicht. Erstens geht es der Erscheinung des Reichspatriotismus aus der Perspektive des Rechtshistorikers wie der des Universalhistorikers nach. Michael Stolleis schreitet den Weg des Reichspatriotismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert ab, er untersucht einschlägige Zeugnisse der humanistischen, reichsrechtlichen und literarischen Kultur und wirft Licht auf die Krisenbestimmtheit des Reichspatriotismus. Karl Otmar Freiherr von Aretin stellt den Reichspatriotismus des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld europäischer Großmachtpolitik und des Dualismus zwischen Preußen und Österreich dar, unterstreicht die zunehmende Orientierung an der Reichsverfassung und die Ausprägung eines friedens- und rechtsorientierten Verfassungspatriotismus. Die vorherrschende Form des Patriotismus war nicht der Reichspatriotismus, sondern der Staatspatriotismus. Ihm gilt das zweite Thema dieses Heftes. Harm
2 Zcdlcrs Universallexikon, Bd. 26. Leipzig, Halle 1740, Sp. 1393. 3 Gonthier-Louis Fink (Hg.), Cosmopolitisme, Patriotisme et Xenophobie en Europe au Siecle des Lumieres, Straßburg 1987. 4 Siehe die dilettantische. von subjektiver Werthaltung bestimmte und an bekanntem Detail orientierte, für die weiterführende wissenschaftliche Deba11e ohne Ertrag bleibende Rezension von Wolfgang Wittkowski zu Jahrgang 2, Heft 1 dieser Zeitschrift in: Lessing Yearbook 21 (1989). S. 270-272.
Ei nleitung
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Klueting stellt die Instrumentalisierung des Patriotismus für die Zwecke des Einzelstaats am Beispiel des theresianisch-josephinischen Österreich dar. Insbesondere in der Beamtenpädagogik Josephs II. ging es darum, die patriotischen Energien für das Dienstethos der Staatsdienerschaft zu mobilisieren. Daß vor allem der auf gemeindlich-genossenschaftlicher Tradition beruhende reichsstädtische Republikanismus den mit dem Patriotismus verschwisterten freiheitlichen Prägungen einen breiteren Raum gab, dokumentiert Hartmut Zückert in seinem Beitrag über Republikanismus in der Reichsstadt des 18. Jahrhunderts. Am Beispiel der freien Reichsstadt Memmingen wirft er unter anderem die Fragen auf nach dem freiheitlichen , sich am gemeinen Besten orientierenden Selbstverständnis der Bürgerschaft, nach Regelungen des Interessenausgleichs in der städtischen Oligarchie und nach Krise und Reformbedürftigkeit der reichsstädtischen republikanischen Verfassung am Ende des 18. Jahrhunderts. Zwischen partikularem Staatspatriotismus und übernationaler Reichsidee taten sich die Deutschen schwer, ihre nationale Identität zu finden. Dies bezeugt nicht zuletzt die unter dem Einfluß der westeuropäischen Nationalgeist-Idee stehende literarische Suche nach einer integrierenden Nationalgestalt, einem deutschen Helden. Wie schwierig und letztlich vergeblich dieses Unternehmen in der sich als Kulturnation bewußt werdenden deutschen Sprachgemeinschaft blieb, stellt abschließend Konrad Wiedemann in einem gelehrten literaturgeschichtlichen Beitrag dar.
ABHANDLUNGEN
Michael Stol/eis
Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert
„Reichspatriotismus" - das ist eine den Deutschen eigentümliche Sprachbildung. Die Deutschen müssen hervorheben, wenn sich ihr Patriotismus auf das Reich bezieht, weil sie sich „von Haus aus" mit ihrem engeren Umkreis zu identifizieren pflegen, mit Dorf und Stadt, Landschaft, Stammes- und Sprachbeziehungsweise Dialektgemeinschaft. Diesen bodenständigen Patriotismus, den die Schwaben und die Sachsen, die Bayern und die Friesen, die Preußen, Niedersachsen, Schlesier, Märker und Ostpreußen, die Badener, Allgäuer, Franken und nicht zuletzt die Pfälzer' aufweisen, auf das „Reich" zu übertragen, hat stets gewisse Schwierigkeiten bereitet und zur Entstehung eines in der Wurzel gespaltenen Patriotismus beigetragen. In Konfliktfällen war es dann meist die lokal gewachsene Loyalität oder, wenn man will, der Provinzpatriotismus, der den Sieg über die Identifikation mit dem großen Ganzen des Reichs davontrug. Dieser „Provinzpatriotismus", der alles umfängt, was denselben Dialekt spricht, was sich durch Landschaft und Geschichte im gemeinsam erfahrbaren Horizont erfassen ließ, ist allerdings häufig überlagert von Patriotismen aufgrund dynastischer Zusammengehörigkeit sowie in der Gegenwart von Patriotismen, die sich an den Bundesländern festsetzen, freilich nicht an allen, sondern nur an solchen, die einen starken gemeinsamen Geschichtskern und meist damit auch eine dynastische Vorprägung gehabt haben, manchmal aber auch nur eine Sonderrolle im Grenzbereich, wie etwa das Saarland zeigt. Auch die Sondermentalitäten der alten freien Reichsstädte (etwa Hamburg, Bremen, Frankfurt) oder Hauptstädte haben zu stabilen und mit Inbrunst gepflegten „Lokalpatriotismen" geführt. Patriotismus in Deutschland ist also eine komplizierte Angelegenheit. Dies gilt nicht nur für die Bestimmung des Gegenstandes, auf den er sich bezieht, sondern auch für die historische Methode, mit der jene Gefühlslagen erfaßt werden können. Es handelt sich um vergangene Gefühle. Der Historiker kann
1 Siehe nunmehr Karl Moersch, Geschichte d er Pfalz. Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Landau 1987. Aufldärung 4/2 < Feli x Meiner Verlag. 19!!9. ISSN 0178-7 12!!
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Michael
Stolle i~
sie nur entziffern, wenn ihm einschlägige Texte zur Verfügung stehen. An solchen Texten ist allerdings kein Mangel , im Gegenteil. In der Zeit vom Spätmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches 1806 ist Schriftliches und Gedrucktes in solchen Massen hervorgebracht worden. daß die Probleme nicht bei der Suche, sondern bei der Auswahl liegen. Speziell auf meinem Feld, dem der sogenannten „Reichspublizistik", ist mit Recht gesagt worden, „daß der ungeheure Bücherberg, welchen die [ . .. ] Wissenschaft vom öffentlichen Recht des Heiligen Römischen Reiches im 17. und dem folgenden 'tintenkleksenden' Säkulum aufgetürmt hat, keineswegs als gut erforscht gelten kann". 2 Die entscheidende methodische Frage ist deshalb nicht die der Masse, sondern die der Bewertung; denn die Schriftsteller jener Zeit, die sich mit dem Reich beschäftigten, waren gewissermaßen von Berufs wegen „Reichspatrioten". Sie betrachteten das Reich als ihren Weinberg, in dem sie arbeiteten, sie waren auf seine Existenz angewiesen, wie man am deutlichsten 1806 beobachten kann, als die Reichsruine jenen zahlreichen Reichsjuristen, Geheimräten, Reichskammergerichts- und Reichshofräten, Professoren, Advokaten und Diplomaten plötzlich keine Nahrung mehr gab. Anders ausgedrückt: Reichspatriotische Quellenzeugnisse stecken auch voller Eigeninteressen; es ist politische Literatur im weitesten Sinne. Eine letzte Vorbemerkung zum Thema ist zugleich die Formulierung einer ersten Hypothese. Mein Eindruck geht dahin, daß der „Reichspatriotismus" im Deutschland der frühen Neuzeit ein Indikator für Krisen des Reiches ist. Es fällt nämlich auf, daß das Phänomen Konjunkturen hat. Die erste dieser Konjunkturen liegt im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert, das heißt in einer der schwierigsten Situationen des Reichs überhaupt, als Reichsreformpolitik, Glaubensspaltung, soziale und konfessionelle Partikularkriege das Reich bewegten und erschütterten. Die zweite liegt, wenn ich richtig sehe, mitten im Dreißigjährigen Krieg um 16353 sowie eine Generation später in der Zeit der Eroberungskriege Ludwigs XIV., denen sich das Reich, vor allem aber das Elsaß und die Pfalz, hilflos ausgesetzt sahen.' Ein dritter Höhepunkt des Reichspatriotismus zeigt sich schließlich am Ende des 18. Jahrhunderts, sozusagen im Bewußtsein der Unzeitgemäßheit der Reichsverfassung, so daß gewissermaßen von „Liebe in Zeiten der Agonie" gesprochen werden kann. Die Erklärung hierfür liegt wohl ziemlich auf der Hand. Frisch errungene oder vom Verlust bedrohte Objekte werden besonders heftig geliebt. Die Reichsbegeisterung von 1871 ist das eine Beispiel hierfür, die
2 Bernd Roeck, Titelkupfer reichspublizistischer We1i..„ ~er Barockzeit als historische Quellen, in: Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983), 333. 3 Adam Wandruszka, Reichspatriotismus und Reichspolitik zur Zeit des Prager Friedens von 1635, Graz, Köln 1955. 4 Kurt v. Raumer, Die Zerstörung der Pfalz von 1689 im Zusammenhang der französischen Rheinpolitik, München und Berlin 1930, Nachdr. 1982.
R eich~pubh1is1ik
und Reichspatriousmu~
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melancholisch-liebevolle Zuwendung zum Reich nach 1789 das andere. Krisen aktivieren die Gegenkräfte, und unter diesen Gegenkräften ist der Reichspatriotismus zu Zeiten des Alten Reichs ein nicht zu unterschätzendes Politikum gewesen, das gewissermaßen das zu ersetzen suchte, was dem Reich an tatsächlicher politischer Kraft und Aktionsfähigkeit fehlte. So wie das Reich verfaßt war, blieb es schwerfällig und friedlich, altmodisch und unpolitisch. Stand der Feind an den Grenzen, so dauerte es oft Wochen und Monate, bis man sich zur Überwindung der partikularen Interessen und zu gemeinsamer Aktion entschloß, und auch dies nur dann, wenn reichspatriotische Energien mobilisiert werden konnten. Unterhalb dieser an Krisen- und Kriegssituationen entzündeten Strohfeuer von Reichspatriotismus gab es allerdings auch eine stabile Zuwendung zum Reich, die weniger auf der Gefühlsebene als auf nüchternen politischen Überlegungen beruhte, die man aber gleichwohl „reichspatriotisch" nennen kann. Viele kleine Territorien und Territorialherren waren geborene Reichspatrioten, weil es für sie, mit Blick auf den mächtigen Nachbarn, vernünftig war, sich ans Reich zu halten. Das gleiche galt für die Reichsstädte, deren Privilegien und politische Entfaltungschancen mit dem Reich verknüpft waren und die unter dem Druck des territorialen Absolutismus in Bedrängnis gerieten. Und schließlich gibt es den konfessionelJen Reichspatriotismus der Protestanten, die sich an Kaiser und Reichskammergericht hielten und halten mußten, wenn sie in Not waren und gegenüber dem „Reich" auf Einhaltung des Augsburger Religionsfriedens und Westfälischen Friedens pochen mußten. II
Doch sind damit die Motivstränge des frühneuzeitlichen Reichspatriotismus noch nicht vollständig benannt. Wenn wir uns seiner ersten Blüte im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert zuwenden, so sehen wir, daß es sich primär um eine lntellektuellenbewegung aus dem Geist des Humanismus handelt und daß sie einen Reichspatriotismus entwickelt, der aus dem Material eines antiken Textes die erste Stufe „nationaler" Selbstfindung hervorgehen läßt. Dieser Text ist die „Germania" des Tacitus, die, vom ausgehenden 15. Jahrhundert an, gewissermaßen zum Kultbuch des Nationalgefühls heranwächst. Besonders am Oberrhein, in Basel, Schlettstadt und Straßburg blühte dieser taciteische Reichspatriotismus, der das neue historische Bewußtsein alter Kaiser- und Reicbsberrlichkeit mit jener kleinen antiken Tendenzscbrift über die sittenstrengen und tapferen Naturvölker im Norden verband. Conrad Celtis, Heinrich Bebet, Jakob Wimpfeling, Sebastian Brant und Beatus Rhenanus sind hier zu nennen, letzterer vor allem als Herausgeber der ersten Gesamtausgabe des Tacitus.5 Am deutlichsten tritt diese Mischung von Antikenbegeisterung und
S Josef Kncppcr, Nationaler Geda nke und Ka iseridee bei den elsässischen Humanisten, Freiburg i. Br. 1898; Hans Tiedcmann. Tacitus und das Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten
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Mi cha el Sto lleis
Gelehrsamkeit, Reichspatriotismus, kirchlichen Reformhoffnungen und „antirömischem Affekt" bei Ulrich von Hutten zutage. Sein „Arminius" ist die Summe dieser Stimmung, wie überhaupt Hermann der Cherusker von da an ein sicheres Signal für Reichs- und Nationalsehnsüchte darstellt. 6 Im Reichspatriotismus der oberdeutschen Humanisten kam eruptiv hervor, was sich in den langen und letztlich erfolglosen Anstrengungen zur Reform von Reich und Kirche im 15. Jahrhundert aufgestaut hatte, die Hoffnung auf einen Kaiser, der wie Arminius oder Barbarossa aus dem Kyffhäuser die „teutsche Freyheit" wiederherstellen, die Nation einen und die Kirche reinigen sollte. So hoffte man in diesen Kreisen auf die durch Maximilian 1. in Gang gesetzte Reichsreform,7 hoffte 1519 auf Kaiser Karl V. als das „jung edel Blut" (Luther), dem man anfangs noch zutraute , er könne sich für die Reformation entscheiden und auf diese Weise sein ganzes Weltreich der erneuerten Lehre zuführen. Der in diesen frühen Jahren aufflammende Reichspatriotismus bezog sich freilich nicht auf das Reich Karls V., sondern auf das Heilige Römische Reich mit dem limitierenden Zusatz „Deutscher Nation". Dieser Zusatz war im 15. Jahrhundert üblich geworden. 8 Er stellte klar, daß der Hegemonialanspruch des Reichs über Europa keinen machtpolitischen Hintergrund mehr hatte. Das Reich war endgültig geistiges Phänomen geworden und der auf das Reich gerichtete Patriotismus bediente sich zwar der ehrwürdigen Formeln, war aber der Sache nach eher Entfaltung frühneuzeitlichen Nationalgefühls. In diesem Sinne entwickelten die Humanisten vaterländische Gefühle, erhoben Tacitus zum Nationalautor ,9 lobten die deutsche Sittenreinheit und Treue und tadelten das Laster der Trunkenheit, 10 benutzten ihn für historische Spekulationen und aktualisierten ihn, vor allem wenn es um den Antagonismus von teutscher
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am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts, phil. Diss. Berlin 1913; Paul Joachimsen, Tacitus im deutschen Humanismus (1911), in: ders., Gesamme lte Aufsätze, hg. v. Notker Hammerstein, Bd. 1, 1970, 275; Else Lilly Etter, Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Basel 1966; Kenneth C. Schellhase, Tacitus in Renaissance Political Thought , Chicago 1976. Klaus v. See, Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart , Frankfurt 1970; Lothar Krapf, Germanenmythos und Reichsideologie, Tübingen 1978. Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984; Adolf Laufs, Reichsreform , in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4 (1986), 731-739. Karl Zeumer, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reichs in Mittelalter und Neuzeit, IV, 2, 1910; Rudolf Smend, Zur Geschichte der Formel .Kaiser und Reich" in den letzten Jahrhunderten des Alten Reiches ( 1911), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 2 1968; Notker Hammerstein, Das Römische am Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in der Lehre der Reichs-Publicisten, in: ZRG GA 100 (1983), 119-144 (121 f.); ders., Das .Reich" in den Vorstellungen der Zeitgenossen, in: Rainer A. Müller (Hg.), Reichsstädte in Franken, München 1987, 44-55. Manfred Fuhrmann, Einige Dokumente zur Rezeption der taciteischen 'Germania', in: Der altsprachliche Unterricht 1978, Heft I, 39-49. v. See (wie Anm . 6); Michael Stolleis (Hg.), Jus Potandi oder Zech-Recbt, Frankfurt 2 1984, Nachwort.
Reichspublizisti k und Reichspatriotismus
II
Redlichkeit und römischer Verschlagenheit nach Ausbruch der Reformation ging. Der Reichspatriotismus hat in dieser konfessionellen Variante einen ausgeprägten „antirömischen Affekt"; 1 für ihn residiert der Antichrist in der Weltstadt Rom, der großen babylonischen Hure. Aus dieser Projektion alles Negativen zog das junge, noch schwankende Selbstgefühl der Nation seine Kraft, jedenfalls solange es schien, als würde die Reformation das ganze Reich erfassen, also etwa bis 1530. „Teutsche Freyheit" heißt in diesem Kontext primär Freiheit vom römischen Joch, von dem als ausbeuterisch empfundenen Klerus. Dieser Freiheitsanspruch richtet sich nie gegen Kaiser und Reich, wohl aber gegen die Beengtheit durch vielerlei Herrschaften vor Ort, gegen Abgaben, Hand- und Spanndienste, ungemessene Frondienste und so weiter. Kaiser und Reich blieben, auch im Bauernkrieg 1525, in der Glorie des Irrealen, Fernen und Ungreifbaren, gewissermaßen der Fluchtpunkt aller politischen Sehnsüchte, die hier erstmals in jenem für Deutschland so typischen Ineinander von Sakralität und konkreten Reformwünschen kulminierten. 12 III Eine Generation später waren die Fronten verhärtet. Die sogenannte Gegenreformation hatte mit dem Konzil von Trient eingesetzt, der erste Index verbotener Bücher erschien und die altgläubig gebliebenen Landesherren verdrängten zielbewußt vor allem den städtischen Protestantismus nach der Devise „cuins regio eius religio" .13 Auf lutherischer und reformierter Seite hatten in gleicher Weise die Orthodoxen die Zügel ergriffen. Nachdem an eine schnelle Ausbreitung der Reformation nicht mehr zu denken war, igelte man sich ein, suchte Rechtsschutz in der Interpretation des Augsburger Religionsfriedens und durch die Anrufung von Reichskammergericht und Reichshofrat. 14 Eine „militante Konfessionalisierung ergriff unaufhaltsam das Geistesleben, die Weltanschauung der Massen, das Rechtsdenken und die innere und äußere Politik" .' 5 Die Streitfälle häuften sich (Wetterauer Grafen, Aachener Streit, Magdeburger Streit, der „kölnische Krieg" von 1582, Straßburger Kapitelstreit, Vierklosterstreit, Donauwörthische Streitigkeit). Die Augsburger Konfessionsverwandten
11 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923, lJ984. Vgl. dazu Klaus Kröger, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988. 12 Diermar WiHoweit, Von der alten deutschen Freiheir. Zur verfassungsgeschichtlichen Bedeutung der Tacitus-Rezeption, in: Erk Volker Heyen (Hg.). Vom normativen Wandel des Politischen, Berlin 1984, 17-42. 13 Martin Heckei, Deurschland im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1983, m. w. Nachw. 14 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, München 1988, 155 f. 15 Heckei (wie Anm. 13), 88.
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Michael
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gerieten sichtlich in die Defensive. Je mehr sie unter Druck gerieten, desto mehr wuchs auch wieder die Neigung, die konfessionellen Fragen ins Nationale zu wenden und „teutsche Freyheit" doppelsinnig zu verstehen. Deutlich wird dies etwa bei der protestantischen Opposition gegen die kurialistische These des Kardinals Bellarmin (1542-1621), der 1589 die kirchliche Ansicht erneuerte, das antike römische Reich sei zunächst auf den Papst und erst durch ihn auf das deutsche Kaisertum transferiert worden. 16 Dem wurde entweder entgegengehalten, die Translatio Imperii sei von Karl dem Großen „aus eigener Kraft" vollzogen worden, oder - unter Berufung auf Marsilius von Padua - das römische Volk habe der Translatio kraft Volkssouveränität akklamiert. Beide Begründungen waren mit den reichspatriotischen Gefühlen der Protestanten gut vereinbar, aber selbstverständlich lag den Theoretikern des Frühabsolutismus die Translatio kraft „Herrschersouveränität" viel näher als die Berufung auf die mit Mißtrauen betrachtete „ Volkssouveränität". Eine zweite patriotische Frontlinie der Protestanten richtete sich gegen Jean Bodin, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen war für deutsche Patrioten nicht akzeptabel, daß Bodin Karl den Großen als französischen Herrscher verstand und daraus die unerhörte Behauptung ableitete, das alte römische Reich sei auf die Franzosen übergegangen. Zum anderen erregte man sich über Bodins These, das Reich sei eine Aristokratie, der Kaiser nur „primus inter pares". Dies widersprach nicht nur der allgemein akzeptierten politischen Semantik des Kaisertums, es schwächte auch die gerade für Protestanten so wichtige Schutzposition des Kaisers in gefährlicher Weise. Besonders die kleineren Reichsstände waren auf diesen Schutz angewiesen, sie brauchten den vom Kaiser dominierten Reichshofrat, wenn es um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens ging. In den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts erhitzte sich, wenn man so sagen darf, die seelische Temperatur der Nation. Die Reichsverfassung war blockiert. 1601 stellte die für das Reichskammergericht verantwortliche Deputation ihre Arbeit ein, 1608 ging der Reichstag erstmals ohne Reichsabschied auseinander, Union und Liga entstanden als einander bedrohende Militärbündnisse und 1613 brach der Reichstag endgültig auseinander. Von außen drohte der Türkenkrieg (1593-1606) und im Inneren breitete sich die Neigung aus, durch begrenzte Militäraktionen Fakten zu schaffen und es dann auf einen kunstvoll verschleppten Prozeß ankommen zu lassen. Diese Lage stimulierte die Entstehung des öffentlichen Rechts und der dazugehörigen Reichspublizistik, und zwar zunächst ausschließlich auf protestantischer Seite. 17 Ab 1600 gab es an der Universität Altdorf die ersten Vorlesungen und Übungsarbeiten ex iure publico, in Jena entstand 1616-1623 die erste systematisch angelegte, lehrbuchartige Sammlung öffentlichrechtlicher Schrif-
16 Werner Goez, Translatio lmperii. Tübingen 1958, 305-324. 17 Michael Stolleis, Reformation und öffentliches Recht in Deutschland, in: Der Staat 24 (1985), 51-74.
Reic hspublizis1ik und Reic hspa1riotis mus
IJ
ten, 1607 gab es in Gießen den ersten ausdrücklich dem öffentlichen Recht gewidmeten Lehrstuhl. Binnen weniger Jahre war sich die Zunft einig, eine neue Disziplin sei entstanden oder wiedergeboren, das „Eis sei gebrochen"; durch Gottes Gnade, sagte Limnaeus 1629, sei dem öffentlichen Recht das ihm zustehende Ansehen nunmehr zuteil geworden. Methodische Grundlage des neuen Fachs ist die Ansicht, das Reichsverfassungsrecht müsse aus den „einheimischen" Rechtsquellen gewonnen werden, das heißt nicht aus dem römischen Recht, sondern aus den Reichsfundamentalgesetzen. So wie das Reich kein antikes römisches mehr ist, sondern eines auf die deutsche Nation begrenztes, so soll auch das römische Recht in F ragen der Reichsverfassung nicht mehr maßgebend sein. Es sei, sagten zwei Gutachter anläßlich der donauwörthischen Streitigkeit, „ein mercklicher Underschid, zwischen dem alten Lateinischen, und jetzigen Teutschen Kaysern [ ...]", und es sei demnach die Reichsverfassung „nicht auß den Lateinischen Rechten, oder Bartoto und Baldo [...] sondern vielmehr auß des Reichs ublichem herkommen und dahero rhürenden alten Verfassungen, auß der guldin Bull, Kayser: und Königlichen Capitulationen, des Reichs Abschieden und Constitutionibus zunehmen" . 18 Auch in dieser methodischen Maxime, die sich nun in wenigen Jahren durchsetzt, liegt ein reichspatriotisches Element, nämlich der Rückzug von universellen Positionen des Mittelalters auf eine nationale Identität, auf eine eigene, historisch gewachsene Verfassung. Diese Position wird im Prinzip von allen Reichspublizisten geteil.t, wenn man sich auch in der Frage, wem im Reich die Souveränität zukomme und wie das Reich in den alten aristotelischen Staatsformenkatalog einzuordnen sei, zutiefst uneinig war. Insofern war Dietrich Reinking, der lutherische Vertreter der „kaiserlichen" Position, 19 ebenso Reichspatriot wie Johannes Limnaeus, der die reichsständische Linie vertrat, 20 desgleichen die in dieser Frage zerstrittenen Gießener und Marburger Professoren Vultejus und Antonius. Reichspatrioten waren sie alle, insofern sie eine Überwindung der Verfassungskrise erhofften, eine Balance von Kaiser und Reich anstrebten und sich - von dem Skandalautor Hippolithus a Lapide abgesehen - als „kaisertreu" erwiesen. Selbst Hippolithus a Lapide, der die Ausrottung des Hauses Habsburg predigte, war keineswegs kaiserfeindlich; ihm schwebte vielmehr eine Konstruktion vor, wie sie in der englischen „Glorious Revolution" von 1688 verwirklicht wurde. IV 1618 brach der böhmisch-pfälzische Krieg aus, der zunächst einmal die Kurpfalz in die Katastrophe riß und sich dann über den niedersächsisch-dänischen Krieg
18 Beständige lnformatio ... 161l , 123; vgl. Geschichte (wie Anm . 14), 148 f„ m. w. Nachw. 19 Christoph Link, Dietrich Reinking, in: Michael Stolleis(Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert , Frankfurt 2 1987, 78 ff. , m. w. Nachw. 20 Rudolf Hoke, Johannes Limnaeus, in: Staatsdenker (wie Anm. 19), 100 ff.
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(1623- 1627) aus einem Religionskrieg in einen europäischen Machtkampf der Großmächte auf deutschem Boden entwickelte. Am Beginn stand eine protestantisch-patriotische Aufbruchstimmung, in der sich politischer Ehrgeiz und Sendungsbewußtsein für die „teutsche Freyheit" gegen die katholische Tyrannei seltsam mischten. 21 Es ist kein Zufall, daß gerade in diesen Jahren auch die berühmte Fruchtbringende Gesellschaft gegründet wurde ( 1617), später dann die Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen ( 1633), daß Opitz sein grundlegendes Buch „Von der deutschen Poeterey" veröffentlichte (1624) und daß es insgesamt eine breite patriotische Bewegung für eine reine deutsche Sprache, für Besinnung auf die eigenen Grundlagen und Formen der Literatur gab. 22 Der Verlauf des „Großen Krieges" bestimmte die Entwicklung des schon seit etwa 1600 deutlich angewachsenen Reichspatriotismus ganz entscheidend. Nachdem sich die konfessionellen Energien allmählich erschöpften und die europäische Machtpolitik unverhüllt sichtbar wurde - die Zeitgenossen benutzten hierfür das Sprachspiel , aus dem „amor religionis" sei ein „amor regionis" geworden - , erkannte man immer mehr die Bedrohung des Reichs insgesamt. Den eigentlichen Wendepunkt stellt die Schlacht von Nördlingen im Herbst 1634 dar. Aus ihr ging der Kaiser so gestärkt hervor, daß er einen Sonderfrieden mit dem stärksten „blockfreien" evangelischen Fürsten, also mit wagen Sachsen, konnte. Der sächsische Kurfürst motivierte sein Eingehen auf dieses Angebot damit, daß das „herrliche heilige und helleuchtende Reichsgebäu, welches vormals männiglich zur Verwunderung, den Feinden aber, wann es in seiner Einigkeit und gueten Harmonie sich befunden, zum Schreckhen und Forcht gewesen", nun aber durch die Einmischung der „fremden Potentaten (. ..) erbärmlich deformiert (. . .] kläglich devastiert und zerstört [ ...) die heilsame Grundgesetze und andere löbliche bedachte Ordnungen, wodurch man gegeneinander in Liebe und Einigkeit, Fried und Ruhe, Recht und Gerechtigkeit verbunden, zerrüttet (...] und uber einen Haufen geworfen" worden sei .23 Der 1635 abgeschlossene und von den meisten Reichsständen akzeptierte Prager Friede, der die Position des Kaisers stärkte, hätte eine ausgewogene Grundlage für eine Neuordnung des Reiches geben können. Er verband das traditionelle reichspatriotische Ziel der „Conservation Rei publicae unsers lieben Vaterlands deutscher Nation 2' " mit dem rationalen Gesichtspunkt der Staatsräson des Reichs (Ratio status imperii),25 er erlaubte den Habsburgern , eigene Ziele voranzutreiben und dabei die Energien des Reichspatriotismus zu
21 Julius Wilhelm Zincgref, Quodlibetischer Weltkefig, 1623. Vgl. auf der Gegenseite die Streitschriften Gaspare Scioppios (vgl. Geschichte , wie Anm . 14, 194, A. 408). 22 Einen Überblick gibt Christoph Stoll, Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhund erts, München 1973. Inzwischen ist die Forschung deutlich vorangekommen , insbesondere durch die Arbeiten von Ferdinand van Jnghen , Martin Bircher, Wilhelm Kühlmann und anderen. 23 Wandruszka. Reichspatriotismus (wie Anm . 3). 41. 24 Ebd., 42. 25 G eschichte (wie Anm . 14), 203 ff.
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benutzen. Der Kaiser war in dieser Situation der wahre Reichspatriot, indem er Frieden schuf und die Einmischung fremder Mächte, das heißt Schwedens und Frankreichs, mit dem Pathos des deutschen Kaisers zurückwies. Die auf den Prager Frieden reagierende Publizistik war äußerst lebhaft und disparat. Für die einen war der Friede das sehnsüchtig erwartete Ende der Leiden, der endlich erreichte Kompromiß zwischen den konfessionellen Lagern, die gegen die Theologen durchgesetzte Lösung der „Vernunft". Für die anderen war er genau das Gegenteil, nämlich ein nur dürftig verhüllter Sieg der katholischen Partei und die ernsthafte Gefahr eines dem Reich drohenden kaiserlichen Absolutismus. Eine Flugschrift von 1636 rief deshalb auf zur „Rettung der alten Teutschen Freyheit, gegen dem schadtlichen und schändtlichen Pragerischen Friedens Unfrieden" 26 auf. Beide Parteien argumentierten reichspatriotisch und beriefen sich auf das Wohl des „geliebten Vatterlandts", was einmal mehr beweist, welche publizistische Kraft der Reichspatriotismus in dieser Phase bereits gewonnen hatte. Niemand konnte mehr auf das patriotische Argument verzichten. Immer häufiger findet sich bei anonymen Flugschriften die Schlußformel „Von einem getreuen Patrioten" oder die Autoren wählen Pseudonyme wie „Teutschfreund", „Friedlieb", „Teuteburg", „Sincerus", „Wahrmund" und andere, um deutsche Redlichkeit, Friedens-, Freiheits- und Vaterlandsliebe auszudrücken. Das gleiche Bild zeigt sich in der Barockliteratur zur Zeit des Krieges. Opitz und Gryphius, Moscherosch, Harsdörffer, Rist, Klay, Zesen, Lobenstein, Schotte!, Logau und andere sind allesamt „reichspatriotisch" in dem Sinne, daß sie das Ende des kulturfeindlichen Krieges, die Erhaltung des Reichs, die Einigkeit zwischen Kaiser und Reichsständen wünschen und - in unterschiedlicher Intensität - für Sprachreinigung eintreten und gegen „alamodisches Wesen" in Sitten, Kleidung und Sprache wettern. 27 So wird 1643 in Hamburg die „Deutschgesinnte Genossenschaft", eine Sprachgesellschaft, gegründet, es erscheint 1644 von Johann Heinrich Schill das Buch mit dem schönen Titel „Der Teutschen Sprache Ehren-Krantz" und 1647 von Carl Melchior Grottnitz von Grodnow das Staatshandbuch „Teutsch gekleideter Regiments-Rath".28 Viele weitere Beispiele derartiger Patriotismen ließen sich anführen. Es bedarf dessen jedoch nicht, weil die Tendenz allgemein bekannt ist und es hier nur darauf ankommt, die Parallelität von Literatur und Reichspublizistik, das Übergewicht des reichspatriotischen Elements über den Konfessionskonflikt und die relative inhaltliche Offenheit des Reichspatriotismus zu kennzeichnen.
26 an., Vindiciae secundum libertatcm Germaniac contra Pacificationem Pragcnscm, das ist: Rettung der alten Teutschen Freyheit, gegen dem schadtlichcn und schändtlichen Pragerischen Friedens Unfrieden ... , o. 0. 1636. 27 Fritz Schramm, Schlagworte der Alamodezeit (Zeitschrift für deutsche Wortforschung, 6. Seih. zum 15. Bd.) Straßburg 1914; Wilhelm Frenzen, Germanienbild und Patriotismus im Zeitalter des deutschen Barocks, in: Vierteljahresschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 15 (1937). 28 Johann Heinrich Schill, Der Tcutsche Sprache Ehrcn-Krantz, Straßburg 1644; Carl Melchior Grottnitz von Grodnow, Tcutsch gekleideter Regiments-Rath, Stettin 1647.
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Nach dem Westfälischen Frieden zeigt sich zunächst einmal eine Phase der Erschöpfung und der Konzentration auf den Wiederaufbau. Die Fortexistenz des Reichs war gesichert, im wesentlichen hatte sich die reichsständische Position durchgesetzt,29 die Territorien rückten nach vorne und vollzogen diejenigen Entwicklungsschritte zum „modernen Staat", an denen das Reich gescheitert war. Die Zeit der Ruhe für das Reich dauerte jedoch nicht lange. Frankreich begann seine Expansionsversuche, zunächst gegen Holland ( 1672), dann durch die Unterwerfung von zehn elsässischen Reichsstädten und die Besetzung von Trier (1673). 1674 erklärt das Reich Frankreich den Krieg, der für das Reich wenig glücklich verläuft, auch wenn Trier im Herbst 1675 wieder befreit wird. Im Frieden von Nijmegen setzt sich das Reich nicht durch, zumal es im Osten von den Türken bedrängt wird und Spanien als Machtfaktor nahezu ausgeschieden ist. Frankreich nutzt dies aus, indem es über die (rechtlich unhaltbaren) sogenannten Reunionen im Elsaß, in Lothringen und in der Pfalz vordringt. Trier wird von französischen Gebiet eingekreist, 1681 wird Straßburg militärisch besetzt. Diese Vorgänge lösten eine Welle reichspatriotischer Empörung aus, die alles Vorgehende übertraf. 30 Noch deutlicher als beim Prager Frieden wurde nun die öffentliche Meinung zum Machtfaktor, den die Fürsten bei ihren Aktionen einzukalkulieren lernten. Ludwig XIV. wurde zum Erzfeind des Reiches. Der aus der Pfalz stammende Merkantilist und Projektemacher Johann Joachim Becher31 zum Beispiel schrieb anonym einen „Machiavellus gallicus, das ist: Verwandlung und Versetzung der Seele des Machiavelli in Ludovicum XIV dem König von Franckreich" (1675) und viele andere schrieben Ähnliches in der Erregung über die rechtswidrigen Besetzungen. Den Gipfel erreichte dieser Patriotismus, als die französischen Truppen im sogenannten pfälzischen Erbfolgekrieg die Taktik der verbrannten Erde anwandten, Städte und Dörfer anzündeten, die Obst- und Weinbaukulturen vernichteten und den Namen ihres Oberbefehlshabers, General Melac, zum Symbol des Bösen schlechthin werden ließen. 32 Daß man in der Pfalz bis ins 20. Jahrhundert die Metzgerhunde „Melac" nannte, war eine Erinnerung daran. Man muß diese negative Erfahrung mit ihren starken nationalistischen Antriebselementen aber auch mit einer zweiten, positiven Erfahrung zusammensehen, um den mächtigen Aufschwung des Reichspatriotismus am Ende des
29 Geschichte (wie Anm. 14), 225 ff. 30 Karl Hölscher, Die öffentliche Meinung in Deutschland über den Fall Straßburgs 1681-84, München 1896; v. Raumer (wie Anm. 4), m. w. Nachw. 31 Otto Brunner, Johann Joachim Bechers Entwurf einer •. Oeconomia ruralis et domestica„ (Sitzungsber. der östcrr. Akademie der Wissenschaften 216/3) Wien 1951; Herben Hassinger. Johann Joachim Becher. Ein Beitrag zu r Geschichte des Merkantilismus, Wien 1951 ; Michael Stolleis, Pecunia Nervus Re rum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Frankfun 1983, 96 f. 32 Friedrich Kleyser, Der Flugschriftenkampf gegen Ludwig XIV zur Zeit des pfälzischen Krieges, 1935; v. Raumer (wie Anm. 4).
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17. Jahrhunderts zu erklären. Diese zweite Erfahrung ist die Erleichterung, mit der im Jahr 1683 die Befreiung Wiens von den Türken registriert wurde. Dieser Erfolg war der Ausgangspunkt für den erneuten Aufstieg Österreich-Habsburgs als europäische Großmacht, für eine sehr geschickt und gezielt inszenierte Kaiserpropaganda und einen entsprechenden „Reichsstil" ,33 der sich von Leopold I. ( 1658-1705) über Josef 1. (1705-1711) bis insbesondere zu Karl VI. (1711-1740) fortsetzte. So dichtete der habsburgische Untertan und Jurist Friedrich von Logau 1654: Oesterreich Oesterreich heist Osten-Reich/ denn hierauß entsteht das Licht/ Drauff das gantze deutsche Reich/ Wesen/ Wolfahrt/ Wachstum/ richt. 34 In der Geschichtswissenschaft ist für diese Zeit ( 1683-1740) von „ReichsEuphorie" die Rede, 35 und in der Tat begleiten und stützen sich der politische Machtzuwachs Habsburgs und die entsprechende Glorifizierung von Kaiser und Reich, die man 1648 kaum mehr für möglich gehalten hatte. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die pompösen Huldigungen des Hochbarock mit rhetorischen Hyperbeln arbeiten, ist die aufsteigende Linie immer noch unverkennbar. V
In den letzten Jahren der Regierungszeit Karls VI. senkt sich aber die habsburgische Erfolgslinie und damit auch die Ausstrahlungskraft des mit ihr verbundenen Reichspatriotismus wieder deutlich ab. Fast ganz Italien geht verloren, Lothringen wird französisch ( 1733-35). 1739 erleidet Österreich demütigende Verluste auf dem Balkan (Friede von Belgrad). Das Jahr 1740 mit seinen Thronwechseln in Österreich, Preußen und Rußland bildet insoweit einen deutlichen Einschnitt. Mit ihm bricht der österreichischpreußische Dualismus aus, der bis 1866 reichen sollte, Preußen erkämpft sich in drei „schlesischen Kriegen" einen Rang unter den europäischen Großmächten und es treibt nun endgültig eine vom Reich nahezu selbständige Politik. Wenn seine Politik reichsfreundlich erscheint, wie etwa im bayerischen Erbfolgekrieg ( 1778/79), dem sogenannten Kartoffelkrieg, oder bei der Intervention gegen das Tauschprojekt Carl-Theodors mit der Gründung des „Fürstenbundes" (1785), dann dürfen die antihabsburgischen und preußisch-patriotischen Motive 36
33 Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Notker Hammerstein, Reich, in: Otto Brunner, Werner Conze, Rcinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 423 ff. (458). 34 Friedrich v. Logau, Sinngedichte, 3. Tausend, Nr. 206, hg. v. Ernst- Peter Wieckenberg, Stuttgart 1984, 212. 35 v. Aretin (wie Anm. 33). 36 Ernst Rudolf Huber, Der preußische Staatspatriotismus im Zeitalter Friedrichs des Großen, in:
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dahinter nicht übersehen werden. So wird etwa als Ziel des Fürstenbundes angegeben, daß das „mit besonderer Sorgfalt und Mühe seit Jahrhunderten errichtete und mit so mannigfaltigen großen Aufopferungen von Gut und Blut bisher erhaltene teutsche Reichs-System [...] in seinem ungekränkten Wesen beständig aufrechterhalten, und auf eine constitutionsmäßige Weise gehandhabt werden möge". 37 Aber das Motiv war natürlich weniger die Erhaltung des Reichs als die Zurückdrängung Österreichs, das mit der Übernahme von Bayern seine deutschen Besitzungen enorm vergrößert und sich von den schwer beherrschbaren niederländischen Problemen entlastet hätte. Das Reich als „dritte Kraft" zwischen Österreich und Preußen sank in den Jahrzehnten zwischen 1740 und 1806 langsam dahin. Es verlor an politischer Substanz, bewahrte aber sein rechtliches Regelwerk, ja dieses Regelwerk wurde verfeinert und ausgebaut, es wurde mit großem Aufwand an öffentlichrechtlicher Gelehrsamkeit dokumentiert, interpretiert und an den Universitäten vermittelt. Reichskammergericht und Reichshofrat hatten alle Hände voll zu tun, um die jährlichen Neuzugänge an Prozessen zu bewältigen.38 Je mehr Verrechtlichung und Gelehrsamkeit, desto weniger politische Handlungsfähigkeit - so kann Goethes Wort über das Deutsche Reich „wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf' 39 auch verstanden werden. Entsprechend der Eingangshypothese, daß „Reichspatriotismus" eine speziell in Krisen stimulierte emotionale Identifikation mit dem Reich ist, wächst nun von der Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Spielart von Reichspatriotismus heran. 40 Es ist allerdings nicht einfach, diese Strömung von gleichzeitigen „nationalen" säuberlich zu trennen. Denn es gibt neben der traditionellen Anhänglichkeit an das Reich einen neuen Aufbruch der Deutschen zu einem „National-Geist", der sich seinerseits wieder in verschiedene Richtungen entfaltet. Zunächst liegt in dieser Suche nach einem nationalen Kontext eine antipartikularistische Richtung, ein Drang zur umfassenden Einheit unter Überwindung der notorischen Kleinstaaterei. Die Juristen haben daran durchaus Anteil, so etwa diejenigen, die Montesquieu rezipieren41 und seine Lehre von den unter-
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Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 103 (1943), 430 ff. Vgl. dazu Anna Lübbe, Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Michael Stolleis (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, Tübingen 1989. Hans Hubert Hofmann (Hg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des HI. Römischen Reiches Deutscher Nation 1495- 1815, Darmstadt 1976, Nr. 62. Friedrich Hertz, Die Rechtsprechung der höchsten Reichsgerichte im römisch-deutschen Reich und ihre politische Bedeutung, in: MIÖG 69 (1961), 331 ff. Xenien von Schiller und Goethe, in: Johann Wolfgang v. Goethe, Gedichte in zeitlicher Folge, hg. v. Heinz Nicolai , Frankfurt s1986, 372. Wolfgang Zorn , Zur Reichspublizistik des späteren 18. Jahrhunderts (1945), gedruckt u. d. Ti· tel: Reichs- und Freiheitsgedanken in der Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts ( 17631792), in: Paul Wentzke (Hg.), Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Ein· heitsbcwegung, Bel. 2. Heidelberg 1958, 11-66. Rudolf Vierhaus. Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer
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schiedlichen Nationalbedingungen der Gesetzgebung auf Deutschland anwenden, wie etwa Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717-1771) 42 , Heinrich Gottfried Scheidemantel ( 1739-1788)43 oder der Altdorfer Professor Johann Heumann von Teutschenbrunn (1711-1760)4 4, der in diesem Sinne über den „Geist der Gesetze der Teutschen" schrieb (1760). Neben diesem praktisch-reformerischen, vom erwachenden Bürgertum getragenen „National-Geist" 45 gibt es eine enthusiastische, antifranzösische und oft auch antiaufklärerische Spielart. Für diese Richtung stehen die Herausgabe der Edda durch den französischen Schweizer Mallet ( 1756), die Bardenlyrik, Gleims „Kriegslieder", Thomas Abbts „Vom Tode fürs Vaterland" ( 1761 ), Macphersons geschickt und stimmungsvoll gefälschter „Ossian" (1764), Klopstocks Trilogie über Hermann den Cherusker,46 außerdem seine deutschen Gesänge und seine Begeisterung für das Nordische überhaupt. Wie sehr diese Richtung den Vertretern der rationalistischen Aufklärung auf die Nerven ging, zeigt Lichtenbergs Spott über die „gewisse Art Leute, meistens junge Dichter, die das Wort Deutsch fast immer mit offenen Nasenlöchern aussprechen. Ein sicheres Zeichen, daß der Patriotismus bei diesen Leuten sogar auch Nachahmung ist. Wer wird immer mit dem Deutschen so dicke tun?" 47 Dennoch gibt es Autoren, auch unter den Reichspublizisten, denen es gelingt, die aufklärerische „antidespotische" Linie mit neuer Empfindsamkeit zu verbinden. Bestes Beispiel hierfür ist Friedrich Carl von Moser, der publizistische Kämpfer für Reformen, der fromme Christ und der Enthusiast für die Reichsverfassung, der auch als Reichshofrat dem Wiener Hof verpflichtet war. 48 Sein „ Von dem Deutschen national-Geist" (1765) und sein „Patriotisches Archiv für Teutschland" (1784-1790) zielt auf Verbürgerlichung der Ständegesellschaft, auf Verfassungsreform des Reichs in Richtung einer „National-Versammlung" sowie auf Reformen in den Territorialstaaten. 49 Reichspatriotismus und bürgerlich-aufgeklärtes Denken waren also durchaus kein Widerspruch. Auch die unter dem Sammelnamen „Sturm und Drang" zusammengefaßten Literaten wie Klinger, Lenz, die Stolbergs, Voß, Goekingk, Boie, der junge Goethe - so unpolitisch ihr Ausbruch aus den Konventionen und Frustratio-
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Schriftsteller im 18. Jahrhundert, in: Ernst Wolfgang Böckenförde (Hg.), Collegium philosophicum. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, 403. Geschichte (wie Anm . 14), 379 ff. Ebd., 295 f. J ohann August v. Eisenhart, in: Allgemeine Deutsche Biographie 12 (1880), 331 f. Gerhard Masur, Deutsches Reich und deutsche Nation im 18. Jahrhundert , in: Preußische Jahrbücher 229 (1932), 17 ff. ; Ernst Rudolf Huber, Volk und Staat in der Reichsrechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 102( 1942), 593 ff. Siehe dazu auch oben Anm . 36. Die Hermanns Schlacht, 1787; Hermann und die Fürsten, 1784; Hermanns Tod, 1787. Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, hg. v. Max Rychner, Zürich 1958, 173 f. Geschichte (wie Anm. 14), 318 A. 152; Notker Hammerstein, Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: HZ 212 (1971), 316 ff. Karl Otmar Frhr. v. Aretin (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974.
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nen der Gesellschaft scheinen mochte 50 - waren „ vaterländisch" und „reichspatriotisch" gesinnt, zumal wenn sie über das Jurastudium mit der Reichspublizistik in Kontakt gekommen waren. 51 Die von ihnen immer wieder beschworene „Freyheit", die antiabsolustistische nämlich, die auch Schillers Räuber-Motto „in tirannos" meinte, ist die alte „teutsche" Freiheit. Mit ihr wird der taciteische Topos der angeblich unbändigen Freiheitsliebe der Germanen wiederbelebt, wird zum Teil ins Menschheitliche gewendet,5 2 zum Teil aber auch gegen „Britten" und „Franken" als deutscher Nationalbesitz reklamiert. Besonders als die französische Monarchie zerbrochen und die revolutionäre Morgenröte der Menschheit in Frankreich in einen radikaldemokratischen Nationalismus und in das „regime du terreur" umgeschlagen war, besann man sich in Deutschland verstärkt auf die schützende Funktion von innerem Frieden, Rechtskultur und Reichsverfassung. 53 Hatte man sich bisher witzige Bemerkungen erlaubt, die Reichsverfassung sei eine von „Göttern gesegnete Verwirrung" (confusio divinitus conservata),54 so erinnerte man sich jetzt wieder stärker an die lobenden Worte von Voltaire und Rousseau über die Reichsverfassung, 55 an die Ansicht berühmter Reichspublizisten, es könne „keine glückseligere Einrichtung eines Staates erdacht werden, als diese, da ein jedes Mitglied des Reichs in Erhaltung des Seinigen sicher, gegen anderer Beleidigungen geschützet [ ...) ist" .56 Nun wurden die Vorzüge der eigenen Lage gegenüber Frankreich wieder deutlich. „ Wir schweben nicht so in der Luft", schrieb Wilhelm Heinse 1792, „und lassen uns von jedem Wind hin und her bewegen" .57 Selbst Georg Forster, der Weltreisende und Revolutionär, meinte 1789: „Darzuthun, in wiefern das alte gothische Gebäude der deutschen Reichsverfassung seine gute Seite habe, wie es seinen Insassen Ruhe und Wärme geben könne, ist gar nicht übel" 58 , und ein Jahr später sagte er: „Kein Vulkan wird sich unter dem ehrwürdigen Gothi-
50 Rudolf Vierhaus, .Patriotismus" - Begriff und Realität einermoralisch-poliltschen Haltung, in: ders. (Hg.), Deutsche pa1riotische und gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, 9- 29; Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750-1850, Wiesbaden 1981. 51 Gerrit Walther, „ . . . uns, denen der Name 'politische Freiheit' so süße schallt". Die politischen Erfahrungen und Erwartungen der Sturm- und Drang-Generation, in: Freies Deutsches Hochstift, Sturm und Drang, Frankfurt 1988, 307-327; siehe auch Harro Zimmermann, Freiheit und Geschichte. F. G. Klopstock als historischer Dichter und Denker, Heidelberg 1987. 52 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und magneet la Revolution fran~aise, Paris 1949; Timothy Charles W. Blanning, The French Revolution in Germany, Oxford 1982, 255 ff.; Geschichte (wie Anm. 14), 327 ff., m. w. Nachw. 54 Vgl. Walther (wie Anm. 51), 318, m. w. Nachw. 55 Hermann August Korff, Voltaire im literarischen Deu1schland des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1917; Notker Hammerstein, Voltaire und die Reichspublicistik, in: Peter Brokmeier, Robert Desne, Jürgen Voss (Hg.), Voltaire und Deutschland, Stuttgart 1979, 335. 56 Johann Stephan Pütter, Patriotische Abbildung des heutigen Zustandes beyder höchsten Reichsgerichte, Frankfurt, Leipzig 1756, § 6. 57 Manfred Dick. Wilhelm Heinse in Mainz. in: Christoph Jamme, Otto Pöggeler(Hg.), MainzCentralort des Reiches, Stuttgart 1986, 165. 58 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi v. 23.(?) Nov. 1789, in: Johann Georg Forsters Werke, hg. v.
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sehen Denkmal unserer Reichsverfassung entzünden, seine ziemlich geschnörkelten Thürmchen, seine schlanken Säulenbündel und schaurigen Spitzgewölbe in die Luft sprengen, und uns mit dem Feuer und Schwefel der politischen Wiedergeburt taufen." 59 Erst recht hatten die aus der reichspublizistischen Schule von Halle und Göttingen stammenden Juristen Anlaß, jetzt zu betonen, wie friedlich und segensreich sich die Reichsverfassung ausgewirkt habe, wie sehr es im Interesse der Deutschen liege, sie nicht leichtsinnig über Bord zu werfen. 60 1792 schrieb der Helmstedter Professor Carl Friedrich Haeberlin seinen bekannten Artikel "Ueber die Güte der Deutschen Staatsverfassung" 61 und er versicherte 1794 an anderer Stelle, er sei „noch immer lebhaft davon überzeugt [ ...], daß unsere Verfassung eine der vorzüglichsten ist" .62 Günter Heinrich von Berg, ebenfalls aus der Göttinger Schule kommend, schrieb 1795 „Ueber Teutschlands Verfassung und die Erhaltung der öffentlichen Ruhe in Teutschland".63 Gewiß waren sich die freieren Geister darüber einig, daß das Zeremonialwesen, die unglaubliche Kompliziertheit, die Langsamkeit der Willensbildung und des Rechtsganges, einen Rest von „gothischem" Mittelalter in einer revolutionär gestimmten modernen Welt darstellten, daß die Reichsverfassung überständig und verkalkt war. Ein Hauch von Wehmut schwingt mit, wenn von der Reichsverfassung gesprochen wird, weil man weiß, daß sie langfristig nicht zu halten sein würde. Aber zu ihrem planmäßigen Abbruch mochte man nicht raten. Die stärkere Kraft lag, nachdem der Menschheitsenthusiasmus in Mißkredit geraten war, im Nationalen. Es schien die Brücke zu sein, über die man bei zusammenbrechenden Reichsinstitutionen an das neue konstitutionelle Ufer zu gelangen hoffte. 64 „Die Zeit", so schreibt Heinrich von Kleist 1805 an seinen Freund Rühle, „scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben" .65 Acht Monate später war es tatsächlich so weit.
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d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 15 (Briefe Juli 1787-1789), Berlin 1981, 374. Winfried Dotz.auer, Johannes von Müller und Georg Forster im Mainz der Ertbal-Zeit (1786/88-1792), in: Jamme, Pöggeler (wie Anm. 57), 198 (230). Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Reichstag, Rastatter Kongreß und Revolution. Das Wirken Isaaks von Sinclair und seiner Freunde am Ende des HI. Römischen Reiches, in: Hölderlin-Jahrbuch 22 (1980/81), 4 ff. Braunschweigisches Magazin 1792, St. 40-42 (in veränderter Fassung in: Dt. Monatsschrift 1793, 3 ff.). Carl Friedrich Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, Bd. 1, Berlin 1794, 5 Anm. •. Göttingen 1795. Arnold Berney, Reichstradition und Nationalstaatsgedanke (1789-1815), in: HZ 140 (1929), 57 ff.; Masur (wie Anm. 45); Elisabeth Fehrenbach, in: Reich (wie Anm. 33), 489, m. w. Nachw. Brief an Otto August Rühle v. Lilienstem, Königsberg v. November 1805, in: Heinrich v. Kleist, Werke, hg. v. Helmut Sembdner, Taschenbuchausg. München 1964, Bd. 7 (Briefe), Brief Nr. 92.
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Der Reichspatriotismus des späten 18. Jahrhunderts war von anderer Qualität als der Enthusiasmus der Humanisten im frühen 16.Jabrhundert und als das patriotische Festhalten am Reich in den Krisen des 30jährigen Krieges und der Kriege Ludwigs XIV. Die Stimmungen und die politischen Situationen waren grundverschieden, und dennoch knüpften sich die politischen Sehnsüchte immer wieder an jenes halbimaginäre „Reich", dem es bis 1806 nicht gelang, moderner Staat zu werden und das gerade deshalb seine sakrale Aura bewahrte und zum Identifikationspunkt werden konnte. So hieß es 1817 in den Grundsätzen und Beschlüssen der Burschenschaften „Die Sehnsucht nach Kaiser und Reich bleibt ungeschwächt in der Brust jedes deutschen Mannes und Jünglings, so lange es eine Erinnerung an eine schönere Zeit geben wird" (Art.12). Je mehr allerdings die sakralen Elemente des Reichsbegriffs im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts säkularisiert und rationalisiert wurden, desto wichtiger erschien die rechtliche Struktur des Reichs und die dazugehörige Reichspublizistik . Daß sich gerade hier solche Gebirge von gelehrten Büchern auftürmten, darf wohl auch als Äquivalent für das Schwinden der sakralen Kraft und der politischen Handlungsfähigkeit des Reichs gedeutet werden. Damit wurde im Laufe der Zeit auch der „Reichspatriotismus" immer „vernünftiger". Er argumentierte immer mehr mit den praktischen Vorteilen der Erhaltung der Reichsverfassung und am Ende bekam er jene Beimischung von Melancholie, wie sie sich einzustellen pflegt, wenn politische Verfassungszustände und die mit ihnen verknüpften vertrauten Lebensformen an ein Ende geraten. Als das Reich zusammenbrach und der Nationalstaat unerreichbar blieb, flüchteten sich die Deutschen - „gedankenvoll und tatenarm" (Hölderlin) - in das Reich der Idee und sie spendeten sich selbst Trost, mit den Worten Schillers von 1797 „Indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet". 66
„Reichspatriotismus" im Deutschland der frühen Neuzeit ist ein Indikator far Krisen des Reichs. Die erste dieser Krisen ereignet sich in den Jahrzenten der Glaubensspaltung nach 1517, die zweite inder Zeit um den Prager Frieden von 1635 sowie während der Kriege Ludwigs XIV. im letzten Drille/ des 17. Jahrhunderts. Eine drille Welle von Reichspatriotismus zeigt sich im späten 18. Jahrhundert kurz vor dem Zusammenbruch des Reichs. Teils handelt es sich um verbreitete Volksstimmungen, teils - und vielleicht überwiegend- um humanistische, reichspublizistische oder literarische Ä°ußerungen intellektueller Kreise beziehungsweise um Produkte gezielter politischer Propaganda der Habsburger. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird der Reichspatriotismus schrittweise vom Kultus des „Nationa/Geistes" überdeckt und umgeformt.
66 Friedrich Schiller, Deutsche Größe, 1797, in: Werke Bd. l, hg . v. Gerhard Finke und Hubert Göpfert , München 1 1960, 474.
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In Germany of early modern times, „imperial patriotism" is a sign of crises in the Empire. Thefirst ofthese crises took place in thedecades ofschism after 1517, the second in the days ofthe peace treaty ofPrague in 1635 as weil as du ring the wars of Louis XIV in the last third of the 17th century. A third wave ofimperial patriotism arose in the late 18th century shortly before the co//apse of the Empire. Partly it is characterized by widespread popular Sentiments, partly - .and perhaps predominantly - by humanistic, journa/istic or literary utterances of inte//ectual eire/es, resp. by products ofconcerted po/itical propaganda through the Hapsburgians. At the end of the 18th century the idea of imperial patriotism becomes gradua/ly covered up by and refashioned by the cult of ,,nationa/ spirit".
Prof. Dr. Michael Stolleis, Johann Wolfgang Goethe-Universität , Fachbereich Rechtswissenschaft, Scnckcnberganlage 31 , Postfach 111932, 0-6000 Frankfurt am Main 11
Karl Otmar Freiherr von Aretin Reichspatriotismus
Reichspatriotismus, was war das und wie ist das zu definieren? So merkwürdig das klingen mag, es gibt dafür keine eindeutige Definition. Johann Christoph von Adelung definierte in seinem grammatikalisch kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart 1774 den Patrioten als einen Mann, der die allgemeine Wohlfahrt unabhängig von seinen eigenen Interessen fördert. Dies war natürlich ganz allgemein gesagt und läßt sich auf das Reich nur mit einigen Einschränkungen anwenden. Der eben zitierte Begriff Adelungs geht da von einer engen Bindung an die Gesellschaft und das Land aus. Das Reich war eine Vereinigung von Fürsten, Grafen, Reichsrittern und freien Städten mit einem Kaiser an der Spitze. Der Landesherr war in den meisten Fällen nicht das Reichsoberhaupt und da, wo er es war, regierte dieser an der Peripherie im fernen Wien. Das heißt, wo eine Bindung an das Land, an die Stadt bestand, da war der Landesherr, der Magistrat das Ziel dieser Bindung. Da, wo das Reich als höhere Einheit lebendig war, am Reichstag zu Regensburg, am Kaiserhofzu Wien oder am Reichskammergericht zu Wetzlar, besaß der Bürger, oder besser gesagt der Untertan keine unmittelbare Beziehung. Es war eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft von Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Reichsrittern und Reichsstädten. Der Untertan hatte in diesem Beziehungsgeflecht keinen Platz. Allerdings, und das unterschied ihn von den Bürgern fast aller anderen Länder: Wenn ihm von seinem Landesherrn Unrecht geschah, konnte er bei den Obersten Reichsgerichten, dem Reichshofrat oder dem Reichskammergericht, klagen. Theoretisch durfte ihm deshalb kein Leid geschehen. Johann Jakob Moser verbrachte fünf Jahre auf dem Hohentwiel bis der Kaiser imstande war, das gegen den Herzog von Württemberg zugunsten Mosers erlassene Urteil des Reichshofrats zu vollstrecken. Kein Wunder, daß da keine Impulse für den Reichspatriotismus ausgingen. Auch in Regensburg, wo das Häuflein der Reichstagsgesandten frivolen Vergnügungen nachging, im Saal des alten Rathauses mit aller Intensität über Quisquilien ebenso wie über wichtige Dinge zu streiten, war kein Ort, wo sich der Reichspatriotismus hätte ansiedeln können. Und doch hat es Zeiten gegeben, in denen sich das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen übermächtig dokumentierte. Die Türkenkriege mit der Befreiung Wiens 1683 und die Siege Prinz Eugens ließen eine Einheit zwischen Kaiser und Reich entstehen. Es war die Zeit, in der der Reichspatriotismus am Aufklärung 412 C> Felix Meiner Verlag, 1989. ISSN 0178-7128
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eindeutigsten seit der Reformation auf den Kaiser in Wien ausgerichtet war. Das Lied vom Prinz Eugen dem edlen Ritter ging durch ganz Deutschland. Die Habsburger hatten das Kaisertum aus dem Tal des Westfälischen Friedens herausgeführt. Sie hatten die doppelte Bedrohung des Reiches durch Ludwig XIV. und das Osmanische Reich abgewehrt. Um J 720 war man sich in London gar nicht darüber im klaren, ob das von LudwigXIV. heruntergewirtschaftete Frankreich oder die Großmacht Österreich der mächtigste Staat war. Diese Großmacht hatte sich in Ungarn und durch das spanische Erbe in ltalien mit Mailand und Neapel und in Flandern ausgedehnt. Demgegenüber schienen die territorialen Gewinne LudwigsXIV. gering, so schmerzlich der Verlust des Elsaß und Straßburgs für die Deutschen auch war. Aber es war etwas anderes als das Reich. Es war dem Kaiser nicht gelungen, im Westen eine sichere Grenze, die sogenannte Reichsbarriere, zu errichten. Die an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entstandene Großmacht Österreich erweckte im Reich mehr Besorgnis als das Gefühl der Sicherheit. Diese Großmacht folgte den Gesetzen der europäischen Großmachtpolitik. Das europäische Gleichgewicht war das damals neu aufgestellte Prinzip. Nicht mehr die Prinzipien des Rechts, sondern die des Gleichgewichts bestimmten die Politik des Kaisers. Bereits unter Kaiser Karl VI. fingen die Reichsbehörden an, in ihrer Bedeutung hinter denen der österreichischen zurückzutreten. Aber es gab auch positive Aspekte. Man nahm es in Regensburg mit Wohlgefallen auf, daß der Kaiser in Reichsitalien die Herrschaft des Reiches stabilisierte. Eine ganze Reihe von Flugschriften und staatsrechtlichen Abhandlungen beschäftigte sich damals mit den Rechten des Reiches auf Italien. Die Leipziger Staatsrechtslehrer Johann Jakob Mascov und Gottfried Philipp von Spannaghel, um nur die beiden zu nennen, beteiligten sich an der Auseinandersetzung über die Frage, ob Toskana ein Reichslehen wäre oder nicht. 1 Am Reichstag in Regensburg trug man dem Kaiser auf, nichts von den wohlerworbenen und uralten Rechten des Reiches auf Italien preiszugeben. In diesen Schriften wehte ein merkwürdiger Reichspatriotismus. Von dem unterworfenen Volk der Italiener war ebenso die Rede, wie von des Heiligen Römischen Reiches Ehre. Es war aber unübersehbar, daß die Herrschaft des Reiches in Italien in erster Linie der Großmacht Österreich und der Festigung ihrer italienischen Besitzungen diente. Als Lothringen im polnischen Erbfolgekrieg 1738 mit Toskana vertauscht wurde, war das Mißtrauen im Reich hellwach. War Tausch nicht das Ende jeder Freiheit? Die Großmacht Österreich verstrickte das Reich in die undurchsichtigen Verhältnisse der europäischen Politik. Die seinerzeit vom Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn gegründete Kreisassoziation der Vorderen Reichskreise zum Schutz der Westgrenze sah sich in diesem polnischen Erbfolgekrieg mißbraucht. Man hatte im Reich Grund zu dem Argwohn, daß der Kaiser in
1 Vgl. Karl Otmar Freiherr von Aretin , Das Reich. Friedensgaranlie und europäisches Gleichgewicht 1648-1806, Stuugart 1986, S.140.
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erster Linie österreichische Großmachtpolitik und keine Reichspolitik betrieb. Der Tod Karls VI. und die im Januar 1742 erfolgte Wahl des Wittelsbachers Karl Albert zu Kaiser Karl VII. stand im Zeichen einer Hinwendung zum Reich. Fast vier Monate ließ man sich Zeit, um die Wahlkapitulation des neuen Kaisers zu entwerfen. 2 Dabei ging es nicht um eine Beschränkung seiner Macht, denn sehr viel Macht besaß der Wittelsbacher nicht. Die von Johann Jakob Moser in ein System gebrachte Wahlkapitulation war wie ein Programm zur Erneuerung des Reiches. Damals entdeckte der Trierer Weihbischof von Hontheim die Gravamina der Deutschen Nation gegen Rom. Sein später als Febronianismus bezeichnetes System zielt auf die Gründung einer deutschen Nationalkirche. Die Wahl Karls VII. weckte im Reich viele Hoffnungen. Der ständische Kaiser, der nicht in die Politik der Großmächte verwickelt war, schien ein neuer Anfang. Diese Hoffnungen wurden grausam enttäuscht. Als man im Oktober 1745 den Gemahl Maria Theresias, Franz Stephan von Lothringen, zum Kaiser wählte, war aller Enthusiasmus verflogen. Als 1745, nach dem Tod des Wittelsbacher Kaisers Karl VII. , die Kaiserkrone wieder nach Wien zurückgeholt war, ging in Wien eine Diskussion los, welchen Wert die Kaiserkrone für Österreich habe. Es war der neu ernannte Reichsvizekanzler Rudolf Graf Colloredo, der in seinem schwülstigen barocken Stil damals schrieb: 3 "Daß das Römische Reich mit den erzherzoglichen Erblanden einen derlei gemeinschaftlichen Aneinanderhang habe, daß das Heil des einen von dem Wohlsein des anderen mehrerenteils abhänge, kann fast nicht in Abrede gestellt werden. Geht man ein wenig in die verflossene Zeit zurück, so ergibt sich noch mehr, was für eine Stütze das Erzhaus an dem Reich gehabt, indem bekannt ist, daß sobald das Einverständnis mit dem Reich verwirrt worden, sich auch beiderseitig die Angelegenheiten merklich verschlimmert haben." Colloredo zieht dann den Schluß: "daß gleichwie das Römische Reich ohne den Beistand des allerdurchlauchtigsten Erzhauses nicht wohl aufrechterhalten werden kann, gleichfalls dieses allerhöchste Haus bei der Trennung von dem Römischen Reich von den bekannten vielfältigen Feinden großen Gefahren ausgesetzt bleiben dürfte". Die Zeit des Siebenjährigen Krieges war kein Anlaß zu Reichspatriotismus. Man schlug sich im Reich auf die Schenkel vor Vergnügen, als Friedrich bei Roßbach am 5. November 1757 die Franzosen und die Reichsarmee schlug. Aber man war sich auch darüber im klaren, daß das Reich zu Ende war, wenn Friedrich neben Schlesien auch Sachsen und Mecklenburg eroberte. Zwei Jahre nach dem Hubertusburger Frieden 1765 erschien von Friedrich Carl von Moser die Schrift „ Von dem deutschen Nationalgeist". Er war der Sohn des schon erwähnten Johann Jakob Moser. Moser war von einem glühenden
2 Die Unterlagen sind in Johann Jakob Moser, lhro römisch-kayserlichen Majestät Carls des Siebenden Wahlkapitulation mit Beylagen und Anmerkungen versehen im III. Teil Frankfurt am Mayn 1744 festgehalten. Sie sind fUr die Kenntnis der Absichten der Kurfürsten wesentlich interessanter als die Wahlkapitulation selbst. 3 Ausarbeitung Colloredos undat iert, wahrscheinlich Januar 1746, Reichskanzlei Vorträge 6d. Wien.
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. Reichspatriotismus beseelt. Für ihn war die alte Rechsverfassung, wenn sie richtig angewandt worden wäre, das Ideal. Er war es auch, der dem Begriff Reichspatriotismus eine ganz eigenartige Deutung gab. Für ihn war die alte Reichsverfassung ein Freiheit verbürgendes System, in dem jeder in einer gegenseitigen Abhängigkeit stand. Das Starren auf das Militärwesen zerstörte für Moser den für das Gedeihen der Gemeinschaft so wichtigen Sinn für Recht und Gerechtigkeit. Jede Nation habe ihre eigene Freiheit. Im Reich seien in seiner Vielfalt die besten Voraussetzungen für eine Freiheit. Eine deutliche Abwendung von einzelstaatlichem Patriotismus. Allerdings bedinge das, daß die Herrscher ihre Regierung ganz auf das Wohl ihrer Bürger ausrichten. „Ein wahrer Patriot ist derjenige gottselige, redliche, standhafte, geduldige, beherzte und weise Mann, welcher mit einer gründlichen Kenntis der Gesetze und Verfassung, der Quellen der Wohlfahrt und der Gebrechen seines Vaterlandes den aufrichtigen Willen verbindet, die sicherste Rettungs= , gelindeste H ülfs= und dauerhafteste Verbesserungs= Mittel ausfindig zu machen, und von wahrer Menschenliebe entzündet, ohne Ansehen einer Part hie oder Person, und mit Verläugnung seines eigenen Nutzens oder Schadens sie bekannt und nach aller Möglichkeit geltend zu machen sucht." 4 Verständlich, daß Moser mit Friedrich dem Großen nichts anzufangen wußte, den er als Räuber und Rechtsbrecher ansah. Von Friedrich Carl von Moser und seinem Patriotismus führt aber auch kein Weg zur Französischen Revolution. Er lehnte sie, wie viele Patrioten, ab, und er hielt insbesondere ihre Ideale für verfehlt. „Die ganze Idee (von der Freiheit des Menschen) in ihrer Darstellung und wirklichen Anwendung ist Unsinn, ist gegen die Ordnung des Schöpfers in der ganzen Natur. Mannigfaltigkeit und Abstufung ist das Große und Schöne der Harmonie der Schöpfung vom Elefanten zur Maus, vom Adler zur Fliege." 5 Friedrich Carl von Moser schrieb seine Arbeit „ Von dem deutschen Nationalgeist" 1765. Das Reich schien in dieser Zeit seinem Ende nahe. Aber noch einmal nahm diese Entwicklung einen ganz anderen Weg. Erneut erlebte das Reich eine von niemandem mehr für möglich gehaltene Renaissance. Zu keiner Zeit hat sich die Staatsrechtswissenschaft so intensiv mit der Reichsverfassung beschäftigt wie in den Jahren J765 bis J795. Hierbei blieb die französische Staatsrechtsdiskussion so gut wie unbeachtet. Sie wurde zwar studiert und, wie die Reaktionen nach 1789 auch zeigen, in Deutschland gelesen, aber man hielt sie offenbar auf Deutschland nicht für anwendbar. Mir ist für diese Zeit keine Schrift bekannt, deren Verfasser auch nur im Ansatz daran gedacht hätte, die Verfassungsvorstellungen der Französischen Revolution auch auf Deutschland zu übertragen. Wie Rudolf Vierhaus nachgewiesen hat, hat auch die einströmende Aufklärung die Begeisterung für die Reichsverfassung nicht beendet. Man vertraute auf den aufgeklärten Fürsten und sah nicht die ganz engen Grenzen, die die Reichsverfassung einer aufgeklärten Reform in dieser
4 Friedrich Carl von Moser, Beherzigungen, Frankfurt a .M. 177 1, S.247. 5 Zitiert nach Notker Hammerstein , Das politi sche Denken Friedrich Carl von Mosers, in: HZ 212 (1971), S.337.
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Zeit in Deutschland zog, so daß, mit Ausnahme von Österreich und Preußen, kein wirklich moderner Staat innerhalb der Reichsgrenzen entstehen konnte. Dabei muß man sagen, daß Österreich und Preußen sich plötzlich im Gegensatz zum Reich befanden, eben weil sie moderne Staaten wurden. Vierhaus' Feststellung Jautet: 6 Das politische Bewußtsein habe Impulse durch die Besinnung auf das Wesen der soviel geschmähten deutschen politischen Verfassung erhalten, die man auf ihren idealen Gehalt interpretierte, deren Vorteile man zu preisen begann und deren Mängel man abzustellen forderte. Ausdruck dieser Reichseuphorie war der Deutsche Fürstenbund von 1785. Nicht in dem, was er wurde, sondern in dem, wie er geplant war, war er ein Versuch, die Einheit des Reiches vor der Bedrohung durch die deutschen Großmächte zu wahren. In dieser Konstellation tauchten zum allerersten Mal drei Deutschlands auf, wie wir sie heute haben: zum ersten Mal ein Österreich, zum ersten Mal ein Preußen und zum ersten Mal der Rest, wobei zum Rest zu sagen wäre, daß es unklar war, wie er sich organisieren sollte. Wie stark diese Hinwendung war, zeigt ein Vergleich des von Friedrich Carl von Moser 1765 unmittelbar nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges geschriebenen Buches „Von dem deutschen Nationalgeist" mit der Verfassungswirklichkeit um 1780. Moser glaubte, 1765 vor dem Ende des Reiches und vor dem Ende der Einheit Deutschlands zu stehen. Vergleicht man die harte Kritik Friedrich Carl von Mosers von 1765 mit den Zuständen des Reiches, so stellt man plötzlich einen merkwürdigen Wandel fest. Moser meinte 1765, es sei geradezu lächerlich, die deutschen Fürsten, Prinzen, Grafen und Herren nach der Reichsverfassung zu fragen . 1783 zeigten Franz von Anhalt, Karl August von Weimar, Friedrich II. von Hessen-Kassel, Karl Friedrich von Baden, Ernst von Sachsen-Coburg - um nur einige zu nennen - einen bemerkenswerten Enthusiasmus für diese Verfassung und eine Kenntnis von dieser Verfassung, die Moser 1765 für unmöglich gehalten hatte. Moser schreibt: 7 „Dürfte man nicht an manchem Deutschen Hof selbst von erstem Rang eine große Prämie drauf sezen, ob von dem Cabinets= Minister an bis zu dem Geheimen Referendario nur Ein Exemplar des Westphälischen Fridens, des jüngsten Reichs= Abschids und der Kayserlichen Wahl= Capitulation anzutreffen seye?" Für 1783/84 könnte man aber ein Dutzend von Ministern nennen, die nicht nur eine genaue Kenntnis der Reichsverfassung besaßen, sondern selber Schriften über die Reichsverfassung verfaßten. Moser schrieb 1765, daß es eine Überwindung koste, wenn zwei Deutsche von gleich redlicher Gesinnung, aber verschiedener Religion ohne allen heimlichen Zwang mit ebensolcher Vertraulichkeit und Offenheit als Person einer Religion miteinander umgehen sollten. Wenn man vom Reichspatriotismus im 18. Jahrhundert spricht, muß von den Reichsjuristen die Rede sein. Die Gründung der Universität Halle 1691 und insbesondere von Göttingen 1737 standen im Zeichen des Reichsrechts. Kaiser 6 Rudolf Vierbaus, „Patriotismus·. Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders„ Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1987, S. 105. 7 Friedrich Carl von Moser, Von dem Deutschen national=Geist, Frankfurt a . M. 1765, S. l 8f.
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Leopold I. und Kaiser Karl VI. hatten in ihren Privilegien diesen Neugründungen ausdrücklich die Pflege des Reichsrechts zur Aufgabe gemacht. Das hatte zur Folge, daß die Reichsverfassung am Ende des 18. Jahrhunderts nach der Meinung des Kurfürsten Max Franz von Köln nach den Göttingischen Principia betrachtet wurde. Das hieß aber auch, daß es fast ausschließlich protestantische Autoren waren, die sich mit der Reichsrechtswissenschaft beschäftigten. Erst gegen Ende des Jahrhunderts kamen die katholischen Universitäten Mainz und Würzburg dazu. Merkwürdigerweise waren schon immer die Protestanten als Lehrer des Reichsrechts die bestimmenden gewesen. Allerdings verselbständigte sich die sogenannte Reichspublizistik. Weil die Kaiser nach 1740 nicht mehr Kaiser im alten Sinn waren, wurde die Reichspublizistik, das heißt die Lehre von der Reichsverfassung im Verhältnis von Kaiser und Reich immer wichtiger. Das bedeutete nicht, daß die Reichspublizisten antikaiserlich dachten. Aber seine Funktion wurde heruntergespielt. Der Reichspatriotismus trennte sich unter Joseph II. noch deutlicher vom Kaiser und zielte auf die Institutionen.8 Der erste, der zu nennen ist, ist der bereits erwähnte Johann Jakob Moser. Er veröffentlichte etwa 500 bis 600 Bücher und 25 Zeitschriften und türmte ein Gebirge der Gelehrsamkeit auf, „das zum Lesen ebenso unerträglich, wie zum Nachschlagen unentbehrlich ist". 9 Moser gründete keine Schule und hat von einem kurzen Aufenthalt an der Universität Frankfurt/Oder 1735-39 abgesehen, nicht gelehrt. Er lebte von 1701-1785. Das Erstaunliche an seinem Werk ist, daß er bis ins Detail das Reich so schilderte, wie es war. Ihm ging es nicht um eine Kritik der Reichsverfassung. Von ihm stammt das berühmte Wort: 10 „Teutschland wird aufteutsch regiert und zwar so, daß sich kein Schulwort oder wenige Worte oder die Regierungsart anderer Staaten dazu schicken, unsere Regierungsart dadurch begreiflich zu machen." Allen war klar, daß die Reichsverfassung ein verwirrendes Gebilde war, Wekhrlin meinte: „Das teutsche Reichssystem ist, wie man mit sehr viel Wiz sagt, eine von den Göttern gesegnete Verwirrung." 11 Mosers Sohn, Friedrich Carl meinte 1790: „dürfen wir uns jemals einen französischen Salto mortale wünschen oder wollen wir es nicht lieber bei unserer confusione divinitas conservata, genannt Reichsverfassung die nächsten 100 Jahre bewenden lassen" . 12 Auch der alte Moser war wie sein Sohn von der besonderen Art der Freiheit in dieser Verfassung überzeugt. „Probier es ein solcher Fürst, Graf oder Prälat, schreibe er Steuern aus soviel er will, halte Soldaten nach Gefallen usw. und lasse
8 Dies betont insbesondere Rudolf Vierhaus in seinem Aufsatz .Patrio1ismus"' (wie Anm. 6). s. 97ff. 9 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaf1 1600-1800, München 1988, S.258. 10 Johann Jakob Moser, Neues Teutschcs Staatsrecht, Teil 1, Stuttgart 1766, S.550. 11 Wilhelm Ludwig Wekhrlin, Ueber Bayern's Tausch, in: Das graue Ungeheuer 5 (1785), S.221. 12 Friedrich Carl von Moser, Ein aufgewärmter Neujahrs Wunsch an den Reichstag zu Regensburg, in: Neues Patriotisches Archiv für Deutschland 1 ( 1792), S.295.
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es zur Klage an einem höchsten Reichsgericht kommen, man wird ihm bald nachdrücklich zeigen, daß und wie eingeschränkt eine Landeshoheit sei." 13 Natürlich gab es mit den Jahren Abstufungen des Reichspatriotismus. Es gab auch veränderte Nuancen. 1780 hatte Goethes Schwager, Johann Georg Schlosser, geschrieben: „Frey muß der Staat sein, jeder Bürger sich Teil des Staates fühlen, wo Patrioten möglich sind." Auch Schlosser hatte dabei auf eine aktivierte Reichsverfassung gezielt. Schlosser urteilte als Minister Karl Friedrichs von Baden. Mosers gelehrtes Gegenstück war der Göttinger Staatsrechtslehrer Stephan Pütter. Auch Pütter hielt die Reichsverfassung für die bestmögliche Verfassung für die Deutschen. Er lebte von 1725-1807. Bei ihm ist aber ein Gegensatz zu Moser, ein deutliches Abgrenzen gegenüber der mittelalterlichen Welt festzustellen. Für Moser war das Reich das „Heilige Römische Reich deutscher Nation". So wurde es auch in Wien bis 1806 genannt. Pütter fand an dieser Bezeichnung einiges auszusetzen. Die mittelalterlich-universale Reichsidee war ihm „ein Wahn, der jetzt kaum mehr einer Widerlegung bedarf; von dem aber kaum glaublich ist, wie er nur entstehen können, und was er für unabsehliche Folgen nach sich gezogen".1 4 Das hätte Johann Jakob Moser nie geschrieben. Das heißt, der Reichspatriotismus verschob sich von einer Begeisterung für das altehrwürdige Heilige Reich als Nachfolger des Römischen Reiches mit einem Kaiser an der Spitze hin zur Reichsverfassung. Michael Stolleis stellt in seinem neuesten Buch „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland" mit Erstaunen fest, was andere auch schon feststellten: „Man gewinnt den Eindruck, als habe sich der Reichspatriotismus der Publizisten in der Endphase des Reiches noch verstärkt." 15 Ein politisches Beispiel für den Reichspatriotismus war der Fürstenbund von 1785. Zum ersten Mal waren hier evangelische und katholische Fürsten im Zeichen des Reichspatriotismus vereint. Die politische Situation, die zum Fürstenbund führte, sah zum ersten Mal die evangelischen Fürsten auf der Seite der katholischen, als ihre Selbständigkeit durch den Kaiser bedroht wurde. Wer aber waren nun die Träger dieser vom Reichspatriotismus getragenen Reichsreformbewegung? Es waren einmal die kleinen Fürsten, die ihre Existenz nicht ihrer Stärke, sondern dem Eingebundensein in die Reichsverfassung verdankten. Es waren unter den Staatsmännern neugeadelte wie Hofenfels, wie Goethe, relativ junger Adel wie Edelsheim oder der Kasseler Reformminister von Bücheler. Es gehörte hierher auch der alte Reichsadel wie Karl Theodor von Dalberg, die Brüder Erthal, die Brüder Haugwitz und andere. Bei den Staatsrechtslehrern sind es durchweg Bürgerliche. Man kann also nicht sagen, daß der
13 Johann Jakob Moser, Von der Teutschen Reichsstände landen, dero Landesständen, Untertanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammenkünften, Frankfurt/Main, Leipzig 1769, S.1147. 14 Johann Stephan Pütter, Liueratur des Teutschen Staatsrechts, Teil 1, Göuingen 1776, S. 35. 15 Michael Stolleis (wie Anm. 9), S.318.
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Reichspatriotismus gegen Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre auf den alten Reichsadel beschränkt war. Er hatte auch einen Teil des Bildungsbürgertums ergriffen. Auch das Bildungsbürgertum, das um die Jahrhundertwende, was die politischen Zustände in Deutschland anbetrifft, resignierte, gehörte in den achtziger Jahren, im Gegensatz zu Frankreich, zu den Kräften, die in den Kategorien der Reichsverfassung dachten und sie, wie viele Zeugnisse belegen, für reformierbar hielten. Mit dem Scheitern des Fürstenbundes 1789/90 versank die Reichsreformbewegung und mit ihr der Reichspatriotismus in tiefe Ratlosigkeit. Eine Erneuerung des Reiches schien nur gegen die deutschen Großmächte möglich und dazu hatte niemand den Mut. Zur selben Zeit, als in Frankreich die Revolution ausbrach, wußte niemand im Reich, wie es eigentlich weitergehen sollte. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Aber es ist wohl klar, daß die Fanfarenstöße aus Frankreich in Deutschland ein Echo fanden. Die Frage ist nur, wie stark es war und was es eigentlich bewirkt hat. Heinrich Scheel, Walter Grab und einige andere bemühen sich seit dreißig Jahren, in Deutschland ein revolutionäres Bürgertum aufzuspüren. Ich will diese Forschungen nicht im geringsten in Zweifel ziehen. Aber, so glaube ich, auf diesem Gebiet ist nichts mehr unerforscht, ist jede Seite umgedreht. Es wäre ein Wunder, wenn es da keine Beziehungen gegeben hätte. Man wird aber mit Sicherheit die deutschen Jakobiner nicht als Reichspatrioten bezeichnen können. Wenn es bei ihnen überhaupt klare politische Vorstellungen gibt, dann gehen sie auf einen völligen Umsturz aus. Im übrigen: Die Begeisterung vieler Patrioten galt in den Jahren 1789/90 der Französischen Revolution. Das schlägt um mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21.Januar 1793. Was Caroline Schlegel schrieb, gibt wieder, was damals viele dachten: „Sie haben unsere Ideale verraten und in den Schmutz gezogen, diese bösen, dummen und niederträchtigen Menschen, die nicht mehr wissen, was sie tun." Angewidert von den in Deutschland bekannt gewordenen U mständen der Hinrichtung Ludwigs XVI. schrieb Hegel damals: „In diesem blutigen Spiel ist die Wolke der Freiheit zerflossen, in deren versuchter Umarmung sich die Völker in den Abgrund des Elends gestürzt haben." 16 Auf einmal wurde die alte Reichsverfassung nicht nur für Friedrich Carl von Moser wieder zum Ideal. Wieland, der 1789 von den Vorgängen in Frankreich begeistert war, schrieb J 794: „Die dermablige Deutsche Reichsverfassung ist, ungeachtet ihrer unläugbaren Mängel und Gebrechen, für die innere Ruhe und den Wohlstand der Nazion im Ganzen unendlich zuträglicher, und ihrem Karakter und der Stufe von Kultur, worauf sie steht, angemessener als die Französische Demokratie." 17 Carl Friedrich Häberlin erklärte in seinem Handbuch des Teutschen Staatsrechts: „Ich gehöre in die Klasse der Lobredner
16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Verfassung Deutschlands, in: ders„ Politische Schriften, Frankfurt a.M. 1966, S. 131. 17 Christoph Martin Wieland, Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: ders„ Sämmtliche Werke, Bd.29, Leipzig 1797 (ND 1984), S.410f.
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unserer Constitution, weil ich wirklich glaube und noch immer lebhaft davon überzeugt bin, daß unsere Verfassung eine der vorzüglichsten ist." 18 Natürlich gab es auch Stimmen, die einen baldigen Zerfall des Reiches voraussagten. Bei Schiller und der Weimarer Klassik findet man die Flucht in ein geistiges Reich: „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge(... ] Indem das politische Reich schwankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet." 19 1801 dichtete er: „Stürzet auch in Kriegesflammen deutsches Kaiserreich zusammen, deutsche Größe bleibt bestehen." Als man aber schließlich nach dem Frieden von Luneville und der Durchführung der Säkularisation 1803 an eine Neuorientierung und Reform der Reichsverfassung gehen konnte, zeigte sich eine breite Staatsrechtsliteratur, die an eine Reform der Reichsverfassung glaubte. Zwischen Politik und Reichspatriotismus klaffte eine kaum überbrückbare Lücke. Wie ist das zu erklären? Die Vorstellung, hier mit Hilfe der deutschen Jakobiner weiterzukommen, hat sich als Fehlschlag erwiesen. Es gibt sie, aber sie waren ohne Einfluß. Bis heute hat uns die Jakobinerforschung keine Vorstellung über die letzten Ziele dieser Bewegung vermitteln können. Die während der Französischen Revolution ausbrechende Begeisterung für die alte Reichsverfassung wirft Probleme auf. Daß man sich gegenüber der französischen Schreckensherrschaft überlegen fühlte, ist verständlich. Daß man das Neuartige nicht gesehen hätte, ist aber wenig wahrscheinlich, zumal es an Kritik an den Fürsten, am Adel und an der Kirche nicht fehlte. Auch in Deutschland gibt es in der Dichtung des „Sturm und Drang" deutlich antiadlige Haltungen. Auch in einigen Flugschriften dieser Zeit zeigt sich ein deutlicher Adelshaß. Politisch ist das aber merkwürdigerweise nicht manifest geworden. Man überließ die Politik dem Fürstendiener. So geschah etwas anderes. Tatsächlich drang das Bürgertum in die Verwaltung der Staaten des Aufgeklärten Absolutismus ein. Aber es verlor seinen Charakter als Bürgertum. Die Bürgerlichen waren eigentlich verhinderte Adlige. 20 Das gilt nicht nur für Österreich und Preußen, sondern für alle Staaten des Aufgeklärten Absolutismus. Man betrachte das Beispiel Italien. Auch dort gab es eine Dichtung, die von Adelshaß triefte. Schauen Sie einmal die Tragödien des Grafen Alfieri oder eines Ugo Foscolo an. Es ist dasselbe Freiheitspathos, das Sie bei Schiller finden, es ist auch derselbe Adelshaß. In beiden Fällen müßte man annehmen, daß ein tiefer Graben zwischen Adel und Bürgertum bestand, daß sozusagen die Guillotine nur noch geschmiert werden mußte. Die Wirklichkeit war in beiden Fällen anders. Auch das entste-
18 Carl Friedrich Häberlin, Handbuch des TeutschenStaatsrechts nach dem System des Geheimen Justiuatb Pütter zum gemeinnützigen Gebrauch der gebildeten Stände in Teutschland mit Rücksicht auf die neuesten merkwürdigsten Ereignisse, Bd. l, Berlin 1794, S. 5. 19 Zitiert nach Kurt von Raumer, Deutschland um 1800. Krise und Neugestaltung 1789-1815, in: Handbuch der Deutschen Geschichte (Brandt, Meyer, Just), Bd.3, l, l, Stuttgart 1959, S.22. 20 Manfred Kossok, Herrsche rund Macht im aufgeklärten Absolutismus, in: Günter Vogler(Hg)„ Europäische Herrscher. Ihre Rolle bei der Gestaltung von Politik und Gesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1988, S. 305.
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hende bürokratische Bürgertum unterwarf sich dem Adel und nahm seine politische Vorherrschaft hin. D ie erste Welle des deutschen Nationalismus im Kampf gegen Napoleon sieht in Deutschland Adel und Bürgertum Seite an Seite. Der gebildete Bürger trat bis weit in das 19. Jahrhundert in den Dienst des Staates. Auch das Ende des Reiches änderte da nichts. Das Ende des Reiches kam zu früh , um eine Auflösung der politischen Schichten zu bringen. Aber eines ist unübersehbar: Der Reichspatriotismus, wie der Patriotismus, der sich an den Einzelstaaten orientierte, war eine bürgerliche Bewegung. Das konnte, wie bei Schiller, in die Überzeugung von einer geistigen Überlegenheit führen. Das konnte, wie bei Kant, zu einer geistigen Überwindung des Absolutismus gehen. Es konnte auch, wie bei dem in den 90er Jahren wieder auflebenden Reichspatriotismus, in eine Begeisterung für eine in d er Theorie Freiheit verbürgende Reichsverfassung einmünden. Gab es hier für alle Richtungen etwas Gemeinsames? Auf welche Hoffnungen stützt man sich mit seinem Reichspatriotismus und seiner Begeisterung für die Reichsverfassung? Ein politisch Denkender konnte ja um 1800 kaum annehmen, daß die Reichsverfassung so, wie sie gewachsen war, Bestand haben würde. J ene, die ich eben zitierte und die Gleichdenkenden, die ich nicht zitierte, waren alles andere als Spinner oder Dummköpfe. Die Reichspatrioten, und das waren sie alle, sahen in der Reichsverfassung den Kern der Freiheit, die in ihren Augen nur eine ständische Freiheit sein konnte. In der Theorie war diese auch in der Reichsverfassung verbürgt. Justus Möser hatte daher völlig recht, als er den Absolutismus wegen der Zerstörung der ständischen Freiheit verurteilte. D as Merkwürdige an den Reichspublizisten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist, daß sie die grundlegenden Veränderungen der politischen Lage nicht wahrnahmen. Keiner von ihnen brachte in das System der Reichsverfassung die T atsache ein, daß das nicht mehr ein hierarisches System von Kaiser, K urfürsten, Fürsten, Grafen, Reichsrittern und freien Städten war, sondern ein System des Dualismus zweier absolutistisch regierter europäischer Großmächte. Von Freiheit, auch von ständischer Freiheit, war weder in Preußen noch in Österreich auch nur im Ansatz etwas da. Es waren zwei auf höchste Effektivität gebrachte Militärstaaten. Ihnen stand eine Masse von vormodernen Reichsständen gegenüber, die diese Entwicklung sahen. Einer der das begriffen hat, war H egel, wenn er in seiner Schrift „Die Verfassung Deutschlands" schrieb: „Deutschland ist kein Staat mehr. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr, das Ganze ist zerfallen, der Staat ist nicht mehr. " 21 Er hat nur übersehen, daß das Reich nie ein Staat im modernen Sinn war. Das, was die Reichspublizisten in ihrem Patriotismus beschrieben, war kein Staat. Die Tragödie des Reichspatriotismus war der Fürstenbund. Angelegt von den kleineren Reichsständen als eine Sicherung der ständischen Freiheit und als
21 Hegel (wie Anm. 16), S.470.
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eine Fortentwicldung des Rechtssystems, wurde er durch Friedrich zur Organisation der preußischen Partei gegen Österreich. Auch Joseph II. sah im Fürstenbund nur eine preußische Partei und versuchte in einem Gegenbund eine österreichische Partei zu errichten. Damit ist aber noch nicht gesagt, wohin die Reichspublizistik tendierte und was eigentlich am Ende des 18. Jahrhunderts das Faszinierende an der Reichsverfassung war. Für Österreich und Preußen waren die Revolutionskriege keine Auseinandersetzung mit den Ideen der Französischen Revolution, sondern ein Versuch, das eigene Territorium zu vergrößern. Die Patrioten sahen mit Entsetzen in diesem Krieg das Reich untergehen. Aber es gab hier eine Tendenz, die in Ablehnung einer gewalttätigen Revolution den Ideen der Französischen Revolution näberstanden, als etwa die soviel gepriesenen deutschen Jakobiner. Von Immanuel Kant wissen wir, daß sein Ziel eines Rechtsstaates keine Beschreibung des bestehenden Zustandes in Preußen war, sondern ein politisches Programm mit dem Ziel, den absolutistischen Bevormundungsstaat zurückzudrängen und ihn an die von allen Bürgern in freier Entscheidung gebilligten Regeln zu binden. Diese Tendenz finden wir auch bei dem letzten bedeutenden Reichspublizisten, dem bereits erwähnten Heimstädter Professor Carl Friedrich Häberlin. Er glaubte, im festhalten an der alten Reichsverfassung einen Mittelweg zu sehen zwischen Fürstendespotismus auf der einen und dem Volksdespotismus des Terreur auf der anderen Seite. Häberlin bemühte sich hier mit den von Friedrich Carl von Moser entwickelten Freiheitsideen, wie er sie in seinem "Patriotischen Archiv für Teutschlandw und in seinen Schriften vertrat. Noch deutlicher gingen Schlözers Staatsanzeigen auf eine Sicherung der Freiheit durch Beteiligung der Bevölkerung an den Entscheidungen aus. Friedrich Carl von Moser, August Ludwig Schlözer, J ustus Möser und Häberlin waren Gegner eines schrankenlosen Absolutismus. Sie wollten den absoluten Herrscher nicht abschaffen, aber die Ausübung seiner Herrschaft an Gesetze binden, ihn durch aufgeklärte, verantwortliche Ratgeber lenken. Dabei hielten sie daran fest , daß das Amt des Fürsten von Gott verliehen ·sei. Die Idee der Volkssouveränität wurde daher von ihnen abgelehnt. Am deutlichsten hat der junge Hegel in seiner nun schon viel zitierten Schrift den Weg von der Reichsverfassung zu einer Partizipation des Volkes vorgezeichnet. Er wollte am Reichstag die beiden ersten Gremien beibehalten und die dritte Kurie, die Städtebank, nach dem Vorbild des englischen Unterhauses in ein gewähltes Parlament verwandeln. Das heißt, in seinem Kern war der Reichspatriotismus am Ende des 18.Jahrhunderts ein Versuch, am absolutistischen Machtstaat vorbei zum Ideal einer ständisch beschränkten Monarchie zu gelangen. Das erklärt das nochmalige Aufflammen des Reichspatriotismus unter Verurteilung der Französischen Revolution. Auch hier sah manjajene erschreckende Machtexplosion, die man bei Österreich und Preußen so abstoßend fand. Das heißt, man ging von der Möglichkeit aus, die Reichsverfassung so zu intensivieren, daß das im Aufgeklärten Absolutismus und der Französischen Revolution zu kurz gekommene Ideal d es machtlosen, allein auf das Wohl des Bürgers ausgerichteten Staates verwirklicht werden konnte. Mit diesem Ideal des auf
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Karl Otmar Freiherr von Arctin
Recht und nicht auf Macht ausgerichteten Staates standen die Möser, Schlözer, Häberlin, Wekhrlin und wie sie hießen, nicht allein. Hier berührten sie sich mit den Vorstellungen von Kant, der freilich im ostpreußischen Königsberg in der Reichsverfassung kein Ideal sah. Sein Ideal war ein Aufgeklärter Absolutismus, der seine absolutistische Regierungsweise überwunden hatte und das Volk an den Entscheidungen beteiligte. In diese Richtung gingen auch die Vorstellungen Schlözers. Während Kant davon ausging, den Absolutismus durch Aufklärung zu überwinden, wollte Schlözer am Absolutismus vorbei der ständischen Freiheit eine andere Richtung geben. Dieses Element der Reichsverfassung, Friedensordung und Rechtsstaat in einem zu sein, meinten Rousseau, Voltaire und der Abbe Mably bei ihren Elogen auf die Reichsverfassung. Daß es eine Illusion war, wissen wir heute. Aber das mindert nicht die Höhe des Ideals. Der Reichspatriotismus war daher mehr als eine letzte belächelnswerte Skurrilität dieser confusione divinitas conservata.
Nach einer großen Begeisterung für Kaiser und Reich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert anläßlich der Siege Prinz Eugens über die Türken jlaute der Reichspatriotismus im Verlauf des 18. Jahrhunderts deutlich ab. Anläßlich des österreichisch-preußischen Geg~nsatzes, der das Reich mehrfach in Kriege wie den Siebenjährigen Krieg verstrickte, entstand nach dem Frieden von Hubertusburg 1763 eine Reichsreformbewegung, die ihren Höhepunkt im Fürstenbund von 1785 hatte. Da die beiden deutschen Großmächte aus eigensüchtigen Gründen eine Reform der Reichsverfasssung ablehnten, verflachte diese Bewegung. Die anfangs auch in Deutschland bei Intellektuellen vorhandene Begeisterung für die Französische Revolution machte nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 einer Ernüchterung Platz. Gegenüber den französischen Wirren machte sich in Deutschland bei einigen Intellektuellen eine Begeisterung für die alte Reichsverfassung breit, die in einem auffälligen Kontrast zur politischen Lage stand. Die letzte Aufwallung eines Reichspatriotismus endete mit der Auflösung des alten Reiches. After the great enthusiasm feit for the Emperor in Vienna and the Hofy Roman Empire at the transitionfrom the 17th to the J8th century caused by the victory of Prinz Eugen over the Turks, Empire patriotism was clearly declining during the 18th century. Due to the Austrian-Prussian conjlict which involved the Empire severa/ times in wars like the Seven- Years' War, a Reichsreformmovement came into being after the Peace of Hubertusburg in 1763 that reached its climax in the Fürstenbund of 1785. Since both the German great powers rejected a reform ofthe imperial constitution out of selftsh reasons. the movement gradually died. The enthusiasm for the French Revolution feit by German intellectuals gave way to disillusionment after the execution of Ludwig XVI on January 21, 1793. Put offby the confusion in France some German intellectuals began to favour the old imperial constitution, which stood in a striking contrast to the political situation ofthe time. The last surge of Empire patriotism ended with the dissolution o/ the old Empire. Prof. Dr. Dr. h. c. Karl Otmar Freiherr von Aretin, Institut für Europäische Geschichte , Alte Universitätsstraße 19, D-6500 Mainz
Harm Klueting
„Bürokratischer Patriotismus" Aspekte des Patriotentums im theresianisch-josephinischen Österreich
lm Frühjahr 1784 wurde in Wien wieder einmal das Projekt eines Tausches der österreichischen Niederlande gegen Bayern erörtert, mit dem das Haus Österreich sich von dem militärisch gefährdeten belgischen Außenposten trennen und Bayern mit den österreichischen Ländern vereinigen wollte, um so eine bessere Verbindung zwischen dem Erzherzogtum Österreich unter und ob der Enns und Tirol zu erlangen und das „Allerhöchste Erzhaus" für den Verlust Schlesiens schadlos zu halten. Österreichische Tauschpläne um Bayern, wie sie vor allem mit dem Erlöschen der bayerischen Linie des Hauses Wittelsbach durch den Tod des Kurfürsten Maximilian Ill. Joseph von Bayern Ende 1777 Bedeutung erlangt und in den Bayerischen Erbfolgekrieg geführt hatten und auch im Sommer 1792 noch einmal aufkamen, reichten bis zum Friedensvertrag von Rastatt von 1714 zurück. 1 Zeitweise bezogen sie sich, etwa in Denkschriften des jungen Kaunitz von 1743,2 auf den Tausch Neapels und Siziliens gegen Bayern. Während für den späteren Staatskanzler dabei in den vierziger Jahren politische und militärstrategische Gesichtspunkte bestimmend gewesen waren, traten 1784 mehr oder weniger exakte Berechnungen der „inneren Kräfte" Bayerns und der
Dazu Ernst F. S. Hanfstaengl, Amerika und Europa von Marlborough bis Mirabeau. Die weltpolitische Bedeutung des belgisch-bairischen Tauschprojekts, München 1930; Paul P. Bernard, Joseph II and Bavaria. Two Eighteenth Century Attempts at German Unification, Den Haag 1965; Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Tl. 1, Wiesbaden 1967, S. 110-126; ders., Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714-1818, München 1976, S. 64-119; ders., Kurfürst Karl Theodor (1778-99) und das bayerische Tauschprojekt. Ein Beitrag zur Geschichte des bayerischen Staatsgedankens der Montgelaszeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 25(1962), S. 745-800; Volker Press, Bayern am Scheideweg. Die Reichspolitik Kaiser Josephs II. und der Bayerische Erbfolgekrieg, in: Festschrift Andreas Kraus, Kallmilnz 1982, S. 277-307; Ludwig Hammermayer, Bayern im Reich und zwischen den Mächten, in: Max Spindler, Andreas Kraus(Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 2, München 2 1988, S. 1198-1235. 2 Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der .politischen Wissenschaft" und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert, Berlin 1986, S. 174 f.; William J. McGill, The Roots of Policy. Kaunitz in ltaly and the Netherlands, 1742-1746, in: Central European History 1 (1968), S. 131- 149.
Aufklärung 4/2 ~
Felix
Meiner Verlag, 1989. ISSN 0178-7128
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Harm Klueting
österreichischen Niederlande an deren Stelle. Es wurden Ermittlungen über die jeweilige Höhe der landesherrlichen Einkünfte und über andere Faktoren des ökonomisch-fiskalischen Wertes der beiden Länder angestellt und in der Wiener Staatskanzlei zusammengetragen. 3 Das war der Hintergrund eines kurzen schriftlichen Dialogs zwischen Kaiser Joseph II. und dem seit 1753 als Staatskanzler die Außenpolitik der österreichischen Monarchie führenden Fürsten Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg, 4 der ein bezeichnendes Licht auf die Grenzen des Patriotentums im Österreich dieser Zeit wirft. Dabei ging es um statistische Angaben August Ludwig Schlözers über Bayern, denen der Kaiser mehr Vertrauen schenkte als sein Staatskanzler. „Je vous prie, mon eher prince", schrieb Joseph II. am 7. April 1784 an den Fürsten Kaunitz, „de lire dans Schlötzer dont je vous joins dans cette feuille les renseignemens de q u 'il y ade la Ba viere, cela est de fraiche date, e difäre infinement de l'autre", 5 womit er sich auf Schlözers „Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts" bezog. Kaunitzantwortete noch am gleichen Tag: „ Was den Auszug aus den bayerischen Beyträgen vom Jahre 1779 betrift, welchen Schlötzer in seinen vorerwehnten Briefwechsel inseriret, (...) so rühret dieser Aufsatz von einem Privat-Patrioten her, der, wie aus dem ganzen Inhalt wahrscheinlich abzunehmen ist, alles mit gar zu schwarzen Farben schildert" .6 Wenn Kaunitz von der Höhe seines Hof- und Staatskanzleramtes herab den Göttinger Professor Schlözer als Mann von geringerer Einsicht hinstellte, der sich unberufen um Angelegenheiten der hohen Politik und um „Arcana imperii" der Staaten wie statistische Daten kümmert, so erscheint weniger die Geringschätzung des „Mannes ohne Amt" von Interesse zu sein als die Bezeichnung „Privat-Patriot", die diese Distanz treffend zum Ausdruck bringt. War doch der "privatus", der tc5,&ir77~. der sich ohne amtliche Befugnis für das Allgemeine Beste einsetzt, gerade der Patriot im Verständnis des 18. Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert „heißt 'patriotisch', daß sich Einzelne, Private durch die von ihnen herausgegebenen Zeitschriften oder Bücher oder durch den freiwilligen Zusammenschluß in den Patriotischen Gesellschaften um Angelegenheiten von öffent-
3 Klueting, Lehre von der Macht der Staaten, S. 191 ff. 4 Eine moderne Biographie fehlt. Siehe jedoch Karl Otmar Freiherr von Aretin, Kaunitz, Wenzel Anton, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 11, 1977, S. 363-369; Alexander Novotny, Staatskanzler Kaunitz als geistige Persönlichkeit. Ein österreichisches Kulturbild aus der Zeit der Aufklärung und des Josephinismus, Wien 1947; Grete Klingenstein, Der Aufstieg des Hauses Kaunitz. Studien zur Herkunft und Bildung des Staatskanzlers Weniel Anton, Göttingen 1975; FranzA. J. Szabo, Kaunitzand lhe Reformsof lhe Co-Regencyof Maria Theresia and Joseph II. 1765-1780, Ph. D. Diss. Alberta 1976. 5 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien(HHStA), Staats-Kanzlei, Vorträge, Karton 139, IV BI. 35r, zitiert bei Klueting, Lehre von der Macht der Staaten, S. 191. 6 In einem .Zusatz" des Staatskanzlers zu einer Ausarbeitung der Staatskanzlei, HHStA, Staats-Kanzlei, Vorträge, Karton 139, IV BI. 34v/37r, zitiert bei Klueting, Lehre von der Macht der Staaten, S. 191.
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lichem Interesse kümmern, daß sie dem 'Gemeinwohl' dienen wollten".7 Doch hat der seinerzeit in Hamburg lehrende österreichische Historiker Otto Brunner diese Erklärung der Wortbedeutung „patriotisch" auf die im 18. Jahrhundert „durchaus 'bürgerliche"' Stadt Hamburg mit ihrer Patriotischen Gesellschaft gemünzt und nicht auf die kaiserliche Haupt- und Residenzstadt Wien 8 und auf die österreichische Monarchie. „Patriotismus" war im Deutschland des 18. Jahrhunderts, zu dem allerdings auch noch immer die österreichischen Länder gehörten, eine - vom Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts deutlich zu unterscheidende - „auf das Gemeinwesen bezogene moralisch-politische Gesinnung".9 Dabei konnten sich die Begriffe „Patriotismus", „Vaterland" oder „Vaterlandsliebe" 10 auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation im Sinne des Reichspatriotismus• 1 oder auf die deutsche Nation beziehen,' 2 galten aber zumeist der Stadt oder dem Territorium. „Vaterland" war den Patrioten des 18. Jahrhunderts vorwiegend eine territorial-partikulare Größe. Justus Mösers Vaterlandsbegriff war nicht an die Grenzen eines Territoriums gebunden; 13 dennoch hatten seine „Patriotischen Phantasien" - um es mit einem Ausdruck der Theologen zu benennen - ihren „Sitz im Leben" im Hochstift Osnabrück, wie der westfälische Landeshistoriker Johann Suibert Seibertz noch im 19. Jahrhundert das längst im preußischen
7 Otto Brunner, Die Patriotische Gesellschaft in Hamburg im Wandel von Staat und Gesellschaft, in: ders., Neue Wege der Verfassungs-und Sozialgeschichte, Göttingen' 1980, S. 335-344, Zitat s. 336. 8 O tto Brunner, Hamburg und Wien. Versuch eines sozialgeschichtlichen Vergleichs, in: ders., Neue Wege (wie Anm. 7), S. 322- 334, Zitat S. 327. Zu Hamburg allgemein: Franklin Kopit:zsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, 2 Tle., Hamburg 1982; zu Österreich: Richard Georg Plaschlca, Grete Klingenstein u. a. (Hg.). Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Thercsias und Josephs II., 2 Bde., Wien 1985. 9 Rudolf Vierhaus, . Patriotismus" - Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (Hg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, S. 9- 29, wieder in: ders., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 96-109, Zitat dort S. 108. Siehe auch Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981, s. 7-38. 10 Vergeblich sucht maneinen Artikel zum Begriff .Patriotismus" bei Otto Brunner, WemcrConze, Reinhart Koselleck ( Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, [bisher) 5 Bde„ Stuttgart 1972-1984. 11 Adam Wandruszka, Reichspatriotismus und Reichspolitik zur Zeit des Prager Friedens von 1635. Eine Studie zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins, Graz, Köln 1955. 12 John G . Gagliardo, Reich und Nation. The Holy Roman Empire as ldea and Reality. 17631806, Bloomington, London 1980. 13 William Sheldon, Patriotismus bei Justus Möser, in: Rudolf Vierhaus(Hg.). Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, S. 31-49. Zu Möser jetzt auch Jonathan B. Knudsen, Justus Möser and the German Enlightenment, Cambridge 1986; ders„ Justus Möser. Local History as Cosmopolitan History, in: Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, S. 324-343.
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Staat aufgegangene ehemalige kurkölnische Herzogtum Westfalen als sein Vaterland bezeichnete und diesem seine patriotische Geschichtsschreibung im Stile Johannes von Müllers widmete. 14 Nimmt man zeitgenössische Äußerungen, wie sie Rudolf Vierhaus zusammengestellt hat, I$ so erscheint der Patriotismus, wie bei Otto Brunner, als eine H altung von Privatleuten, ohne daß der Patriotismus der Amtspersonen ausgeschlossen wäre. J ohann Heinrich Zedlers „Großes vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste" erklärte das Lemma „Patriot" im 26. Band von 1740 mit „ein rechtschaffener Landes-Freund, ein Mann, der Land und Leuten treu und redlich vorstehet, und sich die allgemeine Wohlfahrt zu Hertzen gehen lasset" . 16 War hier der Bezug auf die Inhaber von Regierungsämtern und anderen Amtsträgern einschließlich der Landesherrn noch erkennbar, so nicht mehr in der Zeitschrift „Der alte Deutsche", die 1775 einen Patrioten als einen Mann bezeichnete, „der sein Vatterland liebt, das Land, worinnen er geboren und erzogen, oder in welchem Land er aufgenommen ist und gleiches Vorrecht mit den Eingebohrnen des Landes genießt. Dem Patriot liegt das Wohl seiner Mitbürger am Herzen, der um sich her die Glückseligkeit blühend und alle, die mit ihm leben, vergnügt sehen möchte". 17 Im Verständnis Friedrich Carl von Mosers erschien 1771 als „wahrer Patriot" der „gottselige, redliche, standhafte, gedultige, beherzte und weise Mann, welcher mit einer gründlichen Kenntnis der Gesetze und Verfassung, der Quellen der Wohlfahrt und der Gebrechen seines Vaterlandes den aufrichtigen Willen verbindet, die sicherste Rettungs-, gelindeste Hülfs- und dauerhafteste Verbesserungs-Mittel ausfindig zu machen, und von wahrer Menschenliebe entzündet, ohne Ansehen einer Parthie oder Person und mit Verläugnung seines eigenen Nutzens oder Schadens sie bekannt und nach aller Möglichkeit geltend zu machen sucht". 18 Wichtiger als die Eigenschaft des Patrioten, ein „Mann ohne Amt" oder ein Beamter des Staates zu sein, war der Bezug des Patriotismus auf das Gemeinwohl und der Zusammenhang mit der Uneigennützigkeit, mit der „Verläugnung seines eigenen Nutzens oder Schadens", die die Haltung des Patrioten ausmachte. Wenn regierende Fürsten sich Patrioten nannten und ihr Handeln mit Vaterlandsliebe zu begründen suchten, wie Joseph II. es in Österreich tat, so war das Selbstdarstellung des Herrschers vor dem aufgeklärten Publikum und zugleich politische Pädagogik gegenüber Beamten, Adel oder Untertanen und
14 Harm Klucting, Der westfälische Historiker Johann Suiben Scibertz (1788-1871), in: ders. (Hg.), Johann Suibert Seibertz (1788- 1871). Leben und Werk des westfälischen Historikers, Brilon 1988, S. 13- 56, hier S. 29 f. Jetzt auch ders., Johann Suibert Seibertz, in: Westfälische Lebensbilder, Bd. 15, Münster 1990, S. 135-164. 15 Rudolf Vierhaus in dem in Anm. 9 genannten Aufsatz. 16 Zedlers .Universal- l.exicon„, Bd. 26, Leipzig, Halle 1740, Sp. 1393. 17 Der alle Deutsche. Ein politisches und literarisches Wochcnblan aus Schwaben 1 ( 1775), S. 209-211, zitiert nach Vierhaus, „ Patriotismus" (wie Anm. 9), S. 98. 18 Friedrich Carl von Moser, Beherzigungen, Frankfu rt 1777, S. 247, zitiert nach Vierhaus, „Patriotismus„, S. 98.
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Appell an deren Dienstbereitschaft. 19 Den Bürgern hingegen - Bürger im Sinne der sich als Staatsbürger verstehenden Untertanen - war Patriotismus Ausdruck des Verlangens, die „private und Untertanenexistenz zu überwinden und aktiv am gemeinen Wesen Anteil zu nehmen, dem sie nur als passive Mitglieder angehörten". 20 Man kann auch vom „patriotischen Anspruch" sprechen, mit dem Angehörige der aufgeklärten bürgerlichen Intelligenz in den ihnen bis dahin verschlossenen Bereichen von Staat und Politik mitzuwirken trachteten und dieses Begehren durch den Anspruch zu legitimieren suchten, dem Staatsmann für das Geschäft der Politik nützliche Hilfsdienste - heute würde man sagen: Politikberatung- leisten zu können. 21 Diese Haltung nahm auch Schlözer ein.22 Gerade hier zeigt sich der private, nichtamtliche Charakter des Patriotentums des 18. Jahrhunderts. Neben Autoren wie dem Bückeburger Konsistorialrat Thomas Abbt mit seiner Schrift „Vom Tod fürs Vaterland" (1761), dem für einen auf das Reich bezogenen Patriotismus eintretenden Friedrich Carl von Moser mit seiner Schrift „Von dem deutschen Nationalgeist" ( 1765) oder dem Osnabrücker Justus Möser mit seinen „Patriotischen Phantasien", einer 1774 von seiner Tochter in Buchform herausgegebenen Sammlung seiner Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge, gab es zahlreiche andere Schriftsteller, die Vaterlandsliebe oder Patriotismus zum Thema von Aufsätzen oder Broschüren machten. 23 Einer von ihnen - und der wichtigste innerhalb der österreichischen Monarchie - war Joseph von Sonnenfels, der, als Sohn eines getauften Juden 1733 in Nikolsburg in Mähren geboren, seit 1763 als Professor für Polizei- und Kameralwissenschaften an der Universität Wien und zugleich an der Theresianischen Ritterakademie tätig war. 24 Diese Ausbildungsstätte diente der Vorbereitung junger Adeliger für höhere Laufbahnen in Regierung und Verwaltung. Nachdem die beiden ersten Bände seines dreibändigen Hauptwerkes, der „Grundsätze der Polizei, Handlung und Finanzwissenschaft", 2s 1765 und 1769 erschienen waren,
19 Vierhaus, .Patriotismus·, S. 100. 20 Ebd„ S. 101. 21 Klueting, Lehre von der Macht der Staaten, S. 25 und passim. 22 Ebd„ S. 66. 23 Prignitz(wie Anm. 9) und Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Frankfurt a. M. 2 1973. 24 Helmut Reinalter (Hg.), Joseph von Sonnenfels, Wien 1988; Karl-Heinz Osterloh, Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Eine Studie zum Zusammenhang von Kameralwissenschaft und Verwaltungspraxis, Lübeck, Hamburg 1970; Robert A. Kann, A Study in Austrian lntellectual History. From Late Baroque to Romanticism, New York 1960, S. 146-258; Louise Sommer, Die österreichischen Kameralisten in dogmengeschichtlicher Darstellung, 2 Tle„ Wien 1920-1925, Nachdruck Aalen 1967, Tl. 2, S. 319-444; Hildegard Kremers, Das kameralistische Werk von Joseph von · Sonnenfels. Einige neue Aspekte der Quellenforschung, in: Reinalter(Hg.), Joseph von Sonnenfels, . 171-190. 25 Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft, 3 Bde., Wien 1765- 1776.
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veröffentlichte Sonnenfels 1771 nicht nur „Patriotische Betrachtungen über die Polizey'', sondern auch die Broschüre „Ueber die Liebe des Vaterlandes". 26 Äußerer Anlaß für die Abfassung dieser Schrift 27 war die öffentliche Disputation zum Abschluß des Studienjahres 1770171 an der Theresianischen Ritterakademie, die am 15. August 1771 stattfand. Ein Schüler Sonnenfels', der junge Graf Anton Apponyj, verteidigte dabei unter dem Vorsitz seines Lehrers 75 Thesen aus den Bereichen der Polizei-, Handlungs- und Kameralwissenschaft, denen Sonnenfels seine Abhandlung „Ueber die Liebe des Vaterlandes" vorangestellt hatte.28 Es ging ihm mit dieser Schrift anscheinend darum, zu dem in dieser Zeit viel diskutierten Problem der Vaterlandsliebe Stellung zu nehmen und von Österreich aus neben Autoren wie Friedrich Carl von Moser zu treten. „Auch er wollte ein Patriot sein" und zugleich „mit Hilfe des Patriotismus" , der somit auch ihm als politische Pädagogik diente, den Adel, zu dessen Lehrer er bestellt war, „in eine neue Gemeinschaft von Bürgern" einbinden. 29 Sonnenfels, der wechselnd von „Liebe des Vaterlands" und von „Patriotismus" sprach, verstand unter dem „Vaterland" das Land, „worinnen man seinen beständigen Sitz genommen", aber auch „die Gesetze, welchen die Bewohner dieses Landes unterwürfig sind, die darinnen festgesetzte Regierungsform, die Mitbewohner dieses Landes, die Mitgenossen derselben Rechte" sind. 30 Sonnenfels unterschied zwischen der „Anhänglichkeit", die „die Grundlage zur Vaterlandsliebe" sei, und der Vaterlandsliebe selbst. Ging für ihn die Anhänglichkeit aus dem Glücksgefühl hervor, „in diesem Lande, unter dem Schutze dieser Gesetze, durch diese Gestalt der Regierung und in der Gesellschaft solcher Mitbürger" zu leben, so die Vaterlandsliebe aus der „ Ueberzeugung", daß man dieses Glücksgefühl in keinem anderen Lande in einem solch hohen Maße finden könne. „Das ist: man muß für sein Vaterland so partheyisch seyn, es physisch und politisch für das Beste zu halten, das uns zu Theil werden konnte". 31 Dabei räumte er ein, daß es kaum möglich sei, „einen hohen Grad von Vaterlandsliebe ohne Beymischung einer Verachtung gegen alles Auswärtige zu begreifen". 32 Sonnenfels hielt seiner eigenen Zeit die Antike vor als eine Zeit, in der Vaterlandsliebe „unter den wirksamsten Triebwerken das wirksamste" gewesen
26 Joseph von Sonnenfels, Ueber die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771 , Nachdruck Scriptor Reprints, Sammlung 18. Jahrhundert, Königstein 1979 (danach zitiert!). Eine erweiterte Ausgabe der Schrift liegt vor in: Joseph von Sonnenfels, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Wien 1785. 27 Dazu Grete Klingenstein, Sonnenfels als Patriot, in: Judentum im Zeitalter der Aufklärung (Wolrenbüneler Studien zur Aufklärung, Bd. 4). Wolfenbünel 1977, S. 211-228; Ernst Wangermann, Joseph von Sonnenfels und die Vaterlandsliebe der Aufklärung, in: Reinalter (Hg.), Joseph von Sonnenfels (wie Anm . 24), S. 157- 169; ders„ Joseph von Sonnenfels und die Vaterlandsliebe der Aufklärung, in: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich 2 (1985). s. 41 f. 28 Klingenstcin, Sonnenfels als Patriot, S. 211 ff. 29 Ebd„ S. 217. 30 Sonnenfels, Liebe des Vaterlandes, S. 10. 31 Ebd„ S. 11 f. 32 Ebd., S. 23.
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sei, und beklagte - auch das wieder ein Stück politischer Pädagogik - das fehlen von Patriotismus in seiner Gegenwart: „In unsern Ohren ist der Namen [!]Vaterland ein unbedeutender Schall, dem Römer und Griechen tönte er gleich dem Namen einer Geliebten· .n Sonnenfels fragte auch nach den Bedingungen für die Entstehung von Vaterlandsliebe. Während er für Jägerkulturen und Nomadenvölker eine Erscheinung dieser Art ausschloß, sah er einen direkten Zusammenhang zwischen Seßhaftigkeit und Vaterlandsliebe: „Ein Volk, das Feldbau treibt, wird eine jede Verpflanzung auf einen andern Boden als ein Unglück betrachten, denn es hat den, auf dem es nun sitzt, durch die Erfahrung und lange Gewohnheit genau kennen gelernt, es kennet die Art, ihn zu behandeln, die Witterung, alle Vortheile, alle Nachtheile desselben. [ . . .] Der Ackersmann allein wandert nicht aus, oder wenigstens nicht freywillig. [ ...] Der Ackersmann allein ist der versicherte Bürger seines Staats, alle übrigen Stände sind Kosmopoliten". 34 Als Ackersmann galt ihm aber nur, wer „seinen eignen Grund baut, der seines Eigenthums versichert ist". Nicht Seßhaftigkeit allein, sondern „Eigenthum des Bodens und persönliche Freyheit" machten für Sonnenfels „ein feldbauendes Volk zu Patrioten",35 wie es mit Anklängen an physiokratische Vorstellungen und an die Agrarreformprojekte in der österreichischen Monarchie dieser Zeit heißt. 36 Was die Regierungsformen der klassischen aristotelischen Lehre betraf, so war die Aristokratie für Sonnenfels diejenige, „welche am wenigsten Vortheile zur Erweckung des Patriotismus" bot. 37 In der Demokratie schmeichele das Bewußtsein der Gleichheit dem Bürger, der glücklich sei, weil er niemanden über sich sehe als die Gesetze. 38 „Alles, was die Gleichheit in der Demokratiehandhabt", trage „zur Handhabung des Patriotismus bey" oder - wie der der Demokratie gegenüber skeptische Sonnenfels hinzufügte - „zum mindesten, was die Ungleichheit vor den Augen der Bürger verbergen kann".39 Den fruchtbarsten Nährboden der Vaterlandsliebe sah er in der Monarchie, in der der Bürger „den Mittelpunkt der Macht, die sich in einem vereiniget, als den Mittelpunkt seines Glückes" ansehe.'0 „Der Adeliche, der Unadeliche, der Geschäfftige, der, so nach Unterscheidung strebt, und der, welcher unbekannt, aber sich zu leben wünscht, der Mann jedes Rangs, der Mann jeder Gemüthsart findet hier seine Rechnung". 41
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Ebd „ S. 4, 7. Ebd„ S. 43-46. Ebd„ S. 46. Klingenstein, Sonnenfels als Patriot, S. 222; Wangermann, Joseph von Sonnenfels, S. 159. Sonnenfels, Liebe des Vaterlandes, S. 79. Ebd „ S. 76, 83. Ebd„ S. 84. Ebd „ S. 89. Ebd „ S. 90.
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Wer war nun für Sonnenfels Patriot? Wer konnte, wer durfte Vaterlandsliebe hegen und aus Patriotismus handeln? Sonnenfels gab eine - gemessen an Kaunitzens dreizehn Jahre jüngerer Äußerung über Schlözer als „Privat-Patrioten" - überraschende Antwort: die „patriotische Nation" ,42 das ganze Volk. Nicht die außergewöhnlichen Helden, die „mehr von der Liebe zum Außerordentlichen, mehr von einer gränzenlosen Ruhmsucht als von der Liebe des Vaterlandes" angespornt würden, betrachtete er als Patrioten, zumal diese „bey Gelegenheit auch das Vaterland ihrem Ruhme aufgeopfert haben", 4 ) sondern die, die sich nicht besonders hervorzutun versuchten: „ Wo die Nation von wahrem Patriotismus beseelet wird, da sucht nicht einer sich vor seinen Mitbürgern zu unterscheiden, da suchen alle sich es einander gleich zu thun" 44 - womit auch hier das Moment der Uneigennützigkeit, hier im Sinne des Verzichts auf persönlichen Ruhm, aufscheint. Livius zitierend fuhr Sonnenfels fort: „Die Liebe des Vaterlandes herrschte gleichmäßig unter allen Ständen". 45 Doch kannte auch Sonnenfels den „Patrioten auf dem Throne", den aus Vaterlandsliebe handelnden Fürsten, der seine Güte gleichmäßig über sein ganzes Reich verbreite, keinen Liebling habe als den Weisen und den Tugendhaften, niemanden hasse als den Bösewicht und den Schmeichler und der ein „Bürger auf dem Throne" sei. 46 Dazu heißt es bei Sonnenfels: „ Wehe dem Volke, dessen Führer den Namen Eroberer mit lächelnden Lippen aussp rechen kann! Wehe dem Fürsten, der die Bothschaft eines Sieges mit unbethränten Augen empfängt". Der Patriot auf dem Thron wisse, daß auch erschlagene Feinde Menschen seien. 47 Aber auch der Adel, dem Sonnenfels mit der gegen die Erblichkeit der Privilegien gerichteten Adelskritik eines Johann Ludwig Ewald 48 und anderer begegnete, konnte „patriotischer Adel" sein, wenn „der Adel den Vorzug der Geburt durch persönliche Vorzüge geltend macht, wenn er diese Vorzüge dazu anwendet, seinen Mitbürger glücklich zu machen". 49 Doch galt nach Sonnenfels für den Adel, daß dieser dem Vaterland für seine Vorrechte ohnehin zu großen Diensten verpflichtet sei und daher durch deren Ableistung nur seine Schuld abtrage. 50 Auch der Soldat, der Gelehrte und der Künstler konnten für Sonnenfels Patrioten sein, vor allem aber der Vater, der - wie Sonnenfels mit popula-
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Ebd„ S. 110. Ebd., S. 111. Ebd„ S. 112. Ebd. Ebd„ S. 119, 116. Ebd„ S. 116 f. Johann Ludwig Ewald, Was sollte der Adel jetzt thun?, Leipzig 1793, Nachdruck Scriptor Reprints, Sammlung 18. Jahrhundert, Königstein 1982, dort besonders S. 14 ff. Dazu Sonnenfels, Liebe des Vaterlandes, S. 119: . Es ist noch uncnischieden: ob der erbliche Adel Gerechtigkeit gegen die Vorfahren oder Ungerechtigkeit gegen die Zeitgenossen ist". 49 Sonnenfels, Liebe des Vaterlandes, S. 120. 50 Ebd„ S. I22f.
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tionistischen Untertönen schrieb - „seine Sorgfalt über die Gränzen seines Lebens erweitert". Seine „Liebe gegen das Vaterland" erstrecke „sich gleichweit mit der Liebe gegen seine Nachkommenschaft". 51 Als unpatriotisch galt ihm hingegen der Ehelose. Während ein Vater Bäume pflanze, deren Früchte nicht für ihn, sondern für seine Kinder reiften, fälle der Ehelose den Baum, um die Früchte verzehren zu können. s2 Hier sind die Anklänge an die theresianischjosephinische Kirchenpolitik und an das Zölibatsprobl~m offenkundig. Während es sich bei allen diesen Gruppen, vom „Patrioten auf dem Throne" abgesehen, um Privatleute handelte, die - wie im Hamburg der Patriotischen Gesellschaft - als Private dem Gemeinwohl dienen sollten, konnte für Sonnenfels auch „der Mann im Amte ein Patriot" sein.s3 Zu den Eigenschaften des patriotischen Beamten gehörte, daß er sich nicht für den Weisesten hielt, guten Rat nicht abschlug, fremde Vorschläge mit dem gleichen Eifer wie seine eigenen unterstützte, bei Beförderungen, über die er zu befinden hatte, nur die Fähigkeiten des Bewerbers, nicht aber dessen Person vor Augen hatte, auch auf die Gefahr der Ungnade des Herrscher hin die Wahrheit nicht zurückhielt und dem Fürsten die tatsächliche Lage der Untertanen nicht verbarg, den Beschwerden eines jeden nachging, der Armut gegenüber nicht gefühllos war und nicht an seinem Amt klebte, sondern beim Nachlassen der eigenen Kräfte freiwillig zurücktrat. 54 Was Sonnenfels mit seiner patriotisch-politischen Pädagogik hier als Beamtenethos forderte, war „jene 'rastlose Anwendung', die Joseph II. sich selbst und seinen Beamten zur Pflicht auferlegen sollte" .55 Es gibt von Joseph 11.,56 der sich selbst seines „fanatisme [ . .. ] pour le bien de l'Etat" 57 rühmte, eine Reihe von Äußerungen, in denen uns diese „Gehorsamserwartung gegenüber der Staatsdienerschaft"58 entgegentritt. Die bekannteste davon ist die in der Historiogra-
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Ebd„ S. 130. Ebd„ S. 130 f. Ebd„ S. 123. Ebd. , S. 124 f. Klingenstein, Sonnenfels als Patriot, S. 222. Paul von Mitrofanov , Joseph II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit, 2 Bde., Wien, Leipzig 1910. Von einer vielversprechenden neuen Joseph-Biographie liegt bisher nur der erste Band vor: Derek Beates, Joseph II., Bd. 1: In the Shadow of Maria Theresa, 1741-1780, Cambridge 1987. Siehe auch Timothy C. W. Blanning, Joseph II and Enlightened Despotism, New York 1971; Saul Padover, The Revolutionary Emperor Joseph II. , London 21967; Lorenz Mikoletzky, Kaiser Joseph II. Herrscher zwischen den Zeiten, Göttingen 1979; Günter Birtsch, Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers. Friedrich der Große , Karl Friedrich von Baden und Joseph II. im Vergleich, in: Aufklärung 2, 1 (1987), S. 9-47; Volker Press, Kaiser Joseph II . Reformer oder Despot?, in: Günter Vogler (Hg.), Europäische Herrscher. Ihre Rolle bei der Gestaltung von Politik und Gesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1988, S. 275- 299. Joseph II. an seinen Bruder Leopold, Schreiben vom 24. 12. 1789, Druck: Alfred von Arneth (Hg. ), Joseph II. und Leopold von Toscana. Ihr Briefwechsel von 1781 bis 1790, 2 Bde., Wien 1872, Bd. 2, S. 303-305, Ziiat S. 304. Binsch, Idealtyp (wie Anm . 56), S. 18.
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phie oft als „Hirtenbrief" bezeichnete „Erinnerung an seine Staatsbeamten" (auch: „Grundsätze (die] für jeden Diener des Staats zu seinem Benehmen die bestimmte Belehrung geben"), die am 13. Dezember 1783 an alle Behörden ging 59 und auch als Broschüre gedruckt wurde. 60 Doch variierte und präzisierte der Kaiser hier nur Vorstellungen, die er bereits sehr viel früher formuliert hatte. Aus dem Frühling des Jahres 1763 stammen die „Reveries" 61 des damals 22 Jahre alten Erzherzogs Joseph. Der Thronfolger ging von zwei Grundprinzipien des Herrscherhandelns aus, der unumschränkten Macht, für den Staat alles Gute tun zu können („Je pouvoir absolu de pouvoir faire tout Je bien a J'etat") und dem Mittel, den Staat ohne fremde Hilfe erhalten zu können (,,le moyen de soutenir cet etat sans secours etranger"), 62 und kam von daher zu den Pflichten der Untertanen gegenüber dem Staat. Jeder Mensch in seiner Eigenschaft als Untertan schulde dem Staat, der ihn unterhalte, schütze und ihm sein Recht gewähre, die Dienste, für die ihn der Herrscher für fähig halte. 63 Für die Beamten schlug Joseph vor, durch Einschränkung des Reichtums des Adels und durch Herabsetzung der Besoldungen Diensteifer und Fleiß zu befördern: „Par Ja diminution des biens des grands et des gages (... ] on verroit des gens, qui serviroient avec plus d'empressement, tout le monde chercheroit servir, s'appliqueroit en consequence. Les jeunes gens qui savent qu'ils auront toute leur vie assez de bien pour n'avoir pas besoin de servir l'etat, ne s'appliquent arien [... ); mais si l'on savoit que pour vivre a son aise, il n'y a d'autre moyen, que de parvenir par son application au service, et que le seul vrai merite sans recommandation [...); tout Je monde s'appliquera, sachant et ayant pour but des sa naissance de parvenir a l'occasioa de vivre a son aise; ce qu'il ne peut avoir qu'aide des gages de son souverain". 64 Zugleich sprach sich der präsumtive Herrscher für eine strenge Auswahl der Beamten, für ein Probejahr und für
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59 Druck: Die Ös1erreichische Zen1 ralverwaltung (ÖZV), Abt. 2, Bd. 4: Die Zeit Josephs II. und Leopolds II. (1780-1792). Aktenstücke, bearb. von Friedrich Walter, Wien 1950, S. 123-132
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(danach zitiert); dasselbe (Joseph Kropatschek [Hg.]) Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II. für die k. k. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer sistemat ischen Verbindung, Bd. 5, Wien l 785, S. 181-201. Josephs des Zweyten Erinnerung an seine Staatsbeamten am Schlusse des l 783ten Jahres, Wien 1783. (Benutzt wurde das Exempla r der Österreichischen Nationalbibliothek Wien , Signatur: +44. Y. 41). Druck: Derek Beates, Joseph ll's .Reveries", in: Mi11eilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33 (1980), S. 142-160, Text dort S. 155-160 (danach zitiert). Eine deutsche Übersetzung der französischen Origi nalfassung demnächst bei: Harm Klueting (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der josephinischen Reformpolitik in den Ländern des Hauses Österreich und ihrer Vorgeschichte im Zeitalter Maria Theresias(erscheint bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt). Erwähnung der .Reveries" bei Alfred von Arneth, Maria Theresia's letzte Regierungsjahre 1763-1780, Bd. 1(A. v. Arneth, Geschichte Maria Theresia's, Bd. 7), Wien 1876, S. 65-69; Beales, Joseph II., Bd. J (wie Anm. 56). S. 97-106. Reveries 1763 (wie Anm. 61), S. 155. Ebd. Ebd„ S. 156.
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straffe Disziplinierung aus, bei der Faulenzer, Nachlässige oder Unfähige nichts mehr zu erwarten hätten und Böswillige mit äußerster Strenge bestraft werden sollten.65 Sein Grundsatz sollte sein, die Guten zu belohnen, die Unfähigen zu entfernen und die Schlechten zu bestrafen. Nachdem Joseph 1764 zum römisch-deutschen König gewählt und 1765 als Nachfolger seines Vaters, Franz' 1„ in die Kaiserwürde eingetreten und im gleichen Jahr in der österreichischen Monarchie von seiner Mutter Maria Theresia als Mitregent angenommen worden war, verfaßte er Ende 1765 eine Denkschrift über den Zustand der Monarchie. 66 Hier klagte er über das Fehlen von Vaterlandsliebe („l'amour de la patrie") beim Adel,67 während er für sich selbst in Anspruch nahm, für Liebe zum Staat zu brennen („je bnlle pour l'amour de l'Etat"). 6 8 Noch sei die Notwendigkeit in den für höhere Beamtenstellen in Betracht kommenden Gesellschaftsschichten leider nicht groß genug, für sein Brot arbeiten zu müssen. Daher komme es, daß niemand arbeite, und daß sich zwischen 100 Reis Papier, die leicht in acht Tagen in den Dikasterien Wiens verbraucht würden, nicht einmal vier mit Geist, neuen Einfällen oder eigenen Ideen gefüllte Blätter fänden. 69 Als Abhilfe empfahl der junge Kaiser, nicht länger auf Alter, Ahnen (aieux), Beziehungen, Freundschaften, Keuschheit und Frömmigkeit zu sehen, also auch vom Adelsvorrang abzugehen, und stattdessen, bei gleichzeitiger strenger Kontrolle, die Selbständigkeit und die Eigeninitiative der höheren Beamten zu fördern: „Alors qu'il est choisi, il faut lui donner une pleine confiance, et Je laisser agir sans Je gener et sans l'obliger ades rapports inutiles". 70 Besonders nachdrücklich sprach sich der kaiserliche Denkschriftenautor gegen Parteilichkeit (partialite) und Interessengebundenheit (vues d 'interet) der Beamten aus, 71 also für Uneigennützigkeit im Amt. Dem Staat ZU dienen (a servir l'Etat) solle gesellschaftlichen Vorrang geben, auch vor Prinzessinnen, deren Ehemänner sich dem Staatsdienst entzögen und nutzloser Ballast (meubles inutiles a!'Etat) seien: „Cet aiguillon animerait bien du monde aemployer ses talents pour etre utile a Ja monarchie" .72 Zum Schluß gab Joseph der Befürchtung Ausdruck, man brauche viel Vaterlandsliebe, um in seinem Jahrhundert Neues zu bewirken: „II faut beaucoup de Courage et encore plus d'amour de la patrie pour etre innovateur dans ce siede".73
65 Ebd. 66 Druck: Alfred von Arneth (Hg.), Maria Theresia und Joseph II. Ihre Correspondenz sammt Briefen Joseph's an seinen Bruder Leopold, 3 Bde„ Wien 1867-1868, dort Bd. 3, S. 335-361; auch diese Denkschrift demnächst in deutscher Übersetzung bei Klueting (Hg.), Josephinismus (wie Anm. 61). Siehe dazu auch Bealcs, Joseph II., Bd. 1, S. 164-176. 67 Denkschrift 1765 (wie Anm. 66), S. 339. 68 Ebd., S. 345. 69 Ebd„ S. 339. 70 Ebd„ S. 342. 71 Ebd„ S. 343. 72 Ebd„ S. 350. 73 Ebd., S. 360.
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Nachdem Joseph II. durch den Tod seiner Mutter Ende November 1780 in der österreichischen Monarchie die Alleinherrschaft angetreten hatte, verstärkte und beschleunigte er auf fast allen Gebieten von Staat, Kirche und Gesellschaft die - zumeist mit dem Begriff „Josephinismus" belegten - Reformen, 74 die ganz überwiegend bereits vor 1780 in der Zeit Maria Theresias eingesetzt hatten. Im Frühjahr 1781 stellte der Kaiser auch Reformüberlegungen für den Verwaltungsapparat und das Behördenwesen an. 75 In seiner „Gesinung", einem Handschreiben an die Chefs der Zentralbehörden vom März 1781 ,76 formulierte er seine Idealvorstellung von den Eigenschaften der Behördenleiter, die aufhören sollten, bloße „mechanische Arbeiter" zu sein: „Jeder Chef muß sich also denen Geschäften gänzlichen und vollkommen widmen, aus selben das Geschäft seines ganzen Lebens machen, nichts denken, nichts hören, nichts sehen, als was zu diesem führt". 77 Diese vollständige Konzentration der ganzen Persönlichkeit auf die Amtsgeschäfte schloß die Uneigennützigkeit ein, die den Beamten in der Instruktion für die Vereinigte böhmisch-österreichische Hofkanzlei , Hofkammer und Ministeralbancodeputation von 1783 78 zur Pflicht gemacht wurde: „Ein jeder dieser angestellten Hofräthe muss ohnehin wissen,[ ... ) dass sie ununterbrochen bedacht seyn sollen, auf die Besorgung ihrer Pflichten rastlosen Fleiss anzuwenden, alle Vorliebe, Partheylichkeit, Eigensinnigkeit auf die Seite zu setzen, selbst allen Schein des Eigennutzes von sich zu entfernen, Ehre und Gewissen immer vor Augen und das allgemeine Wohl der Erbländer und aller Unterthanen sich fest am Herzen zu halten". 79 Die im „H irtenbrief' des Kaisers 80 1783 zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen waren also keineswegs neu, fanden hier aber ihre geschlossenste Formulierung. Einleitend sprach Joseph If. von der „Liebe", die er „fürs allgemeine Beste empfinde", und die er, ebenso wie „den Eifer für dessen Dienst", jedem Staatsbeamten einzuflößen versucht habe. 81 Der Kaiser scheint zu diesem Zeitpunkt drei Jahre nach dem Antritt der Alleinherrschaft mit dem Erfolg dieser Bemühungen unzufrieden gewesen zu sein. Er habe, so brachte er in Erinnerung, den Behördenchefs Vertrauen geschenkt und ihnen, wie er es 1765 vorgeschlagen hatte, Selbständigkeit eingeräumt; er sei für ihre Vorstellungen und für die
74 Aus der Fülle der Literatur hier nur Elisabeth Kovacs, Was ist Josephinismus?, in: Österreich zur Zeit Josephs II. Mitregent Kaiserin Maria Theresias, Kaiser und Landesfüm(Ausstellungskatalog). Wien 1980, S. 24-30; Elisabeth Bradler-Rottmann, Die Reformen Kaiser Josephs II. , Göppingen 1973. 75 Dazu Werner Ogris, Joseph II. Staats- und Rechtsreformen, in: Peter F. Barton (Hg.). Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Josephs II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen, Wien 1981 , S. 109-151. 76 Druck: ÖZV 11/4, S. 1-5. 77 Ebd., S. 3, 2. 78 Druck: ÖZV 11/ 4, S. 41-70. 79 Ebd„ S. 49. 80 Siehe Anm. 59. 81 Hirtenbrief 1783, S. 123.
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anderer immer offen gewesen. Jetzt aber kritisierte er die „handwerksmässig[e)" Art der Amtsführung vieler Beamter. Es werde „zwar viel befohlen und auch expedirt, aber auf die Befolg- und Ausübung auf keine Art gesehen". „Auf diese mechanisch-knechtische Art" sei es unmöglich, „mit Nutzen die Geschäfte zu betreiben".82 Zur Verbesserung stellte er einen 14 Punkte umfassenden Katalog von Pflichten und Verhaltensmaßregeln auf, die im wesentlichen den Inhalt des „Hirtenbriefes" ausmachen. Zu diesen Verhaltensmaßregeln gehörte das fleißige Studium der Hauptentschließungen und Willensäußerungen des Herrschers zu Fragen der Staatsverwaltung, deren Sinn sich jeder Beamte zu eigen machen müsse, vor allem aber die bedingungslose Pflichterfüllung, wobei Joseph aber auch von der Pflicht zur Erholung von den Amtsgeschäften sprach: „Bey allen Stellen [muß) ohne Ausnahm jederman einen solchen Trieb zu seinem Geschäft haben[.. .], dass er nicht nach Stunden, nicht nach Tägen, nicht nach Seiten seine Arbeit berechnen, sondern alle seine Kräften anspannen muss, wenn er Geschäfte hat, um selbe vollkommen nach der Erwartung und nach seiner Pflicht auszuführen und, wenn er keine hat, auch derjenigen Erholung, die man so billig doppelt empfindet, wenn man seine Pflicht erfüllt zu haben sich bewußt ist, geniesse" .83 Vor allem galt Josephs Beamtenpädagogik dem Kampf gegen Parteilichkeit und Eigennutz. „Eigennuz" sei das „ Verderben aller Geschäften und das unverzeihlichste Laster eines Staatsbeamtens". Wer sich dessen schuldig mache, sei „für alle weitere Staatsdienste gefährlich und schädlich". 84 Im Staatsdienst dürfe „persönliche Zu- oder Abneigung" keinerlei Einfluß haben, wie „jeder wahre Diener des Staats [ . ..) nie auf sich zuruksehen, nach seinem persönlichen Interesse die Sache berechnen" dürfe. 85 Ein Beamter solle „keine andere Absicht in seinen Handlungen haben(...) als den Nutzen und das Beste der grössern Zahl" .86 Für den Fall des Bekanntwerdens eigennütziger Handlungsweisen einzelner Beamter machte der Kaiser allen Beamten ausdrücklich die Denuntiation von Vorgesetzten und Untergebenen zur Pflicht: „Ein Chef, der von seinen Untergebenen dieses leidet, ist meineidig gegen sein J urament, worgegen keine Erbarmnis oder Nebenruksichten Platz zu greifen haben. Ein Untergebener, der seinen Vorgesezten nicht angiebt, handelt gegen seine Pflicht". 87 Das lag auf der Linie der im „Hirtenbrief' ins Auge gefaßten Maßnahmen zu strenger Disziplinierung der Beamtenschaft. Dazu sollten unter anderem Visitationen und Bereisungen auch der Behörden außerhalb Wiens und ihre Beaufsichtigung durch die jeweils vorgesetzte Behörde dienen. Hinzu kamen Konduitelisten fü r alle Beamten, in denen für jeden einzelnen festgehalten werden sollte,
82 Ebd., S.123 f. 83 Ebd., S. 125. 84 Ebd. , S. 126. 85 Ebd. , S. 130 f. 86 Ebd., S. 123. 87 Ebd., S. 126.
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„ob er nemlich in Beobachtung der Befehlen genau, auch sonst ein billiger Mann seye" .88 • Über die Amtsführung hinaus war also auch die persönliche Lebensführung zu beaufsichtigen und zu registrieren. Das alles sollte unter den Beamten nach Josephs Vorstellung „Liebe zum Dienst des Vaterlandes" wecken, denn wer „nicht Liebe zum Dienst des Vaterlandes und seiner Mitbürger" empfinde und „fü r Erhaltung des Guten nicht von einem besondern Eifer" erfüllt sei, der sei „für Geschäfte nicht gemacht und nicht werth, Ehrentiteln zu besitzen und Besoldungen zu ziehen". 89 Trotz Sonnenfels' „patriotischer Nation" war im theresianisch-josephinischen Österreich Patriotismus nicht nach privater Phantasie, sondern nur in staatlich gesetztem Rahmen gefragt. Patriotismus war hier nicht Einsatz Privater für Zwecke des Gemeinwohls, sondern Pflichterfüllung - und Gehorsam die erste Pflicht des Patrioten. 90 Das war die Verstaatlichung des Patriotismus, die aus der Vaterlandsliebe die „Liebe zum Dienst des Vaterlands" machte. Deutlich ist das bei der Prager Patriotischen Gesellschaft, einem Landwirtschaftsverein, der die Bezeichnung „k. k. ökonomisch-patriotische Gesellschaft" führte und unter strenger Aufsicht des Staates stand, wobei die Mitglieder von der Behörde ausgewählt wurden, während die Statuten die Anzahl der Beamten vorschreiben mußten, die als Mitglieder zu nominieren waren. 91 War somit in einem Gemeinwesen wie Hamburg Patriotismus eine gesellschaftsbezogene Haltung, so in Österreich eine staatsbezogene, das heißt eine Haltung im und für den Staat. „Der Staatsdienst" wurde „patriotischer Dienst für das bonum commune", 92 wobei letztlich der Herrscher Inhalt und Reichweite des Bonum Commune bestimmte und Patriotismus in der gehorsamen Befolgung seiner Vorstellungen bestand. Dieser „bureaukratische Patriotismus" 9 l war eine Form der auf den Herrscherwillen und das Abstraktum Staat bezogenen Haltung der Pflichterfüllung, die vor allem im Zurückstellen der individuellen Interessen und in der Uneigennützigkeit der Amtsführung bestand. Dieser Patriotismus der Pflichterfüllung, der nur in sehr gebrochener Form jener „auf das Gemeinwesen bezogenen moralisch-politischen Gesinnung" (R. Vierhaus) entsprach, von der die Rede war, wurde zum Ideal und zur Ideologie, zum Selbstverständnis und zur Legitimation der josephinischen Bürokratie, die sich als Sozialgruppe mit eigenem Habitus ausbildete. 94 Seit dem Pensionsnormale Josephs II. von 1781
88 Ebd„ S. lJ 1. 89 Ebd„ S. 125 f. 90 So Grete Klingenstein in einem unveröffentlichten Vortrag .Praxis des Patriotismus in Österreich um 1790 - Entstehung eines neuen politischen Bewußtseins", gehalten in Wien am 12. 3. 1984. hier zitiert nach Notizen des bei diesem Vortrag anwesenden Verfassers. 91 Mitrofanov, Joseph II. (wie Anm. 56), Bd. 1, S. 237. 92 Waltraud Heindl , Gehorsam und Herrschaft - Zur Entwicklung des Beamtendienstrechts (1780-1 815), in: Bericht über den 16. Österreichischen Historikenag in Krems/Donau 1984, Wien 1985, S. 328- 341, Zitat S. 328. Siehe auch Press, Kaiser Joseph II. (wie Anm. 56), S. 292. 93 Zitat bei Mitrofanov, Joseph li„ Bd. I, S. 340. 94 Neben W. Heindl, Gehorsam (wie Anm. 92) auch dies„ Beam te, Staatsdienst und Universitätsre-
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waren die Angehörigen dieser adelig-bürgerlichen bürokratischen Elite durch eine - im Vergleich zu anderen Staaten - bemerkenswerte Altersversorgung aus der übrigen Bevölkerung herausgehoben 95 und gewannen auch dadurch Züge einer sozialen Sondergruppe. Als im Januar 1793 eine erste Bilanz der militärischen Konfrontation der Mächte des alten Europa mit dem revolutionären Frankreich, die zur ersten Besetzung der österreichischen Niederlande und der linl5.srheinischen Reichsgebiete durch die Franzosen geführt hatte, zu ziehen war, diskutierte die Wiener Ministerialkonferenz auch über die antirevolutionären Zusammenschlüsse der „Anti-Jacobin Committees" in Großbritannien. Doch wies Fürst Georg Adam Starhemberg als Mitglied der Ministerialkonferenz darauf hin, daß in einer Monarchie wie der österreichischen die Regierung die Initiative ergreifen und das zustande bringen müsse, was in England der „Privatpatriotismus" bewirken könne. 96
Im Deutschland des 18. Jahrhunderts war Patriotentum - zu unterscheiden vom Nationalismus späterer Tage - ein bürgerliches Verhalten von Privatpersonen (d. h. Nicht-Beamten), die ohne amtliche Zuständigkeit far das Gemeinwohl zu wirken bestrebt waren. In Österreich, im 18. Jahrhundert noch vom Deutschlandbegriff in seiner damaligen Bedeutung einbezogen, war es Joseph von Sonnen/e/s, der diesen Begriff des Patrioten teilte, als er seine Broschüre „ Ueber die Liebe des Vaterlandes" von 1771 schrieb. Für ihn konnte (und sollte) das ganze Volk aus Patrioten bestehen - der Herrscher, der Adel, die Regierungsbeamten und das gesamte Volk, besonders aber die Väter und Familienoberhäupter. Doch war Sonnenfels nur ein Schriftsteller und ein Professor. ganz so wie August Ludwig Schlözer aus Göllingen, den der österreichische Staatskanzler Kaunitz 1784 als „Privatpatriot" abtat. Patriotentum als Beitrag von amtlich Unzuständigen zum Gemeinwohl war im Österreich des 18. Jahrhunderts nicht gefragt. Vaterlandsliebe wurde hier zur „Liebe zum Dienst des Vaterlandes" und zu einer Form von Diensteifer und Pflichterfallung mit Sachlichkeit, Unparteilichkeit und Uneigennützigkeit. Joseph II. versuchte seit seiner Thronfolgerzeit, den Beamten diesen „bürokrati-
form. Zur Ausbildung der höheren Bürokratie in Österreich (1780-1848), in: Das achtzehnte Jahrhundert in Österreich 4 (1987), S. 35-53; dies„ Die österreichische Bürokratie. Zwischen deutscher Vorherrschaft und österreichischer Staatsidee, in: Heinrich Lutz, Helmut Rumpler (Hg.). Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politischstaatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 9), München 1982, S. 73-91; Ogris, Joseph II. (wie Anm. 75), besonders S. 131 ; ders„ Der Beamte in der Habsburgermonarchie, in: Die Verwaltung 18/2 (1985), S. 203-216. Allgemein: Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt 1986. 95 Bernd Wunder, Die Institutionalisierung der Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversorgung der Staatsbediensteten in Ösierreich ( 1748-1790), in: Mitteilungen des lnsiituts für Österreichische Geschichtsforschung 92 (1984), S. 341-406. 96 Wangermann, Joseph von Sonnenfels (wie Anm. 27), S. 163.
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sehen Patriotismus" einzuimpfen - zuerst in seinen „Reveries" von 1763 und danach in seiner Denkschrift über den Zustand der Monarchie von 1765, in seiner „ Gesinung" mit Reformüberlegungen für das Behördenwesen von 1781, in seiner Instruktion für die Vereinigte böhmisch-österreichische Hofkanzlei, Hofkammer und Ministerialbancodeputation von 1783 und vor allem mit seinem „Hirtenbrief' von 1783. Der österreichische „bürokratische Patriotismus" zeigt die Grenzen des Patriotentums unter einem Herrscher des aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts. In eighteenth-century Germany patriotism, which was different from what we ca// nationalism, emerged as a middle dass attitude ofprivate persons (non-ofjicials), who strove to workfor the pub/ic welfare not in an official capacity. In Austria, which was still apart of Germany in this time, Joseph von Sonnenfels shared this concept of patriotism when he wrote his brochure „ Ueber die Liebe des Vaterlandes" in 1771. In his opinion the whole people could ( and should) be patriots - the rufer, the nobility, the government ofjicials, and the common people, especially the fathers and heads offamilies. But Sonnenfels was only a writer and a professor just like August Ludwig Sch/oezer of Goettingen, who was dismissed as a „private patriot" by Austrian's chancellor of state prince Kaunitz in 1784. However, in eighteenth-century Austria patriotism as a contribution of privat persons to the public welfare was not in demand. Patriotism or 'love to one' s country' appeared as ofjicials' 'love of their service to the country'. So patriotism became a kind of zea/ and performance ofduty with objectivity, impartiality and unseljishness. Emperor Joseph II tried to indogtrinate his ofjicia/s with this „bureaucratic patriotism" since he was a young heir to the throne-firsr in his „Reveries" of 1763 and after that in his memorandum on the situation of the Austrian monarchy of1765, in his reformatory planfor the administration of 1781, in his instructionsfor the centra/ authorities of 1783, and especia/ly in his so-called „Pastoral Letter" of 1783. Austrian's „bureaucratic patriotism" shows the limits of patriotism under an eighteenthcentury enlightened absolute ru/er.
Prof. Dr. Harm Klueting M. A„ Historisches Seminar der Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 0-5000 Köln 41
Hartmut Zücken
Republikanismus in der Reichsstadt des 18. Jahrhunderts•
Anläßlich einer Beschwerde Memminger Bürger über die Besetzung von Ratsstellen legt der Magistrat 1705 in einer Erklärung „Status & forma republicae" dar. 1 1728 ruft der Magistrat die Bürger zur Beteiligung an den allgemeinen Schießübungen auf, da „der wolstand bey jeder recht bestellten republique" diese erheische. 2 Aus demselben Grund, nämlich weil es „in einer wohlbestellten republic unmöglich stillschweigend geduldet und übersehen werden kan", verbietet er 1735 das Ausstreuen von Schmähschriften (Pasquillen).J 1801 fragen außerhalb der Stadtmauern wohnende Bürger, die zum Wachdienst herangezogen werden sollen, ob „das wohl der Memmingischen republick" dies erfordere. 4 Kein Zweifel, Magistrat wie Bürger Memmingens im 18. Jahrhundert verstanden ihre Reichsstadt als Republik. Mit diesem Verständnis verbanden sich gewisse Forderungen an das Verhältnis beider zueinander, die näher beleuchtet werden sollen. Am 5. Oktober 1704 übergaben sechs Memminger Bürger dem Amtsbürgermeister ein Memorial, in dem „der maiste ausschuss des gerichts, des grossen raths, obmann und mittleren burgerschaft" erklärt, daß die Bürger zwar am nächsten Schwörtag ihrer Pflicht, den Bürgereid abzulegen, nachkommen wollten, jedoch sich vorbehielten, „ihr recht in habenden beschwehrungs puncten behöriger orthen, auch da es nöthig bey Kay. May. als dem allerhöchsten oberhaupt und richter ordentlich zu suchen".5 Nach Aufforderung des Magistrats reichte der Ausschuß die Beschwerden schriftlich ein. Der Ausschuß, der beanspruchte, die Mehrheit des Stadtgerichts, des Großen Rats, der Zunftobleute und der Bürgerschaft zu vertreten, war nicht formell
• Die Untersuchung entstand bei der Arbeit an einem Beitrag zur Stadtgeschichte Memmingens, die J 991 anläßlich des 800-Jahr-Jubiläums erscheint. 1 Stadtarchiv Memmingen (StaAM) 259/5, 22. 7. 1705. 2 StaAM Bd. 18, fol. 135, 26. 4. 1728. 3 StaAM Bd. 19, fol. 17 f., 14. 1. 1735. 4 StaAM 268/4, 25. 9. 1801. 5 StaAM 259/5, 5. 10. 1704.
Aufl Felix Meiner Verlag, 1989, ISSN 0178-7128
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legitimiert. Nachdem jedoch, nach eigener Einschätzung, etliche hundert Bürger vorgehabt hatten, den Eid nicht abzulegen, fühlte man sich als Repräsentanten dieser Stimmung. Auch entsprachen die 35 Unterzeichner der Beschwerdeschrift soziologisch durchaus der Gliederung der Bürgerschaft.6 Der Ausschuß überzeugte die Bürger, von einer Eidverweigerung abzusehen und den ordentlichen Rechtsweg zu beschreiten.7 Die Beschwerdeführenden unterstreichen, bei der Unterschriftenaktion eine Zusammenkunft vermieden zu haben, „welche etwan das ansehen von einem complot oder aufwiglung gewinnen" könnte. Sie machen jedoch geltend, daß es ihnen „als freien nach der hiesigen regierungsarth regimentsfähigen burgern" erlaubt sein werde, ihre gemeinsamen Gravamina vorzutragen und Abhilfe zu suchen. 8 So werde es, Punkt 1, „einem freien burger erlaubt sein", sich beim Rat zu informieren: „uff was vor eine regierungsform daß hiesig gemeine statt regiment gegründet seie?" Ihres Wissens hat das Patriziat („die adelige gesellschaft':) nach der Karolinischen Wahlordnung nicht das Recht, alle Ehrenstellen und Amter, bis auf vier, unter Ausschluß der übrigen Bürger zu besetzen, sofern von diesen genug taugliche Personen vorhanden seien. Denn es sei 2. bekannt, daß in der Mehrzahl der Reichsstädte statuarisch vorgeschrieben sei, in welchem Maß einander anverwandte Personen zusammen im Rat und im Gericht sitzen dürften. Der Vorwurf der Vetternwirtschaft, der sich bei der Neuwahl zweier Magistratsmitglieder erhoben hatte, war der Anlaß für den Aufbruch der Unzufriedenheit und die Formierung der Opposition gewesen. Der Rat hier sei größtenteils mit nächsten Verwandten besetzt. Darin wird 3. die Ursache dafür gesehen, daß sich seit einigen Jahren bei mehreren Ämtern eine „grosse beschädigung des gemeinen aerarii ergeben" habe, sei es durch Nachlässigkeit oder durch Unterschlagung - wobei man in Ansehung der Personen die Augen zugedrückt habe -, woran „der gemeine burger" sich nicht wenig stoßen müsse. Gefordert wird die Einschränkung der übermäßigen Zehrungen, Reise- und sonstigen Spesen; Einsparungen bei der Stadtverwaltung, dem Steuerhaus, Werkhaus und den Pflegschaften; Entbindung der Bürgermeister von den Pflegschaftsverwaltungen; Einhaltung der bisher nicht beachteten Ordnung des Salzführeramts. Aufgrund der hohen Verschuldung der Stadt wird eine Umwandlung der außerordentlichen Anlagen in eine ordentliche Steuerlast befürchtet. Sie verlangen in diesem Zusammenhang die Offenlegung der Steuerleistungen der Patrizier, da sie vermuten, daß bei ihnen ein anderer, „nicht gleicher sonder differenter contributions modus" gelten würde, wohingegen „die durchgehende Gott liebende gleichheit" beachtet werden solle.
6 Unterzeichner; StaAM 259/5, 20. 10. 1704; Vergleich mit der Bürgerliste von 1701, gegliedert nach Zünften: StaAM 317/3. 7 StaAM Ratsprotokolle (RP), 22. 10. 1704. 8 StaAM 259/5, 22. 10. 1704.
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Diese Beschwerdeschrift ist eine Selbstbeschreibung des freien, das heißt regimentsfähigen Bürgers, der das Recht hat, in öffentlichen Angelegenheiten mitzureden, speziell hinsichtlich des Modus der Steuererhebung und der Verwendung der Ausgaben, und eine Aufsicht über die öffentlichen Ämter auszuüben. In diesem Kontroll- und Mitspracherecht definiert er seine Freiheit. Die Betonung der Legalität des Vorgehens soll das unterstreichen. Kein Aufstand, sondern die ordnungsgemäße Einforderung der Rechte....:... bis hinauf zum Kaiser - ist das Vorhaben. Weiterhin wird die Gleichheit aller Bürger postuliert. Zum einen die Steuergleichheit; hier ist vorzüglich von dem gemeinen Bürger die Rede sowie vom gemeinen aerarium, womit ausgedrückt ist, daß dessen Verwaltung nur in Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit stattfinden könne. Dem Patriziat wird in Finanzangelegenheiten keinerlei Privileg zugestanden. Es soll dem gleichen Steuerfuß unterliegen wie die übrige Bürgerschaft, damit „ein jeder burger der durchgehenden gleichheit versichert wäre". Das andere ist die Rechtsgleichheit und die Unabhängigkeit des Gerichts. Sie ist gefährdet durch eine sich einstellende „partheylichkeit" infolge der nahen Verwandtschaft im Rat, „vor welchem zu recht zu stehen, wol mancher burger sich fürchten muß". Die Durchsetzung der so formulierten Bürgerrechte ist von politischer Brisanz. Denn als Hindernis ihrer Realisierung wird die Privilegierung eines Teiles der Bürgerschaft erkannt. So zielt gleich der erste Punkt der Schrift auf eine Beschränkung der Exklusivität des Patriziats auf die vier höchsten Ämter (die den Patriziern von den fünf Stellen des Geheimen Rats reserviert sind). Die Bürgerschaft drängt faktisch auf eine Verfassungsänderung, wiewohl dieses energisch formulierte Ansinnen in Frageform gekleidet und mit der Versicherung versehen (und diese wieder mit Vorbehalt gegeben) wird: „obwoln (sovil wissend) niemand daran gedenket in forma regiminis was zu alteriren oder der adel. gesellschaft wider das recht und alte herkommen was abzukürzen." In der Gegenerklärung des Magistrats9 wird zum l. klargestellt, daß gemäß der von Kaiser Karl V. veränderten Regimentsform dem Patriziat zehn und der gemeinen Bürgerschaft neun Ratssitze zugeteilt wurden; mithin sich die Gemeinde um die letzte Ratswahl, „da es nicht umb die election eines oder des andern subjecti aus der gemein, sondern umb die wahl 2er subjectorum von der adentlichen gesellschaft zu thun gewesen" , nicht zu kümmern gehabt habe. Betreffend den 2. und entscheidenden Punkt sei die große Zahl der Verwandten im Magistrat durch kein Gesetz oder Statut ausdrücklich verboten, sondern durch Herkommen eingeführt. Wenngleich das in benachbarten kleinen Städten nicht üblich ist, so doch nur dort nicht, „wo der status pure democraticus und kein patriciat durch die keyser eingeführt worden" , folglich man an diesen Orten eine genügende Auswahl aus dem Volk hat. Ein entsprechendes Verbot würde
9 Wie Anm. 1.
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indirekt das Patriziat völlig aufheben und ihm seine kaiserlichen Privilegien entreißen. Damit würde auch, „wann die gemeind die vornehmsten ämter zu verwalten überkäme", der ganze Status und die Form der Republik verändert werden. Die übrigen Beschwerden bezüglich der städtischen Ausgaben und der Verwaltung werden im wesentlichen als unbegründet zurückgewiesen. Als unverschämtes Begehren aber wird aufgefaßt, daß die Steuerleistung der Patrizier offengelegt „und der plebejorum judicio übergeben werden solle". Wo sei je erhört worden, daß das zur Steuer veranlagte Vermögen „solle public gemachet werden, welches dem patriciat und sonderbeitlich denen negocianten zu merklichem abbrucb gereichte". Die Kritik an Verwandtschaft und Nepotismus zielt auf eine Infragestellung des Patriziats als bevorrechtigtem Stand, das sieht der Magistrat richtig, es kommt in der Beschwerdeschrift auch deutlich genug zum Ausdruck. Dagegen stellt der Rat korrekt fest, daß die Verfassung der Stadtrepublik keine rein demokratische ist. Die Bürgerschaft ist geteilt in Patriziat und Gemeinde; daraus folgt das übrige: die Zurückweisung der Einmischung in die Auswahl der patrizischen Magistratsmitglieder, der Kritik an den Verwandtschaftsverhältnissen und der Forderung nach Steuerkontrolle. Dennoch entzieht sich der Magistrat nicht völlig dem Verlangen der Bürger nach Rechenschaftslegung. Er gesteht ein, daß es bei einigen Pflegschaften kleinere Unstimmigkeiten gegeben habe, und verspricht, die Aufsicht durch die Bürgermeister zu verbessern. Das übermäßige Zechen von Amtsträgern sei durch eine neue Weinordnung bereits abgestellt worden, die Reisespesen sollen gesenkt werden. Beim Salzführeramt seien Änderungen vorgenommen worden. Die Verschuldung der Stadt infolge der Kriegslasten sei daher gekommen, daß man die Bürger nicht mit weiteren Sondersteuern habe belegen wollen. Es wird deutlich, daß der Magistrat der Öffentlichkeit in der Art der Steuererhebung, der Verwaltung des Fiskus und der Ausgabenpolitik verpflichtet war. Eine grobe Verletzung dieser Pflichten war klagbar, wie denn auch die beschwerdeführenden Bürger eine Klage beim Kaiser ansteuerten, auf die sie aber schließlich doch verzichteten. In dieser Aufsichts- und Mitsprachebefugnis der Bürgerschaft zeigt sich das Wesen der Repbulik, nämlich daß die Verwaltung ihrer Angelegenheiten res publica im wörtlichen Sinne ist, also Sache der Allgemeinheit. Der Konflikt wurde nicht bereinigt und trat wieder hervor unter dem Vorzeichen des religiösen Separatismus. Die Unzufriedenheit artikulierte sich 1713 tn Schmähschriften, von denen die eine vom Bader, dessen Frau sie gefunden hatte, in der Badstube herumgezeigt wurde. 10 Ausdrücklich wird auf die einige Jahre zurückliegenden Vorgänge, „da der huldigungs actus passiert", Bezug genommen. Man habe damals hoch und heilig versprochen, in verschiedenen Dingen
10 StaAM RP, 31. 7. 1713.
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„dem gemeinen wesen" zum Besten Abhilfe zu schaffen, ohne Effekt. Entsprechend dem Konzept der Separatisten werden, um die Obrigkeit zu treffen, die Geistlichen attackiert. Die große Misere und das Klagen ihrer Mitbürger kümmere sie wenig, sie unterdrückten auf der Kanzel offenbare Wahrheiten, die niemand mehr, „auch herren rathsfreund selbsten nicht", in Abrede stelle}' In einer zweiten Schmähschrift 12 wird zu Anfang, einem allgemeinen Tenor gemäß, der Grund dafür, daß Gott das Bitten um Frieden nicht erhöre (Spanischer Ebfolgekrieg), im unbußfertigen Lebenswandel der Menschen gesehen. Sogleich wird aber weiter gefragt, woher die Ursache dafür komme: „von denen, die gesäze geben, aber an dieselbige sich nicht wollen binden !aßen, frei leben, Wir habens recht und macht allein". Die patrizische Verschwendung schade den öffentlichen Kassen. Ihre Zechereien schmälerten das Weinumgeld; wegen der Fischbankette seien statt einem vier oder fünf Stadtfischer angestellt; die „grosen" ließen sich von den städtischen Arbeitsleuten ihre Häuser bauen, wodurch das Werkhaus, das mit Steuergeldern finanziert wird, verarme; bei den Pflegschaften gebe es Unstimmigkeiten. Daher sei die Frage: „darf man nach eigen gefallen steuren machen und erpressen"? Geantwortet wird: „kaiserliche privilegia gebens nicht, vielmehr das die andere 2 collegia als gericht und grosen rath vorher sotten auch darum befragt werden." Ohne weiteres könne der Bürgerschaft Erleichterung verschafft werden, wenn einige Reformen vorgenommen würden, zum Beispiel das erhöhte Sitzungsgeld wieder reduziert und durchweg die Besoldung der städtischen Bediensteten um ein Drittel gekürzt werde. Wenn dieses Geld von den Amtsträgern nicht zur Prachtentfaltung ausgegeben würde, so könnte die „einigkeit under der burgerschaft erhalten werden". Wiederum wird gegen die Sonderrechte der Patrizier, die sie selbst der von ihnen erlassenen Vorschriften enthoben und durch die sie vermeintlich auch materiell profitierten, das Gesamtinteresse, die Einigkeit der Bürgerschaft gestellt. Die politische Folgerung daraus ist die Forderung nach Mitsprache der gemeindlichen Institutionen Gericht und Großer Rat. Auch der Magistrat, der mit dem längsten seiner im 18. Jahrhundert erlassenen Dekrete reagierte, 13 beschwor „die wahre einträchtigkeit im regiment" und beschuldigte den Pasquillanten, „die vorgesezte obrigkeit bey ihrer anvertrauten l[ieben] burgerschaft ohnverantwortlich anzuschwärzen, mithin das band des fridens und der einigkeit" zwischen beiden zu zerstören. Ist der Grundgedanke der Einigkeit der gleiche, so doch mit einem anderen konstitutionellen Ansatz, indem eine vorgesetzte Obrigkeit als Fixpunkt gesetzt wird, der eine politisch uneigenständige Bürgerschaft anvertraut sei. Der Magistrat versichert „gegen die undergebene 1. burgerschaft sich dergestalt aufzuführen, wie sie ein solches zuvörderst vor dem gerechten gott, und vor ihrem allerhöchsten oberhaupt dem
II StaAM 140/2, 30. 7. 1713. 12 StaAM 140/2, 1713, ohne nähere Datierung. 13 StaAM Bd. 18, fol. 7-9, 11. 8. 1713. - Dekretenbücher (Bde. 18 und 19) 1713-1780.
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kaiser und reich/: die ihnen die regalien und administration aller obrigkeit und rechte über dise statt anvertrauet :/ wie auch der gantzen erbaren weit zu verantworten wissen". Durch die Herleitung der Obrigkeit von Kaiser und Reich wird eine von der Bürgerschaft möglichst losgelöste Stellung zu begründen gesucht. Obwohl betont wird, daß die Obrigkeit sich nicht schuldig erachte, mit dem Pasquillanten „gleichsam in rechtfertigung sich einzulassen, und red und antwort führender administration des gemeinen wesens zu geben", unternimmt man diese Rechtfertigung doch. Da werden die besonders den armen Bürgern zugute kommenden Maßnahmen, die allgemein berühmte genaue Ökonomie der Pflegschaften „und anderer gemeiner statt einkünfte verwaltung", auch die gute Rechtspflege herausgestrichen und versichert, daß der Magistrat nach Kräften bemüht sei, „die wahre wolfahrt des gemeinen wesens zu befördern, nicht minder einem jeden imploranten die geheiligte justiz zu administrieren". An den hohen Steuern sei der Krieg schuld, niemand habe wegen eines obrigkeitlichen Amtes Vorteile bei der Steuerveranlagung gehabt. Der Rechtfertigungspflicht wird mehr in allgemeiner Form Schuldigkeit getan, der Magistrat als über jeden Verdacht erhaben dargestellt, so daß jede Kritik von vornherein als ungehörig erscheint. Den Bürgern bleibt in dieser Konstellation, „ohnverbrüchig der obrigkeit mit guter neigung in rath und that ihren aides pflichten nach, getreulich zugethan" zu sein, „das gemeine beste fördern, vor schaden und unglück warnen", Gehorsam und Respekt zu bezeigen. Wenn einer Verbesserungsvorschläge habe, so solle er sie bei behöriger Stelle einreichen. „Auf welche weise der gemeine ruhestand besser erhalten, und obrigkeit und burgerschaft" in „guter harmonie" verblieben. Diese stark obrigkeitliche Konzeption schmeckte einigen Bürgern überhaupt nicht. Wie denn der Verfasser der einen Schmähschrift dem Vorwurf, die Misere der Mitbürger kümmere den Rat wenig, hinzusetzt: „ich sage mitburger, nicht underthanen, wie einige gemeld, dann ein underthan" sei „ein leibeigner baur" . 14 Sind die Gegensätze in diesen Konflikten zur Genüge herausgestellt worden, so muß noch einmal resümiert werden, welches die gemeinsamen Prinzipien sind, zu denen sich beide Seiten - mit gegebenenfalls unterschiedlicher Akzentuierung - bekennen. Freier Bürger und gemeiner Bürger sind die Ausdrücke, mit denen der Begriff der Republik gefüllt ist. Freiheit meint staatsbürgerliche Freiheit, die in dem Ausdruck „freier, regimentsfähiger bürger" gefaßt ist, also die Mitbestimmung bei der Steuererhebung und die Aufsicht über die öffentliche Verwaltung. Der Terminus gemeiner Bürger ist beschrieben durch die Bezeichnungen Gemeinwesen, dessen Wohlfahrt, ebenso wie das gemeine Beste, zu fördern ist, und „gemeiner statt regiment" , „gemeiner statt einkünfte verwaltung", „gemeines
14 Wie Anm . 11 . - Die Ratsdekrete unterscheiden als Adressaten die Bürger und die Einwohnerin der Stadt und die Untertanen auf dem Land.
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aerarium". Aus den gemeinschaftlichen Aufgaben leitet sich die Forderung nach Gleichheit ab, und zwar Gleichheit vor dem Gesetz mit Unabhängigkeit des Gerichts sowie Gleichheit in der Steuerveranlagung, und die Forderung nach Einigkeit unter den Bürgern sowie zwischen Bürgerschaft und Magistrat. Über die in dieser Begrifflichkeit gefaßte Beschreibung des öffentlichen Lebens in der Stadt herrscht zwischen Magistrat und Bürgern Konsens. Strittig ist, daß das Patriziat seine Privilegien bei der Besetzung öffentlicher Ämter als unveräußerlich ansieht, während kritische Bürger hierin ein Hindernis zur Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Einigkeit erblicken. Daß aber beide Seiten, je nachdem welche die Initiative hat, den Versuch machen, ihre Position auszubauen, liegt in der Natur der Sache. Am Schwörtag wurden die verbindenden Verfassungsgrundsätze verkündet. Das Regiment wird geführt, wie es in der Vorrede zu den alljährlich verlesenen Statuten heißt, „nach inhalt derer von römischen kaysern und königen allergnädigst ertheilten privilegien und ordnungen". Es möge „zu des gemeinen stadtwesens nuzen und samtlicher lieben burgerschaft erwünschtem wolstand und aufnahm dienen und gereichen". Es „erbieten sich auch die herren bürgermeister, der herr stadtammann und die herren rathgeben gegen ihre liebe burgerschaft /:zu der sie sich allerschuldigen pflicht und gehorsam, wie bishero geschehen, also noch ferners versehen:/", ihnen nach ihrem besten Verständnis mit Rat, Beistand und Hilfe an die Hand zu gehen. Die Privilegien hat der Kaiser gegeben, Bürgermeister und Rat sind dem gemeinen Nutzen der Bürgerschaft verpflichtet, die nun, „obrigkeit und burgerschaft, sich beederseits mit eydes pflichten gegeneinander zu verbinden, allhier beysammen seyen". Soweit die Präambel; unter den Artikeln lautet einer: „soll niemand in unserer stadt oder derselben gebiet ein mehr durch sich selbst zu machen sich unterstehen oder mit worten oder werken, heimlich oder offentlich conspiration, heimliche unterredungen oder versammlungen, daraus ein aufruhr oder empörung entstehen könte, anheben oder ursach darzu geben in keinem weg." 15 Die Selbstdefinition der Stadt Memmingen schlechthin war die einer Freien Reichsstadt. Jährlich erinnerte der Rat in dem Aufruf zum Erntedankfest an die Wiedergewinnung der 1704 während bayerischer und französischer Besatzung vorübergehend verlorenen „edlen reichs-freyheit" 16 und rief damit allen Bürgern die privilegierte Stellung ihrer Stadt immer wieder ins Gedächtnis. Nicht nur der Magistrat, sondern auch die Bürger zogen Selbstbewußtsein aus diesem Status. Bei zunehmenden Schwierigkeiten mit den Separatisten oder Pietisten, die auf ungehinderter Praktizierung ihres Bekenntnisses in Hausandachten bestanden, ließ der Magistrat im Januar und Februar 1717 sieben Männer verhören, um Aufschluß über diese religiösen Übungen zu erlangen. Bemerkenswert war, wie die Verhörten sich auf ihr Bürgerrecht beriefen. Der Färber Johann Wilhelm
15 Staatsarchiv Augsburg, Reichsstadt Memmingen Akten 27: Statutcnbuch, ca. 1740. 16 So noch 1748: StaAM Bd. 19, fol. 193.
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Häberlin protestierte, er werde sich als freier Reichsbürger den Besuch von Freunden nicht verbieten lassen. Der Kupferschmied Johann Wilhelm Geiger verbat sich, ihn „in ein ungleiches Geschrei" zu bringen, durch das er in seinem Auskommen geschädigt werde. Und der Schuhmacher Christoph Müller zeigte sich befremdet, solch einer Inquisition unterworfen zu werden. Er bat, ihn als freien Reichsbürger bei seinen Privilegien zu belassen. Ehe er „in billigen Dingen" Gewissenszwang ertrüge, würde er eher sein Hab und Gut daran setzen, sein Recht in Wetzlar beim Reichskammergericht zu erkämpfen. 17 Der Erhalt der reichsstädtischen Freiheit war unlösbar gebunden an die Wahrung der Freiheiten ihrer Bürger. Ein noch so autokratisch orientierter Rat mußte dem Rechnung tragen, ja aktiv dafür Sorge tragen, daß sich alle an den Einrichtungen des Gemeinwesens beteiligten. In wiederholten Dekreten wurden die Bürger aufgefordert, im Jahr wenigstens dreimal an Schießübungen teilzunehmen. Die in den Ehestand tretenden Bürger mußten mit Ober- und Untergewehr auf dem Rathaus erscheinen. Um die schlechte Bewaffnung zu verbessern, gab der Magistrat einen Zuschuß zum Anschaffungspreis. 18 Die Bürger kamen den Wehrübungen nur nachlässig nach, so daß sich der Magistrat veranlaßt sah, in einer eindringlichen Mahnung auf die Notwendigkeit dieser Veranstaltungen aufmerksam zu machen. Nicht nur für den Wachdienst war der Umgang mit den Flinten nützlich, sondern auch für den Notfall eines Krieges. So spricht das Dekret nicht zu Unrecht davon, daß der Wohlstand einer recht bestellten Republik solche Schießübungen erheische. 19 Die Wehrpflicht ist stets eine lästige Pflicht und der Hang zur Nachlässigkeit in Friedenszeiten groß. Dennoch ist das Recht, Waffen zu tragen, von jeher das Recht des freien Mannes. Die städtische Kommune beruhte neben anderem auf dem Prinzip der Selbstverteidigung. Unablässig war der Magistrat bemüht, die Schießübungen aufrechtzuerhalten, und dies, obwohl allerhand Unfug in Kauf genommen werden mußte, den besonders die jungen Männer mit den Gewehren trieben. Die Pflicht wurde schließlich von drei auf zwei Übungen pro Jahr reduziert. 20 Mit der nach Ende des Spanischen Erbfolgekrieges merklichen wirtschaftlichen Erholung der Stadt wie des ganzen Landes ging eine politische Stabilisierung in der Stadt einher, die annähernd sieben Jahrzehnte Bestand hatte. Kritischer Republikanismus wurde kaum noch laut.21 Nur hin und wieder gab es kriegsbedingt höhere Belastungen. Der Magistrat war genötigt, gegen die unvermeidlich als Ventil der Unzufriedenheit auftretenden anonymen Schmäh-
17 18 19 20 21
Friedrich Braun, OrLhodoxie und Pietismus in Memmingen, München 1935, S. 92 f. StaAM Bd. 18, fol. 26, 26. 7. 1715. Wie Anm. 2. StaAM Bd. 19, fol. 20, 15. 4. 1735. Laut Walter Braun, Memmingen, in: Erich Kcyser, Heinz Stoob (Hg.), Bayerisches Städtebuch, Teil 2 (Deutsches Städtebuch 5/2), Stuttgart 1974, S. 366, zeigte sich seit Mitte des Jahrhunderts eine bürgerliche Opposition, die sich allerdings nur in Kleinigkeiten durchsetzen konnte.
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zettel vorzugehen, die nicht die Obrigkeit, sondern (anläßlich eines Gesellschaftsskandals) vornehme Bürger mit übler Nachrede trafen. Weil dadurch allerhand Verbitterung und Feindschaft angezettelt „und zu mancherley unordnung im gemeinen wesen", die öfters sogar öffentlich zum Ausbruch komme, Anlaß gegeben werde, könne die Verbreitung der Schmähschriften, wie der Magistrat nicht zu Unrecht betonte, in einer wohlbestellten Republik unmöglich · geduldet werden. 2 2 Die Verwendung des Begriffs Republik in Hinblick auf die Reichsstädte war im 18. Jahrhundert üblich. Zedler gibt (neben einem allgemeineren, staatsphilosophischen Umgang mit dem Terminus) folgende Definition an: „Republick, in besonderm Verstande, heisset ein freyes Volck, Land, Stadt oder Gemeinde, so kein Oberhaupt, oder doch auf gewisse und limitirte Art erkennet." Er unterscheidet drei Gattungen: 1. diejenigen, die ein Oberhaupt auf Lebenszeit oder festgelegte kurze Zeit wählen, wie Venedig, Genua etc.; 2. solche, die aus den Vermögendsten oder Vornehmsten ihrer Stadt oder ihres Staats einige wählen, die das Regiment wechselweise oder auf Lebenszeit führen, so die meisten Reichsstädte; 3. mehrere Landschaften, Stände und Städte, die in einen Bund treten und eine Republik formieren, wobei jede einzelne ihre besondere Regierungsart behält, wie die Schweiz und Holland.23 Republik war im 18. Jahrhundert ein deutsches Wort und in der Bedeutung von Freistaat gängig. 24 Ebenso war der Begriff Demokratie eingebürgert, 2 s den man nach reinen und beschränkten Formen differenzierte. Beide Termini wurden im Zuge der Begriffsentwicklung immer mehr aufeinander bezogen. Laut Krünitz heißt Demokratie „diejenige Regierungsform einer Republik, da das ganze Volck zusammen die höchste Gewalt besitzt und solche ausübt" .26 Johann Stephan Pütter sprach 1787 von der „mehr oder minder eingeschränkten oder unbeschränkten aristocratischen oder democratischen Verfassung" der deutschen Reichsstädte.27 Die Republik als eine Staatsform, in der die höchste Gewalt von ihren Bürgern ausgeht, erscheint als Alternative zum Feudalstaat, in dem Adel oder Prälaten die Herrschaftsgewalt innehaben. Dabei basiert sie auf einem allgemeineren Prinzip, dem der Gemeinde, der Republikanismus fußt auf dem Kommunalis-
22 Wie Anm. 3. 23 Johann Heinrich Zedler, Grosscs vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 31, Leipzig, Halle 1742, Ndr. Graz 1961, Sp. 665. - Vgl. entsprechende Bestimmungen bei Johann Hübner, Neuvermehrtes und verbessertes Reales Staats- Zeitungs- und Conversations-Lexicon, Regensburg, Wien 1759, S. 908. 24 Wolfgang Mager, Art. Republik, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Kosclleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland , Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 587; und Hans Maier, Art. Demokratie,ebd., Bd. 1, 1972, S. 845. 25 Maier, Demokratie, ebd. 26 Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyklopädie , 9. Teil, Brünn 1787, S. 87. 27 Maier, Demokratie, S. 846.
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mus, wie Blickle zeigt. 28 „Primär bringt das Wort [Gemeinde) horizontale Bezüge und Zuordnungen von Menschen zum Ausdruck, bezeichnet es Gleichheit und Gleichwertigkeit." 29 Die Gemeinde, ob als Stadt- oder Landgemeinde stellt von daher ein Gegenkonzept zur Vertikalität des Feudalismus dar. Friedewahrung - nach innen und außen - und Gemeinwohl sind die Bestimmungen von Gemeinde. Sie emanzipiert sich vom Feudalismus, wenn der gemeine Nutzen Ausschließlichkeit beansprucht. Die Kommune entwickelt sich zur Republik, wobei sie staatliche Funktionen an sich zieht. Beratungen von Bürgern über die Sinnhaftigkeit landesherrlicher Policeymaßnahmen und Widerspruch dagegen, weil sie eine zu große Belastung mit sich brachten, ließen denn auch die Herrschaft argwöhnen, die Bürgerschaft sei von einem republikanischen Geist beherrscht. 30 Der von Schilling thematisierte Übergang vom gemeindlich-genossenschaftlichen zum republikanischen DenkenH ist im Begrifflichen zu beobachten. Die Formierungstermini des gemeindlichen Lebens changieren ungebrochen in eine Begrifflichkeit von Freiheit, Gleichheit und „Einigkeit", die zwar programmatischen Charakter hat, aber mehr im Sinne einer Beschreibung der gültigen Normen des öffentlichen Lebens. Sie werden sowohl als Anforderungen der Bürger an den Magistrat gerichtet, als auch umgekehrt. 32 Im Realen hat es ja keine besonderen Veränderungen gegeben, vielmehr entspringen die republikanischen Prinzipien der gemeindlich-genossenschftlichen Tradition. Es stellt sich die Frage, wie die innerstädtischen Konflikte da einzuordnen sind. Sie werfen das Souveränitätsproblem auf, aber weniger in der Hinsicht, ob die Souveränität beim Rat oder bei der Bürgerschaft lag. 33 Vielmehr ging es darum, ob durch ein oligarchisches Ratsregiment die Bürgerschaft noch vertreten ist. Tatsächlich ist die Souveränität in den Reichsstädten geteilt, aber nicht
28 Peter Blickte, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: HZ 242 (1986), S. 529-556, bes. S. 555. 29 Peter Blickte, Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne, in: Nicolai Bernard, Quirinus Reichen (Hg.), G eseUschaft und Gesellschaften. Festschrift Ulrich Im Hof. Bern 1982, S. 102. 30 Günter Birtsch, Soziale Unruhen, ständische Gesellschaft und politische Repräsentation. Trier in der Zeit der Französischen Revolution 1781-1794, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 146 (Vorfall von 1783). 31 Heinz Schilling, Gab es im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit in Deutschland einen städtischen .Republikanismus"? Zur politischen Kultur des alteuropäischen Stadtbürgertums, in: Helmut G. Koenigsberger (Hg.), Republiken und Republikanismus im Europa der frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien l J), München 1988, S. 108 und 140. 32 Vgl. Hans-Christoph Rublack, Political and Social Norms in Urban Communities in the Holy Roman Empire, in: Kasparvoo Greyerz(ed.), Religion, PoliticsandSocial Protest. Three Studies on Early Modem Germany, London 1984, bes. S. 50 f., über Gerechtigkeit, Frieden, Einigkeit, gemeiner Nutzen u.ä. um 1500, die Konstituierung und die Interpretation der Normen. 33 Otto Brunner, Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der früheren Neuzeit (1963), in: Heinz Stoob (Hg.), Ahständisches Bürgertum, Bd. 2 (Wege der Forschung 417), Darmstadt 1978, S. 361-399.
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zwischen Rat und Bürgerschaft, sondern zwischen Patriziat und übrigen Bürgern. Wenn die Formel "Bürgermeister, Rat und Gemeinde" etwas ausdrückt, dann die Einheit der drei Organe - nicht Herrschaft. 34 Das Souveränitätsproblem ergibt sich daraus, daß unter den Bürgern eine Gruppe bei der Besetzung der Institutionen bevorrechtet ist, was zum Problem für die Einheit von Regiment und Gemeinde wird. 0. Brunner verstellt sich den Blick auf diesen Tatbestand, indem er städtische Obrigkeit ("ein echtes Herrschaftsverhältnis älterer Art" 35 ) mit feudaler Herrschaft parallelisiert. Das ist wegen der verschieden fundierten Beziehung - der Magistrat stand in keinem ökonomischen Herrschaftsverhältnis zu den Bürgern - wie auch nach zeitgenössischem Verständnis nicht möglich. J. J. Moser unterscheidet eindeutig: "Der Magistrat ist der Burgerschafft Obrigkeit, aber nicht ihre Herrschafft; und die Burger seynd des Raths Untergebene, aber nicht seine Untertanen". Davon setzt er die Bewohner eines städtischen Landgebiets ab, die Untertanen der Stadt seien. 36 "Zunächst gehörte ja auch die Ratsoligarchie- mindestens verfassungsrechtlich - zur 'Bürgerschaft"' , bemerkt Hildebrandt. 37 Auf die Verfassungssystematik ist aber zu achten. Der Memminger Stadtsyndikus Schelhorn differenzierte zunächst in den „Rath und die Bürgerschaft" und fuhr fort: „Die Bürgerschaft theilt sich in das Patriziat und die Gemeinde." 38 Durch ständische Privilegierung oder nach Vermögen (etwa durch die Vorschrift, die Wohlhabenden und Vornehmen seien zu bevorzugen) wird die Oligarchie gebildet. Die Konstruktion einer abgelösten Ratssouveränität hatte aufkommen können, weil die oligarchischen Verfassungen - in den süddeutschen Reichsstädten gegen die Zunftregimente oktroyiert - vom Kaiser garantiert wurden. Erst durch die Privilegierung einer Minderheit war ein prinzipieller Gegensatz zwischen Magistrat und Bürgermehrheit möglich. Zu beachten ist aber, daß dies
34 Ebd„ S. 374. - Kritisch zu Brunners Lokalisierung des Problems im .Grundverhältnisiwischen Rat und Bürgerschaft": Heinz Schilling, Bürgerkämpfe in Aachen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Konflikte im Rahmender alteuropäischen Stadtgesellschaft oder im Umkreis der früh bürgerlichen Revolution?, in: Zeitschrift für historische Forschung 1 ( 1974), S. 224 f. 35 Brunner, Souveränitätsproblem, S. 377. 36 Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 18: Von der Reichs-Stättischen Regiments-Verfassung, Frankfurt, Leipzig 1772 (Ndr. Osnabrück 1967), S. 534; ebenso S. 97, 126, 523. - Der letzte Kanzleidirektor Memmingens zitierte in seiner: Selbst-Biographie des Friedrich Freiherrn v. Lupin auf lllerfeld, 2. verm. Aufl., Weimar 1847, Teil 3, S. 21, ein Reichshofratsconclusum vom 8. 1. 1778 . in Sachen Neuner gegen den Magistrat in Frankfurt wegen Erbauung eines Schauspielhauses, aus welchem hervorgeht, daß reichsstädtische Obrigkeiten sich nur als die Administratoren und nicht als die Inhaber der Landeshoheit, welche auf der gesammten Reichsstadt hafte, zu betrachten häuen." 37 Reinhardt Hildebrandt, Ratcontra Bürgerschaft. Die Verfassungskonflikte inden Reichsstädten des 17. und 18. Jahrhunderts , in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1 (1974), S. 228. 38 Art. Memmingen, in: Philipp Ludwig Hermann Roeder, Geographisches StatistischTopographisches Lexikon von Schwaben, Bd. 2, Ulm 1792, Sp. 175 und 177.
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nicht der ganze Inhalt der Stadtverfassungen war, da die anderen Teile der Bürgerschaft keineswegs unberücksichtigt gelassen wurden. In Memmingen hatte das Patriziat seit der Verfassungsrevision von 1551 im Kleinen Rat eine Mehrheit von einer Stimme. 39 Der 19köpfige Magistrat setzte sich 1704 aus zehn Patriziern, fünf Angehörigen der Kramerzunft und vier Obleuten der größeren Handwerkszünfte zusammen. An der Spitze des Magistrats standen drei patrizische Bürgermeister, die gemeinsam mit einem weiteren Patrizier und einem Vertreter der übrigen Bürgerschaft, hier dem Obmann der Kramerzunft, den Geheimen Rat bildeten. 40 Die Ratswahl nach der Karolinischen Wahlordnung stellte eigentlich kein Wahl-, sondern ein Kooptationsverfahren dar. In einer komplizierten Prozedur wurden zu den fünf Geheimen Räten drei Mitglieder des alten Kleinen Rates gewählt, wobei Gericht und Großer Rat je einen von ihnen bestimmten; diese acht wählten die restlichen hinzu.41 Die herausgehobene Stellung der Kramerzunft fällt auf, zumal die Verfassung nichts über die Art der Rekrutierung der nichtpatrizischen Magistratsmitglieder sagt. Die Kramer bildeten nicht nur die mit Abstand größte Zunft - etwa 20% der Bürger waren in ihr zusammengeschlossen-, sie war auch die wirtschaftlich dynamischste, indem neben Kaufleuten viele neue Gewerbe, die den starren Regelungen der zehn Handwerkerzünfte entgehen wollten, hier Aufnahme sucbten.42 Die Magistratsherrscbaft erscheint somit als eine Koalition des Patriziats mit den Kramern und den wichtigeren Handwerkerzünften. Die konstitutionelle Privilegierung des Patriziats konnte nur eingeschränkt wirksam werden. Zwar war der Geheime Rat fest in patrizischer Hand, es war jedoch ausdrücklich festgelegt, daß ihm in Policey- und Justiz-, auch in Reichsund Kreisangelegenheiten „nur die praeparation gebührt" ; seine Aufgabe war die Finanzverwaltung, über die er dem Magistrat jährlich Rechnung zu legen hatte. 43 Im Magistrat aber war die Hegemonie des Patriziats begrenzt. Seine knappe Mehrheit konnte nur den Sinn haben, in Kardinalfragen die Privilegierung zu sichern. Ansonsten mußte eine solche Zusammensetzung auf einen Interessenausgleich zwischen Patriziat und übrigen Teilen der Bürgerschaft zielen, unter denen wiederum die Kramer herausgehoben waren. Gegen die seinerzeit gängigen Urteile über die reichsstädtischen Regimente fällt die Stellungnahme Goethes über seine Heimatstadt Frankfurt am Main auf. Er lobt die politische Ordnung, denn „niemand war von der Magistratur ausge-
39 W. Braun, Memmingen (wie Anm. 21), S. 366. 40 StaAM Ratsprotokoll, 6. 10. 1704; weitere Magistratslisten bei.spielsweise ebd „ 4. 2. 1702, 17. 10. 1703 usw. - Zunftzugehörigkeit ermittelt nach Bürgerverzeichnis von 1701: StaAM 317/3. 41 StaAM 259/5, 16. 9. 1720. 42 Siehe demnächst die Münchener Dissertation von Rita Huber-Sperl und ihren Memminger Stadtgeschichtsbeitrag. 43 StaAM 259/6, 30. 12. 1780.
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schlossen" , wenn auch die Handwerker nicht in führende Ämter aufrücken konnten. Es war eine Regelung geschaffen, „nach welcher sowohl das altadlige Haus Limpurg, das aus einem Klub entsprungene Haus Frauenstein, ferner Juristen, Kaufleute und Handwerker an einem Regimente teilnehmen sollten, das durch eine auf venezianische Weise verwickelte Ballotage ergänzt, von bürgerlichen Kollegien eingeschränkt, das Rechte zu tun berufen war, ohne zu dem Unrechten sonderliche Freiheit zu behalten." 44 Goethe hebt hervor, daß dies eine Errungenschaft des Fettmilch-Aufstandes 1612/14 war, dessen hingerichtete Anführer er „als Opfer, die einer künftigen bessern Verfassung gebracht worden" , bedauerte. Die „verfassungsmäßigen Gegengewichte, formelle Einrichtungen und was sich alles an eine solche Verfassung anschließt, gaben vielen Menschen einen Spielraum zur Tätigkeit, indem Handel und Technik bei einer glücklichen örtlichen Lage, sich auszubreiten in keinem Sinne gehindert waren." 45 Eine nähere Bestimmung der sozialen Repräsentation Memminger Magistratsmitglieder ist, mit dem Vorliegen von Steuerbüchern,46 ab 1773 möglich. Bereits 1728 ist eine veränderte Zusammensetzung des Magistrats dahingehend festzustellen, daß neben den zehn Patriziern sechs Kramer und nur noch drei Obleute von Handwerkerzünften vertreten waren. 47 Im letzten Drittel des Jahrhunderts saßen sieben Kramer neben zwei Handwerkern, weiterhin war der Obmann der Kramerzunft der fünfte Geheime. 48 Die überproportionale Vertretung der Kramer nahm also noch zu. Daneben erscheinen die Handwerker, die drei Viertel der Bürgerschaft ausmachten, politisch marginalisiert. Eine Analyse des Vermögenssteueraufkommens ergibt, daß Patriziat und Kramerzunft je etwa ein Drittel der Steuern zahlten, alle anderen Zünfte zusammen nur 27 ,5 o/o.49 Legt man diesen Maßstab zugrunde, waren die Kramer im Verhältnis zu den Patriziern angemessen im Magistrat vertreten, während die Handwerkerzünfte unvermeidlicherweise etwas unterrepräsentiert blieben. Im Rahmen der Verfassungsvorschrift einer Patriziatsmehrheit wurden die Magistratssitze so verteilt, daß sie möglichst die Relation der sozialen Gruppen der Bürgerschaft zueinander nach ihrer Vermögensstärke ausdrückten.
44 Dichtung und Wahrheit, 4. Buch, in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 9, 9. neubearb. Aufl., München 1981, S. 149. - Die adligen Korporationen Haus Limpurg und Haus Frauenstein stellten 14 und sechs von den 42 Senatoren des Frankfurter Rats; Ballotage war ein Abstimmungsverfahren mit weißen und schwarzen Kugeln: ebd., Erläuterungen. 45 Dichtung und Wahrheit, 17. Buch, in: Goethe, Werke (wieAnm. 44), Bd. 10, 7. neubearb. Aufl. 1981, 120. 46 Steuerbücher 1773-1803: StaAM Bde. 430--443. 47 StaAM Ratsprotokoll 4. 10. 1728, Vergleich mit Bürgerliste vom 27. 10. 1728: StaAM 317/7. 48 Verzeichnis der Amt- und Dienstleute 1758-1791: StaAM Bde. 10-11. 49 Beispielsweise Eidsteuer 1773: Bürgerstube 7241 0, Kramerzunft 7490 0 , übrige Zünfte 6150 O; den Rest von 1506 0 erbrachten Stiftungen, fremde Gebäude und Güter sowie die Pflegen: StaAM Bd. 430.
s.
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Daß eine Anpassung an diesen Maßstab stattfand, zeigt sich 1803, als die Patrizier erstmals einen elften Magistratssitz einnahmen, während die Kramer nur noch sechs Vertreter entsandten. Inzwischen war der Vermögenssteueranteil der Kramerzunft auf 27, 7 % gefallen, der des Patriziats auf 37,3 % gestiegen. so In Ravensburg sah die Verfassung eine Parität von patrizischen und bürgerlichen Ratsherren vor, wobei die leitenden Ämter von Patriziern wahrgenommen werden sollten. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg entzog eine kaiserliche Kommission, die die desolaten Finanzverhältnisse untersuchte, dem Patriziat die Rentamtsverwaltung und legte sie in bürgerliche Hände. Seit dieser Zeit ist auch eine bürgerliche Mehrheit im Rat festzustellen, indem zwei Geheimratssitze an diese übergingen. Die Zeit nach 1648 war gekennzeichnet durch das Aussterben ehemals hochvermögender Patriziergeschlechter und den Aufstieg geschäftstüchtiger Bürgerfamilien. Die neu ins Patriziat aufgenommenen wiesen eine juristische Schulung vor, so daß man ihnen die Bürgermeister- und Ammannsämter überlassen konnte.51 In Lindau sollten die drei Bürgermeister und ein Geheimer aus dem Patriziat, ein weiterer Geheimer aus der Gemeinde genommen werden, auch bei den übrigen Ratssitzen bevorzugte die Carolina das Patriziat. In der Realität des 18.Jahrhunderts waren nur zwei von drei Bürgermeistern und nur 30% des Inneren Rats Patrizier. Der Grund war die verschlechterte wirtschaftliche Lage der Patrizier, die zwar Großkaufleute, zum Teil mit Fabrik- und Manufakturbesitz, waren, jedoch unter Druck von zünftlerischen Kaufleuten, die sich im Großhandel betätigten, standen. 52 In Kaufbeuren hatte sich die Herrenzunft mangels Masse mit der Kramerzunft vereinigt. Diese, Großhändler, Verleger, Unternehmer und Grundbesitzer, dominierten den Rat, wobei die Lokalzünfte (Wirte, Bäcker, Metzger) auf ihrer Seite standen. Die Handwerker übten zudem, da dem Rat, wie Junginger bemerkt, nicht der Beamtenapparat des absolutistischen Fürstenstaats zu Gebote stand, eine gewisse Kontrolle aus. Die Rangordnung der Zünfte entsprach exakt dem durchschnittlichen Vermögensstand der jeweiligen Meister. Ausgegrenzt wurden die Weber, die zwar die Hälfte der Bürger, aber nur ein Fünftel der Steuersumme stellten.53
50 StaAM Bd. 443. 51 Alfons Dreher, Das Patriziat der Reichsstadt Ravensburg. Von den Anfängen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, hg. v. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Stuttgart 1966, S. 434, 436, 441 f., 449 f. - Dreher bemerkt zwar richtig, daß das Patriziat von Ballengesellschaft und Schneiderzunft in der Vermögenssumme überflügelt wurde, rechnet manaberbeim Ballen die Vermögen der Superreichen Kutter und Möhrlin heraus, dann ergibt sich bis 1780 kein bedeutender Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Vermögen eines Patriziers und dem eines Ballengesellschafters; vgl. S. 442, 452 f., 508 und 539 f. Das wird erklären, warum das Patriziat seine verhältnismäßig bedeutende Stellung bis zum Ende halten konnte. 52 Alfred Otto Stolze, Der Sünfzen zu Lindau. Das Patriziat einer schwäbischen Reichsstadt, Lindau, Konstanz 1956, S. 121, 175, 178, 182-184. 53 Fritz Junginger, Geschichte der Reichsstadt Kaufbeuren im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. München 1956, S. 106 f., 123 und Tabelle nach S. 102.
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In Isny schrieb die Verfassung vor, daß jeder der sechs Zünfte wenigsten einer der 15 Ratssitze zustand. Auf dieser Basis wurde nach dem Vermögensprinzip verfahren, so daß sich folgende Zusammensetzung ergab: Herrenzunft 5, Schneider/Kramer 3, Weber 3, Bäcker 2, Schmiede l und Schuhmacher/Gerber 1 Sitz. Die Herrenzunft, die aus Fernhandelskaufleuten bestand, stellte die Bürgermeister und Stadtammänner. Der Geheime Rat hatte jedoch, wie Hauptmeyer herausstellt, keine selbständige Stellung, sondern mußte seine Entschlüsse dem Rat zur Billigung vortragen. Ab 1775 übernahmen Gericht und Großer Rat, die zuvor schon zu wichtigen Entscheidungen zugezogen worden waren, die Finanzkontrolle.54 Ein wohl allgemein gültiges Ergebnis neuerer Untersuchungen über die Sozialstruktur frühneuzeitlicher deutscher Städte ist, daß es eine Entsprechung der ökonomischen und der politischen Hierarchie gab. ss Der Magistrat, in Memmingen und anderen Reichsstädten, war durchaus ein repräsentativer Ausdruck der Bürgerschaft - nicht nach Köpfen, sondern nach Vermögen. Von ständischen Kriterien ausgehend, suchte man sich dem Zensusprinzip anzunähern. Damit ging die Tendenz zu dem Wahlrecht der bürgerlichen Demokratie, das bis weit in das nächste Jahrhundert Geltung hatte. Die Unterschiede erscheinen nicht so groß, wenn etwa Gerhard Leibholz vom "aristokratischen Charakter" der liberalen Demokratie des 19. Jahrhunderts spricht.s 6 Das Urteil eines autokratischen Regimes in der frühneuzeitlichen Reichsstadt muß bei diesen Befuµden relativiert werden. Im gegebenen Verfassungsrahmen wurden die Prinzipien der Repräsentation und des Interessenausgleichs eingehalten. Die Gesetzgebungs- und Verordnungstätigkeit des Magistrats berücksichtigte unübersehbar die Gruppeninteressen in der Stadt. Den Wünschen der Zünfte nach Ausschaltung auswärtiger Konkurrenz, Limitierung der Gesellenund LehrÜngszahlen und anderem mehr wurde in der Regel entsprochen, so daß sie ihre Interessen aufgehoben sahen. 57 Dies freilich unter Umständen, die eine ökonomische Marginalisierung der Handwerksproduktion mit sich brachten. Das politische Gewicht der Zünfte sank entsprechend. Es ist weniger ein patrizischer Machtanspruch für die politischen Verhältnisse in der Reichsstadt verantwortlich zu machen, als die Macht der ökonomischen Entwicklung.ss
54 Carl-Hans Hauptmeyer, Verfassung und Herrschaft in Isny. Untersuchungen zur reichsstädtischen Rechts-, Verfassungs-und Sozialgeschichte, vornehmlich inder Frühen Neuzeit(Göppinger Akademische Beiträge 97), Göppingen 1976, S. 97, 138 f. , 150, 213, 217. - Hauptmeyers Urteil, S. 101 und passim, steht mehrmals im Widerspruch zu seinen Befunden, so S. 159 f. oder 325. 55 Klaus Gerteis, Die deutschen Städte in der Frilhen Neuzeit. Zur Vorgeschichte der .bürgerlichen Welt", Darmstadt 1986, S. 174. 56 Zitiert nach: Hanno Drechsler, Wolfgang Hilligen, Franz Neumann, Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, 6. neubearb. u. erw. Aufl., Baden-Baden 1984, S. 273. 57 Siehe die Dekrctenbücher: StaAM Bde. 18 und 19. 58 Vgl. den Hinweis auf die Konzentration der städtischen Vermögen im 16. Jahrhundert bei: Peter
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Fazit: Die Reichsstadt im 18. Jahrhundert ist sowohl nach der Verfassungsnorm wie hinsichtlich der Verfassungswirklichkeit als Republik anzusprechen. Bereits der Verfassungstext sieht eine gebührende Berücksichtigung der Gemeinde im regierenden Organ der Reichsstadt vor, allerdings bei Zementierung einer Oligarchie. In der Realität wird eine Repräsentation und ein Interessenausgleich nach Vermögensstärke zu erreichen gesucht. Die konstitutionell bevorrechtete Gruppe erlangt keine abgelöste Herrschaftsstellung. Die Regierungspraxis berücksichtigt Teilinteressen und das Gesamtinteresse der Stadt. Allzu optimistisch freilich darf man die reichsstädtischen Regimente nicht beurteilen. Als Goethe 1792 eine Ratsstelle in Frankfurt angetragen wurde, spottete er: „ Welcher reichsstädtische Bürger wird leugnen, daß er, früher oder später, den Ratsherrn, Schöff und Burgemeister im Auge gehabt und, seinem Talent gemäß, nach diesem, vielleicht auch minderen Stellen emsig und vorsichtig gestrebt: denn der süße Gedanke, an irgend einem Regimente teilzunehmen, erwacht gar bald in der Brust eines jeden Republikaners, lebhafter und stolzer schon in der Seele des Knaben. " 59 Zu Ende des Jahrhunderts, so notiert der Memminger Chronist J. F. Unold, „ wollte auch das eine und andere in der Verfassung der Bürgerschaft nicht mehr ganz gefallen, und es erhuben sich manche Stimmen um Verbesserung, namentlich, daß auch der Bürger selbst, die Gemeinde, mehr mitsprechen dürfe in Regierungssachen. " 60 Seit Jahren hohe Lebensmittelpreise und eine akute Teuerung vor allem bei Getreide und Holz, die nicht mehr allein die arme, sondern auch die mittlere Bürgerschaft traf, veranlaßte den Magistrat im November 1789, den armen Bürgern verbilligt Korn zuzuteilen und der gesamten Bürgerschaft ein Viertel der Steueranlage zu erlassen, andererseits den Zugang zu den Wäldern zu sperren, um die Holzverteilung unter Kontrolle zu bringen. 61 Neu war, daß die Bürger ihre eigenen Vorstellungen dazu entwickelten und sieben Zünfte ein Memorial eingaben, wie der Teuerung bei Korn und Holz abzuhelfen sei. 62 Die Einflüsse der Französischen Revolution bekam Memmingen mit Beginn der Kriege zu spüren. Schriften über die Revolution fanden Verbreitung, sie wurden als aufrührerisch eingestuft und mußten auf der Kanzlei abgeliefert werden: „die französische Revolution erzeugte so manche Ideen in vielen Köpfen". 63 Die autoritäten Strukturen innerhalb der Zünfte wurden brüchig. Den Vorreiter machten die Schneidergesellen, die 1793 mit dem Zunftobmann wegen
59 60 61 62 63
und Renate Blickle, Schwaben 1268bis1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern 214), München 1979, S. 132. Campagne in Frankreich, in: Goethes Werke, Bd. 10 (wie Anm. 45), S. 291. Jakob Friedrich Unold, Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Anfang bis zum Tod Maximilian Josephs 1., Königs von Bayern, Memmingen 1826, S. 448. StaAM 268/4, 6. 11. 1789. Unold, Memmingen, S. 448. Ebd., S. 431.
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Schulden der Bruderschaft in Dissens gerieten, schließlich die Stadt verließen und in ein nahegelegenes Dorf auf Ottobeurer Territorium zogen. Die von der Kampfmaßnahme betroffenen Schneidermeister mischten sich ein und machten dem Obmann heftige Vorwürfe wegen seiner mangelnden Vermittlungsbereitschaft: „Subordination ist der grund gesellschaftlicher ordnung, und die erhaltung derselben ligt in der rechtschaffenheit der vorsteher, die ihre untergebene zum gemeinsamen verbindungszweck durch weise Jeitung zu führen wißen, und hiedurch zur beförderung des allgemeinen staatsbesten einen weßentlichen beystand leisten". Sie versichern: „Gerechtigkeit, bürgersinn und patriotismus begleiten unser bitten" .64 Der Magistrat bestrafte zwar die Anführer der Gesellen, regelte die Sache jedoch entsprechend ihren Forderungen und legte dem Obmann, dessen Maßnahmen er immer gedeckt hatte, den Rücktritt nahe. Damit war ein zukünftiger Obmann auf den innerzünftischen Konsens verpflichtet. Die Zünfte hatten sich l 789erstmals wieder als politische Korporationen zu Wort gemeldet. Anfang 1794 wurde eine Deputation jetzt bereits sämtlicher Zunftobleute vorstellig, die Steueranlage für die Dauer des Krieges um die Hälfte zu mindern, was freilich mit Hinweis auf eben diese Kriegslasten und die bereits erfolgte Ermäßigung abgeschlagen wurde. 65 Wegen des Krieges wurde die Wiederbelebung des Bürgerschießens dringlich, das inzwischen völlig zum Erliegen gekommen war. Seit 1776 bestand keine der üblichen Kompanien lediger Bürgersöhne mehr. Von obrigkeitlicher Seite forderte man nun einige von ihnen auf, sich wieder zu formieren. 66 Als aber auch 32 verheiratete Bürger von sich aus beschlossen, eine Scharfschützenkompanie zu gründen, wurden Bedenken laut, gegen die die Antragsteller ihre Vaterlandsliebe als Motiv ihres Vorhabens beteuerten.67 Im Geheimen Rat wurde eingeräumt, es handele sich um angesehene Herren aus der Bürgerschaft, so daß die Formierung gestattet werden könne, jedoch mit Einschränkungen. „Weil in jedem wohlgeordneten staat, kein staat im staat existiren könne, sondern immer eine gesellschaft der obrigkeit und ihrer direction unterworfen seyn müsse", wurde zur Auflage gemacht, daß die Wahl der Offiziere zwar der ganzen Kompanie überlassen war, deren Bestätigung aber dem städtischen Kriegsamt vorbehalten blieb, und die Stärke der Kompanie auf 60 Personen begrenzt war. 68 Kurze Zeit später bildete man eine weitere, dritte Bürgerkompanie.69 Tatsächlich trat die Scharfschützenkompanie bald als Interessenvertretung der Bürger auf. 1795 übergab sie eine Bittschrift betreffend Beerdigungen (vermutlich von Kriegsopfern) und „erleichterungen der bürgerlichen kornbedürf-
64 65 66 67 68 69
StaAM 472/5, 12. 7. 1793. StaAM RP, 7. 2. 1794. Unold, Memmingen, S. 432; StaAM RP, 2. 5. 1794. StaAM Bd. 415, 9. 5. 1794. Ebd., 14. 5. 1794. Unold, Memmingen, S. 432.
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niße". Ersteres wurde an das Kriegsamt verwiesen, das zweite „zu weiterem bedacht genommen". 10 Im August 1796 beschloß der Rat, wegen der hohen Kriegslasten zwei Extrasteuern auszuschreiben. Anders als zuvor wurde das Votum des Stadtgerichts und des Großen Rats eingeholt, ersteres stimmte einmütig, letzterer mit großer Mehrheit zu. Dennoch erschienen zwei Tage später zwei angesehene Bürger vor dem Magistrat, protestierten im Namen mehrerer anderer und verlangten Einsicht in die Bücher der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben, um zu prüfen, ob wirklich zwei Sondersteuern nötig seien. Der Magistrat ließ es daraufhin bei einer Extrasteuer bewenden, wobei der Fehlbetrag über eine verzinsliche Anleihe bei wohlhabenden Bürgern hereingeholt werden sollte. Gericht und Großer Rat hatten noch einmal darüber zu befinden. Außerdem wurde eine „Oeconomiedeputation" eingesetzt, in die neben Senatoren zwei Bürger aufgenommen wurden, der eine der Oberleutnant, der andere Mitglied der Scharfschützenkompanie. Ihr wurde die letzte Stadtjahresrechnung vorgelegt. Diese schnellen Zugeständnisse lösten eine weitere Reaktion aus, indem bei der nächsten Magistratssitzung drei Mitglieder des Großen Rats eine von 63 Bürgern unterzeichnete Forderung übergaben, je einen Herrn vom Gericht und vom Großen Rat zur Ökonomiedeputation zu bestellen, dem entsprochen wurde. 71 Die Entwicklung war bis hierher gekennzeichnet durch eine Repolitisierung der bürgerlichen Institutionen, einmal von seiten der Bürgerschaft, die die Zünfte zu Mitteln der Artikulation allgemeiner materieller Bedürfnisse machten, zum anderen vom Magistrat, der Gericht und Großen Rat als gemeindliche Organe wiederentdeckte. Das war durchaus im Sinne der Verfassung und entsprach den Gepflogenheiten in anderen Städten. Daß die Zünfte über unmittelbare Zunftangelegenheiten Hinausgehendes vorbrachten, gar die Mehrheit oder alle Obleute ein Sprechergremium bildeten, ging über das Erlaubte eigentlich schon hinaus. Die Bildung einer Ökonomiedeputation entsprach ebenfalls verbreiteter Praxis und folgte aus dem Haushaltskontrollrecht der Bürgerschaft. Zusammengenommen aber bedeutete diese Neubelebung bürgerlicher Institutionen eine Relativierung der Vormachtstellung des Magistrats. Auch die Bildung der Scharfschützenkompanie lag im Verfassungsrahmen. Es war ein Recht der Bürger, freie, bewaffnete Vereinigungen zu bilden und ihre Offiziere selbst zu wählen, sofern ihr Leumund nicht in Frage stand und sie sich prinzipiell der Obrigkeit unterordneten. Das konnte der Magistrat nicht verbieten. Nicht vorgesehen war die Politisierung eines solchen Verbandes. Im Juni 1801 baten zwei Bürger im Namen der Scharfschützenkompanie, hinsichtlich der Wachen und der Feuerordnung eine andere Regelung zu treffen. Der Magistrat hatte soeben die Zahl der vom Wachtgeld befreiten Personen stark eingeschränkt. Der Hauptmann der zweiten Kompanie, der Musketiere, erklärte für diese bereits, keine Wachen bezahlen zu wollen. 72
70 StaAM RP, IO. 7. 1795. 71 Ebd., 29. 8., 31. 8. und 2. 9. 1796; Unold, Memmingen, S. 449 f. 72 StaAM RP, 5. 6. 1801.
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Der Ratsbescheid war prinzipiell und eindeutig. Es bliebe jedem überlassen, sein vermeintliches Recht auf Wachtfreiheit „im weg der ordnung und des rechts" zu beweisen. Den Offizieren der Kompanien sei zu eröffnen, daß Bürgern einzeln oder mehreren zusammen zustehe, Eingaben beim Magistrat zu machen, „nicht aber vorstehem sich selbst neu errichteter gesellschaften im namen solcher gesellschaften". Dieses Recht gebühre Zunftobleuten in Zunftsachen, anderen verbiete die „von kayserlicher majestät anvertraute verfassung", sich zu Beschwerden oder Anbringen zu vereinigen, „um durch die menge, zumalen eine art bewafneter menge, zu imponiren". Man werde in Zukunft keine Petitionen von Offizieren der Kompanien mehr entgegennehmen, wohl aber von Bürgern „in ihrer qualität als bürger", nicht als Scharfschützen oder Musketiere, denen eine Einmischung in das Regiment „oder eine repraesentation für einen theil der bürgerschaft" nicht gestattet werden könne. Bei einem weiteren Anlaß werde man dem Kaiser Bericht erstatten. 7 3 Unbeeindruckt davon ließen die vier Offiziere der beiden Kompanien dem Rat eine schriftliche Erklärung zur Feuerordnung übergeben, und der zog es vor, alle vier auf die vakanten Stellen bei den Feuerherren zu berufen - bisher ein rein oligarchisches Gremium-, um Verbesserungen zu beraten. Beim Wachtgeld beantragten die außerhalb der Stadtmauern siedelnden Bürger eine Befreiung, die abgelehnt wurde, weil es „eine bürgerliche last" sei. 74 Im September präsentierten „samtliche im oetter wohnende bürgere", 26 an der Zahl, eine Eingabe: 7 s „Es gehören nach grundsätzen der billigkeit und selbst der positiven rechte die triftigsten und das wohl des Staats ganz vorzüglich befördernde umstände dazu, einem mitgliede des staats eine von jeher genossene freyheit auf einmal und ganz plözlich zu entreissen, und ihme dagegen eine obligation, eine last aufzubürden." Ein jeglicher ist Staatsphilosoph in diesen Zeiten. Daher kann gefragt werden: „Erfordert nun das beste, das wohl der Memmingischen republick diesen uns auferlegten wacht dienst? Wird sie dadurch auch nur in einiger rücksicht glücklicher, als sie vordeme war, als wir noch von diesem dienst frey waren?" Etwas prosaischer werden dann die Einwände gegen den Wachdienst angeführt, daß nämlich die auf dem Lande Lebenden weit mehr dem Krieg ausgeliefert seien als die durch die Mauern geschützten Bürger. Sie gehen davon aus, daß der Ratsbeschluß wieder aufgehoben wird, „ansonsten es ganz das ansehen hat, als habe in unserer vaterstadt über einen hoch- und wohl weisen magistrat und samtliche bürgere eine gewisse gesellschaft von bürgern zu gebiethen, deren befehle und gebote wir unsererseits keineswegs zu respectiren willens sind". Der Anlaß der Beschwerde und die staatspolitische Grundsätzlichkeit der Erwägungen scheinen in einem gewissen Mißverhältnis zu stehen. Doch waren die Belastungen so groß, daß eine solche Fehlentscheidung des Magistrats den
73 Ebd., 10. 7. 1801. 74 Ebd., 17. 7., 24. 7. und 4. 9. 1801. 75 Wie Anm. 4.
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Zorn der Betroffenen erregen mußte. Im übrigen war das Mißverhältnis zwischen den Belastungen der Allgemeinheit und der geringen Mitsprachemöglichkeit, wie die Lasten zu verteilen seien, besonders kraß. Unter dem Einfluß der Ideenentwicklung in Deutschland während der Französischen Revolution bewegen allgemeine Prinzipien, wie Wohl des Staates, Freiheit des einzelnen, Glück der Republik, die Gemüter und werden zu politischen Bewertungsmaßstäben. Die Patriziatsprivilegien werden rundweg negiert und damit eine Verfassungsänderung postuliert. Wie, um keine Illusionen aufkommen zu lassen, daß diese Republik etwas anderes als eine bürgerliche Republik sei, nahmen sich die Ereignisse am Ende desselben Jahres 1801 aus. Die Schneidergesellen, denen sich andere anschlossen, erregten einen Aufruhr. Da traten alle drei Bürgerkompanien in die Waffen und stellten die Ruhe wieder her; 30 Schneidergesellen wurden ausgewiesen. 76 Zu Ende des Jahrhunderts kam der reichsstädtische Republikanismus zu neuen Ehren. Freiherr von Knigge, einer der ersten, der das Ereignis der Französischen Revolution für Deutschland zu rezipieren suchte, empfahl 1791 die - relativ demokratische - Verfassung Hamburgs als Muster republikanischer Freiheit, die nach und nach in allen deutschen Staaten eingeführt werden sollte. 77 Die Vorstellungen waren von der einzigen historischen Erfahrung, die man hatte, so sehr geprägt, daß Wieland eine demokratische Republik nur für einen Stadtstaat realisierbar, Frankreich dafür zu groß hielt. 78 Erst Kant machte 1793 in seiner Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" einen Anfang, allgemeine Prinzipien einer Verfaßtheit bürgerlicher Gesellschaft zu entwickeln. 79 Dabei geriet gerade in dieser Zeit die reichsstädtische Republik in ihre entscheidende Krise. Das ganze Jahrhundert hindurch, nach Durchstehen der heiklen Erschütterungen während des Spanischen Erbfolgekrieges, im Zeichen wirtschaftlicher Erholung und Konsolidierung in den folgenden Jahrzehnten, hatte das oligarchische System eine bemerkenswerte Stabilität gezeigt. Der wiederbelebte Handel begünstigte die Kaufleute, denen-ob als Patrizier, ob als Kramer - eine natürliche Führungsrolle in der Stadt zukam. Der Konsens mit der Handwerkerschaft wurde hergestellt, indem ihnen ein stabiles Einkommen, wenn auch auf bescheidenem Niveau, durch Ausschluß jeglicher Konkurrenz gewährleistet wurde. Während jedoch die Gewerbe, immer stärker auf den Lokalmarkt beschränkt, stagnierten, nahm die Konzentration der Vermögen in der handeltreibenden Oberschicht zu. Gemäß dem bürgerlichen Erwerbsprinzip zog das eine Verminderung des politischen Einflusses der Handwerker nach sich.
76 77 78 79
Unold, Memmingen, S. 446. Mager, Republik (wie Anm. 24), S. 615. Art. Demokratie, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 24), S. 848. Mager, Republik, S. 609.
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Die Kriegserschütterungen der neunziger Jahre brachten dieses System ins Wanken. Die kriegsbedingten Sondersteuern, die Einquartierungen, mußten von allen getragen werden, belasteten die einkommensschwachen Teile der Bevölkerung relativ stärker. Über die Verteilung der Lasten hatten sie aber kaum mitzuentscheiden. Drei Viertel der Bürgerschaft waren nur durch zwei von 19 Senatoren repräsentiert. Fehler und Mißstände, die in Belastungssituationen unvermeidlich auftreten, wurden leicht dem Magistrat und dem privilegierten Patriziat angelastet. Einrichtungen, die eine Mitwirkung der breiten Bevölkerungsschicht vorsahen, waren nicht vorhanden beziehungsweise, wie der Große Rat, durch die Karolinische Verfassung kaltgestellt, so daß ein Konfliktaustrag und Interessenausgleich innerhalb von Verfassungsinstitutic:r nen bei den eingetretenen Zeitumständen nicht gegeben war. Die Bürgerschaft drängte auf Mitbestimmung, indem sie in Eingaben eigene Vorstellungen zur Erledigung der Tagesgeschäfte entwickelte, stärkte die gemeindlichen Institutionen und Kontrollbefugnisse und schuf sich in der Schützenkompanie einen Machtfaktor, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die politische Führung machte widerwillige Zugeständnisse und taktische Rückzüge, suchte die Oberhand zu behalten. Eine Verfassungsreform kam in Gang, doch war die Stoßkraft der Reformer nicht stark genug, um notwendige tiefgreifende Veränderungen, wie die Liquidierung der antiquierten ständischen Ordnung, durchzusetzen. Angesichts der gedrückten wirtschaftlichen Stellung der Handwerkerschaft war die Fähigkeit zu politischer Hegemonie, etwa eine Restaurierung der Zunftherrschaft, von ihr auch kaum zu erwarten. Innenpolitisch waren die reichsstädtischen Republiken in eine Sackgasse geraten. Freiherr vom Stein und andere mit ihm auch außerhalb Preußens erkannten, daß man zugleich die politischen und die wirtschaftlichen Beschränkungen beseitigen, also Zunftschranken aufheben und städtische Selbstverwaltung stärken mußte. Denn die Wurzel des Problems war die Stagnation der gewerblichen Produktion in den Städten. Mit der Aufhebung der Zünfte und der Zulassung der Konkurrenz aber war das reichsstädtische System selbst, die Absonderung der Stadt vom Land, obsolet. Der Republikanismus suchte sich einen größeren Rahmen.
Die Bürger Memmingens wie auch der Magistrat verstanden ihre Reichsstadt als „Republik". Gefallt war dieser Begriff durch das Selbstverständnis als ,jreier Bürger", der an den öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken berechtigt war zu dem Zweck, das „gemeine Beste" zufördern. Daraus leitete sich die Forderung nach „ Gleichheit" vor dem Gesetz und in der Steuerveranlagung ab sowie nach „Einigkeit" zwischen Bürgerschaft und Magistrat. Gefährdet sahen die Bürger die republikanischen Postulate von Freiheit, Gleichheit und Einigkeit durch die Bevorrechtung eines Teils der Bürgerschaft, des Patriziats. Ein Souveränitätsproblem entstand nicht zwischen Rat und Bürgerschaft, sondern aus dieser Privilegierung. Der Magistrat war durchaus ein repräsentativer Ausdruck der Bürgerschaft nach ständischen und Vermögensprinzipien.
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The citizens ofMemmingen as weil as the municipal council saw theirfree imperial town as a „republic". This term was meaningful because they conceived ofthemselves as „free citizens" who were entitled to rake part in pub/ic affairs, to promote the „common best". This led to their demandfor equality before the law and with regard to tax assessment as weil as to their demand for accord between citizens and municipal council. The citizens saw the republican claimsforfreedom, equality and unity endangered by the privileges ofparr of the citizenry, i. e. the patricians. A problem of sovereignty did not arise between council and citizenry, but was due to these privileges. The municipal council was altogether a representative expression of the citizenry according to principles of estate and wea/th.
Dr. Hartmut Zückert, &usselstraße 3, D-1000 &rlin 21
Conrad Wiedemann
Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden
1. Zur Problemlage Das Gesiebt des modernen Nationalismus tritt erstmals im Begleitgeschehen der Französischen Revolution von 1789 zutage, in Deutschland etwas später in dem der Erhebung gegen Napoleon (seit 1808). So jedenfalls sehen es ungezählte Historiker, Politologen und Mentalitätsforscher; und es gibt wenig Grund, daran zu zweifeln. Bei weitem nicht so verbreitet ist das Wissen über die Vorgeschichte dieses Nationalismus im 18. Jahrhundert, die nicht minder studierenswert scheint und die ich- aus Gründen der qualitativen Unterscheidung - als die Entstehungsgeschichte des europäischen "Nationalgeistes" (esprit des nations) bezeichnen möchte. 1 Dieses Wissensdefizit ist nicht zufällig. Denn im kosmopolitischen, das heißt allgemeinmenschlichen und übernationalen mainstreamDenken der europäischen Aufklärung nehmen sich die Herausbildung eines spezifischen Patriotismus und erst recht der Nationalgeist-Idee eher wie Störfaktor denn integrale Teilelemente aus. Beide existieren und wirken aber gleichwohl und scheinen dem Kosmopolitismus sogar komplementär zugeordnet, - der erstere, der vom englischen "public spirit" genährte Patriotismus, im Sinn einer real politischen Fundierung, der letztere, der in Frankreich entstan-
Zur Vorgeschichte und Geschichte des Nationalismus immernoch grundlegend: Hans Kohn, Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur französischen Revolution, Heidelberg 1950 (zuerst engl. 1945). Kohn sieht allerdings ein Vorspiel des authentischen Nationalismus in der puritanischen Revolution Englands und in den einschlägigen Schriften Miltons und Cromwells, vgl. Hans Kohn, The Genesis and Cbaracter of English Nationalism, in: Journal of lhc History of Idcas 1 ( 1940), 69-94. - Die Forschung zum deutsehen Nationalismus ist neuerdings (bis in die frühen 80er Jahre, aber nicht vollständig) durch eine komment.ierte Bibliographie Oberschaubar gemacht worden: Dieter K. Busc, Jürgen C. Doerr, German Nationalism. A Bibliographie Approach, New York, London 1985. - Einführend: Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt a. M. 1985; Heinrich August Winklcr (Hg.), Nationalismus, 2„ crw. Aufl. Königstcin/Ts. 1985 (zuerst 1975); Otto Dann (Hg.), Nationalismus im vorindustriellen Zeitalter, München 1986.
Aufklärung 4/2 e Felix Meiner Verlag, 1989, ISSN 0178- 7128
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dene „esprit de nation"-Gedanke, im Sinne einer empiristischen UngleichheitsKautele. Wir werden das noch genauer zu betrachten haben. Als wichtig in unserem Zusammenhang wird sich erweisen, daß die deutschen Schriftsteller sich offensichtlich besonders von der Nationalgeist-Idee in Bann schlagen ließen,ja daß ohne die Herausforderung durch sie der steile Aufstieg der deutschen Literatur zwischen 1750 und 1800 schwerlich gelungen wäre.2 Das Phänomen, das von der älteren Literatur- und Geistesgeschichte, wenn auch in der Regel parteiisch und quellengeschichtlich höchst unzureichend, unter dem Titel der „Deutschen Bewegung" abgehandelt wurde, ist in den letzten vierzig Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten und bedürfte längst einer Revision. Sie soll an anderer Stelle versucht werden. 3 Hier mag ein einzelnes, nicht weniger vergessenes Motiv zur Beleuchtung der Sache dienen: die dornenvolle Suche der deutschen Klassiker und Vorklassiker nach einem Nationalhelden. Dem Leser sei eine gewisse Skepsis zunächst durchaus zugestanden. Die Fragestellung scheint nach allem, was wir von der Zeit zu wissen pflegen, eher peripher als konstitutiv. War die bürgerliche Aufklärung einschließlich Sturm und Drang und Klassik nicht von einer tiefen Heroenskepsis geprägt, die sie für uns wohltätig absetzt vom Zeitgeist der benachbarten Epochen? War sie nicht, unserer eigenen Zeit darin vielleicht nicht unähnlich, eine Art Ruhe- und desengafio-Phase zwischen Zeitaltern hochelaborierter Heroismus-Ideologien, nämlich der stoisch-aristokratischen Heldenpose des „grand siecle" auf der einen Seite4 und der historistischen Heldenbegeisterung ala Carlyle5 und Burckhardt6 auf der anderen? Zweifellos: Die vernunftgefährdende Faszination des
2 Zur Patriotismus- und Nationalgeistdiskussion in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts grundlegend: Werner Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin/DDR, o. J.; Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus 1750-1850, Wiesbaden 1981 ; Gonthier-Louis Fink (ed.}, Cosmopolitisme, Patriotisme et Xenophobie en Europe en Siede de Lumieres. Actes du Colloque International, Strasbourg 2- 5 octobre 1985, Strasbourg 1987; Gonthier-Louis Fink, Vom universalen zum nationalen Literaturmodell im deutsch-französischen Konkurrenzkampf (1680-1770), in: Wilfried Barner, Elisabeth Müller-luckner (Hg.), Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, 33-67; Wolfgang Martens (Hg.}, Der Patriot, nach der Originalausgabe Hamburg 1724-1726 in drei Textbänden und einem Kommentarband , Berlin, New York 1969-1984. 3 Im Rahmen eines vom Land Hessen und der TU Berlin geförderten Forschungsprojektes _Europäischer Nationalgeist und deutsche Klassik" werden ein einschlägiges Quellenwerk und eine Gesamtdarstellung vorbereitet. 4 Vgl. August Buck, Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Freiburg, München 1987, 328-343: Kap. IV/3 _Der barocke Heroismus und die Erziehung zur römischen Bürgertugend". - Dort weitere Literatur. 5 Thomas Carlyle, Helden und Heldenverehrung, Jena 2 1922 (On Heroes , Heroworship and the Heroic in History, 1841); S. 11: _Der große Mensch ist eine lebendige Quelle des Lichts. Ihr nahe zu sein, tut wohl. Er ist das Licht, das die Dunkelheit der Welt erleuchtet.( ...] In ihm enthüllt sich der Dinge Kern , wird das Wesen des Menschen offenbar, erscheint die Hoheit des Heldentums.· 6 Jacob Burckhardt, Das Individuum und das Allgemeine (Die historische Größe), in: ders., Weltgeschich tliche Betrachtungen. Erläuterte Ausgabe. Hg. von Rudolf Max, Stu11gart 1955
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Heroismus gehört zu dem, was sich das Jahrhundert zu sistieren vorgenommen hatte. Aber wohlgemerkt: zu sistieren, nicht zu ignorieren. Dementsprechend gibt es in der von uns betrachteten Zeitspanne einen durchgängigen und vielgestaltigen literarischen Heroismusdiskurs, der in fast alle wichtigen Konzeptbildungen der Epoche hineinwirkt und ohne dessen kontrapunktische Funktion die Herausbildung der aufklärerischen und klassischen Humanitätsidee nicht gelungen wäre. Welche Vorzeichen dieser Diskurs jeweils annimmt, hängt von der Wahl des Zeitpunkts und der Quellen ab. Es gibt eine Mittelgeneration von Autoren, repräsentiert durch Lessing, Wieland und Herder, die einen kompromißlosen Kampf gegen die „schönen Ungeheuer" der Vergangenheit führen zu müssen glaubte,' nachdem ihre Vorgänger, wie zum Beispiel Gottscbed oder J. E. Schlegel, sich noch um vermittelnde oder anverwandelnde Positionen bemüht hatten. 8 Seine ganze Ambivalenz entwickelt das Problem freilich erst in seiner dritten Entwicklungsstufe, als die anthropologische Grundfrage nach der Notwendigkeit und Funktion heroischer Vorbilder sich mit dem NationalgeistAxiom verband. Von dieser Vielgestaltigkeit sind heute im Grunde nur noch zwei Teilaspekte literaturgeschichtlich präsent: nämlich die erfolgreiche Transformation des barocken Trauerspielheroismus in einen aufgeklärt-bürgerlichen und deren poetologische Kodifizierung durch Lessing, also jenes literatursoziologische Renommierstück, das wir als die „Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels" kennen, sowie, wenn auch schon deutlich zurückgenommen, die emphatische Heroisierung und Nationalisierung des frühaufklärerischen Patriotismuskonzeptes durch Klopstock und seinen Kreis. 9 Alle anderen, wie die Nationalgeist-Diskussion selbst, der Nationalepos-Diskurs, die heroische Fundierung des Geniekultes oder die Diskussion um eine Neubestimmung menschlicher Größe und nationalen Verdienstes, sind wenig erforscht, geschweige denn bekannt oder gar in ihrem gemeinsamen Motivationsgrund erfaßt. Gäbe es nicht Heinz Schlaffers geistreiche Studie von 1973 über das Scheitern und Verschwinden eines defizitären Heroismusverlangens im bürgerlichen Bildungsroman,10
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(entstanden 1868-71). S. 212: .Dem 19. Jahrhundert ist nun eine spezielle Befähigung zur Wertschätzung der Größen aller Zeiten und Richtungen anzuerkennen." Vgl. Conrad Wiedemann, .Ein schönes Ungeheuer". Zur Deutung von Lessings Einakter . Phi Iotas•, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 48 (1967), 381-397. Vgl. neuerdings: Christian Rochow, Das Drama hohen Stils: Aufklärung und Tragödie in Deutschland (1730-1806), Diss. Berlin 1988 (im Druck), bes. Kap. 2 und 3. Zu Lessings Trauerspiel-Theorie zahlreiche Forschungsarbeiten; zuletzt in einem generellen Sinn: Hans-Jürgen Schings, .Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch". Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München 1980. Zu Klopstocks patriotischer Dichtung nach wie vor grundlegend: Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Frankfurt a. M. 1 1973 (zuerst 1960), neuerdings: Harro Zimmermann, Freiheit und Geschichte. F. G. Klopstock als historischer Dichter und Denker, Heidelberg 1987. Heinz Schlaffer, Epos und Roman. Tat und Bewußtsein. Jean Pauls „Titan", in: ders., Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankfurt a. M. 1973, 15-30, ferner: 126-156.
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wir verfügten meines Wissens über keinen Versuch, die Funktion der sonderbaren Mischung aus Heroismusskepsis und Heroismusbegehren bei den deutschen Autoren der klassischen Zeit generell zu erklären. Dabei mag offen bleiben, inwieweit Schlaffers rigider Hegelianismus geeignet ist, den historischen Aspekten des Phänomens auf die Spur zu kommen. Wichtiger als seine geschichtsphilosophischen und gattungsästhetischen Festschreibungen erscheinen für unser mentalitätsgeschichtliches Interesse deshalb eher seine beiläufigen kulturanthropologischen und sozialpsychologischen Hinweise zur Problemkonstitution , aus denen sich eine historisch sehr viel begrenztere, aber auch konkretere und offenere Arbeitshypothese derivieren läßt. Demnach käme dem Heroismusdiskurs unseres Zeitraumes die Funktion zu, die Leerstelle, die durch den um 1750 endgültig erfolgten Bruch der Aufklärer mit der stoisch-politischen Heroenideologie der höfischen Gesellschaft entstanden war, für aufgeklärt-bürgerliche Adaptionen verfügbar zu halten, sei es um sie anthropologisch umzuwidmen oder aber mit neuen Vorstellungen von individueller oder nationaler Autonomie und Würde zu füllen. So gesehen ist unser Thema, wiewohl es die Geschichte eines hartnäckigen Mißlingens beinhaltet, alles andere als randständig. Im Gegenteil. Es wird uns auf weitere neuralgische Zentren des Zeitgeistes führen: das konkurrenzbewußte Verlangen nach Symbolen nationaler Identität und nationalen Gemeinsinns, die Suche nach einem wahren Deutschland innerhalb eines falschen, den Wunsch schließlich nach einer Versöhnung zwischen nationalem und menschheitlichem Auftrag. - Das verwertete Quellenmaterial meiner Problemskizze ist bei weitem nicht erschöpfend. Manches mir Bekannte mußte unberücksichtigt bleiben, sehr viel mehr dürfte noch unerschlossen liegen. Dementsprechend ist der Gang meiner Betrachtungen eher impressionistisch und suchend geraten als systematisch und historisch.
II. Ein Beispiel: Die Schiller-Körner-Diskussion Im Frühjahr 1788 Jieß Schiller sich durch seinen Brieffreund Christian Gottfried Körner mit der Idee infizieren, ein nationales Heldenepos über Friedrich II. von Preußen zu schreiben. Die Sache war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Anderthalb J ahre nach dem Tode des Königs war der Mythisierungsprozeß in vollem Gange, und Schiller selbst, auf eine Geschichtsprofessur in Jena spekulierend, hatte sich tief in Belange der Historie und Historiographie versenkt. Trotzdem zögerte er zunächst: so sehr ihn die Bewältigung einer solchen „Nationalangelegenheit" zugegebenermaßen reize, sie komme für seine schriftstellerische Entwicklung einige Jahre zu früh. Doch fünf Monate später (Brief vom 10. März 1789) war die Sache schon im Entwurfsstadium: er habe vor, eine besonders schicksalsträchtige Episode aus dem Leben des Preußenkönigs zu wählen, um die sich ein weitgefaßter universal- und bildungsgeschichtlicher Rahmen legen sollte. Vor allem hinsichtlich des letzteren habe er schon konkrete Vorstellungen: Wie interessant müßte es sein, die europäischen Hauptnationen, ihr Nationalgepräge,
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ihre Verfassungen, und in sechs bis acht Versen ihre Geschichte anschauend darzustellen: Welches Interesse für die jetzige Zeit! Statistik, Handel, Landeskultur, Religion, Gesetzgebung: all dies könne oft mit drei Worten lebendig dargestellt werden. Der deutsche Reichstag, das Parlament in England, das Konklave in Rom usw. Ein schönes Denkmal würde auch Voltaire darin erhalten. Was es nun auch kosten möchte, ich würde denfreien Denker vorzüglich darin in Glorie stellen, und das ganze Gedicht müßte dieses Gepräge tragen. 11
Die Passage ist nicht ohne Delikatesse. Lesen wir richtig, dann sollte offensichtlich weniger dem König als seinem philosophischen Über-Ich Voltaire die epische Verklärung zuteil werden. Ein (möglicherweise unbewußter) Vergeltungsschlag gegen die Gallomanie des Königs? Vielleicht. Freilich erweist sich auch Schiller selbst als gelehriger Schüler der Franzosen. Sehen wir einmal davon ab, daß in dieser Zeit kein Nationalepos ohne Blick auf Voltaires 'Henriade' ( 1723128) geplant werden konnte, ein Gedicht, das seinerseits die politische und religiöse Toleranz eines freidenkerischen Königs verherrlichte, so ist unverkennbar, wie sehr Schillers vergleichende Geschichtsperspektive sich an die eines Montesquieu ('De l'esprit des lois') und Voltaire ('Essai sur !es mreurs et l'esprit des nations') anlehnt. Daß auch der Voltairesche 'Essai sur Ja poesie epique' im Spiel ist, beweist das späte Zugeständnis, ein epischer Dichter könne sich der Denkungsart seiner Nation nicht entziehen (siehe unten), was allerdings von dem Deutschen, anders als von dem Franzosen, durchaus als Mangel empfunden wird. Vielleicht arbeitete er deshalb so konsequent auf das Übergewicht des Ideenrahmens (der sogenannten „Maschine") über die heroische Handlung hin. Schwierigkeiten also mit dem Nationalhelden und der „Nationalangelegenheit"? Zweifellos. Der Brief vom 13. Oktober 1789, vermutlich schon von den Revolutionsereignissen beeinflußt, bringt es unmißverständlich zum Ausdruck: Wir Neueren haben ein Interesse in unserer Gewalt, das kein Grieche und Römer gekannt hat, und dem das vaterländische Interesse bey weitem nicht beykommt. Das letzte ist überhaupt nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt.[ . ..) Es ist ein armseliges kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bey einer so wandelbaren zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bey einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stillestehen. Er kann sich nicht weiter dafür erwärmen, als soweit ihm diese Nation oder Nationalbegebenheit als Bedingung für den Fortschritt der Gattung wichtig ist.'2
Ob Friedrich der Große und seine spätabsolutistische Arrondierungspolitik solcher menschheitsgeschichtlichen Verpflichtung genügten, mußte danach mehr als fragwürdig erscheinen. Das Projekt geriet denn auch einige Zeit aus dem Blickfeld, war aber nicht erledigt. Im Herbst 1791 ging Körner die Sache erneut an, nachdem er die ersten Passagen der Schillerschen 'Aeneis'-Über-
11 Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Hg., ausgewählt und kommentiert von Klaus L. Berghahn, München 1973, 110 f. 12 Ebd., 118.
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setzung erhalten hatte. „Du mußt [...] selbst ein großes episches Gedicht unternehmen" . 13 Freilich sollte das Thema nun nicht mehr der Friedrich-Stoff sein, sondern so weit wie möglich den Bedenken des Freundes entgegenkommen: Ich wünschte einen Stoff von allgemeinem (nicht bloß nationalem) lnteresse für das bessere Publikum, wobei sich philosophischer Gehalt mit lebendiger Darstellung und aller Pracht der Sprache vereinigen ließe. 14
Vielleicht, so fügte er hinzu, wäre "die Erziehung des Menschengeschlechts[...] als[ ...] eine Art von Philosophie der Geschichte„ , wie er, Schiller, sie in seinem Gedicht 'Die Künstler' entworfen habe, das ideale Sujet. Diesmal war es an Schiller, sich gegen allzuviel Metaphysik zu verwahren (28. November 1791). Zwar fehle es ihm, was einen politischen Stoff betreffe, zugegebenermaßen an praktischer Erfahrung (während er den poetischen Anforderungen an „Darstellung, Schwung, Fülle, philosophische[m] Geist und Anordnung" spielend zu entsprechen glaubte); trotzdem würde er einem nationalen Gegenstand den Vorrang geben, schon aus pragmatischen Gründen. Denn: „Kein Schriftsteller, so sehr er auch an Gesinnung Weltbürger sein mag, wird in der Vorstellungsart seinem Vaterland entfliehen". Aber natürlich dürfe man auch „das Interesse der Nation an einem nationalen Heldengedichte„ nicht gering achten. Nur: Friedrich II. ist kein Stoff für mich, und zwar aus einem Grunde, den Du vielleicht nicht für wichtig genug hältst. Ich kann diesen Charakter nicht liebgewinnen; er begeistert mich nicht genug, die Riesenarbeit der Idealisierung an ihm vorzunehmen. Unter allen historischen Stoffen, wo sich poetisches lnteresse mit nationellem und politischem noch am meisten gattet, und wo ich mich meiner Lieblingsidee am leichtesten entledigen kann, steht Gustav Adolf obenan. [ . ..) Die Geschichie der Menschheit gehört als unentbehrliche Episode in die Geschichte der Reformation [sie!], und diese ist mit dem 30-jährigen Krieg unzertrennlich verbunden. Es kommt also bloß auf den ordnenden Geist des Dichters an, in einem Heldengedicht, das von der Schlacht bei Leipzig bis zur Schlacht bei Lützen geht, die ganze Geschichte der Menschheit ganz und ungezwungen, und zwar mit weit mehr Interesse zu behandeln, als wenn dies der Hauptstoff gewesen wäre. u
Freilich, so Schiller im selben Brief, auch Gustav Adolf sei vielleicht noch nicht der Weisheit letzter Schluß. Vielleicht müsse man noch weiter zurückgehen in der Geschichte, um fündig zu werden, ins vierte oder fünfte Jahrhundert. (Dachte er an Konstantin den Großen, an Alarich, Theoderich den Großen oder gar Chlodwig?) Am allerwichtigsten freilich sei, daß der Freund ihm seinen Rat in dieser so fesselnden wie schwierigen Frage auch weiterhin nicht versage: „mein Herz und meine Phantasie bedürfen es jetzt sehr, sich mit Innigkeit und Feuer an einen Stoff anzuschließen, der mir ein geistiges Interesse gibt".
13 Ebd., 138. 14 Ebd., 139. 15 Ebd., 140 f.
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So weit die letztlich ergebnislose Diskussion des ansonsten so erfolgreichen Problemlösungssyndikats Schiller-Körner. Ihre Gesichtspunkte, nicht ohne Verve vorgetragen, sind komplex und unübersichtlich. Versuchen wir deshalb, sie nachträglich zu ordnen und zu beurteilen: 1. Da ist zunächst das übereinstimmende Bedürfnis, ein literarisch Höchstes von nationaler Repräsentanz zu schaffen. Dies soll, nach antiker Tradition, das große Versepos mit vaterländischem Sujet sein, eine Gattung, von der Hegel, das Wunschdenken des 18. Jahrhunderts auf den Begriff bringend, forderte, daß sie die "gesamte Weltanschauung und Objektivität eines Volksgeistes" zu entfalten hätte. 16 2. Ob Schiller schon an solche Totalität dachte, ist ungewiß, doch steht zu vermuten, daß er sich als Identitätsstifter im national Eigenen unsicher, wenn nicht überfordert fühlte. Um so mehr lag ihm daran, die gewählte nationale Heldenepisode in das größere Ganze einer Bildungsgeschichte der Menschheit einzuweben, eine Bildungsgeschichte, die als ein Gemeinschaftswerk der Völker und Nationen anschaulich werden sollte. Nationalbegebenheit und Menschheitsfortschritt, das war für ihn zweifellos die Formel, aus der die Epopöe auch in der Modeme ein Existenzrecht ableiten konnte. Dementsprechend heißen seine Gewährsleute eben nicht bloß Homer und Vergil, Tasso und CamoÖes, sondern auch Voltaire, Montesquieu und Herder. Kein Zweifel, daß er die kulturphilosophische Geschichtsschau des letzteren im Medium des hohen Heldenepos teleologisierend und idealisierend überbieten zu können hoffte, - was wiederum erklärt, warum sein poetologisches Interesse sehr viel stärker auf den altehrwürdigen Götter- und Ideenüberbau der Gattung ging als auf den heroisch-nationalen Hand! ungskern. 3. Bleibt die Schwierigkeit mit der Wahl eines deutschen Nationalhelden, die zweifellos an ein generelles Problem rührte. Mußte, wo, wie in Deutschland, ein nationales Interesse, eine nationale Identität, ein nationaler Allgemeingeist als mehr oder minder nicht existent galten, ein politischer Nationalheld nicht ein höchst hypothetisches Etwas bleiben? Und wo gab es gar einen, der zugleich für das deutsche Identitätsverlangen wie für den allgemeinen Vernunftsfortschritt einstand? Der Versuch mit Friedrich dem Großen von Preußen galt zweifellos mehr dem "Philosophen auf dem Königsthron" und Freund Voltaires als dem Politiker und Feldherrn. Aber war er auch ein Held der deutschen Einheit? Zweifellos nicht! Dies traf schon eher aufGustav Adolf von Schweden zu, sofern man seine politische Mission als den Versuch verstand, das Werk der Reformation für Deutschland zu vollenden. Und falls man diese, wie es seit Möser Sitte
16 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III (Werke 15), Frankfurt a. M. 1970, 330. Die nationale Repräsentanzfunktion wird dort noch weiter ausgeführt: .Jede große und bedeutende Nation hat dergleichen absolut erste Bücber,indencn ihr, was ihr ursprünglicher Geist ist.ausgesprochen wird. Insofern sind diese Denkbücher nichts Geringeres als die eigentlichen Grundlagen für das Bewußtsein eines Volkes, und es würde interessant sein, eine Sammlung solcher epischer Bibeln zu veranstalten. Denn die Reihe der Epopöen, wenn sie kein späteres Kunststück sind, würde uns eine Galerie der Vollcsgeister zeigen." (331).
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geworden war, 17 als ein unabdingbares Vorspiel der europäischen Aufklärung begriff, mochte man ihn auch als Helden des Vernunftfortschritts feiern. Aber inwiefern war der „Held des Nordens" auch wirklich ein deutscher Held und nicht eher ein Symbol der · deutschen Misere? Und was bedeutet schließlich Schillers suchender Blick zurück in die Frühzeit römisch-germanischer Christianisierung mit ihren Heroengestalten Konstantin oder Theoderich? Schwer zu beantwortende Fragen! So viel mag indes festgehalten werden: Schillers Suche nach einem deutschen Nationalhelden und einem deutschen Nationalinteresse unterlag offensichtlich einem dreifachen Sog: nämlich weg von der Aktualität und hin zum Vergangen, weg von der säkularen Geschichte und hin zur religiösen, weg schließlich auch von einer Dramaturgie der äußeren Handlung und hin zu einer solchen der inneren. III. Gegenprobe: Der Fall „Messias" Schillers „trial and error"-Auseinandersetzung mit dem Nationalepos trägt, vor allem in ihrer geschichtsphilosophischen Zuspitzung, durchaus auch persönliche Züge. Doch darin geht sie nicht auf. Ein Vergleich mit dem anderthalb Generationen zurückliegenden „Fall" Klopstock führt uns auf überraschende Parallelen. Auch bei Klopstock steht am Anfang der Wunsch, dem Vaterland ein literarisches Werk von höchster Geltung und Würde zu schenken, eben ein heroisches Versepos, wie es angeblich keine wahre Kulturnation entbehren könne. So jedenfalls lautet das Programm, das er, 2 Jjährig, in seiner berühmten Portenser Abgangsrede von 1745 entwarf. 18 Wenn wir seinen späteren Selbstkommentaren vertrauen dürfen, dann hatte auch er damals zunächst einen Stoff aus der politischen Nationalgeschichte im Auge, freilich ohne Glück: Flog, und schwebte umher unter des Vaterlands Denkmalen, Suchte den Helden, fand ihn nicht. 19
Warum er mit den großen Herrschern des Mittelalters und speziell seinem Favoriten Heinrich 1. (dem Vogler), dem „Befreier" Deutschlands,20 nicht
17 Vgl. Jusrns Möser, Leurc a Mr. de Voltaire contenant un Essai sur le caractere du Dr. Martin Luther et sa Reformation , in: ders„ Sämtliche Werke, Bd. 2 bearb. von Oda May , Göttingen 1981. 286-298. 18 Albert Freybe, Klopst0cks Abschiedsrede über die epi sche Poesie , cultur- und litterargesch ichtlich beleuchtet, sowie mit einer Darlegung der Theorie Uhlands über das Nibelungenlied begleitet, Halle 1868. - Über die Epopöen-Diskussion im 18. Jahrhundert in Deutschland fehlt eine gründliche Darstellung. Einführend: Heinrich Maiworm , Neue deutsche Epik , Berlin 1968, bes. 29-42. Ferner: Nachwort von Wolfgang Bender zu: Johann Jacob Bodmer, Critischc Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740, Stuttgart 1966, J•- s•. 19 ' An Freund und Feind' (1781198), in: Friedrich Gottlieb Klopstock. Ausgewäh lte Werke, hg. vo n Karl August Schleiden, Nachwort von Friedrich Georg Jünger, München 1962, 127-129, hier: 128. 20 ' Mein Vaterland' ( 1768/71 ), ebd„ 11 7-119, hier: 118.
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zurecht kam, wissen wir nicht, allerdings läßt sein merkwürdiger Suchmodus des 'Fliegens und Schwebens' ahnen, wohin sein Sinnen eigentlich stand, - nämlich nach oben, ins höhere Allgemeine: Allein ich sah die höhere Bahn, Und entflammt von mehr als nur Ehrbegier, Zog ich weit sie vor. Sie führet hinauf Zu dem Vaterlande des Menschengeschlechts. 21
Nationalehre oder Menschheitserlösung: der Konflikt ist derselbe wie bei Schiller und wird dort wie hier im Sinne der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre entschieden, nämlich eindeutig für das höhere der Vaterländer und somit für den christlichen Kosmopolitismus. Der Epenheld, den Klopstock sich kürt, ist denn auch kein Geringerer als der Messias, also die Gottheit selbst. Als organisierende Idee fungiert eine Mischung aus reformatorischer Vermittlungstheologie und Leibnizschem Fortschrittsglauben im Gewand pietistischer Gefühlskultur2 2 und als Formprinzip das der Transformation des altehrwürdigen epischen Göttergeschehens, der "Maschine", zum Epos selbst. Was bei Schiller als Tendenz zu konstatieren war, die Verselbständigung des Rahmens im Sinn einer episierten Geschichtsmetaphysik, ist hier längst schon verwirklicht. "Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschheit Erlösung", so lauten Anfang und Programm des 'Messias'. Daß er ein deutscher Erfolg war, aber kein europäischer, ist ebenso bedenkenswert wie die Frage, ob sein Dichter mit einem säkularen Stoff die Nation ebenso beeindruckt hätte. Deutschland also tatsächlich als das Land des religiösen "Nationalinteresses"? War es der Geist der Reformation (und später der der evolutionären Geschichtsphilosophie), der das Erbe der gescheiterten Reichsidee angetreten hatte? Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen. Kritischen Köpfen der Epoche war er durchaus gegenwärtig. Wezel 1781: „Wie armselig ist[...] der Plan der deutschen Geschichte![ ... ] Es ist eine Sammlung Lebensbeschreibungen: kein Held, auf den alles vom Anfange an und durchaus sich bezieht, keine Einheit des Interesse, weder Knoten noch Katastrophe! Nicht der mindeste politische, sondern blos religioser Enthusiasmus in den Charaktern! [...) kein politischer Schwung in Gesinnungen und Handlungen, höchstens ein aodächtiger!"H Die Schlüssigkeit solcher Zeugnisse darf uns indes nicht dazu verführen, den nationalspezifischen Aspekt der von uns untersuchten Beispiele zu überdehnen. Weder Schillers noch Klopstocks Annäherung an das hohe Heldenepos fällt aus den Rahmenbedingungen der Zeit. So entspricht der Widerstreit zwischen patriotischer und kosmopolitischer Verpflichtung oder zwischen nationalem
21 Ebd., 118. 1 22 Vgl. Gerhard Kaiser, Klopstock . Religion und Dichtung, Kronberg/Ts. 1975, 204-258. 23 Johann Carl Wezel, Ueber Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen (1780), in: ders., Kritische Schriften, im Faksimiledruck herausgegeben mit einem Nachwort und Anmerkungen von Albert R. Schmitt, Bd. 3 Stuttgart 1975, 322 f.
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und menschheitlichem Geschichtsinteresse durchaus einer allgemeinen Problemlage der europäischen Aufklärung. Und ebensowenig ist die deutsche Vorliebe für eine Universal- und Bildungsgeschichte der Menschheit, die bei Herder und Schiller freilich geradezu obsessive Züge trägt, ein eigenes Gewächs, sondern kommt aus dem ungeliebten Frankreich (Voltaire, Montesquieu) und aus Schottland (Hume, Robertson, Ferguson). 24 Nicht anders verhält es sich mit Klopstocks innerem Kampf um den wahren Epenheros. Er ist bis in Einzelmotive hinein (zum Beispiel die nächtliche Eingebung als Entscheidungshilfe) von Konventionen und Vorlieben beeinflußt, vor allem natürlich von John Milton und seinem 'Paradise lost' ( 1663). Auch von dem Engländer wird ja berichtet, er habe einen Nationalhelden verherrlichen wollen, bevor er sich für sein biblisches Thema entschied. Ein Topos der erhabenen Poesie? Wahrscheinlich. Aber zugleich wohl auch eine reale Wahlsituation. Denn die Erneuerung des antiken Epos in der Frühneuzeit ging zwar Hand in Hand mit der Vorstellung vom nationalen Prestigegewinn durch dieses „Hauptwerk und Meisterstück der ganzen Poesie" (Gottsched), nicht aber mit der Verpflichtung, einen nationalen Helden zu wählen. Biblische, antike und nationale Themen dürften sich im europäischen Versepos der Frühneuzeit ungefähr die Waage gehalten haben. Johann Jacob Bodmer etwa, der unermüdliche Propagandist Miltons und Lehrer Klopstocks, pries in seinem Programmpoem 'Character Der Teutschen Gedichte' (1732) als Alternative zu einem religiösen Thema den „Columbus"oder „Hero und Leander"-Stoff an, 25 während Gottsched, der Adept Boileaus und der Franzosen, seine Schüler lieber mit Nationalhelden befaßt sah. 26 Versuchen wir ein Zwischenresümee: Schillers Scheitern (1788/91) an einem hohen Versepos mit nationalem Stoff scheint vorgeprägt in Klopstocks Entscheidung von 1745 für eine religiöse Epopöe. Beide Autoren gehen offensichtlich von einem nationalen Nachholbedürfnis in Sachen Heldengedicht aus, beide zeigen sich deshalb sorgfältig bemüht, den Gattungskonventionen gerecht zu werden, und beide stoßen dabei auf eine Reihe nationalspezifischer Komplikationen . Als neuralgischer Punkt erweist sich vor allem das Auffinden eines säkularen Nationalhelden beziehungsweise eines politischen Nationalinteresses und deren Vereinbarung mit dem höheren Interesse des Menschheitsfortschritts. Beide Autoren reagieren darauf mit dem Ausweichen in eine religiöse (biblische oder geschichtliche) Thematik und tendieren dazu, den epischen Ideen-Rahmen höher als den epischen Handlungskern zu bewerten. Schiller gibt darüber sein Vorhaben auf, Klopstock verwirklicht ein reines „Rahmen"-Epos. - Das seit Bodmer, Gottsched und Klopstock auftauchende Verlangen nach einem deut-
24 Vgl. Georg G. lggers, The European Con1ex1 of Eigh1eenth-Cen1ury German Enligh1enmen1 His1oriography, in: Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.), Aufk lärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1988, 225- 245. 25 Vier kritische Gedichte von J. J. Bodmer, hg. von Jakob Baechtold. Heilbronn 1883, 3-38. 26 Johann Christoph Gousched , Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig 1751 (zuerst 1730). Reprographischer Neudruck , Darmstadt 1962, 469- 504.
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sehen Nationalepos in aufklärerischer Absicht scheitert also an der Schwierigkeit, einen deutschen „Nationalgeist" zu sistieren. Es scheint nur als Ideenepos möglich oder gar nicht. Mit der Epopöendiskussion ist das Thema Nationalheld und Nationalinteresse freilich nicht erschöpft. Es bleibt konstitutiver Teil einer seit 1750 sich jäh verstärkenden nationalen Identitätssuche in der deutschen Literatur, die ihrerseits durch das Eindringen der westeuropäischen Nationalgeist-Idee verursacht ist. IV. Exkurs: Deutsche Aufklärung und westeuropäischer Nationalgeist Die „Aufklärung" als eine seit ca. 1670 sich herausbildende Vernunftkritik an den Institutionen der absoluten Monarchie, der dogmatischen Kirche und der Ständegesellschaft ist bekanntlich universalistisch, das heißt auf ein generelles menschliches Vernunftvermögen und ein generelles menschliches Glücksverlangen ausgerichtet. Ihre Vertreter verstehen sich in der Regel als Kosmopoliten. Daß sie schon früh und mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts zunehmend auch als „Patrioten" erkannt werden wollten, scheint dazu im Widerspruch zu stehen, begründet sich jedoch aus der neuen anthropologischen Einsicht, daß personale Identität nicht unabhängig von Lebens-, Kultur- und Sprachgemeinschaft definiert werden kann. Die allgemeine Menschennatur bestimmt uns zu Kosmopoliten, aber von der „tyrannie de la coutume, et de cet instinct qu'on nomme got1t" 27 ist keiner frei. Auch Herder wird später immer wieder betonen, daß der Weg zum wahren Kosmopolitismus über die intime Kenntnis des nationalen Selbst- und Andersseins führt. Die Theorie, die diesen- politisch im übrigen höchst explosiven - Patriotismus in Gang setzte, ist die seit ca. 1670 sich langsam aber stetig verfestigende Theorie vom „Nationalgeist" (genie de nation, genie de peuple, esprit de nation), einem Vorstellungskomplex, der sich der antiken Klimatheorie verpflichtet wußte, aber natürlich nicht abzutrennen ist von der Entwicklung der Fernreisen und der immer genauer werdenden Wahrnehmung fremder Kulturen und Ethnien. freilich , was den politischen und ästhetischen Aktualitätsgehalt der Sache betrifft, so scheint sie noch einen weiteren wichtigen Initiationspunkt zu haben, nämlich die Differenzerfahrung, die vor allem französische Reisende und Exilanten des ancien regime in England machten. Autoren wie Saint-Evremond, Muralt, Dubos, Voltaire und Montesquieu, durchwegs freiwillige oder unfreiwillige Englandfahrer, verdanken wir jedenfalls eine qualitativ völlig neue Sensibilität für die mentale, kulturelle und politische Eigenart der Nationen beziehungsweise der Völker. Inwieweit das, was sie leisteten, in den großen Kontext der aufklärerischen Vorurteilskritik gehört (oder aber, wie Warner schon bald meinten, die Genese neuer Vorurteile
27 Voltaire, Essai sur la poesie epique, in: Oeuvres Complctcs de Voltaire, Bd. 8 Paris 1877 (Neudruck 1967). 309.
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bedeutete), mag hier offenbleiben. Sicher ist jedoch, daß mit ihrem „Nationalgeist"-Axiom ein kollektives Identitätsmodell verfügbar wurde, das andere und ältere, wie das konfessionelle oder ständische, wenn schon nicht ersetzte, so doch in Bedrängnis brachte, wobei Bedrängnis natürlich auch Bedrängnis des absol utistischen Herrschaftsanspruchs und der Nationen selbst meint. Bis zum Umschlag in den chauvinistischen Nationalismus, wie ihn die Französische Revolution und die deutschen Befreiungskriege entbanden, dauerte es - von den Ursprüngen gerechnet - nicht länger als drei Generationen. Bemerkenswert für unsere Fragestellung ist die Tatsache, daß Deutschland an der Entwicklungsphase dieser Nationalgeist-ldee(das heißt bis etwa 1750) so gut wie unbeteiligt blieb. Es gab Reflexe, aber keine Rezeption. Die deutschen Aufklärer profilierten sich zunächst als Musterschüler und Systematiker des rationalistischen Universalismus und verweigerten sich weitgehend den empiristischen Ansätzen, was für die Struktur des Weimarer und Jenaer Idealismus nicht ohne Bedeutung war. Als der Gedanke dann trotzdem übersprang, hatte er bereits seine elaborierteste Form erreicht. 28 Dementsprechend heftig war seine Wirkung. Vermutlich ist es nicht falsch, in ihm den Hauptauslöser jenes „unglücklichen Identitätsbewußtseins" zu sehen, das die deutsche Literatur seitdem liebevoll kultiviert. Die Umwandlung des universalistischen Literaturmodells in ein nationales 29 verlief in Deutschland eben nicht organisch und sukzessiv, sondern pathologisch, in Gestalt eines radikalen Traditionsbruchs. 30 Den Wendepunkt markiert die Auseinandersetzung mit Montesquieu und seinem Hauptwerk 'De l'esprit des Jois' (1748). Die herausfordernde Wirkung gerade dieser Schrift auf Deutschland ist leicht erklärlich. Montesquieu blieb nämlich nicht bei einer empirischen Bestimmung von Nationalcharakteren durch Klima und Geographie stehen, sondern schloß von diesen auf die notwendigen nationalen Verfassungsqualitäten. Seine zentrale Botschaft hieß, daß das Glück und das Gemeinwohl einer Nation nicht davon abhänge, daß sie eine theoretisch eindeutige Verfassung besitze, also reine Monarchie, Aristokratie, Demokratie im Sinne der aristotelischen Typenlehre sei, sondern eine individuell richtige, die sowohl den natürlich vorgegebenen Bedingungen (Klima, Geographie) des Landes wie auch den historisch gewachsenen (Religion, Arbeitsformen, Besitzverhältnisse, Rechtstraditionen, Brauchtum etc.) entsprach. 31 Für
28 Vgl. Conrad Wiedemann, The Germans' Concem about Their National ldentity in Lhe Pre-Romantic Era. An Ans wer to Montesquieu?. in: Peter Boerner (Hg.}, Concepts of National Jdentity. An lnterdisciplinary Dialogue, Baden-Baden 1986, 141- 152. 29 Gonthier-Louis Fink, Vom universalen zum nationalen Literaturmodell (wie Anm. 2). 30 Wilfried Barner, Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwellen und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik 12) München 1987, 3-51. 31 Vgl. Rudolf Vierhaus, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, in: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel, Stuttgan 1965, 403- 437; Georg G. lggers, The European Context (wie Anm . 24); Conrad Wiedemann, The Germans' Concem (wie Anm. 28); ders„ GermanisLik
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das deutsche Selbstverständnis beinhaltete diese These sowohl Schock wie Chance. Wenn nämlich Montesquieu recht hatte, daß staatliche Verfaßtheiten als Individuen zu betrachten waren und je einen eigenen „Geist" hatten, dann war es falsch gewesen, mehr als zwei Jahrhunderte lang gebannt nach Westen zu blicken und sich an einer streng zentral organisierten Monarchie und der dazugehörigen Hof- und Metropolitankultur zu orientieren. Und ~s war geradezu lächerlich gewesen, den „esprit" der Franzosen, also das fremue Naturell, zum eigenen machen zu wollen. Deutschland mußte sich als die schlechthin nachahmende und selbstvergessene Nation erkennen, - ein Trauma, das durch die Tatsache, daß die lösende Theorie ebenfalls von außen und wiederum aus Frankreich kam, nicht gerade gemildert wurde. Was die Chance betraf, so lag sie in der nunmehr angesagten Umorientierung vom Fremden zum national Eigenen, von der nachahmenden zur „Original"Nation. Tatsächlich wurde der Ruf nach Autonomisierung, nach Identitätsformeln und -bildern in der Folge zum entscheidenden Agens einer noch kurz vorher nicht für möglich gehaltenen kulturellen und namentlich literarischen Konjunktur. Autoren wie Winckelmann, Klopstock, Herder oder Möser entwickelten Konzepte kultureller und geistiger Selbstbestimmung, die zusammengenommen einer Neufundierung des deutschen Geisteslebens gleichkamen. Man darf wohl sagen: ohne Voltaires und Montesquieus „Nationalgeist" -Axiom kein Weimar und Jena! Daß dieser Aufbruch auch eine problematische Seite hatte, wurde gern ignoriert. Ich meine die Verfassungsfrage. Montesquieu - und darin lag mit Sicherheit die Herausforderung seines Werks für die Deutschen - hatte das Selbstbestimmungsprinzip des „Nationalgeistes" ja nicht auf die Kultur, sondern auf die Verfassung eines Landes bezogen und damit zu einer grundsätzlichen Revision politischer Vorurteile und Geltungssysteme aufgefordert. Für Deutschland beinhaltete das die Ermutigung, dem ungeliebten Prinzip des Reichspartikularismus neu und unvoreingenommener gegenüberzutreten und sich mit ihm, wenn schon nicht zu versöhnen, so doch zu arrangieren und damit das nicht unbedenkliche Rückständigkeitsbewußtsein zu mildern. Sicherlich, dieses Leiden am chaotischen Zustand des Reiches war alt und eingefleischt. Aber war es nicht auch aus dem ständigen neidvollen Vergleich mit den vermeintlich moderneren und glücklicheren westlichen Nachbarstaaten entstanden, einem Vergleich, der nach Maßgabe der Montesquieuschen Theorie verhängnisvoll war? Und hatte der Franzose mit seinem berühmten Diktum, daß der Geist der politischen Freiheit aus den germanischen Wäldern komme, nicht auch schon eine Spur gewiesen? Nun, Tatsache ist, daß nur wenige dieser Spur folgten und eine Revision auch des politischen Selbstbewußtseins in Angriff nahmen. Vielleicht einige der Reichspublizisten, das heißt der professionalisierten Historiker . Unter den literarischen Köpfen von Rang waren es im Grunde nur J ustus Möser und, in dessen Schlepptau, Goethe.
als Nationalphilologie? Ein Räsonnement und eine geschichtliche These, in: Heinz Schilling, Conrad Wiedemann (Hg.), Wes Geistes Wissenschaften? Zur Stellung der Geisteswissenschaften in Universität und Gesellschaft, Gießen 1989, 20-34.
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Für das Gros, jedenfalls das Gros der kulturellen Intelligenz, bewirkte die Montesquieusche Perspektive gerade das Gegenteil. Sicherlich, der Blick auf das Verfassungsproblem wurde bewußter und analytischer und setzte eine kaum überschaubare, hektische Diskussion in fast allen Organen der aufklärerischen Öffentlichkeit in Gang. Doch die Konsequenz war immer die gleiche. Alle Hoffnung auf nationale Identitätsfindung galt der Kultur, alle Schuldzuweisung traf das Reich, seine Organisation und seine Fürsten. Einen Beleg für diese Tendenz, Wezels Urteil über die Reicbsgeschichte, haben wir bereits kennengelernt. Hegels Verfassungsschrift von 1802 wußte nichts anderes. Vermutlich ist es nicht übertrieben, wenn man unterstellt, daß die Mehrzahl der deutschen Aufklärer das politische Reich schon lange vor seinem unrühmlichen Ende von 1806 aufgegeben batte. Gründe für diese manichäische Zuspitzung der Identitätsfrage gab es freilich genug. Sie lagen einerseits in der veralteten Organisation des deutschen Gelehrtentums, seiner Isolation , seiner theologischen Denktradition, seiner politischen Inkompetenz und seinem ständig bejammerten Mangel an öffentlicher Reputation, andererseits in der bornierten Fremdorientierung der Höfe und der Aristokratie, die einen weitgehenden Kommunikationsblock zwischen der politischen und der intellektuellen Oberschicht bewirkte. So gesehen trägt die langsam aber unaufhaltsam sich herausbildende Idee einer deutschen Kulturnation ohne und gegen die politische Nation auch die Züge eines Vergeltungsdenkens. Die Herausbildung dieses Dissoziationsdiskurses (sein Höhepunkt liegt in den 90er Jahren) und seines Argumentenfundus wäre ein Kapitel für sich. Hier soll der Blick auf ein frühes Zeugnis genügen, das richtungsweisend gewirkt hat, obwohl es ebenfalls von außen kam: die manifestartige Schrift 'Von dem Nationalstolze' ( 1758) des Berner Arztes Johann Georg Zimmermann. Auch sie ist unverkennbar durch Montesquieu und die Nationalgeist-Diskussion affiziert, stellt allerdings nicht die Frage der Verfassungsgenese in den Mittelpunkt, sondern die der nationalen Selbst- und Fremdeinschätzung. Nationalstolz als solcher ist für Zimmermann durchaus nicht verwerflich, im Gegenteil, er entspringt dem berechtigten Wunsch der Menschen und Völker, „durch Ehre erhaben zu seyn". 32 Es komme jedoch darauf an, ob er vernunftbegründet sei oder nicht. Das wird an zahllosen Beispielen und Anekdoten durchgespielt, was gelegentlich an die französische Moralistik erinnert, ohne allerdings je deren Niveau zu erreichen. Wichtig in unserem Kontext ist indessen, daß Zimmermanns Buch eine Theorie menschlicher Größe mit antimonarchistischer Grundtendenz entwickelt. So kritisiert er die unhaltbaren nationalen und dynastischen Herkunftsmythen, Heroenmärchen und Überbietungsattitüden, wie sie in absolutistischen und despotischen Staaten gang und gäbe seien. Derlei atme den Geist der Willkür und des Eigennutzes und widerstehe dem freien Nationalstolz, wie er vor allem in Republiken blühe. Dort nämlich orientiere sich das Selbst-
32 Johann Georg Zimmermann, Von dem Nationalstolze (1758), hg. und eingeleitet von Konrad Beste, Braunschweig 1937, 104.
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wertgefühl am Beitrag, den die eigene Nation zum Menschheitsfortschritt geleistet hätte, - und das sei so gut wie immer ein kultureller Beitrag. Zimmermann macht keinen Hehl aus seiner Reserve gegenüber kriegerischem Heroismus. Sicherlich, auch dieser könne Quelle berechtigten Nationalstolzes sein, doch denkt er dabei ausschließlich an die Freiheitstaten der „Vorväter", das heißt an Beispiele aus der nationalen Frühgeschichte. In der modernen Staatenwelt hingegen gelten für ihn offensichtlich nur noch die Helden der Kunst und der Wissenschaft. Ein großes Volk im zivilisierten, das heißt aufgeklärten Sinne sei immer ein Kulturvolk. Man erkenne es daran, wieviel Verehrung es seinen großen Geistern entgegenbringe. Was Zimmermann dabei vorschwebt, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Art Heiligenkult nach dem Vorbild der katholischen Kirche.33 Vieles an dieser Argumentation scheint an die alte Theorie von der „nobilitas litterarum" , also vom Geistesadel zu erinnern, wie sie von den Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts nicht ohne kämpferischen Unterton vorgetragen worden ist. 34 Doch es gibt gravierende Unterschiede. Denn während es dort um einen Angleichungsversuch von Schwertadel und bürgerlicher Geisteselite ging, werden hier die traditionellen Wertvorstellungen vorsichtig-entschieden umgekehrt: „so weit vielleicht als die Seele eines Pope oder eines Newton über die Seele eines alten Scandinaviers erhoben war, so weit sind die Begriffe von dem Werthe der Künste und Wissenschaften über die Begriffe erhoben, die einem Volk seine Tapferkeit einpflanzt." 35 Nationale Größe sei deshalb nicht notwendig an politische Macht gebunden. Das besiegte Griechenland etwa habe den Römern bewiesen, „daß die Vorzüge des Geistes den Sklaven über seinen Herrn hinaufsetzen."36 Dementsprechend sei die Größe des Geistes einem anderen sozialen Selbstverständnis verpflichtet als die des aristokratischen Kriegertums. Als Republikaner weiß Zimmermann, daß zum Preis der politischen Freiheit und Gleichheit das Mißtrauen, ja der Undank gegenüber der großen, autonomen Persönlichkeit gehört. 37 Die freie Republik fürchte die „niederschlagenden Unterschiede" 38 und favorisiere dafür einen Geist der Mäßigung, der Stille und des Gemeinsinns, dem
33 Ebd „ 138. 34 Vgl. Erich Trunz, Der europäische Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, in: Richard Alewyn (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, Köln, Berlin 1965 (zuerst 1931), 147-181 ; Klaus Bleeck, Jörn Garber, Deutsche Adelstheorien im Zeitalter des höfischen Absolutismus, in: August Buck u. a. (Hg.), Europäische Hollrnllur im 16. und 17. Jahrhundert , Bd. 2 Hamburg 1981, 223-228; Klaus Garber, Zur Statuskonkurrenz von Adel und gelehrtem Bürgertum im theoretischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts. Veit Ludwig von Seckendorffs "Teutscher Fürstenstaat" , ebd„ 229-234. 35 Zimmermann, Von dem Nationalstolze (wie Anm. 32), 126. 36 Ebd., 149. 37 Vgl. Sidney Hook, Der Held in der Geschichte. Eine Untersuchung seiner Grenzen und Möglichkeiten (Heroin History, 1943). übersetzt von Gerhard Pilz, Nürnberg 1951. Hier bes. Kap. XI: "Der Held und die Demokratie". 38 Zimmermann, Von dem Nationalstolze (wie Anm . 32), 187.
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sich der politische und militärische Held nicht leicht unterwerfen könne, wohl aber der große Gelehrte und Künstler. Ob Zimmermann dabei an die Winckelmannsche Griechenformel von der edlen Einfalt und stillen Größe dachte, die drei Jahre vorher entstanden war? Denkbar wäre es, denn die attische Republik ist auch für ihn das unüberbietbare Beispiel einer wahren Kulturnation. Und so gilt ihm denn auch nicht römisch-stoische Bewunderung als die angemessene Devotionsformel für geistige Größe, sondern, wie schon angedeutet, eher fromme Andacht, Liebe und Dankbarkeit. Zimmermanns Entwurf einer Kulturnation in republikanischem Geist löste in Deutschland ein heftiges und anhaltendes Echo aus, fand aber - zwangsläufig - nicht nur Zustimmung. Er selbst hatte ja zugestehen müssen, daß die öffentliche Wertschätzung kultureller Leistungen und damit erlaubter Nationalstolz mitunter auch in Monarchien (Frankreich, England, Schweden) zu finden seien. Es waren in Deutschland vor allem die preußischen Schriftsteller und Dichter, die, als Untertanen eines philosophischen und musischen Königs, dies auch für ihr Land reklamieren zu können glaubten, - allen voran Thomas Abbt, der in seinen Schriften 'Vom Tode für das Vaterland' (1761) und 'Vom Verdienste' ( 1765) den Republikanismus-Vorbehalt seines Anregers und Gegners Zimmermann geschickt neutralisierte, indem er der Vaterlandsliebe in Monarchien eine egalisierende Wirkung zuschrieb, damit aber dessen Umwertung der öffentlichen Geltungsstandards wieder rückgängig machte. In seiner Rangliste der Verdienste steht nach wie vor der soldatische Vaterlandsverteidiger an erster Stelle, gefolgt vom Heiligen, Schriftsteller, Künstler und Prediger. Genau genommen argumentiert er damit nationalistischer als der Schweizer, denn in seiner Geltungsskala zählen primär die Leistungen für das eigene Land, weniger die für die Menschheit. „überhaupt darf man vielleicht sagen, daß jedes dauerhafte Werk, welches zur Entwickelung der Seelenkräfte einer Nation dienet, daß dieses Werk mit Recht den Titel des großen Mannes verschaffe." 39 Das ist vorsichtig formuliert, setzt aber die Akzente ganz anders als der Zimmermannsche Traktat. War es dort um die Frage gegangen, wie die Nation sich in seinen Helden und großen Geistern erkennen könne, so hier, wie sich diese an die Nation, ja den Staat zu attachieren vermögen. Oder als Frage ausgedrückt: Resultiert die Würde der Nation aus der Größe ihrer Geister oder die Würde der Geister aus der Größe ihrer Nation? Nur der Zimmermannsche Entwurf eröffnete die Möglichkeit, die res publica litteraria zum Kern der nationalen Identität zu machen, wozu in Deutschland die meisten Schriftsteller und unter ihnen viele der bedeutendsten tendierten, aber natürlich blieb die Abbtsche Hoffnung auf Erneuerung der Staatsnation und des Herrschertums aus dem Geist allgemeiner Vaterlandsliebe nicht ganz wirkungslos. Und so erstreckte sich denn die Suche nach tauglichen Leitfiguren eines deutschen Nationalgeistes, das heißt, nach nationalen Identitätsstiftern
39 Thomas Abbt, Vom Verdienste, in: Thomas Abbts vermischte Werke, Erster Theil Berlin und Stettin 1772 (Neudruck Hildesheim, New York 1978), 250.
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und Objekten eines zulässigen Nationalstolzes sowohl auf die mythischen Freiheitshelden und Geistesheroen im Sinne Zimmermanns wie auf den aufgeklärten Monarchen und Garanten staatlicher „grandeur" im Sinne des Friedrich-Verehrers Abbt. Beides erwies sich, wie schon gesagt, als dornenvoll, ein Stück deutscher Misere. V. Hermann, Friedrich, Luther und die anderen Der erste Nationalheld, der ein neuer werden sollte, war ein besonders alter: Arminius/Hermann, der von den Tacitisten des 16. Jahrhunderts wiederentdeckte Sieger der Varusschlacht im Teutoburger Wald. Wenn es zutrifft, daß deutsches Identitäts- und Autonomieverlangen sich historisch fast ausschließlich an der Romania definiert hat, also an Rom und Paris (und das heißt implizit immer auch: gegen sie),4° dann hatte sein Symbolwert nichts eingebüßt, im Gegenteil, denn um Loslösung vom romantischen Über-Ich ging es ja seit Montesquieu mehr denn je. Dazu kam, daß Hermann mit seinem Sieg über die Römer ja nicht bloß die germanische Freiheit und Selbständigkeit behauptet hatte, er war durch seinen Tod auch ein Opfer der alten deutschen Erbsünde der Uneinigkeit und damit ein echter nationaler Märtyrer geworden.41 Der erste, der an einer Reaktualisierung des Cheruskerfürsten im Sinne eines aufgeklärten Patriotismus scheiterte, war Gottsched. 1743 veranlaßte er seinen Schüler Johann Elias Schlegel zu einem 'Hermann'-Drama, 1751 seinen Schüler Christoph Otto Freiherr von Schönaich zu einem Versepos 'Hermann, oder das befreyte Deutschland', zu welchem letzteren er ein ausführliches Vorwort sowie eine Widmung an den hessischen Landgrafen Wilhelm beisteuerte. Beide Elaborate werden von ihm als deutsche Originaldichtungen gepriesen, aber beide sind ästhetisch dem Alexandriner-Pathos des französischen Klassizismus und politisch der Idee der Zentralmonarchie nach westlichem Vorbild verpflichtet. Der Germanenheld soll nach gutem typologischen Denkmuster den neuen deutschen Einheitsmonarchen präfigurieren. Gefährlich mit dem Metrum klappernd ruft Schönaich seinen patriotischen Lesern zu: 0! wie glücklich sind die Völker, die ein einzig Haupt regiert, Wo man kein geteiltes Herrschen, keine fremde Macht verspürt. [ ...)
40 Conrad Wiedemann, Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmenwechsel zwischen Gottsched und Winckelmann , in: Albrecht Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985, B. 9/11, Tübingen 1986, 173-178. 41 Eine grundlegende Untersuchung des Arminius-Motivs in der deutschen Literatur steht noch aus. Neuere Arbeiten: Willy Krogmann, Das Arminius-Motiv in der deutschen Dichtung, Weimar 1933; R. Kuehncmund , Arminius or the Rise of a National Symbol in Literature (From Hutten to Grabbe), Chapcl Hill 1953; Luigi Quattrocchi, II Mito di Arminio. 1: Da Hutten a Lobenstein, Napoli 1978. Zu den Rahmenbedingungen der literarischen Arminius-Rezcption
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Co nrad Wied emann Ach! wo lebt nun wohl ein Hermann? holder Himmel, schaff ihn d o ch. Deutschland heget ja wohl Helden, aber keine n Hermann noch.4 2
Das ist noch weit entfernt vom Montesquieuschen 'Geist der Gesetze' und ihrem Verfassungsindividualismus. Es war dem Osnabrücker Juristen und Historiker Justus Möser vorbehalten, diese Theorie erstmals in Bezug auf ein deutsches Geschichtssujet literarisch zu erproben. Sein 'Arminius'-Drama von 1749 handelt denn auch nicht vom Triumph der Varus-Schlacht, sondern von der sehr viel aktuelleren innenpolitischen Problematik, der ewigen „querelle allemande" zwischen Zentral- und Partikulargewalten, - und das auf eine sehr eigenwillige Weise. 43 Möser sieht nämlich, im Gegensatz zur traditionellen Sichtweise a Ja Schönaich, die kontroversen Positionen durchaus ambivalent. Sicherlich, seine Sympathien gehören Arminius, dem zögernden und volksfreundlichen Verfechter eines germanischen Einheitsstaates. Doch das heißt nicht, daß diese Lösung als die fraglos richtige und die der fürstlich-partikularistischen Seite als die fraglos falsche erscheint. Vielmehr wird, wie die jüngste Interpretation des Dramas zeigt,44 der Vorwurf genutzt, die komplizierte Dialektik dieses Gegensatzes zu entfalten. Arminius' Versuch, das föderale Prinzip der „deutschen Libertät" und damit die außenpolitische Schwäche des Vaterlandes zu überwinden, scheitert an seiner Nachgiebigkeit, was wiederum andeutet, daß große Zentralstaaten auf eine kompromißlose Machthandhabung gegründet sind, damit aber auch den Keim des Despotismus in sich tragen. Mit so viel realpolitischer Kompetenz und Heilsicht für das Nationalspezifische der deutschen Verfassungsfrage ist der Hermann-Stoff nie wieder dichterisch behandelt worden. Mösers sehr viel berühmtere Nachfahren Klopstock, Kleist und Grabbe brachten ihn, begeisterungsblind, auf ein sehr viel einfacheres Muster zurück. Von ihnen hat uns hier nur der erstere, Klopstock, zu interessieren, und zwar nicht so sehr, weil es ihm mit seinen Oden und dramatischen „Bardieten" gelang, aus Hermann in der Tat für eine _gewisse Zeit und ein gewisses Publikum eine nationale Kultfigur zu machen, sondern weil er mit seiner Heroenverehrung eine bezeichnende Nebenabsicht verband, die sich gelegentlich, vor allem im ersten Bardiet 'Hermanns Schlacht' von 1767/68, wie eine Hauptabsicht ausnimmt. Machen wir uns klar: so sehr der Cheruskerfürst ein Mann für alle patriotischen Seelenlagen war, einen Schwachpunkt hatte auch er. Seiner überragenden politischen Bedeutung für die deutsche Autonomie- und Identitätsfrage entsprach keine kulturelle, im Gegenteil, die schon früh geläufige
grundlegend: Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie. Vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt a . M. 1970. 42 Hcrrm. Christoph Ottens, Freyherm von Schönaich [ ...] Hermann, oder das befreyte Deutschland , ein Heldengedicht, mit einer Vorrede ans Licht gestellt von Joh. Chr. Gottscheden, Leipzig 1751, 11u. 192. 43 Text in: Justus Möser, Sämtliche Werke, Bd. 2 hg. von Oda May, Oldenburg, Hamburg 1981, 117-201. 44 Renate Stauf, Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe, Diss. Gießen 1989 (im Druck), Kap. II. , 3.
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Vermutung, sein Sieg habe den heilsamen zivilisatorischen Einfluß Roms auf Germanien jäh gestoppt, ließ ihn geradezu als Hauptverantwortlichen der „deutschen Verspätung", eines der zentralen Kulturtraumata Herders, erscheinen. Dieses Dilemma, von Voltaire wiederholt angemerkt und noch von Heine zu einem seiner anzüglichsten Gedichte genutzt,4s hatten bereits die Humanisten des 16. Jahrhunderts zu korrigieren versucht, indem sie das bei Tacitus offenbar gewordene germanische Kulturdefizit durch kühne geschichtliche Hypothesenbildung überbrückten und die Hermannsche Waldheimat reichlich mit erfundenen Druiden und Barden bevölkerten. Hier knüpft Klopstock an. Indem er die Sümpfe von Detmold in heilige Bardenhaine verwandelte, konnte er Hermann mit der sich formierenden Kulturnation versöhnen. In 'Hermanns Schlacht' sind es weniger der Held und seine Krieger, die den Sieg über die Römer sichern, als die Barden, die mit ihren liturgischen Kriegsgesängen sich als die Verfügungsgewaltigen über den patriotischen Enthusiasmus erweisen. Das Stück ist denn auch kein Handlungsdrama geworden, sondern ein vaterländisches Stimmungsgemälde. Nicht in der Macht der Waffen liegt die einigende Kraft der Germanen, sondern in der Macht ihres Bardengesangs. Ohne die res publica litteraria geht im FreiheitskampfKlopstock nichts. 46 Und Hermann und seine Krieger wissen das: „Eh du Barden tödtest, muß Blut der Fürsten fließen", sagt einer von ihnen, was Kaiser Joseph II. , dem der Dichter seine Bardiete gewidmet hat, schwerlich richtig verstanden haben dürfte. Die Gelehrtenrepublik selbst reagierte auf Klopstocks Hermannkult höchst geteilt. In einer Rezension von 'Hermanns Schlacht' aus dem Jahre 1770 in Nicolais •Allgemeiner deutschen Bibliothek' heißt es: „Hermann, Joseph der Zweyte, und Klopstock - dies sind drey Namen, auf welche Deutschland stolz zu sein, Ursache hat."47 Aber im selben Jahrgang derselben Zeitschrift behauptet ein anderer Rezensent, daß Hermann als nationaler Epenheld den Deutschen „keine Genüge" leisten könne (anstattdessen empfiehlt er die Geschichte Friedrich Barbarossas).48 Ähnlich reagierte aus der Rückschau Goethe: „Klopstock versuchte sich am Hermann, allein der Gegenstand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhältnis, niemand weiß, was er damit machen soll, und seine Darstellung ist daher ohne Wirkung und
45 Deutschland. Ein Wintermärchen (1844), Caput XI , in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegeb, Bd. 7, München 1976, 600-602. 46 Das bestätigt sich in Klopstocks merkwürdigem Traktat: 'Oie deutsche Gelehrtenrepublik'. Vgl. Harro Zimmermann, Gelehrsamkeit und Emanzipation. Marginalien zu Friedrich Gottlieb Klopstocks: 'Deutsche Gelehrtenrepublik', in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), F. G. Klopstock, München 1981 , 70-81; Karl Mickel , Gelehrtenrepublik, in: ebd., 82-96. - Im übrigen radikalisiert Klopstock damit eine Vorstellung, die, bevor sie in England und Deutschland Karriere machte, schon in den 40cr Jahren bei französischen Autoren auftauchte, und zwar ausdrücklich in Bezug auf die nordischen Völker, nämlich die Vorstellung der von Dichtern geführten Frühzeiten der Nationen. Hinweise bei Werner Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung (wie Anm. 2), 442 f. 47 Allgemeine deutsche Bibliothek 12/11(1770), 24, Rezensent: P. 48 Ebd., 225-228.
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Popularität geblieben. "49 Was die Zukunft betraf, sollte er sich darin irren , aber Tatsache ist, daß von seinen Zeitgenossen weder Lessing noch Wieland, weder Bürger noch Lenz, weder Moritz noch Heine, weder Schiller noch Humboldt sich für den Cheruskerfürsten erwärmen konnten. Vermutlich scheuten sie den Beigeschmack des Barbarischen und Ridikülen an der Sache, ganz sicher aber die von Klopstock geforderte Entscheidung, die griechische Helden- und Mythengeschichte gegen die nordische auszutauschen. Goethe empfand den Germanenmythos nicht ohne Charme, weil von einem humoristischen(!) Zug durchwoben, doch: „ Was hätte mich[... ] bewegen sollen, Wodan für Jupiter, und Thor für Mars zu setzen, und statt der südlichen genau umschriebenen Figuren, Nebelbilder, ja bloße Wortklänge in meinen Dichtungen einzuführen?"50 Wenn aber den aufgeklärten Köpfen des Zeitalters der Wald- und Nebelgeruch an Hermann/ Arminius Konsensschwierigkeiten bereitete, wie stand es dann mit den Leitbildern aus der historisch faßbaren Kaisergeschichte des Mittelalters? In der Tat läßt sich nach 1760, in den Jahrzehnten eines sich rigide wandelnden Geschichtsbewußtseins, in den gelehrten und schöngeistigen Journalen, aber auch in der Dichtung des Klopstockkreises und Herders eine Art Durchmusterung der Kaiserreihe nach tauglichen nationalen Helden verfolgen -ein Vorgang, der der Forschung so gut wie unbekannt geblieben ist. Erstaunlicherweise (oder bezeichnenderweise?) steht an seinem Anfang eine haßerfüllte Absage an Karl den Großen, der seine herkömmlichen Attribute eines fränkischen Sprach- und Kultu rförderers vorübergehend verliert und dafür als Sachsenmörder und Zwangsbekehrer, und das bedeutet: als Verräter der deutschen Freiheit an Rom, figuriert. Klopstock 1764: Bist du, der Erste, nicht der Eroberer am leichenvollen Strom und der Dichter Freund? Ja, du bist Karl! Verschwind', o Schatten Welcher uns mordend zu Christen machte! 51
Herder stellt 1770 die gleiche Frage mit dem gleichen Ergebnis: War er, Deutsches Vaterland, Mörder dir oder Heiland? [ ..) Fluch ihm! - Mörder! 52
1793, als er die Suche nach einem Nationalhelden erneut aufnahm, hat sich nichts daran geändert:
49 Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 18231832, 2. verb. Auflage, Anmerkungen und Register: Karl Ritschel und Gerhard Seidel, Berlin/DDR o. J. , 144. 50 Johann Wolfgang Goethe , Dichtung und Wahrheit. in: ders .• Artemis-Ausgabe, Bd. 10 hg. von Ernst Beutler, München 1977, 587. 51 Klopstocks sämtliche Werke, Bd. 4, Leipzig 1859, 148 ('Kaiser Heinrich'). 52 Herder, Sämtliche Werke, Bd. 29, Berlin 1889, 335 ff. ("Karl der Große').
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Soll ich singen dem Mann, der Deutschland würgte? oder taufete; den der Römerbischof, der den Bischof in Rom zum Herrn der Welt log - Leyer, nenne Nicht den Franken und seines Stammes keinen.s 3
Mit Karl verfallen im übrigen auch alle die Kaiser dem Verdikt, die Italien und das Heilige Land mit Krieg überzogen oder aber die innere Zwietracht Deutschlands geschürt haben. Die Ausnahmen sind dünn gesät: Heinrich der Vogler gehört zu ihnen, der innenpolitisch Erfolgreiche („Er verachtet Roma 's Zauberkroneu). Friedrich der Erste und Zweite („die vom Banne der Weisheit uns ein Zweiglein brachtenu) sowie die „Maximiliane, hinter den Geiern, zwo geliebte Friedliche Tauben". 54 Die Kollektivverdächtigung der Normal-Monarchen als „Geier", die Ächtung des Eroberergeistes und der Anti-Rom-Affekt, mit denen Klopstock und Herder ihren Pindarischen Auftrag 55 der vaterländischen Heroenpreisung zensieren, machen uns auf zwei wichtige und nicht ganz unbekannte Kontextphänomene der Heroen-Suche aufmerksam: den zunehmenden Fürstenhaß der deutschen Schriftsteller seit dem Sturm und Drang und das damit zusammenhängende ambivalente Verhältnis zu Friedrich II. von Preußen. Über beide ist viel geschrieben worden, am klügsten vermutlich wiederum durch Werner Krauss, 56 wenn auch in der Regel, wie mir scheint, und selbst bei ihm, mit starker Betonung einer autonomen revolutionären Energie. Sicherlich, die intellektuellen und voluntaristischen Aspekte der Sache sind nicht unerheblich, aber aufschlußreicher erscheint mir eine besondere psychische Grundkonstellation, die sie eher als Geschichte eines Zurückweisungstraumas denn einer prometheischen Selbstermächtigung erscheinen läßt. Als paradigmatisch dafür darf die Haltung Winckelmanns gelten, dessen Fürstenskepsis bekanntlich zu einem Leitmotiv seiner Briefe aus Rom geworden ist, gipfelnd in einem Kommentar zu Friedrichs II. Sieg bei Roßbach: „Ein Abscheu für die Menschlichkeit ein Held: ein Name der nicht anders als mit dem Zusatz: Gott schone die Menschen, sollte ausgesprochen werden." 57 Dagegen steht sein lebenslanges Warten auf fürstliche Anerkennung (auch durch Friedrich den Großen) und die Art, wie er sie, wenn sie ihm einmal widerfuhr, genoß. So beim Besuch des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Dessau in seiner römischen Wohnung. „Ich bin von Dessau, sagte er, mein lieber Winckelmann; ich komme nach Rom, zu lernen, und habe Sie nöthig. Er blieb bis Mitternacht bey mir, und ich habe Freudenthränen vergossen, stolz über unsere Nation, über ein so würdiges Menschenkind!" 58 Wie
53 Ebd., 580, ('Deutschlands Ehre'). 54 Ebd., 581. 55 Werner Krauss (wie Anm. 2), 420 ff. 56 Ebd. , 309 ff. 57 Johann Joachim Winckelmann, Briefe, in Verbindung mit Hans Dipolder hg. von Walther Rehm, Bd. 1, Berlin 1952, 317. 58 Ebd., Bd. 3, Berlin 1956, 155 f.
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viele von einem solchen Fürstenwort: „mein lieber X., ich habe Sie nöthig", geträumt haben mögen, erscheint anzüglich zu fragen. Ich vermute trotzdem: sehr viele, fast alle. Für die heftigsten Kritiker wie Klopstock, Herder, Schubart ist es leicht nachweisbar. Daß im Zentrum dieser ödipal anmutenden Schlacht um Anerkennung und Abnabelung die Figur Friedrich des Großen stand, daran gibt es keinen Zweifel. Ihm galt noch 1788 Körners und Schillers erster Gedanke im Hinblick auf eine echte „Nationalangelegenheit". Einerseits roi-philosophe und „freier Denker", andererseits Religionsspötter, Eroberungskrieger und Verräter der deutschen Kultur an die Romania (analog zu Karl dem Großen)-die Sache konnte nicht gut gehen, wiewohl ihm die patriotischen Emotionen der deutschen Schriftsteller bis zum ?jährigen Krieg und besonders während desselben in nicht unbeträchtlichem Maß zuströmten. Neben seinen preußischen Untertanen Gleim, Ramler, Ewald von Kleist und Anna Louisa Karsch war es unter anderen auch Klopstock, der früh ( 1749) eine huldigende Ode an ihn richtete, an „den besten Mann im ganzen Vaterland", der uns wie keiner sonst begeistern könne, „schön mit Blut bedeckt" fürs Vaterland zu sterben,59 eine Ode, der freilich schon 1752 das erste einer Reihe von Absagegedichten folgte(' An Gleim') bis hin zu jenem 'Rache'-Poem von 1782, mit dem er auf Friedrichs Skandal-Traktat 'De la litterature allemande' reagierte: Du erniedertest dich, Auslandstöne Nachzustammeln und Dein Blatt von Deutschlands Sprache [...] ist selbst dem Widerrufe Nicht vertilgbar; 60 Doch beileibe nicht alle waren so konsequent wie der Messias-Sänger, der sogar sein frühes Huldigungsgedicht umwidmete, indem er kurzerhand den ursprünglichen Titel durch 'Heinrich der Vogler' ersetzte. Herder beispielsweise mäßigte ab 1773 seine frühe Ablehnung und kam in den 'Humanitätsbriefen' der 90er Jahre sogar zu einem positiven Urteil. Die auffälligste Entwicklung nahm Christian Friedrich Daniel Schubart, der Verfasser der 'Fürstengruft', der sich mit einer glühenden Friedrich-Ode die Freilassung aus der Haft auf dem Hohenasperg ersang ( 1786) und auch danach Erkleckliches zum Lobe des Königs und seines Landes ('Preußenlied', 1790) leistete. Mit seinen Namens-Epitheta überbot er die Mythisierungsversuche eines Gleim und Ramler {„Vater Friedrich", „Caesar Friedrich", „Held Friedrich", „Sieger Friedrich", „Friedrich der Eroberer", „Friedrich der Große") noch beträchtlich („Friedrich Wodan", „Friedrich Hermann", „Friedrich Brennus", „Friedrich der Einzige", „Friedrich der Unerreichte"). Die meisten freilich, unter ihnen Lessing, Wieland und, wie wir sahen,
59 Klopstocks sämtliche Werke, Bd. 4, Leipzig 1854, 55. 60 Ebd., 277.
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Schiller, blieben dem „Fremdling im Heimischen" (Klopstock) gegenüber reserviert, zumal nach Erscheinen des Literatur-Traktats. Nein, auch Friedrich der Große konnte keine •.Integrationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins im 18. Jahrhundert" 61 sein. Das ausschließlich staatsbezogene Denken des Königs ließ den patriotischen Schriftstellern seines Landes keine Chance, ihm gefallen zu können, was ihre Flucht in die Kultumations-ldee und ihre kompensative Lust, sich für Menschheitsbelange zuständig zu fühlen , beträchtlich gefördert haben dürfte. Und da auch der vorübergehende Lichtblick in der Gestalt Kaiser J osephs II. die Hoffnungen nicht erfüllte, liest sieb Schillers späte Mahnung von 1801 ('Die Jungfrau von Orleans', II, 1): D rum soll der Sänger mit dem König gehen, Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen.
eher wie eine ironische Reminiszenz als eine ernstgemeinte Aufforderung. Nun, wo politische Vergangenheit und Gegenwart so wenig Ermutigung boten, blieb die von Zimmermann empfohlene Konzentration auf die nationalen Geistesgrößen, was in praxi auf eine Revision der traditionellen Listen der clarorum virorum hinauslief, wie sie jedes ältere 'Lob Germaniens' enthielt, etwa noch das Gottscheds von 1728.62 Dort sind, separat von der umfänglicheren und nicht überprominenten Dichterliste, aufgeführt: Schwarz (Erfinder des Schießpulvers), Gutenberg, Kopernikus (!), Hevelius (Astronomie), Kepler, Huygens (!), Leibniz. Luther bleibt ungenannt. Was davon für die höheren Weihen einer nationalen Integrationsfigur übrigblieb, war wenig genug, eine Dreier- oder Vierergruppe: Gutenberg, Luther, Kepler, Leibniz. Aber auch sie waren ungleichen Kalibers. Was Gutenberg betraf, so entzog er sich als Handwerker und durch seine biographische Nichtfaßbarkeit der Mythisierung, während Leibniz, als der internationale, lateinisch und französisch schreibende Hofgelehrte, offensichtlich den Autostereotypen des Nationalcharakters nicht hinreichend entsprach. Blieben Luther und Kepler, von denen der letztere vor allem als Beispiel des deutschen Gelehrtenelends Karriere machte. Herder: "Großer, guter, armer, frommer, gedrückter, verfolgter Kepler, du lebtest in Deutschland" ,63 was sagen will: in einem Lande, wo dem Genius nicht einmal ein Grabstein bereitet ist. Die gelehrten J ournalautoren der Zeit wurden nicht müde, die diesbezilglich ganz andere Lage in England dage-
61 Vgl. Theodor Schieder, Friedrich der Große - eine Integrationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins im 18. Jahrhundert?, in: Otto Dann ( Hg.), Nationalismus im vorindustriellen Zeitalter, München 1986, 113-127. - Zum Streit um 'De la litterature allemande', vgl. Erich Kästner, Friedrich der Große und die deutsche Literatur, hg. von H. Fromm, Stuttgart u. a. 1972 (zuerst 1925); Helmuth Fechner, Friedrich der Große und die deutsche Literatur, Braunschweig 1968; Hans-Jürgen Stauf, Friedrich II. 'Über die deutsche Literatur' ( 1780) im Lichte der öffentlichen Meinung seiner Zeit, Magisterarbeit Gießen (ungcdr.) 1983. 62 Johann Christoph Gottsched, Lob Germaniens, in: ders., Ausgewählte Werke, hg. von Joachim Birke, Bd. 1: Gedichte und GcdichtsObertragungen, Berlin 1968, 12-17. 63 Herder, Sämtliche Werke, Bd. 23, Berlin 1885, 509.
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genzuhalten. „Brittaniens Stolz, der große Newton, ruhet den Königen Albions zur Seite [ ... ] Unterdessen ruht die Asche von Newtons Lehrer, auf den Deutschland stolz seyn sollte, völlig unbekannt an der Landstraße von Regensburg."64 Grabdenkmäler für Kepler (und andere) zu entwerfen, scheint damals eine nationale Mode in der Gelehrtenrepublik geworden zu sein. 65 Hölderlin versetzt ihn ins germanische Pantheon: Wonne Walhallas! ( .. .) Und ging ich auf Ottern, ich bebte nicht In dem Stolz, daß er aus Dir, Suevia! Sich erhub, unser der Dank Albions ist. 66
Kepler durfte getrost unter die großen Aufklärer der Menschheit, unter die „Männer des Lichts", wie es bei Hölderlin heißt, gerechnet werden und somit auch unter die Objekte eines berechtigten deutschen Nationalstolzes im Sinne Zimmermanns. Hinsichtlich seiner nationalen Bedeutung eignete er sich jedoch lediglich zur Identifikationsfigur deutschen Gelehrtenjammers. Als Held eines patriotischen Dramas oder gar eines Nationalepos war er schlecht vorstellbar. Mit Luther, der ins Schicksal seiner Nation tief und bewußtseinsprägend eingegriffen hatte, verhielt es sich diesbezüglich ganz anders. Aber war er dazu geeignet, ins Pantheon des aufgeklärten Zeitalters einzugehen? Die deutschen Frühaufklärer hatten sich um ihn nicht sonderlich gekümmert, das Erbe der Reformation verwalteten eher ihre Gegner, die Pietisten. Das änderte sich, als Voltaire den Wittenberger Mönch unter die Fuchtel seines Spotts nahm, ihn als Hemmschuh des zivilisatorischen Fortschritts, als Fanatiker a Ja Mohammed und zu guter letzt sogar als unfähigen Übersetzer und geschmacklosen Schriftsteller schmähte. Der erste, der darauf reagierte, war Justus Möser. Seine 'Lettre a Mr. de Voltaire contenant un Essai sur Je caractere du Dr. Martin Luther et sa Reformation' (1750), in vorzüglichem Französisch abgefaßt, argumentierte, wenn auch verdeckt, so doch durchaus im Sinne der Voltaireschen Nationalgeist-Theorie und verteidigte Luthers Genie der theologischen Leidenschaft als ein nationales Pendant zum französischen esprit.67 Vor allem aber deklarierte er ihn zum Wegbereiter der Aufklärung, „qui a combattu en heros pour la cause commun du genre humain" ,68 und damit zum Vorkämpfer Voltaires selbst. Dieser Wille, Luther aus der mittelalterlichen Tradition herauszulösen und in die Vorgeschichte des Vernunftfortschritts einzureihen, setzte sich in der Folge auf breiter Front durch, so daß Herder 1792 resümieren konnte: „Luther war ein
64 Verdienste Keplers eines Deutschen um die Sternkunde, und dessen Lebensgeschichte, in: Journal von und für Deutschland 2 {1786), 159-170, hier: 169. 65 Z. B. Johann Jakob Azel in: Wirtembergisches Repertorium der Literatur 1782, 2. Stück; der Anonymus von 1786 (wie Anm. 64); Herder in: Newton und Kepler, 1802, Sämtliche Werke, Bd. 23, Berlin 1885, 539-549. 66 Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe. hg. von Günther Mieth, Bd. 1, Berlin, Weimar '1984, 75. 67 Vgl. Renate Stauf (wie Anm. 44), Kap. IV. 68 Justus Möser, Sämtliche Werke , Bd. 2, Osnabrück 1981, 288.
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patriotischer, großer Mann. Als Lehrer der Deutschen Nation, ja als Mitreformator des ganzen jetzt aufgeklärten Europa ist er längst anerkannt" .69 Fast alle großen literarischen Köpfe der Zeit nahmen an dieser Auf- und Umwertungskampagne teil, darunter Lessing, Hamann, Goethe, Schiller und Novalis. 70 Nicht um seine Theologie ging es dabei, sondern um die Neuvermessung seiner geschichtlichen Leistung, um seine charakterliche Statur und nationale Repräsentanz. „Luther! Gustav Adolf! Peter der Große! Welche drei haben in den neuen Zeiten mehr verändert?" 71 So Herder. „Luther, du! -Großer verkannter Mann! [... ] Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset!" 72 So Lessing. Und Lessing war es auch, der nicht zögerte, ihm den Titel eines „Helden"H zu verleihen. Trotzdem blieb auch hier der letzte Schritt, der der nationalen Heroisierung oder auch nur Popularisierung, aus. Die Zeit hat kein großes Luther-Drama oder Luther-Gedicht hinterlassen, und in den thematischen Überlegungen Klopstocks oder Schillers zum Nationalepos wird sein Name nicht in Erw~iung gezogen. Solcher Erhöhung stand doch einiges im Wege: sicherlich seine Uberbetonung des Glaubensaspektes, die mit dem Primat der Vernunft in Konflikt kam, sicherlich sein Bild eines verborgenen, allmächtigen und nur gnädigen Gottes, das zu nahe an das Bild des absolutistischen Fürsten rückte, und sicherlich sein zum Eifern und Verdammen neigender Stil. Entscheidend jedoch dürfte gewesen sein, daß er letztlich kein Exponent der deutschen Einheit, sondern einer der deutschen Teilung war. Wer ihn zur Identifikationsfigur machen wollte, mußte sich unweigerlich auf das frühneuzeitliche Prinzip der konfessionellen Identität einlassen, das dem modernen Prinzip der nationalen Identitäten durchaus widersprach. Gewiß, auch diese Frage, die Frage einer spezifischen Nationalreligiosität, wurde im Rahmen der Nationalgeist-Diskussion von Männern wie F. C. von Moser, Herder und Fichte aufgegriffen, entwickelte sich aber in eine andere als die dogmatische Richtung. Zur eigentlichen Religiosität der Zeit wurde der Patriotismus und gegen Ende des Jahrhunderts das geschichtsphilosophische Denken. Daß selbst ein Luther mit seinem entschieden deutschen Beitrag zur Emanzipations- und Erlösungsgeschichte der Menschheit und seinem gelungenen Aufstand gegen Rom das nationale Identifikationsbedürfnis der Aufklärer und Klassiker nicht befriedigen konnte, zeigt an, daß die hier rekonstruierte Geschichte eher die Konstitutionsgeschichte eines „unglücklichen Bewußtseins" und einer geistigen Dissoziation ist als die einer integralen politisch-kulturellen Identitätsfindung. Kompromißbereitschaft, Realitätssinn und Beruhigung sind
69 Hcrder, Sämtliche Werke, Bd. 17, Berlin 1881, 87. 70 Vgl. Heinrich Bomkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Heidelberg 1955. 71 Herder, Sämtliche Werke, Bd. 5, Berlin 1881 , 581. 72 Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, dritte Aufl. bearb. von Franz Muncker, Bd. 13, Leipzig 1897 (ND 1968), 102. 73 Ebd., Bd. 5, Stuttgart 1890, 365.
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ihre Merkmale nicht. Was die verspätete und unorganische Rezeption der westlichen Nationalgeist-Idee bei den deutschen Schriftstellern vor allem freisetzte, war eine gesteigerte Unzufriedenheit mit ihrer Geschichte, ihrer politischen Verfaßtheit und ihrer sozialen Geltung. Die überkritische und letztlich gescheiterte Suche nach einer nationalen Integrationsfigur ist nur der Spiegel dieser Zerrissenheit. Möser scheint recht zu haben: „Deutschland hat keine genugsam bekannte Helden" ,74 und, so können wir hinzusetzen, schon gar keine, über die man sich einigen könnte. Einig scheint man sich lediglich im Wunsch gewesen zu sein, einen zu haben, - oder doch wenigstens Substitute irgendwelcher Art für das, was den scheinbar glücklicheren Nachbarn als „Nationalgeist" galt. Die Lösungsangebote, die sich die Generation vorbehielt, Winckelmanns Griechenparadigma, Klopstocks Bardenglück und Herders Volksgeist, waren durchwegs kultureller und mythischer Natur und wiesen, einer Art typologischem Geschichtsbild (Verheißung - Erfüllung) folgend, den Weg in Richtung „Kulturnation". Dort durften die Schriftsteller selbst hoffen, die neuen Helden zu sein, wenn auch in priesterlicher Rolle und ohne sonderlichen politischen Impetus. „Hoffen Sie viel", schrieb Herder 1793, nach der Enttäuschung durch die Französische Revolution, „sehr viel von aufgeklärten, guten Fürsten; das Unmögliche aber hoffen Sie nie. Auch sie sind Menschen[... ] Ach, es muß ein Gott vom Himmel kommen, oder außerordentlich=gute und große, das ist, wahrhaft göttliche Menschen senden; oder die Verbeßerung der Welt auf dem gewöhnlichen Wege der Zeit geht sehr langsam." 75 Das erinnert uns an den religiösen Bodensatz im Denken Klopstocks und Schillers und weist voraus auf die geschichtsphilosophischen Spekulationen der folgenden J ahre, die ja von Helden- und Göttervisionen durchaus nicht frei waren. Indes, es gab auch andere Wege, auf die drängende Frage nach der nationalen Identität zu antworten. Faßten wir das Wunschbild eines nationalen Helden nur ein bißchen weiter, etwa im Sinn mentaler Archetypen der Nation, dann hätte der von Voltaire und Montesquieu ausgelöste Blick auf das national Eigene, auf den Geist oder das Genie der eigenen Nation ungleich mehr zu bieten gehabt. Dann hätte vor allem Goethe im Mittelpunkt unseres Interesses gestanden, der Goethe nämlich, der mit seiner durch Möser inspirierten Wende zur geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit seines Landes eine völlig neue und durchaus deutsche Kulturcharakterologie geschaffen hat: im 'Götz' den anpassungsunfähigen Traditionalisten und damit sein Urbild der „deutschen Libertät", im 'Werther' den in der provinziellen Isolation zu gefährlichen Autosuggestionen neigenden jungen Genialen, im 'Faust' den gesellschaftslosen, von Allmachtsphantasien geplagten und spekulativ sich überfordernden Gelehrten und im 'Wilhelm Meister' den in der Begegnung mit der Scheinwelt des Theaters sich emanzipierenden Bildungsbürger. Und was das problematische heroische
74 Justus Möser, Sämtliche Werke (wie Anm. 68). Bd. 2, 342. 75 Herder, Sämtliche Werke (wie Anm. 69), Bd. 17, 95 f.
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Urbild von 'Hermann und Thusnelda' betraf, so tauschte er es durch das völlig unheroische Heldenpaar 'Hermann und Dorothea' aus. Daß es dazu des homerischen Hexameters und einer besonderen Ironie bedurfte, steht auf einem anderen Blatt.
Obwohl sich die Schriftsteller des Aufklärungsjahrhunderts überwiegend zum Kosmopolitismus bekannten und den Heroen-Begriff des höfisch-barocken Zeitalters einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, beteiligten sich viele von ihnen unter dem Einfluß der westeuropäischen Nationalgeist-Idee an der Suche nach einem deutschen Nationalhelden. Diese Suche scheiterte an der deutschen Zerrissenheit und an der zunehmenden Opposition von politischer und literarischer Kultur. Weder Klopstock noch Schiller konnten einen deutschen Helden für ein Nationalepos finden und wichen in religiöse Themen aus..A'hnlich endete die Diskussion um Hermann dem Cherusker. Luther, Kepler und Friedrich den Großen. The German writers ofthe Age ofEnlightenment were most/y professed cosmopolitans and critisized fundamentally the baroque and abso/utist concept of heroism. Nevertheless. due to the influence of the West European discussion about the existence ofpeculiar national spirits, (esprits des nations) many of them participated in the quest for a national hero. This quest fai/ed because of German disunity and because of the increasing opposition between political and literary cu/ture. Neither Klopstock nor Schiller were ab/e to find a German hero fit for anational epic and sought refuge in religious topics. The discussion about Herman the Cherusker, Luther, Kepler, and Frederic the Great ended in a similar way.
Prof. Dr. Conrad Wiedemann, Technische Univc~ität Berlin, Institut für Dcutsehe Philologie, Allg. u. Vergl. Literaturwissenschaft, Straße des 17. Juni 135, D-1000 Belin 12
KURZBIOGRAPHIE
Thomas Abbt (1738-1766) Thomas Abbt zählte um die Mitte des 18.Jahrhunderts zu den bedeutenden jüngeren Aufklärern. Zweifellos war er weit bekannter, wurde er mehr gelesen und stärker geachtet, als die Forschung lange Zeit wahrhaben wollte. Zusammen mit Mendelssohn, Nicolai und anderen stand Abbt am Beginn der sogenannten Popularphilosophie und ihres praxisorientierten moralisch-politischen und moralischästhetischen Diskurses. Seine Zeitgenossen sahen in ihm den Repräsentanten des neuen sozialen Leitbildes des bürgerlichen Gebildeten, der den Typus des traditionellen Gelehrten abzulösen begann. Thomas Abbt wurde am 25.11. 1738 als einziges Kind des Perückenmachers Thomas Abbt sen. und dessen Frau Anna Elisabeth, geborene Binder, in der Reichsstadt Ulm geboren. Seine Vorfahren stammten aus Handwerker- beziehungsweise Pastorenfamilien. Nach der Schulzeit am Ulmer Gymnasium immatrikulierte sich Abbt 1756 als Theologiestudent an der Universität Halle. Bereits nach kurzer Zeit gab er das ihm aufgezwungene Theologiestudium auf und wandte sich dem Studium der Mathematik, der Geschichte und der Philosophie zu. Gleichzeitig eignete er sich umfassende Kenntnisse der französischen und englischen Sprache und Literatur an. Nach seiner Habilitation lehrte Abbt vom Sommersemester 1759 bis zum Sommersemester 1760 als Privatdozent der philosophischen Fakultät der Universität Halle, von Mai 1760 bis April 1761 war er Extraordinarius in Frankfurt an der Oder. Bereits 1761 erhielt Abbt einen Ruf als ordentlicher Professor der Mathematik an die Universität Rinteln, den er unter der Bedingung annahm, die Stelle erst zu Beginn des Wintersemesters 1761/62
antreten zu müssen, um den Sommer in Berlin verbringen zu können. Dort machte er die Bekanntschaft Nicolais, Gleims, Ramlers, Mendelssohns und anderer. Der intellektuelle und gesellige Umgang in den Berliner Zirkeln prägte ihn tief. 1765 erhielt Abbt gleichzeitig Rufe auf einen Lehrstuhl für Philosophie in Halle und auf einen für Mathematik in Marburg. Beide Rufe lehnte er ab; stattdessen nahm er das Angebot der Stelle eines "gräflichSchaumburg-Lippischen Hof- und Regierungsraths in Verbindung mit der Stelle eines Konsistorialrates und Patronus scholarum" an. In dieser bewußten und gewollten Wendung zur Praxis schlug sich seine langjährige Kritik an der intellektuellen Sterilität und Realitätsferne der traditionellen universitären Gelehrtenkultur nieder. Bevor er jedoch sein neues Amt antrat, machte er eine längere Reise, die ihn bis in die Schweiz führte. Im neuen Amt blieb ihm jedoch nur wenig Zeit. Der lange kränkelnde Abbt starb für seine Freunde und Bekannten überraschend plötzlich am 3.11.1766. Herder, sein Nachfolger im Bückeburger Amte, sprach von Abbt als dem Mann, der als "Bürger fühlte und dachte", als dem .Schriftsteller der Menschheit", als dem Aufklärer, der die • Weltweisheit vom Himmel zu den Menschen herabzog". Dieses Urteil gründete nicht zuletzt in Abbts publizistischen Arbeiten, mit denen er bewußt aus dem akademischen Umfeld herauszutreten suchte. In seinen Rezensionen, Artikeln und selbständigen Schriften wollte er weniger .Schriftsteller oder Gelehrter vom Handwerk" als vielmehr .gesellschaftlicher Schriftsteller" (F. Schlegel) sein. Abbt unterhielt Beziehungen zu den führenden Köpfen der Aufklä-
Aufklärung 4/2 o Fe lix Meiner Verlag, 1989, ISSN 01 78-7 128
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Kurzbiographie
rung, korrespondierte mit Nicolai und Iselin, war gelehrter Disputant des Berliner Popularphilosophen Moses Mendelssohn, war befreundet mit Justus Möser und stand mit vielen Zeitgenossen in brieflichem Kontakt. Er war fest eingebunden in die entstehende deutsche Aufklärungsgesellschaft. Abbts Aufgabe des Theologiestudiums war erstes Anzeichen für die später einsetzende, bedeutsame Abwendung vieler Aufklärer von der Theologie als Wissenschaft und Beruf. Diese Abwendung vollzog sich meistens schon während oder unmittelbar nach dem Studium. Den ehemaligen Theologiestudenten Abbt aber ließen, wie viele der deutschen Aufklärer, von der Theologie besetzte Themen nicht mehr los. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen wurde so zum Kristallisationskem seiner moralphilosophischen Reflexionen, denn weder die Antworten der orthodoxen Theologen noch die der philosophischen Tradition erschienen ihm angemessen. Während der einsetzenden Krise der überlieferten religiösen Denkund Glaubensgewohnheiten war Abbt führend am Disput über die Bestimmung des Menschen beteiligt, in dem Moralphilosophie über orthodoxe Theologie triumphieren sollte. In der .anthropologischen Wende", in der sich modernes Denken emanzipierte, gründete der Prozeß der Enttheologisierung der Bestimmung des Menschen. Seine Reflexionen hatten den Aufbau einer bürgerlichen • Welt- und Lebensanschauung" (B. Groethuysen) zum Ziel. In dieser Perspektive gewinnen besonders Abbts selbständige Publikationen • Vom Tode für das Vaterland" (1761), die bei den Zeitgenossen durchaus keine einhellige Reaktion hervorrief, und „Vom Verdienste" ( 1765) ihre innere Einheit und ihre zeitgenössische Bedeutsamkeit. Ihr pathetischer und pragmatischer Moralismus hat in all seinen Grenzen ein gesellschaftlichpolitisches Bewußtsein geweckt, in dem Tüchtigkeit, Pflichterfüllung und Gemeinnützigkeit leitende Werte waren.
Daraus erwuchs ein starker Antrieb für staatsbürgerlich-„patriotisches" Handeln. Solches Handeln hat er in dem schnell bekannt gewordenen Büchlein „Vom Verdienste" wirksam gefordert. Für den Reichsstädter und Schwaben Abbt war es von entscheidender Wichtigkeit, daß er die Kriegsjahre in Preußen verbracht hatte und dort von den Gedanken der Berliner Aufklärer um Mendelssohn und Nicolai stark geprägt wurde wie auch vom Geist des Patriotismus, der sich in den Notjahren des preußischen Staates bewährt hatte. Er hatte aber auch erkannt, daß der Anspruch auf bürgerliche Teilnahme am Staate durch Opferwilligkeit und verdienstvolles Handeln allein seine Berechtigung erhalte und daß solches Handeln überhaupt erst den Menschen im vollen Sinne zum Bürger mache. Darum rief er zum patriotischen Tun auf, ganz gleich, ob es die verdiente Anerkennung und Belohnung erfuhr. Jede gesellschaftliche Verbindung lebt von solcher . politischer Tugend", mit dem der einzelne aus seiner Ichbezogenheit heraustritt und damit zugleich einen Zuwachs an moralischer Würde gewinnt. Abbt betonte indes auch, daß „verdienstliches" Handeln von der „Verfassung" der jeweiligen Gesellschaft, das heißt des Staates abhinge. Diese Gedanken waren schon in der Schrift über den „Tod fürs Vaterland" weiter ausgeführt worden, wo erden Nachweis zu bringen versuchte, daß das Opfer des Lebens für diejenige . Gesellschaft" gefordert und gebracht werden könne, die „ Vaterland" ist. Das aber könne auch und gerade die Monarchie sein. Zwar gäbe es hier, anders als in Republiken, Unterschiede der Stände; „allein, wenn ein allgemeines Bestes stattfindet (und dieses findet sich bei allen Gesellschaften), so muß es auch nur eine einzige politische Tugend geben. Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet verschwindet der Unterschied zwischen Bauer, Bürger, Soldat und Edelmann. Alles vereinigt sich und stellt sich unter dem vormals so herrlichen Namen eines Bürgers dar( ...] Alles ist Bürger. So stelle
Kurzbiographie ich mir die Monarchie vor." Abbt versuchte also nachzuweisen, daß nicht nur eine Republik Vaterland sein könne, sondern ebenso eine" wohl ein richtige Monarchie" - wie die preußische! - , zugleich eine staatspatriotische Apologie, wie sie Preußen sich nicht besser hätte wünschen können. Sicherlich war der Essay mit seiner staatspatriotischen Rhetorik im Blick auf Preußen geschrieben; bedeutender jedoch war die Bereitstellung politischmoralischer Kategorien für die Gebildeten. Nicht zuletzt war er Anlaß für einen lebhaften Streit für und wider den Freistaat. Beide Essays waren ein charkateristisches Dokument politischer Selbstbestimmung deutschen Bildungsbürgertums und der zunehmenden Abstraktion des politischen Denkens. Der Prozeß der . Politisierung" der Aufklärung wird hier vorsichtig auf den Weg gebracht. Thomas Abbt, Vermischte Werke, hg. von Friedrich Nicolai, Theil 1-IV, Berlin und Stettin 1768-1781, Neudruck 1978. Oskar Claus, Thomas Abbts historisch-
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politische Anschauungen, Gotha 1906. Louis Frison, Thomas Abbt et la destinee de l'homme. Un singulier apologue de l'absence de Dieu, in: Recherches Germaniques 3 (1973), S.3-15. Louis Frison, Isaac Iselin. Zehn Briefe an Thomas Abbt. Erstausgabe und Einführung, in: Recherches Germaniques 6 (1976), S.250-268. Hans Erich Bödeker, Thomas Abbt. Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußtsein, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S.221-253. Stefan Lorenz, Thomas Abbts und Moses Mendelssohns Debatte über J. J. Spaldings .Bestimmung des Menschen" 1764-1766, Staatsexamensarbeit Bochum 1984. Zwi Batscha, Thomas Abbts politische Philosophie, in: ders„ .Despotismus von jeder Art reizt nur zur Widersetzlichkeit". Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie, Frankfurt 1989, S.126-168. Hans Erich Bödeker (Göttingen)
DISKUSSIONEN UND BERICHTE
Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution Das europäische Naturrecht im ausgehenden 18. Jahrhundert 14. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 22. bis 24. November 1989 Die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ) ruft alle Jahre im November am Bußmittwoch und den folgenden Tagen die Mitglieder zu ihrem Symposion. Im regelmäßigen Zweijahrestakt kehrt diese interdisziplinäre Karavane der Dixhuitemisten an ihren Gründungsort in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ein. So konnte der Hausherr und Nachfolger Leibniz' und Lessings, Paul Raabe, in diesem Jahr über einhundert Mitglieder der DGEJ, eine der aktivsten und erfolgreichsten Organisationen, die an diesem traditionsreichen Bibliotheksort gegründet wurden, zu Sondierungen der rechtshistorischen Ursprünge des geschichtlichen Ereignisses begrüßen, dessen Bicentenaire für allerhand akademische Geschäftigkeit gesorgt hat. Werner Schneiders (Münster), der Vorsitzende der DGEJ, dankte in seinen Einleitungsworten dem Präsidenten der International Society for Eighteenth-Century Studies (ISECS), Robert Darnton (Princeton), für die Ehre, durch seine freundliche Anwesenheit, das internationale Gewicht der DGEJ zu unterstreichen, sowie Otto Dann (Köln) und Diethelm Klippe! (Gießen) für die wissenschaftliche Vorbereitung und der Volkswagenstiftung für die großzügige Ermöglichung der Tagung. In einem knappen Einführungsstatement hob Diethelm Klippe! das Naturrecht als einen der Schlüssel hervor, der die Welt des späten 18. Jahrhunderts erschlösse. Drei Aspekte seien deswegen bei der Vorbereitung des Symposions vor allem verfolgt worden: 1. Der Wandel der Grundlagen und der Argumentationsmuster des naturrechtlichen, insbesondere des politischen Denkens im 18. Jahrhundert. 2. Der Vergleich des deutschen Naturrechts mit dem naturrechtlichen Denken in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten von Amerika. 3. Interdisziplinarität. Als erster Beiträger der Mittwochnachmittagssektion (22. November 1989) stellte Jan Schröder (Tübingen) die Resultate einer quantifizierenden Studie zum .Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts" vor. Drei Schlußfolgerungen wurden besonders hervorgehoben. Naturrecht werde bis tief in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, ja bis in dessen letzte Jahrzehnte hinein gelesen. freilich würden solche Vorlesungen seit etwa 1830 durch die Rechtsphilosophie auf breiter Front verdrängt. Das ältere Naturrecht, wie die Auswertung der verwendeten Lehrbücher beziehungsweise Kompendien erweise, behaupte sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, werde aber dann, wie zu erwarten gewesen sei, seit 1790 durch das jüngere Naturrecht (Hufeland/Kant u. a.) verdrängt. Schließlich warnte Schröder davor, die Geschichte des naturrechtlichen Denkens, wie dies insbesondere in der älteren Forschung getan worden sei, anhand der großen Namen zu schreiben. Für die Universitätslehre seien vielmehr auch die kleineren Autoren wichtig gewesen. In der Diskussion wurde angemerkt, daß von den den Vorlesungen zugrundeliegenden Kompendien nicht unmittelbar auf die tatsächlich gelesenen Inhalte zurückgeschlossen werden könne. Ferner wurde der Unterschied zwischen älterem und neuerem Naturrecht inhaltlich präzi-
Auflclärung 4/2 e Felix Meiner Verlag, 1989, ISSN 0178-7128
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siert. Unterschiede beständen etwa zwischen Wolff und Kant im Methodischen, besonders jedoch im Inhaltlichen, etwa hinsichtlich des Problemfeldes Leibeigenschaft und Sklaverei. Die Ansicht, daß Freiheit vertraglich veräußerbar sei, werde seit 1770/1790 nicht mehr akzeptiert. Das neuere Naturrecht sei eine Wissenschaft der Menschenrechte und enthielte Menschenrechtskataloge. -In seinem Bericht "Unsocial Sociability and the 18th-Century Discourse of Politics and Society- Natural Law, Political Economy and History of Mankind. Ergebnisse einer Arbeitstagung" wies Hans Erich Bödeker (Göttingen) auf den Einfluß des schottischen Naturrechts insbesondere für das Verhältnis von Naturrecht zu 'commercial society' und zur sich verändernden Anthropologie hin. Erkenntnisleitende Forschungsperspektive sei die Konstruktion eines naturrechtlichen 'Diskurses' nach Hobbes und Grotius als eine und vielleicht sogar bedeutsamste der politischen Sprachen der Frühen Neuzeit. Im Zentrum stehe dabei die Frage nach der "Geselligkeit" als des ersten Prinzips des Naturrechts. Klaus Luig (Köln) stellte seinem Öffentlichen Abendvortrag "Die Wurzeln des aufgeklärten Naturrechts bei Leibniz" eine Anzahl von Fragen voran: Wie kann der Mensch aus eigener Kraft die Leitlinie seines Lebens finden? Welches ist diese Leitlinie? Welchen Normen muß der Mensch folgen? Und wie ist der Kollisionsfall von einzelnem Menschenglück und Gemeinschaftsanspruch zu regeln? Im Unterschied zu Thomasius, der bei solchen Konflikten pragmatisch von Fall zu Fall Lösungen suchen würde, strebe Leibniz ein 'berechenbares' Prinzip an. Angesichts der divergierenden Leibnizinterpretationen versuchte der Vortrag eine „Quadratur der Leibniz-Deutungen" (Luig). Leibniz müsse konzedieren, daß der beste aller möglichen Staaten, über den er immer nur im Irrealis schriebe, nicht realisierbar sei. Daher präsentiere er die Eigentümergesellschaft als die zweitbeste Lösung, deren negative Ausuferungen durch Gottesstaatsvorstellungen, in denen die Glückseligkeit der einzelnen Menschen obenan ständen, abgefedert werden müßten. Leibniz sei ein Theoretiker des Sozialstaats und zugleich ein Verteidiger der Eigentümergesellschaft gewesen -eine Alternative, so die Schlußvolte des Vortragenden , deren erstaunliche Brisanz die Ereignisse der Oktober- und Novembermonate '89 erneut demonstriert hätten. Die Vormittagssektion am Donnerstag (23. November 1989), die dem naturrechtlichen Ländervergleich gewidmet war, eröffnete Harry Dickinson (Edinburgh) mit der Rekapitulation „The Riseand FallofNatural Rights in England, 1778-1820". Gegen die liberale Naturrechtskonstruktion John Lockes, die die Freiheit und Gleichheit der Menschen unterstelle, wurde auf drei Tendenzen aufmerksam gemacht: Erstens auf die konservative Opposition, die von der gegebenen Ungleichheit der Menschen ausginge, von einem Naturzustand vor dem Gesellschaftsvertrag nichts wissen wolle und die positiven Rechte stark mache. Zweitens auf die schottische Moralphilosophie, die im Zuge der Zunahme der Geschichtswissenschaften auf die hergebrachten historischen Rechte rekurriere. Ihr zufolge beruhe Gesellschaft nicht auf Naturrecht und Vertrag, sondern auf dem Herkommen - eine Position, von der aus der späte Edmund Burke die Französische Revolution verurteilen sollte. Drittens schließlich auf den Utilitarismus eines Jeremy Bentham, der Naturrechte als schiere Phantome, als Nonsens und rhetorischen Unsinn geißele. Am Ende dieses Prozesses stehe in England, wie Dickinson festhielt, zwar die Relativierung der Naturrechte einerseits durch historisches Herkommen, andererseits durch den „test of utility", gleichzeitig aber auch die ganz unaufgeregte Forderung nach den Menschenrechten. - Einen Blick auf diese Seite des Kanals warf Wolfgang Schmale (Bochum) mit einem Vortrag über „Das Naturrecht in Frankreich zwischen Prärevolution und Restauration". Das Ancien Regime werde an den Maßstäben, die naturrechtliches Denken bereitstelle, als Despotismus kritisiert. Daher sei das Werden der Französischen Revolution, so die dialektische These, ohne das Naturrecht
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nicht denkbar, aber im weiteren Verlauf der Revolution werde es Opfer der Guillotine, insofern der Verfassungsentwurf des Abbe Sieyes festschriebe, daß Menschsein durch den Gesellschaftsvertrag erst konstituiert werde. In diesem Totalitarismus bleibe von vorgängiger 'Natur' des Menschen nichts übrig. In der Ikonographie der Französischen Revolution trage Justitia vor ihrer Brust als Gorgoneion das Auge der Vernunft. Sinnfällig werde, daß Recht Gewalt sei. ln der Diskussion wurde insbesondere herausgestellt, daß eine Funktionsgeschichte naturrechtlicher Argumentationsweisen bisher Desiderat geblieben sei. - Über den Atlantik führten die Ausführungen von Jürgen Heideking (Washington) zu • The Law of Nature and Natural Rights. Die Positivierung von Naturrecht im Amerika des ausgehenden 18. Jahrhunderts" , in denen die amerikanische Revolution als eine . Verfassungsrevolution" beschrieben wurde. Hervorgehoben wurde jedoch, daß bei aller Tradition von . fundamental rights" der Gleichheitsartikel auf Vorbehalte gestoßen sei, weil er virtuell die Sklaverei in Frage gestellt habe. Eine Besonderheit der amerikanischen Verfassung stelle übrigens das Verhältnis der amerikanischen Einzelstaaten zur Bundesregierung dar. Im Unterschied zu Frankreich, wo 'le droit' Souveränität erheische, scheine der Gesetzgeber in den Vereinigten Staaten auch als eine Gefahr betrachtet zu werden, weswegen ein System von 'checks and balances' die amerikanische Verfassung kennzeichne, der Verfassungsstatus der 'Bill of Rights' als ein .Paramount-Law" alle Einzelgesetze binde und die Gerichtsbarkeit eine starke Stellung innehabe. Die Diskussion galt der sonderbaren Gleichzeitigkeit von naturrechtlichem Denken und rassistischer Gesinnung in Fragen der Negersklaverei, die darüber hätte belehren können, daß 'Mensch' oder 'Natur' durchaus kein factum brut um ist. - Die Vormittagssitzung beendete ein Referat von Reinhard Brandt (Marburg) zu . Hume und Kant". Angestoßen durch Hume und Rousseau markiere die . Krisenschrift" Träume eines Geistersehers ( 1765) Kants Absage an die Metaphysik. Seine Lösung bestehe in einer vorher nicht dagewesenen Trennung einer Metaphysik der Sitten von einer Metaphysik der Natur mit einer je eigentümlichen Gesetzmäßigkeit. Gegen Locke oder Hume müsse festgehalten werden, daß Metaphysik im traditionellen Sinne abgedankt' habe. Für die Rechtsphilosophie folge aus diesem Dualismus, daß sie zu einer Disziplin der reinen praktischen Vernunft werde, weswegen schon aus systematischen Gründen bei Kant von einem 'Naturrecht' nicht mehr gesprochen werden könne. Dadurch ergebe sich aber das Problem, wie aus der Abgelegenheit des mundus moralis die Rechtsbegriffe auf die Lebenswelt der Rechtswirklichkeit hin vermittelt werden können. Die Vernunft dürfe sich nicht allein überlassen bleiben: Daher baue Kant - und hierin liege sein Beitrag zur Neufassung des 'Naturrechts' - die Natur in den Prozeß der Verrechtlichung des menschlichen Zusammenlebens etwa in der anthropologischen Form eines natürlichen . Antagonism" ungeselliger Geselligkeit der Menschen wieder ein. So zwinge die Natur gleichsam den Menschen zu dem, was die Vernunft wolle. In der Diskussion klang die Frage an, woher wir wüßten, daß die Natur nicht diabolisch sei. Die Nachmittagssektion begann mit einem Vortrag von Kristian Kühl (Gießen) über „Naturrechtliche Grenzen strafwürdigen Verhaltens", in dem im Hinblick auf Kants Metaphy sik der Sitten zwei Ansatzpunkte herausgestellt wurden, nämlich die Begrenzung des Rechtsbereichs im allgemeinen sowie die Begrenzung des Strafrechtsbereichs im besonderen. Dabei konnte der Vortragende mit der Kantischen Zurückweisung eines moralisierenden beziehungsweise eines Gesinnungsstrafrechts frappierend aktuelle Bezüge aufweisen. Da die Gesinnung des Subjekts das Recht nichts angehe, solange es sich rechtskonform verhalte, erscheine in diesem Licht die Praxis der Gesinnungsschnüffelei oder das Vermummungsverbot durchaus als problematisch. freilich zeige sich die Grenze von Kants Versuch, Legalität und Moralität als zwei getrennte Bereiche aufzufas-
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sen, etwa in der strafrechtlichen Beurteilung von Mord und Totschlag, da hier Gesinnung als Differenzkriterium fungiere. Anschließend sprach Günter Birtsch (Trier) über „Naturrecht und Menschenrechte. Zur vernunftrechtlichen Argumentation deutscher Jakobiner". Da der Begriff' Jakobiner' in der wissenschaftlichen Diskussion problematisch und fließend sei, da von einem einheitlichen Programm keine Rede sein könne, stellte Birtsch zunächst drei Kriterien allgemeinerer Art auf. Die Revolutionsfreunde setzten sich für Volkssouveränität ein, wollten der 'volonte generale' Geltung verschaffen und befürworteten zu diesem Zweck die Anwendung von Gewalt. Meist beriefen sich die radikalen Jakobiner auf das Naturrecht , auf unumstößliche Vernunftprinzipien, ewige Naturgesetze, auf ein Menschenrecht der Gleichheit u. a. Das Naturrecht diene somit als Probierstein aller Rechts- und Staatsverhältnisse. In der Diskussion wurde vorgeschlagen, 'Naturrecht' unter dem Aspekt einer regulativen Idee für die Gesetzgebung zu betrachten, die von je historisch kontingenten Bedingungen abhängig sei. - Jürgen Wilke (Eichstätt) ging auf die „Entdeckung von Meinungs- und Pressefreiheit a ls Menschenrechte im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts" ein, wobei er die Gewährung der Pressefreiheit als Gnadenerweis beziehungsweise als utilitaristisches Kalkül von der Fassung der Pressefreiheit als eines Menschenrechts in der zweiten, jüngeren Naturrechtsphase abhob. Insbesondere hätten die einschlägigen Schriften von Ernst Ferdinand Klein und Karl Friedrich Bahrdt bewußtseinsbildend gewirkt, bevor dann die Festschreibung der Pressefreiheit in der französischen Verfassung vom August 1789 die Forderung nach diesem Menschenrecht in breiten Schichten des deutschsprachigen Raumes populär gemacht habe. ln der Diskussion wurde darauf hingewiesen, daß gut die Hälfte der Argumente für die 'Preßfreiheit' in der Debatte um Religionsfreiheit im 17. Jahrhundert hervorgebracht worden und daß darüberhinaus der Zusammenhang von Freihandel und Gedankenfreiheit durch Übersetzungen aus dem Englischen im deutschsprachigen Kommunikationsraum präsent gewesen sei. -Am Ende eines langen Tages untersuchte Christof Dipper (Trier) „Naturrechtliche Reformentwürfe für die gewerb liche und agrarische Wirtschaftsordnung". In der Verbindung von Freiheit und Eigentum, der Forderung nach Gewerbefreiheit ('liberte de commerce') und ungehinderter Berufsausübung könne man ökonomisches Gedankengut des jüngeren Naturrechts identifizieren. Freilich trete die naturrechtliche Eigentümergesellschaft den Habenichtsen mit leeren Hä nden entgegen. Daher sei den naturrechtlichen, insbesondere physiokratischen Reformentwürfen, etwa demjenigen Schlettweins, eine besondere Harmonielehre eigentümlich, durch die der Gegensatz von Arbeit und Kapital zugedeckt werde. Dem Naturrecht komme in den Reformentwürfen, so wurde auch in der Diskussion betont, vor allem die Rolle einer Legitimationsinstanz zu. Daß auch die 'Natur' der Frau im 18. Jahrhundert nicht unumstritten war, weiß man nicht nur aus den Schriften von Olympe de Gouges oder der Wollestonecraft. Den Vortrag zu diesem Thema hielt ebenfalls ein Mann. Ulrich Engelhardt (Heidelberg) machte sich nach der Mitgliederversammlung der DGEJ am Freitag (24. November 1989) zu Beginn der Vormittagssektion Gedanken über das Thema „Frauenemanzipation und Naturrecht. Zur normativen 'Vorbereitung' der Frauenbewegung durch die Spätaufklärung". Ausgehend von den einschlägigen Schriften Campes Väterlicher Rath für meine Tochter und von Hippels Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber sowie weiterer Beiträge etwa von Bergk ( 1797), Behr (1804) oder Betty G leim ( 1810) wurde ausgeführt, daß Naturrecht ond Frauenemanzipation in einem Gegensatz- und Spannungsverhältnis zueinander ständen, da Frauen - wie Neger - nicht zu m Verband der Vollbürger gerechnet wurden. Bei Campe diente die polarisierende Geschlechterphilosophie der Festschreibung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung sowie der Abfederung des Trans-
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formationsprozesses von der Stände- zur bürgerlichen Gesellschaft. lnsbesondere durch die Ideologie der Bildung gelinge die Homogenisierung der bürgerlichen Schicht insbesondere hinsichtlich eines kohärenten Lebensstils und Diskussionsmilieus. Im Gegensatz zu der von Campe vertretenen Mehrheitsmeinung spiele von Hippe! dagegen das bürgerliche Gleichheitscredo auch für das Geschlechterverhältnis konsequent durch, was bereits früh die Feststellung veranlaßt hatte, daß die Verwirklichung von Hippels Vorschlägen zur völligen Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft führen würde. In der Diskussion wurde hervorgehoben, daß die Ausführungen Engelhardts zur .halbierten Aufklärung'" auf ein Manko beziehungsweise ein strukturelles Defizit des naturrechtlichen Denkens gegenüber ehe- und familienrechtlichen Themenkreisen verwiesen. - Der weitere Freitagvormittag gehörte der Interferenz von Naturrecht und schöner Literatur. Friedrich Vollhardt (Hamburg) bewegte sich mit seinem Beitrag .Die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts im Zeichen naturrechtlichen Denkens" im Zeitraum zwischen Lichtwers rationalistischem Lehrgedicht Das Recht der Vernunft (1758) und Lessings autonomieästhetischem dramatischen Gedicht Nathan der Weise (1779). Insbesondere galt das Interesse dabei zwei sich ablösenden literarischen Wirkungsstrategien der Aufklärung. Das rationalistische Konzept gerate freilich angesichts der Schwäche der Vernunft, auf die etwa Ovid mit seinem. Video meliora proboque, deteriora sequor" (Metam. 7, 20121) anspielt, in die Krise, und das ästhetische Mitleid der Empfindsamkeit erweise sich als autistisches Selbstgefühl. - Hans Esselborn (Köln) hob in seinem Vortrag zum „Naturrechtsdenken in Jean Pauls Romanen" neben der literarischen Widerspiegelung der Forderung von Rede- und Pressefreiheit und des Rechts der Frauen auf Selbstbestimmung, insbesondere bei der Wahl eines Partners, drei Eigentümlichkeiten des naturrechtlichen Denkens des Romanciers hervor: den Mitleidsbegriff Rousseaus und das damit einhergehende Menschenbild, das Recht auf individuelles Glück und schließlich das Modell einer von Egoismus freien Geselligkeit, das einer auf Eigentum und Gewinnstreben beruhenden Gesellschaft entgegengestellt sei. Auch gingen Jean Pauls Vorbehalte gegenüber Goethes klassischer Autonomieästhetik auf naturrechtliches Gedankengut zurück, das den Gehalt seiner Werkekörper- beziehungsweise leibnähererscheinen ließe. Am Freitagnachmittag standen noch zwei Vorträge auf dem Programm. Ulrich Herrmann (Tübingen) machte in seinen Ausführungen zum Verhältnis von .Pädagogik und Naturrecht im ausgehenden 18. Jahrhundert" einige Argumente für eine pädagogische Anthropologie stark: Der Mensch müsse als ein Wesen aufgefaßt werden, das sich selbst erst durch Erziehung hervorbringe - im Scheitern dieser Möglichkeit bestände seine Freiheit. Daraus folge erstens in Hinsicht auf seine physische Natur die Pflicht, sich am Leben zu erhalten, zweitens in Hinsicht auf seine Vergesellschaftung der Zwang, seine Bedürfnisse zu bearbeiten und deren Befriedigug durch Arbeit zu erlangen, und drittens schließlich in Hinsicht auf seine moralische Natur das Recht auf Bildung, weil der Mensch nur durch sie seiner Bestimmung gemäß leben könne. - Mit seinen Bemerkungen .Zur Kontinuität des Naturrechts im 19. Jahrhundert" versuchte Diethelm Klippe! (Gießen) das Vorurteil zu korrigieren, daß das Ende des Naturrechts einerseits mit der Kodifikation des Rechts und dem damit einsetzenden Rechtspositivismus, andererseits mit Kants Kritizismus, der den Glauben an unwandelbare Normen zerstöre, gekommen sei. Gegen den 'Tod des Naturrechts' spreche aber allein schon die Tatsache, das eine Bibliographie zum Naturrecht im 19. Jahrhundert mehr als 300 Titel verzeichne. Diese Beobachtung führe vielmehr zu der Frage, für welche aktuellen Probleme man sich im 19. Jahrhundert Lösungen durch Rekurs aufs Naturrecht v~rsprochen habe. Klippe! gab dazu Beispiele aus den Bereichen des Arbeitsrechts, der Theorie des geistigen Eigentums sowie der Menschenrechte. Thesenartig wurden abschließend drei Funktionen des Naturrechts im 19. Jahrhundert zur Diskussion gestellt. Erstens seien Naturrecht und Rechtsphilosophie
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politisch gesehen Theorien des Liberalismus, weswegen staatlichersei ts gelegentlich die Aufhebung naturrechtlicher Lehrstühle erwogen wurde. Zweitens sei der universelle Anspruch des Naturrechts, ein höherwertiges Recht als das positive darzustellen, im 19. Jahrhundert nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen. Drittens fungiere das Naturrecht auf den angesprochenen Feldern als ein Medium, mit dem die Juristen versucht hätten, neue Entwicklungen in Rechtsbegriffe zu transponieren. Das Naturrecht bilde mithin eine Gelenkstelle zwischen Rechtswissenschaft und sozialer Wirklichkeit. Erst Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhundert werde die Rechtsphilosophie beziehungsweise das Naturrecht endgültig von der Wissenschaft des positiven Rechts abgelöst. In einem kurzen Schlußwort hob Otto Dann (Köln) den Eindruck hervor, daß durch die eingehende Beschäftigung während der drei Tage das Bild des Naturrechts im 18. Jahrhundert vielfältiger, freilich auch unübersichtlicher geworden sei. Insbesondere habe sich aber eine Pragmatik des Naturrechts abgezeichnet. Das praktische Umgehen und der Gebrauch naturrechtlicher Argumente sowie die Konkretisierung von Naturrecht in Grund- und Menschenrechten sei in den unterschiedlichen Vorträgen immer wieder thematisiert worden, so daß es eigentlich erstaunen müsse, daß im späten 19. und im 20. Jahrhundert das naturrechtliche Denken so weit hinter das positive Recht zurückgetreten sei. Jetzt freilich öffne eine 'theory ofjustice' ein ganz neu gefärbtes Verständnis für ein Recht der Natur. - Die Vorträge dieser Tagung werden, wie schon in den Vorjahren, in den Studien zum achtzehnten Jahrhundert, der Schriftenreihe der DGEJ im Felix Carsten Zelle (Siegen) Meiner Verlag, Hamburg, herausgebracht.
REZENSIONEN
ERNST FEIL, Antithetik neuzeitlicher Vernunft.• Autonomie - Heteronomie" und . rational - irrational" (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 39), Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1987, 205 S., 52,00 DM. Der Band enthält zwei getrennte Beiträge, deren formale Gemeinsamkeit darin besteht, daß es sich in beiden um Begriffsgeschichte handelt, die aber auch darin übereinstimmen, daß sie eine gemeinsame Absicht verfolgen. Der Verfasser formuliert zum Abschluß in Frontstellung gegen den modernen Vemunftabsolutismus, dem er im Hinblick auf beide Gegensatzpaare einen verschwommenen, unscharfen Gebrauch der Begrifflichkeit vorwirft, zu welcher Einsicht er in seiner Untersuchung führen will: .Eine disjunktive Verhältnisbestimmung von 'Glaube' und 'Vernunft' bedarf dringend einer grundsätzlichen Überprüfung." (200) Diese Folgerung macht er durch eine sorgfältige, auf ein reiches Quellenmaterial gestützte Beweisführung plausibel, die am Beispiel der beiden Begriffspaare eindrucksvoll zeigt, welche wertvollen Aufschlüsse eine begriffsgeschichtliche Untersuchung erbringen kann. Im ganzen ist das Buch eine spannende Lektüre. Sie läßt den Leser allerdings mit einem wesentlichen Einwand gegen mögliche praktische Folgerungen aus dem Ergebnis zurück: Läßt sich eine Begriffsentwicklung noch zurückdrehen, wenn sie vom Präzisen zum Verschwommenen, von einer eng begrenzten technischen Bedeutung zu einer verallgemeinerten, übertragenen fortgeschritten ist? Begriffsentwicklungen spiegeln geistesgeschichtliche Bewegungen; so wäre die eigentliche Auseinandersetzung in dem oben zitierten Sinne - es geht um eine uralte philosopbischtheologische Fundamentalfrage - mit den Vertretern des modernen Rationalismus über die gegenseitigen Denkvoraussetzungen zu führen. Klare Begriffsdefinitionen sind dazu allerdings eine unabdingbare Voraussetzung. Für das Begriffspaar .Autonomie - Heteronomie" (Teil 1, 25-112) ist der doppelte Nachweis entscheidend, daß .Autonomie" ein sehr alter, ursprünglich spezifisch politischer Begriff ist - bei Tbukydides bedeutet er .die innere Selbständigkeit einer Stadt unter der Oberherrschaft einer anderen" (33) - und daß er im Sinne einer eingeschränkten Selbstbestimmung noch weit bis in das 19. Jahrhundert hinein bekannt war (34 ff.). (Zur Verwendung eines verallgemeinerten Autonomiebegriffs bereits bei F. Chr. Baur vgl. aber F. W. Graf, Rez., ThLZ J 13, 1988, 219). Die Formulierung der Antithese zu .Heteronomie" findet sieb erst in Kants .Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ( 1785). Bei der Wahl des Begriffes .Autonomie" zur Grundlegung der Ethik hat Kant seine eingeschränkte Konnotation durchaus im Auge: Autonomie meint Freiheit in Bindung an das allgemeine Sittengesetz. Dagegen ist .Heteronomie" die Bestimmung des Willens durch ein Objekt für das Gesetz seines Handelns (44 ff.). Daß Kant die ursprüngliche politische Bedeutung des Begriffes .Autonomie" bekannt war, zeigt seine Verwendung in .Zum ewigen Frieden" ( 1795), wo er die innere Selbständigkeit eines Staates meint, ebenso wie die innere Freiheit, nur nach der Vernunft zu urteilen, die er im .Streit der Faktultäten" nur der philosophischen Fakultät zuspricht (48-51). Im gieichen Sinne verwendet Kant den Begriff .Autonomie" für den in Bindung an das allgemeine Gesetz freien Willen im Bereich der praktischen Vernunft und auch für die von Empirie und Erfahrung unabhängige Freiheit der ästhetischen Urteilskraft. Der Verfasser betont, daß auch im „Opus postumum" keine andere Verwendung nachzuweisen ist (61-63). Wichtig ist dem Verfasser, was Kant über Autonomie im Zusammenhang mit der Religion sagt. Das Postulat des Daseins Gottes ergibt sich für Kant aus der moralischen Aufklärung 412 C> Felix Meiner Verlag, 1989, ISSN 0178-7128
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Teleologie, denn das moralische Gesetz führt zum Schluß auf eine „moralische Weltursache". In diesem „Vernunftglauben" ist aber die Selbstgesetzgebung (Autonomie) des moralischen Erkenntnisvermögens nicht aufgehoben. Gerade deshalb wird in diesen Überlegungen von Kant nicht mehr von „Autonomie" und ,.Heteronomie" gesprochen. Der Verfasser verfolgt dann weiter die Rezeptionsgeschichte Kants und kommt zu dem Schluß, daß die differenzierte Verwendung der Begriffe „Autonomie" und „Heteronomie" bei Kant von der gängigen Kantrezeption und -interpretation nicht wahrgenommen worden ist, die den Begriff „Autonomie" vielmehr als absolute „Souveränität" des Menschen aufgefaßt hat. Er schlägt vor, zu der speziellen Bedeutung im Sinne Kants zurückzukehren, wobei die Frage offenbleiben könne, ob das dann vorgegebene Sittengesetz von Gott her definiert, als Naturrecht aufgefaßt oder von den Menschenrechten her konzipiert werde ( 112). Ebenso aufschlußreich ist die Begriffsgeschichte von „Rational - irrational" (Teil II, 113- 200) (in ThLZ 1988 übergangen). Auch hier ist die Absicht des Verfassers, einen gängigen Sprachgebrauch - „irrational" = unvernünftig ist vom Standpunkt des kritischen Rationalismus aus eine abwertende Bezeichnung-dadurch zu widerlegen, daß die ursprüngliche und damit allein zutreffende Bedeutung von „irrational" aufgewiesen wird. In deutlicher Korrektur des entsprechenden lückenhaften HWS-Artikels wird nachgewiesen (118 ff.), daß der Ursprung des Begriffes „irrational" =griechisch alogos in der antiken Mathematik liegt, und zwar als Bezeichnung für nicht durch ganze Zahlen oder Brüche aus solchen ausdrückbare Zahlenverhältnisse (wie das Verhältnis von Seiten und Diagonale im Quadrat). Auch hier plädiert der Verfasser dafür, diese ursprüngliche Bedeutung bei der Verwendung des Begriffes zu berücksichtigen ( 123). Die Herkunft des üblichen Gebrauchs von „irrational" =ohne Vernunft wird als umgangssprachlich angesehen und zuerst bei Herbert von Cherbury (1581-1648) entdeckt (ebd.) Doch ist nach Ansicht des Verfassers der Begriff im 17. und 18. Jahrhundert für den philosophischen Bereich bedeutungslos ( 125). Den Übergang zu einem breiten metaphorischen Gebrauch vermutet der Verfasser bei F. Schlegel (1772-1829), wo er in den Fragmenten zur Philologie und zur Poesie und Literatur anzutreffen ist. Obwohl Schlegel den mathematischen Gebrauch offenbar gekannt hat, hat die häufige Dunkelheit seiner Diktion die spätere Verallgemeinerung begünstigt. Für den gesamten Zeitraum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ergibt sich aber im ganzen (berücksichtigt werden Fichte, Schelling, Schleiermacher, Hegel und Schopenhauer), daß der Begriff metaphorisch durchweg im Bewußtsein seiner mathematischen Herkunft gebraucht wird: zur Bezeichnung eines Restes, der bei der Annäherung des Verstandes und einer Aussage an das Unendliche bleibt. Die Herkunft der allgemeinen Verwendung des Begriffes „irrational" und ihres Überganges zu der Bedeutung eines Gegensatzes zur rationalen Weltbetrachtung findet der Verfasser bei den Neukantianern, umfassend zuerst bei Kuno Fischer ( 158 ff.), weiter bei Windelband und Rickert. Bei anderen Autoren ist er peripher. Bei Max Weber, dessen Ziel die objektive Rationalisierung der unterschiedlichsten Lebensvollzüge ist, ist „irrational~ ein Handeln, bei dem die zweckrationalen Erwägungen weitgehend ausgeschaltet sind. Bei ihm wird der Begriff sehr differenziert, aber durchweg negativ, verwendet. Bei Popper ist der Begriff eindeutig zum Gegenbegriff von „rational" geworden, und zwar für einen erkenntnistheoretischen Gebrauch. Wo auf rationales Wissen verzichtet wird, bei Gefühlsentscheidungen, aber auch erkenntnispsychologisch etwa bei der Grundentscheidung für den kritischen Rationalismus, die sich durch Argumente nicht mehr begründen läßt, ist von irrationalen Aspekten zu sprechen. Popper bezeichnet seinen .Glauben an die Vernunft" von seinem Ausgangspunkt her als „irrational", aber zugleich als moralisch, und begründet dies mit den Gefahren des Irrationalismus.
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Als Ergebnis seiner Untersuchung formuliert der Verfasser auch hier die Forderung, .daß der gegenwärtige Sprachgebrauch (weil zwei differierende Verwendungsweisen vorliegen) nicht mehr fortgeführt werden sollte." (193) Insbesondere geht es ihm darum, den Begriff .irrational" nicht mehr für Werte wie den Glauben zu gebrauchen ( 196). Unter Aufnahme eines Vorschlages von H. Albert (vgl. 195 f.) schlägt er vor, den Begriff nur noch zu verwenden, wenn es als Antithese auch den . rationalen Glauben" gebe. Dies sei besonders auf den .theologischen Glauben" anzuwenden (auf R. Otto wird en passant als denjenigen verwiesen, der den Begriff .irrational" positiv auf die Gottesidee bezogen hat, wovon sich der Verfasser jedoch wegen des heute allgemein üblichen negativen Verständnisses des Begriffes distanziert). Dabei kommt es dem Verfasser insbesondere darauf an, die Antithese von Glauben und Wissen zu überwinden. Im ganzen handelt es sich um eine sehr beachtliche Arbeit, die insbesondere auf die Bedeutung der Philosophie für die Theologie und umgekehrt aufmerksam macht. Henning Graf Reventlow (Bochum)
GUNTHER FRANZ (Hg.). Aufklärung und Tradition, Kurfürstentum und Stadt Trier im 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog und Dokumentation. Stadtbibliothek Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Trier, Spee-Verlag Trier 1988, 276 S„ 37,00 DM. Der Begleitband zu einer Ausstellung über Aufklärung und Tradition in Kurtrier im 18. Jahrhundert, welche die Trierer Stadtbibliothek in Zusammenarbeit mit der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars anläßlich einer Tagung der Gesellschaft für die Erjorschung des 18. Jahrhunderts zum Thema Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland im November 1988 ausgerichtet hatte, umfaßt eine breite Palette größerer und kleinerer Beiträge unterschiedlicher Qualität zum Profil der Aufklärung im Kurerzstift Trier. Aus verschiedenen Einzelstudien Trierer Wissenschaftler über die Universität Trier im Zeitalter der Aufklärung, die Theologie und Priesterausbildung unter Kurfürst Klemens Wenzeslaus, den Febronianismus, über Liturgie und Volksfrömmigkeit, das gebildete Trierer Bürgertum sowie das Bibliotheks- und Buchwesen ergibt sich ein repräsentatives Bild des Kurfürstentums Trier im Zeitalter der Aufklärung, welches das Klischee von der Rückständigkeit der Reformen in den geistlichen Fürstentümern des Reiches eher zu bestätigen scheint; der Hinweis des Herausgebers, Ausstellung und Katalog leisteten gleichzeitig einen Beitrag zum 200. Geburtstag der Französischen Revolution, ist daher gewiß cum grano salis zu verstehen: Die Geschichte des Erzbistums unter seinen letzten Kurfürsten birgt in der Tat kaum Hinweise auf den revolutionären Umbruch am Ende des 18. Jahrhunderts. Die beharrenden Kräfte dominierten und verhinderten es weitgehend, daß der Geist der Aufklärung in Trier Wurzeln schlagen und mündige Bürger hervorbringen konnte. Die Ergebnisse einer 1987 in Trier eingereichten Dissertation zum Thema Universität und Aufklärung-Die Beispiele Trier, Halle und Göttingen. Ein Vergleich, die ihr Verfasser M. Trauth in einem lesenswerten Expose für den vorliegenden Band zusammengestellt hatte (S. 37-74). sind hier gewiß aufschlußreich: Die Trierer Universität hat offenbar nur schwache Impulse von der Aufklärung empfangen, da der Einfluß der jesuitischen Tradition an den geistlichen Fakultäten übermächtig war; daran vermochte die Aufuebung des Jesuitenordens im Jahre 1773 nichts zu ändern. Die Aufklärung konnte die Alma Mater Trevirensis auch nicht über die weltlichen Fakultäten Jura und Medizin erobern, führten diese doch, einer dürftigen finanziellen Ausstattung zufolge, ein küm-
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merliches Dasein. Überhaupt schien die Aufklärung in Kurtrier weniger ein öffentliches Anliegen als vielmehr die Privatsache einiger weniger Gebildeter gewesen zu sein. Die Trierer Intellektuellen rezipierten vorwiegend Ideen der deutschen Aufklärung. Johann Hugo Wyttenbach hat, wie seine private Korrespondenz belegt, beispielsweise intensiv Kants philosophische Schriften studiert (vgl. W. Gose, S. 174-188); auch einzelne Geistliche haben sich in ihrer freien Zeit mit dem geistigen Aufbruch ihrer Zeit auseinandergesetzt - eine Registrierung der Bestände der ehemaligen Trierer Dombibliothek hat nämlich ergeben, daß "gerade durch den hohen Anteil an nicht planmäßig erworbener Literatur(...) im Bestand der Dombibliothek neben einem überraschend gut ausgebauten Grundstock an theologischen, historischen und philosophischen Standardwerken ein breites Spektrum der wissenschaftlichen Forschungs- und Tagesliteratur der Epoche des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vorhanden" ist (vgl. M. Embach, S. 135-156, hier: S. 137). Hinter den Reformen, welche die letzten Trierer Kurfürsten ins Werk setzten, stand im allgemeinen weniger aufgeklärtes Denken als vielmehr der Geist des Absolutismus: De r Febronianismus (vgl. G. Franz, S. 101 - 127), eine kirchliche Reformbewegung, dessen Initiator der Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim war, zielte darauf ab, die Position der Bischöfe gegenüber dem Papst zu stärken und auf diesem Wege den Ausbau der Landesherrschaft geistlicher Fürsten zu fördern. Das Selbstbewußtsein der Trierer Kurfürsten schlug sich in zahlreichen Korrekturen nieder, die Litu rgie und Volksfrömmigkeit spürbaren Veränderungen und Einschränkungen unterwarfen (vgl. A. Heinz, S. 195- 222). In der Einführung des Felbigerschen Katechismus und eines kurtrierischen Gesangbuchs, der Reduzierung lokaler Kirchfeste und in Beeinträchtigungen des Wallfahrtswesens spiegeln sich einerseits vorsichtige Kritik an augenscheinlich überflüssigem und abergläubigem Brauchtum und andererseits das absolutistische Streben der Trierer Erzbischöfe, Kirche und Religion der Kontrolle des Landesfürsten zu unterstellen. Die Lektüre des Ausstellungskatalogs zur Geschichte des Kurfürstentums Trier im 18. Jahrhundert vermag eine Fülle von Eindrücken zur Geschichte der Aufklärung im katholischen Deutschland zu vermitteln; es bleibt dem Leser indessen vorbehalten, diese Impressionen zu einem Tableau zu bündeln und eine These über das Format der Aufklärung im Kurerzbistum Trier zu wagen - die vorstehende Präsentation des Begleitbandes zur Ausstellung Aufklärung und Tradition in Kurtrier ist der Versuch einer Synthese. Franziska Wein (Düsseldorf)
MAX GAL LO, Robespierre, Klett-Cotta Stuttgart 1989, 267S„ 46,00DM. Historiker, die sich mit den Biographien von revolutionären Virtuosen beschäftigen, stehen vor dem kaum lösbaren Problem, jene biographischen Besonderheiten zu finden, die diese geschichtsmächtigen Akteure mit Notwendigkeit in den Bannkreis von revolutionären Taten und Worten gestoßen haben. Allzu offenkundig lassen nämlich die Dynamik und Eigenlogik von revolutionären Situationen und Prozessen die biographischen Besonderheiten dieser revolutionären Akteure in den Hintergrund treten. Die legitime Frage, inwieweit die singulären Lebenswelten von revolutionären Virtuosen ihre Motive, Handlungen und programmatischen Erklärungen nicht doch insgeheim determiniert haben könnten, stößt nicht nur auf eine fast immer spärliche Quellenlage, welche nur zu vagen Vermutungen über persönliche Antriebe und verborgene Erlebnisse der untersuchten Akteure führen kann, sondern läßt auch berechtig1e Zweifel aufkommen,
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ob die Offenlegung von individuellen, oft genug auch verborgenen Antriebskräften dieser revolutionären Virtuosen ihr Tun und Lassen verläßlich zu erklären vermag. Oft genug endet die biographische Spurensuche damit, daß ihren Worten und Taten persönliche Beweggründe untergeschoben werden, die vergessen lassen sollen, daß sie tatsächlich dem Charisma ihrer Ideen, Vorstellungen und Hoffnungen verfallen waren und dementsprechend auch handelten. Die Suche nach den geheimen biographischen Antrieben von revolutionären Akteuren führt in diesem Falle nicht zur Aufklärung unbemerkt gebliebener Tatbestände. Vielmehr wird den biographischen Besonderheiten eine Determinationslogik zugeschrieben, die sie bei näherem Zusehen nicht besitzen. Die biographische Spurensuche verkümmert bei diesem Vorgehen zur oberflächlichen Enthüllungsstory, die den revolutionären Taten und Worten von geschichtsmächtigen Akteuren nur noch die Absicht vordergründiger ideologischer Verhüllung zugestehen. Max Gallo hat mit seiner schon 1968 unter dem Titel "L'homme Robespierre. Histoire d'une solitude" erschienenen biographischen Studie ein Musterbeispiel für dieses Vorgehen geliefert. Wie der französische Titel schon anzeigt, soll die Einsamkeit des Menschen Robespierre dem Leser geschildert werden. Beabsichtigt wird, dem Leser einen von inneren Ängsten und Konflikten zerrissenen Menschen Robespierre zu zeigen, einen Robespierre, der ansonsten hinter der Charaktermaske des tugendhaften, unbestechlichen, der abstrakten Vernunft verfallenen und terroristischen Aktionen verpflichteten revolutionären Virtuosen, wie ihn die Historiographie gezeichnet hat, verborgen geblieben wäre. Gallo möchte nicht nur zeigen, daß diese von Angst, Einsamkeit, Empfindlichkeit, Stolz, Ruhmsucht und Autismus geprägte Person durch eine qualvolle Kindheitserfahrung ihre entscheidende Prägung erfahren haue, sondern er behauptet darüber hinaus, daß ohne Rückgriff auf dieses singuläre Kindheitstrauma der revolutionäre Virtuose Robespierre in seinen Worten und Taten nicht zureichend verstanden werden könne. Die Entschlüsselung der Biographie Robespierres soll zum Verständnis der Charaktermaske des tugendhaften Robespierre führen. Der Zugriff auf die verborgenen biographischen Tiefen der Person Robespierres lasse erahnen, so suggeriert Max Gallo, wie verzerrt das Portrait des tugendhaften Robespierre gewesen sein muß, das die zwischen Lob und Verdammnis schwankende Revolutionsgeschichtsschreibung bisher von ihm entworfen hatte. Das standesunwürdige Betragen seines Vaters, der den sechs Jahre alten Maximilien, seine Mutter und seine Geschwister im Stich ließ, habe einen Schuldkomplex bei seinem Sohn hinterlassen, der für diesen zum alles entscheidenden Schlüsselerlebnis geworden sei. "Maximilien muß diese Wunde, diese erdrückende Erbschande, die auf ihm lag, tief empfunden haben. Er fühlt sich schuldig für seinen Vater, dessen Gedächtnis er auslöschen muß und den er verleugnet, indem er ein radikal entgegengesetztes Verhalten an den Tag legt. Psychologisch gesehen hat er keine andere Wahl, als die Sorglosigkeit, den Leichtsinn und die Prinzipienlosigkeit seines Vaters durch Pflichtbewußtsein, Würde und Tugend zu ersetzen(.. .) Seitdem konnte Maximilien nur noch ein Mann der Ordnung werden(...] Er muß die Schuld seines Vaters, die auf ihn übergegangen ist, auslöschen, zunächst weil erder Sohn ist, aber auch und vor allem weil er sich in Beziehung auf diesen Vater, den er wie seine Umgebung verachtet, schuldig fühlt. Hat nicht auch er irgendeinen unbekannten Fehler begangen, der den Vater davongejagt hat? So kommt Maximilien dazu, sich selbst anzuklagen und für schuldig zu halten, weil er seinen Vater zugleich liebt und haßt.~ (S. 25-26) Dieses schlichte psychoanalytische Erklärungsmodell hat den großen Vorzug, daß es alle Brüche und Kontinuitäten, alle erwarteten wie unerwarteten Stetigkeiten und Schwankungen in der revolutionären Karriere Robespierres gleichermaßen zu erklären vermag. Eine Erklärung allerdings, die keiner Falsifikation sich auszusetzen braucht, besitzt nur geringen Erkenntniswert. Oft läßt die vom Biographen
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inszenierte Vorstellungskraft selbst diesen geringen Erkenntnisgewinn vergessen. Gallo demonstriert auf diesem Felde eine beträchtliche Phantasie, die den Leser in Atem hält. So läßt Max Gallo Kindheit, Jugend, Ausbildung und Beruf seines Helden im Schatten des eingangs angeführten Schuldkomplexes absolvieren. Gallo gesteht selbst, daß die Lebensbahn des jungen und erfolgreichen Advokaten Maximilien Robespierre durchaus von durchschlagendem Erfolg gekrönt war. Trotz der gebrochenen Familienverhältnisse erwirbt Robespierre ein Stipendium für die Ausbildung am berühmten College Louis-leGrand, die er mit Glanz und Auszeichnung besteht. Sie mündet in einen bemerkenswerten beruflichen Abschluß ein, nämlich seine Einschreibung (1781) als Advokat beim Parlament von Paris. Auch seine Rückkehr nach Arras ist von persönlichen und beruflichen Erfolgen gekennzeichnet. „Mitte November 1785 scheint vor Maximilien Robespierre, dem gefeierten Akademiemitglied, dem geistlichen Richter und Advokaten, der sich schon einen Namen gemacht hat, das ruhige und behäbige Leben eines Provinzadvokaten zu liegenu (S. 43). Gallo meint, daß diese Erfolge Robespierre nur zu einer äußeren Anpassung veranlaßt hätten, hinter der jedoch die nicht ausgetragenen Ängste und Schuldkomplexe seiner Kindheit schlummerten. Erst ein Rechtsstreit, in dem Robespierre gegen die einflußreichen Benediktiner von Arras Stellung bezog, habe ihn aus seiner behaglichen Advokatealaufbahn geworfen. Diese von ethischen Gerechtigkeitsvorstellungen geprägte Kehrtwendung, die den angesehenen Robespierre zunehmend in scharfe Opposition auch zu der einheimischen Honoratiorenschicht brachte, stieß ihn in einen Konflikt, der sich soweit verschärfte, daß Robespierre seine Zukunft nur noch in einer politischen Karriere gesichert sah, nämlich der eifrig betriebenen und schließlich auch durchgesetzten Wahl zum Abgeordneten des Dritten Standes, der in Versailles Anfang Mai J789 seine ersten revolutionären Erfahrungen zu sammeln begann. Dieser berufliche wie geistige Einschnitt in der Biographie Robespierres weist zwar dramatische Züge auf, die jedoch von vielen anderen Abgeordneten seiner Zunft und Herkunft geteilt wurden und auch für eine im revolutionären Umbruch befindliche Gesellschaft durchaus typisch sind. Daß Robespierre in seinem Wahlkampf in Arras sich an die Wählerschicht des Dritten Standes wandte, diese als arme und benachteiligte Schicht begriff und sie als Anhängerschaft gewinnen konnte, demonstriert nur sein schon zu dieser Zeit entwickeltes realitätsnahes Machtkalkül und verweist auf seine im Geiste Rousseaus geschulten ideologischen Fixierungen. Einen verdrängten Schuldkomplex als Ursache für diese Kehrtwendung anzuführen, besagt wenig und wirkt deplaziert. „Sein Vorgehen bringt ihm Drohungen und Haß ein, so daß seine Umgebung beunruhigt ist und ihm Mäßigung empfiehlt. Aber er geht ganz in diesem Kampf gegen die Welt auf, in dem er endlich auf Seiten seines davongelaufenen Vaters stehen kann, der mit allen Konventionen gebrochen hat. Endlich darf er sich als Mann fühlen, weil er nicht mehr der Verräter seines Vaters ist" (S. 52-53). Noch zuvor hatte Gallo seinen Helden als strebsamen Musterschüler gezeichnet, der seine Schuldkomplexe durch berufliche Anerkennung zu kompensieren trachtete. So gesehen vermag Gallo alle biographischen Wendepunkte Robespierres immer mit dem postulierten Kindheitstrauma als Erklärungsmuster zu deuten. Dabei bleibt es gleichgültig, ob Robespierre Anpassung oder Rebellion wählt, Entscheidungen im Wohlfahrtsausschuß herbeiführt oder aufgebrochenen Revolten der sansculottes in Paris ausweicht, sich dem Terror der Tugend zur Ausschaltung seiner Machtrivalen verschreibt oder blind der Legalität von Verfassungsnormen vertraut, statt sich den radikalen Losungen des Jacques Roux anzuschließen. Unter diesen Vorzeichen verkümmert die Interpretation zur bloßen Beschwörung von psychoanalytischen Metaphern. Selbst die Fixierung Robespierres auf bestimmte revolutionäre Glaubensartikel wie die ideologische Erhöhung des peuple als transzendente Berufungsinstanz wird von Gallo als Beleg für seine These vom prägenden Kindheitstrauma angesehen. „Dieses
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idealisierte und mit allen Tugenden begabte Volk[ ...) ist in seiner großartigen Abstraktion eine Art Vater für ihn. Es wird ihm mythischer Lebensspender und Quelle seiner Tapferkeit und ersetzt so in seiner Unfehlbarkeit, aber auch in seiner Unfaßbarkeit den wirklichen Vater, der ihm fehlt und den man immer nur kritisiert und getadelt hat. Maximilien jedoch muß ihn verteidigen und muß sich vor ihm rechtfertigen, da er ihn zu verraten fürchtet. Und er hat ihn ja auch verraten, als er mit den Feinden seines Vaters lebte und paktierte. Er muß seinen Vater rächen, 'einmal das Volk rächen', 'diesen rührenden und geheiligten Namen verteidigen', diesen im Volk verkörperten Vater verteidigen gegen die 'gotteslästerlichen Verleumdungen'." (S. 86) Man gewinnt den Eindruck, daß dieser angebliche Schuldkomplex Robespierres selbst zur Obsession von Max Gallo avanciert, so häufig (beispielsweise S. 21, 22, 25, 34, 53, 68, 79, 86, 111, 134, 185,191, 204) wird er beschworen. Erstaunlich bleibt es, daß der quellenmäßige Beleg (S. 26ff.) für diese Hauptthese dürftig ausfällt und durchaus nicht diese weitgehenden Schlußfolgerungen nahelegt. Gallo zitiert lediglich einige Erinnerungen der Schwestern von Robespierre, die ihren Bruder als schweigsames, ernstes, sensibles Kind schildern, das auch als Heranwachsender die ihm zugesonnenen Pflichten für die Familie gewissenhaft erfüllte. Ob diese Eigenschaften als prägende Disposition für eine revolutionäre Karriere gelten können, muß der Phantasie des Lesers überlassen bleiben. Klaus-Georg Riegel (Trier)
FRIEDRICH GEDIKE, Über Berlin. Briefe" Von einem fremden" in der Berlinischen Monatsschrift 1783-1785. Kulturpädagogische Reflexionen aus der Sicht der .Berliner Aufklärung", hg. von Harald Scholtz unter Mitwirkung von Ernst Kröger (Wissenschaft und Stadt. Publikationen der freien Universität Berlin aus Anlaß der 750-Jahr-Feier Berlins, Bd. 4) Colloquium Verlag Berlin 1987, XI und 183 S., 58,00DM. Die Berlinische Monatsschrift ist sicher eines der bedeutendsten Organe der deutschen Spätaufklärung. Die in ihr vom November 1783 bis Februar 1785 erschienenen Briefe "von einem fremden" über Berlin sind ein ausgezeichnetes sozial- und kulturgeschichtliches Portrait Berlins im Gewand einer in Briefform geschriebenen Reisebeschreibung. Der Rezensent hat die hier angezeigte, nahezu vollständige Edition des schwer zugänglichen Originaltextes (die BM ist in kaum einer Bibliothek vollständig verfügbar) mit großem Interesse gelesen. Die Programmatik einer Spätaufklärung, die um praktische Gesellschafts- und Lebensreformen bemüht war, wird durch die Quelle plastisch veranschaulicht. Der Leser erhält detaillierte Informationen über Bevölkerung, Ökonomie, Baukunst, Baupolitik, das öffentliche und private Leben, das Selbstverständnis der Berliner Aufklärung, das Theater, den Zustand der Literatur oder auch die Lebensweisen der verschiedenen Stände. Er erfährt etwas über zurückgehende Eheschließungen und hohe Mieten (S. 16), den Pfusch am Bau und wie man auf dem Markt betrogen wird (S. 97). Die .Briefe" berichten von gefängisartigen Schulgebäuden, der fehlenden Kanalisation und damit einhergehenden verheerende hygienische Zustände (S. 20): .Die Straßen sind, trotz ihrer Breite, so häßlich, kotig und stinkend wie in Paris." (S. 22) Ganz sicher sind die . Briefe" eine wertvolle Quelle zur Mentalitätsgeschichte Berlins am Ende des 18. Jahrhunderts. Das Interesse des Berichterstatters richtet sich auf private Wohltätigkeit und öffentliche Armenfürsorge, Gesangbuchstreitigkeiten und die geistige Einstellung von Orthodoxen und Liberalen. Auch registriert der Autor beispielsweise: . Es gibt ungemein gescheite Leute unter Bürgern, Handwerkern, Soldaten, die scharf und
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richtig nachdenken und sich trefflich ausdrücken.'' (S. 42) . Frauenzimmer und Offiziere haben hier wichtige Bücher gelesen, welche in unseren Gegenden [gemeint ist München] ja leider kein Professor und kein Geistlicher, die doch wohl zu den Gelehrten gehören wollen, dem Namen nach kennt.'' (S. 93) „Alles ist hier tätig, dabei nicht sklavisch, nicht übertrieben demütig; im Ganzen ist man mehr ernsthaft als laut lustig und ganz und gar nicht schwatzhaft." (S. 42) Gegenüber diesem positiven Blick auf die aufgeklärte Hauptstadt werden auch die „verabscheuungswürdigen" Fehler der Metropole Berlin eingehend gebrandmarkt. Der Autor resoniert u. a . über .niedere Gewinnsucht" (S. 96), „Bestechlichkeit, Untreue bei öffentlichen Entreprisen" (S. 97), „mutwillige Bankrotte" (S. 98), . von der Übermacht des Geldes" (ebd.) und den unglücklichen Folgen des Zahlenlottos. Diese Kritik ist dem moralischen Impetus der Aufklärung verpflichtet und bekommt die sozialen Ursachen kaum in den Blick: . Aus Geldsucht[.. .] verkaufen hier Mütter ihre Kinder in Spinnereien,[...] Aus Geldsucht geben sich die armen weiblichen Geschöpfe preis, [. . .] Aus Geldsucht sind die freien Plätze mit Höker- und Trödelbuden, die Brücken bei Tage zur unglaublichen Beschwerde der Fußgänger mit Fischenden, zur Nachtzeit mit Bettlern und die schönsten einsamen Spaziergänge des Tiergartens mit H-ren besetzt." (S. 99 f.) Ausgiebig wird das Bildungswesen von den Elementarschulen bis zur Universität (unter Einbeziehung der Mädchenbildung und der Hofmeistererziehung) behandelt (S. l 03-141 ). Spätestens beim Lesen dieser Passagen werden informiertere Zeitgenossen den ursprünglich anonymen Verfasser der Briefe erraten haben (vgl. Knüppeln, J . F.: Büsten berlinischer Gelehrten und Künstler mit Devisen, Leipzig 1787, S. 101), denn die entsprechenden Passagen zeugen von hoher pädagogischer Sachkompetenz und detailliertem Insiderwissen. Für die neuere Forschung hat der Herausgeber und Kommentator der hier angezeigten Edition, der Berliner Erziehungshistoriker Scholtz, die Verfasserschaft des 29jährigen Gymnasialdirektors und Herausgebers der Berlinischen Monatsschrift Gedike schon in einem 1965 erschienenen Aufsatz nachgewiesen (Friedrich Gedike, 1754-1803, ein Wegbereiter der preußischen Reform des Bildungswesens, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 13/14, Berlin 1965, S. 121181). - Gedike wurde als führender Vertreter der Berliner Aufklärung (u. a.: Mitglied im Montagsklub und in der Mittwochsgesellschaft, 1784 Oberkonsistorialrat) 1787 als Gründungsmitglied ins Oberschulkollegium berufen. Die von ihm dort vertretenen philanthropischen Grundsätze zur Reform des Schulwesens hat er in den „Briefen" bereits in wesentlichen Teilen dem Publikum vorgestellt (u. a.: Schulaufsicht und Lehrerauswahl durch pädagogische Experten, Einrichtung von Lehrerseminaren, Einführung besserer Schulbücher, Neustrukturierung des gesamten Schulwesens, Vorschlag zur Gründung eines Oberschulkollegium für Preußen). Es ist ein Verdienst des Herausgebers, den Originaltext mit einem ausführlichen, sehr kenntnis- und materialreichen Kommentar versehen zu haben. Besonders die Einbeziehung der zeitgenössischen Schriften und Periodika in die Kommentierung ist selbst für Spezialisten sehr hilfreich und weiterführend. Auch die einschlägige Sekundärliteratur wurde in der Regel in den Fußnoten berücksichtigt. Der bei der Textwiedergabe angestrebte Mittelweg zwischen Reprint-Verfahren und vollständiger Modernisierung des Textes ist Geschmacksache, führt aber zu keinen Textentstellungen. Abschließend sei vermerkt, daß die besprochene Edition hervorragend zur gemeinsamen Lektüre in universitären Seminaren zur Spätaufklärung geeignet ist. Dagegen steht sicher der für Studentinnen und Studenten relativ hohe Preis. Aber wer sorgt sich bei bei der Struktur des heutigen Buchmarktes schon um derartige Nebensächlichkeiten? Hanno Schmitt (Marburg)
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Gelehrte Kontakte zwischen Finnland und Göttingen zur Zeit der Aufklärung. Ausstellung aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums des finnischen Buches, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1988, 171S.,114 Abb., 32,00 DM. Der Katalog entstand als Einführung in eine gemeinsame Ausstellung der Universitätsbibliothek Helsinki und der Göttingens. Wie heute vielfach üblich, ist er aber weit mehr als eine begleitende Einführung zu Ausstellungsobjekten. Er enthält wichtige Aufsätze, die die deutsch-finnische geistige Welt von ihren ersten Begegnungen bis ins frühe 19. Jahrhundert beleuchten. In einem eigenen Beitrag werden die historischen Voraussetzungen bis hin zu 1800 geschildert. Ein weiterer erörtert die Prägung finnischer Literatur durch deutsche Studienerlebnisse und Lektüre. Sinnvoll ergänzt wird dieser Teil durch eine Auflistung und Analyse finnischer Gelehrter, die während des 18. Jahrhunderts in Göttingen studierten oder sich einige Zeit dort aufhielten. Die herausragende Rolle, die Göttingen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts für die Academia Aboensis -die erste finnische Universität - hatte, wird danach vorgestellt und schließlich eine Darstellung der finnischen Literatur in der Göttinger Bibliothek gegeben. Erst dann kommt der Katalog zur Ausstellung selbst. Bei der nicht gerade zahlreich zu nennenden Literatur zur Universität Turku und zum finnischen Geistesleben der frühen Neuzeit stellen diese knappen aber ungemein gelehrten Beiträge eine wichtige und leicht zugängliche Einführung dar. Insoweit erschließt dieser Katalog dem nicht des Finnischen oder der nordischen Sprache Mächtigen wichtige geistige Zusammenhänge, die den Ostseeraum während der frühen Neuzeit mitgestalteten. Erneut erweist sich die ungemeine Bedeutung, die nicht zuletzt die lutherischen Universitäten Norddeutschlands für diese Region besaßen. Daß mit der Blütezeit Göttingens fast ausschließlich diese Anstalt stilbildend auch für den Norden Europas wurde, wundert nicht, erscheint das doch als Analogie zur Entwicklung im katholisch-süddeutschen Reich. Notker Hammerstein (Frankfurt am Main)
MANFRED GRÄTZ, Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen, Metzler Stuttgart 1988, 432 S., 98,00 DM. Die Abhandlung ermißt mit Engagement und Akribie eine terra incognita, die bislang durch Pauschal-und Vorurteile verstellt war oder einfach gar nicht zur Kenntnisgenommen wurde: die literarische Epoche der Aufklärung in ihrem Verhältnis zum Märchen. Dabei gelingt es Grätz, Neues, Überzeugendes und unbezweifelbar Gültiges beizubringen, was den Einfluß französischer und orientalischer Stoffe auf die deutschsprachige Märchentradition betrifft. Besonders verblüffend und einleuchtend ist die Beobachtung, daß zum Teil gerade an französischen Märchentexten diese Sprache von Kindern erlernt oder mit ihnen eingeübt wurde - der Weg von hier in eine mündliche Überlieferung (deren Träger sieb beileibe nicht immer ihrer eigentlichen Quelle erinnern können) ist gut nachvollziehbar und klärt manches früher mit Leidenschaft diskutierte Rätsel um Übereinstimmung französischer und deutscher Märchenmotive. Die entsprechenden Kapitel "Ein Jahrhundert französischer Einfluß« und "Die allmähliche Emanzipation vom französischen Vorbild" sind die wichtigsten der Untersuchung und überzeugen durch reiche bibliothekarische und bibliographische Kenntnisse. Auch die Einsichten in die sprachliche und geistige Angleichung des französischen und orientalischen Märchenguts an das kindliche Verständnisvermögen etwa durch dialogisierte Umformung, vorwegnehmende
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Einbeziehung der Reaktionen kindlicher Hörer sind so neu wie überzeugend. Dies berührt aber nicht die crux der Beweisführung, wie nämlich innerhalb der kurzen Zeitspanne vom letzten Viertel des 18. Jahrhunderts bis zur Grimmschen Sammlung von 1812 das im Volk vorhandene französische ErzähJgut so transformiert werden konnte, daß es eine so reiche und weithin eigenständige mündliche Tradition zu bilden vermochte. Dennoch werden viele Detailergebnisse fortan zum festen Bestand jeder seriösen, vor allem der sich philologisch oder historisch verstehenden Märchenforschung gehören. Angesichts des Spürsinns und der Genauigkeit, mit der hier Primärquellen aufgetan sind, erstaunt der oberflächliche Umgang mit der Sekundärliteratur: Weder Detlev Fehlings vieldiskutierte These von 1972 über die Abhängigkeit deutscher Märchen von den französischen Feenmärchen noch Jürgen Theuers Dissertation von 1984 über Bertuchs .Blaue Bibliothek" als Nahtstelle europäischer Märchentradition sind berücksichtigt. An solchen Mängeln krankt vor allem die langatmige, polemische Einleitung, die hauptsächlich Positionen vertritt, die seit Wesselskis Arbeiten vom Ende der zwanziger Jahre bekannt, teils anerkannt, teils relativiert sind. Doch um Originalität um jeden Preis einzubringen, verschließt Grätz bis zum Ende dieser Einleitung die Augen vor den wissenschaftsgeschichtlichen Fakten und läuft mit Vehemenz offene Türen ein: Es ist bislang nicht gelungen, .Märchen" in einer gattungsidealen Vollform in nennenswerter Anzahl vor dem späten 18. Jahrhundert festzumachen. Aus diesem Negativbefund, der sich natürlich mannigfach erklären läßt (die Skala reicht vom absoluten Nichtvorhandensein bis zur absoluten Bekanntheit, so daß man nichts aufzuschreiben oder gar zu drucken geneigt war), zieht Grätz die weitreichendsten und sehr undifferenzierte Schlüsse. Die zahllosen Zeugnisse für das Vorhandensein und die allgemeine Bekanntheit zumindest vieler märchentypischer Motive (Luther, Rollenhagen usw.) versucht Grätz wegzuinterpretieren; doch dafür liefert ihm die begriffliche Unschärfe des Terminus Märchen vor Grimm keine zureichenden Argumente. Auch daß sich in Gräters Nachlaß keine Märchenaufzeichnungen finden, ist kein Beweis dafür, daß er keine Märchen gefunden habe (so aber S. 117): Arnim, der bei Gräter viele Volkslieder fand, machte die Brüder Grimm ausdrücklich auf Märchen in Gräters Materialien aufmerksam. Allgemeiner gesagt: Was Grätz als Mangel eines .Fundus an exakten Aufzeichnungen" vor Grimm (S. 258) konstatiert oder beklagt, ist wissenschaftsgeschichtlich ein Anachronismus. Kein Mensch in keinem Land der Welt fühlte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bemüßigt, volksläufige Texte exakt aufzuzeichnen oder gar buchstäblich genau wiederzugeben. Erst die von Grätz viel gescholtenen Brüder Grimm haben dazu Fundamente gelegt. Dennoch ist der Kernaussage in ihrer Forderung zuzustimmen: „Jeder, der behauptet, es habe in Deutschland vor dem 19. Jahrhundert einen breit angelegten, tief im Volk verankerten Fundus von[...) 'Volksmärchen' gegeben[ ...), sollte auch verpflichtet sein, für diese These den positiven Nachweis zu erbringen" (S. 271 f.)- nur wird das eben seit langem nicht mehr so pauschal behauptet, wie Grätz dies als willkommene Angriffsfläche voraussetzt beziehungsweise wieder neu aufbaut. Damit ist natürlich gar nichts über Märchenmotive und -Strukturelemente gesagt, deren Langlebigkeit und weite Verbreitung vielfach im Detail nachgewiesen werden können. Andererseits hätte es die Stringenz der Grätzschen Beweisführung gestärkt, wenn er selbst hier und da Einzelbeispiele für seine Ausführungen beigebracht hätte. Wie sieht denn der angeblich gänzlich neu durch die Romantik und die Brüder Grimm in diese Geschichten eingebrachte Stil der Abstraktheit, Simplizität, Sentimentalität, Naivität in concreto aus, und was bleibt von einer solchen Geschichte wie zum Beispiel .Sneewittchen" oder „Dornröschen", wenn man diese 'Zutaten' oder Überformungen substrahiert? Man erfährt es nicht, so wenig man Belege der nach Grätzgehäuften volkskundlichen Dummheiten früherer Epochen findet, die pauschal abgeurteilt werden (S. 11 J).
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Insgesamt macht das Buch einen qualitativ und argumentativ sehr uneinheitlichen Eindruck, der in einer Rezension kaum vermittelbar ist: in den Details der Quellennachweise einerseits auf dem Weg zu einem Standard werk, in anderen Details von Vorurteilen und einigen erstaunlichen Ungenauigkeiten geprägt. Dafür zwei Beispiele: .Goethe zeigt also keineswegs eine Märchenkenntnis, wohl aber eine Märchentechnik und ein Volksbuchinteresse, die über das Zeitübliche hinausgehen" (S. 96). Die Zeugnisse, wie sie jüngst im Artikel .Goethe" der .Enzyklopädie des Märchens" zusammengetragen und behutsam interpretiert sind (Katharina Mommsen), sprechen eine gegenteilige Sprache. Als langjähriger Mitarbeiter dieser Enzyklopädie zeigt sich Grätz auch sonst nicht immer bestens informiert: Der .Bärenhäuter"-Stoff sei in diesem Lexikon als "Wiederentdeckung der Grimms" gewertet worden (S. 244). In dem betreffenden Artikel (Bd. 1, Sp. 1225-1232) sind nach Grimmelshausen Belege der Geschichte bei Frisch (1679), Happelius (1685), Brentano (1800 und 1808), Arnim (1812) angeführt, die den Grimms bekannt waren, als sie 1815 den Text nach mündlicher Überlieferung veröffentlichten und ihn 1843 nach von Bülows Abdruck des Grimmelshausen-Texts von 1835 neu faßten. Das an sich wertvolle und recht genaue Verzeichnis der so reichlich herangezogenen Primärliteratur gibt sich durch ausschließlich numerische, unerläuterte Standortbestimmungen (zum Beispiel "la Ym 2851/30") nicht eben benutzerfreundlich. Einmal wird (zu .Des Knaben Wunderhorn") ein beliebiger Nachdruck, nicht aberdie historisch-kritische Ausgabe genannt; zu Grimms Märchen von 1857 ist eine Neuausgabe nachgewiesen, nicht aber zu den Drucken von 1812/15 und 1819, zu denen faksimilierte beziehungsweise buchstabengetreue Nachdrucke vorliegen. Grimms . Sagen" sind ohne Jahreszahl (1816/18) und wiederum mit einem beliebigen Nachdruck angeführt. Von Druckfehlern seien genannt .sibe" statt "sibi" (S. 151), .Greatful" statt .Grateful" (S. 242). Statt .Rudolf" ist .Richard Benz" (S. 15) zu lesen. Heinz Rölleke (Wuppertal)
GERD VAN DEN HEUVEL, Der Freiheitsbegriff der Französischen Revolution. Studien zur Revolutionsideologie (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 31), Vandenhoeck & Ruprecht Verlag Göttingen 1988, 293 S., 92,00 DM. Van den Heuvels Studien zum Freiheitsverständnis der Französischen Revolution beanspruchen, eine .wissenssoziologisch orientierte Begriffsgeschichte" (S. 19) vorzulegen, die .die gesellschaftliche Verbreitung eines Begriffes und dessen sozialspezifische Bedeutungen" (S. 22) in den Vordergrund stellt. In Anlehnung an wissenssoziologische Überlegungen von Schütz und Berger/Luckmann begreift van den Heuvel die Freiheitskonzeptionen der Aufklärung und der Französischen Revolution als . Symbole mit globaler Sinnbildungskapazität" (S. 20), welche die konkreten und aus verschiedenen Handlungsbereichen stammenden Alltagserfahrungen von historischen Akteuren zu abstrakten Leitbegriffen zu bündeln vermögen. Gleichzeitig wirken diese Globalbegriffe wiederum geschichtsmächtig auf diese Alltagswelten ein. Mit dieser wissenssoziologischen Perspektive verbindet sich die Hoffnung, .zu einer plausibleren Darstellung vergangener Wirklichkeit zu gelangen" (S. 19). Plausible Darstellung heißt, daß die Wirklichkeit der Alltagswelten von sozialen Schichten zur Sprache kommt, die normalerweise - so der Vorwurf gegen die von Koselleck betriebene Begriffsgeschichte - nicht in das Blickfeld einer Begriffsgeschichte fallen, die sich auf der Ebene der retrospektiven Explikation abstrakter Philosophien bewegt, deren Bedeutungsgehalt sich ohnehin nur wenigen
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gebildeten Sinnexperten vergangener Epochen zu erschließen vermochte. Anders dagegen - so der Anspruch van den Heuvels - verfährt eine wissenssoziologisch orientierte „sozialhistorische Semantik" (S. 19). Sie will a) alle sprachlichen Äußerungen vergangener Alltagswirklichkeiten erfassen, ohne Werturteile über deren Dignität zu fällen. Sie untersucht b) Typen des Wissensvorrates einer Gesellschaft. Damit ist gemeint, daß sowohl relativ stabiles alltägliches Gewohnheitswissen von Gesellschaftsmitgliedern erfaßt wird, als auch abstrakte „Erwartungs-und Perspektivbegriffe wie Freiheit" (S. 21) untersucht werden. Damit können sowohl stabile wie veränderbare Wissenselemente innerhalb eines Wissenszusammenhanges erforscht werden. Diese Staffelung von stabilen (sedimentierten) und wandlungsfähigen Wissenselementen innerhalb von abstrakten Begriffskomplexen gestattet c) eine Analyse der Stabilität und Dynamik von Bedeutungsverschiebungen innerhalb von handlungsleitenden und gesamtgesellschaftlich relevanten Grundbegriffen. Darüber hinaus kann d) die intendierte wie nichtintendierte Wirkung von geschichtsmächtigen Ideen auf den politischen Diskurs wie auf das historische Geschehen aufgezeigt werden. Dieses sehr anspruchsvolle wissenssoziologische Programm wird von van den Heuvel nicht eingelöst. Das zeigt sich schon daran, daß van den Heuvel natürlich - wie jeder begriffsgeschichtlich orientierte Historiker - alle verfügbaren Quellen zu benutzen hat, gleichgültig, ob diese Aufschlüsse über die sozialspezifische Nutzung oder den repräsentativen Sprachgebrauch der untersuchten Grundbegriffe erlauben. So stützt sich van den Heuvel auf allgemeinsprachige Wörterbücher ebenso wie auf die Universallexika des 18. Jahrhunderts, die Pamphletlexika, Tages- und Wochenzeitungen, Flugschriften, Traktate, Akten der Volksgesellschaften und den weiten Bereich der Bildzeugnisse. Ob diese Quellenauswahl die Forderung nach „sozialhistorischer Repräsentativität für das Wissen analphabetischer oder teilalphabetisierter Bevölkerungsschichten" (S. 26) erfüllt, bleibt zweifelhaft. Auch die herangezogenenen religiösen Katechismen und die nur sporadisch genutzten Cahiers de doleances (S. 90 ff) genügen den wissenssoziologischen Maximen dieser Begriffsgeschichte nicht. Die Annahme, daß mit einer quantitativen und qualitativen Ausweitung des Quellenmaterials „realitätsnah" der Vorstellungshorizont von Bevölkerungsgruppen erschlossen werden könnte, erscheint solange wenig plausibel, solange diese Akteure nur über die kulturellen Deutungsleistungen von Sinnexperten in die Geschichtsschreibung eintreten. Daß die Präsentation der historischen Realität selbst eine kulturelle Konstruktionsleistung darstellt, eben im weitesten Sinne fiktive Realität darstellt, wird übrigens bei Berger/Luckmann sehr ausführlich begründet. Selbstverständlich können wir vielleicht durch die Heranziehung von volksnahen Quellen (z. B. Katechismen) zumindest einen Perspektivenwechsel vornehmen, doch wird die damit gewonnene erweiterte Erfahrung durch das Medium von schriftlich fixierten Texten bestimmt. Diese T.exte selbst sind wiederum Ergebnis von sehr komplizierten, durchaus nicht volksnahen sozialen und kulturellen Konstruktionsleistungen. Das sind alles Einsichten, die schon in Droysens Historik ihre klassische Formulierung gefunden haben und sich natürlich auch im wissenssoziologischen Fundus bei Schütz und Berger/Luckmann finden lassen. Überhaupt fällt auf, daß van den Heuvel den Sondercharakter historischer Zeugnisse übersieht und sie nicht in das angestrebte allgemeine wissenssoziologische Programm einzubeziehen vermag. So richtig es ist, die sprachlichen Äußerungen von historischen Akteuren als kulturelle Objektivationen im Sinne von Schütz und Berger/Luckmann zu behandeln, so irreführend ist es, von vorneherein anzunehmen, daß allen Sprechakten von allen Gesellschaftsmitgliedern historische Bedeutung zukommen müsse. Die Alltagswelten von vielen sozialen Schichten bleiben solange im geschichtslosen Raum unbemerkt, solange sich ihre kulturellen Erfahrungen nicht in historisch bedeutsamen
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Zeugnissen niederschlagen. Was wiederum als historisch bedeutsame Zeugnisse deklariert wird, hängt von den Konstruktions- und Zuschreibungsleistungen der Historiker ab. Ob die Historiker einen begriffsgeschichtlichen Zugang zum Verständnis vergangener Epochen wählen oder orale Traditionen als Quellen zur Rekonstruktion sedimentierter Wissensformen vergangener Alltagswelten benutzen, in allen Fällen hängt eine .adäquate Beschreibung der Wirklichkeit« (S. 21) nicht davon ab, ob die triviale Feststellung vom gesellschaftlichen Charakter der Sprache beherzigt wird, sondern welche Verfahren von den Historikern als plausible Zugänge zu kulturell differenten und vergangenen historischen Epochen angesehen werden. Daß die Sinninterpretation von geschichtlichen Grundbegriffen eine möglichst breite Quellengrundlage einschließen soll, dürfte selbstverständlich sein. Ob die benutzten Quellen ein gesichertes Urteil über die .soziale Reichweite des Begriffs« (S. 22), die Wege seiner Verbreitung und seiner schichtspezifischen Nutzung erlauben, kann erst am konkreten Einzelfall entschieden werden. Die programmatische Erklärung, man gehe von der wissenssoziologischen Erkenntnis des gesellschaftlich bindenden Charakters der Sprache aus, unterscheide sedimentierte und abstrakte Schichten von Begriffskomplexen, verbürgt noch keinen strategischen Erkenntnisgewinn. Die wissenssoziologische Fragestellung könnte dann gewinnbringend eingesetzt werden, wenn 1) die Besonderheit von schriftlich fixierten historischen Zeugnissen gegenüber nichtschriftlichen Wissensformen der Alltagswelt geklärt werden würde, und wenn 2) die kulturellen Bedingungen für die Genese von bedeutungsrelevanten historischen Grundbegriffen angegeben werden könnten. Erst unter diesen Voraussetzungen könnte 3) eine genauere begriffsgeschichtliche Analyse einsetzen, die die interne Schichtung von unterschiedlich strukturierten Wissensformen auf die besondere historische Ausgangskonstellation bezieht, die für die wechselnde Stabilität wie Dynamik von historischen Globalbegriffen ausschlaggebend ist. Eine wissenssoziologisch angeleitete Begriffsgeschichte, die lediglich die gesellschaftliche Dimension von Sprechakten historischer Akteure betont, verkennt die Eigenart historischer Quellen und versäumt es, die wissenssoziologische Fragestellung auch für eine historische Bedeutungsanalyse fruchtbar zu machen. Ganz nebenbei sei bemerkt, daß natürlich die Wissenssoziologie von Schütz und Berger/Luckmann, so wichtig und weiterführend sie gewirkt hat, keineswegs alle Möglichkeiten, insbesondere für die ihr aus bekannten Gründen fernstehende historische Begriffsgeschichte, ausschöpft. Die klassischen Ansätze von Karl Mannheim wären für diese Art von wissenssoziologisch angeleiteter Begriffsgeschichte durchaus fruchtbarer und gewinnbringender einsetzbar. So unklar die methodischen Vorüberlegungen, die van den Heuvel anstellt, ausfallen, so einsichtig und sachlich begründet sind seine Ausführungen zu den verschiedenen Ausprägungen des Liberte-Begriffes zur Zeit des Ancien Regime und der Französischen Revolution. Für das Ancien Regime des 16. und 17.Jahrhunderts gilt, daß die gegen die Monarchie gerichteten ständischen Freiheitsforderungen, die von Bauern, Bürgern, Hochadel und religiösen Minderheiten erhoben wurden, keine alternativen Freiheitskonzeptionen hervorbrachten, die die Legitimität der Monarchie als zentrale gesellschaftliche Ordnungsmacht grundsätzlich in Frage gestellt hätten. Auch die Parlamente fungierten nicht als Sachwalter dieser ständischen Freiheiten, sondern traten im 18. Jahrhundert als Vertreter gesamtnationaler Belange auf. Insgesamt läßt sich an der Entwicklung des Freiheitsbegriffes dieser Epoche die verpflichtende Vorstellung aufzeigen, .daß Freiheit in der Gesellschaft nur durch staatliche Macht und deren Gesetze geschaffen und erhalten bleiben könne. Mit diesem Axiom begründete der Absolutismus seine Rolle als freiheitssichernde Ordnungsmacht, gleichermaßen nahmen aber auch die Aufklärungsphilosophie und die Parlamente diese Grundidee für sich in Anspruch, um die Forderung nach Rechtssicherheit der absolutistischen Willkür entgegenzusetzen" (S. 100). Aus dieser
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Grundidee erwuchs ein Freiheitsbegriff - so van den Heuvel -, „der sich als Gegenbegriff zur herrschenden Staatsverfassung konstituierte" (S.102). Liberte und Despotisme und die sie tragenden und sich an ihnen orientierenden sozialen Gruppen standen sich unversöhnlich gegenüber. Es waren diese beherrschenden Grundorientierungen, die in sich die unterschiedlichsten Reformvorstellungen, Einzelforderungen, Erwartungshaltungen und Wertüberzeugungen zusammenfaßten. Dabei wurde Freiheit als „globaler Alternativentwurf zur gesamten Lebenswelt des Ancien Regime" (S.103) begriffen. Es ist diese formelhafte Abstraktheit des revolutionären Freiheitsbegriffes, die den Akteuren des revolutionären Prozesses einen weiten Handlungsspielraum eröffnete, den sie mit ihren divergierenden Freiheitsvorstellungen zu besetzen versuchten. Als siegreiche Definitionsmacht setzte sich die moralisierende Freiheitsversion durch. In Anlehnung an Furet schildert van den Heuvel die eigentümliche Dialektik einer Kulturrevolution, die die Beförderung der individuellen Freiheitsrechte im Medium der kollektiven Freiheit voranzutreiben versuchte und dabei gleichzeitig eschatologische Glücks- und Freiheitserwartungen auslöste, die im sozialdisziplinierenden Würgegriff der Terreur erstickt wurden. Freiheit fungierte sowohl als Epochenzäsur als auch „als kollektive Errungenschaft der französischen Nation" (S.132) und zusätzlich auch als staatliche Ordnungsvorstellung, die die neuen revolutionären Machthaber fallweise gegenüber ihren vormaligen Verbündeten und rebellierenden Gruppen durchzusetzen versuchten. „Liberte, das war im jakobinischen Verständnis primär eine gesamtnationale Freiheit, ein ordnungspolitischer Zustand, in dem für die immer wieder denunzierten Sonderinteressen, die Panis, Factions und Federalismes („ .] kein Platz war" (S.166). Eine detaillierte Abhandlung über den revolutionären Freiheitskult, der sich vor allem in Allegorien, Symbolen und ikonographischen Darstellungen äußerte (S. 167-228), rundet die Ausführungen van den Heuvels zu den revolutionären Freiheitsvorstellungen vor und während der FranzöKlaus-Georg Riegel (Trier) sischen Revolution ab.
DIETMAR PEITSCH, Zunftgesetzgebung und Zunftverwaltung Brandenburg-Preußens in der frühen Neuzeit (Europäische Hochschulschriften, Reihe 2, Bd. 442), Lang Frankfurt/Main, Bern 1985, 180 S., 46,00 SFR. Die juristische Dissertation behandelt die Geschichte der Zünfte in Brandenburg-Preußen seit dem Mittelalter bis zur Aufbebung des Zunftzwangs im Jahr 1810. Der Verfasser unterscheidet drei Stufen der Entwicklung: die Zeit bis 1640, das Jahrhundert zwischen der Thronbesteigung des Großen Kurfürsten und den Zunftreformen der Jahre 1731 bis 1740 sowie die Periode bis zur Einführung der Gewerbefreiheit. Die einzelnen Abschnitte sind durch etappenweisen Verlust ursprünglich vorhandener Autonomie der Handwerkerorganisationen gekennzeichnet. Sind es zunächst die Städte, die eine Mitsprache bei allen wesentlichen Fragen der Zunftverwaltung einfordern, wächst die Einflußnahme der absolutistischen Landesherrschaft seit dem 17. Jahrhundert. Für die Mitglieder der Gewerke bestand seit dem Mittelalter bei genossenschaftlichen Versammlungen, den Morgensprachen, eine strafbewehrte Teilnahmepflicht. Während ursprünglich mindestens einmal im Monat Sitzungen stattfanden, reduzierte sich die Häufigkeit der Zusammenkünfte im Laufe der Zeit auf wenige im Jahr. Zugleich wurde die Teilnahme an den Morgensprachen reine Formsache. Die Zunftversammlung verlor mehr und mehr ihre Entscheidungsbefugnis. Die Aufnahme von Meistern oder Schlichtung eines unter Mitgliedern entbrannten Streits wurde zunehmend auf andere Entscheidungsinstanzen verlagert. Sogar das Recht zur selbstverantwortlichen Finanzführung
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ging der Zunft verloren. Während die Beurteilung der Aufnahmequalität eines Bewerbers oder die Anforderungen an ein Meisterstück zuletzt vom Rat entschieden wurde, verblieben dem Altmeister lediglich Verwaltungsaufgaben. Das Amt des Altmeisters(oder der Älterleute) war zunächst ein Ehrenamt. Der von der Zunft gewählte Altmeister mußte in den meisten brandenburgischen Städten vom Rat bestätigt werden. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts verloren die Handwerkerorganisationen das materielle Wahlrecht: sie bestätigten lediglich den vom Magistrat oder der Landesherrschaft bestimmten Kandidaten. War der Altmeister ursprünglich auf Lebenszeit gewählt, beschränkte sich die Dauer seines Dienstes zuletzt nur auf wenige Jahre. Bei der Wahrnehmung der ihm als Orj!an der Gewerke übertragenen Verwaltungsaufgaben (Einberufung der Versammlung, Uberwachung der Gesellen, Aufsicht über die ZunftJade, Verteilung von Hilfsgeldern) wurde er häufig zu einem Assistenten des städtischen Beisitzers degradiert. Der Einfluß der Stadt auf die Gewerke machte sich schon früh durch Abordnung eines an den Morgensprachen teilnehmenden Beobachters geltend. Die Gegenwart dieses Beisiti.ers auf den Versammlungen, dem in den mittelalterlichen Zunftprivilegien und den bis ins 18. Jahrhundert erlassenen Zunftgeseti.en noch keine Befugnisse eingeräumt wurden, bedeutete die Einschränkung absoluter genossenschaftlicher Beschlußautonomie. Ohne Anwesenheit des Beisitzers durften die Zunftmitglieder nicht tagen. Dies manifestierte sich im J7. Jahrhundert darin, daß der Beisiti.er die Zunftsiegel in Verwahrung hatte. Er übernahm die Kassenführung und bekam - im Zuge der Zunkftreformen - durch die Generalprivilegien der 30er Jahre des 18. Jahrhunderts zugestanden, neue Zunftmitglieder aufzunehmen und Lehrlinge loszusprechen. Mit dem Erwerb dieser Kompetenzen durch den Beisiti.er war die Autonomie der Zünfte beseitigt. Neben der Mitsprache auf den Zunftversammlungen übte die Stadt ihren Einfluß auch auf Quantitäts- und Qualitätsansprüche der handwerklichen Produktion aus. Das Amt des vereidigten oder städtisch eingesetzten Schaumeisters ist in der Mark Brandenburg so alt wie das Zunftwesen selbst. Vereitelte die Stadt mit ihren Exekutivorganen das unzünftige Handwerk von Bönhasen, Pfuschern und Störern, setzte sie anderereits Arbeitsi.eiten und Preise fest und beeinflußte die Aufnahme fremder Meister. Ihr Interesse galt der Förderung einer konkurrenzfähigen Produktion. Als Druckmittel gegenüber den Gewerken benutzte sie zuweilen die Zulassung von Freimeistern. Zugleich übernahmen die Städte die Bestrafung der Verstöße gegen die festgelegten Quantitäts- und Qualitätsmaßstäbe. Die ursprünglich ausschließliche Zunftgerichtsbarkeit wurde dadurch zur konkurrierenden. Mangels ausdrücklicher Zuweisung einer besonderen Jurisdiktion verblieb lediglich die Aburteilung von Störungen des genossenschaftlichen Zusammenlebens der Zunft vorbehalten. Die Beschränkungen der Zunftautonomie durch den absolutistischen Staat erfolgte zunächst insbesondere dort, wo zünftige Manufakturarbeiter staatlicher Aufsicht unterlagen oder die Garnison ein Mitspracherecht bei der Festlegung der in der Stadt geltenden Preise wahrnahm. Nach französischem Vorbild wurden Fabrikinspektoren mit der Industrieüberwachung betraut und verdrängten die im Auftrag der Stadt kontrollierenden Schaumeister. In Berlin übernahm im Jahr 1742 das Polizeidirektorium die gesamte Gewerbeaufsicht und polizeiliche Jurisdiktion. Als staatliche Kontrollinstanz wurden seit etwa 1670 der städtischen und industriellen Handwerksaufsicht Steuerräte vorgesetzt, die im wesentlichen politischen Einfluß auf Regierungsbehörden ausübten. In unmittelbarer Folge der Reichshandwerksordnung vom 4. 9. 1731 verstärkte Preußen - im Gegensatz zu den anderen deutschen Territorien - in seinen Zunftreformen die bereits im Reichsgesetz enthaltene Tendenz der Entpersönlichung des Zunftwesens. Der Verfasser bewertet die preußischen Reformen jedoch nicht als faktisch erfolgte
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Beseitigung der Zünfte, sondern deutet die ihnen in den Generalprivilegien überlassenen Funktionen als Wahrnehmung sozialer Aufgaben: als Unterstützung verschuldeter Lehrlinge, erkrankter Zunftmitglieder und Meisterwitwen. Diese Aufgaben blieben den Zünften auch noch nach Beseitigung des Zunftzwangs im Jahr 1810 erhalten. Die auf umfangreiches Gesetzesmaterial gestützte Untersuchung zeichnet die politische Entwicklung des preußischen Absolutismus im engeren Sinn rechtshistorisch nach. Der Verfasser meidet Interpretationen, die ökonomische oder soziale Hintergründe einbeziehen. Machtfragen verdeckt er unter Hinweis auf politische Zwänge. Das führt zu der Unbestimmtheit eines Begriffs von "Mißbräuchen", der in der Darstellung stets dort eingeführt wird, wo Magistrat oder Landesherrschaft den" Vorwand'" zur Einflußnahme auf die Zünfte suchten. Der Verfasser umgeht bewußt die Darstellung des Zusammenhangs zwischen jeweiliger Regelungsmaterie und aktuell vorliegenden Problemen. So bleibt die Zunftreform, die seinerzeit mit dem Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung begründet wurde, mit der Interpretation des Verfassers, daß ihr die Bestrebung nach Integration der Zünfte in den Staatsorganismus zugrunde lag, relativ unmotiviert. Um verstärkt Auskunft über die preußische Gesetzgebungspolitik gegenüber den Handwerkerorganisationen zu erhalten, fehlt es an einer Würdigung der Rechtsrealität unter Berücksichtigung auftretender juristischer Auseinandersetzungen. Für solch weiterführende Untersuchung bietet jedoch vorliegende Dissertation mit einer strukturell klaren Entwicklung der innerhalb der Zunftverwaltung existierenden Organfunktionen eine gute Basis. Karl H. L. Welker (Frankfurt/Main)
HENNING GRAFREVENTLOW, WALTERSPARN,JOHN WOODBRIDGE(Hg.), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 41), Otto Harrassowitz Wiesbaden 1988, VII und 293 S., 98,00 DM. Jedem auch nur mittelmäßigen Kennerder Geistesgeschichte der Neuzeit- um von den Bibelwissenschaftlern ganz zu schweigen - ist bekannt, daß das 18. Jahrhundert in Europa (vor allem in England, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland) eine Art Wendepunkt in der Entwicklung der biblischen Hermeneutik bedeutete: Man kann nämlich behaupten, daß die sogenannte historisch-kritische Methode, die eine endgültige Trennungslinie zwischen das mittelalterlich-orthodoxe und das moderne Bibelverständnis gezogen hat, eben im 18. Jahrhundert (trotz der wichtigen Vorbereitungen der humanistischen Philologie und der gelehrten Polyhistorie in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten) entstanden ist; es ist ferner bekannt, daß zum Entstehen der neuen Methode und der neuen Bibelwissenschaft die Theologie der deutschen Aufklärung einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Zu den nunmehr klassisch gewordenen Studien über dieses Thema von K. Aner, H.-J. Kraus, W. Kümmel, K. Scholder sowie zu dem jüngst erschienenen französischen Sammelband von Y. Belaval und D. Bourel ("Le siecle des Lumii:reset la Bible" , Beauchesne Paris 1986) kommen nun die Akten des 18. Wolfenbütteler Symposions hinzu, das vom JO. bis zum 14. Dezember 1985 in der Herzog August Bibliothek stattgefunden hat. Die 17 Beiträge sind zum größten Teil thematisch-chronologisch geordnet, so daß der Band einen Zeitraum umfaßt, der sich von der Inkubationsperiode im 17. Jahrhundert (Le Clerc, Simon) bis zur Spätaufklärung (Hamann, Herd er) erstreckt. H. von Reventlow analysiert im ersten seiner beiden Beiträge (S. 1-19) die hermeneutischen Grundthesen des Arminianers Jean Le Clerc, dec in seiner Polemik gegen die scholastische Theologie
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die Grundsätze einer inneren Bibelexegese erarbeitet, die einerseits von der apostolischen Einfachheit und dem wörtlichen Verständnis, andererseits von der Berufung auf eine vorurteilsfreie Vernunft geleitet ist: Mit dieser doppelten Voraussetzung schlägt Le Clerc eine Brücke zwischen der humanistischen Hermeneutik und Erasmus und Grotius auf der einen und der Bibelkritik der theologischen Aufklärung auf der anderen Seite. Im zweiten Beitrag(S. 47-63) weitet sich der Blick auf die Wurzeln der modernen Bibelkritik, die der Verfasser nicht so sehr in Luther oder in der Reformation, im neuzeitlichen wissenschaftlichen Denken oder in der cartesischen Philosophie aufspürt, sondern eher in der humanistischen Philologie und Hermeneutik sowie im englischen Deismus(Toland, Tindal). Auf die Kontroverse zwischen Kants apriorisch-kritischer Vernunft und Hamanns Bibelkritik, die Gott als den Autor voraussetzt und in ihrem Prinzip der . kritischen und archontischen Würde" des Menschen .Abhängigkeit und Autonomie, Autorität und Kritik, in ihr wahres Verhältnis gebracht, nicht aus-, sondern einschließt" (S. 45), gebt 0 . Bayer (S. 21-46) ein, während sich J. Woodbridge in seinem Beitrag mit der Rezeption des französischen Oratorianers Richard Simon (S. 65-87) von Leibniz bis Semler befaßt, einer Rezeption, die nach und nach positiver wird und somit von seiner Präsenz in der deutschen Aufklärung schon vor Semlers Veröffentlichungen in den siebziger Jahren zeugt. 0. Merk erforscht (S. 89-112) das Verhältnis zwischen Jean-Alphonse Turretini und Johann Jakob Wettstein, beide schweizerisch reformierte Vorläufer der Bibelkritik am Anfang des 18. Jahrhunderts, die sich an der philologischen humanistischen Tradition und an den geistigen Strömungen eines von den Fesseln der dogmatischen Orthodoxie freien Denkens genährt haben. Wirft D. Bourel (S. 113-126) Licht auf die .terra incognita" der deutschen Orientalistik im 18. Jahrhundert-in einer Entwicklungsphase begriffen, die zur Annäherung an die fortgeschrittensten Forschungen in Ländern wie Holland, England und Frankreich und gleichzeitig zur Befreiung des Faches von theologischen Beeinflussungen und mi~sionarischen Zielen führte - , so schildert R. Smend (S. 127-137) die hartnäckige Verteidigung der Verbalinspiration und daher der kanonischen Integrität des Bibeltextes, die Johann Gottlob Carpzow, einer der wichtigsten Epigonen der Orthodoxie, in den ersten Jahrzehnten des aufgeklärten Jahrhunderts lieferte. M. Petzold (S. 139-147) und M. Schloemann (S. 149-155) ziehen Gestalten in Betracht, die den Übergang zur freieren Kritik der neologischen Bewegung verkörpern: Christoph Wolles Hermeneutik des Neuen Testaments, die den Eklektizismus seines Lehrers Andreas Rüdiger wie auch Castellio und Blackwall als Vorbilder hatte und die Harmonie zwischen Vernunft und Offenbarung und somit die prinzipielle Klarheit der Bibel in ihren unterschiedlichen literarischen Genres und Wahrheitsniveaus; der weit bedeutendere Hallische Gelehrte und Theologe Siegmund Jakob Baumgarten erscheint durch seine Hervorhebung der historischen Dimension des Christentums und der Heiligen Schrift selbst als ein • Wegbereiter wider Willen" der freieren hermeneutischen Haltung der Neologie. Auch Johann David Michaelis philologisch-historische Bibelkritik, deren Verdienst in der Anwendung der empirisch-historischen Hilfswissenschaften nach vergleichender Methode bei der Exegese sowie des Variantenvergleichs bei den biblischen Handschriften besteht, sieht A.-R. Löwenbruck (S. 157-170) durch den vermittelnden, ja sogar paradoxen Versuch charakterisiert, . den Rationalismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und das Dogma mit dem neuen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu versöhnen" (S. 170). Insofern spiegeln seine bedeutendsten Werke .klar die Haltung eines Theologen wider, der sich zwischen Orthodoxie und Deismus gestellt sah, zwischen Schriftprinzip und totaler Entmystifizierung der Schrift" (S. 166). W. Spam (S. 171-192) untersucht die Aporien des eklektischen Wissenschaftsmodells, das Christoph August Heumanns Versuch, eine Synthese zwischen historischpragmatischer Kritik und Dogmatik herzustellen, geleitet hat: Sein aufsehenerregendes
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Bekenntnis zur reformierten Abendmahlslehre deutet der Verfasser einerseits als Folge einer verbreiteten Tendenz der aufgeklärten Theologie der Zeit, andererseits als dogmatische Option, die historisch-kritisch nicht begründet werden konnte. „Die destruktive Potenz philosophischer Apologetik" stellt W. Schmidt-Biggemann (S. 193-204) am Beispiel von H. S. Reimarus a ls den Verlust des heilsgeschichtlichen Kredits der Bibel dar im Rahmen der neuzeitlichen Spaltung zwischen ewigen, philosophisch beweisbaren Wahrheiten und zufälligen, durch die Methoden der kritischen Philologie und der profanen Geschichtsschreibung überprüfbaren Wahrheiten. W. E. Müllers Beitrag (S. 205218) versteht Jerusalems Verbindung von apologetischem Interesse und biblischer Argumentation als Versuch einer populären Vermittlung historischer Bibelkritik, die bei diesem typischen Vertreter der theologischen Spätaufklärung a ls Instrumentarium einer dogmenkritischen, biblischen Begründung der Religion als Inbegriff der" wesentlichen [im ethischen Sinne] Lehren des Christentums" dienen soll. G. Hornig (S. 219-236) hebt, im Gegensatz zu einigen neuen Deutungen (H.-J. Kraus, W. Schmittner), den historischwissenschaftlichen Charakter von Semlers Bibelkritik hervor, die- von einer moralisierenden oder rationalistischen Absicht weit entfernt - als „ständige Voraussetzung[. ..] die Beibehaltung einer an der neutestamentlichen Christusbotschaft orientierten Bibelautorität" (S. 236) hatte. S.-A. Jprgensen erklärt (S. 237-248) Hamanns tiefe Beziehungen zur englischen Kulturwelt, deren Vermittler er in Königsberg für Kant und Herder gewesen ist, am Beispiel von James Hervey und dessen Polemik gegen das „aufgeklärte", „philosophische" Verständnis der Heiligen Schrift in seiner Zeit. Mit Herders großer Gestalt, die schon an der Wende einer neuen Epoche steht, befassen sich die beiden letzten Beiträge dieses Sammelbandes. M. Bunge (S. 249-262) stellt - auf der Grundlage einiger Abhandlungen über das Neue Testament-· die Grundgedanken der biblischen Hermeneutik Herdersdar, die sich nicht auf den allgemeinen und romantischen Begriff von „Einfühlung" beschränken läßt, sondern in ihrer Theorie der „Bildung" die beiden Pole der historischen Betrachtung und der lndividual.ilät des Autors sowie des Auslegers vereinigt; Herders Vielfalt von Ansätzen machen ihn zu „einem unruhigen Gast des 18. Jahrhunderts, einem wichtigen Gast des 19. Jahrhunders und einem willkommenen Gast bei uns" (S. 262). D . Gutzen (S. 263-285) unterstreicht hingegen die Ambivalenz der poetischen Hermeneutik der Bibel bei Herder, die gerade durch die Anwendung von gefühlsmäßigen Deutungskriterien zustandekommt: Wenn die Dichtung und deren Ursprung, die Empfindung, einerseits für göttlich erklärt werden, so macht die theologisch-offenbarende Dimension der Bibel andererseits einer ästhetischen Bewertung Platz, die zwar den Weg für eine weltliterarische Betrachtungsweise bahnt, die aber auch eine Stufe des Säkularisierungsprozesses zu der „Theologie des frommes Gefühls" hin darstellt (S. 283). Schon an dieser gegensätzlichen Bewertung der Leistung Herders im bibelwissenschaftlichen Bereich läßt sich die Vielfalt von Perspektiven und Deutungsanstößen dieses Sammelbandes ablesen, die beweisen, daß die Forschung über die biblischen Studien in der deutschen Aufklärung noch voll im Gange und von brennender Aktualität ist. Eine der umstrittensten Fragen, die gleichzeitig von großer Tragweite ist, ist die nach den Wurzeln der modernen Bibelkritik: Wie schon berichtet, sieht Reventlow deren Ursprung in der humanistischen Philologie und Textkritik und bestreitet - gegen die Thesen von Ebeling und dessen Schüler Scholders - den Einfluß der veränderten Weltanschauung, die die Naturwissenschaften und die Philosophie im Verlauf der Neuzeit bewirkt haben (vgl. bes. S. 58 f. und 62). Daher kommt - nach seiner Auffassung - „der Dualismus zwischen philologisch-historischer Kritik und Glaubenswahrheit" , derdie Neuzeit kennzeichnet und den die heutige Hermeneutik in manchen Hinsichten noch immer nicht bewältigt hat (S. 63). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit einer solchen These und
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deren Voraussetzungen geht über den Rahmen der vorliegenden Besprechung hinaus: Wir beschränken uns hier auf die Bemerkung, daß jener Dualismus eigentlich die Folge eines allgemeineren Dualismus zwischen Wissen und Glauben, zwischen naturwissenschaftlichem (und dann auch philosophischem) Weltbild und religiösem Lebenssinn ist, der seinerseits die Neuzeit charakterisiert und der modernen Bibelkritik- gleichsam als deren transzendentaler Verständnishintergrund - zugrundeliegt. Dies wird übrigens in mehreren Beiträgen dieses Sammelbandes auf verschiedene Weise unterstrichen, unter anderem in denen Schmidt-Biggemanns, Woodbridges, Gutzens. Sicher: Reventlow hat Recht, wenn er die zu unbestimmten Hinweise auf den Geist der Neuzeit verwirft; aberer selbst schließt dann in die Quellen der modernen Bibelkritik auch die Vertreter des englischen Deismus mit ein, die sich an jenem Geist in hohem Grade genährt und ihn sogar gefördert haben. Diese neue Sammlung von Beiträgen über die Bibelwissenschaft in der Zeit der Aufldärung hat daher unseres Erachtens das nicht zu unterschätzende Verdienst, auch gleichsam paradigmatisch durch die Gegenüberstellung von Thesen die methodologischen Wege aufgezeit zu haben, die die Forschung noch heute zu verfolgen hat: einerseits die punktuelle Analyse der hermeneutischen Techniken im Rahmen einer bestimmten Tradition der Disziplin, andererseits die Beziehung dieser technischen Entwicklung auf den allgemeineren Sinnzusammenhang, den der geistesgeschichtliche und weltanschauliche Umbruch der Neuzeit bildet. Bruno Bianco (Triest)
JOHANNES ROHBECK, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Campus Verlag Frankfurt, New York 1987, 352 S„ 68,00 DM. Ausgebend von der unbestrittenen These, daß die Aufklärung und die Fortschrittstheorie bereits von Natur aus miteinander verbunden sind, offeriert Johannes Rohbeck eine ungewöhnlich gründliche wie umfassende Analyse und Interpretation der Ideen des Fortschritts in der französischen und schottischen Aufklärung. Den Auslegungen der unterschiedlichen ideologiekritischen Richtungen skeptisch gegenüberstehend, bietet er stattdessen einen Weg der rationalen Rekonstruktion an, der jeden .teleologischen Fatalismus" (S. 20) zu vermeiden sucht und die Ideen der Aufklärung ernst nimmt. Hierfür kann ich ihm nur meine vollste Anerkennung aussprechen. Die vorliegende Arbeit ist komplex - zuweilen labyrinthisch - und so stoffreich, daß eine kurze Darstellung ihr nicht Genüge leisten kann. Rohbecks primäres Anliegen ist es, zu untersuchen, • wie sich empirische Einzelwahrnehmungen von Fortschritten zu einem geschichtsphilosophischen Universaltheorem verdichten" (S. 24): .Ich gehe bei diesem Problem, vor dem die Geschichtstheorie in der Mitte des 18. Jahrhunderts stand, von einer Konstellation aus, die man als antinomisch bezeichnen kann. Gegenüber dem Milieudeterminismus des mechanistischen Modells - repräsentiert durch Montesquieus 'Esprit des Jois' - gilt es innere Entwicklungsprinzipien zu finden, aber ohne daß diese wie biologistische Formprinzipien dem Prozeß vorgeordnet und damit wiederum äußerlich bleiben. Oder anders formuliert: Gesetzmäßig bedingte Kontinuität und irrationale Neuanstöße stehen sich als gegensätzliche, aber gleichnotwendige Bedingungen fortschreitender Geschichte gegenüber.~ (S. 24) Der zentrale Gedanke Rohbecks ist, daß diese inneren Prinzipien durch das Konzept der Arbeit herbeigeführt wurden. Der größte Teil des Buches versucht den Weg nachzuzeichnen, wie sieb der Arbeitsbegriff aus der Anthropologie und der politischen Ökono-
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mie formulieren und in den traditionellen Rahmen der Moralphilosophie und Rechtsgeschichte legen, und letzteren dabei transformieren konnte. Obwohl Rohbec k meint, daß die Aufklärer innerhalb der Wissenschaft und Tech nik zu einem nichtteleologischen Konzept der Arbeit gelangt seien, hält er dennoch daran fest, daß deren generelle Betrachtungsweise eine andere gewesen zu sein scheint: „Sie gingen von einem Arbeitsbegriff aus, den ich als Telosrealisation bezeichnet habe. Darunter verstehe ich eine Auffassung von Arbeit , nach der vor allem die der tatsächlichen Arbeit vorausgehenden subjektiven Zwecke die Arbeit bestimmen sollen." (S. 237-238) Dies zieht sofort die Frage nach sich, wie ein individualistischer Arbeitsbegriff den Schlüssel zu einem holistischen Fortschrittsbegriff liefern konnte. Der Autor nähert sich diesem Problem mit der Prüfung, wer denn das Subjekt des geschichtlichen Fortschritts gewesen sei: „Denn es gehört ja zu den Voraussetzungen dieser Geschichtsphilosophie, ein immanentes Entwicklungsprinzip zugrunde zu legen, das die Einzelfortschritte auf ein einheitliches Ziel des Fortschritts hinführt." (S. 241) Rohbeck berücksichtigt hierbei Lösungen, die einer „List der Vernunft" (oder der unbeabsichtigten Konsequenzen) nahestehen, als auch solche, wie die der These - hier Löwith zugeschrieben-, daß die Einstellung der Aufk lärung, Geschichte sei Fortschritt, nichts weiter sei als eine Säkularisierung christlicher Ideen von der Heilsgeschichte (S. 243). Rohbeck weist sie jedoch als unzureichend zurück, wei l er bei den Theoretikern einen dritten Faktor fand: „die menschliche Gattung": „Sie war es, die nach den Aussagen der Fortschrittstheoretiker unablässig voranschreitet und sich im Laufe der Zeit perfektioniert. Erinnert sei an die[ . ..] Textpassagen von Turgot wie: 'le genre humain toujours ( .. .] marchant ä sa perfection'. Diesen Formulierungen zufolge ist die Gattung als das eigentliche Subjekt des Fortschritts anzusehen. Sie steht gewissermaßen zwischen den Individuen und der überindividuellen Geschichtsmacht und stellt eine Art Vermittlungsinstanz dar[...)" (S. 247) Die Gesellschaftstheorie der Aufklärung erklärt, wie die Gattung Mensch als „gesellschaftlicher Gesamtarbeiter" und „Gesamteigentümer" zusammengeschmiedet ist, und wie sie dadurch zu einer „Gattung als Individuum" wird, die das Subjekt des historischen Fortschritts bildet: „Nach dem Leitbild eines Individuums plant und antizipiert das Gattungssubjekt die Geschichte. Wie das einzelne Individuum die Zwecke der Arbeit setzt, so setzt das überindividuelle Subjekt den Endzweck des Fortschritts. Wie das Individuum einen Plan zur Realisierung seiner Zwecke entwirft, soll es auch einen allgemeinen Plan der Gattungsgeschichte geben. Auf diese Weise übertrugen die Fortschrittstheoretiker .diesen Aspekt der Arbeit eines Individuums auf den vorgestellten gesellschaftlichen Gesamtarbeiter. Da nun die menschliche Arbeit dabei wesent lich als Telosrealisation aufgefaßt wurde, wurde damit auch diese Teleologie auf die Geschichte im ganzen übertragen. In diesem Sinne bildet die Teleologie der Arbeit das Modell für die Geschichtsteleologie." (S. 252) Ich muß gestehen, daß mich Rohbecks bemerkenswerter Reichtum an Details in seiner Arbeit mehr anspricht, als seine spekulativen, allgemeinen Interpretationen. Sein Konzept von der menschlichen Gattung als „Subjekt der Geschichte" in den Augen der Aufklärung würde mir historisch verständlicher und einleuchtender sein, wenn der Autor die Möglichkeit gründlicher untersucht hätte, inwiefern diese Vorstell ung in ein einfaches Schema der göttlichen Vorsehung eingepaßt werden muß. Hierfür wäre es allerdings notwendig gewesen, etwas mehr Aufmerksamkeit auf die rhetorische Kraft der untersuchten Sprachen zu legen, in Abgrenzung zu deren theoretischem Inhalt. Dieses wiederum hätte erfordert, daß er sein Augenmerk mehr auf das angesprochene Publikum hätte richten müssen, sowie auf die Divergenz der verfolgten Ziele der Autoren. Vorausgesetzt, Rohbeck wäre diesen Weg über eine längere Strecke gegangen, hätte er in diesem
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Fall eine schärfere Trennung der einzelnen Figuren der Aufklärung erstreben müssen, denn diese waren natürlich eine heterogene Gruppe. Kurz, ich meine, die Rekonstruktion Rohbecks wurde von ihm etwas zu ' rational' angegangen. Ungeachtet des Risikos der Krittelei beschuldigt zu werden, muß ich dennoch gegen den Gebrauch des Wortes "englisch" im Untertitel protestieren. Ohne Ausnahme sind alle englisch schreibenden Theoretiker, mit denen sich das Buch gründlich auseinandersetzt, schottisch, und nicht englisch. Gelegentlich läßt der Autor in seiner nationalen Charakterisierung zwar eine gewisse Sorgfalt erkennen, doch deutet die inkorrekte Bezeichnung gerade im Untertitel, und ähnl.ich an anderen Stellen, die offenbar immer noch allgemein anhaltende Unfähigkeit deutscher Gelehrter an, die Sonderstellung der schottischen Kultur anzuerkennen. Das Vertrauen in den Autor wird diesbezüglich weiter durch seine . außerordentliche Vorstellung untergraben, Schottlands Situation vis-ä-vis England könne vom kolonialen Standpunkt aus verstanden werden. Von sachlichen Fehlern einmal abgesehen - wie etwa sein Hinweis, Miliar sei ein Schüler Fergusons gewesen, sowie dem zumindest irreführenden, Hume sei der Lehrer Smiths gewesen - läßt Rohbecks Arbeit ganz allgemein ein Gefühl für die Kompliziertheit des geschichtlichen Zusammenhanges vermissen. In Bezug auf Schottland hätte er diesem Mangel abhelfen können, wenn er sich mit dem neueren Stand der Forschung vertraut gemacht hätte. Weiterhin ist überraschend, was die allgemeine Interpretation anbetrifft, daß der Autor nicht auf Beiträge wie den von John Passmore, The Perfectibility of Man, oder den von Albert Hirsch man, The Passions and the lnterest, eingegangen ist, ganz zu schweigen von F. A. von Hayeks ausführlicher Diskussion über die Geschichte der Ideen von den unbeabsichtigten Konsequenzen. Trotz dieser und, in der Tat, noch weiteren Einschränkungen, empfehle ich das Buch als einen sehr bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Ideenwelt der Aufklärung. Knud Haakonssen (Canberra)
GÜNTER SASSE, Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 95), Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988, VI und 292 S„ 78,00 DM. Nach der nicht durchweg gelungenen, aber bahnbrechenden Leistung von Bengt Algot ('Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert', 1984) liegt nun eine imponierende Studie mit ähnlichem Untersuchungsgegenstand vor, die zwar weniger konkret sozialbezogen verfährt, aber mit stellenweise größerem interpretatorischem Geschick vorgeht. In einleitenden Kapiteln erörtert Saße Gottscheds pädagogische und literaturtheoretische Ansichten in der moralischen Wochenschrift 'Der Biedermann', der ' Weltweisheit' und der 'Critischen Dichtkunst'. Dabei beleuchtet er Gottscheds Idealbild der Familie als „Erziehungsgemeinschaft", das Saße als bewußt provozierenden Gegensatz zur elternorientierten Wirklichkeit des 'Ganzen Hauses' versteht. Diese Beschreibung dient indirekt als Einführung in diese Wirklichkeit selbst - Themen wie Gesinde, Hauslehrer, Strafe werden berührt-, doch bleibt sie in dieser lndirektheit stellenweise unbefriedigend und standesgemäß undifferenziert: Vor allem werden Wandlungen der Familienformen und -ideologien nicht mit den bürgerlichen Produktionsbedingungen in Verbindung gebracht, so daß sie zunehmend geistesgeschichtlichen Charakter annehmen. Außerdem kommt die Erziehung der Töchter entschieden zu kurz, da die Erziehung der Söhne in Saßes Darstellung S~rensen
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nolens volens zur Erziehung schlechthin gemacht wird (diesem Mangel wird jedoch im Kapitel über Borkensteins •Bookesbeutel' ansatzweise abgeholfen, wo die zeitgenössische hamburgische Wirklichkeit der Mädchenerziehung auf das Drama bezogen wird). Saße versucht, diese Erkenntnisse durch den Rückgriff auf Wolffs Vernunftideal weiterzuführen; als Antwort auf die Frage: „Doch wer erzieht die Erzieher, die auch als Erwachsene noch nicht die volle Herrschaft über ihre 'Sinnlichkeit' gewonnen haben?'' (S. 33) weist Saße auf Gottscheds Poetik hfo, die den Dichter als Erzieher der Erzieher vorsieht. In der darauffolgenden, scharfsinnigen Analyse einiger Konsequenzen der Gottschedschen 'Critischen Dichtkunst' gerät jedoch der Bezug zum familialen Wertsystem weitgehend aus dem Blickfeld. Auch in der Analyse von Borkensteins 'Bookesbeutel' bleibt das Familienthema mehr am Rande, als Saße wahrnehmen will, aber er bringt hier einen überzeugenden Nachweis der Widersprüchlichkeiten in diesem Stück, in dem die intendierte Botschaft von der Priori tät der Erziehung vor dem Geld in der Partnerwahl durch den Handlungsverlauf untergraben wird. Dieses Verfahren bleibt im Rest des l. Teils bestehen: überzeugende und interessante Zusammenhänge erhellende Kapitel - über Gottscheds "Strategie zur Moralisierung der Herrschaft" und J. Chr. Krügers Komödie ' Die Kandidaten'-, in denen jedoch das Familienmotiv nur gelegentlich auftaucht. - Der zweite Teil der Untersuchung, „Die Verklärung der Familie", behandelt Geliert; zunächst wird anhand der 'Moralischen Vorlesungen· die theoretische Grundlage für den Rückzug aus der unbefriedigenden gesellschaftlichen Wirklichkeit und in die gefühlshaft überladene Familiengemeinschaft auf überzeugende Weise durchgeführt; dabei wird - ernüchternd und begrüßenswert - der Ansicht entschieden widersprochen, daß diese 'sezessionistische' Bewegung fortschri ttliche politische Implikationen habe. Was hier zur Anomie der bürgerlichen Intelligenz angedeutet wird, verdiente, in einer anderen Arbeit weiter ausgeführt zu werden. Saße sieht dann in den 'Zärtlichen Schwestern' eine beispielhafte Darstell ung dieser „ weltabgeschlossenen Gefühlsgemeinschaft" (S. 130), wobei er die Widersprüche im elterlichen Verhalten gegenüber der seelischen Autonomie ihrer heiratsfähigen Kinder herausstellt (hier werden allerdings wieder die besonderen Bedingungen des weiblichen Emanzipationswillens nicht genügend ausdifferenziert). Die bedeutendste Einsicht besteht wohl in der Erörterung einer „Moralkonzeption, (. ..] die die 'niederen Seelenvermögen· gegenüber ihrer rationalistischen Perhorreszierung rehabilitiert, zugleich aber deren ordnungssprengende Potenz dadurch zu bannen sucht, daß sie die 'Sinnlichkeit' strikt an Ehe und Familie bindet" (S. 127). Im umfangreichsten dritten Teil der Untersuchung, „Die Aufklärung der Familie" , scheint der Verfasser in Lessing ein ihm sympathischeres Untersuchungsobjekt gefunden zu haben. Nach einem kurzen Blick auf 'Phi Iotas' und die frühen Dramenfragmente, in dem Saße Lessings Anteil am Sezessionismus herausarbeitet, liefert er einen Aufsatz über 'Miß Sara Sampson', der meines Erachtens zu dem Besten gehört, was über dieses eigenartige Werk geschrieben worden ist. • Aufgrund ihrer Liebe ist sie (d. i. Sara] als Tochter herausgefallen aus der Familienordnung, aber aufgrund der Heiratsscheu Mellefonts kann sie sich ihr als Ehefrau nicht wieder verbinden. Außerhalb der Familienordnung aber kann sie nicht existieren, denn diese ist ja für sie Ausdruck göttlicher Ordnung schlechthin"; von diesem interpretatorischen Ansatz aus greift Saße hartnäckige Probleme der Forschung mit überzeugenden Resultaten auf. - Auch im umfangreichen Kapitel über 'Emilia Galotti' findet der Leser, der kaum noch Neues über dieses Werk erwartet, neue Aspekte sowie einige in der neueren Forschung schon bekannte Ergebnisse zu einem schlüssigen Ganzen zusammengefügt, in dem als Leitsatz die Einsicht dient, daß sowohl die höfische wie auch die familiale Sphäre (auf ältere Gegensatzpaare wie 'bürgerlich' / 'adlig' wird in Übereinstimmung mit der neueren Forschung verzichtet) ein
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. Defizit" aufweisen, aus dem heraus die Figuren ihre Identität zum Teil in der anderen Sphäre suchen. Dabei gelingt der Nachweis am besten an den Figuren Gonzaga, Orsina, Appiani und Claudia, weniger jedoch an Emilia selbst, deren Unsicherheit allein auf den fehlenden väterlichen Schutz vor der durch Emilias Erziehung als 'lasterhaft' diffamierten nichtfamilialen Welt zurückgeführt wird. - Nicht ganz so gelungen ist dagegen meines Erachtens das Kapitel über 'Nathan'; hier vernachlässigt Saße Sekundärliteratur, die seine Thesen vorwegnimmt oder ihnen so widerspricht, daß die Auseinandersetzung mit ihr die Interpretation überzeugender gemacht hätte (allein aus dem 'Lessing Yearbook' haben Beiträge von Ruth Angress [1971] und Klaus Heydemann [1975] direkte Relevanz für Saßes Arbeit; wieder einmal wird von einem deutschsprachigen Forscher die im Ausland veröffentlichte Forschung zum Teil vernachlässigt). Nicht mehr neu wirkt die These, daß das Werk die in 'Ernst und Falk' beschriebenen 'Trennungen' (Nation, Religion, Stand) utopisch überwinde, den Wirklichkeitsbezug in der Zweideutigkeit des Schlußtableausjedoch wieder zurückgewinne. Daß dieses Schlußtableau im Rezeptionsfeld von den 'zeitgenössischen' Familiendramen eines lffland, Gemmingen und Schröder stehen soll, überzeugt vollends nicht, da keines ihrer von Saße beschriebenen 'Familiengemälde' vor dem 'Nathan' veröffentlicht oder gedruckt wurde. Bei einer Arbeit mit so vielen überzeugenden und scharfsinnigen Kapiteln bedauert man das Fehlen eines die vielen Fäden der Argumentation zusammenziehenden Schlußkapitels. Da sie jedoch interpretatorische Sorgfalt mit geschichtlicher Kontextualisierung geschickt verbindet, wirct die sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft und speziell die Lessing-Forschung durch sie erheblich gefördert werden. W. Daniel Wilson (Berkeley)
HARRO ZIMMERMANN, Freiheit und Geschichte. F. G . Klopstock als historischer Dichter und Denker (Neue Bremer Beiträge, Bd. 5.), Carl Winter Heidelberg 1987, X und 422 S.; 128,00 beziehungsweise 158,00 DM. „Aber es gibt Brückenheilige, die stehen auf der Brücke und wollen nicht ans andre Ufer" (A. Keiletat in der Anzeige eines Buches über Klopstock in der „Germanistik"). Der Verfasser des oben genannten Buches hat es dennoch versucht, den Brückenheiligen Klopstock ans .andre Ufer" zu schaffen, dorthin, wo die .fortschrittlich" gesinnten, politisch und gesellschaftskritisch engagierten Schriftsteller des 18. Jahrhunderts zu finden sind. Der Versuch - nicht der erste dieser Art-, die Herrschaft der christlichen Religion im Denken des Autors zu leugnen, ist als gescheitert an.zusehen. Das, was der Verfasser präsentiert, ist ein Zerrbild Klopstocks. Es ist unter großem Aufwand von Zitaten aus Werken und Briefen des Autors und aus verschiedener wissenschaftlicher Literatur über die Geschichte des 18. Jahrhunderts zusammengesetzt. Thematischer Mittelpunkt dieser „Studie" (S. 197 - 268) ist Klopstocksdichterisches GermanenBild, wie es in seinen Oden aus der Zeit von 1767 bis 1773 und in seinen Arminius-Dramen (.Hermanns Schlacht", „Hermann und die Fürsten", „Hermanns Tod") zum Ausdruck kommt. Hieran mußte der Verfasser sich halten, um Klopstock als .historisch denkenden" Dichter (S. IX) darzustellen, dessen „geschichtlich inspiriertem Patriotismus eine ernstzunehmende, politisch-fortschrittliche Bedeutung" (S. 45) zuzuerkennen sei. Denn Werke, die Klopstock als politischen Geschichtsschreiber zeigen, sind nicht überliefert. Bezeugt ist ein frühes Interesse des Autors an einzelnen herausragenden historischen Ereignissen und Personen als Exempeln moralisch-religiöser und patriotischer Begeisterung. Dieses Interesse an sakraler und an profaner Geschichte bekundet sich in allen Dichtungen Klopstocks. Seine historiographischen Ideen, die über dieses eigentliche
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Interesse hinausziehen, insofern sie eine gewisse distanzierte pragmatische Einstellung erfordert hätten, wurden bezeichnender Weise nicht verwirklicht. Der Verfasser widmet den .Historiographischen Interessen und Plänen" Klopstocks einen eigenen Abschnitt (S. 148 - 165). Die Zeugnisse hierfür werden jedoch nicht korrekt ausgewertet. Es ist zum Beispiel unzulässig, den in Klopstocks .Arbeitstagebuch" notierten Plan einer .Deutschen Encyclopädie" für ein „historisches Vorhaben" auszugeben (S. 156 f.), ferner zu behaupten, der .Gedanke", die Geschichte Friedrichs V. von Dänemark zu schreiben (Brief an Moltke, 18. 11. 1750) sei ein. Vorhaben" Klopstocks, das ihn .beansprucht", als er nach Kopenhagen berufen wird (S. 155 f.). Nichts weist darauf hin, daß dieser .Gedanke" über das Stadium .süßer Vorstellungen" hinausgelangte, in denen der Dichter, poetisches Fürstenlob verabscheuend, auf charakteristische Weise seine Dankbarkeit ausdrückte. Bereits dieser den Hauptteil der Arbeit eröffnende Abschnitt zeigt, daß das Ziel, Klopstock als .Historiker" glaubhaft zu machen, den Verfasser auf autorferne Abwege führt. Die „Pläne", die für das eigentliche Interesse des Dichters an Geschichte signifikant sind, werden überbewertet und falsch gedeutet, wohingegen diejenigen Texte, in denen es prägnant zum Ausdruck kommt, nämlich die in die „Gelehrtenrepublik" eingefügten .Denkmale der Deutschen", in ihrer besonderen Bedeutung nicht erkannt wurden, obwohl schon Gerhard Kaiser darauf aufmerksam gemacht hat. Der Verfasser weiß mit diesen inschriftartigen Memorabilien über exemplarische Geschehnisse, Personen und Handlungen, vor allem der römisch-germanischen Geschichte, nichts anzufangen: sie sind ihm lediglich „Fragmente" eines nicht erhaltenen „Geschichtswerks" (S. 162). Krasser tritt an späterer Stelle die Unfähigkeit des Verfassers zutage, diese dichterischen Miniaturen angemessen zu verstehen, wenn er sie - im Widerspruch zum Willen ihres Autors -als .Proben seiner[. . .) nationalgeschichtlichen Bemühungen" deutet, durch die er „die methodische Problematik einer neuen Historiographie" „ergänzt" (S. 283). Sie sind vom Autor zur Weckung patriotischer Emotionen und Erinnerungen bestimmt, nicht aber - wie der Verfasser meint - für das Räsonnement (den „Diskussions- und Erfahrungsbereich") der Zeitgenossen. Die Behauptung, Klopstock habe, obwohl in den .Denkmalen der Deutschen" .statt konzentrierter historischer Analysen nur Fragmente aus der Geschichte der Nation'" bietend, .am Anspruch auf systematische Historiographie" festgehalten (S. 283 f.), ist ausschließlich im Wunsch des Verfassers begründet. Es verwundert daher auch nicht, daß er Schlüsselbegriffe von Klopstocks religiös-poetischem Geschichtsdenken als solche nicht erkennt beziehungsweise falsch interpretiert, zum Beispiel den Begriff .Denkmal". Seinen Inhalt als .antiquiertes Faktenarsenal" (S. 210) zu bezeichnen, heißt das Verständnis des Autors völlig verkehren. Denn der für ihn besonders charakteristische appellative Begriff bezieht sich gerade nicht auf das Vergängliche, Vergessene und Vergessenswerte in der Geschichte, sondern auf das, was zu bewahren, was zu verinnerlichen ist, was also das bloß Geschichtliche transzendiert. Aber da der Verfasser keinen Zugang zum ambivalenten Geschichtsverständnis des Autors gefunden hat - Geschichte als Verkörperung der Vergänglichkeit einerseits und des zeitüberwindenden heiligen Geistes menschlicher Vervollkommnung andererseits - , blieb ihm auch dessen Begrifflichkeit verschlossen. Dazu gehört zum Beispiel auch der für Klopstocks Poetik zentrale Begriff . Darstellung", der bildlich lebhafte Vergegenwärtigung von Geschehenem bedeutet und der dem Begriff „Abhandlung" gegenübergestellt ist, nicht aber, wie der Verfasser behauptet, dem empirischen und „am Kriterium der Überprüfbarkeit orientierten Arbeitsverfahren" des Geschichtsschreibers (S. 166 f.). Der Verfasser übersieht zwar nicht die Relevanz dieses Begriffs, vermag aber nicht zu explizieren, was der Autor mit ihm meinte, und bedient sich für sei ne Deutung einer These R. Kosellecks von der Bildung des Kollektivsingulars .die Geschichte" als einer Kornpo-
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nente in der Entstehung des modernen Geschichtsbegriffs. Aus dem bloßen Vorkommen des Begriffs in der Singularform bei Klopstock folgert der Verfasser, daß dieser ihn im modernen Sinne verwendete, bezogen auf den „Zusammenhang geschichtlicher Gegebenheiten", der „interpretierend dargelegt werden muß" (S. 168). Das ist jedoch eine modernistische Verfälschung, was allein die Lektüre der „Denkmale der Deutschen" lehrt. Für Klopstock nämlich ist das Subjekt „der" Geschichte nicht die Gesellschaft (vgl. S. 295), sondern Gott. An diese Fehldeutung reihen sich andere. Sie sind letztlich darin begründet, daß dem Verfasser das Christentum und das humanistische Ideenerbe Klopstocks fremd blieben. Kein wesentlicher Aspekt von Klopstocks Denken und Schaffen ist angemessen interpretiert. So sind zum Beispiel Klopstocks Studien germanischer Sprachdenkmäler relativ breit beschrieben (S. 175 -190), ohne daß ihre mehrere Sprachen umfassende Spannweite, ihre Begrenzung auf exemplarische Textbeispiele und ihr Zweck plausibel erklärt werden. Da der Verfasser glaubt, diese Studien demonstrierten die strengen Grundsätze des Autors, .wie sie für die allgemeine Geschichtsforschung gelten", seine .philologisch-kritische" Verfahrensweise (S. 181, 184, 188)-eine Behauptung, die philologisch zu widerlegen ist-, bleibt ihm das leitende Motiv dieser .scholiastischen" Arbeiten verborgen: eine seit dem deutschen Humanismus tradierte Apologie des Deutschen gegen das Verdikt barbarischer Unkultur, das antike römische Schriftsteller geäußert hatten. Dagegen dichtete Klopstock seine „Hermann"-Trilogie und seine „bardischen" Oden. Sein patriotisches Germanen-Bild ist eine idealisierende Kontrafaktur zum antik-römischen Barbaren-Bild, wobei das Bild des Germanen gegen die römische, mittelbar - der Zeit entsprechend - gegen die gallo-romanische Zivilisation gerichtet ist. Auch hier verkennt oder ignoriert der Verfasser die apologetische Überbietungstendenz des Klopstockschen Denkens, die sich mit der Deutung der „bardischen" Dichtungen des Autors als „Versuche [. . .], die geschichtliche Welt der Deutschen im Interesse ihrer Gegenwart begreiflich zu machen" (S. 268), natürlich schwer vereinbaren läßt. Damit ist der Blick auf den wahren sozialkritischen und politisch-oppositionellen Sinn von Klopstocks Germanen-Bild verstellt, der, da aus religiösem Geist rückhaltloser Gemeinschaftsbildung erwachsen, radikaler ist, als der Verfasser sich das dank seiner groben gesellschaftsbezogenen Begriffsapparatur vorzustellen vermag. Man kann zweifeln, ob dieses Buch überhaupt zur wissenschaftlich seriösen Literatur über Klopstock zu rechnen sei. Der Autor dient nur als Stichwortgeber; die - oft fehlerhaft wiedergegebenen - Zitate aus seinem Oeuvre sind meistens Scheinbelege. Ihre Häufung und Ausführlichkeit läßt nur zu deutlich werden, daß der Verfasser dem Geiste des Autors hermeneutisch nicht gewachsen ist. Besonders das Schlußkapitel („Einige Überlegungen zur theoretischen und politischen Dimension von Klopstocks Geschichtsauffassung") zeigt, daß der Verfasser sich mit seinem geschichtstheoretischen Wissen von Koselleck und anderen an diesem Autor vergriffen hat. Wie in seinen Hauptthesen, so ist das Buch auch in Details unzuverlässig. Einige Beispiele: Aus dem, was Klopstock von seinem Korrespondenzpartner Denis erwartet, nämlich eine „genaue historische Entwicklung, wie es mit der mündlichen Überlieferung [von Literatur] bei so vielen Zerrüttungen der Nation hat zugehen können - zugegangen ist, wollte ich schreiben" (Brief vom 22. 7. 1768), wird beim Verfasser -durch einen simplen Fehler des semantischen Textverständnisses - ein „großes Vorhaben" des Autors (S. 187, 209). Oder: Klopstock bittet in einem Brief den Professor C. A. H. Clodius in Leipzig, dieser möge ihm einen Aufsatz in den „Memoires de l' Academie des inscriptions et des helles lettres" ermitteln, in dem der Verfasser von den Handschriften der Bardenlieder rede, die Karl der Große habe machen lassen und die in der „grossen Par[iser] Biblioth. seyn sollen." Clodius berichtet in seiner Antwort aus Leipzig von seiner vergeblichen Recherche in der dortigen „Rathsbibliothek". Daraus macht der Verfasser (S. 181): Klopstock bitte Clodius, „der
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sich in Paris aufhält(!), in der dortigen 'Rathsbibliothek' [!)nach den alten Gesängen zu forschen[!]." Oder: Ferdinand von Fürstenbergs „Mo numenta Paderbornensia" werden Leibniz zugeschrieben (S. 154). Eigennamen werden wenig respektvoll behandelt: der dänische Altertumsforscher Oie Worm (Olaus Wormius) wird zu Olaf .. Worms" (S. 153, 422), der Arzt und Reformer Johann Friedrich Struensee erhält die Vornamen Christian Gottfried (S. 422); statt Heinrich Christian Boie erscheint im Register Heinrich Christoph Boie, der aber an der angegebenen Stelle des Textes (S. 234) nicht gemeint ist, sondern Johann Friedrich Boie. Im nachlässig gemachten Literaturverzeichnis, das viele gewichtige, aber themafremde Titel enthält, sind einschlägige Arbeiten, zum Beispiel einige von K. von See über die Germanen-Ideologie, nicht genannt. Wenig rücksichtsvoll sieht sich auch der Benutzer des Buches behandelt: Titel der Werke Klopstocks, aus denen zitiert wird, sind häufig nicht genannt, die Quellen von Zitaten aus unveröffentlichten Texten sind regellos angegeben. - Die Herausgeber der alten „Bremer Beiträge" unterzogen Arbeiten vor ihrer Veröffentlichung der Kritik; die Herausgeber der „Neuen Bremer Beiträge" ließen es bei dieser „Studie" daran fehlen. Klaus Hurlebusch (Hamburg)
AUFKLÄRUNG · JAHRESINHALT 1989
Heft 1/1989 Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert Herausgegeben von Karl Eibl Einleitung Karl Eibl: Zum Titel des Heftes
3
Abhandlungen Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . • . . . . . .
5
Wolfram Malte Fues: Die Aufklärung der Antike über die Tugend. Christoph Martin Wielands Singspiel "Alceste" in der Geschichte des Sinns von Literatur
37
Klaus Geneis: Das „Postkutschenzeitalter". Bedingungen der Kommunikation im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Eckbart Hellmuth: Kommunikation, Radikalismus, Loyalismus und ideologischer Pluralismus. "Popular Politics" in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Kurzbiographie Klaus Gerteis: Johann August Schlettwein (1731-1802)
105
Diskussionen und Berichte Knud Haakonssen: Enlightenment Philosophy in Scotland and Germany. Recent German Scholarship . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
[darin rezensiert:) Wolfgang Leidhold, Ethik und Politik bei Francis Hutcheson Francis Hutcheson, Eine Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend. Über moralisch Gutes und Schlechtes, hg. von Wolfgang Leidhold • . . . . • . Gerhard Streminger, David Hume mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten Filadelfo Linares, Das politische Denken von David Hume . . • . . . . . . . . . . . . . . . Günther Gawlick, Lothar Kreimendahl , Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Trapp, Adam Smith - politische Philosophie und politische Ökonomie . ••.. Erich Lobkowicz, Common Sense und Skeptizismus. Stud ien zur Philosophie von Thomas Reid und David Hume .•••••••••••••••••••.••••.•••••.••••.•••••.• Manfred Kuchn , Scottish Common Sense in Germany, 1768-1800. A Contribution to thc History of Critical Philosophy . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . Norbert Waszck, The Scottish Enlightenment and Hegel's Account of 'Civil Society'
III
113 113 113 114 116 119 121 123
Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. von Zwi Batscha und Hans Medick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
Rezensionen Hans Erich Bödeker, Ulrich Herrmann (Hg.), Aufklärung als Politisierung- Politisierung der Aufklärung (Thomas P. Saine) • . . . . . . . . . . . . . . . . • . . • . . . . • . . . . . . Eckhart Hellmutb, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur Preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts (Michael Maurer) Arno Herzig, Rainer Sachs, Der Breslauer Gesellenaufstand von 1793. Die Aufzeichnungen des Schneidermeisters Johann Gottlieb Klose. Darstellung und Dokumentation (Klaus Gerteis) . • . . . . . . . . • . • . . . . . • . . . . . . • . . . . . . . . . • . . . . . Heinrich Kanz (Hg.). Justus Möser als Alltagsphilosoph der deutschen Aufklärung (Michael Maurer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John A. Lynn , The Bayonets of the Republic. Motivations and Tactics in the Army of Revolutionary France. 1791-94 (Klaus-Georg Riegel) . . . . . . . . • . • . . . • . • . . Thomas P. Saine, Von der Kopernikanischen Wende bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit (Horst Dreitzel) Günter Schulz (Hg.), Lessing und der Kreis seiner Freunde (Felix Leibrock) . . . . . . . . Thomas Starnes, Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt, Bd. 1-3 (Klaus Manger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Josef Walber, Charles Blount (1654-1693). Frühaufklärer: Leben und Werk (Henning Graf Revenllow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . • . . . . . . . . . . . . . . . .
127 130 133 134 136 138 139 141 145
H eft 2/1989 Patriotismus H erausgegeben von Günter Birtsch
Einleitung Günter Birtsch: Erscheinungsformen des Patriotismus
3
Abhandlungen Michael Stolleis: Reichspublizistik und Reichspatriotismus vom 16. zum 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . .. .
7
Karl Otmar Freiherr von Aretin: Reichspatriotismus . . . . . . . . . . . .' . . . . . .
25
Harm Klueting: „Bürokratischer Patriotismus". Aspekte des Patriotentums im theresianisch-josephinischen Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Hartmut Zücken: Republikanismus in der Reichsstadt des 18. Jahrhunderts . . .
53
Conrad Wiedemann: Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden
75
Kurzbiographie Hans Erich Bödeker: Thomas Abbt (1738- 1766)
103
Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution. Das europäische Naturrecht im ausgehenden 18. Jahrhundert, 14. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 22. bis 24. November 1989 . . . . . . . . . . . . . .
107
Rezensionen Ernst Feil: Antithetik neuzeitlicher Vernunft.• Autonomie-Heteronomie" und .rationalirrational" (Henning Graf Revcntlow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunther Franz (Hg.), Aufklärung und Tradition, Kurfürstentum und Stadt Trier im 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog und Dokumentation (Franziska Wein) Max Gallo, Robespierre (Klaus-Georg Riegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Gedike, Über Berlin. Briefe "Von einem Freunde" in der Berlinischen Monatsschrift 1783-1785. Kulturpädagogische Reflexionen aus der Sicht der .Berliner Aufklärung", hg. von Harald Scholtz(Hanno Schmitt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelehrte Kontakte zwischen Finnland und Göttingen zur Zeit der Aufklärung. Ausstellung aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums des finnischen Buches (Notker Hammerstein) . . Manfred Grätz, Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen (Heinz Rölleke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd van den Heuvel, Der Freiheitsbegriff der Französischen Revolution . Studien zur Revolutionsideologie (Klaus-Georg Riegel) . . . . . • . . . . . . . . • . . . . . . . • . . . . . Dietmar Peitsch, Zunftgesetzgebung und Zunftverwaltung Brandenburg-Preußens in der frühen Neu7.Cit (Karl H. L. Welker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henning Graf Reventlow, Walter Spam, John Woodbridge (Hg.), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung (Bruno Bianco) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Rohbcck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Knud Haakonssen) Günter Sasse, Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung (W. Daniel Wilson) Harro Zimmermann, Freiheit und Geschichte. F. G. Klopstock als historischer Dichter und Denker (Klaus Hurlebusch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . .
113 115 116
119 121 121 123 126 128 131 133 135
Jahresinhalt 1989
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Register der rezensierten Werke
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Register der rezensierten Werile (nach Autoren und Herausgebern)
Batscha. Z. l/125 IJOdeker, H.E. l/127 Feil, E. II/ 113 Ferguson, A. l/125 Franz. G. ll/115
Gallo, M. IV 116 Gawlick, G. l/114 Gedike, F.11/119 Grätz, M. 11/121 Hellmuth, E. l/130
Herrmann, U. I/127 Herzig, A. V 133 Heuvel, G . van den ll/1 23 Hutcheson, F. l/113 Konz. H. 1/134
Kurzbiographie Hans Erich Bödeker: Thomas Abbt (1738- 1766)
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Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution. Das europäische Naturrecht im ausgehenden 18. Jahrhundert, 14. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 22. bis 24. November 1989 . . . . . . . . . . . . . .
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Rezensionen Ernst Feil: Antithetik neuzeitlicher Vernunft.• Autonomie-Heteronomie" und .rationalirrational" (Henning Graf Revcntlow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunther Franz (Hg.), Aufklärung und Tradition, Kurfürstentum und Stadt Trier im 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog und Dokumentation (Franziska Wein) Max Gallo, Robespierre (Klaus-Georg Riegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Gedike, Über Berlin. Briefe "Von einem Freunde" in der Berlinischen Monatsschrift 1783-1785. Kulturpädagogische Reflexionen aus der Sicht der .Berliner Aufklärung", hg. von Harald Scholtz(Hanno Schmitt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelehrte Kontakte zwischen Finnland und Göttingen zur Zeit der Aufklärung. Ausstellung aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums des finnischen Buches (Notker Hammerstein) . . Manfred Grätz, Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen (Heinz Rölleke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd van den Heuvel, Der Freiheitsbegriff der Französischen Revolution . Studien zur Revolutionsideologie (Klaus-Georg Riegel) . . . . . • . . . . . . . . • . . . . . . . • . . . . . Dietmar Peitsch, Zunftgesetzgebung und Zunftverwaltung Brandenburg-Preußens in der frühen Neu7.Cit (Karl H. L. Welker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henning Graf Reventlow, Walter Spam, John Woodbridge (Hg.), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung (Bruno Bianco) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Rohbcck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Knud Haakonssen) Günter Sasse, Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung (W. Daniel Wilson) Harro Zimmermann, Freiheit und Geschichte. F. G. Klopstock als historischer Dichter und Denker (Klaus Hurlebusch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . .
113 115 116
119 121 121 123 126 128 131 133 135
Jahresinhalt 1989
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Register der rezensierten Werke
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Register der rezensierten Werile (nach Autoren und Herausgebern)
Batscha. Z. l/125 IJOdeker, H.E. l/127 Feil, E. II/ 113 Ferguson, A. l/125 Franz. G. ll/115
Gallo, M. IV 116 Gawlick, G. l/114 Gedike, F.11/119 Grätz, M. 11/121 Hellmuth, E. l/130
Herrmann, U. I/127 Herzig, A. V 133 Heuvel, G . van den ll/1 23 Hutcheson, F. l/113 Konz. H. 1/134
Kreimendahl, L. VI 14 Kuehn , M . 1/121 Leidhold, W. 1/111 Leidhold. W. II 113 Linares, F. VI 13 Lobkowicz, E. l/1 19 Lynn, J.A. V136 Medick. H. 1/125
Peitsch, D. IV 126 Revenr/ow. H. 1V128 Rohbeck, J . 11/131 Sachs, R. 11133 Saine, T. P. 11138 Sasse, G. 11/133 Scholrz. H. 111119 Schulz. G. II 139
Spam. W. IV128
Starnes, T. 1/141 Streminger, G. II 113 Trapp, M.1/116 Walber, K.-J. II 145 Was7.ek, N. 11123 Woodbridge. J. 111128 Zimmermann, H . 111135