Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 42 2007 9783484605640


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Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 42 2007
 9783484605640

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INHALTSVERZEICHNIS

ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN / HELMUT PFOTENHAUER / MONIKA SCHMITZ-EMANS / RALF SIMON

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

JOCHEN GOLZ

»Der Chinese in Rom« – Jean Paul und die Weimarer Klassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

BERNHARD BUSCHENDORF

Jean Pauls Selina – Ein jacobianisch-platonisches Enkomion auf die Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . .

23

CHRISTIAN SINN

»Acht Jahre unter der Erde« – Jean Pauls Die unsichtbare Loge (1793) zwischen Aufklärung und Arkanum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

MONIKA SCHMITZ-EMANS

Jean Paul – Schumann – Heine: Überlegungen zu einer poetisch-musikalischen Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

HELMUT PFOTENHAUER

Jean Paul und Königin Luise oder weshalb singende Prosa keinen guten Vers erlaubt . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

MARISA SIGUAN BOEHMER

Wenn es Calderón nicht gegeben hätte, die Deutschen hätten ihn erfunden: Deutsche Romantik und spanisches Barock . . . . . . . . . . . . . . .

123

MARIA-VERENA LEISTNER

»Rose, Lilie, Nelke, Vergißmeinnicht!« Helmina von Chézy und Jean Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

VI BUCHBESPRECHUNGEN ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN

Kai Nonnenmacher, Das schwarze Licht der Moderne – Zur Ästhetikgeschichte der Blindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

BENEDIKT JESSING

Martin Dönike, Pathos, Ausdruck und Bewegung – Zur Ästhetik des Weimarer Klassizimus 1796–1806 . . . . . . .

172

MONIKA SCHMITZ-EMANS

Barbara Hunfeld, Der Blick ins All – Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Anschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . .

185

ANMERKUNG ZUR ZITIERWEISE

Die Werke Jean Pauls werden i.d.R. nach der Historisch-kritischen Ausgabe Eduard Berends (Sigle: SW, Beispiel: SW II/4,69) oder der bei Hanser erschienenen zehnbändigen Ausgabe von Norbert Miller (keine Sigle, Beispiel: I/6,1037) zitiert. Dabei bezeichnet die römische Ziffer die Abteilung, nach dem Schrägstrich folgt die arabische Band- und, nach dem Komma, die Seitenzahl.

ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN / HELMUT PFOTENHAUER / MONIKA SCHMITZ-EMANS / RALF SIMON

EDITORIAL

Gemäß den Beschlüssen des Vorstandes und der Mitgliederversammlung unserer Gesellschaft vom 21. März 2006 erweitert sich mit dem vorliegenden Jahrgang 2007 des Jahrbuches die Herausgeberschaft. Frau (Prof. Dr.) Elsbeth Dangel-Pelloquin, Universität Basel, Frau (Prof. Dr.) Monika SchmitzEmans, Universität Bochum, und Herr (Prof. Dr.) Ralf Simon, Universität Basel, treten dem bisherigen alleinigen Herausgeber, Helmut Pfotenhauer, zur Seite. Wir glauben, damit dem Jahrbuch eine noch breitere wissenschaftliche Grundlage geben zu können. Der Band beginnt mit dem Vortrag der Jahresversammlung, diesmal, 2006, gehalten vom Präsidenten der Goethe-Gesellschaft, Jochen Golz. Daran schließt die Studie von Bernhard Buschendorf an. Sie führt aus, wie das späte Fragment Selina die Grundlagen einer an Jacobi orientierten Metaphysik durch Gedanken des Platonismus, des Leibnizianismus und des Magnetismus weiterentwickelt und präzisiert, insbesondere durch die Idee der Kette der Wesen, durch die Theorie des Unbewußten und durch das Konzept des Ätherleibs. Die Abhandlung von Christian Sinn zur Unsichtbaren Loge diskutiert das Spannungsverhältnis von Aufklärung und (politischem) Arkanum und arbeitet die Polyphonie heraus, mit der Jean Paul im Textspiel eine eindeutige Position hintertreibt. Zwei Beiträge widmen sich aktuellen Anlässen: der von Monika SchmitzEmans über die Jean-Paul-Rezeption bei Robert Schumann, dessen 150. Todestag bekanntlich 2006 begangen wurde, und Jean Pauls mögliche Bedeutung für Schumanns Heine-Vertonungen, des anderen großen Künstlers, der vor 150 Jahren starb; ferner der Beitrag von Helmut Pfotenhauer über ein weniger bekanntes Ereignis: den 200. Jahrestag des Besuches der preußischen Königin Luise in Wunsiedel und der Umbenennung der dortigen Luxburg in Luisenburg, bei der Jean Paul eine merkwürdige Rolle spielte und – unfreiwillig – tiefen Einblick in die Eigenart seiner Dichtung gab, in das, was ihm gelingen konnte, und in das, was ihm mißlingen mußte: Verse. Ein Blick aus anderer, externer Perspektive auf Jean Paul und die deutsche Romantik

2 war uns diesmal wichtig: Anhand der Rezeption Calderóns um 1800 verfolgt Marisa Siguan von der Universität Barcelona die projektiven Anverwandlungen des spanischen siglo de oro. Den Aufsatz-Teil des Jahrbuchs beschließt ein Beitrag von Maria-Verena Leistner über Helmina von Chézy und Jean Paul, der dieses wechselhafte und von Enttäuschungen geprägte Verhältnis verfolgt und mit unveröffentlichtem Material belegt. Der Band wird diesmal wieder – nach der Abstinenz des letzten Jahres – durch einen Rezensionsteil abgerundet. Das neue Herausgeber-Team hofft, mit dieser Zusammenstellung das Interesse der Leser und Freunde Jean Pauls wecken zu können.

Elsbeth Dangel-Pelloquin, Helmut Pfotenhauer, Monika Schmitz-Emans, Ralf Simon Basel, Bochum, Würzburg, im November 2006

JOCHEN GOLZ

»DER CHINESE IN ROM« – JEAN PAUL UND DIE WEIMARER KLASSIKER*

Noch immer zählt die Frage »Wie hältst du’s mit Jean Paul?« zu jenen Gretchenfragen, die Freunde der Literatur, ja selbst Germanisten in Verlegenheit bringen können. Eingestanden werden muß freilich, daß die moderne Lebensweise sich der Lektüre Jean Pauls durchaus nicht als günstig erweist. Seine Romane und Erzählungen brauchen einen im guten Sinne müßigen Leser, der Konzentration und Geduld beweisen muß, wenn er sich in die wundersamen Sprachgebilde des Autors hineinfinden will. Wie es heute mit solcher Muße bestellt ist, braucht nicht im einzelnen erläutert zu werden. Betreten wir mit der Frage nach der Rezeption Jean Pauls heute eine terra incognita, so bewegen wir uns bei der literaturwissenschaftlichen Frage nach dem Verhältnis des Romanschreibers aus Wunsiedel zu den Weimarer Klassikern auf festerem Boden. Denn über dieses Verhältnis ist immer wieder nachgedacht worden, und man kann sagen, daß kaum ein Buch, kaum ein Essay über Jean Paul dieses Problem unberührt gelassen hat. Dies wiederum erweist sich nicht zuletzt als Reflex der Rezeption Jean Pauls insbesondere durch Dichter und Schriftsteller. Häufig verbanden sich Jean-Paul-Verehrung und Goethe-Kritik miteinander, stellten sich dar als zwei Seiten einer Medaille. Davon legt bereits die berühmte Denkrede auf Jean Paul Zeugnis ab, die Ludwig Börne am 2. Dezember 1825, wenige Wochen nach dem Tode unseres Autors, in Frankfurt am Main gehalten hat. Es mag an dieser Stelle genügen, die Namen von Gottfried Keller, Adalbert Stifter, Stefan George und Robert Walser zu nennen. Von Keller allerdings – und nicht nur von diesem – wissen wir, daß sich das Verhältnis von Verehrung und Kritik auch umkehren konnte. Verwiesen sei schließlich auf einen Text, den Martin Walser 1974 unter dem charakteristischen Titel Goethe hat ein Programm, Jean Paul eine Existenz veröffentlicht hat. Auch hier vollzog sich die Traditionssuche eines Autors im Zeichen der spannungsvollen Beziehung Jean Pauls zu den Weimarer Klassikern. Der historischen Rekonstruktion jener Beziehung wollen wir uns nun zuwenden. ––––––– *

Vortrag, gehalten vor den Mitgliedern der Jean-Paul-Gesellschaft am 21. 3. 2006.

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Jochen Golz

Der am 21. März 1763 geborene Johann Paul Friedrich Richter – das Pseudonym Jean Paul legte er sich erst 1792 zu – hatte die Dreißig bereits überschritten, zehn Hungerjahre als erfolgloser Satiren- und Romanschreiber lagen hinter ihm, als er 1795 mit dem Roman Hesperus oder 45 Hundsposttage seinen ersten und im Grunde einzigen literarischen Erfolg erzielte. Was das Publikum an diesem Buch entzückte und zu Tränen hinriß, war insbesondere eine Erzählweise, die darauf abzielte, durch vertrauliche Kommunikation zwischen dem Autor und dem einzelnen Leser Trost und Zuspruch zu spenden. Sprechendes Zeugnis dafür ist die Vorrede, aus der ich im folgenden zitiere: Komm, liebe müde Seele, die du etwas zu vergessen hast, entweder einen trüben Tag oder ein überwölktes Jahr, oder einen Menschen, der dich kränkt, oder einen, der dich liebt, oder eine entlaubte Jugend, oder ein ganzes schweres Leben; und du, gedrückter Geist, für den die Gegenwart eine Wunde und die Vergangenheit eine Narbe ist, komm in meinen A b e n d s t e r n und erquicke dich mit seinem kleinen Schimmer, aber schließe, wenn dir die poetische Täuschung flüchtige süße Schmerzen gibt, daraus; »vielleicht ist das auch eine, was mir die längern tiefern macht.« – Und dich, höherer Mensch, der unser Leben, das nur in einem S p i e g e l geführet wird, kleiner findet als sich und den Tod, und dessen Herz ein verhüllter großer Geist in dem Todtenstaube anderer zerfallener Menschenherzen heller und reiner schleift, wie man den Demant im Staube des Demants poliert, darf ich dich auch in meinen Abend- und Nachtstern auf eine Anhöhe, so wie ich sie aufzuwerfen vermag, herniederrufen, damit du, wenn du um sie, wie um den Vesuv, m o r g a n i s c h e F e e n und Nebel-Gruppierungen und Traum-Welten und Schatten-Länder in der Tiefe ziehen siehest, vielleicht zu dir sagest: »und so ist alles Traum und Schatten um mich her, aber Träume setzen Geister voraus, und Nebel Länder, und der Erdschatten eine Sonne und eine Welt«?1

Nicht wenige Leser drängte es dazu, Kontakt mit dem Autor aufzunehmen und ihm gegenüber Zeugnis von Lebenshilfe und moralischer Läuterung abzulegen, wie sie ihnen durch die Lektüre des Hesperus zuteil geworden war. In der Literatur und im Leben wurde der Autor zum Freund und verständnisvollen Partner des Lesers. Hatte vordem das Werther-Fieber grassiert, so war nun eine regelrechte Hesperus-Mode ausgebrochen. Gewiß machte Jean Paul das alles nicht unglücklich, doch reichten seine Intentionen über den bloßen Tageserfolg weit hinaus. Was er eigentlich erhoffte, war die Anerkennung jener Autoren in den Zentren literarischer Kommunikation, die er verehrte und denen er sich an die Seite stellen wollte. Weimar und Jena nahmen dabei einen besonderen Platz ein. ––––––– 1

SW I/3,15f.

»Der Chinese in Rom«

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Gelesen hatte der Polyhistor Jean Paul die Werke der renommierten zeitgenössischen Autoren natürlich. Bereits in einem Exzerptenband von 1781 finden sich Auszüge aus Schillers Räubern. Die Lektüre der Werke Wielands und Herders zählte zu seinen wichtigen Bildungserlebnissen, und mannigfache Goethe-Reminiszenzen im Hesperus bezeugen, daß Jean Paul sehr wohl um den außerordentlichen künstlerischen Rang der Iphigenie oder des Tasso wußte. So war es ein Zeichen aufrichtiger Verehrung, als er 1794 seinen Romanerstling Die unsichtbare Loge und ein Jahr später den Hesperus an Goethe sandte. Beide Male wurde er jedoch keiner Antwort gewürdigt. Wieland und Herder indes fanden Gefallen an dem Prosaisten Jean Paul. »Der Mensch ist mehr als Herder und Schiller. Er hat eine Allübersicht wie Shakespeare«,2 schrieb Wieland am 15. November 1795 an den Magister ubique Karl August Böttiger, und Herder soll nach Jean Pauls eigenen Worten »so oft er den Hesperus gelesen, [...] 2 Tage zu Geschäften untauglich gewesen«3 sein. Von alledem erfuhr Jean Paul vermutlich durch die genialische Charlotte von Kalb, die ihm am 13. Mai 1796 schrieb: Sie sind ein tiefer Forscher, ein ferner Seher in Zeit und Zukunft: ein Phänomen in dieser Zeit, die Ihrer bedarf. Krieg und Kampf ist überall, oder ödes, kaltes Nichts, schale Form, kein Inhalt: in Ihnen erscheint uns aber ein Geist, – Herz und Seele, – der Tausende, die schlafen, aus ihrem Todesschlummer retten könnte.4

Ein so sympathetisches Echo mußte den Romancier in dem Vorsatz bestärken, die besten Köpfe in der thüringischen Residenzstadt Weimar persönlich kennenzulernen. Als Jean Paul endlich am Ort seiner Sehnsucht angelangt war – so geschehen am 10. Juni 1796 –, stellte er im Brief an seinen Freund Christian Otto zwei Tage darauf erstaunt und beglückt fest: »Der ganze Hof bis zum Herzog lieset mich.«5 Eben dies aber war ein Phänomen, das auf seiten der klassischen Fraktion Irritation und Nachdenken ausgelöst hatte. Erst der Erfolg des Hesperus machte für Goethe und Schiller das Werk selbst zu einem Gegenstand der Reflexion. Am 4. Juni 1795 hatte Jean Paul den ersten Band des Hesperus »mit einem warmen, aber scheuen Herzen«,6 wie es im Begleitbrief heißt, an Goethe geschickt, und bereits am 10. Juni reichte dieser das Buch an Schiller weiter und bemerkte dazu: »Hierbey ein Tragelaph von der ersten ––––––– 2

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Karl August Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen, Bd.1, Leipzig 1838, S.166. SW III/2,207. Wahrheit aus Jean Pauls Leben, Fünftes Heftlein, S.49. SW III/2,207. SW III/2,90.

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Jochen Golz

Sorte.«7 Nach vermutlich flüchtiger Lektüre stimmte Schiller dem Urteil zu. Bereits am 12. Juni replizierte er: »Das ist ein prächtiger Patron der Hesperus, den Sie mir neulich schickten. Er gehört ganz zum TragelaphenGeschlecht, ist aber dabey gar nicht ohne Imagination und Laune, und hat manchmal einen recht tollen Einfall, so daß er eine lustige Lecture für die langen Nächte ist.«8 Bei einem Tragelaphen, soviel sei kommentierend bemerkt, handelt es sich um ein altorientalisches Fabelwesen, bei dem der edle Hirsch und der häßlich-abstoßende Bock miteinander kombiniert waren, und mit dem Begriff verbindet sich die Vorstellung von einer exemplarischen künstlerischen Mischform, ohne daß dies von vornherein eine negative Charakterisierung bedeutet hätte. Immerhin hat auch Goethe zuzeiten seinen Faust einen »Tragelaphen« genannt. In den Urteilen der Klassiker gab sich insgesamt eine nicht unfreundliche Ratlosigkeit über das seltsame Buch zu erkennen, das man im übrigen eher den Tagesprodukten zuschlagen und darum rasch beiseite schieben wollte. Doch was man als kurzlebige literarische Modeerscheinung angesehen hatte, erwies sich als unerwartet wirkungsträchtig. Nicht ohne leichtes Naserümpfen teilte Goethe am 15. Dezember 1795 Schiller mit: »Übrigens sind gegenwärtig die H u n d s p o s t t a g e das Werk, worauf unser feineres Publikum seinen Überfluß von Beyfall ergießt, ich wünschte daß der arme Teufel im Hof bey diesen traurigen Wintertagen etwas angenehmes davon empfände.«9 Da ist eine gewisse Herablassung im Spiele, aber auch einige Nervosität. Offensichtlich saß der Stachel doch tiefer, daß gerade das feinere Publikum das Buch mit Beifall bedachte. Goethe hatte bereits drei Bände seines Wilhelm Meister auf den Markt gebracht, ohne eine solche Wirkung erzielt zu haben. In Schillers Antwort vom 17. Dezember heißt es: »Daß in Weimar jetzt die Hundsposttage graßieren ist mir ordentlich psychologisch merkwürdig, denn man sollte sich nicht träumen laßen, daß derselbe Geschmack so ganz heterogene Massen vertragen könnte, als diese Produktion und Clara du Plessis ist. Nicht leicht ist mir ein solches Beyspiel von Characterlosigkeit bey einer ganzen Sozietæt vorgekommen.«10 Schiller spürte also sehr wohl, daß zwischen August Lafontaines rührseligem Schmöker Clara du Plessis und Clairant. Eine Familiengeschichte französischer Emigrierten und dem ––––––– 7

8 9 10

Friedrich Schiller, Werke (Nationalausgabe), begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1943ff. (im Folgenden Sigle »NA« mit Bandzahl), hier NA 35, S.218. NA 27, S.193. NA 36 I, S.50. NA 28, S.132f.

»Der Chinese in Rom«

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Hesperus ein künstlerischer Niveauunterschied bestand, konnte oder wollte indes diese Differenz nicht genauer bestimmen. Er, der das Publikum immer von neuem umworben hatte, war vom Verhalten der Weimarer Leserschaft enttäuscht, und es war wohl nicht nur ironische Süffisanz, sondern auch Sorge, was ihm im Brief an Goethe vom 22. Januar 1796 den Satz entlockte: »Daß der Almanach in Weimar [sein eigener Musenalmanach, J.G.] neben den Emigrierten und den Hundsposttagen noch aufkommen kann, ist mir sehr tröstlich zu vernehmen.«11 Mit dem Besuch Jean Pauls in Weimar ergab sich eine neue Konstellation in den Beziehungen der klassischen Partei zum Hesperus-Autor. Anfang 1796 hatten sich Goethe und Schiller auf das kritische Strafgericht der Xenien eingelassen. Beiden war bewußt, daß sich damit neue Konfrontationen herausbilden würden, und wiewohl die erhoffte reinigende Polarisierung in beider Kalkül lag, so war es angesichts eigener drohender Isolation doch angezeigt, potentiellen Verbündeten zunächst ohne Skepsis und innere Reserve zu begegnen. Richter war für sie zweifellos in diese Reihe einzuordnen. Allerdings war Goethe und Schiller nicht unbekannt geblieben, daß der Kreis um Herder und Wieland Jean Paul nach Weimar geholt und begeistert empfangen hatte; und gerade die Beziehung der klassischen ›Dioskuren‹ zu Herder war seit dem Erscheinen der 7. und vor allem der 8. Sammlung der Briefe zu Beförderung der Humanität einer neuerlichen Belastungsprobe ausgesetzt. Bald schon, am 18. Juni 1796, erkundigte sich Schiller mit unverhohlener Neugier nach dem Fremden aus Hof, den Goethes ›Urfreund‹ Knebel in die Weimarer Gesellschaft eingeführt hatte. In Goethes Antwortbrief vom 22. Juni gab sich eine Ratlosigkeit zu erkennen, die durch die persönliche Begegnung eher noch verstärkt worden war: Richter ist ein so complicirtes Wesen, daß ich mir die Zeit nicht nehmen kann Ihnen meine Meinung über ihn zu sagen, Sie müssen und werden ihn sehen und wir werden uns gern über ihn unterhalten. Hier scheint es ihm übrigens wie seinen Schrifften zu gehn, man schätzt ihn bald zu hoch, bald zu tief und niemand weiß das wunderliche Wesen recht anzufassen.12

Am 26. Juni war Jean Paul dann bei Schiller in Jena zu Besuch, und zwei Tage später gab dieser dem Freunde in Weimar ein nachmals oft zitiertes Urteil über den Hesperus-Autor, in dem Produzent und Produkt miteinander verschmelzen: »Von Hesperus habe ich Ihnen noch nichts geschrieben. Ich habe ihn ziemlich gefunden, wie ich ihn erwartete; fremd wie einer der aus dem Mond gefallen ist, voll guten Willens und herzlich geneigt, die Dinge ––––––– 11 12

NA 28, S.171. NA 36 I, S.239f.

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Jochen Golz

ausser sich zu sehen, nur nicht mit dem Organ, womit man sieht.«13 Nachdenklich, Schillers harsche Kritik bewußt außer acht lassend, replizierte Goethe tags darauf: Es ist mir doch lieb daß Sie Richtern gesehen haben, seine Wahrheitsliebe und sein Wunsch etwas in sich aufzunehmen hat mich auch für ihn eingenommen. Doch der gesellige Mensch ist eine Art von Theoretischen Menschen und wenn ich es recht bedenke, so zweifle ich, ob Richter im practischen Sinne sich jemals uns nähern wird, ob er gleich im Theoretischen viele Anmuthung zu uns zu haben scheint.14

Goethes Schlußwendung spricht dafür, daß Skepsis und Reserviertheit am Ende die Hoffnung überwogen, in Jean Paul einen geistigen Verbündeten gewinnen zu können. Wie spiegeln sich nun in Jean Pauls Briefen seine Weimarer Eindrücke wider? Unbefangen und, was die literarischen Parteiungen in Weimar betraf, zunächst auch ahnungslos gab der aus kleinen Verhältnissen Kommende dem Freunde Christian Otto daheim lebendige Schilderungen der ›großen‹ Weimarer Welt, zeigte er sich beeindruckt vom ungezwungenen Umgangston zwischen Hofadel und bürgerlichen Intellektuellen, fasziniert und abgestoßen zugleich von der Laxheit der Moral in der ›besseren‹ Gesellschaft. Es erfüllte ihn mit Stolz und Genugtuung, durch seinen inneren Wert und seine geistige Leistung gesellschaftsfähig geworden zu sein. Vor allem im Hause Herders fühlte er sich verstanden und geliebt. Dort stieß er auf moralische und politische Bundesgenossen. »Sie sind alle die eifrigsten Republikaner«, teilte er Christian Otto am 12. Juni 1796 mit. Überdies sah sich Jean Paul in seinem Autorbewußtsein bestärkt, als man ihm über ökonomische Zusammenhänge die Augen öffnete und ihm bedeutete, er bekomme »Sündenbezahlung«15 und könne durchaus höhere Honorare fordern, weil er jetzt in Deutschland am meisten gelesen werde. Dieser Zuwachs an Selbstbewußtsein ließ Jean Paul auch die Weimarer literarische Welt unbefangener beurteilen. Im Brief vom 17. Juni 1796 an Christian Otto heißt es: Schon am zweiten Tage warf ich hier mein dummes Vorurtheil für grosse Autores ab als wärens andere Leute; hier weis jeder, daß sie wie die Erde sind, die von weitem im Himmel als ein leuchtender Mond dahinzieht und die, wenn man die Ferse auf ihr hat, aus boue de Paris [Gassenkot] besteht und einigem Grün ohne Juwelennimbus. Ein Urtheil, das ein Herder, Wieland, Göthe etc. fält, wird so bestritten wie jedes andere, das noch abgerechnet daß die 3 Thurmspizen unserer Litteratur

––––––– 13 14 15

NA 28, S.234. NA 36 I, S.252. SW III/2,208.

»Der Chinese in Rom«

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einander – meiden. Kurz ich bin nicht mehr dum. Auch werd’ ich mich jezt vor keinem grossen Man mehr ängstlich bücken, blos vor dem Tugendhaftesten.16

Als Jean Paul nach Weimar kam, wollte er dort sein Ideal bestätigt finden, daß das künstlerische Genie immer tugendhaft sein solle, Leben und Werk in ethischem Sinne eine Einheit bilden müßten. Die Wirklichkeit jedoch, die der Moralist aus Hof vorfand, bot ein anderes Bild. Und so wenig er geneigt war, sein Tugendideal aufzugeben, so sehr schwangen doch Trauer und Enttäuschung über seine zerstörten Illusionen mit, als er bereits am 12. Juni 1796 an Christian Otto schrieb: »Aber e i n b i t t e r s t e r T r o p f e n schwimt in meinem Heidelberger Freudenbecher: w a s J e a n P a u l gewan, d a s v e r l i e r t d i e M e n s c h h e i t in seinen Augen: ach meine Ideale von grösseren Menschen!«17 Vieles deutet darauf hin, daß der Widerspruch von geistiger Größe und mangelnder Tugendhaftigkeit vor allem im Hause Herders zur Sprache kam, und es ist kaum daran zu zweifeln, daß Goethes künstlerische Existenz in diesem Zusammenhang im Mittelpunkt der Erörterungen stand. Wie stark solche Eindrücke bei Jean Paul nachwirkten, geht aus seinem Bericht vom 18. Juni 1796 an Otto über den ersten Besuch bei Goethe hervor: Ich gieng, ohne Wärme, blos aus Neugierde. Sein Haus frappiert, es ist das einzige in Weimar in italienischem Geschmak, mit solchen Treppen, ein Pantheon vol Bilder und Statuen, eine Kühle der Angst presset die Brust – endlich trit der Gott her, kalt, einsylbig, ohne Akzent. Sagt Knebel z. B., die Franzosen ziehen in Rom ein. »Hm!« sagt der Gott. Seine Gestalt ist markig und feurig, sein Auge ein Licht (aber ohne eine angenehme Farbe). Aber endlich schürete ihn nicht blos der Champagner sondern die Gespräche über die Kunst, Publikum etc. sofort an, und – man war bei Göthe. Er spricht nicht so blühend und strömend wie Herder, aber scharf-bestimt und ruhig. Zulezt las er uns – d. h. spielte er uns – ein ungedruktes herliches Gedicht vor, wodurch sein Herz durch die Eiskruste die Flammen trieb, so daß er dem enthusiastischen Jean Paul [...] die Hand drükte. Beim Abschied that ers wieder und hies mich wiederkommen. Er hält seine dichterische Laufbahn für beschlossen. Beim Himmel wir wollen uns doch lieben.

Eine burleske Wendung darf abschließend nicht fehlen: »Auch frisset er entsezlich. Er ist mit dem feinsten Geschmak gekleidet.«18 Durchaus ambivalent war der Eindruck, den Jean Paul von dieser Begegnung empfing. Von der kühlen klassizistischen Pracht des Hauses am Frauenplan und von der Teilnahmslosigkeit seines Bewohners fühlte er sich zunächst befremdet und bedrückt. Vorbehalte erneuerten sich. Und doch ent––––––– 16 17 18

SW III/ 2,211. SW III/2,208. SW III/2,211f.

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Jochen Golz

wickelte Jean Paul Verständnis für die außerordentliche Persönlichkeit des Dichters. Sein Porträt des »Gottes« spielt zunächst zwischen kühler Distanz und widerstrebend bezeugter Faszination. Erst der Vortrag eines »ungedrukten herlichen Gedichts« – soweit wir wissen, handelte es sich um die Elegie Alexis und Dora – gab Jean Paul die Gewißheit, daß hinter maskenhafter Starre der wahre Goethe sichtbar geworden sei. Für ihn bedeutete dies eine befreiende Erkenntnis, denn seit langem hatte er die Werke des Weimarers als Zeugnisse künstlerischer Vollkommenheit bewundert, und diese Bewunderung hielt an, sie artikulierte sich dann in der 1804 erscheinenden Vorschule der Ästhetik in rühmenden Urteilen über den Dichter. Bei alledem trat Jean Paul dem »Gotte« durchaus mit dem Bewußtsein eigenen künstlerischen Vermögens entgegen, und der Satz »Beim Himmel wir wollen uns doch lieben« bezeugte am Ende, daß Jean Paul eine menschlich-geistige Partnerschaft mit dem bewunderten Dichter herbeisehnte. Im Verhältnis zu Schiller lagen die Dinge anders. Hier gab es auf Seiten Jean Pauls von vornherein Antipathie gegenüber dem idealischen Ästhetiker. Nachdem er einen Kupferstich von Schiller – angefertigt nach einer Zeichnung von Dora Stock – gesehen hatte, schrieb er bereits am 20. Juni 1795 an Christian Otto: Schillers Portrait oder vielmehr seine Nase daran schlug wie ein Bliz in mich ein: es stellet einen Cherubim mit dem Keime des Abfals vor und er scheint sich über alles zu erheben, über die Menschen, über das Unglük und über die – Moral. Ich konte das erhabene Angesicht, dem es einerlei zu sein schien, welches Blut fliesse, fremdes oder eignes, gar nicht sat bekommen.

Charakteristischerweise ist im selben Brief über Goethe zuvor entschieden anderes zu lesen: »Ach ich habe Lips großen Kupferstich von Göthe gesehen und ich hätte mit den lebendigen Lippen auf die himlischen – gestochenen fallen mögen.«19 Die persönliche Begegnung mit Schiller in Jena verstärkte den negativen Eindruck noch, wie Jean Pauls Brief vom 26. Juni 1796 an Otto bezeugt: Ich trat gestern vor den felsigten Schiller, an dem wie an einer Klippe alle Fremde zurükspringen; er erwartete mich aber nach einem Brief von Göthe. Seine Gestalt ist verworren, hartkräftig, vol Eksteine, vol scharfer schneidender Kräfte, aber ohne Liebe. Er spricht beinahe so vortreflich als [er] schreibt. Er war ungewöhnlich gefällig und sezte mich (durch seinen Antrag) auf der Stelle zu einem Kollaborator der Horen um – und wolte mir eine Naturalisazionsakte in Jena einbereden.20

––––––– 19 20

SW III/2,96. SW III/2,217.

»Der Chinese in Rom«

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Die entscheidende Aussage lautetete: »ohne Liebe«. Auf diesen kardinalen Einwand sind alle Vorbehalte gegen Schiller in ihrem Kern zurückzuführen. Nicht einmal im Ansatz gab sich darum die Hoffnung auf ein geistiges Bündnis zu erkennen, wie sie in bezug auf Goethe so nachdrücklich artikuliert worden war. Im Brief vom 26. Juni 1796 an Otto zog Jean Paul zugleich eine Bilanz seiner Weimar-Reise: »Diese 3wöchentliche Stelle in meiner Lebenslaufbahn ist eine Bergstrasse, die eine neue Welt in mir anfängt.«21 Durch die Begegnungen mit den in Jena und Weimar lebenden Intellektuellen weitete sich der Radius von Jean Pauls Wirklichkeitserfahrungen, und seine ästhetischen Grundsätze profilierten sich durch Selbstbestimmung am klassischen Gegenbild. Die so gewonnene Souveränität manifestierte sich nicht nur im künstlerischen Werk – hier wäre auf die Konzeption seines »Kardinalromans«, des Titan, zu verweisen –, sondern sie setzte ihn auch in die Lage, in den literarischen Parteienkämpfen der Zeit mit eigener Stimme zu sprechen und seine Vorbehalte gegenüber Positionen der Weimarer Klassiker öffentlich zu artikulieren. Dies geschah bereits wenige Wochen später, als er für eine zweite Auflage der idyllischen Erzählung vom Quintus Fixlein die Geschichte meiner Vorrede zur 2. Auflage des Quintus Fixlein schrieb, die im November 1796 separat publiziert wurde. Doch auch die klassische Partei sah sich durch die Gespräche mit dem Erfolgsautor des gebildeten Publikums zur Reflexion über das rätselhafte Phänomen aufgerufen, und so wandte man sich mit Texten an die Öffentlichkeit, die im Zeichen von Auseinandersetzung und polemischer Abgrenzung standen. Xenien auf Jean Paul entstanden, von denen allerdings nur eines veröffentlicht wurde, und Goethe schrieb sein Gedicht Der Chinese in Rom. In all diesen Zeugnissen wurde die Auseinandersetzung weniger vordergründigdirekt, sondern eher mit den Mitteln spielerischer Verfremdung geführt, so daß polemische Bezüge für die Zeitgenossen schwer zu entschlüsseln waren. Nicht zuletzt aus diesem Grunde weitete sich die Auseinandersetzung nicht zum Literaturstreit aus. Goethe sandte sein Gedicht Der Chinese in Rom am 10. August 1796 an Schiller und bemerkte dazu, »eine arrogante Aeusserung des Herrn Richters, in einem Briefe an Knebel« habe ihn »in diese Disposition gesetzt«.22 In welcher Form Goethe die vermeintlich arrogante Äußerung hinterbracht worden ist, wissen wir nicht. Daß hier aber möglicherweise Manipulation am Werke war, läßt sich vermuten, sobald man Jean Pauls Brief an Knebel vom 3. Au––––––– 21 22

SW III/2,217. NA 36 I, S.300.

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gust 1796, der jene inkriminierten Äußerungen enthalten haben muß, heranzieht. Dort heißt es nämlich: »Ihre Elegien erhielt ich die vorige Nacht richtig und gut kondizioniert; als ich aber aufwachte, erschrak ich sehr, weil Träume allemal das Gegentheil bedeuten. Jezt indes braucht man einen Tyrtäus mehr als einen Properz.«23 Das Ganze ist eine fiktive Traumgroteske in Jean Paulscher Manier. Was sich dahinter verbirgt, ist die Sorge um das Zustandekommen von Knebels Übersetzungen des römischen Elegikers Properz. Denn darauf zielt die Anspielung, nicht auf Goethes Römische Elegien, wie diesem offensichtlich zugetragen worden war. Wer immer Goethe in diesem Falle mit Nachrichten versorgt hatte, er machte sich die prekäre Situation des Dichters zunutze. Denn gerade die moralisierende, Goethes Beziehung zu Christiane Vulpius nicht verschonende Kritik der Mitlebenden an den 1795 in den Horen publizierten Römischen Elegien hatte beim Autor Unmut und Erbitterung ausgelöst. Einiges davon wurde in den Xenien artikuliert, die ursprünglich als polemische Abfertigung der Horen-Kritiker gedacht waren, und vor diesem Hintergrund ordnet sich das Chinesen-Gedicht in den polemischen Kontext des Xenien-Almanachs ein. Dort wurde es auch veröffentlicht. Der Chinese in Rom Einen Chinesen sah ich in Rom, die gesammten Gebäude Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer. Ach! so seufzt’ er, die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen, Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt, Daß an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter Vergoldung Sich des gebildeten Augs feinerer Sinn nur erfreut. Siehe, da glaubt’ ich, im Bilde, so manchen Schwärmer zu schauen, Der sein luftig Gespinnst mit der soliden Natur Ewigem Teppich vergleicht, den echten reinen Gesunden Krank nennt, daß ja nur e r heisse, der Kranke, gesund.24

Ein Gedicht, das Goethe vermutlich rasch und erregt niedergeschrieben hat. Doch den Versen, ihre Form erweist es, eignet Programmatisch-Bekenntnishaftes. Um klassisch-strenge Distichen handelt es sich. In klirrender metrischer Rüstung tritt Goethe dem »Chinesen« entgegen. Für Goethe verband sich mit dem Chinesischen, ähnlich wie mit dem Begriff des »Tragelaphen«, die Vorstellung von einer künstlerisch noch nicht bewältigten Mischform. Darüber hinaus aber knüpfte er an Auffassungen zeitgenössischer Ästhetiker an, die unter dem Chinesischen etwas Fremdartig-Groteskes schlechthin ver––––––– 23 24

SW III/2,227. WA I, 2, S.132.

»Der Chinese in Rom«

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standen. So erscheint der »Chinese« des Gedichtes als Protagonist einer spielerisch-verschnörkelten, fremdartig-exotischen Modekunst. Dies wäre zu tolerieren, wenn der »Chinese« sich auf seine eigene natürlich-geschichtliche Welt beschränkte. Das Empörende seines Verhaltens liegt für Goethe aber gerade darin, daß er der von ihm favorisierten Kunst in einem ganz anderen Raum von Tradition und Geschichte Geltung verschaffen wolle. Nicht an den architektonischen Denkmälern der Ewigen Stadt, sondern an Tempeln und Pagoden solle sich des »gebildeten Augs feinerer Sinn« erfreuen. Damit aber unterstellte Goethe dem Chinesen, er wolle als falscher Kunstlehrer das Publikum vom »gesunden« Wege abbringen und ihm eine leichtvergängliche Modekunst aufzwingen. Eignet dem Gedicht in seinem ersten Teil durch die fiktive Erinnerungssituation etwas Spielerisches, so tritt von Zeile 7 an ein wesentlicher und grundsätzlicher kritischer Aspekt hinzu, den das Ich des Gedichtes im Begriff des »Schwärmers« faßt. Damit begegnen wir einem Typus, den Goethe schon in jungen Jahren mit Spott bedacht hatte, dem er jedoch seit Beginn der neunziger Jahre neuerlich mit vehementer Kritik gegenübertrat. Unmittelbaren Anlaß dafür boten ihm seine Erfahrungen mit der Revolution in Frankreich. »Schwärmer« und »falsche Propheten« waren es in seinen Augen, die, Freiheit predigend, um des persönlichen Vorteils willen das Volk mit den Mitteln des Betrugs und der Verwirrung aus seinen ruhigen, geordneten Verhältnissen reißen wollten und darauf bedacht waren, Anarchie und Chaos zu befördern. »Schwärmer«, so resümierte Goethe im Venezianischen Epigramm 56, »prägen den Stempel des Geists auf Lügen und Unsinn.«25 Kritik an »Schwärmern« wurde auch in den Xenien artikuliert – dort hießen sie Johann Friedrich Reichardt, Friedrich Schlegel und Georg Forster. Auf seinem Felde ist der »Chinese« den schulebildenden Propheten zuzurechnen, die Unruhe in das Reich der Kunst hineintragen und ästhetische Wahrheiten dadurch außer Kraft setzen, daß sie sich anmaßen, ihr »luftig Gespinnst mit der soliden Natur/Ewigem Teppich« zu vergleichen, ihre vergänglichen Gebilde also Kunstwerken gleichzustellen, die analog zu den Gesetzen der Natur organisiert und strukturiert sind. Sicher ist die Schärfe der Abfuhr auch aus jener Verteidigungssituation zu erklären, in der sich die klassische Partei in Weimar befand. Im eigentlichen aber war es wohl das Phänomen des Erfolges – und hier wurde Jean Paul mit anderen reüssierenden Belletristen einfach in einen Topf geworfen –, das Goethe unmißverständlich dem Publikum bedeuten ließ, Gesundheit und ––––––– 25

WA I, 1, S.321.

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Solidität seien bei ihm, dem Autor der Römischen Elegien und des Wilhelm Meister, und nicht bei den »kranken« Tagesschriftstellern zu finden; und eben weil dies so sei, werde sich letztlich auch seine Kunst als dauerhaft und wertvoll erweisen. Den »Schwärmern« und ihrem Anhang wurde in überlegener Manier etwas zur Kenntnis gegeben, was in Goethes Sicht durch den Bezug auf die evolutionäre Naturgesetzlichkeit von gesund und krank, von Stirb und Werde, den Status einer unanfechtbaren Wahrheit erhielt, vor der alle Anwürfe verstummen mußten. Es lag im Wesen von Goethes Gedicht, das so herausfordernd-höhnisch eine göttliche Überlegenheit zur Geltung brachte, daß darauf kaum eine polemische Reaktion zu erwarten war. Niemand war geneigt, das Gedicht auf sich zu beziehen. Dem hier geübten Verfahren, an die Stelle direkter persönlicher Polemik Kritik an einem Autortypus zu setzen, lag nicht zuletzt auch Befremden gegenüber »Richters complicirtem Wesen« zugrunde, wie es auch in den auf Jean Paul bezogenen Xenien seinen Ausdruck fand. Veröffentlicht wurde nur ein einziges Xenion: »Hieltest du deinen Reichthum nur halb so zu Rathe, wie jener [der Breslauer Johann Kaspar Friedrich Manso] / Seine Armuth, du wärst unsrer Bewunderung werth.«26 Form- und Geschmacklosigkeit werden Jean Paul also vorgehalten, doch halten sich diese Vorwürfe im Rahmen maßvoller Kritik, wie sie auch von den zeitgenössischen Rezensenten artikuliert worden war. Zwei andere, damals unpublizierte Xenien lassen sich genauer auf das Phänomen Jean Paul ein. Das eine lautet: »Nicht an Reiz noch an Kraft fehlt’s deinem Pinsel, das Schöne/ Schön uns zu mahlen, du hast leider nur Fratzen gesehn.« Das andere geht so: »Richter in London! Was wär’ er geworden! Doch Richter in Hof ist/ Halb nur gebildet, ein Mann, dessen Talent euch ergötzt.«27 Im ersten Xenion artikuliert sich der Vorbehalt der Klassiker gegen eine ästhetische Sicht auf die Welt, die, statt das Schöne im Kunstwerk zu gestalten, Fratzenhaft-Groteskes wahrnimmt und abbildet, im zweiten wird Richters Halbbildung auf die soziale Bindung an kleinstädtischdörfliche Verhältnisse zurückgeführt, die ihn über die Stufe des Talents nicht hinausgelangen lasse. Das korrespondiert mit Schillers großem Brief an Goethe vom 17. August 1797. Wenngleich Schiller darin zugestand, daß »Mangel einer aesthetischen Nahrung und Einwirkung von aussen und die Opposition der empirischen Welt« Autoren wie Hölderlin und Jean Paul bei der Ausbildung ihres Talents behindert hätten, so hob das alles in Schillers Augen nicht den Vorwurf auf, daß beide der empirischen Welt nicht genügend Widerstand ––––––– 26 27

WA I, 5.I, S.210. Ebd., S.281.

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entgegensetzten, dem Leiden an ihr erlegen waren und darum »subjectivisch«, »überspannt« und »einseitig«28 bleiben müßten. Bilanziert man die Urteile der Klassiker über den Hesperus-Autor, so stehen sie vordergründig im Zeichen von Irritation und Ratlosigkeit, letztlich aber im Zeichen schroffer Abwehr des ihnen Fremden und Unzugänglichen. Zutage trat eine autoritäre Argumentation, die Hervorbringer und Werk an den Normen des klassischen Kunstkonzepts maß und für »krank« befand. Wer jedoch annimmt, daß Jean Paul den Klassikern mit gleicher Münze heimgezahlt hätte, erliegt einem Irrtum. Wohl besitzt die Geschichte meiner Vorrede, die er nach der Rückkehr aus Weimar schrieb, eine deutlich polemische Komponente, doch diese Polemik wird in die humoristische Struktur des Textes integriert. Polemisiert wird auch nicht gegen künstlerische Leistungen der Klassiker, sondern gegen deren ästhetische Maximen. Durch den persönlichen Erzähler wird ein mehrstimmiges narratives Geschehen disponiert, und was dann eigentlich erzählt wird, ist die Geschichte einer nicht zustande kommenden Vorrede. Als polemische Bezugsfigur erfindet der Erzähler den Kunstrat Fraischdörfer, der in Jean Pauls Roman Titan später noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Dieser wackere Mann, soviel sei wenigstens verraten, sammelt unter Galgen Heilkräuter, weil sie dort auf fettem Boden gut gedeihen, und will daraus eine Kräutermütze zur Stärkung seiner Geisteskräfte verfertigen. Erzähler und Kunstrat begegnen sich unweit eines Galgens. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem sich der Erzähler dem Kunstrat hinter der Maske seines eigenen Idyllenhelden Quintus Fixlein verbirgt, und in diesem Gespräch legt der Erzähler dem Kunstrat ästhetische Urteile in den Mund und widerlegt sie anschließend. Fraischdörfer erweist sich als eine aus allen Reichen der Kritik zusammengesetzte Kunstfigur, wollte doch Jean Paul auf all das antworten, was von unterschiedlichen literarischen Parteiungen gegen ihn vorgebracht worden war. So opponierte er gleichermaßen gegen die Kritik der Klassiker wie gegen rationalistische Geschmacksurteile der gelehrten Aufklärung und wies auch Vorwürfe ab, wie sie im Lager der Trivialautoren erhoben worden waren. Insbesondere aber weckte all das seinen Einspruch, was sich seit Mitte der neunziger Jahre in Schillers theoretischen Schriften als klassisches Kunstprogramm manifestiert hatte. Dieser Einspruch gegen die Allgemeinverbindlichkeit klassischer Kunstlehren ist in Jean Pauls eigener künstlerischer Entwicklung gegründet.

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NA 29, S.118.

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Summarisch betrachtet, sollte die Kunst in Jean Pauls Augen in direkter Kommunikation mit dem Publikum in die Lebenswelt des Autors und einen zeitlich nahen Geschichtsabschnitt hineinwirken. Hier lag bereits ein Differenzpunkt zum Konzept der ästhetischen Erziehung Schillers, der die gegenwärtigen Wirkungschancen von Kunst mehr und mehr skeptisch beurteilte und seine Hoffnung auf einen längeren geschichtlichen Zeitraum richtete. Schillers Auffassung, wonach eine allmählich voranschreitende ästhetische Erziehung der Menschheit die Voraussetzung darstelle für einen über große geschichtliche Zeiträume hinweg zu erreichenden Zustand gesellschaftlicher Harmonie, vermochte Jean Paul nicht zu folgen, auch darum nicht, weil er soziale Wirklichkeit nicht durch den Filter des Distanz wahrenden Künstlers, sondern aus der Optik des Mitleidenden und Mitbetroffenen wahrnahm. Das Wirkliche erschien ihm in doppelter Perspektive, einerseits – und häufig satirisch abgespiegelt – in seinem sozialen Sosein, andererseits sub specie aeternitatis vor der Folie des Ewigen in seiner Nichtigkeit. Jean Pauls Sicht auf die Realität war die eines skeptischen Moralisten, der für einen nahen Zeitraum bescheidene Fortschritte von der moralischen Bewährung des einzelnen in seiner Lebenspraxis erhoffte und dem sich ein geschichtlicher Vollendungszustand allenfalls als eschatologische Wiederkunft eines ›Göttlichen‹ im Reich des Menschen darstellen konnte. Unter dem Aspekt einer moralisch-erzieherischen Wirkung der Kunst gewann auch die Antike in Jean Pauls ästhetischem Denken einen grundsätzlich anderen Stellenwert als in der klassischen Kunstprogrammatik. Nicht die ästhetisch-geschichtsphilosophische, sondern die politisch-aktivistische Dimension der Antike-Rezeption erwies sich dabei als prägend. Nicht Prometheus, das produktive Genie schlechthin, sondern Brutus, der altruistisch gesinnte Tyrannenmörder, bildete für Jean Paul die zentrale Bezugsfigur, und dies verband sich mit der Konzeption eines antidespotischen Republikanismus, wie er in der Modellvorstellung von einem künftigen politischen Gemeinwesen in Jean Pauls Romanen künstlerischen Ausdruck fand. Schränkte sich von dieser Seite her die Vorbildwirkung der Antike für die Konzeption einer modernen Kunst ein, so relativierte sie sich ebenso durch Jean Pauls Bindung an die soziale Realität in Deutschland. In der 1797 geschriebenen Erzählung Erklärung der Holzschnitte heißt es: Woher will die Humanität des froh lebenden Griechen, die Moralität des freiern, vom Glücke emanzipierten Menschen einem müden Geiste kommen, der keinen größeren Zirkel von Ideen kennt als den seines Spinnrades und keine andern Radien als die der Waife, und der keine Lust hat als Eßlust? – So lange daher noch das Erdgeschoß des Staates ein Amsterdamer Raspelhaus voll Arbeitsstuben ohne Ruhebänke bleibt [...] –: so geb’ ich nicht so viel, als ein

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altes Weib in Einem Tag erspuhlt, um die Kultur des Volks und um tausend andere Sachen.29

Der hier beschriebene Widerspruch schien Jean Paul unauflöslich zu sein. Daraus erwuchs seine Skepsis gegenüber einem idealisierenden Kunstverfahren, bei dem in seinen Augen die bedrückende Gegenwart übersprungen wurde. Es handelt sich deshalb um einen grundsätzlichen Einwand, wenn Fraischdörfer seine Polemik mit dem Argument eröffnet, »es gebe weiter keine schöne Form als die griechische, die man durch Verzicht auf die Materie am leichtesten erreiche«. Nachdem der Kunstrat sich einmal so dezidiert erklärt hat, formuliert er nach dem Willen seines Schöpfers ästhetische Maximen, die Schiller zugehören sollen. Ein vollkommenes Kunstwerk könne, so doziert Fraischdörfer, nur durch einen »unbedeutenden leeren Stoff oder durch die leere unbedeutende Behandlung eines wichtigen«30 entstehen. Das ist Jean Pauls Lesart von Schillers Grundsatz der Vertilgung des Stoffes durch die Form, wie er im 22. ästhetischen Brief formuliert worden war, und unter einer »leeren Behandlung« ist vor allem eine antikisierende Formgebung zu verstehen. Schillers Prinzip der Vertilgung des Stoffes durch die Form verstand Jean Paul nicht als Signatur ästhetischer Freiheit und Autonomie der Kunst, sondern als artistisches Kalkül, durch die der Kunst der Verlust an bedeutsamem sozialen Gehalt drohe. Jean Paul ließ es nicht beim kritischen Referieren und Kommentieren ästhetischer Maximen bewenden, sondern er machte auf negative Folgen aufmerksam, die aus der Vertilgung des Stoffes durch die Form erwachsen könnten, und dabei fungierte der Kunstrat Fraischdörfer als warnendes und abschreckendes Exempel. Gefühlskalte Verhärtung gegenüber menschlichem Leid, der Tod des eigenen Kindes als artistisches Reizmittel für den Künstler – deutlicher konnte Jean Paul, als er Fraischdörfer diese Empfehlungen in den Mund legte, die schlimmen Konsequenzen nicht benennen, die nach seiner Auffassung eine Haltung des amoralischen Ästhetizismus mit sich führen würde – in der Figur des Roquairol im Titan ist dieses Prinzip zu faszinierender ästhetischer Erscheinung gelangt. Für Jean Paul stellte moralische Lauterkeit des schöpferischen Subjekts einen wichtigen Impuls künstlerischer Produktion dar. Daß die Emotionen des Künstlers dabei als unmittelbares Wertmaß für dessen Integrität und soziales Engagement fungieren, sei hervorgehoben, denn so werden Jean Pauls Urteile über Goethes »Kälte« und über den »felsigten« Schiller verständlich. Solche Befunde waren für Jean Paul Indizien, die auf den »Egoismus« der Klassiker verwiesen. Doch am ––––––– 29 30

SW I/ 7,117. SW I /5,21.

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Ende obsiegte seine allgemeine Menschenliebe. Nach Erscheinen der Xenien schrieb er am 8. November 1796 an Charlotte von Kalb, er habe »gegen Göthe und Schiller eben so viele Liebe als eigentlich Mitleid mit ihren eingeäscherten Herzen«.31 In der Geschichte meiner Vorrede begegnete Jean Paul den klassischen Postulaten mit gewachsenem Selbstbewußtsein. »Sage, was du willst, denn ich schreibe, was ich will«32 hielt er dem Kunstrat entgegen, und von daher bildete die Explikation des eigenen künstlerischen Standorts eine wesentliche Komponente in der Struktur der Geschichte. Durch die ästhetische Theorie Schillers fühlte sich Jean Paul überdies in seinem Lebensrecht als Prosaautor betroffen, und wenngleich dieser Aspekt in den Argumenten Fraischdörfers nicht zum Tragen kommt, so waren dem humoristischen Prosaisten Jean Paul Schillers Äußerungen zum modernen Roman in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung nicht unbekannt geblieben. Der Roman, so schrieb Schiller dort, werde immer zu den Zeiten Zuspruch erfahren, »wo man ästhetische Werke bloß schreibt, um zu gefallen, und bloß liest, um sich ein Vergnügen zu machen«. Der Dichter, »der keusche Jünger der Muse«, bleibe vom »Romanschreiber« geschieden, »der nur sein Halbbruder ist, und die Erde noch so sehr berührt.«33 Schiller nahm den Roman zwar generell als ästhetisches Phänomen zur Kenntnis und war selbst, wie wir wissen, zum marktgängigen Belletristen geworden, doch er konnte sich nicht entschließen, den Roman in den tradierten Gattungskanon einzubeziehen. Genau an diesem Punkt aber stellte Jean Paul die eigene künstlerische Legitimation unter Beweis. In der Geschichte meiner Vorrede brachte er sein ästhetisches Konzept durch das humoristische Erzählen selbst zur Geltung. Gestiftet wird durch den auktorialen Erzähler eine vertrauliche Autor-LeserKommunikation, die am Ende in eine große kosmisch-allegorische, Trost und Zuversicht verheißende Traumerzählung hinüberwächst. Damit gab Jean Paul der Geschichte einen großen programmatischen Ausblick und setzte einen erzählerischen Kontrapunkt zum klassischen Kunstkonzept. Was sich in der Geschichte als Plädoyer für die ästhetische Relevanz des humoristischen Prosakunstwerks im Ansatz Geltung verschaffte, wurde dann in der Vorschule der Ästhetik 1804 zu einer eigenen Poetik des Romans ausgebaut. Dabei hob Jean Paul die »Weite seiner Form« hervor, worin »fast alle Formen liegen und klappern können«, und definierte den Roman als »einzige ––––––– 31 32 33

SW II/2,271. SW I /5,23. NA 20, S.462.

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erlaubte poetische Prose«.34 Damit bezog er sich fast wörtlich auf den 99. der Herderschen Briefe zu Beförderung der Humanität, wo dieser den Roman als »Poesie in Prose«35 definiert hatte. Nach Erscheinen der Geschichte zeigte sich bald, daß Jean Pauls Methode, literarische Polemik in das humoristische Erzählen selbst zu integrieren, nicht dazu angetan war, bei den Angegriffenen Gegenreaktionen auszulösen. In dem vom auktorialen Erzähler disponierten Erzählgeschehen erhielten auch die kritisch-polemischen Reflexionen einen spielerisch-verfremdenden Charakter, der dem Leser die Stoßrichtung von Jean Pauls leidenschaftlich vorgetragenen Einwänden eher verhüllte als offenlegte. So blieb sein Text ohne Folgen. Für den humoristischen Prosaisten war damit die Polemik gegen das antikisierende Kunstideal der Klassik im wesentlichen abgeschlossen. Stärker trat in den folgenden Jahren, wie die beiden Auflagen der Vorschule der Ästhetik von 1804 und 1810 zeigen, eine Tendenz zum toleranten Verständnis der Weimarer ›Dioskuren‹ hervor, was eine zuweilen scharfe Kritik an Schillers Werken nicht ausschloß. Die klassische Fraktion ließ sich nur im Sommer 1796 auf eine polemische Auseinandersetzung ein. Als Jean Paul sich von Oktober 1798 an für zwei Jahre in Weimar aufhielt, begegneten Goethe und Schiller dem Schriftsteller mit mehr oder minder freundlichem Wohlwollen, nahmen von seinen Werken im einzelnen indes wohl kaum Kenntnis. Dem Pädagogen Jean Paul, dem Autor der Levana, zollte Goethe Jahre später hohe Anerkennung, wie sein Brief an Knebel vom 16. März 1814 erweist. Überdies entwickelte der alternde Dichter eine größere Verständnisbereitschaft für bis dahin als befremdlich und abstoßend empfundene Phänomene der europäischen und außereuropäischen Kulturen, und vor diesem Hintergrund ist auch seine Charakteristik Jean Pauls in den 1819 veröffentlichten Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans zu sehen, die sich im Abschnitt »Vergleichung« findet. Ich zitiere daraus: Ein Mann, der des Orients Breite, Höhen und Tiefen durchdrungen [zu beziehen auf ein Urteil Hammer-Purgstalls in seiner Geschichte der schönen Redekünste Persiens, J.G.], findet, daß kein deutscher Schriftsteller sich den östlichen Poeten und sonstigen Verfassern mehr als J e a n P a u l R i c h t e r genähert habe; dieser Ausspruch schien zu bedeutend, als daß wir ihm nicht gehörige Aufmerksamkeit hätten widmen sollen; auch können wir unsere Bemerkungen darüber um so leichter mittheilen, als wir uns nur auf das oben weitläufig Durchgeführte beziehen dürfen.

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SW I/11,233. Johann Gottfried Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität. Berlin und Weimar 1971. Bd.2, S.112.

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Jochen Golz Allerdings zeugen, um von der Persönlichkeit anzufangen, die Werke des genannten Freundes von einem verständigen, umschauenden, einsichtigen, unterrichteten, ausgebildeten und dabei wohlwollenden, frommen Sinne. Ein so begabter Geist blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt, daß ein geheimer ethischer Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird. Wenn wir nun vor kurzem die Natur-Elemente, woraus die älteren und vorzüglichsten Dichter des Orients ihre Werke bildeten, angedeutet und bezeichnet, so werden wir uns deutlich erklären, indem wir sagen: daß, wenn jene in einer frischen, einfachen Region gewirkt, dieser Freund hingegen in einer ausgebildeten, überbildeten, verbildeten, vertrackten Welt leben und wirken, und eben daher sich anschicken muß die seltsamsten Elemente zu beherrschen. [...] Gestehen wir also unserm so geschätzten als fruchtbaren Schriftsteller zu, daß er, in späteren Tagen lebend, um in seiner Epoche geistreich zu sein, auf einen durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und Verderb so unendlich verclausulirten, zersplitterten Zustand mannichfaltigst anspielen müsse; so glauben wir ihm die zugesprochene Orientalität genugsam bestätigt zu haben. Einen Unterschied jedoch, den eines poetischen und prosaischen Verfahrens, heben wir hervor. Dem Poeten, welchem Tact, Parallel-Stellung, Sylbenfall, Reim die größten Hindernisse in den Weg zu legen scheinen, gereicht alles zum entschiedensten Vortheil, wenn er die Räthselknoten glücklich lös’t, die ihm aufgegeben sind, oder die er sich selbst aufgibt; die kühnste Metapher verzeihen wir wegen eines unerwarteten Reims und freuen uns der Besonnenheit des Dichters, die er, in einer so nothgedrungenen Stellung, behauptet. Der Prosaist hingegen hat die Ellebogen gänzlich frei und ist für jede Verwegenheit verantwortlich, die er sich erlaubt; alles was den Geschmack verletzen könnte kommt auf seine Rechnung. Da nun aber, wie wir umständlich nachgewiesen, in einer solchen Dicht- und Schreibart das Schickliche vom Unschicklichen abzusondern unmöglich ist; so kommt hier alles auf das Individuum an, das ein solches Wagstück unternimmt. Ist es ein Mann, wie Jean Paul, als Talent von Werth, als Mensch von Würde, so befreundet sich der angezogene Leser sogleich; alles ist erlaubt und willkommen. Man fühlt sich in der Nähe des wohldenkenden Mannes behaglich, sein Gefühl theilt sich uns mit. Unsere Einbildungskraft erregt er, schmeichelt unseren Schwächen und festiget unsere Stärken. Man übt seinen eigenen Witz, indem man die wunderlich aufgegebenen Räthsel zu lösen sucht, und freut sich in und hinter einer buntverschränkten Welt, wie hinter einer andern Charade, Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung zu finden.36

Man sollte sich indes hüten, aus dem Gehörten eine uneingeschränkte Anerkennung Jean Pauls herzuleiten. Wohl ist Goethes Text insgesamt durch ein Bemühen um Objektivität gekennzeichnet, doch steht dieses Bemühen im Zeichen ironischer Souveränität, nach deren Maßgabe das Fremde beurteilt ––––––– 36

WA I, 6, S.111–114.

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wird; und dabei werden wiederum Abstand und Distanz kenntlich. Gemessen wird Jean Paul mit dem Maß des »Schriftstellers«, nicht mit dem Maß des »Dichters«. In diesem Rahmen gesteht ihm Goethe Talent und menschliche Würde zu und konzediert zugleich, daß die geschichtliche Situation dem modernen Prosaisten eine Verfahrensweise nahelege, die mit dem ambivalenten Begriff »Orientalität« bezeichnet wird. Zwischen dem Gedicht Der Chinese in Rom und den Noten und Abhandlungen liegen mehr als zwanzig Jahre. Hinzugewonnen wurden in diesem Zeitraum Erfahrungen, die Goethe zu der Überzeugung brachten, daß ein Autor wie Jean Paul seiner spezifischen Disposition nach auf einen »unendlich verclausulirten, zersplitterten Zustand« gar nicht anders als in den Formen seiner humoristischen Erzählprosa Bezug nehmen könne. Einen weiteren Schritt zu tun und dem humoristischen Prosaschriftsteller künstlerisch adäquate Gestaltung moderner Lebensproblematik zuzugestehen, war er nicht bereit. Diesen Weg hatte wenige Jahre zuvor Joseph Görres beschritten, als er Jean Paul zum eigentlichen literarischen Repräsentanten der Moderne erklärte. Daß die Kontroverse zwischen Jean Paul und den Klassikern niemals offen ausgetragen wurde, hing letztlich mit soziokulturellen Umschichtungsprozessen an der Schwelle der Moderne zusammen. Es macht die Bedeutung der Kontroverse aus, daß sie bereits zu einem geschichtlich frühen Zeitpunkt zustande kommen konnte; aus dem Zeitpunkt erklärt sich freilich auch, warum beide Seiten ihre gegensätzlichen Auffassungen weniger vordergründigdirekt in polemischen Texten als vielmehr spielerisch im Kunstwerk selbst artikulierten. Indes ist nicht zu verkennen, daß die hier zutage tretende Polarität in einem weiteren Sinne Traditionen gestiftet hat. Hinfort wurde immer wieder auch Jean Paul als Zeuge aufgerufen, wenn Schreiben aus artistisch-souveräner Distanz oder Schreiben aus existentieller Betroffenheit zur Entscheidung stand, wenn Autoren ihren Stoff einem strengen Gestaltungswillen unterwarfen oder der Disparatheit moderner Lebensverhältnisse durch die Struktur ihrer Prosa selbst Rechnung zu tragen suchten. Gleichermaßen aber ist die polare Beziehung zwischen Jean Paul und den Klassikern später oft als Schibboleth beschworen worden, damit neue soziale und geistige Interessen, neue künstlerische Intentionen durchgesetzt werden konnten – ein Vorgang, der sich bereits an der Position des Goethe-Antipoden und Jean-Paul-Verehrers Ludwig Börne exemplifizieren läßt. Und nicht nur an der seinigen. In dieser Tradition steht auch der eingangs schon genannte Martin Walser, steht manch anderer unter den auf Jean Paul eingeschworenen Prosaisten im deutschsprachigen Raum. Eine, so ist zu hoffen, vielleicht unendliche Geschichte.

BERNHARD BUSCHENDORF

JEAN PAULS SELINA Ein jacobianisch-platonisches Enkomion auf die Unsterblichkeit der Seele

Da Friedrich Heinrich Jacobi seine Glaubensphilosophie unter beständiger Berufung auf Platon entwickelte, seine Metaphysik als Platonismus verstand und wiederholt die große Bedeutung hervorhob, die Platon zeitlebens für ihn hatte, wurde er auch von den Zeitgenossen als Platoniker charakterisiert und von seinen Verehrern mit dem antonomastischen Ehrentitel eines ›deutschen Platon‹ bedacht.1 Jean Paul übernahm Jacobis Metaphysik und legte sie seinen dichterischen Werken zugrunde, wobei er seinem philosophischen Lehrmeister auch darin folgte, daß er sein Denken und Dichten durch ständige Anleihen an platonischem Gedankengut und platonischer Bildersprache nach Kräften zu stützen und auszuschmücken suchte.2 ––––––– 1

2

Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Kapitels meiner 1993 an der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg eingereichten Habilitationsschrift »Mit Platons und Jacobis Musenpferden pflügen.« Studien zur Metaphysik in Jean Pauls Ästhetik und Dichtung. Zu Jacobis Selbstverständnis als Platoniker siehe etwa Friedrich Heinrich Jacobis An Schlosser über dessen Fortsetzung des Platonischen Gastmahles, in: ders., Werke, hrsg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Leipzig 1812ff. [Nachdruck Darmstadt 1968], Bd.VI, S.65f.; vgl. auch die als Einleitung zu seinen sämtlichen philosophischen Werken gedachte Vorrede zu David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus (1787) in: Werke, Bd.II, S.3–330, hier: S.29f. Zur zeitgenössischen Charakterisierung des Philosophen als ›deutscher Platon‹ siehe zum Beispiel Friedrich Köppen, »Zehnter Brief: Erinnerungen an Friedrich Heinrich Jacobi«, in: ders., Vertraute Briefe über Bücher und Welt. 1.Teil. Leipzig 1820, S.367–406, hier: S.385; ders., Darstellung des Wesens der Philosophie. Nürnberg 1810, S.Vf.; Ferdinand Deycks, Friedrich Heinrich Jacobi im Verhältnis zu seinen Zeitgenossen, besonders zu Goethe. Ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der neuern deutschen Literatur. Frankfurt a.M. 1848, S.2; sowie Joseph Marie de Gerando, Histoire comparée des systèmes de philosophie. Paris 1804, 1.Teil, Kapitel 17. Zur PlatonRezeption des Düsseldorfer Denkers siehe Klaus Hammacher, Platon bei Jacobi, in: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, hrsg. von Theo Kobusch (u.a.). Darmstadt 1997, S.183–192. Seit seiner ersten Bekanntschaft mit den Schriften Jacobis Anfang 1789 war Jean Paul ein begeisterter Anhänger des Philosophen. Zu einer Skizze der Bedeutung Jacobis für Jean Paul mit Hinweisen auf die einschlägige Forschung siehe: Bernhard Buschendorf, »Um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt.« Zur relativen Auto-

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Bernhard Buschendorf

Da auch die Selina nur vor dem Hintergrund dieser Metaphysik verstanden werden kann, möchte ich zunächst fünf ihrer Grundzüge ins Gedächtnis rufen: Erstens ihre ontologische Konzeption als Zweiweltenlehre, die der platonischen Tradition gemäß zugleich als duale Axiologie oder Zweiwertelehre gefaßt ist, mit einer geringerwertigen ersten, diesseitigen oder Sinnenwelt und einer höherwertigen zweiten, jenseitigen oder geistigen Welt. Zweitens der realistische Zug ihrer Gnoseologie, der sich in der Überzeugung von der erkenntnisunabhängigen Faktizität oder objektiven Existenz der Wirklichkeit sowie in der Annahme zeigt, wir hätten zur empirischen und vor allem zur transzendenten Welt einen direkten – durch keinerlei Vorstellungen oder Ideen vermittelten – Zugang.3 Drittens der gefühlsphilosophische Zug dieser Erkenntnislehre, der in der Überzeugung zum Ausdruck kommt, daß die Gewißheit von der Existenz beider Welten und der primäre Zugang zu ihren Gegenständen auf rationalem Wege nicht zu erlangen sei, sondern einem basalen Gefühl entspringe. Viertens die mit der Vorstellung vom Gefühl als Königsweg zur jenseitigen Welt verbundene Idee, daß ästhetische Gegenstände wie das Schöne oder das Erhabene der Natur, die bildende Kunst und die Musik, vor allem aber die Poesie aufgrund ihrer gefühlsappellativen Wirkungsweise besonders geeignet seien, dem Menschen die Gewißheit von der Existenz der Transzendenz zu geben und einen Zugang zum Übersinnlichen zu eröffnen,4 eine Idee, die Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik zu der berühmten Definition inspirierte, »die Poesie [sei] die einzige zweite Welt in der hiesigen«.5 Und fünftens die grundlegende Unterscheidung zwischen einer unmittelbaren und einer mittelbaren Weise des Gefühlsappells, denn auf –––––––

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nomie des Ästhetischen bei Jean Paul, in: JJPG 35/36 (2000/2001), S.218–237, hier: S.220–226; ders., »Der Instinkt des Göttlichen«. Zur formprägenden Macht der Metaphysik, in: Kurt Wölfel, Jean Paul-Studien, hrsg. von Bernhard Buschendorf. Frankfurt a.M. 1989, S.402–424, hier: S.402–405; vgl. auch die instruktiven Darlegungen in Gustav Lohmann, Jean Paul. Entwicklung zum Dichter. Würzburg 1999, S.492–514; sowie die luziden Ausführungen in Ralf Goebel, Philosophische Dichtung – dichtende Philosophie. Eine Untersuchung zu Jean Pauls (Früh-)Werk unter Berücksichtigung der Schriften Johann Gottfried Herders und Friedrich Heinrich Jacobis. Frankfurt a.M. 2002, S.137–154. Vgl. hierzu Jacobi, David Hume über den Glauben [Anm.1], S.230f., wo Jacobi erklärt, »daß die Erkenntnis des Wirklichen außer uns [...] geradezu durch die Darstellung des Wirklichen selbst gegeben werde, so daß kein anderes Erkenntnismittel dazwischen eintrete.« Was die metaphysische Funktionsbestimmung der Poesie betrifft, so erklärt Jean Paul am 16. August 1802 in einem Brief an Jacobi: »Auf deine Frage, was denn mein Ernst hinter der Dichtung ist? antwort’ ich: deiner.« (SW III/4,168). Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, I/5,7–457, hier: S.30.

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dieser mittelbaren Weise basieren nicht zuletzt die poetischen Nihilismusexperimente, zu denen sich Jean Paul durch Jacobi anregen ließ. Auf unmittelbare Weise sucht Jacobi an das basale Gefühl für die zweite Welt zu appellieren, indem er geradezu beschwörend eine Vielzahl von synonymen Begriffen für dieses Organ und seine Gegenstände aufbietet, die Existenz dieses Vermögens unter massivem Einsatz rhetorischer Mittel emphatisch behauptet oder unter Hinweis auf seine angebliche Evidenz als fraglos gegeben statuiert. Wählt Jacobi dagegen die mittelbare Weise des Gefühlsappells, dann malt er die Unsinnigkeit und Unerträglichkeit eines konsequent verfahrenden Rationalismus mit seinen nihilistischen und fatalistischen Folgen drastisch aus, führt also die Methoden und Ansichten des Verstandes gewissermaßen ad absurdum, um das besagte Vermögen dagegen aufbegehren und samt seinen transzendenten Gegenständen ins Bewußtsein treten zu lassen. Und auf dieser paradoxalen Struktur des mittelbaren Gefühlsappells beruht auch das poetische Nihilismusexperiment. Doch welche Weise des Gefühlsappells Jacobi auch wählt, stets versucht er, sich über den Boden des rationalen Denkens abrupt zu erheben, indem er aus dem Schematismus des Verstandes mittels eines geistigen Umschwungs plötzlich herausspringt, den er bekanntlich als salto mortale bezeichnete. Um in Jacobis akrobatischem Bild zu bleiben: Eigentlich nimmt er mit seinem salto mortale einen gezielten Ebenenwechsel vor. Seinem Selbstverständnis zufolge springt er nämlich mit diesem argumentativen Überschlag aus der rationalen Ebene des begrifflichen Denkens, um sicheren Fußes auf der existentiellen Ebene menschlicher Daseinserfahrung zu landen.6 Seiner Überzeugung nach liegen hier die geistigen Werte des Lebens, und insbesondere die Gegenstände der zweiten Welt wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit offen zu Tage. Wie Jacobi glaubt, verstehen sich diese Grundorientierungen von selbst, müssen in ihrer unmit––––––– 6

Besonders eindrucksvoll führt Jacobi diesen salto mortale in seinem berühmten Gespräch mit Lessing vor, als er in seinem skeptischen Opponenten den Glauben an die Existenz der menschlichen Freiheit dadurch zu stimulieren sucht, daß er ihm mit aller Deutlichkeit die Absurdität und Unannehmbarkeit eines konsequent befolgten, in Fatalismus und Determinismus mündenden Rationalismus vor Augen rückt. Vgl. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza (1789), in: Werke [Anm.1], Bd.IV,1, S.59ff. An seinen Anhänger Johann Neeb schreibt Jacobi am 30. Mai 1827, bei seinem »Salto mortale genannten [...] Umschwung in der Luft« sei »nicht die Rede von einem Kopfunter hinabstürzen von einem Felsen in den Abgrund, sondern von einem, von ebenem Boden aus, sich über Felsen und Abgrund Hinwegschwingen und jenseits wieder fest und gesund auf die Füße zu stehen kommen.« Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel, hrsg. von Friedrich Roth, 2 Bde. Leipzig 1869, Bd.2, S.466. Zur methodischen Bedeutung und existentiellen Fundierung des Jacobischen salto mortale vgl. Klaus Hammacher, Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. München 1969, S.71–91.

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telbaren Evidenz nur auf die richtige Weise angesprochen oder angemessen zur Darstellung gebracht und damit ins Bewußtsein gehoben werden, sind aber eines rationalen Auf- oder Beweises weder fähig noch bedürftig. Wie ich im folgenden an der Konzeption und Komposition der Selina7 sowie an zentralen Aspekten ihrer Form und ihres gedanklichen Gehalts zeigen möchte, legte Jean Paul die soeben skizzierte Metaphysik auch diesem seinem letzten, Fragment gebliebenen Werk zugrunde, wobei er sie freilich zugleich weiterentwickelte und zu präzisieren suchte, indem er in sie bestimmte Gedanken des Platonismus, des Leibnizianismus und des auf Anton Mesmer zurückgehenden Magnetismus integrierte, insbesondere die Idee der Kette der Wesen, die Theorie des Unbewußten und das Konzept des Ätherleibs.

1. Dominanz des Poetischen, Rückgriff als Vorgriff, Verklärung der Jugendzeit, deutscher Schauplatz und Heroisierung des Erhabenen, Wiedergeburt der Charaktere Erschüttert durch den plötzlichen Tod seines einzigen Sohnes Max im September 1821, beschloß der trostbedürftige Jean Paul am Tag der Beerdigung, endlich sein lange geplantes, zweites Buch über die Unsterblichkeit in Angriff zu nehmen und es dem geliebten Verstorbenen zuzueignen: Das ist das einzige Buch, das Er jetzo von mir nicht zu lesen braucht, da Er die Unsterblichkeit selber im Beweise hat. – Seinen Begräbnistag heilige ich mir durch den Entschluß, über die Unsterblichkeit zu schreiben – seine Asche sei mir Phönixasche – Zueignung an Ihn! Der Scherz ist für den Augenblick Trost, der Ernst für das Leben.8

Seit Erscheinen seiner ersten Monographie zur Unsterblichkeitsfrage, der Erzählung Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele (1797),9 ––––––– 7

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Jean Paul, Selina, oder über die Unsterblichkeit der Seele, I/6,1105–1236; auf diese Ausgabe beziehen sich die im folgenden im Text eingeklammerten Seitenangaben. An neuerer Forschung zur Selina siehe: Thomas Weber, Der Vernichtglaube. Die Diagnose der modernen Systemphilosophie in Jean Pauls »Selina«. Frankfurt a.M./Berlin 1994; Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart/Weimar 1995, S.142–147; sowie Catherine Winter, The Mind-Body Problem in German Literature 1770–1830. Wezel, Moritz, and Jean Paul. Oxford 2002, S.150–163. Jean Paul, [Neues] Kampaner Thal, Eintrag 83, SW II/4,150. Jean Paul, Das KampanerTal, I/4,567–626. Zu Jean Pauls Umsetzung der Jacobischen Metaphysik in diesem seinem ersten poetischen Unsterblichkeitsgespräch siehe: Bernhard Buschendorf, Jean Pauls »Kampaner Tal«. Ein »mendelssohn-

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die mit einschlägigen, vornehmlich gesprächsweise vorgetragenen Erörterungen durchwoben war, schwankte Jean Paul für die Publikationsform des zweiten Buchs und für dessen Konzeption zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Die zunächst erwogene Veröffentlichung einer überarbeiteten, in den diskursiven Passagen erweiterten Fassung des Kampaner Tal wurde durch unerlaubte Ergänzungs- bzw. Nachdrucke immer wieder ökonomisch vereitelt.10 Obgleich Jean Pauls intensive – auch nach 1797 beharrlich betriebene – Auseinandersetzung mit dem tradierten und zeitgenössischen Schrifttum zur Unsterblichkeitsfrage sowie die dabei unter dem Arbeitstitel [Neues] Kampaner Thal entstandene Sammlung von Aphorismen und Reflexionen an sich den Gedanken an ein stark philosophisch akzentuiertes Werk, wenn nicht gar an eine rein theoretische Abhandlung nach Art des 1791 verfaßten Traktats Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewustseins nahelegten, kam eine solche Konzeption eigentlich nie ernsthaft in Betracht, denn Jean Paul war, wie gesagt, mit Jacobi der Überzeugung, daß die Poesie dank ihrer gefühlsappellativen Leistungsqualität der begrifflichen Erörterungsform von Philosophie und Wissenschaft auch und gerade in der Behandlung metaphysischer Fragen weit überlegen sei. Doch erst im Winter 1822/23 entscheidet sich Jean Paul endgültig für die Beibehaltung der poetischen – bereits im Kampaner Tal erfolgreich erprobten – Form, also für die Dominanz des Poetischen über das Diskursive, wobei er diese Gewichtung auch im Titel zu spiegeln sucht, denn er verbannt die theoretische Bestimmung des Gegenstands in den Untertitel und wählt den klangvollen Namen der weiblichen Heldin als Haupttitel: Selina, oder über die Unsterblichkeit der Seele.11 Da Richter eine Überbietung des 1797 erreichten Argumentations- und Darstellungsniveaus, ja eine »Vollendung des Kampanerthals«12 vorschwebte, entschied er sich gegen die Möglichkeit eines ganz neuen Plots mit völlig ––––––– 10

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platonisches Kolloquium« über die Unsterblichkeit der Seele, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S.63–92. Eduard Berend, Jean-Paul-Bibliographie, neu bearbeitet und ergänzt von Johannes Krogoll. Stuttgart 1963, S.7f. und 17, erwähnt einen vermutlich unberechtigten Ergänzungsdruck von 1797, zwei unerlaubte Nachdrucke von 1797 und 1801, sowie das von dem Wiener Zensor Ficker stammende Zeugnis über einen weiteren solchen, angeblich in Österreich erschienenen Nachdruck, der von Berend jedoch nicht verifiziert werden konnte. So der bereits 1824 im Meßkatalog angezeigte Titel. In der Selina-Handschrift hatte Jean Paul außerdem noch die Titel »Siona oder über die Unsterblichkeit«, »Siona, oder der 2te Teil des Kampanerthals« bzw. »Selina oder über die Unsterblichkeit als Vollendung des Kampanerthals« (SW II/4,422, 456 und 459) erwogen. Siehe hierzu Berends Einleitung zu [Neues] Kampaner Thal und Selina, ebd., S.LIVf. Jean Paul, Selina-Handschrift, SW II/4,459.

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neuem Personal und konzipierte das Werk als Fortsetzung des Kampaner Tal. Dies ermöglichte ein Weiterspinnen der alten Geschichte, gestattete die zumindest teilweise Übernahme des vertrauten Personals, wobei er seine Kampaner Freunde freilich nunmehr – wie sich selbst auch – in gesetztem Alter zu schildern hatte, und erlaubte das Mitspielen ihrer Kinder, die er denn auch ins Zentrum der Handlung stellte. Die Eröffnung des neuen Werks durch einen Rückblick auf das Kampaner Tal war die salomonische Lösung für das kompositorische Problem der Gestaltung des Anfangs, das Richter lange beschäftigte, nämlich die Antwort auf die Frage, ob mit der theoretischen Untersuchung oder mit der Geschichte einzusetzen sei. Durch die Entscheidung für die Eröffnung mit einer Rückblende brauchte er »nicht« sofort mit der eigentlichen »Geschichte« zu beginnen,13 konnte das Exordium aber gleichwohl »erhaben und begeisternd« gestalten, damit man, dergestalt ergriffen, »lieber die Untersuchung anfängt.«14 Der hochgestimmte Einsatz mit den »Familiennachrichten von der alten Kampaner Reisegesellschaft« (1107) fungiert somit als eine Art Präludium und entspricht Jean Pauls Absicht, mit einer in freudigem Ton gehaltenen Vorwegnahme des Ganzen zu beginnen:15 Es war eine selige Zeit – denn im Innern war es fast noch Jugendzeit –, als ich vor dreißig Jahren unter meinen vielen Fußreisen [...] die schönste Reise in der schönsten Gesellschaft machte durch das Kampaner Tal und als um mich bloß Liebende waren und um uns lauter Glückliche bis hinauf zu der sanften grünenden Bergkette, wo junge Hirten herabsangen zu den arbeitenden Männern in dem GebirgAbhang und zu den Hirtengreisen unten, welche von den Jugendjahren in stillem Glücke schon auf der Erde, nicht in ihr ausruhten. Unsere Reisegespräche betrafen, wie meine Leser aus dem kleinen Buche darüber wissen, meistens die Seelenunsterblichkeit; an die Aussichten in das Zaubertal und auf die Zauberhöhen wurden die Aussichten in die zweite Welt gereiht wie die blumige Erde sich an den gestirnten Himmel schließt. Nur der Rittmeister Karlson nahm den Gottesacker für den ewigen Brachacker ohne Saat; daher dichtete er seine »Klage ohne Trost«, als er die von ihm im stillen geliebte Braut seines Freundes Wilhelmi nach einer falschen Nachricht gestorben glaubte. (1107)

Dieses Eingedenken an die selige Jugend und das damals erörterte Thema soll auf Geschichte und Gegenstand der Selina vorbereiten und zugleich ihren Geist beschwören. Die Absicht einer Verklärung seiner Jugend als glücklicher Vorzeit zeigt sich auch darin, daß Jean Paul das Kampaner Tal bereits in ––––––– 13 14 15

Ebd., S.455. Ebd., S.418. So notiert Jean Paul etwa: »Anfangs lauter Freude« bzw. »Überhaupt alles Ganze früher als die Reden«, ebd., S.456 und 457.

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den Vorarbeiten zur Selina als »das lebendige Werk der Jugend«16 preist und demgemäß in der soeben zitierten Eingangspassage die arkadischen Züge der seligen Jugendzeit betont: die Schönheit des Spaziergangs, die Schönheit der daran teilnehmenden Gesellschaft von Freunden, ihre Liebe untereinander und das damals allseits herrschende Glück. Im Sinne dieser Verklärungsabsicht dichtet er in seinem Rückblick die im Kampaner Tal gar nicht erwähnten Schäfer hinzu: die »junge[n] Hirten« auf der »sanften grünenden Bergkette«, die »arbeitenden Männer in dem GebirgAbhang« und die »Hirtengreise« im Tale, »welche von den Jugendjahren in stillem Glücke schon auf der Erde, nicht in ihr ausruhten.« Sie bilden eine arkadische, charakteristischerweise durch Gesang verbundene Gemeinschaft dreier Lebensalter, die der Autor auf diese Weise dem in der Selina selbst vorgeführten harmonischen Zusammenleben von Jung und Alt gleichsam als idyllisches Ideal vorhält. Dieser vom Tode scheinbar unbetroffenen Schäferwelt entspricht es denn auch, daß Jean Paul an die vormaligen »Reisegespräche« über »die Seelenunsterblichkeit« erinnert und diese Immanenz der Transzendenz durch zwei Bilder illustriert, in denen die hiesige und die jenseitige Welt durch eine kunstvolle Verschränkung von Metapher und Vergleich in gegenläufiger Bewegung miteinander verbunden sind: »an die Aussichten in das Zaubertal und auf die Zauberhöhen wurden die Aussichten in die zweite Welt gereiht wie die blumige Erde sich an den gestirnten Himmel schließt.« Die Erinnerung an Karlsons »Klage ohne Trost« soll ebenso wie dessen gleichfalls im ersten Kapitel erfolgende »Ausmalung des Vernichtglaubens« (1107) auf die wirkungsästhetische Grundabsicht der Selina vorbereiten, denn die Haupthandlung der Erzählung, die Liebe zwischen der Titelheldin und ihrem Verlobten Henrion, ist, wie ich zeigen möchte, der Konzeption nach ein großangelegtes poetisches Nihilismusexperiment. Ein bedeutsamer Zug der von Jean Paul skizzierten Vorgeschichte ist die Verlegung des Schauplatzes in nördliche Breiten. Wie Jean Paul nach einer gefühlvollen Erinnerung an Karlsons und Giones verhehlte Liebe und ihrer beider Entsagung berichtet, habe sich Karlson nach dem Abschied aus dem Kampaner Tal zunächst auf eine liebetrauernde und poesiebegeisterte Wanderschaft begeben und »endlich [...] auf sein Rittergut Falkenburg in Deutschland« (1108) zurückgezogen, um dort die besonnene, warmherzige und fromme Gräfin Josepha von *** zur Frau zu nehmen. Durch die Revolu––––––– 16

»Das Kampanerthal, das lebend(ige) Werk der Jugend; denn Jugend nennt der 60jährige das 30jährige oder seine Hälfte.«, ebd., S.436; vgl. ferner die Notizen: »Ein Jüngling oder ich habe die Jugendansicht.«, »Feurige Darstellung der Jugend und dadurch des Kampanerthals.«, ebd., S.418 und 419.

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tionskriege aus dem Kampaner Tal vertrieben, erwerben Wilhelmi und Gione die in der unmittelbaren Nachbarschaft von Gut Falkenburg gelegene »reizende Besitzung« »Wiana« (1109), so daß beide Anwesen »nur die bunten Flügel eines großen Parks zu bilden« (1109) scheinen. Mit diesem ausdrücklich als »verdeutschtes Kampanertal« (1109) bezeichneten Lokal hat sich Jean Paul bewußt die Möglichkeit geschaffen, die Gespräche wieder auf Spaziergängen in einem »reichen landschaftlichen Garten« stattfinden zu lassen, »worin Korn- und Blumenfluren und Täler und Dörfer [...] liegen.« (1111) So konnte er nach der jahrelangen Arbeit am Komet, der als komischer Roman für Naturschilderungen wenig Raum ließ, endlich »[e]inmal wieder Natur [...] beschreiben«,17 nämlich »eine seltsam-schöne Gegend« malen, »die mit zahllosen Baumgruppen und Baumgängen, langen Wasserspiegeln und Wasserwindungen und breiten Gängen durch unabsehliche Kornfluren sich bis an ferne Gebirge ausdehnte.« (1121) Vor allem aber bietet ihm diese ländliche Gegend, wie ich unten im einzelnen zeigen werde, die Möglichkeit, an geeigneten Stellen der hohen Thematik gemäß zu begeisterter Schilderung des Erhabenen auszuholen, die er dem nordischen Geist gemäß noch dadurch steigert, daß er die erhabene Landschaft mit dem Heroischen korreliert. Während sich nämlich bewährte Tugend im Kampaner Tal in Giones und Karlsons Entsagung, also in einer dem lieblichen Geist des arkadischen Südens gemäßen, schönen Handlung kundtut, offenbart sie sich in der Selina in Henrions heroischer Teilnahme am griechischen Freiheitskrieg, also in einer erhabenen Tathandlung, die in ihrer Verpflichtung auf eine praktische Idee ganz dem nordischen Geist eines »verdeutschte[n] Kampanertal[s]« entspricht. Zur Vorbereitung auf diese heroische Tat betont Jean Paul denn auch bereits in der Vorgeschichte, daß Karlson früher von Falkenburg aus an einem ähnlichen Unternehmen, nämlich an den deutschen Befreiungskriegen teilnahm, wobei er der Heroik von Karlsons begeisterter Mitwirkung am Kampf gegen Napoleon durch Aufbietung erhabener Naturmetaphorik, Anleihe an der Astrologie und Heranziehung der griechischen Mythologie Ausdruck verleiht: [U]nd als das preußische Volk im großen Jahre, wo man die Freiheit mit Leichenfackeln suchte, sich wie ein Meer bewegte und, lange vorher von einem feindlichen Gestirne über sich festgehalten, endlich als eine donnernde Flut zurückbrausete auf seinen von ableerenden Feinden gefüllten Strand und ihnen über die Ufer nachdrang: da schwamm er mit der Flut und half vertilgen. Krieg ist eine poetische

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Ebd., S.455; siehe auch die Notiz: »Bereite dir wieder einmal Genuß durch rechte Landschaftmalerei«, ebd., S.419; vgl. hierzu Berends entstehungsgeschichtliche Erläuterungen, ebd., S.XLI.

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Prose des Handelns, daher ihn Jünglinge aufsuchen; Apollo und Pallas tragen Waffen. Wie sollte sie der begeisterte Karlson liegen lassen? (1109)

Jean Paul entspricht seiner Forderung nach einer jugendlichen Gestaltung des Ganzen und präludiert zugleich die mit dem Unsterblichkeitsgedanken verbundenen Themen von Wiederkehr und Wiedergeburt, wenn er seinen Besuch in dem »verdeutschten Kampanertal« als Wiedersehensfest inszeniert und Karlsons Kinder Henrion, Alexander und Nantilde sowie Giones Tochter Selina bereits in der Vorgeschichte als Reinkarnationen ihrer Eltern charakterisiert. In Henrion und Alexander leben gegensätzliche Züge ihres Vaters fort. Was Karlsons äußere Erscheinung betrifft, so erwähnt Jean Paul im Kampaner Tal dessen »männlich-schönes Angesicht«18 sowie »sein schönes, treues, gleich dem himmlischen Äther zugleich tiefes und offnes und blaues Auge«.19 Diese Beschreibung des »tiefe[n], feste[n] Jüngling[s]«20 ergänzt Jean Paul in der Selina durch die physiognomische Erinnerung: »seine großartige Gesichtbildung ließ überhaupt durch den melancholischen Schatten, der sie überschwebte, besonders durch einige Leidenszüge um den Mund das Alter seiner Schmerzen schwer bestimmen und man konnte ihm leicht vergangne als gegenwärtige unterschieben.« (1108)21 So tritt ihm denn auch der Jugendfreund nach dreißig Jahren bei ihrem bedeutsamerweise während eines Gewitters stattfindenden Wiedersehen als »ein langer schlanker Mann entgegen, mit […] einem von dem Überleuchten der Blitze wunderbar gehobenen Kraftgesicht und Gliederbau.« (1122) Wichtiger freilich als das Äußere dieses edlen Melancholikers sind seine moralischen, ästhetischen und philosophischen Anlagen. Sein »fester worthaltender Charakter« und seine außerordentliche Tugendhaftigkeit bestimmen Jean Paul im Kampaner Tal dazu, »ihn [...] in die Matrikel der seltenen Menschen« einzuschreiben.22 Wenn er ihm zudem in der Selina einen »sich leicht poetisch verflatternden Charakter« (1126) attestiert, so ist das nur scheinbar ein Widerspruch, denn seit der pseudo-aristotelischen Melancholietheorie, insbesondere aber seit der durch Ficino vorgenommenen Verschmelzung dieser Theorie mit der platonischen Enthusiasmuslehre wird den Vertretern der nobilitierten Melancholie neben einer starken Neigung zu praktischer ––––––– 18 19 20 21

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Jean Paul, Das Kampaner Tal, I/4,567–626, hier: S.620. Ebd., S.576. Ebd., S.572. Bereits in den Vorarbeiten nahm sich Jean Paul vor, diesen Charakterzug Karlsons zu betonen, denn in der Selina-Handschrift notiert er: »Schon in der Jugend lag in seinem kräftigen Gesicht eine Art Melancholie.«, SW II/4,443. Jean Paul, Das Kampaner Tal, I/ 4,576.

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Tugend auch ein leidenschaftliches, von außerordentlichen Geistesgaben beflügeltes Interesse für ästhetische, philosophische und religiöse Fragen zugeschrieben.23 In Übereinstimmung mit dieser Tradition hat Karlson ein »reines, aber wogendes Herz« (1108) und tritt begeistert und opferbereit für die Idee der Freiheit ein (1109, 1112, 1127). Ferner steht es in Einklang mit dieser Tradition, wenn er in ästhetischer Hinsicht einen ausgeprägten Sinn für das Erhabene zeigt (1122), sein Leben »seine(m) geliebten Zwillinggestirn der Dichtung und der Philosophie« widmet (1108, 1111) und insbesondere ein leidenschaftliches Interesse für die Unsterblichkeitsfrage hegt, zu der er – anders als in seiner Jugend – nunmehr allerdings nicht mehr skeptisch, sondern positiv steht.24 All diese Eigenschaften, Charakterzüge und Interessen leben in seinem Sohn Henrion fort, auf dessen Ähnlichkeit mit dem Vater durch ein von Selina gemaltes Porträt nachdrücklich hingewiesen wird, das ihr Zimmer gleichsam zur Kultstätte eines Freiheitshelden macht, wie die enthusiastische Ekphrasis durch den Einsatz von Adels- und Gewittermetaphorik und eine kurze Reminiszenz an die Freiheitskämpfe der Germanen bekräftigt: ––––––– 23

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Zur Tradition der nobilitierten Melancholie in der Antike, der Renaissance und der Neuzeit siehe insb. den Abschnitt »Die Revolution der Melancholievorstellung im Peripatos« sowie die Kapitel »›Poetische Melancholie‹ in der nachmittelalterlichen Dichtung« und »›Melancholia Generosa‹. Die Glorifizierung der Melancholie und des Saturn im Florentiner Neuplatonismus und die Entstehung des modernen Geniebegriffs« in: Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übers. von Christa Buschendorf. Frankfurt a.M. 1990, S.55–92, 319–350 und 351–394. Seitdem im pseudo-aristotelischen Problem XXX,1 die Genialitätstheorie der Melancholie skizziert wurde, vor allem aber seit Marsilio Ficino im dritten Buch seines Werks De vita triplici sein traditionsbildendes Porträt des genialen Melancholikers entwarf, heißt es insbesondere von den Melancholikern, daß sie sich geistig zur Transzendenz oder zum Göttlichen zu erheben vermögen; siehe hierzu Klibansky/Panofsky/Saxl [Anm.23], S.55ff. und 367ff. Über den Hang des Melancholikers zum Erhabenen, zu Tugendhaftigkeit und Freiheitsliebe siehe Kants erstmals 1764 publizierte Abhandlung Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, wo es u.a. heißt: »Die echte Tugend [...] aus Grundsätzen hat etwas an sich, was am meisten mit der melancholischen Gemütsverfassung [...] zusammenzustimmen scheint. [...] Der, dessen Gefühl ins Melancholische einschlägt, [...] hat vorzüglich ein Gefühl vor das Erhabene [...]. Er schätzet sich selbst und hält einen Menschen vor ein Geschöpf, das da Achtung verdienet. Er erduldet keine verworfene Untertänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten, von denen vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich.« Immanuel Kant, Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1968, Bd.I, S.839–842; siehe hierzu Klibansky/Panofsky/Saxl [Anm.23], S.197ff.

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Mein Auge kam im Zimmer erst über eine breite Karte von Griechenland, die den Nähtisch bedeckte, zu des teuern Jünglings Bild an der Wand. »So muß der Sohn aussehen, der eines edeln, kühnen, hochgesinnten Vaters würdig ist«, dachte jeder bei dem Erblicken des Bilds. Ein blaues, aber trotziges, ja blitzendes Ritter-Auge – wie ja der Blitz nicht bloß aus der schwarzen Wolke fährt, sondern auch zuweilen aus dem hellen Blau – ein Blitz, der oft in den alten deutschen Wäldern aus blauen Augen auf die Römer schlug – eine gewölbte Dichter-Stirn und vordringende gebogne Nase und doch bei allem diesen zum Kampf gerüsteten Ernst des Lebens ein Gesicht voll weicher zarter Jugendblüten und einen üppigen Mund voll entgegenquellender Liebe! – Überall mehr dem Kopfe seines Vaters ähnlich als dem runden beweglichen seines Bruders. (1132)

Ebenso wie sein Vater »der Philosophie«, »der griechischen und römischen Geschichte«, »besonders« aber »den Musen hingegeben« (1112), macht sich Henrion »von der hohen Schule des Lernens« »auf de[n] Weg« »nach der höchsten, der des Handelns« (1135), und folgt mit seiner begeisterten Teilnahme am griechischen Freiheitskrieg, wie Karlson betont, des Vaters »eigene(m) Beispiel« (1112). Voller Dankbarkeit anerkennt Henrion, daß sein Vater ihn »zu seinem Ebenbilde erziehen will und ganz den Wissenschaften, und besonders der Dichtkunst leben läßt.« (1143) Und voller Freude und Vaterstolz weiß Karlson vom Erfolg seiner pädagogischen Bemühungen zu berichten: »Henrion nämlich glaubt glühend an die Seelenunsterblichkeit, – so wie ich jetzo auch.« (1113) Aber auch Karlsons jüngerer Sohn Alexander erweist sich in den Hauptzügen als Ebenbild seines Vaters. Wie dieser zeichnet er sich durch besonderen Takt (1144), durch die Kraft zur Entsagung (1134/35), durch Freiheitsliebe (1112) und Verstandesschärfe (1113) aus.25 Vor allem aber zeigt er in der Unsterblichkeitsfrage eine ähnliche Haltung wie Karlson im Kampaner Tal: Wiewohl eigentlich selbst von Unsterblichkeitsgewißheit erfüllt, gibt er seine Überzeugung nicht zu erkennen,26 läßt sich vielmehr von seinem klaren Verstand leiten und bestreitet aus »Geistlichen-Haß«27 sowie aus grundsätzlichen Zweifeln am »Wesen der Theologen und Philosophen«28 die Glaubensbekundungen und positiven Beweise seiner Gesprächspartner. Jean Paul müßte ihn somit im Grunde gar nicht erst ausdrücklich bitten, – nach dem ––––––– 25

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In der Selina-Handschrift notierte Jean Paul zur Figur des Alexander, es sei ihm der »Hof verboten wegen seiner Freiheitliebe« (SW II/4,445). Zur Figur des Alexander, der in der Selina-Handschrift auch als »der Kecke«, »der Kühne« oder als »Rd« bezeichnet wird, heißt es dort ferner: »Zweifler Rd: ›was ich (selber) glaube, sag ich nicht, aber andern werf ich ewig ein.‹« (ebd., S.423) Ebd., S.423; überdies heißt es dort: »Rd. glaube auch an Unsterblichkeit, nur freier und mit Haß der theologischen Ideen.« (S.422), »Glaubt an die Unsterblichkeit, nur mit Freiheit und Haß der theologischen Ideen.« (S.445) Ebd., S.422.

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Vorbild des jungen Karlson – »in der Sache der Unsterblichkeit den TeufelsAdvokaten zu machen.« (1161) Den als kühnen Skeptiker charakterisierten Alexander noch »vor den Beweisen und Geschichten« auftreten zu lassen, hat nach Jean Pauls kompositorischen Vorüberlegungen die Funktion, den Leser »auf das Künftige begierig«,29 ja »den Geist frei von Systemen und frühern Meinungen«30 zu machen: denn erst »dann«, so fordert Jean Paul, »lasse man ihn schauen [!]«31 Auch Selina ist als Ebenbild ihrer Mutter Gione gezeichnet, die Jean Paul im Kampaner Tal ebenfalls zu den ›hohen‹ oder »seltenen Menschen«32 zählt. An der äußeren Erscheinung dieser »edeln Gestalt«33 unterstreicht er dort die »feste(n) Züge [...] auf dem ernsten Angesicht«,34 ihre »feste [...] Stimme [...] und ihr klares ruhiges Auge«, welches »die weite Perspektive in eine reich geschaffne Seele« auftut.35 »[A]us ihrer äußern [...] und innern Harmonie schreiet« dem klassischen Ideal gemäß »kein Ton vor«. »[I]hre ernste warme Seele«36 strahlt daher Sanftmut,37 Gefaßtheit und »sinnende Ruhe«38 aus. Den Charakter »der hohen Gione«39 aber bestimmen Treue und Wahrheitsliebe.40 Vor allem jedoch betont Jean Paul Giones lebhaftes Interesse an »den höhern Gegenständen des Gesprächs über die Unsterblichkeit« (1108) sowie ihren unbeirrbaren, gefühlsmäßig fundierten Unsterblichkeitsglauben,41 den er zudem am Ende des Kampaner Tal dadurch poetisch bestätigt, daß er Giones dort inszenierten Montgolfierenflug als Vorwegnahme ihrer künftigen Himmelfahrt und Verklärung gestaltet. Von der inzwischen tatsächlich Gestorbenen teilt Jean Paul in der in die Selina eingestreuten Vorgeschichte mit, daß »Gione [...] die Welt« »verließ«, »nachdem sie zum Glück so lange gelebt, daß sie« Karlson »und ihrem Gat––––––– 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

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Ebd., S.134. Ebd., S.436. Ebd. Jean Paul, Das Kampaner Tal, I/4,576. Ebd., S.618. Ebd., S.577. Ebd. Ebd., S.600. Vgl. ebd., S.619 und 624. Ebd., S.615. Ebd., S.616. »Die frühere Wahl und das frühere Wort« lassen sie bei aller Neigung zu Karlson fest zu Wilhelmi stehen (ebd., S.575); und als sie Karlson nach seiner Ankunft im Kampaner Tal eröffnet, daß Wilhelmi und sie mit dem Hochzeitsfest auf ihn gewartet haben, erklärt sie: »Ich liebe überall die Wahrheit herzlich, auch auf Kosten theatralischer Überraschungen«. (ebd., S.578) Vgl. Jean Paul, Das Kampaner Tal, I/4, 600, 612 und 615.

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ten ein volles Echo ihres Herzens und einen reinen Spiegel ihrer Gestalt zum innigsten Fortlieben dalassen konnte, ihre Tochter Selina.« (1109f.) Im Einladungsschreiben an Jean Paul hebt Karlson an Selinas Wesen die »ungewöhnliche Vereinigung von fortschwebender Phantasie und fortgrabender Philosophie« (1111) hervor: Da sie [...] oft [...] mit mir über die höchsten Sterne [...] des menschlichen Wissens und Strebens [...] spricht [...] : so ist mir zuweilen als sei sie eben von ihrer verklärten Mutter zu uns herabgeschickt und habe noch einigen Schimmer von ihr im Gesicht. Ihre ganze Seele ist offen, ja durchsichtig wie ein Diamant, und doch ebenso fest und dicht wie der Edelstein. (1111)

Auch in Jean Paul steigt bei der ersten Begegnung mit Selina die Erinnerung an Gione auf, und es ist ihm, als wenn er »wenigstens aus der Ferne wieder in das Kampanertal der lieben Jugendzeit hineinsähe« (1127): »Seltsam bewegte sie mein Inneres, als sie vor mir stand mit großen durchsichtigen, wie verklärten Augen – in ihrem blauen, unter dem Blau des Himmels lichtern Kleide glänzend so edel-schön wie ihre Mutter Gione«. (1130) Wie die äußere, so wird auch die innere Ähnlichkeit mit Gione »aus dem Wesen Selinas begreiflich, die das Schöne wie das Gute behandelte und bei jenem wie bei diesem jede Schein- und Gefallsucht verschmähte«. (1132) Außerdem erinnert es an Giones Tugendhaftigkeit, wenn es von der Tochter heißt, daß »eine Seele wie Selina so voll Opfer, so voll Liebe gegen alle Guten und alles Gute ist«. (1143f.) Und nicht von ungefähr bezeugt sie »[i]hre besondere Beziehung auf Religion und Unsterblichkeit«42 dadurch, daß sie im Gespräch selbst eine ähnliche Position wie früher Gione vertritt, indem sie ihren Unsterblichkeitsglauben vor allem durch emotionale Bekundungen zum Ausdruck bringt und gefühlsappellativ zu begründen sucht (1162, 1189f., 1124, 1131). Wie konsequent Jean Paul die jugendlichen Charaktere der Selina nach dem Gedanken der Wiederverkörperung, also der Idee des Fortlebens modelliert, sei hier zumindest in Umrissen noch an der Nebenfigur Nantildes verdeutlicht. Auch sie ist der Unsterblichkeitsthematik entsprechend als Reinkarnation konzipiert, denn wie Selina ein Abbild Giones ist, so kehrt in ihrer Kontrastfigur Nantilde die Gestalt Nadines aus dem Kampaner Tal wieder. War Nadine ein wenig »furchtsamer als Gione«43 und dieser in schwesterlicher Liebe zugetan44 und zeugte sie mit ihren wenigen Beiträgen zum Unsterblichkeitsgespräch von rührender Naivität, Empfindsamkeit und einer ––––––– 42 43 44

Selina-Handschrift, SW II/4,450. Jean Paul, Das Kampaner Tal, I/4,615; vgl. auch S.625. Vgl. ebd., S.622.

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gewissen Neigung zu scherzhafter Tändelei,45 so ist auch Nantilde etwas »ängstlich« (1193), »furchtsam« und »naiv«46 gezeichnet, ist den Ihren und insbesondere Selina ebenfalls in Liebe zugetan (1126, 1226) und schlägt in ihren wenigen Beiträgen zum Unsterblichkeitsgespräch gleichfalls einen gefühlvollen, naiven oder scherzhaft tändelnden Ton an (1169, 1226). Die Wiedersehensfeier auf Falkenburg, die Reinkarnation der Alten, ihr wohlgefälliges Betrachten der Kinder, all diese Wiedervereinigungs-, Wiederkunfts-, und Spiegelungsfiguren sollen durch die gefühlsappellative Suggestion eines irdischen Stillstands den emotionalen Boden bereiten für die Gewißheit einer endgültigen Aufhebung der Zeit und einer seligen Wiedervereinigung im Jenseits.

2. Die »Ausmalung des Vernichtglaubens«, ein gefühlsphilosophisch strukturiertes, platonisch imprägniertes Triptychon Ebenso wie die anfängliche Rückblende auf das Kampaner Tal, die erneute Wahl eines arkadischen Schauplatzes und die nach Maßgabe des Reinkarnationsgedankens gestalteten Charaktere hat auch die von Karlson ursprünglich zur Bekehrung seines skeptischen Sohns verfaßte, dem Einladungsbrief an Jean Paul beigelegte »Ausmalung des Vernichtglaubens« die Funktion, das frühere Werk ins Gedächtnis zu rufen und zugleich auf das Ganze des neuen Werks vorzubereiten. Die Wirkungsabsicht seines Versuchs erläutert Karlson in besagtem Brief ganz im Sinne der Jacobischen Gefühlsphilosophie: Da der Mensch, wie Sie bemerken, so oft Worte nur dünnen toten Worten entgegensetzt, die man ihm bloß zu Gefühlen zu verdichten und zu beseelen brauchte, damit er sie anders behandelt: so hab’ ich für Alexander einen Versuch gemacht, ihm den Vernicht-Glauben recht nahe vor Aug und Herz zu rücken und ihn gerade hinunter steilrecht in finstern Raum ohne Himmel und ohne Hölle, ja ohne Raum sehen zu lassen. Ich sende Ihnen hier diesen Versuch, schäme mich jedoch, daß mir in der Jugend selber eine solche Hülfe nötig war, da ich bei Gionens erdichteten Tode die »Klage ohne Trost« mit allem Trotze der Verzweiflung niederschrieb. (1113f.)

Die Erwähnung der »Klage ohne Trost« soll daran erinnern, daß Karlson im Kampaner Tal auf dem Höhepunkt des Unsterblichkeitsgesprächs nicht zuletzt durch Verlesung dieses seines als poetisches Nihilismusexperiment angelegten Trauergedichts überzeugt wurde. Da auch die »Ausmalung des Vernichtglaubens« und die Haupthandlung der Selina als poetisches Nihilis––––––– 45 46

Siehe ebd., S.619, 612 und 614. Jean Paul, Selina-Handschrift, SW II/4,454 und 460.

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musexperiment konzipiert sind, kann Karlsons »Versuch« als strukturhomologes Bild im Bild oder als Präfiguration des Ganzen gelten. Als erste diskursive Einlassung zur Unsterblichkeitsfrage präludiert sie jedenfalls die späteren, von Jean Paul und seinen Freunden vorgetragenen Unsterblichkeitsreflexionen. Während diese jedoch der Gesprächsform gemäß kaum systematisch geordnet erscheinen und häufig – wie etwa in Henrions brieflichen Beiträgen – einen begeisterten oder feierlichen Ton anschlagen, sind Karlsons Ausführungen vergleichsweise nüchtern gehalten und werden geradezu systematisch präsentiert, was denn auch dem philosophischen Interesse ihres Autors entspricht. Auffällig ist die deutliche Dreiteilung, die Karlsons »Ausmalung«, um in Jean Pauls Bildlichkeit zu bleiben, gleichsam als Triptychon erscheinen läßt. Um die Unerträglichkeit des Vernichtglaubens fühlbar zu machen und dadurch seine Unhaltbarkeit zu erweisen, führt Karlson im ersten Teil der »Ausmalung« die schrecklichen Konsequenzen vor Augen, die sich aus dem »Glauben der Seelensterblichkeit« (1115) für die menschliche Gattung wie für die einzelnen Individuen ergeben. In bezug auf die Konzeption der Entwicklung des Menschengeschlechts sucht er zu zeigen, daß die Annahme der Seelensterblichkeit aller aufklärerischen Geschichtsteleologie den Boden entzieht. Unter der Voraussetzung, daß das Leben auf das irdische Dasein beschränkt ist, gibt es nämlich, wie Karlson ausführt, keinerlei Teilhabe der früheren Geschlechter an der Höherentwicklung der späteren und die Idee der Perfektibilität des Menschen verblaßt zum bloßen Postulat. Alles Bildungsbemühen der Individuen und alles Vervollkommnungsstreben der Völker erschiene als sinnlos, denn unter der Voraussetzung, daß wir sterblich oder – wie es in Karlsons Vergleich heißt – nur kurzlebige Klangfiguren sind, hilft »der Vergangenheit [...] die Gegenwart nichts; und der Gegenwart die Zukunft nicht.« (1116) Um seinem Leser die Konsequenzen des Vernichtglaubens in aller Drastik vor Augen zu stellen, zerstört Karlson ferner zwei Illusionen, mit denen sich halbherzige Anhänger dieses Glaubens häufig vor dem Gefühl seiner Unerträglichkeit schützen. Die eine Illusion besteht in der mit dem platonischen Konzept der Wesensleiter verknüpften Idee, wonach Unsterblichkeit zwar nicht den Menschen, wohl aber einigen Wesen eigen sei, die auf der großen, das Sein durchziehenden Kette der Wesen höher angesiedelt seien. Diese tröstliche Illusion entsteht durch eine Verwechslung von quantitativer und qualitativer Differenz, oder wie Karlson sich ausdrückt: Denn halten die Erden- oder Menschengeister das Sein nicht aus: so vermögen es die Sonnengeister ebensowenig; denn der Unterschied des Grades, die höhere Stu-

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Bernhard Buschendorf fe geistiger und organischer Kräfte kann keinen Unterschied der Art, wie der zwischen Fortdauer und Nichtsein ist, erzeugen, so wie nicht das Kind, der Cretin sterblich sein kann, der Mann und Sokrates aber unsterblich; – und so muß auch der Erzengel zuletzt am Fuße des göttlichen Throns seine Flügel abwerfen und vergehen.« (1116)

Wer an die Sterblichkeit der menschlichen Seele glaubt, muß Karlson zufolge von einem »allgemeinen Geistersterb« (1116) ausgehen. Damit aber ist jeglicher Form von Teleologie der Boden entzogen, denn dann sind, wie Karlson betont, »alle Zwecke des Lebens und jede Lösung seiner Rätsel durch die ungeheure Weltensense zerhauen und verstümmelt«. (1116) Die zweite Illusion zur Depotenzierung des Vernichtglaubens ist die von seinen Anhängern gehegte Vorstellung, daß das irdische Leben des Menschen immerhin von beträchtlicher Dauer sei. Dagegen erklärt Karlson: Unser Leben verdankt den dürftigen Schein seiner Länge bloß dem Umstande, daß wir in die gegenwärtige Zeit die vergangne hineinrechnen; aber es kriecht zum spitzen Augenblick ein, wenn man es neben die unermeßliche Zukunft stellt, die mit einem breiten Strome auf uns zufließt, von dem aber jeder Tropfe versiegt, der uns berührt; ein Leben zwischen den beiden zusammenstoßenden EwigkeitMeeren, die einander weder vergrößern, noch verkleinern können. (1117)

Angesichts des schonungslos explizierten Faktums der extremen Kürze unseres Erdenlebens müssen sich nach Karlson für den Unsterblichkeitsleugner nicht nur Zweifel am Wert jeglicher Aufklärung, sondern auch Skepsis gegenüber der Lebensbedeutsamkeit alles tradierten Wissens ergeben. »Und kann«, so fragt Karlson, »die tote Neben-Unsterblichkeit von Bibliotheken und Kunstwerken [...] ein Leben erwärmen und beseelen, das einem ewigen Erlöschen [...] bloßsteht?« (1117) Bedeutender als diese bedrückende Vorstellung von der Vergeblichkeit allen Strebens nach Selbstvervollkommnung ist der gefühlsphilosophischen Position Karlsons zufolge für den Einzelnen jedoch die Einsicht, daß mit der Leugnung der Unsterblichkeit zugleich auch die Bedingung der Möglichkeit wahrer Liebe bestritten werde. In dieser Verknüpfung von Liebe und Unsterblichkeit zeigt sich Karlson offenkundig vom platonischen Symposion inspiriert, denn bekanntlich berichtet Sokrates dort auf dem Höhepunkt seiner Rede zum Lobpreis des Eros, wie ihn die mantineische Priesterin Diotima darüber belehrte, daß sich wahrhafte Liebe nicht auf den Leib, sondern auf die Schönheit der Seele, ja auf die Schönheit überhaupt als Vorschein der Idee des Guten richte: »Nach der Unsterblichkeit aber muß man mit dem Guten streben [...], wenn wirklich der Eros darauf ausgeht, daß einem das Gute für immer gehören soll. Aus diesem Satz ergibt sich also die Notwen-

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digkeit, daß der Eros auch auf die Unsterblichkeit ausgeht.«47 Führt man sich jedoch wie Karlson in seiner »Ausmalung des Vernichtglaubens« die extreme Kürze des Lebens vor Augen und geht von den sterbenden Völkern zu sterbenden Einzelwesen über: so schmerzt es die Seele, nur auf einen Augenblick sich ein Lieben zwischen Vergehenden und Vergehenden ganz auszumalen. [...] Ohne Unsterblichkeit kann niemand sagen: ich liebte; du kannst nur seufzen und sagen: ich wollte lieben. (1118)

Angesichts der deutlichen Anleihen an Gedankengut und Bildersprache des Platonismus, die sich im ersten Teil von Karlsons »Ausmalung« finden, überrascht es nicht, daß Karlson im zweiten Teil auf die Metaphorik des klassischen Höhlengleichnisses zurückgreift, wie es durch Platon und im Anschluß an diesen durch Aristoteles traditionsbildend formuliert wurde.48 Anders als in der Unsichtbaren Loge49 erfolgt die Rezeption des klassischen Höhlengleichnisses in der Selina nur in starker Verkürzung. Trotz dieser Abbreviatur sind freilich noch einige Züge des platonischen und des aristotelischen Vorbilds deutlich erkennbar. Der zweite Teil von Karlsons »Ausmalung des Vernichtglaubens« (1107, 1115–1120) stimmt nämlich mit dem platonischen Höhlengleichnis insofern überein, als das Höhlenleben auch hier zum Sinnbild für die defizitäre Normalsituation des Menschen wird: Bei Platon soll es einen Mangel an Einsicht, in Karlsons »Ausmalung« einen Mangel an Glauben illustrieren. Überdies erinnert es an den Illusionscharakter der platonischen eidola und Schattenbilder, wenn Karlson betont, die gleißnerische Höhle des Vernichtglaubens sei »gefüllt mit allen Widerscheinen des Lebens« (1119). Und schließlich gemahnt es an das platonische Telos des bewußten Heraustritts ans Licht und der sich darin manifestierenden Anamne––––––– 47

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Symposion 207A, Platon, Sämtliche Werke, eingeleitet von Olof Gigon und übertragen von Rudolf Rufener. Zürich und München 1974, Bd.III, S.156f. Zum platonischen Höhlengleichnis siehe Politeia 514A–517A; zum aristotelischen Höhlengleichnis, wie es durch Cicero überliefert ist, siehe M. Tullius Cicero, Vom Wesen der Götter. Drei Bücher, lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Wolfgang Gerlach und Karl Bayer. 2. Aufl. Darmstadt 1987, S.254ff. Aus der umfangreichen Literatur zum platonischen Höhlengleichnis siehe die folgenden jüngeren Arbeiten: John Malcolm, The Cave Revisited, in: Classical Quarterly 31 (1981), S.60–68; Rafael Ferber, Notizen zu Platos Höhlengleichnis, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 28 (1981), S.393–433; Karl Bormann, Platon. 2., durchges. Aufl.. Freiburg/München 1987, S.51–80; Rafael Ferber, Platos Idee des Guten. 2., durchges. und erw. Aufl. Sankt Augustin 1989, S.49–148; zum aristotelischen Höhlengleichnis als Umbildung des platonischen siehe: Werner Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung. 2. veränderte Aufl., Berlin 1955, S.167; Hans Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, in: Studium Generale 10 (1957), S.432– 447, hier: S.437. Jean Paul, Die unsichtbare Loge, I/1,52– 64.

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sis, wenn Karlson am Ende seines Höhlengleichnisses dazu auffordert, »aus der Höhle der schimmernden Erstarrung« (1119) herauszutreten und sich wieder der Anschauung des vollen Lebens hinzugeben. Strukturell und hinsichtlich des religiösen Gehalts entspricht es jedoch dem aristotelischen Höhlengleichnis, daß Karlson in einer Art Gedankenexperiment seine hypothetisch angenommene Unterwelt des Vernichtglaubens mit surrogathafter, kalter Pracht ausstaffiert, um sie sinnfällig gegen eine Oberwelt abzusetzen, die von der lebensspendenden Wärme des positiven Glaubens durchseelt ist: Aber was ist denn die Erde, das leblose All? Eine schimmernde Antiparos-Höhle, gefüllt mit allen Widerscheinen des Lebens; auf dem Boden der Höhle stehen Wäldchen mit hohen Stämmen von durchsichtigem Kristall und der Pfad schlängelt sich durch kristallenes Gesträuch – und von oben hangen herrliche Frucht- und Blumenschnüre starr und kalt herab und jeder Hügel der Höhle ist von Kristall begraset. Das Kristallisationswasser, welches das Gebilde zusammenhält, ist die Träne des Augenblicks; ist diese versiegt, so ist das Gebilde zerfallen. O tretet schnell aus der Höhle der schimmernden Erstarrung und blickt wieder über die lebendige Breite der grünen Welt hinüber und atmet frischer! – (1119)

Entsprechend der platonischen epistrophe, der Abwendung vom Irrtum und der Hinwendung zur Wahrheit, hat das Höhlengleichnis als Mittelstück von Karlsons Triptychon somit die Funktion, vom Vernichtglauben weg- und zum Unsterblichkeitsglauben hinzuführen. In der abschließenden Erörterung des Unsterblichkeitsglaubens appelliert Karlson wiederum vor allem an das Gefühl. Suchte er im ersten Teil seiner »Ausmalung« die Unhaltbarkeit des Vernichtglaubens dadurch zu erweisen, daß er die Unerträglichkeit der negativen Konsequenzen dieses Glaubens drastisch vor Augen führte, so sucht er nun für die Gewißheit einer persönlichen Fortdauer nach dem Tode zu argumentieren, indem er »den Mut« fordert, »sich recht lebhaft als unsterblich zu denken.« (1119) An positiven »Wirkungen des Unsterblichkeit-Glaubens« (1120), die ihm zufolge von den Menschen nur hinreichend intensiv »empfunden« (1119) oder »gefühlt« (1120) werden müssen, nennt Karlson in eindringlicher Metaphorik neben der ewigen Gegenwart Gottes und dem unaufhörlichen Fortschritt von Geist und Tugend u.a. auch: »die Umarmung von lauter Geliebten, die ewig an ihrem Herzen bleiben und wachsen – die leichtere Ertragung der Erdenwunden, die sich wie an Göttern ohne Töten schließen – das frohere Anschauen des Alters und des Todes, als des Abendrotes und des Mondscheins des nächsten Morgenlichts«. (1119) Nach einem kurzen Seitenhieb auf unsere schwache Phantasie, die ganz dem Körper verhaftet sei und sich daher ein Fortleben des reinen Geistes nicht vorstellen könne, und einem Ausfall gegen »die hergeerbte [...] Enge der theologischen An- und Aussichten« (1120) schließt

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Karlson seine Ausführungen mit einem hymnischen Lobpreis seines endlich erlangten Glaubens und der damit verbundenen Fähigkeit, sich schon hienieden geistig zur jenseitigen oder zweiten Welt zu erheben. Und wie zur Einstimmung auf die unmittelbar anschließende Darstellung und Erörterung des Sublimen benutzt er in diesem Hymnus die Bildlichkeit des glänzenden Meeresspiegels, der ausgedehnten Sandwüste und des nächtlichen Sternenhimmels, also die seit Pseudo-Longin geläufigen Exempel für das unendlich Große oder theoretisch Erhabene: Selig ist, wer wie ich jetzo – nicht wie ich sonst, als ich noch die Ferne der Geisterwelt in umgekehrter Täuschung der Luftspieglung erblickte und das lebendige erquickende Wasserreich für Wüstensand ansah – sich seine Welt ganz mit der zweiten organisch verbunden und durchdrungen hat: die Wüste des Lebens zeigt ihm über heißen Sandkörnern des Tags die kühlenden Sterne größer und blitzender jede Nacht. – – (1120)

3. Martialisierung des Gewitters und Verklärung des Freiheitskriegs – Stufen des Erhabenen als »Stufen zur Gottheit« Eine weitere Möglichkeit, ohne Vorgriff auf die Handlung oder die Unsterblichkeitsgespräche der Selina den Geist des Ganzen aufscheinen zu lassen, sah Jean Paul darin, zu Beginn von Gott als tragendem Grund aller Hoffnung auf das Jenseits zu handeln. »Nach der [...] Darstellung der Vernichtung«, erklärt er in der Selina-Handschrift, »komme das Glänzende des Glaubens. Dieses Allgemeine komme voraus, zur Vermeidung des Absichtlichen und wegen der Erhebung.«50 Hatte er zunächst erwogen, gleich an den Anfang »Briefe über Gott«51 zu setzen, so entschied er sich schließlich für den Plan, zu den »hohe[n] Vermutungen« über »Gott« und das »Weltall«52 durch eine Darstellung des Erhabenen hinzuführen, und postulierte demgemäß: »Erhebung – und dann erst zu Gott.«53 Dabei entschloß er sich aus zwei Gründen zur Darstellung des Erhabenen in der Natur. Erstens läßt nämlich, wie es in den Vorarbeiten heißt, »[d]ie Erhebung durch die Natur [...] nicht die Abspannung (nach) einer künstlichen zurück; die Natur selber scheint« vielmehr »wie ein jüngster Tag alles eins und gleich gemacht zu haben.«54 Und zweitens eignet sich das Erhabene der Natur Jean Paul zufolge besonders zur ––––––– 50 51 52 53 54

Jean Paul, Selina-Handschrift, SW II/4,459. Ebd., S.419. Ebd. Ebd. Ebd., S.461f.

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Offenbarung Gottes, denn anders als mit dem stets irgendwie begrifflich vermittelten und in unserem Bewußtsein dominanten »Gott« der »Religionsgeschichte« verhält es sich nach der Selina-Handschrift mit dem »Gott in der Natur, wo er glänzender und unfaßbar und bewundert erscheint.«55 Da »[d]ie Gefühle des Erhabnen«, wie Jean Paul betont, »dem Gefühl des Heiligen am verwandtesten« sind, eignen sie sich als »nähere [...] Stufen zur Gottheit, die« freilich »keine erreichen [...] als die des Schönen.«56 Die erste dieser Stufen bildet die sogenannte »Gewitterpartie« (1120ff.), die erhabene Schilderung eines Gewitters, das Jean Pauls Wiedersehen mit seinem Jugendfreund Karlson überhöht. Während das Kampaner Tal die Tugend der Entsagung feierte und daher die Landschaftsbeschreibungen der Schlußapotheose vornehmlich nach der Paradigmatik des theoretisch Erhabenen gestaltete und mit der Bildlichkeit des Seelenflugs oder der Erhebung über alles Irdische ausschmückte, verherrlicht die Selina die Tugend der kriegerischen, an der Idee der Freiheit orientierten Tathandlung und gestaltet ihre Landschaftsbeschreibungen nach der Paradigmatik des pathetisch Erhabenen, indem sie in zunehmendem Maße eine ausgeprägt martialische Metaphorik in Anschlag bringt. Angesichts der von Jean Paul nachdrücklich festgestellten Verwandtschaft zwischen den »Gefühle[n] des Erhabnen« und »dem Gefühl des Heiligen« scheint die in den erhabenen Landschaftsbeschreibungen so auffällige Kriegsmetaphorik aber auch die Funktion zu haben, das in der Kategorie des Heiligen implizierte Moment des Schrecklichen zur Geltung zu bringen, also das Heilige unter dem Aspekt des tremendum in Erscheinung treten zu lassen. Steigert Jean Paul Karlsons Teilnahme an den Befreiungskriegen in die Dimension des Heroisch-Erhabenen, indem er die militärischen Aktionen der Preußen mit den Bewegungen des Meeres vergleicht (1109), so wählt er umgekehrt für die erhabenen Landschaftsbeschreibungen vornehmlich den Vorwurf der Gewitterlandschaft, da dieses Sujet ihm den natürlichen Anlaß gibt, auf die von der Handlung her naheliegende Kriegsmetaphorik zurückzugreifen. Nicht von ungefähr wird betont, daß Karlson als Melancholiker einen ausgeprägten Sinn für erhabene Gegenstände (1108) habe, denn der Rittmeister neigt nicht nur der »Dichtkunst und Philosophie« (1108) zu, sondern liebt es auch, sich an seine kriegerische Vergangenheit durch das Naturschauspiel des Gewitters erinnern zu lassen. »[U]m hinter einer Wache von Eisenstangen dem hohen Riesenkriege der Wolken mit freierem Genusse zuzuschauen« (1122), hat er auf dem sogenannten Wetterhorn, einem einsamen Fels in der ––––––– 55 56

Ebd., S.446. Ebd., S.461.

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Nähe von Falkenburg, einen Aussichtsturm und unmittelbar davor zwei Gewitterstangen errichten lassen. Daß Jean Paul das Wiedersehen mit dem Jugendfreund an diesem Ort im gemeinsamen Genuß eines Gewitters stattfinden läßt, verleiht der Wiederbegegnung erhabene Züge. Um die schaudererregende und zugleich erhebende Gewalt des Gewitters eindringlich zu schildern, vergleicht Jean Paul das Geschehen am Himmel mit anderen Naturereignissen und mythischen Schrecken. So heißt es etwa: »am Himmel hing ein Orkus mit Flammen hinter einer Nacht« (1121); »[z]ahllos flogen die Blitze mit Brautfackeln der Befruchtung und mit umgestürzten Todesfackeln über die Welt und standen unten in den Wassern als Grubenlichter und Silberadern und liefen über die Wolken als Steppenfeuer; und [...] der Himmel hing als ein der Erde zugekehrter Ätna herab.« (1123) Der Anblick des als eine Art Gigantomachie beschriebenen Gewitters vermittelt Jean Paul beim Wiedersehen ein heroisches Selbstgefühl, eilt er doch zu Karlson »aufs Wetterhorn [...] die äußere Bergtreppe hinauf, deren Stufen aus Gärten bestanden, die sich mir unter dem Wechsel von Blitz und Nacht gigantisch vergrößerten« (1122), so daß ihm auch der Jugendfreund als Heros erscheint: »mit einem von dem Überleuchten der Blitze wunderbar gehobenen Kraftgesicht und Gliederbau«. (1122) Was den kalkulierten Einsatz der Kriegsmetaphorik betrifft, so bemerkt Jean Paul bereits zu Beginn der Gewitterpartie, daß »ein starkes Donnerwetter [...] gerüstet in seiner Schlacht- und Schlagordnung zum Angriff der Erde über dem halben Himmel stand« (1121). Und nachdem von »Gewitterfeuer« (1122), vom »hohen Riesenkriege der Wolken« (1122) und von einem »Gegengewitter« (1122) die Rede war, heißt es auf dem Höhepunkt der Schilderung: [...] und bald schauten lange Wälderzüge, bald zahllose Berghäupter als Riesen auf den Festungsmauern der Erde den Menschen im Flugtage des Blitzes an. Herrlich schlug der Donner die Regennacht auf zackigen Wolkenschutthaufen entzwei und die weißen Schneekoppen und die schwarzen Feuerberge des Gewölkes deckten sich mit ihren ineinandergekeilten Gipfeln auf [...] So war das stille Blau [...] in ein feuriges Schlachtfeld verwandelt. (1123)

Während die erhabene Schilderung der »Gewitterpartie« die erste der zur Gottheit führenden Stufen ist und zugleich der poetischen Qualität der Selina entspricht, stellt das unmittelbar anschließende Gespräch über das Erhabene die zweite Stufe dar und trägt der diskursiven Qualität des Werkes Rechnung. Alexanders provokatorischen Versuch, die Wirkung des Erhabenen aus der Stellung des Betrachters zu erklären und damit als subjektiven Schein zu entlarven, nimmt Jean Paul zum Anlaß, noch einmal seine bereits in der Vorschule formulierte Idee der »Stufen des Erhabenen« vorzutragen. Damals

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hatte er behauptet: »denn eine wache Sternennacht, z.B. über einem schlafenden Meere, sind keine so mächtigen Flügel der Seele als ein GewitterHimmel mit einem Gewitter-Meere; und Gott ist erhabener als ein Berg.«57 Nun erklärt er gleichen Sinnes: »[E]s steht nur das Größere neben dem Großen, erstlich der Zug der Gebirgketten, vor welchen sogar die weiten Ebenen und die unabsehlichen Flüsse einkriechen; dann thront ja hoch der Himmel mit seiner Sonne über den Wolken und natürlich versinkt das Irdische gegen das Himmlische.« (1124) Eine höhere Stufe auf dem Wege zur Gottheit stellt das Gespräch über das Erhabene insofern dar, als hier zum ersten Mal ausdrücklich von der Transzendenz die Rede ist und Jean Paul, inspiriert durch das Gewitter, außerdem die Gelegenheit ergreift, am Beispiel des akustisch Erhabenen die objektive Gültigkeit des Erhabenen darzutun. »[D]as Erhabene des Gehörs«, erläutert er auf dem Höhepunkt des mit Alexander und Karlson geführten Gesprächs, ist »erstlich im Geiste, der einmal erhaben empfunden, und zweitens in der Außenwelt, in welcher jeder Klang gewaltiger stürmt, als wir ihn jemals aus seiner Ferne vernehmen; denn wir hören keine Sache in ihrer höchsten Nähe. Ist der Klangorkan, der in der nahen Glocke brauset, eine Einbildung?« – »Nein, er wird eine, wenn er bloß als ein dünner Stundenschlag sich tot vom Turm herunterfällt«, versetzte der Rittmeister mit inniger Freude über die gerettete Wahrhaftigkeit der menschlichen Erhebungen. (1125)

Und selbst Alexander fällt aus seiner Rolle als advocatus diaboli und stimmt emphatisch zu, wobei sein übertragener Gebrauch des Begriffs der Nähe auch der zwischen den Gesprächspartnern waltenden Liebe und Freundschaft erhabene Züge verleiht: »›Sie haben recht‹ – – sagte der Gesandtschaftsrat, indem er meine Hand ergriff – ›immer bleibt die größte Nähe das Beste, wenn man Menschen gewisser Art ihrem Wert gemäß hören und sehen will.‹« (1125) Die dritte der zur Gottheit führenden Stufen des Erhabenen ist wiederum poetisch gehalten. Sie zeichnet sich vor der ersten durch einen gesteigerten Enthusiasmus und vor der zweiten durch eine nachdrücklichere Thematisierung der Transzendenz aus. Erneut handelt es sich um die erhabene Schilderung eines Gewitters. Und auch diesmal wird zur Gestaltung des Erhabenen – in freilich noch massiverer Weise – die Kriegsmetaphorik aufgeboten. Wie Karlson und Jean Paul auf dem Wetterhorn im gemeinsamen Genuß des als Gigantomachie imaginierten Naturschauspiels ihre erhabene Freundschaft bekräftigten, so hatten sich Henrion und Selina nämlich am selben Ort bereits ––––––– 57

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, I/5,108f.

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kurz vor Henrions Aufbruch in den griechischen Freiheitskrieg anläßlich eines – bezeichnenderweise als Vorschein dieses Krieges erlebten – Gewitters ihre gegenseitige Liebe offenbart. Erhabene Züge erhält die Liebe zwischen Henrion und Selina in Jean Pauls Schilderung durch die Verschränkung mit dem Geschehen am Himmel, durch die von den Liebenden bekundete Selbstlosigkeit und das von ihnen bezeugte, unerschütterliche Gottvertrauen. Da die Episode für die Konzeption der Selina als Nihilismusexperiment von zentraler Bedeutung ist und die vielfältigen Korrespondenzen zwischen himmlischem und irdischem Geschehen nur aus der gesamten Szene heraus verständlich sind, sei die entscheidende Passage hier ausführlich zitiert: Plötzlich war in Osten ein schwarzes feuerspeiendes Ungeheuer von Gewitter erwacht und spie auf der Schwelle des Tags sein wildes Feuer neben der stillen blassen Sonne. [...] Henrion sah mit entzückten Augen in den feurigen Morgensturm, in die auflodernde Wolkenschlacht, zwischen deren Feuer die Sonne als Heerführerin vorleuchtete. »Dort in Osten«, rief er begeistert, »seh ich das Wetterleuchten der griechischen Waffen und höre Kanonendonner der Griechen über ihre Tyrannen rollen und niederfahren.« – Ein Sturm jagte aus dem weitgelagerten schwarzen Gewitterheerhaufen eine lange Wolke näher heran, die sich unaufhörlich entlud und lud, bis sie über der Blitz lockenden Kugel des Gewitterableiters stand. – »O könnt’ ich einst sterben für die Freiheit, sobald ich nicht mehr streiten kann für sie. O Gott, wie schön ist der Tod, Selina, wenn er vom Himmel kommt als ein weißer blitzender Todes-Engel!« Da schoß eine Feuerschlange in zwei Sprüngen aus dem Schwarz auf die nahe Goldkugel und der Himmel strömte und alle Wolken donnerten unersättlich nach. – »Ach lieber Henrion!« rief Selina erschrocken aus; er sah sich um und fand ihr Angesicht mit Tränen bedeckt und ganz bleich. »Selina, weinst du, weil du mich liebst?« sagte er und sie neigte langsam den Kopf wie zum Ja, zur Trauer, aus Scham zugleich und hüllte das Gesicht durch das Trocknen der Tränen ein. »O, du himmlisches Wesen«, rief er, »du nimmst mich an? So bleib’ ich dein, im Leben und im Tode, wenn ich falle, und wenn ich wiederkehre!« – »Ziehe nur froh deinen Weg«, antwortete sie, »mein Henrion, und Gott wird mit uns beiden sein.« – Die Sonne brach hervor, das Gewitter war regnend nach Westen geflohen, und ein hoher Regenbogen hatte sich über die Arme des Gebirges gespannt. – »Siehe, das Tor nach Griechenland ist aufgetan«, sagte Henrion, denn sein westlicher Weg nach Griechenland ging über Frankreich. So schloß sich der Bund der beiden Seelen ineinander. (1136f.)

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4. Die Kette der Wesen: Platonische Verschränkung von Jenseits- und Diesseitsbezug, die Prinzipien der Fülle, der Gradation und der Kontinuität bei Leibniz, im 18. Jahrhundert und bei Jean Paul Entsprechend seiner Absicht, die Darstellung der verschiedenen Stufen des Erhabenen mit hohen Vermutungen über Gott und das Weltall zu krönen, läßt Jean Paul unmittelbar auf die soeben angeführte Natur- und Liebesszene den von Henrion verfaßten Brief über den »Glanz des All« (1138ff.) folgen. Auffällig an diesem enthusiastischen Glaubensbekenntnis ist wiederum eine deutliche Anleihe an platonischem Gedankengut, nämlich an der Vorstellung einer unerschöpflichen, sich aufgrund der unendlichen Güte Gottes in das Sein verströmenden und dieses durchwaltenden Lebenskraft. Wie Arthur O. Lovejoy in Die große Kette der Wesen detailliert dargestellt hat, waren es zwei an sich gegensätzliche Orientierungen Platons, die besonders nachhaltig auf die europäische Geistesgeschichte wirkten: die extreme Jenseitszugewandtheit seines Denkens und seine nicht weniger extreme Hinwendung zum Diesseits.58 Mit dem vor allem im siebten Buch der Politeia entwickelten Konzept einer Ideenwelt, die unbezweifelbar, unveränderlich, der hiesigen Welt entgegengesetzt und dennoch das Ziel allen irdischen Strebens sei,59 gab Platon zweifellos der in der abendländischen Philosophie vollzogenen Ausrichtung auf das Jenseits ihre charakteristische Gestalt. Ebenso traditionsbildend – und für das Verständnis von Henrions Brief über den »Glanz des All« bedeutender – ist jedoch Platons Lehre der Hinwendung zum Diesseits, deren erste Formulierung sich in der Erörterung über das All zu Beginn des Timaios findet. Dieser Lehre zufolge sucht Gott alles nur Denkbare auch zu erschaffen und alles Geschaffene möglichst gut zu machen. Daher bringt er nach Maßgabe der in sich belebten Ideenwelt mit unversiegbarer Schöpferkraft beständig die Welt des Werdens hervor, die ebenso wie ihr ideales Urbild ein einziges, allumfassendes und unendlich produktives Lebewesen ist.60 Traditionsbildend wurde diese organologische Konzeption vor allem deshalb, weil sie in der Emanationslehre des Neuplato-

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Zur Formulierung dieser gegensätzlichen Orientierungen bei Platon siehe Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übers. von Dieter Turck. Frankfurt a.M. 1985, S.37–86. Zu den genannten Merkmalen der Ideenwelt siehe insb. Politeia 507B, 509B, 517D und 518C; vgl. hierzu Lovejoy [Anm.58], S.56f. Über die durch den Demiurgen nach Maßgabe der intelligiblen Welt erfolgende Erschaffung des Weltalls siehe Timaios 27D–30A; zur Vorstellung des Alls als eines einzigen, allumfassenden Organismus siehe vor allem Timaios 30C und 33A.

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nismus zum metaphysischen System erhoben wurde.61 Auch Plotin ist am Prinzip der Fülle orientiert, wenn er das All als ein einziges, unendlich viele Einzelwesen umfassendes Lebewesen begreift. Und auch er bringt die Prinzipien der Kontinuität und der Gradation in Anschlag, wenn er sich die Entstehung des All so vorstellt, als flösse das höchste Eine gleich einer nicht versiegenden Quelle beständig über und ergösse sich in unendlich vielen Abstufungen in die Welt des Werdens.62 Zusammengenommen konstituieren die Prinzipien der Fülle, der Kontinuität und der Gradation den in der abendländischen Geistesgeschichte so wirkungsmächtigen Gedanken der großen Kette der Wesen. In einer durch den zusätzlichen Einsatz von Spiegel- bzw. Lichtmetaphorik verstärkten und daher besonders einprägsamen Formulierung findet sich der Gedanke etwa bei dem Neuplatoniker Macrobius, wo es heißt: Da nun also aus dem höchsten Gott der Geist, und aus dem Geist die Seele entsteht und diese ihrerseits alle weiteren Dinge schafft und mit Leben erfüllt, da dieser eine Strahl alles erleuchtet und in allem widerscheint, wie ein einzelnes Gesicht in vielen nebeneinander aufgestellten Spiegeln erscheint; da weiterhin alle Dinge in ununterbrochener Folge nacheinander zum untersten Ende der Reihe hinabsteigen: wird der aufmerksame Betrachter eine einzige Verbindung von ineinander verflochtenen und nirgendwo unterbrochenen Gliedern entdecken, die vom höchsten Gott bis zum verächtlichsten aller Dinge hinabreicht. Und dies ist Homers goldene Kette, die, wie er sagt, Gott vom Himmel auf die Erde hinabhängen zu lassen befahl.63

Systematisch zentrale Bedeutung gewinnt der Gedanke einer großen, die unendlich vielen Stufen des Seins miteinander verknüpfenden Kette der Wesen in der Neuzeit vor allem in der Philosophie von Leibniz.64 Immer wieder kommt Leibniz auf diesen Gedanken und die ihn konstituierenden Prinzipien der Gradation, der Kontinuität und der Fülle zu sprechen. In dem berühmten Brief an Varignon, in dem Leibniz das Konzept der Kette der Wesen am gedrängtesten darstellt, schreibt er zum Beispiel zum Prinzip der Gradation: ––––––– 61

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Zu Recht erklärt Lovejoy, Die große Kette der Wesen [Anm.58], S.81, zu der neuplatonischen Systematisierung: »Die Logik der Emanationslehre ist im wesentlichen eine Ausgestaltung und Weiterführung der genannten Stellen aus dem Timaios.« Vgl. Plotin, Enneaden V,4,1, IV,8,6 und V,2,1–2, Plotins Schriften, Übers. von Richard Harder. Neubearb. Mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, 5 Bde. Hamburg 1956, Bd.I, S.150–157, 142–145 und 238f. Ambrosius Theodosius Macrobius, In somnium Scipionis I,14,15. Leipzig 1970, S.58. Siehe hierzu insb. das Kapitel »Die Prinzipien der Fülle und des zureichenden Grundes bei Leibniz und Spinoza« in: Lovejoy, Die große Kette der Wesen [Anm.58], S.176–220.

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Bernhard Buschendorf Ich glaube, ich habe gute Gründe für die Annahme, daß alle die vielen verschiedenen Arten von Wesen, die zusammen das Universum bilden, im Denken Gottes, der ihre Wesensabstufungen genau kennt, nur wie die Ordinaten einer einzigen Kurve enthalten sind, die so nahe beieinander liegen, daß keine weitere dazwischen liegen kann, weil dies Unordnung und Unvollkommenheit bedeuten würde. So sind auch die Menschen mit den Tieren verbunden, diese mit den Pflanzen und diese wieder mit den Fossilien, welche ihrerseits sich an die Körper anschließen, die unsere Sinne und unsere Vorstellung uns als tot und unbelebt darbieten.65

Und im unmittelbaren Anschluß daran heißt es zum Prinzip der Kontinuität und zu den ihm gemäßen, im mikroskopischen Bereich liegenden und daher noch unentdeckten Lebensformen: Da nun nach dem Gesetz der Kontinuität dann, wenn die Wesensmerkmale eines Dinges sich einem anderen annähern, alle anderen Eigenschaften des ersteren sich denen des letzteren ebenfalls annähern müssen, so müssen alle Ordnungen der natürlichen Dinge eine einzige Kette bilden, deren einzelne Arten gleichsam wie Kettenglieder so eng miteinander verbunden sind, daß es den Sinnen und der Vorstellung unmöglich ist, den genauen Punkt auszumachen, wo eines beginnt und wo es endet [...] Die Annahme von Zoophyten oder Pflanzentieren, wie Budeus sie nennt, hat also nichts Absurdes an sich; im Gegenteil, ihr Dasein ist ganz in Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung. Und so gewaltig ist das Kontinuitätsprinzip in meinen Augen, daß ich [...] überzeugt [bin B.B.], daß es sie [d.h. Zwischenwesen wie die sogenannten Pflanzentiere B.B.] geben muß und daß die Naturgeschichte sie vielleicht eines Tages kennenlernen wird, wenn sie nämlich Fortschritte in der Erforschung jener unendlich vielen Lebewesen gemacht haben wird, deren Winzigkeit sich der gewöhnlichen Wahrnehmung entzieht und die in den Eingeweiden der Erde und den Tiefen der Meere verborgen sind.66

Nach Maßgabe des Prinzips der Fülle schließlich erläutert Leibniz in seinen Principes de la nature et de la grâce, daß es überall in der Welt »einfache Substanzen oder Monaden«, d.h. »der Tätigkeit fähige [...] Wesen«, oder Zusammensetzungen dieser Wesen gibt: »Infolgedessen ist die ganze Natur voller Leben.«67 Und er fügt wenig später hinzu: ––––––– 65

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Ebd., S.177. Der »Brief von Leibniz an Varignon über das Prinzip der Kontinuität« findet sich im französischen Original in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übersetzt von Artur Buchenau, durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen hrsg. von Ernst Cassirer. Hamburg 1963, Bd.II, S.556–559, hier: S.558.; zu Buchenaus Übersetzung dieses Briefs vgl. ebd., S.74–78, hier: S.77. Lovejoy [Anm.58], S.177; vgl. Leibniz [Anm.65], S.558f. und 77f. Gottfried Wilhelm Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Französisch-deutsch; auf Grund der kritischen Ausgabe von André Robinet und der Übersetzung von Artur Buchenau mit Einführung und Anmerkungen hrsg. von Herbert Herring. Zweite, verbesserte Aufl. Hamburg 1982, S.2f.

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In der Natur ist alles erfüllt. [...] Da nun infolge der durchgängigen Erfüllung der Welt alles miteinander in Verbindung steht und jeder Körper, je nach Entfernung, mehr oder weniger auf jeden anderen Körper einwirkt und so durch dessen Reaktion betroffen wird, so folgt daraus, daß jede Monade ein lebendiger, der inneren Tätigkeit fähiger Spiegel ist, der das Universum aus seinem Gesichtspunkte darstellt und ebenso eingerichtet ist wie das Universum selbst.68

Ebenso große Bedeutung wie für Leibniz gewinnt der Gedanke der Kette der Wesen im biologischen Denken des 18.Jahrhunderts. Zu Recht weist Lovejoy auf die Tatsache hin, daß damals die durch die Erfindung leistungsstarker Mikroskope ermöglichten Entdeckungen der Mikrobiologie [...] einerseits sogleich als eine neue empirische Bestätigung für die Prinzipien der Fülle und der Kontinuität aufgefaßt wurden, andererseits aber auch von ihnen – jedenfalls in den Augen derer, für die diese Prinzipien noch eine nahezu axiomatische Geltung hatten – ihre theoretische Rechtfertigung erfuhren. Denn die Welt der Mikroorganismen war nicht anders, als man auf Grund jener Prinzipien hätte erwarten können; sie hätte a priori aus ihnen erschlossen werden können, selbst wenn sie niemals Gegenstand sinnlicher Beobachtung geworden wäre. [...] Diese Ausweitung des Reichs des Lebendigen nach unten ergab sich aus derselben Logik wie die Annahme von der ›Unendlichkeit der Welten‹ und von den bewohnten Himmelskörpern darin. Beide ›Unendlichkeiten‹, das unendlich Große und das unendlich Kleine waren Folgerungen aus denselben Prämissen.69 Die Entdeckungen der Mikroskopisten und die Überzeugung von der Existenz von Mikroorganismen, die weitaus kleiner und zahlreicher waren als die bis dahin bekannten, lieferten willkommene neue Beweise für die unersättliche Schöpferkraft, die man in allen vom Platonismus inspirierten philosophischen Systemen als das eigentlich Wesentliche an Gottes ›Gutheit‹ verstanden hatte.70

Jean Paul hat das platonische Konzept der Kette der Wesen vermutlich durch seine frühe Beschäftigung mit Leibniz und leibnizianisch orientierten Denkern wie Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem und Charles Bonnet kennengelernt.71 In einer Untersuchung von 1780 wendet er sich unter Berufung auf Leibniz zum Beispiel gegen die cartesianische Unterscheidung von Geist und Materie: Leibniz hat erwiesen, daß es gar keine Materie giebt – daß alles Geist ist, nur durch Stufen von einander verschieden. Vielleicht giebt’s Wesen, die sich gegen uns ver-

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Ebd., S.4f. Lovejoy [Anm.58], S.285f. Ebd., S.288. Vgl. hierzu Monika Schmitz-Emans, Der Bau des wahren Luftschlosses. Studien zur Leibniz-Rezeption des jungen Jean Paul, in: JJPG 20 (1985), S.49–89, hier insb. den Abschnitt »Die Monaden als Substanzen und ihre Abstufung«, S.59–65.

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Bernhard Buschendorf halten, wie wir uns zur Materie – die uns so zu sagen für Materie halten. Recht betrachtet, ist dieser lezte Gedanke nicht übertrieben – man muß aber ein Leibnizianer sein. Es kan Arten von Wesen geben, die in unsern Augen, in den Augen noch höherer Wesen, nicht Geister sind; die’s aber demohngeachtet in den Augen Gottes sind. Geht nicht durch die ganze Schöpfung eine unermesliche Kette – wo die ersten und hintersten Glieder einander zum Erstau[n]en unänlich sehen, deren Änlichkeit und Verbindung aber nur der Vater der Geister entdekken kan?72

Freilich blieb die Skepsis gegenüber dem Leibnizschen Systemdenken, in die Jean Paul bekanntlich in den achtziger Jahren unter dem Einfluß seines Leipziger Lehrers Ernst Platner geriet, nicht ohne Folgen.73 Als er nämlich 1791 in seiner Abhandlung Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewustseins grundsätzlich wieder zu der Leibnizschen Monadologie und ihrer These von der Immaterialität der Materie zurückkehrt,74 billigt er dem für Leibniz zen––––––– 72

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»Unsere Begriffe von Geistern, die anders als wir sind«, VI. Untersuchung der Übungen im Denken, II/1,45–47, hier: 46; im Kommentar zu dieser Stelle heißt es: »Jean Paul entnahm die Leibnizsche Idee einer ›Wesensleiter‹, die zu seinen bestimmenden Lieblingsvorstellungen gehörte, Joh. Friedr. Wilhelm Jerusalems (1709–1789) Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion 1.Bd. (1768), S.6ff., vor allem aber den Schriften des Schweizer Naturforschers und Philosophen Charles Bonnet (1720–1793), dessen Contemplations de la Nature (1764) er in der deutschen Übersetzung: Betrachtung über die Natur (Leipzig 1766) exzerpiert hatte. Vgl. dort S.30.« (II/4,102f.). Auch die VII. Untersuchung der Übungen im Denken mit dem bezeichnenden Titel »Wie sich der Mensch, das Tier, die Pflanz’ und die noch geringern Wesen vervolkommen« (II/1,47–54) ist vom Gedanken der Kette der Wesen geprägt. Gut leibnizianisch erklärt Jean Paul hier zum Beispiel zu Beginn: »Alles ist Sele – aber eine Sel’ ist nur besser als die andre. Vom Menschen bis zum unförmlichen Kiesel herab herrscht Vervolkomnung Seiner selbst.« (S.47) Und wenig später heißt es ausdrücklich: »Endlich ist’s ia von einigen Tieren erwiesen, daß sie fortschreiten – wenn nun alles in der Schöpfung Eine Kett’ ist – solte nur der Hund volkommen werden, der Wurm aber auf einer Stufe bleiben? – –« (S.52) Vgl. hierzu insb. den Abschnitt »Leibniz-Nachfolge und Leibniz-Kritik zwischen 1780 und 1795« in: Götz Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983, S.17–28; wie Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg/München 1975, S.90ff., gezeigt hat, war die durch Platner inspirierte Leibniz-Kritik vor allem eine Kritik am rationalistischen Systemdenken. Wie wir soeben sahen, hatte Jean Paul 1780 unter Berufung auf Leibniz behauptet: »Alles ist Sele« (II/1,47). Gleichen Sinnes beginnt er nun seine »Vermuthungen und Beweise für die Fortdauer« der Seele mit der These: »Die Materie selbst ist immateriel.« (II/2,783) Und wiederum billigt er hier mit Leibniz der Materie Realität nur insofern zu, als er sie als gesetzlich strukturierte Veränderung in der Wahrnehmung des auffassenden Subjekts begreift: »Leibniz schränkte die Thätigkeiten aller Monaden nur auf Ideen ein und unsre Perzepzion oder Anschauung der vereinten Thätigkeiten eines solchen Monadenkonvoluts ist unser Begrif von Bewegung« bzw. unser Begriff der materiellen »Ausdehnung« (ebd.). Auch den eigentlichen Beweis der Unsterblichkeit der Seele gründet er in dieser Abhandlung auf

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tralen Gedanken der Kette der Wesen allenfalls den Status einer empirisch noch nicht verifizierten Hypothese zu. Diese »so lange Kette höherer Wesen über uns« scheint ihm nun durchaus »noch nicht erwiesen«: und die Kette niederer unter uns ist noch nicht von uns so gemessen, daß wir nicht vielleicht mit unter die obern Ringe von iener gehören könten. Der Abstand zwischen Got und den endlichen Wesen wird ohnehin durch eine ganze Gebirgkette geistiger Riesen nicht um Einen Atom verkürzt und gefült und der Schlus von dieser nöthigen Abkürzung auf eine unendliche Menge höherer Wesen mus doch einmal falsch befunden werden, er mag beim Menschen oder beim Seraph gemacht werden. Und warum müssen denn diese andern Wesen schon so hohe Stufen erflogen haben, warum können sie nicht wie unser ganzer Erdbal blos im Hinaufsteigen dazu begriffen sein?75

Im Kampaner Tal verschärft sich der Zweifel an der Validität des Gedankens der Wesensleiter, und es wird deutlich, daß Jean Paul von dieser Idee nur noch metaphorischen Gebrauch macht, um dadurch seiner Hoffnung auf innere Vervollkommnung Ausdruck zu verleihen: Die Sprossen der Wesensleiter über unserm Kopfe hat noch niemand gesehen, die zu unsern Füßen keiner gezählt: wie, wenn jene kleiner, diese größer wären, als man bisher dachte? […] die melodische Fortschreitung zu sublimierten Wesen hinauf wurde bisher doch wahrlich nur – angenommen; ich glaube an eine harmonische, an ein ewiges Steigen, aber an keine erschaffne Kulmination [...].76

In der Selina dagegen ist Jean Pauls Skepsis gegenüber dem platonischleibnizianischen Gedanken einer das All durchziehenden Kette geistiger Wesen wieder völlig verflogen, denn in der dort eingerückten Abhandlung »Über die Seelenwanderung« verweist er auf den platonischen Ursprung des Konzepts der Wesensleiter (1153) und erklärt, daß die Seele von der organischen Pflanze herauf, sich durch Leben und Beleben und gleichsam durch Bilden bilde, und so dann als eine Nomaden-Monade immer höher auf ihrer großen tour um und durch die Tierwelt entwickle, so daß von selber die durch Leben gesteigerte Kraft sich einen höhern Körper wählt und die Schlagweite des geistigen Funkens mit seiner Größe zunimmt. Ja, wenn nach Leibniz die Materie selber ihrem Wesen nach nur eine Völkerschaft schlafender Monaden ist;

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die Leibnizsche Monadologie: »Ist also unser Ich eine Monade: so ist nicht nur die Gewisheit seiner Fortdauer dargethan [...] sondern auch die Möglichkeit seines Bewustseins, weil die Monade so gut wie vor der Geburt [...] durch die ewigen Wogen und Stürme des Menschenozeans in einen neuen Menschenkörper und, wenn dieser Erdbal der Sonne zugestürzt ist, auch wol in einen bessern Körper ausgesezet werden kan.« (ebd., S.785) Vgl. hierzu Müller [Anm.73], S.22. Jean Paul, Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewustseins, II/2,776–798, hier: S.793. Jean Paul, Das Kampaner Tal, I/4,596f.

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Bernhard Buschendorf und wenn über diese nach meiner Meinung die Geisterwelt wachender regiert: könnten nicht diese Nomaden-Monaden auf dieser geistigen Völkerwanderung die einzelne immer an der Masse zu höhern Kräften läutern, so daß am Ende ein Engel einen Leib von Seelen umhätte? Waren und sind nicht unendliche Zeitlängen, so wie unermeßliche Welträume zu diesem Vergeistigen und Destillieren vorhanden? – (1150f.)

Wie in seiner Jugend behauptet Jean Paul in positivem Rückgriff auf Leibniz, daß die Materie dem Geist nur scheinbar entgegengesetzt sei, da auch sie monadisch strukturiert sei, nämlich »in ihren wahren und letzten Bestandteilen« (1178) aus Kräften bestehe, die wie alle Kräfte geistiger Natur seien. [U]nd da wir uns schlechterdings nichts Absolut-Totes denken können, und eine tote Kraft (nicht eine gehemmte) so viel ist als ein totes Leben und wir nur die geistige Kraft kennen: so wird uns die scheinbare Körperwelt zu einer lebendigen Unterseelenwelt, zu einem (Leibnizianischen) Monadensystem. Kurz alles ist Geist, nur verschiedner [...]; denn in Wahrheit greift und drängt das ungeheure Seelenmeer wirkend ineinander, obwohl mit verschiedener Richtung und Einschränkung. (1178f.)

Durchgängig orientiert Jean Paul daher in der Selina seine Überlegungen zur Seelenlehre implizit am platonisch-leibnizianischen Gedanken der Wesensleiter. In Anlehnung an diesen Gedanken expliziert er etwa – wie ich unten noch genauer zeigen möchte – das »Verhältnis zwischen Leib und Geist« (1172ff.) als geistigen Wirkzusammenhang zwischen Unter- und Oberseelenwelt (1181). Oder er bringt bei der Erörterung des Unterschieds von Traum und Wachen die Vermutung in Anschlag, die Menschen durchlebten eine kontinuierlich verlaufende Reihe von einander an Klarheit überbietenden Bewußtseins- oder Wachzuständen, so daß es möglich sei, daß »wir aus unserem hiesigen Wachen« dermaleinst »selber heller hinauferwachten« (1170f.). Oder er behauptet, nicht nur die Menschen, sondern sämtliche das All bevölkernde Wesen unterschieden sich voneinander durch den an Umfang und Klarheit verschiedenen Grad ihres Bewußtseins: »Bis zum Unendlichen hinauf, der nichts ist als lauter Besonnenheit und dem nichts verborgen sein kann, nicht einmal er sich selber, steigert sich auf unzählichen Stufen das Bewußtsein so schnell, daß dem Weisen ganze dem Wilden tief verschattete Gründe und Abgründe des Innern erleuchtet daliegen.« (1189) Um gegen den Materialismus, der alles auf die Körperwelt zu reduzieren und ausschließlich aus ihr zu erklären versucht, einen mehr als mechanischen Weltzusammenhang sicherzustellen, bringt Jean Paul in der Selina an entscheidenden Stellen immer wieder eine basale, wenn auch im Grunde unbegreifliche Strebung in Anschlag, die er je nach argumentativem Kontext ihren verschiedenen Manifestationen gemäß als Weltseele (1146f.), Leben (1173),

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Instinkt (1183ff.), geistige Kraft (1179, 1187) oder als Lebenskraft (1187f.) bezeichnet. Jean Pauls platonisch-leibnizianischer Ergänzung seiner platonisch-jacobianischen Metaphysik zufolge durchherrscht diese Strebung die Welt und gibt ihr die Gestalt einer kontinuierlich verlaufenden, alles erfüllenden und in sich gestuften Kette der Wesen. In Präfiguration dieses Gedankens spricht Henrion in seinem Brief über den »Glanz des All« enthusiastisch davon, daß in den verschiedenen Formen des Erhabenen – »vom Sternenhimmel an bis zum Weltmeer nieder«, aber auch in jeder Jahreszeit und in der Geschichte – ein umgreifendes Großes und darin letztlich der tragende Grund des All erscheint: »das Große in der Macht, die Millionen Geister zu einem Bunde berechnete und aneinanderschloß. Und dieses prangende All ist in jedem Geiste, der es denkt, zum zweiten Male geschaffen, und im Spiegelzimmer der Geisterwelt werden die Himmel und Welten zahllos wiederholt.« (1139) Vor allem aber preist er die unerschöpfliche Fülle des Lebens im All, denn diese erscheint ihm als sinnenfällige Garantie der eigenen Unsterblichkeit: O meine Selina, wie wird mir täglich das Leben gleichsam lebendiger, und der Glaube an Fortleben wurzelt weit unter die Schlachtfelder hinunter! – Zeigt mir irgendwo das Vergehen! Leben und Entstehen zeigt euch jeder Schritt und jeder Blick. Keine Kraft stirbt unterwegs, sondern ihr Stillstand ist nur Fortdauer ihres Widerstands; und selber das Leblose ist nicht zu töten, sondern verdoppelt sich bloß wie ein Polype, durch Zertrennen, und der Diamant fliegt unter dem Brennspiegel in tausend kleinere verwandelt davon. [...] Der Sternhimmel hebt, allmächtig erfassend, mein Herz am meisten empor, so ernst und ungeheuer schaut er herunter. Rücke nur so viele Tausende der Millionen Sonnen über uns dem Erdballe herein, als nötig sind, um mit ihren Glanzscheiben unser ganzes Himmelblau zu überdecken; und schaue dann hinauf und dann in dich, in dein betendes Herz. Aber was ist diese Zahl gegen jene, wo ein Herschel ein halbes Jahrtausend braucht, um die Sterne bloß unsers Himmels, also bloß des halben zu zählen; – [...] So viel ist des Unermeßlichen, und doch nicht zu viel für den darüber hinaus und alles in sich hinein messenden Menschengeist. Aber der Himmel deckt bloß die Unermeßlichkeit des All, die Erde hingegen die Unerschöpflichkeit seines Lebens auf. Unter dem Kugelregen von Weltkugeln stehen die Wasserkügelchen und Tröpfchen und wimmeln lebendig, und das mikroskopische Meer ist Lebens-Wasser, aber kein totes Meer. Wenn ich so sehe, daß eine tote Tierfaser nur ein paar Tropfen Wasser verlangt, damit darin eine kriegende Völkerschaft größerer und kleinerer Tierchen auferstehe [...] so frag’ ich, wo ist denn Versiegen des Lebens denkbar mitten in der Überschwemmung von zahllosen Springquellen desselben, die rings um uns die Erde bedecken; und wenn ich diesen Vordrang des Lebens überall arbeiten sehe [...] so freu’ ich mich des Lebens, des weiten breiten unaufhörlichen, und dadurch des meinigen und ich frage, wenn alle die kleinen Aufgußtiergeisterchen sich im kalten magern dünnen Wassertropfen ihr Leibchen und Leben erbauen und gewinnen können, wie sollt’

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Bernhard Buschendorf es nicht künftig tausendmal leichter dem starken gereiften Geiste [sein], mitten unter dem Reichtum der Kräfte umher sich neue Schwingen an[zu]setzen zum Flugkörper nach jenseits? [...] Wohnt nicht die Unsterblichkeit schon vor dem Sterben unten bei uns? – Erst durch das zahllose Leben um uns her werden mir die Sternen zu etwas, und die ungeheuren Bergketten von Sonnen über uns fangen an zu grünen, und in die unübersehliche in unendliche Fernen hineingebaute Stadt des Himmels ziehen Bewohner. (1139–1142)

5. Kapitelplaneten Zur Wahl von Planetennamen als Kapitelüberschriften wurde Jean Paul der Selina-Handschrift zufolge durch den ursprünglich antiken, noch in Goethes Hermann und Dorothea geübten Brauch der entsprechenden Verwendung von Musennamen angeregt, wobei er wegen der größeren Anzahl und der, wie er ironisch-bescheiden bemerkt, geringeren Bedeutung seiner Kapitel glaubte, »statt der 9 Musen blos [...] die 11 Hauptplaneten sammt ihrer Monden-Dienerschaft als die Thürsteher (und Ahnenbilder) der einzelnen Gemächer wählen zu dürfen.«77 In Umkehrung der zunächst erwogenen Reihenfolge beschloß Jean Paul, mit dem sonnennächsten Planeten zu beginnen und mit dem sonnenfernsten zu enden: »[1.]Merkur 2.Venus 3.Erde 4.Mars 5.Vesta 6.Juno 7.Ceres 8.Pallas 9.Jupiter mit vier Monden 10.Saturn mit sieben Monden, zwei Ringen 11.Uranus mit sechs Monden«,78 wobei die vier Monde des Jupiter, das Saturn- und das Uranus-Kapitel unausgeführt blieben. Zur sachlichen Korrespondenz zwischen Planeten und Kapiteln notiert er: »Wenigstens Einer Aehnlichkeit brauchen die (sämmtlichen) Wandelerden sich nicht bei [...] meinen Kapiteln zu schämen, daß diese wie sie [...] eine Sonne zum Mittelpunkte ihres Ganges gewählt, und der Name kann doppelt sein, Unsterblichkeit oder Gott.«79 Nach dem Vorbild des Sonnenumlaufs der Planeten sollten also die nach ihnen benannten Kapitel der Selina um das zentrale Thema ›Gott und Unsterblichkeit‹ kreisen. Doch gemahnen die Planetennamen auch an die – schon in der Antike mit der platonisch-pythagoreischen Lehre von der Seelenreise verknüpfte – Vorstellung, die Planeten seien Stationen der abgeschiedenen, durch das All wandernden Seele.80 Ferner wollte Jean Paul mit dieser Namenswahl wohl ––––––– 77 78 79 80

Jean Paul, Selina-Handschrift, SW II/4.437. Ebd., S.442; vgl. auch S.456. Ebd., S.437. Zur antiken Vorstellung vom Fortleben des Menschen in der Sternenwelt siehe Hans Georg und Wilhelm Gundel, Planeten, in: Paulys Real-Encyclopädie der

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auch auf die überkommenen astrologischen bzw. physikalischen Theorien vom Einfluß der Planeten auf die terrestrische Sphäre und ihre Bewohner anspielen. Im Schrifttum der hermetisch-neuplatonischen Tradition galt es als Gemeinplatz, daß die aus dem höchsten Einen emanierende Seele bei ihrem Abstieg zur Erde von den Planeten bestimmte Gaben erhält und auch während ihres Erdenlebens dem permanenten Einfluß der Planeten ausgesetzt bleibt.81 In Abwandlung dieser Theorie vertrat etwa Franz Anton Mesmer in seiner Dissertation De influxu planetarum die Ansicht, alle irdischen Körper und insbesondere der Mensch würden beständig durch die Gravitationskraft der Planeten beeinflußt.82 Spricht Mesmer dort von der wirkenden Kraft, die er gravitas animalis nennt, so handelt er in seinen späteren Schriften zum sogenannten animalischen oder Lebensmagnetismus von der entsprechenden Eigenschaft der beeinflußten Körper und bezeichnet diese Eigenschaft als magnetismum animalem.83 Jean Paul war bekanntlich mit der Lehre vom animalischen Magnetismus und dessen zentraler Annahme eines beständigen Einflusses der Wandelsterne seit den späten 80er Jahren vertraut84 und hatte 1813 eine längere Abhandlung mit dem Titel Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus85 verfaßt. Wie sich den von Jean Paul überarbeiteten ersten vier Kapiteln entnehmen läßt, ist die Zuordnung der Planeten zu den Kapiteln auch im einzelnen genauer begründet. Dies geschieht dadurch, daß jeweils bestimmte Analogien zwischen den astronomischen, astrologischen und vor allem mythologischen Eigenschaften des Wandelsterns und dem Inhalt des nach ihm benannten –––––––

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Classischen Altertumswissenschaft. Bd.20. Stuttgart 1950, Sp.2017–2185, hier: Sp.2162. Auf Jean Pauls Vertrautheit mit der Lehre von der Seelenreise verweist der Titel der, wie oben bereits erwähnt, für den jungen Karlson verfaßten Abhandlung »Über die Seelenwanderung« (1148–1155) sowie die spätere Feststellung: »die meisten Planeten können […] nur menschenähnliche Geister […] tragen« (1196). Am Beispiel der neuplatonischen Kronos-Saturn-Vorstellung wird diese Lehre skizziert in: Klibansky/Panofsky/Saxl [Anm.23], S.235–245. Eine prägnante Zusammenfassung der Hauptgedanken der 1766 erschienenen Dissertation findet sich in Rudolf Tischner, Franz Anton Mesmer. Leben, Werk und Wirkungen. München 1928 (=Münchener Beiträge zur Geschichte und Literatur der Naturwissenschaften und Medizin Bd.1, 9/10), S.32–36. Diese Modifikation findet sich etwa in Mesmers 1775 publiziertem Schreiben über die Magnetkur an einen auswärtigen Arzt sowie in der 1779 erschienenen Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus; vgl. hierzu Tischner [Anm.82], S.38f. und 61f. Vgl. Götz Müller, Die Literarisierung des Mesmerismus in Jean Pauls Roman »Der Komet«, in: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, hrsg. von Heinz Schott. Stuttgart 1985, S.85–199, hier: S.185. Jean Paul, Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus, II/2, 884–921.

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Kapitels herausgestellt werden. Diese Analogien werden am Kapitelende in einem Streckvers auf den Kapitelplaneten noch einmal ausdrücklich hervorgehoben, wobei zugleich die Unsterblichkeitsthematik anklingt. So heißt es im ersten, »Merkur« genannten Kapitel bei der Schilderung der Figur des Alex, daß diesem »die halbgerollten Naturlocken über den Ohren wie ein Paar Merkurflügel vorstanden, wie denn auch alles am Jüngling Flügel hatte, Gang, Sprache und Gedanke.« (1124) Die Begründung der Kapitelbezeichnung im dazugehörigen Streckvers erwähnt sodann Merkurs Rolle als Götterbote und Psychopompos: »[S]o werde der Anfang Merkurius der Götterbote genannt, denn er bringt euch ja neueste Nachrichten von denen, die im Kampans-Elysium Götter waren, ja er führt sogar, wie jener geflügelte eine Seele von hinnen, Gione.« (1129) Auch im zweiten, »Venus oder Morgen- und Abendstern« überschriebenen Kapitel mit seiner offenkundigen Analogie zwischen dem Bericht über »Selinas Liebe und Leben« (1129) und der Mythologie der verstirnten Liebesgöttin verwendet der namensbegründende »Streckvers auf den Kapitelplaneten Venus« Bilder einer erhabenen, von der Unsterblichkeitsthematik umwitterten Landschaft: Lasset gern das Kapitel mit dem prangenden Venussterne sich brüsten! Tritt nicht darin Selina auf und ihre erste Liebe? – Und ist nicht ihr Leben, gleich jenem Sterne der Liebe, mit manchen spitzen Riesenbergen bedeckt, die nicht zu übersteigen sind, nur zu überfliegen in der letzten Minute? – Aber noch schimmerst du uns, milde Selina, am Abendhimmel des Lebens als Hesperus und wirfst uns den stillen Glanz deiner Mutter zu, wie der Abendstern den der untergegangenen Sonne, der er nachzieht. Gehe nur nicht zu bald unter hinter ihr! (1145)

Wie aus dem Streckvers zum dritten, »Erde« überschriebenen Kapitel hervorgeht, bezeichnet dieser Name nicht nur den Schauplatz der Seelenwanderung (1148–1155) oder die Stätte radikaler Transzendenzbedürftigkeit, sondern – wie die ersten Vorausdeutungen auf das alsbaldige Hinscheiden der jungen und unschuldigen Titelheldin (1157) belegen – auch den Ort des frühzeitigen Tods Unschuldiger, was die in der Unsterblichkeitsfrage implizierte Theodizeeproblematik anklingen läßt: Die Völker lassen auf dir, runde Wohnerde, die Seelen lange wie abgeschiedne Geister wandern, immer in neue Körper gekleidet; und deine Oberfläche wäre grün und blumig genug zu kurzen Spaziergängen, aber zu einer ewigen Zirkelreise um dich, wo dein Osten und dein Westen ewig ineinander schwimmen, ist kein Menschenherz gemacht; wenn nicht irgendwo auf dir eine Himmelleiter steht, die über die fernsten Sterne hinausträgt. – Aber deine Erdfälle, die uns den Himmel verdekken, erscheinen öfter als deine Anhöhen, die ihn uns entwickeln; und schon tust du

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dich hie und da auf dem blühenden Fußpfad auf, den die schuldlose Selina geht! (1158)

Mars ist Regent des vierten Kapitels, weil man darin Nachricht von Henrions schwerer Verwundung bei der Eroberung von Napoli di Romania (1192) erhält und Jean Paul der Grausamkeit des griechischen Freiheitskrieges einen Kampf der Geister entgegensetzt, indem er den streitbaren Alex ausführliche »Zweifel an der Unsterblichkeit« (1161ff.) vorbringen läßt, um diese selbst wiederum – unterbrochen von den Einwürfen des Alex – entschieden aus dem Felde zu schlagen (1167ff. und 1172ff.). Auf militärische wie auf geistige Schlachten reflektiert denn auch der »Streckvers auf den Kapitelplaneten Mars«: Blutroter am Himmel! Blutroter auf der Erde! Die Sternseher beweisen, kein Wandelstern ist dir so ähnlich als der unsrige in Leben und Gestalt. Kein Licht holen wir nun so oft vom Himmel als rotes, um die Völker zu erleuchten, und die Rosen des Schlachtfeldes blühen unter deinem Strahle üppig auf der Erde. O werde immerhin gestritten, aber nur von Geistern in Geistern und nur der Irrtum falle, nicht der Streiter! (1193)

6. Theorie des Unbewußten, Ätherleiblehre des Magnetismus und poetisches Nihilismusexperiment Zeichnen sich im Unsterblichkeitsgespräch des Kampaner Tal im wesentlichen noch drei Positionen ab, die des kantianischen Hauskaplan, die des cartesianischen Unsterblichkeitsleugners Karlson und die gefühlsphilosophisch fundierte Position Jean Pauls, so sind es in den diskursiven Passagen der Selina im Grunde nur mehr zwei Positionen: der cartesianische Rationalismus, den diesmal der als advocatus diaboli fungierenden Skeptiker Alexander vertritt, und der gefühlsphilosophisch orientierte Unsterblichkeitsglaube, dem alle anderen Figuren zuneigen und den Jean Paul mit zum Teil neuen Argumenten zu stützen sucht. In einer »Disposizion« zu den verschiedenen Unsterblichkeitsbeweisen unterscheidet Jean Paul in den Vorarbeiten zur Selina zwei Beweisarten: »[m]etaphysische Beweise aus der Natur des Geistes« und »[m]oralische«, die mit »Gott«, »Sittlichkeit, Leiden« und »Liebe« argumentieren.86 Doch nur die ersteren erläutert er an dieser Stelle, indem er zur »Natur des Geistes« notiert: »Wir kennen nur geistige Kräfte und körperliche Erfolge – Die Monade kann durch Thierleiber heraufgestiegen sein – Verhältnis zum Körper –«.87 Und ––––––– 86 87

Jean Paul, [Neues] Kampaner Thal, Eintrag 218, SW II/4,182. Ebd.

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auch in der Selina selbst liegt der Akzent eindeutig auf der Erörterung des Verhältnisses von Körper und Geist, also auf dem metaphysischen Beweis. Die gegenüber dem Kampaner Tal neuen Argumente finden sich in der Selina zweifellos in der Theorie des Unbewußten, die Jean Paul bei der Diskussion des Leib-Seele-Problems im Anschluß an Leibniz, Georg Ernst Stahl und Mesmer entwickelt. Mit Leibniz geht Jean Paul davon aus, daß auch die Materie im Grunde immaterieller Natur sei, da sie im Innersten monadisch strukturiert sei, nämlich aus Kräften bestehe, die wir uns nur als geistige Kräfte denken könnten: Nur eine Kraft ist uns unmittelbar bekannt, unsere geistige. Bei der Materie müssen wir Kräfte voraussetzen, ohne welche sie nicht existieren und wirken könnte [...]. Gelangen wir nun zu dem Innern der Materie: so ist ihr Schein aufgelöst, in einen Kräfteverein; und da wir uns schlechterdings nichts Absolut-Totes denken können, und eine tote Kraft (nicht eine gehemmte) so viel ist als ein totes Leben und wir nur die geistige Kraft kennen: so wird uns die scheinbare Körperwelt zu einer lebendigen Unterseelenwelt, zu einem (Leibnizianischen) Monadensystem. Kurz alles ist Geist, nur verschiedner. (1178f.)

Während Leibniz jedoch an der prästabilierten Harmonie, also an einem strikten Parallelismus zwischen der Reihe physikalischer und der Reihe geistiger Vorgänge festhält, nimmt Jean Paul – ohne sich die Abweichung von Leibniz bewußt zu machen – eine Vermittlung zwischen beiden Sphären an, die er sich entschieden nicht-mechanistisch, nämlich im Anschluß an Georg Ernst Stahl als eine Art geistiger Anverwandlung der Körperwelt bzw. als geistigen Eingriff in die Körpernatur vorstellt: Wenn die äußere Welt als die niedere Seelenwelt durch die Nervenwelt als durch eine höhere Seelenwelt unserem Ich assimiliert und gegeben wird: so fallen die Fragen, als ob Bewegungen, Eindrücke, Körperspuren dem inneren und äußern All des Ich entsprechen müßten, von selber weg [...]; wenn überhaupt kein mechanischer Weg das Sehen, Hören u.s.w. möglich macht: so wirkt die Unterseelenwelt des Organismus auf die Oberseele oder Regentmonade bloß nach geistigen Gesetzen ein und vermittelt das Unorganische. Denn nirgend ist so viel Platz – nämlich unermeßlicher –, so viel Mannigfaltigkeit, so viel Verträglichkeit des Widerspenstigen und Unbegriffenes als im Ich. (1181)

Bekanntlich besteht Leibniz gegenüber den Cartesianern darauf, daß es zwei Arten von geistigen Tätigkeiten, nämlich die bewußten Vollzüge, also die sogenannten Apperzeptionen, und die unbewußten Vollzüge, d.h. die sogenannten Perzeptionen, gibt, wobei er davon ausgeht, daß beide Arten oder Vollzugsformen durch eine kontinuierliche Reihe von Stufen immer deutli-

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cheren Bewußtseins miteinander verbunden sind.88 Ähnlich insistiert auch Jean Paul auf der Existenz eines Reiches des Unbewußten und postuliert einen kontinuierlichen Übergang zwischen höchster Bewußtheit und völliger Unbewußtheit: »Wir machen [...] von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika, auslassen.« (1182) »Bis zum Unendlichen hinauf, der nichts ist als lauter Besonnenheit und dem nichts verborgen sein kann, nicht einmal er sich selber, steigert sich auf unzählichen Stufen das Bewußtsein so schnell, daß dem Weisen ganze dem Wilden tief verschattete Gründe und Abgründe des Innern erleuchtet daliegen.« (1189) Als empirische Beweise für die Existenz des Unbewußten führt Jean Paul verschiedene Phänomene an: die durch das vegetative Nervensystem gesteuerten Vorgänge wie Herzschlag und Atmen, die Jean Paul ebenso wie »der tiefe Stahl [...] als Werke des Geistes gelten lassen« (1182) will, die habituell gewordenen Bewegungen des Körpers, »welche die ersten Male mit Willen, Bewußtsein und Berechnung gelernt und vollzogen wurden, später aber ohne mithelfenden Geist zu geschehen den Anschein haben, was eben unmöglich ist« (1182f.), und überdies das intuitive Erfassen von Wahrheiten, woraus Jean Paul den an die platonische Anamnesislehre gemahnenden Schluß zieht, daß für solche Wahrheiten im Menschen »der Beweis schon [...] voraus fertig gelegen haben« (1183) muß. Weitere Indizien für die Existenz des Unbewußten sind ihm die instinktgeleiteten Handlungen der Tiere, wofür er eine Fülle von Beispielen anführt (1183ff.), sowie die Inspirationen der Künstler und insbesondere der Tonkünstler (1186f). Angesichts der zentralen Bedeutung, die der animalische Magnetismus für die Disposition der Titelheldin, die Handlung und die Unsterblichkeitsthematik der Selina hat, ist es nicht verwunderlich, daß Jean Paul am Ende seiner Erörterung über das Unbewußte auch auf den Magnetismus zu sprechen kommt, denn dieser ist für ihn ein besonders glanzvoller Beleg für das von ihm beschworene Reich des Unbewußten. Angeregt durch Selinas begeisterte Teilnahme am Gespräch, fragt Jean Paul: »Und warum wollen wir hier [...] nicht mit einem Worte des Magnetismus gedenken, dessen hohe Erscheinungen so sich an den Seelen- oder Monadenbund zum Dienste eines höhern Ich anschließen, daß sie alle die Kräfte und Reichtümer, die man vor seiner Of––––––– 88

Zur Leibnizschen Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption siehe insb. Abschnitt 4 der Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade und Abschnitt 17ff. der Monadologie (Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie [Anm.65] Bd.II, S.425 und 439f.). Zu der von Leibniz behaupteten Allgemeingültigkeit des Kontinuitätsprinzips siehe insb. die einschlägigen Ausführungen »Über das Kontinuitätsprinzip« (ebd., S.74ff.).

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fenbarung dem Geiste zugeschrieben, jetzo lebendig aufdecken und zeigen?« (1191) Und er fährt mit Hinblick auf Selinas magnetische Veranlagung fort: »Ich sah voraus, daß der Magnetismus einem so edlen Wesen einmal die Flügel lüften würde, welche empor wollten, da edlen Geistern so viele Sterne unter dem Horizonte stehen, die sie nur von oben erblicken können.« (1191f.) Zur Veranschaulichung der uns unbewußten psychischen Kräfte hatte Jean Paul bereits 1812 das Bild der Hellseherin gewählt, die nach dem Erwachen von ihren seherischen Leistungen nichts mehr weiß: »Wie, wenn nun Seelen solche schon erwachte Hellseherinnen wären, welche größere Dinge vollenden, als sie besonnen-wach deren erinnerlich oder fähig sind?«89 Und in seinen Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus, die übrigens charakteristischerweise mit einem Abschnitt über »Aussichten ins zweite Leben« enden, hatte Jean Paul 1813 im Anschluß an Mesmers Ätheroder Fluidtheorie die magnetische Kommunikation zwischen Arzt und Patient auf ihre gleichzeitige Teilhabe an einem ihnen unbewußten Ätherleib bzw. auf ihren gemeinsamen Eintritt in eine ihnen ebenso unbewußte Ätheratmosphäre zurückgeführt.90 Wenn die Erscheinungen des organischen Magnetismus somit auch in der Selina Zeugnis vom Reich des Unbewußten ablegen, so ist das gegenüber der rein gefühlsphilosophischen Position, die Jean Paul im Kampaner Tal vertrat, insofern ein Fortschritt, als nun mit dem Unbewußten ein Ort gefunden ist, an dem die vorrationalen Überzeugungen von der Existenz Gottes und einem Leben nach dem Tode angesiedelt werden können. Es bleibt denn auch der Titelheldin vorbehalten, sich in diesem Sinne zu äußern: »Ach«, sagte Selina, »ist es nicht ein tröstlicher Gedanke, dieser versteckte Reichtum in unserer Seele? Können wir nicht hoffen, daß wir unbewußt Gott vielleicht inniger lieben als wir wissen und daß ein stiller Instinkt für die zweite Welt in uns arbeite, indes wir bewußt uns so sehr der äußern übergeben? – Vieleicht kommen daher manche Rührung, manch[e] Andacht, manche innere schnelle Freudigkeit, deren Grund wir nicht erraten. Und wie wohl tut es, daß wir an allen Nebenmenschen, auch unscheinbaren, das zu achten haben, was Gott allein kennt.« (1189f.)

––––––– 89

90

Jean Paul, Frage über das Entstehen der ersten Pflanzen, Tiere und Menschen, II/2,928–955, hier: 953. Jean Paul, Mutmassungen über einige Wunder des organischen Magnetismus, II/2, S.884–921; zur Berufung auf Mesmer siehe ebd., S.885; »Über den höheren Sinnkörper oder Ätherleib« siehe ebd., S.890ff.; über die »Aussichten ins zweite Leben« siehe ebd., S.918ff. Zu Jean Pauls Auseinandersetzung mit der Tradition des animalischen Magnetismus und zur poetischen Umsetzung dieser Gedanken insbesondere im Komet und in der Selina siehe die instruktiven Ausführungen in: Barkhoff, Magnetische Fiktionen [Anm.7], S.136–160.

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Und als Karlson Selina wenig später seinen Unsterblichkeitsglauben auseinandersetzt, bekräftigt Jean Paul diesen Glauben mit den Worten: »Manche höhere Wahrheiten wirken sogar zu denen hinab, die sie nicht anzuerkennen glauben, und die unbewußt und heimlich von ihnen durchdrungen werden, so wie der Regen sogar zu Pflanzen, die tief unterm Wasser stehen, erquickend hinabgreift.« (1191) Wie Jean Paul berichtet, erhält Selinas frühes, auf magnetischer Veranlagung basierendes Interesse für die Welt des Geistes an der Schwelle zum Erwachsenenalter einen pathologischen Zug, denn sie muß »[d]ie letzte Erdenstunde« (1133) ihrer geliebten Mutter als einzige Zeugin miterleben: »Abschied, letzter Laut und Blick und letztes Ausatmen der schweren irdischen Luft, alles Letzte blieb ein Geheimnis der Tochter.« (1133) Traumatisiert durch diese Erfahrung, spaltet sich ihr Wesen: Die »hochsinnige Jungfrau« (1134) wendet sich einerseits ganz dem Diesseits zu, indem sie sich in unbedingter Aufopferungsbereitschaft einem Leben rastlos tätiger Nächstenliebe verschreibt, und wendet sich andererseits vom Körper ab, indem sie ihre Seelenkräfte ganz auf die Welt des Geistes richtet, so daß sie beständig in der Gefahr einer kräfteverzehrenden Jenseitsfixierung schwebt. Daß der Magnetismus eine natürliche und eine geistige Dimension hat, illustriert eine Reihe von Episoden. Zum einen wirkt Selinas Veranlagung im physischen Bereich als Heil- oder Linderungskraft, ist sie doch imstande, der gichtbrüchigen Pfarrwitwe des Dorfs beim gemeinsamen Gebet »die geschwollnen Finger ohne alle Schmerzen in- und auseinanderzulegen«. (1156) Zum anderen äußert sich ihre Begabung im geistigen Bereich in der Fähigkeit zum Hellsehen, denn in ihrem selbermagnetischen Schlaf steht sie, telepathisch entrückt, mit dem in Griechenland kämpfenden Henrion in Verbindung und beschreibt in einem dieser Träume schließlich auch detailgetreu die genauen Umstände seiner Verwundung »zwei Tage vor der Übergabe von Napoli di Romania« (1157), was durch später eintreffende Briefe bestätigt wird. Während Selina selbst um ihre Begabung nicht weiß und daher ihre natürliche Wirkung auf die Pfarrwitwe auf höheren Einfluß zurückführt, sie also religiös mißdeutet (1156), erkennt der über die gleiche Begabung verfügende Jean Paul die Veranlagung und Gefährdung der Titelheldin und beschließt, seine magnetischen Kräfte zur Stärkung ihres Körpers einzusetzen, denn, wie er erklärt, brauchte Selinas »Selbmagnetismus […] bloß vom Kunstmagnetismus erzogen zu werden und bis zur Sprache und hellern Freiheit ausgebildet zu werden, damit der neue Zustand zugleich Heilmittel werde und Heilmittel ansage.« (1217) Bezeichnenderweise ist Selina an einer solchen Kur

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jedoch nicht interessiert und geht auf Jean Pauls Vorschlag, sie künstlich in Magnetschlaf zu versetzen, nur deshalb ein, weil sie in diesem seherischen Zustand dem Geliebten nahe sein und sein Leiden mit ihm teilen kann. (1217) In der ausführlich beschriebenen Entrückung, in der sie eine Vorahnung vom Tod Henrions hat, doch »mit steigendem Entzücken« (1219) in innerer Schau die Transfiguration des Geliebten miterlebt, erscheint ihr sein Geist in lichtumfluteter Gestalt und stützt die von den Liebenden immer schon gehegte Unsterblichkeitsgewißheit mit einer neuen Einsicht, indem er der Geliebten die freudige Vision von der Loslösung vom Körper und vom Weiterleben als ätherisches Wesen vermittelt: Fahre fort, geliebter Geist! Deine Worte sind meine Flügel; sie tragen mich aus den Körpern unter die Geister und in allen Gräbern sind keine Menschen und die leeren Öffnungen ihr[er] Klüfte gehen durch die Erde hindurch und durch die Millionen Grüfte schimmern unten die Sonnen des zweiten Sternenhimmels herauf. In den Gräbern sind unsere Menschen nicht. (1219)

Auf dem Höhepunkt ihrer magnetischen Trance, dem Unbewußten völlig hingegeben, vernimmt Selina von der verklärten Lichtgestalt des Geliebten die für den Magnetismus charakteristische Begründung der Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem Tode, die Lehre vom Übertritt der von ihren irdischen Körpern gelösten Seelen in einen allumfassenden immateriellen Ätherleib. Wie Selina unter Einsatz der Unsagbarkeitstopik bekennt, fing Henrion in diesem Moment an, »erhabener vom Leben zu sprechen als mein Geist je gedacht und mein Herz je empfunden«: – von den Liebenden, die hienieden miteinander, wie nach dem nordischen Glauben abgeschiedne Geister, nur auf lockern Gewölke leben und wohnen, das bald unter ihren Füßen vertropft und auseinanderfliegt und die nur beisammen bleiben, wenn sie miteinander auffliegen. (1220)

Trotz der gedanklichen Innovation, die die Theorie des Unbewußten und die Ätherleiblehre des Magnetismus gegenüber dem Kampaner Tal darstellen, ist nicht daran zu zweifeln, daß Jean Paul seinen gefühlsphilosophisch fundierten Unsterblichkeitsglauben dem Leser auch in der Selina weniger argumentativ darlegen als vielmehr mit dichterischen Mittel nahebringen wollte. Das gilt insbesondere für den Schluß. Wie bereits im Kampaner Tal sollte die Evokation der Unsterblichkeitsgewißheit durch eine Verbindung der beiden von Jacobi unterschiedenen Formen des Gefühlsappells erfolgen: zunächst auf mittelbare Weise in Gestalt eines poetischen Nihilismusexperiments, sodann auf unmittelbare Weise durch Appell an das Gefühl der Liebe und durch die sinnfällige Inszenierung einer Verklärung.

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Das zentrale poetische Nihilismusexperiment des Kampaner Tal ist, wie eingangs erwähnt, die »Klage ohne Trost«, jenes Trauergedicht, durch dessen Verlesung der junge Karlson auf dem Höhepunkt des Unsterblichkeitsgesprächs erschüttert wird, an seinem Unglauben irre und für den Unsterblichkeitsglauben emotional empfänglich wird. Diese mittelbare oder paradoxale Weise der gefühlsappellativen Einnahme für den Unsterblichkeitsglauben sucht Jean Paul in der Selina vor allem dadurch zu gewährleisten, daß er der Liebe zwischen Henrion und Selina – trotz oder vielmehr gerade wegen all ihrer so eindringlich geschilderten Vorzüge – die irdische Erfüllung versagt, und damit die Haupthandlung unverkennbar als poetisches Nihilismusexperiment konzipiert. Und dieses zentrale Nihilismusexperiment präludieren neben Karlsons oben erörterter »Ausmalung des Vernichtglaubens« noch zwei weitere kleine Nihilismusexperimente: die Unsterblichkeitsreflexionen in Anbetracht des Zugs mit der Leiche der frommen, von ihren irdischen Qualen erlösten Pfarrwitwe und der Bericht Selinas über ihren Traum vom Sterbelager Giones. Die fromme, »von der Gicht gequälte Pfarrfrau« (1203), wird, wie es im Text heißt, »zufällig« (1206) in einem Augenblick zu Grabe getragen, in dem sie im Unsterblichkeitsgespräch der Freunde als erschütterndes Beispiel schuldlosen Leids fungieren kann: »Ach«, sagte der Rittmeister, »warum all’ dieses? [...] Ich habe mir es zuweilen ausgemalt, es aber nicht lange ausgehalten, welche ungeheuere Welthölle von Menschenqualen in jedem Augenblick vor dem Alliebenden aufgetan ist, wenn er auf einmal alle die Schlachtfelder der Erde mit ihren zerstückten Menschen überschaut – und alle die Kranken – und Sterbezimmer voll Gestöhn und Erblassen und Händeringen – und die Folterkammern, worin verrenkt wird [...] Nein, das menschliche Auge kann nicht mit hinblicken; es muß über den Erdball hinausschauen [...]. Oder hielte eine Seele den Gedanken aus, daß das Opferbeil, nachdem dessen Schneide eine Ader nach der andern im unschuldigen Leben geöffnet, in der letzten Minute die stumpfe breite Seite vorkehre zum Todes-Schlage auf ewig?« (1206)

Und als – exemplarisch für all dies schuldlose Leid – »der Sarg mit der nun erlösten gichtbrüchigen Pfarrfrau« (1206) vorbeigetragen wird und seine erschütternde Wirkung auf die Freunde nicht verfehlt, stellt Jean Paul – als wolle er vom erfolgreichen Ausgang des Nihilismusexperiments künden – die rhetorische Frage: »Und der, [...] vor welchem die Millionen Paradiese durch die zahllosen Welten hin liegen, sollte keines aufmachen für ein jahrelang gequältes Wesen, das schuldlos aus dem gemeinschaftlichen Paradiese vertrieben außen an dessen Schwelle verschmachten und verdorren mußte?« (1207)

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Die Struktur eines Nihilismusexperiments hat auch Selinas Bericht von ihrem qualvollen Traum, in dem sie Gione auf ihrem Sterbelager nicht nur von den Ihren, sondern auch von Gott dem Alliebenden Abschied nehmen sieht: Ich sah nämlich meine teure Mutter auf ihrem letzten Ruhelager [...] Da sie und wir weinten: murmelte eine harte kalte Stimme hinter uns in der Ecke: das Siechbett ist kein Siegbett, mit dem Tod ist alles aus [...] »Jawohl«, sagte unerwartet meine Mutter [...]: »Nun muß ich nach dem Scheiden von allen meinen Geliebten, noch vom Allergeliebtesten den bittersten Abschied nehmen, von dir, mein Gott! Ach wie hast du mich geliebt, du Alliebender! [...] – O, nun muß ich auf immer vergehen und kann dich nie mehr denken, und kann dir nicht danken durch Besserwerden und meine Fehler gegen dich vergüten! [...]« (1198)

Selinas Erschütterung und ihr daraus gezogener Schluß machen denn auch überdeutlich, daß ihr Bericht als Nihilismusexperiment konzipiert ist, denn »... Selinas Stimme stockte; ›ich kann doch nicht die übrigen Worte des Traums hinauserzählen, ob mich gleich ein so unwahrer nicht [...] so bewegen sollte‹, und sie verließ mit nassen Augen das Zimmer.« (1199) Wie diese vorbereitenden Episoden ist auch die gesamte Erzählung als Nihilismusexperiment angelegt. Obwohl für die beiden abschließenden Kapitel »Saturn« und »Uranus« keine direkten Vorarbeiten vorhanden sind, kann man der Selina-Handschrift doch in etwa entnehmen, wie sich Jean Paul das Ende der Erzählung dachte. Nach Eduard Berends Rekonstruktion des Schlusses stand für Jean Paul fest, »daß Henrion an seiner Wunde sterben sollte, und zwar wahrscheinlich an seinem und Selinas gemeinschaftlichen Geburtstage, dem 2.August, den er als Tag seiner Rückkehr bestimmt hatte«.91 »Selina sieht im magnetischen Schlaf seinen Tod«92 »und stirbt selber noch am gleichen Tage bei Sonnenaufgang in einem Spiegelzimmer unter Orgelklängen«.93 Der vorzeitige Tod der beiden Liebenden sollte bei den Freunden und natürlich auch beim Leser Erschütterung hervorrufen und dadurch eine gefühlsmäßige Hinwendung zum Unsterblichkeitsglauben bewirken.94 Im Sinne dieser aus der Unerträglichkeit des Vernichtglaubens erfolgenden Hinwendung zum Unsterblichkeitsglauben notiert Jean Paul: »Der höchste Trost falle in den höchsten Schmerz.«95 »Alle Leiden werden uner––––––– 91 92

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SW II/4,LVIII; vgl. auch Henrions Brief aus Marseille (Selina, I/6,1216). SW II/4,LVIII; zu den entsprechenden Belegen in der Selina-Handschrift siehe SW II/4,448 und 451. Ebd., S.LVIIIf.; zu den entsprechenden Belegen in der Selina-Handschrift siehe SW II/4,422, 448 und 449. Zu Karlsons, Wilhelmis und Selinas Erschütterung beim Tode Henrions siehe die einschlägigen Belege in der Selina-Handschrift, SW II/4,439, 445 und 457. Ebd., S.484.

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träglich-düster, wenn man ihnen die frohe Beleuchtung durch das Licht der andern Welt entzieht«.96 »Unsere Erden[-]Nichtigkeit in der Zeit wäre ohne Aussicht eines höhern Daseins gar nicht zu ertragen.«97 Im Kampaner Tal wird die Unsterblichkeitsgewißheit auf unmittelbare Weise durch zwei positive Gefühlsappelle hervorgerufen: durch das Gefühl der Liebe, das in Karlson durch ein verhülltes Geständnis Giones erregt wird, und durch die beiden Schlußbilder mit den korrespondierenden Montgolfierenflügen. Das erste Bild schildert Giones östliche Erhebung über die Erde – aus der Perspektive der am Boden versammelten Freunde – in einer stark licht- und entrückungsmetaphorisch geprägten Sprache als Vorwegnahme ihrer künftigen Himmelfahrt und Verklärung, während das zweite Bild das von Jean Paul und Nadine im westlichen Ballon gemachte Flugerlebnis in der Sprache des Erhabenen aus der Giannozzo-Perspektive schildert und als Imitatio oder subjektiven Nachvollzug von Giones Apotheose erscheinen läßt. Auch für den Schluß der Selina hatte Jean Paul zur emotionalen Bekräftigung seiner Unsterblichkeitsgewißheit offenbar zwei solche positiven Gefühlsappelle vorgesehen, denn »[f]ür die Gespräche der letzten Tage und Stunden« hatte er sich »die höchsten ›das Gefühl ansprechenden Gründe‹ aufgespart«:98 »die Liebe«99 »und das Wiedersehen«.100 »Durch sie sollte schließlich auch Alex, dessen Liebe zu Selina sich bei ihrem Tode offenbart [...], von seinem Unglauben bekehrt werden.«101 Wenn sich der SelinaHandschrift auch nicht entnehmen läßt, wie sich Jean Paul die Gestaltung des Schlusses im einzelnen dachte, so legt die zentrale Bedeutung, die das Ätherleibkonzept des animalischen Magnetismus für die diskursive Begründung der Unsterblichkeitsgewißheit sowie für die Gestaltung der Entrückungszustände und inneren Gesichte der Titelheldin hat, doch den Gedanken nahe, daß Jean Paul für die Schlußapotheose erhabene Bilder der feierlichen Wiedervereinigung und des freudigen Wiedersehen im Jenseits im Auge hatte, die es – wie im Fall von Selinas entzückter Schau des transfigurierten Geliebten – an den Theorien, der Semantik und Metaphorik der animalischen Magnetismus zu orientieren und phantastisch auszugestalten galt. Wie ich zu zeigen suchte, ließ sich Jean Paul in der Selina von der metaphysischen Überzeugung leiten, die Idee der Unsterblichkeit und der Glaube an sie gehörten – ebenso wie die anderen Gegenstände der »innere[n], in ––––––– 96 97 98 99 100 101

Ebd., S.436. Ebd., S.477. SW II/4,LIX; vgl. Selina-Handschrift, SW II/4,439 und 484. SW II/4,LIX; vgl. Selina-Handschrift, SW II/4,449 und 460. SW II/4,LIX; vgl. Selina-Handschrift, SW II/4,459 und 463. SW II/4,LIX; vgl. Selina-Handschrift, SW II/4,450 und 446.

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unserem Herzen hängende[n] Geisterwelt«102 – zur anthropologischen Grundausstattung, seien in unseren vorrationalen Schichten immer schon verwurzelt und könnten daher nur auf emotionalem Wege erschlossen, insbesondere aber mit den Mitteln der Dichtung geweckt und zur Geltung gebracht werden, wobei er diese von Jacobi unter beständigem Rückgriff auf Platon entwickelte Metaphysik durch eigene Anleihen an Platon stützte und durch Einbeziehung des platonischen, durch Leibniz und die zeitgenössische Biologie modifizierten Wesensleiterkonzepts sowie durch Integration der im animalischen Magnetismus propagierten Theorien des Unbewußten und des Ätherleibs präzisierte. Aus dieser Metaphysik erklären sich nicht nur die Konzeption der Selina mit ihrer Dominanz des Poetischen über das Diskursive, sondern auch die dichterischen Mittel wie die kalkulierte Iteration von narrativen Rückund Vorgriffen, die dem Reinkarnationsgedanken verpflichtete Wahl der Charaktere, die heroisierende Stufung des Erhabenen, die beständigen poetischen Spiegelungen der Unsterblichkeitsthematik oder die wiederholten poetischen Nihilismusexperimente, denn all diese wohl aufeinander abgestimmten Mittel sollen den Geist des Ganzen von Anfang an gefühlsappellativ evozieren und im Fortgang der Erzählung verstärken und vertiefen. Jean Pauls metaphysische Funktionsbestimmung der Poesie ist uns ebenso fremd geworden wie die Gedanken, die er seinen Werken zugrunde legte. Doch da unsere ästhetische Wahrnehmung nicht rein, sondern kognitiv vororientiert ist, müssen wir versuchen, diese von uns nicht mehr geteilten, uns unvertraut gewordenen oder gar bereits der Vergangenheit anheimgefallenen Ideen auf den mühsamen Wegen historischer Forschung zu rekonstruieren. Nur so ist es uns möglich, den Gehalt und die Form dieser Werke zu verstehen und ihren vollen Glanz zurückzugewinnen.

––––––– 102

Jean Paul, Das Kampaner Tal, I/4,611.

CHRISTIAN SINN

»ACHT JAHRE UNTER DER ERDE« Jean Pauls Die unsichtbare Loge (1793) zwischen Aufklärung und Arkanum

I. In Die Unsichtbare Loge wird nach drei satirischen Gründen für die Degeneration der Hof- und Weltleute ein vierter Grund durch geheime mystische Gesellschaften angegeben, die für ihre obskuren Zwecke Menschensegmente nach folgendem Programm herstellen: Heutiges Tages muß jede Seele von – Stand desorganisiert und entkörpert werden. [...] der Körper ist nach Philosophen, die auch eine Seele haben, bloß ein Werkzeug, ihre und unsre auszubilden und sie an die Entbehrung dieses Werkzeugs zu gewöhnen. Die Seele muß alle Fäden, die sie an den Klumpen schnüren, nach und nach zerfressen und abbeißen. Er ist ihr das, was den Kindern, die schwimmen lernen, der korkene Küraß ist: täglich muß sie diesen Küraß zu verkleinern suchen, um endlich ohne ihn zu schwimmen. Der philosophische Mann von Welt und das Mitglied geheimer desorganisierender Unionen schafft also von diesem Schwimm-Panzer anfangs nur das Fleisch an Beinen und Backenknochen beiseite. Das ist noch wenig. Darauf brennt er durch Glühfeuer Gehirn, Nerven und anders Zeug weg, weil sie das Küchenfeuer aushielten. Die Haare oder das menschliche Rauchwerk bringt jeder ohne Mühe weg. Der wichtigste Schritt dieser KüraßSektion ist der, daß man ohne das Barbiermesser des Origenes so viel bewerkstellige – nur sanfter – wie er. Ist das vorbei: so hat man zu jener völligen Ertötung nicht mehr weit, wo der ganze Küraß rein herunter ist und wo die Seele im Meere des Seins endlich schwimmen gelernt hat, ohne von ihrem Schwimmkleid nur so viel, als man zum Verkorken einer Flasche bedarf, noch um sich zu haben. Nachher wird man beerdigt. So wenigstens trägt man in geheimen Gesellschaften von Ton die menschliche Entkörperung vor. (I/1,324f.) 1

In der Wirkungsgeschichte wurde Jean Paul die hier satirisierte Deformation des Körpers unterstellt, vor allem im Kontext von Prüderie und verdrängter ––––––– 1

Die Zitate erfolgen nach der leichter zugänglichen Auflage von 1822. Zu den beiden Fassungen und ihren Differenzen: Jean Paul, Die unsichtbare Loge. Eine Biographie, hrsg. von Klaus Pauler. München 1981 und Jochen Golz, Die Fassungen der »Unsichtbaren Loge«. Blicke in die Werkstatt, in: Schrift- und Schreibspiele. Jean Pauls Arbeit am Text, hrsg. von Geneviève Espagne und Christian Helmreich. Würzburg 2002, S.11–28.

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Christian Sinn

Sexualität,2 obwohl er jegliche Limitationen der Sinnlichkeit anhand von »Kegelschnitten aus vornehmen Körpern« (I/1,322) kritisierte und ihr mit seinem eigenen Schreibprogramm zu begegnen versuchte: »für einen Weltmann ist heutzutage nichts schwerer, als aus seinem Körper nicht das zu machen, was ich mit Recht aus meiner Lebensbeschreibung mache – einen Sektor oder Ausschnitt.« (I/1,323) Jean Pauls Roman ist ›geometrisch‹ organisiert: Die ›Kegelschnitte‹ der Menschensegmente werden nicht nur als Sektoren dargestellt; diese operieren vielmehr als Elemente in einem Kompositionsverfahren, das sich der platonischen Tradition des periodus verdankt und der Wiederherstellung des ganzen Menschen dient. Eine genaue Textanalyse hierzu habe ich bereits vorgelegt,3 so daß ich im folgenden mich auf das Resultat beschränke, um von ihm ausgehend die Frage zu beantworten, wie sich Jean Pauls Text zum Kontext der Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts verhält. Der Versuch des 18. Jahrhunderts, den ganzen Menschen durch die Literatur wiederherzustellen, kann mit dem Argument von von Graevenitz kritisiert werden, es handele sich hierbei um einen Rückfall in die »symbolische Überlieferung«.4 Berechtigt ist dieses Argument vor allem, wenn es sich gegen Versuche gegenwärtiger Forschung richtet, im Rückgriff auf Texte des 18. Jahrhunderts eine Kulturkritik der Moderne zu versuchen. Im Falle Jean Pauls aber geht es nicht um eine nostalgische Kompensation der modernen funktional differenzierten Gesellschaft (Luhmann), sondern um die Frage nach den Koordinationsmöglichkeiten einer bereits atomisierten Gesellschaft. Jean Paul verkündet daher nicht schlicht das Programm des ganzen Menschen, sondern löst es auf einem methodisch hohen Niveau operational so ein: Sein geometrisches Kompositionsverfahren organisiert die einzelnen 55 Sektoren von Die unsichtbare Loge hinsichtlich von Personen, Topographie, ––––––– 2

3

4

Vgl. hierzu die zahlreichen Belege in: Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Peter Sprengel. München 1980, S.XXXVII–XXXVIII, LXXIX, 216. Prägend wurde vor allem die Darstellung durch Max Kommerell (Sprengel, S.258–261), der ausgehend von Gundolf und der ›gesunden‹ Leiblichkeit der George-Ästhetik Jean Paul in einen pathologischen Kontext stellte. Stereotyp ist zudem seit der Romantik der Vorwurf, bei Jean Pauls Frauengestalten handele es sich um körperlose, entsexualisierte Wesen, seine Frauen als Inkarnation des Guten seien immer krank, während die Gesunden bestenfalls Taugenichtse seien. (vgl. Sprengel, S.XXII–XXIV, LXVIf., 14, 71, 177, 189). Dichten und Denken. Entwurf einer Entdeckungslogik in den exakten und ›schönen‹ Wissenschaften. Aachen 2001, S.55–72. Gerhart von Gravenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987, bes. S.1–33.

»Acht Jahre unter der Erde«

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Semantik und Darstellungsmodi numerisch so, daß sie der in der Platonischen Ideenzahlenlehre notwendigen Struktur ›1:7: 1:7:4:1: 4:1 [I. Teil] / 1:7:4:1: 9: 1:7 [II. Teil]‹ folgen.

II. Bei Jean Paul ist der Körper kein bloßer Kegelschnitt der Seele. Jean Paul widersprach in seiner Kritik der Deformation des Körpers als direktem Gegenbild zu seiner Konzeption des ›hohen Menschen‹ nicht nur entschieden Weishaupts extrem gnostischer These, »sich von den Sinnen loszumachen und in sich selbst zurückzuziehen« sei »das einzige Mittel der Gottheit ähnlicher und wieder in die Classe der Dämonen versetzt zu werden«.5 Bei Jean Paul wird auch zweifelhaft, ob das Geheimnis der Geheimgesellschaften, das kommende Zeitalter der Vernunft, in der alle Menschen nur noch miteinander vernünftig umgehen werden, selbst vernünftig zu nennen sei. Denn nicht nur aufgrund externer kleinstaatlicher Eingriffe in seinem Text zerbricht der Bund der Freunde, sondern aus deren immanenten Prinzip, Freiheit nur zu fordern, ohne ihre strukturellen Bedingungen, Repräsentation, Demokratie, Verfassung, Recht, zu beachten. Das führt zu den Konsequenzen, die sich auch im gnostischen Binarismus manifestieren: Wird die Welt, zumal die politische, als prinzipiell dem Reich des Bösen zugehörend angesehen, bleibt nur das Reich des Lichtes als unrealisierbare Utopie übrig.6 Demgegenüber vertrat Jean Paul dezidiert das liberale Leitbild politischer Dezentralisierung, satirisch zugespitzt: Warum hatten nur meine Voreltern die Freiheit, sich Gesetze zu wählen, und ich nicht? Wohin ich fliehe, find’ ich schon Gesetze. Das Ideal eines Staats wäre, daß die kleinsten Föderativstaaten, die sich immer freie Gesetze gäben, sich in Födera-

––––––– 5

6

Adam Weishaupt, Das verbesserte System der Illuminaten mit allen seinen Graden und Einrichtungen. Neue und verm. Aufl. Frankfurt a.M. 1788, S.386. Der Begriff des ›Dämons‹ ist im Gegensatz zur heutigen Verwendung von ›dämonisch‹ durchaus positiv besetzt: Dämonen sind Lichtgestalten, so schon in Christoph Meiners Ueber die Mysterien der Alten besonders über die Eleusinischen Geheimnisse (1776). Nach Meiner wurden in den Mysterien gelehrt, daß die Seelen der Menschen einst Dämonen gewesen seien, aber zur Strafe ehemaliger Vergehungen in das Gefängnis menschlicher Leiblichkeit eingesperrt wurden. Je mehr sich daher der Mensch vom Leib als Grab der Seele befreie, desto mehr nähere er sich wieder der verlorengegangenen ›dämonischen‹ Glückseligkeit an. Meiners Mysterienschrift mit ihrem Programm totaler Entleiblichung war der zentrale Praetext Weishaupts. Vgl. die Analyse von Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a.M. 1959.

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Christian Sinn tiv-Dörfer – dann in Föderativ-Häuser – und zuletzt in Föderativ-Individuen zerfälleten, die in jeder Minute sich ein neues Gesetzbuch geben könnten. (SW I/1,746)

Die Inszenierung dieses Leitbilds unterliegt freilich dem performativen Widerspruch, daß sie nur mit den Mitteln gelingt, die schon die Geheimgesellschaften verwendeten: Der Plan, einen Menschen acht7 Jahre unter der Erde aufwachsen zu lassen, damit er danach in das Konkrete der Gesellschaft als Fremder unerwartet einbrechen und geschlossene Gesellschaften öffnen kann, entspringt ja nicht Jean Pauls Trunkenheit oder seinen Fieberphantasien, von denen sein Text am Ende berichtet. Es ist vielmehr die Idee der Läuterung und Vervollkommnung des Menschen hin zur Sphäre des Göttlichen in der Esoterik des 18. Jahrhunderts, im besonderen der Meistergradinitiation der Freimaurer,8 die Experimente mit Menschen anstellten, die sich von denen in Jean Pauls Eingangssequenz nicht grundsätzlich unterscheiden. So sehr auch die Gruppen der Gold- und Rosenkreuzer, der Freimaurer und der Illuminaten hinsichtlich politischer Absichten voneinander abweichen, ihr zumeist nicht-politisches, esoterisches Interesse am Prozeß der Perfektibilität des Menschen, das sie gerade als Aufklärer kennzeichnet, führte nicht nur zur Erosion der ständischen Gesellschaft durch die vorrevolutionäre Forderung nach Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Denn je minutiöser in den Texten der esoterischen Bünde die moderne bürgerliche Gesellschaft vorbereitet wurde, ohne sie aber konkret durchsetzen zu wollen, desto ungewohnter musste die bekannte, faktische Gesellschaft erscheinen. Ihre maskierte Unmöglichkeit politischer Ziele weist aber auf die Rolle der Phantasie bei Jean Paul zurück: Ist, sehr reduziert formuliert, der aufgeklärte Verstand an Wunder, am Phantasma und Bildlogiken9 nicht interessiert, verweist er sie in den Bereich bloßer Märchenassoziationen, Trugbilder und Mißgeburten der Ein––––––– 7

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Der ›8‹ kommt in der Zahlenmystik der Freimaurer eine wichtige Bedeutung zu; sie erzeugt sich u.a., wenn man das Freimaurersymbol, eine stilisierte 41, über das magische Quadrat mit den Zeilen 4,9,2 / 3,5,7 / 8,1,6 legt. Acht der neun Kästchen des Quadrats sind bedeckt, nur die Acht selbst bleibt unberührt. Vgl. das Beispiel einer Meistergradinitiation bei Winfried Dotzauer, Quellen zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Systems der Strikten Observanz. Frankfurt a.M. 1991, S.155– 161. Die Darstellung einer Meistergradinitiation (London 1809) findet sich in: Monika Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995, S.11. Abdruck nach: Dieter A. Binder, Die diskrete Gesellschaft. Geschichte und Symbolik der Freimaurer. Graz 1988. Vgl. den buchstäblich ein-leuchtenden Beitrag von Helmut Pfotenhauer, Empfindbild, Gesichtserscheinung, Vision. Zur Geschichte des inneren Sehens und Jean Pauls Beitrag dazu, in: JJPG 38 (2003), S.78–110, der im Kontext des Bildbegriffs Jean Paul gegenüber Aufklärung und Romantik differenziert profiliert.

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bildung,10 so bedarf die Suche nach der Vernunft schon deshalb der Phantasie, weil sie, da die Welt noch nicht vernünftig geworden ist, notwendig kontrafaktisch operiert. Was aber hieße denn überhaupt, in einer vernünftigen Welt zu leben?

III. Auf diese Frage erfolgen im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung ganz unterschiedliche Antworten, die hier nicht differenziert dargestellt werden können. Auf Jean Paul bezogen aber läßt sich sagen, daß er einige dieser Antworten in Die Unsichtbare Loge polyphon in Szene setzt, um damit die Unmöglichkeit der faktischen Realisierung nur einer Antwort kenntlich zu machen. Auch hier kann nicht auf alle Textpassagen eingegangen werden, mit denen Jean Paul diese Polyphonie erzeugt; folgende kleine, exemplarische Auswahl möge genügen: Erstens wird das vor allem von den Freimaurern anvisierte Programm einer Wiederherstellung des salomonischen Tempels dadurch satirisiert, daß ausgerechnet der Widerling Robisch zum »Baumeister« des »vierten salomonischen Tempels« (I/1,76) wird, nämlich eines »Kerkers« (ebd.) für Käfer, der unter Gustavs Aufsicht dann zur »salomonischen Schloßkirche« (I/1,77) mutiert. Zweitens spielt das Verbinden der Augen Gustavs wie der des Amandus auf Erleuchtungsinszenierungen an, mit dem Unterschied freilich, daß die Entwicklung beider gerade dokumentiert, daß es keinen ewig währenden status quo der Erleuchtung gibt. Drittens gibt ›Jean Paul‹ eine »geheime Instruktion« zur bessern Erziehung des Menschengeschlechts mit dem Hinweis, »daß sie ganz unnütz ist«. (I/1,128) Fünftens erscheinen die Ausdrücke ›geheime Gesellschaft‹ und ›Loge‹ im Kontext eines Kinderspiels, in dem der ›Redner‹ Gustav sich und andere so sehr an seiner Rede berauscht, daß die »betäubte geheime Gesellschaft« (I/1,142) die Außenwelt vergißt und Gustav und Regina zu ihrem ersten Kuß finden. Sechstens erscheint das geheime Kabinett in Scheerau in komischem Licht, beschränkt sich dessen Geheimpolitik doch weitgehend darauf, fremde Gewürze zu importieren, um auf den eigenen Inseln das Verkaufsmonopol zu etablieren. Siebtens dienen die steinernen Mönchsgräber in der Gartenhöhle nicht zu der Konfrontation mit dem eigenen Tod, die für die Geheimgesellschaften zentral war, oder gar

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So Jean Pauls Lehrer Ernst Platner; vgl. Pfotenhauer [Anm.9], S.87.

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zur Abtötung der Leidenschaften, sondern als abschreckendes Beispiel (I/1,179).11 Jean Paul spielt zwar in vielfältiger Weise auf die Geheimgesellschaften an, aber diese Anspielung scheint vor allem wesentlich für seine Poetologie zu sein, die im Unterschied zu den ethischen Menschenexperimenten der Geheimgesellschaften mit epistemischen Experimenten operiert. Jean Pauls Reflexion der esoterischen Bünde, die durch das Geheimnis eine kommunikative Handlungspraxis initiieren und antizipieren wollten, ist innovativ, obwohl sein Text bis heute keine große Wirkungsgeschichte erzeugte: Die Loge, ein durchaus konkret bestimmter Ort, wird unsichtbar, sie wandert in den Text, ja wird zu diesem selbst, evoziert aber in dessen sichtbarer Lesbarkeit Unanschaulichkeit. In dieser Transformation des Ortes wird das handlungsentlastende Prinzip der Logen verstärkt und stabilisiert. Denn deren Geheimnis war bereits eine zweite Welt in der hiesigen. Diese zweite Welt aber soll nach Jean Pauls Ästhetik die Poesie selbst sein.12 Geheimnis und Poesie sind demnach strukturanalog und die Bedeutung des Geheimnisses auch in politischer Hinsicht ist darum nicht auf die vermeintliche Resignation der deutschen Intelligenz zu reduzieren. Die mit Schrift spielende Phantasie stand mit dem Geheimnis vielmehr in unmittelbarem Zusammenhang. Denn es bedurfte ihrer, sich eine zweite Welt neben und in der offenbaren überhaupt vorstellen zu können. In diesem Zusammenhang von Phantasie, Geheimnis und Schrift kann Georg Simmels Philosophie des Geldes mittelbar drei Eigenschaften der Schrift deutlich machen, die sie mit dem Geld verbinden: erstens die Komprimierbarkeit beider Medien, die es gestattet, daß jemand durch minimale Zeichenverwendung Autorität erhält, zweitens ihre Abstraktheit bzw. Qualitätslosigkeit, durch die Verbergen, Stehlen, Besitzwechsel erst möglich wird und schließlich die Fernwirkung der Schrift, die sich von unmittelbaren Kontexten loslöst.13 Es sind gerade die Verbergungsmöglichkeiten der Schrift, die ––––––– 11

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Weitere Belegstellen unterschiedlicher Signifikanz finden sich in: I/1,164,173– 175,204,213,217,256,267–269,286,313,320–322,324–325,363,366,384,420,428. I/5,30. Die indirekte ›Definition‹, die Jean Paul gibt, die Poesie sei die einzige zweite Welt in der hiesigen, ist signifikant, wenn man das ›in‹ betont, denkt man an Heinrich Heines Kritik der ›Goetheaner‹ in Die romantische Schule (1835), in der die Kunst als zweite Welt über die erste Welt gestellt wird. Jean Paul ist noch Baumgartens Meditationes philosophicae de nonuullis ad poema pertinentibus (1735), §§64,71 verpflichtet, in denen Dichtung die Vorbereitung zur besseren Erkenntnis (der ersten Welt) ist. »Der Verfasser [einer Satire über einen Fürsten, für den ›Jean Paul‹ Ottomar hält] kann aber auch ein wirkliches Mitglied dieser [in der Satire beschriebenen] geheimen Gesellschaft sein, die überhaupt weit humoristischer und unschädlicher stiehlt

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nur scheinbar paradox Öffentlichkeit durch die staatliche Schutzmaßregel der Zensur hervorrufen. An Jean Pauls Werk lässt sich diese Zwiespältigkeit der Schrift aufweisen. Die Unsichtbare Loge wirft nicht nur als Zeugnis der bereits fortgeschrittenen Spätaufklärung den Schleier des ursprünglich Geheimen ab, indem dieser Text all die Strömungen reflektiert, die im Geheimen öffentliche Interessen in mystische Autorität hüllten. Umgekehrt wird hier das ursprünglich Offenbare geheim: ›Offenbar‹ im Sinne eindeutiger, unmißverständlicher Lesbarkeit war nämlich zuvor das Individuum darum gewesen, schien doch der durch Gerhard Oestreich analysierte Prozeß rigider Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit nicht nur durch Kirchen- und Sittenzucht die vollkommene Überwachung des einzelnen Menschen zu ermöglichen.14 Wesentlich ist vielmehr der analytisch geltende Sachverhalt, daß der Begriff des Individuums durch den genannten Prozeß allererst hergestellt wird. Im 18. Jahrhundert nun aber gelingt es Jean Paul, der zur Überwachung des Menschen eingesetzten Geheimhaltungspraxis durch die öffentliche Politik wie durch ihre Opposition, die esoterischen Bünde, einen Text entgegenzusetzen, der solche Praxis kritisiert, dabei aber auch die eigenen Produktionsbedingungen nicht ängstlich verschweigt, sondern publik und öffentlich, jedoch als Fiktion verkündet. Damit hat ein Individuum, konkret der Schreiber Jean Paul, im Unterschied zum 17. und frühen 18. Jahrhundert die Möglichkeit gewonnen, eine Technik der Diskretion zu entwickeln, die mit der Entblößung operiert, sich im Schreiben neu zu entwerfen, so daß der bisherige Begriff vom Individuum unterlaufen wird. In Jean Pauls Text steht die Schrift selbst in diesem zwiespältigen Übergang und Vertauschungsprozeß von Offenbarem und Geheimem, da sie nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt der Darstellung ist. Im radikalen Gegensatz zu den Texten der Freimaurer handelt es sich bei Die Unsichtbare Loge nicht nur um eine Einübung in das Geheimnis als Zeichen freier Selbstverwirklichung, sondern um den betonten Einbezug religiöser und politischer Kontexte, die zum Scheitern des gesamten Projektes, dem Entwurf einer unsichtbaren Loge im Text wie dem Text selbst, führen. Darin unterscheidet sich Jean Paul deutlich von anderen Geheimnisautoren seiner Zeit. Die durch sie ver–––––––

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als jede andere. Neulich hielten sie den Postwagen an und nahmen ihm nichts als ein Grafen-Diplom, das jemand zugefahren wurde, der kaum die Emballage desselben verdiente [...]« (I/1,377). Mit dem ›Grafen-Diplom‹ schreibt die fingierte Satire den Anfang des Textes, aus dem sie sich selbst erzeugt, denn Gustavs Genealogie verdankt sich eben einem solchen fragwürdigen ›Diplom‹. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, S.179–197.

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sprochene Transzendenz der irdischen Schranken befragt er mit dem Geist der Frühaufklärung kritisch auf die Folgen für das konkrete Handeln. Jean Paul macht kurz gesagt mit den Experimenten der Geheimgesellschaften selbst ein Experiment. Damit setzt er freilich das ethische Konzept der Freimaurer, das nicht Intellektualität, sondern gelebte Tugend betont,15 mit anderen Mitteln fort; denn in Frage steht der Begriff der Tugend selbst, der sich gerade bei den Freimaurern nicht einsinnig fixieren läßt: Um zu wissen, was spezifisch menschliche Tugend ist, müßte man ein Wissen vom Menschen haben; kennzeichnend für den Menschen aber scheint dessen Variabilität, Indeterminiertheit, sein Werden zu sein. Insofern kann es auch keine normative, sondern nur eine modale Ethik geben. Unter dem Ausdruck ›modale Ethik‹ verstehe ich die nur formale Beschreibung dessen, was Menschen in ihren je konkreten Situationen möglich ist, um mit einer solchen differenzierten Beschreibung die Chancen individueller Selbstfindung zu erhöhen. Modale Ethik bedient sich literarischer Formen, sie spielt mit den kulturrelevanten Regeln, um Kultur selbst als Fiktionsdiskurs zu kennzeichnen und dessen Poetik zu analysieren und zu verändern. Damit allerdings geht, jedenfalls im Falle Jean Pauls, die mögliche Ethik des literarischen Textes weit über das hinaus, was die Geheimpädagogiken als objektive Moralität ganz ernsthaft beanspruchten. Diese bedienten sich nur eines Prinzips, der Konstruktion einer pädagogischen Maschine.16 Jean Paul hingegen verweist auf das in der Logik eines Kalküls mitzubedenkende Moment unverfügbarer Rezeption, die, in Die Unsichtbare Loge als Extrem formuliert, den Autor utopisch-aufklärerischer Projekte entmächtigt, damit aber den revolutionären Anspruch einer Aufklärung von unten gegen den Machtkalkül des aufgeklärten Absolutismus erst ermöglicht.17 Mit Wolfgang Dreßen könnte man freilich polemisch einwenden, hierdurch habe sich der Pädagoge erst recht unsichtbar gemacht und eben darum etabliert.18

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Vgl. Ernst Manheim, Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert [1933], hrsg. und eingeleitet von Norbert Schindler. Stuttgart/Bad Cannstatt 1979, S.89–98. Wolfgang Dreßen, Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen/Deutschland. Frankfurt a.M. 1982, S.213. Die Skepsis gegenüber den Folgen der Französischen Revolution kennzeichnet Jean Paul ebenso wenig wie Wieland oder Hölderlin als ›konservativ‹. Vgl. im Gegensatz hierzu: Götz Müller, Der verborgene Prinz. Variationen einer Fabel zwischen 1768 und 1820, in: JJPG 17 (1982), S.71–89. Dreßen [Anm.16], S.213.

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IV. Die Unsichtbare Loge erweist sich trotz des zuletzt genannten polemischen Einwandes als literarische Analyse eines Emanzipationsprozesses, der vice versa abhängig von der Frage der Kompetenz im Leseprozeß bleibt. Jean Paul lehnte arkanpolitische Bevormundungen durch das Geheimnis ab. Er setzte auf Leser, die lesen konnten, die es aber faktisch nicht gab. Nur unter diesem Aspekt bleibt sein Projekt, wie er kurz vor seinem Tod schrieb, »eine geborne Ruine« (I/1,13), es dokumentiert aber ebenso den Willen zur Selbstaufklärung: Sein implizites Eingeständnis, daß das Ziel herrschaftsfreier Kommunikation noch aussteht, bedingt, daß dieses Ziel nur als zugespitzte Fiktion innerhalb der Kulturfiktion eingeführt werden kann. Zugespitzt wird die Fiktion durch die explizite Kennzeichnung der »neueren Roman- und Drama-Dichter«, denen es genug sei »wenn die Charaktere bloß so halb und halb etwas vorstellen, im ganzen aber nichts bedeuten. [...] Ihre gezeichneten Köpfe sind gleichsam die Papierzeichen dieser höhern Papiermüller« (I/1,17). Man könnte Jean Paul eben diese Papiermüllerei selbst zum Vorwurf machen, ginge es ihm nicht darum, die Regeln der Poesie zu verfremden,19 um den irritierten Leseblick auf das Strukturproblem der Geheimorden zurückzulenken. Ihr Schicksal dokumentiert, daß ihnen ihre eigene Bürokratie über den Kopf zu wachsen drohte und damit das Führungsprinzip selbst fraglich wurde. Grundsätzlich liegt diesem Schicksal das Paradox zugrunde, Herrschaftskritik mit Mitteln der Herrschaft betreiben zu wollen. Der Versuch, eine Führungselite jenseits von Staat und Kirche zu etablieren, war ein Papierzeichen wie das der Literatur. Dies besagt zwar noch nichts gegen den ethischen Geltungsanspruch der Orden wie der Literatur, über Fragen der konkreten Politik hinaus Schrift als Medium der Unsterblichkeit zu reflektieren, wie dies vor allem Mendelssohns Phädon und seine Auseinandersetzung mit Hamann belegt.20 Nur weist sich Literatur stets als Literatur aus und beansprucht nicht etwas anderes zu sein. Allenfalls in ihrer Dekonstruktion als ––––––– 19

20

Vgl. hierzu: Monika Schmitz-Emans, Die Erfindung des Menschen auf dem Papier. Jean Pauls »Unsichtbare Loge«, der Fall Kaspar Hauser und Jacob Wassermanns »Caspar Hauser-Roman«, in: JJPG 40 (2005), S.150–178. Methodisch grundlegend ist die von Schmitz-Emans wohl nicht nur auf »Science-FictionGeschichten des späten 19. Jahrhunderts« bezogene Einsicht, sie illustrierten, »daß die Geschichte des Menschen die Geschichte experimentaler Anordnungen ist, welche das Objekt ihrer Beobachtung im Prozeß seiner Darstellung zu Beobachtungszwecken jeweils erst hervorbringen.« (S.153). Auch Jean Paul spielt am Ende seines Textes auf diesen Aspekt an: »wenn er [ein Mensch] nicht mehr ist, so wehen seine nachtönenden Gedanken in dem papiernen Laube noch fort [...]« (I/1,465).

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»papiernes Laub«, als ›Einsargen‹ von »Papierspänen« (I/1,463) werden die Projekte der Geheimgesellschaften nachträglich akzeptabel, die Menschheit wieder auf den Stand der Gottähnlichkeit zurückzuführen und unsterblich zu machen.21 Diesen Projekten liegt ein gnostischer Dualismus zugrunde, den das ›Einbein‹, der Haupterzähler (der sich – wie stets bei Jean Paul – als ›Jean Paul‹ entpuppt), durch eine vielstufige Konstruktion zwischen Produktion und Rezeption korrigiert: Ist aber auf Leser zu bauen? – Ich weiß nicht, wohers beim deutschen Leser kommt, ob von einem Splitter im Gehirn oder von ergossener Lympha oder von tödlichen Entkräftungen, daß er alles vergisset, was der Schriftsteller gesagt hat – oder es kann auch von Infarktus oder von versetzten Ausleerungen herrühren: genug der Autor hat davon die Plackerei. (I/1,164)

V. Eben dieser ›Autor‹ wird am Ende selbst an einem ›Infarktus‹ sterben:22 Die Spannung zwischen konstruiertem und dekonstruiertem Autor, deren Verursacher ›der‹ Autor selbst ist, erzeugt Phantasmen, die gleichsam den Grundton für das Verständnis von Geheimbünden nicht nur in Die Unsichtbare Loge angeben.23 Wird in soziologischen Analysen der Sinn der Geheimhaltung in ihrer Schutzfunktion gesehen, so wird es in Jean Pauls ästhetischem Text unentscheidbar, ob das Arkanum eine reine Halluzination sei. So gibt es einerseits manipulativ hergestellte Sinnestäuschungen wie das Wachsfigu––––––– 21

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Vgl. zu den experimentellen Identitätskonstruktionen und künstlichen Lebenszurichtungen nicht nur der Geheimgesellschaften, die von rigiden Geboten bestimmt sind, die materialreiche und interessante Arbeit von Irmgard Egger, Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen. München 2001, v.a. S.15–45. Goethe habe in diesen den »fatalen Ausgangspunkt der Moderne« (S.11) erkannt. Nach Eggers Analyse zeigt Goethe, daß die Befreiung des Subjekts aus dem Bann des Körpers nicht gelingt. Dies wirft die Frage der Nachlaßverwaltung auf, die ›Jean Pauls‹ Schwester Philippine übernimmt, »weil ichs so haben wollte« [!] (I/1,181). Franziska Frei Gerlach, Schriftgeschwister. Die Rückversicherung des Fragments in Jean Pauls »Unsichtbarer Loge«, in: JJPG 39 (2004), S.83–111, hat gezeigt, daß die selbstreflexive Herstellung des ›Werkes‹ aus Fragmenten dadurch gelingt, daß Philippine (mit Fenk als Mit-Autor) die Autorschaft übernimmt. Besonders der Rückbezug auf den Medea-Mythos könnte im Rückbezug auf Ovids Metamorphosen poetologisch aufschlußreich sein. Vgl. hierzu im Hinblick auf die tödlichen Folgen der performativen Selbstwidersprüche geheimer Gesellschaften im Titan: Ralf Simon, Commercium und Verschwörungstheorie – Schillers »Geisterseher« und Jean Pauls »Titan«, in: JJPG 41 (2006), S.221–245; S.244: »Schwärzer kann Aufklärung kaum gedacht werden.«

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renkabinett Ottomars, andererseits soll die Poesie selbst wie in den »sieben letzte[n] Worte[n]« (I/1,463–469) verbürgen, es gäbe Nicht-Wirkliches, das sich nicht bewußt herstellen ließe. Diese Differenz ist allerdings nicht sehr trennscharf: Denn wenn am Ende der Autor selbst dem Fieber verfällt, bleibt offen, ob die von ihm und Ottomar als real ausgegebenen Heimsuchungen aus einer zweiten Welt sich physiologischen Kontingenzen verdanken. Der Autor allein trägt zwar für diese Wechselspiegelung zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Phantasmen die Verantwortung, er aber zieht sich am Ende aus der Verantwortung zurück und wird wie die Figur Ottomar am Ende unsichtbar und unhörbar. Damit aber kommen Bereiche des Jenseits in den Blick, die sich der Aufklärung wie der späteren sozialgeschichtlich interessierten Aufklärungsforschung entziehen. Gewiß ist die historisch-politische Dimension der Aufklärung und ihrer geheimen Gesellschaften wichtig; relevant für Die Unsichtbare Loge sind indes die von ihr erzeugten Pole von Diesseits und Jenseits als Artikulationen einer historischen Einbildungskraft, die die Entstehung einer Miniatursphäre bürgerlicher Öffentlichkeit als Paranoia, als äußerst düstere Seite der Aufklärung kennzeichnet. Ihre Therapie versucht Die Unsichtbare Loge durch die Erinnerung an den alten Rosenkreuzerdiskurs des 17. Jahrhunderts, der an die Stelle der institutionalisierten Kirche das Konzept der unsichtbaren Kirche setzte. Gustav wird zum Objekt eines Experiments, das seine sehr fromme, herrnhutische Großmutter mit ihm veranstaltet, um ihn »nicht gegen die Schönheiten der Natur und die Verzerrungen der Menschen zugleich abzuhärten.« (I/1,53) Es handelt sich aber auch um das Experiment des Autors mit sich und seinen Lesern, denn Gustavs ›Auferstehung‹, d.h. sein Übergang in die oberirdische Welt nach acht Jahren wird so kommentiert: ich werde ordentlich beklemmt, je näher ich mich zu dieser sanften Auferstehung bringe. Es rührt nicht bloß daher, daß ich nur ein einziges Mal in meinem Leben einen solchen des Himmels werten Geburttag wie Gustavs seinen in meinem Kopf auf- und untergehen lassen kann [...] sondern daher am meisten, daß ich meinen Gustav [...] hinauswerfe [...] in den sogenannten Himmel hinein, wo neben den Seligen ebenso viele Verdammte gehen. (I/1,61)

Doch der Erzähler ›Jean Paul‹ irrt, er wird noch viele Auf- und Untergänge nach dem Modell von Tod und Auferstehung, aber auch von dessen Inversion produzieren. Denn mit der Andeutung einer bereits im Diesseits vollzogenen Auferstehung wird zugleich eine mit dem lebendigen Begräbnis spielende Argumentation entfaltet, die die Tatsächlichkeit des Todes der sublimen Täuschung gegenüberstellt, man könne den Tod durch vorgezogene Begräbnisse überlisten.

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Es ist die Figur Ottomar, die analog zu Gustav aufersteht, aber im lebendigen Begräbnis die radikale Erfahrung des Todes bereits im Diesseits macht. Denn der Tod ist keine physiologische Tatsache, er repräsentiert die Kommunikationslosigkeit: »Wir selber sind nicht beisammen – Fleisch- und Beingitter stehen zwischen den Menschen-Seelen, und doch kann der Mensch wähnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Gitter zusammenstoßen, und hinter ihnen die eine Seele die andre nur denkt?« (I/1,321). Diese Frage problematisiert nicht nur szientistische Aufklärung, sondern auch den Phantasiebegriff. Denn gerade in der Perspektive der ›guten‹ Figuren ist es nur die Phantasie, deren mystifizierender Blick auf die Menschen Kommunikation zwischen ihnen fingiert, indem sie Totes in Lebendiges und Sichtbares in Unsichtbares verwandelt. Damit gibt Jean Paul mehr als den Hinweis auf die Konstitution des Aufklärungsprozesses durch zum Teil gegenaufklärerische Wissenstraditionen, er invertiert noch den durch ihn selbst mitgetragenen Prozeß einer Aufklärung, deren Ästhetik, Form und Sinn qua Phantasie in eine geschlossene Darstellung zwingt. Als Absage an diese Ästhetik zitiert Jean Paul nicht erst in der Vorrede zur zweiten Auflage das schon von Diderot24 gebrauchte Bild der Ruine.25 Diderot und Jean Paul belegen, daß für den Begriff literarischer Moderne nicht nur ––––––– 24

25

Unter den zahlreichen Belegen bei Diderot, bei dem sich auch ein Artikel über die unsichtbare Kirche findet, fallen dessen Salons von 1767 auf. Denis Diderot, Salons, texte établi et présenté par Jean Seznec et Jean Adhémar, Vol. III (1767). Oxford 1963. Besonders schön ist hier Petite, très petite ruine (S.231f.): Nach der Beschreibung einer Ruine von Hubert Robert wird analog zur Analyse Edmund Burkes das mediale Darstellungsproblem von ›groß‹ / ›klein‹ reflektiert, um aus diesem zum Schluß das Differenz- und Vereinigungskriterium von Philosophie und Literatur zu bestimmen: »Les poëtes, prophètes et presbytes, sont sujets à voir les mouches comme des éléphans; les philosophes myopes, à réduire les éléphans à des mouches. La poésie et la philosophie sont les deux bouts de la lunette.« (S.232). Die Ästhetik der Ruine ist polyvalent, sie läßt sich zudem in Jean Pauls Werk selbst nachweisen und fixiert geradezu das eingangs skizzierte Kontinuum von Aufklärung und Romantik medial: Die Ruinen der griechischen Antike, zuerst von der Renaissance als indexikalisches Zeichen aisthetischer Vollendung verstanden, dienen dem Klassizismus, versteht man ihn produktiv, zur Neuerfindung alter Vollkommenheit (Winckelmann). Teile der Aufklärung (Diderot) reflektieren die Ambivalenz klassizistischer Schönheit im Ruinenbild als Ungenügen angesichts eines Kanons, der nichts Neues mehr entdecken läßt. Zugleich aber dient die Ruine dazu, den Glauben an die Werte der Vernunft angesichts einer Schönheit zu bekräftigen, die als Index nicht aisthetischer, sondern ethischer Vollendung verstanden werden kann: Programmatischen Ausdruck findet diese Vorstellung in den klassizistischen Revolutionsbilder von Jacques-Louis David. Die Romantik verstärkt die aufklärerische Absage an den Klassizismus, indem nun das Unvollendete selbst als vollendete Form verstanden wird.

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jene romantischen Strömungen wesentlich wurden, die das mimetische Konzept von Darstellung durch ein poetisches ersetzten. Ebenso wichtig scheint die Spätaufklärung in ihrem Wechselspiel von Aufklärung und Arkanum zu sein, die sich im Falle Jean Pauls auf die Reflexion dieser Bewegung nicht nur denkerisch einläßt, sondern in der sprachlichen Produktion als kombinatorischer Prozeß zwischen Sinn, Form und Medium auseinandersetzt.

VI. Die Bedeutung der Spätaufklärung für die nicht nur literarisch verstandene Moderne ging verloren. Doch in diesem Vergessen ist die Umbesetzung interessant, die Jean Paul mit der christlichen Tradition in ihrer Spannung zu den Geheimgesellschaften vornimmt. Sein Konzept des hohen Menschen entwickelt eine Theorie der Transzendenz, innerhalb derer diese Spannung erst erscheint. Der hohe Mensch deutet sich »in der Erhebung über die Erde«, im »Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns«, »der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte«, im »Wunsch des Todes« und dem »Blick über die Wolken« (I/1,221) an. Diese Sehnsucht nach dem Jenseits und zweiten Leben ist im Unterschied zur orthodoxen Religion und den esoterischen Geheimbünden einerseits wesentlich durch das Moment der Unschlüssigkeit bestimmt. So endet das Extrablatt: »Ich fühle Einwürfe und Schwierigkeiten voraus, ja ich weiß es und fühle, daß auf dieser umwölkten Regen-Kugel uns nichts gegen die äußern Stürme einbauen und bedecken kann, als das Besänftigen der innern – gleichwohl fühl’ ich auch, daß alles Vorige [die Rehabilitation der Leidenschaften] wahr ist.« (I/,224).26 Andererseits ist wesentlich, daß diese sich an mittelalterliche und barocke Traditionen anschließende Argumentation des sic et non und in utramque partem explizit im Kontext der Literatur steht und sich selbst auch als literarische weiß, sich damit also von Religion und Esoterik grundsätzlich unterscheidet. Denn es sind eben die Ambivalenzen im Akt des Lesens literarischer Texte, die strukturell analog zu den Ambivalenzen im Umgang mit den Leidenschaften verlaufen, zumal denen, die sich nicht auf das Irdische richten. Das Jenseits und sein Geheimnis, so könnte man eine Argumentation Jean Pauls in die Vorschule der Ästhetik27 aufgreifen, erzeugt sich notwendig ––––––– 26

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Vgl. hierzu meine Analyse in: Leidenschaften literarisch. Texte zur Weltliteratur I, hrsg. von Reingard. M. Nischik. Konstanz 1998, S.141–162. Jean Paul (I/5,61): »Dieser Instinkt des Geistes – welcher seine Gegenstände ewig ahnet und fodert ohne Rücksicht auf Zeit, weil sie über jede hinauswohnen – macht es möglich, daß der Mensch nur die Worte Irdisch, Weltlich, Zeitlich u.s.w. aus-

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aus seinem Gegenbegriff, dem völlig transparent scheinenden Diesseits. Die Verlagerung des Jenseits aber in den Ort der Literatur, die Unschlüssigkeit gegenüber ihm entlastet es von der erdrückenden Schwere, mit der es in den politischen Theologien verwendet wird, die bis heute das Reich Gottes auf Erden mit Gewalt durchsetzen wollen, ohne die Chance eschatologischen Aufschubs anerkennen zu können. Das Geheimnis als poetologisches Prinzip, als Entscheidungsungewißheit angesichts der im literarischen Text entfalteten Strategien, der ostentative Hinweis auf die eigene Literarizität machen deutlich, daß die ästhetischen Experimente gegenüber den ethischen der Geheimgesellschaften den Vorzug genießen, nicht auf Kosten realer Menschen gehen zu müssen. Oder auch: Die Ethik literarischer Texte kann darin bestehen, gegenüber peremptorischen Tönen eine diletatorische Praxis zu eröffnen, die noch Atheisten auf den eigentümlichen Sinn der christlichen Tradition als Aufschub eines unerträglichen Gerichtes aufmerksam machen könnte. Jean Paul läßt die Tötungs- und Auferstehungspraktiken von Religion und Esoterik zu, ohne sie zu affirmieren. Die Leidenschaften seiner Figuren werden durch Extrablätter, Digressionen, Handlungssprünge, Zweifel am Zweifel, humoristische Brechungen, Stilwechsel, Fußnoten, Katachresen, nicht zuletzt durch das Textende und den Einsatz der eclipsis28 distanziert. Die exzessive Wiederholung der Sarg- als Daseinsmetapher des Menschen könnte empfindsame Leser zur Ohnmacht führen, forderte der Text ihnen nicht das interpretatorische Dilemma ab, das ihm die faktische Rezeption verweigerte: Ließe sich dieser Text als Allegorie auf ein oder gar mehrere Geheimnisse der Freimaurer, Rosenkreuzer, Illuminaten oder anderer esoterischer Bünde lesen? Jean Paul insinuiert diese Lesart und, er wäre nicht Jean Paul, er entzieht sich ihr zugleich: »Dem grössern Theile der Leser sag’ ich, daß sie durch die höhern Beziehungen, die sich in dem Roman verstecken, nichts verlieren und daß es für sie eben soviel ist als wenn er wirklich gar keine hätte.« (SW III/1,360) Man wird bei Jean Paul an die Lesart einer Parodie denken dürfen, die sich nicht schlicht lustig über andere Texte macht, sondern die das metaphysische Prinzip des Geheimnisses als Zaudern vor der möglichen Objektivität von Phantasmen ins Prinzip der Textproduktion transformiert und narrativ gesehen den Text angesichts der Unmöglichkeit, das Jüngste Gericht zu antizipieren, ins Unendliche fortschreibt. ––––––– 28

sprechen und verstehen kann; denn nur jener Instinkt gibt ihnen durch die Gegensätze davon den Sinn.« Vgl. Christof Forderer, Ich-Eklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800. Stuttgart 1999, S.37–51.

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VII. Der Beginn des Jüngsten Gerichtes als Ende des Textes ist keine individuelle Glaubensfrage, sondern gehört in den Kontext politischer Geschichte. Jean Paul setzt das Ende des Textes mit dem Glauben an politische Wunder an und schreibt deshalb weiter. 1793 wurde die Sansculottenrepublik mit dem Reich Gottes auf Erden gleichgesetzt und damit trat das in Kraft, was selbst die Illuminaten zuvor noch abgelehnt hatten, die bürgerliche Repräsentationsdemokratie als konkretes Reich des Lichtes.29 Mit dem Aufkommen des esoterischen Dualismus als politischem Dezisionismus verschwanden Zweifel, Zaudern und Unschlüssigkeit, und die Realisation des Arkanums als jakobinische Politik schien auch das Unmögliche und Unwahrscheinliche der frühren Literatur entbehrlich zu machen.30 Selbst in Deutschland schien in jenen Jahren die Mainzer Republik Realität und nicht Experiment zu sein. In Jean Pauls Text gibt es keinen innertextlich vorgeführten Disput über den Realitätsstatus der Revolution, aber er läßt sich auch nicht auf das Makabre, Leichen und Särge als Präludium späterer Schauerromantik reduzieren. Zwar spekulierte Jean Paul auf dem Markt möglicher Leser mit deren Lust auf Gegenaufklärung, aber er widersetzte sich den literarischen Moden durch eine Präsentation, die sich nicht kommentarlos vollzieht. Zum einen wird in der Entwicklung des Helden Gustav deutlich, wie sehr der Prozeß zwischen Arkantradition und Revolutionspolitik vom Medium der Schrift bestimmt wird, wenn dieser am Hof die Kunst erlernen muß, wie geheime Politik Öffentlichkeit manipuliert, indem sie sich selbst im öffentlichen Medium präsentiert: »er lernte klein schreiben, um das Porto zu schwächen, ferner Chiffern und Titel machen, ferner wissen, wessen Name im öffentlichen Instrument, das an drei Potenzen kommt, zuerst stehe – und daß jede Potenz in ihrem Instrument zuerst stehe«. Gustav aber entwickelt ein demokratisches Ideal diesseits des freimaurerischen Arkanums, er lernte in der Einsamkeit die Gesellschaft ertragen und lieben. Fern von Menschen wachsen Grundsätze; unter ihnen Handlungen. Einsame Untätigkeit reift außer der Glasglocke des Museums zur geselligen Tätigkeit, und unter Menschen wird man nicht besser, wenn man nicht schon gut unter sie kommt. (I/1,236).

Zum anderen initiierte Jean Paul über den mit den Geheimgesellschaften geteilten Aspekt, daß die Güte einer Gesellschaft vom Gut-Sein ihrer einzel––––––– 29

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Monika Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995, S.62. Vgl. Helmut Reinalter, Jakobinerklubs, in: Aufklärungsgesellschaften, hrsg. von Helmut Reinalter. Frankfurt a.M. 1993, S.97–112.

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Christian Sinn

nen Mitglieder abhängig ist, den Willen des Einzelnen, über das Grab hinaus nach einer Republik der Geister als kritischer Norm der skizzierten politischen Situation zu suchen. Auf den ersten Blick scheinen die schaurigen Geschehnisse damit in eine im weitesten Sinne christliche Ordnung heterodoxer Färbung überführt zu werden. Doch die Bestürzung und Verstörung Ottomars verlischt damit nicht, der nahe dem Wahnsinn glaubt, sich selbst richten zu müssen, nicht zuletzt, weil seine Geheimorganisation enttarnt wurde und das politische Experiment gescheitert ist. Gleichwohl ist eine ›christliche‹ Lesart weiterhin denkbar, denn einerseits ist die Diskussion von Unschlüssigkeit angesichts des unvorgreiflichen Gerichtes Gottes charakteristisch für die avancierteren Texte der Frühen Neuzeit.31 Stärker noch aber fällt ins Gewicht, daß die christliche Tradition das Scheitern zum Lebensprogramm erhebt und diesem vor allem textuelle Gestalt gab, wie Andreae32 und Comenius bezeugen, die an die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auch in politischer Hinsicht durchaus glauben. Polemisch gewendet könnte man zwar sagen, daß es die Niederlage des Subjektes ist, die dem christlichen Gott zur Präsenz verhilft. Aber Jean Pauls Text ist in seinen Beschreibungen der Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod trotz seiner schönen Pläne zur besseren Erziehung der Menschen nicht dogmatisch reformulierbar. Allenfalls erlaubt er Anspielungen auf die Tradition eines Comenius, nach dem die Verbesserung der Politik nicht von dieser selbst zu leisten sei, sondern erst im Kontext einer Weltsicht ihren Ort erhält, in der die ganze Welt eine Vor-Schule der göttlichen Weisheit ist, die den Menschen mehr durch empirisches Stolpern und Fallen als durch moralische Rezepte und Dogmatiken belehrt.33

VIII. Geht man von der gut begründeten Definition von Kondylis aus, Aufklärung sei die Rehabilitation der Sinnlichkeit,34 so läßt sich Jean Pauls ludistische ––––––– 31

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Z. B. Jakob Bidermanns Cenodoxus, in dem das Gericht ständig vertagt wird, oder die unaufgelösten Ambivalenzen in Andreas Gryphius’ Leo Armenius, die zu immer neuen Auslegungen auffordern. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der ›Architektonik‹ der Christianopolis von Johann Valentin Andreae, deren vorangestellte Skizze der Text in genau 100 Kapiteln emblematisch ›abbildet‹. Johann Amos Comenius, Der Weg des Lichtes / Via lucis, Einleitung, Übersetzung und Kommentierung von Uwe Voigt. Hamburg 1997. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, z.B. S.50.

»Acht Jahre unter der Erde«

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Präsentation des Unsichtbaren als Jenseits des sichtbaren Textes der aufklärerischen Semantik zuordnen. Für den Geltungsanspruch der Aufklärung des 18. Jahrhunderts spricht bis heute, daß sie zwar den Rationalismus des 17. Jahrhunderts adaptierte, sich aber nicht darauf beschränkte, sondern transzendierte. Genau dies geschieht im Falle Jean Pauls: Er geht von einem Vernunftbegriff aus, der das impliziert, was einseitiger Rationalität noch unserer Gegenwart nur als das dunkle Andere der Vernunft erscheint.35 Die Wirkungsgeschichte katapultierte Texte wie die von Jean Paul und Johann Georg Hamann in das ganz Andere der Vernunft, um aus solcher Konfrontation verdammende oder bestätigende Urteile zu gewinnen. Diese Texte sind aber grundsätzlich nicht ›rationalistisch‹ im philosophiehistorischen Sinn, sie setzen vielmehr die historisch spezifische Situation einer Aufklärung voraus, die sich vor allem als soziale über gemeinschaftliche Erlebnisse und Rituale zu konstituieren versuchte. Diese Sozialität gründet aber in der Schrift: So ist der Zusammenstoß zwischen Rationalismus und Irrationalismus, Realität und Irrealität ein Effekt der Schrift, der sich eben jenem Dualismus verdankt, den Jean Paul souverän inszenierte. In Die Unsichtbare Loge reflektiert Jean Paul die Rolle der Grenze, die die sichtbaren Logen seiner Zeit von den Formen und Äußerungen des Spiels trennt, das er selbst betreibt. Wenn der Genius Gustav »den Genius des Universums nicht als ein metaphysisches RobinetsVexierbild, sondern als den größten und besten Menschen der Erde« (I/1,59) schildert, dann ist der Text nicht mehr von der ›realen Welt‹ zumindest innerhalb des Textes getrennt. Robinet argumentierte in De la nature (1761–68) wie viele Aufklärer für eine zwar göttliche, aber nicht mehr anthropomorph zu beschreibende Ursache der Natur. In Jean Pauls Text verliert diese Trennlinie zwischen der Ursache und ihrer Beschreibung ihre Verbindlichkeit, er vermischt in ethischem Interesse wieder Natur und Gott und läßt eine Transgression zu, die der offiziellen Aufklärung widersprach. Damit wird Jean Paul nicht zum ›Gegenaufklärer‹, sondern zum Aufklärer über Literatur; denn diese ist das eigentliche Menschenexperiment, das durch Undarstellbarkeit, nicht nur einer unsichtbaren Loge, die alten Fragen nach Wahrnehmung und Erfahrung als eine Kritik des Sehens36 neu provoziert und mit ihr den eigentümlichen Sinn mancher geheimgesellschaftlicher Praktiken nachträglich erkennen läßt: Was sehen ––––––– 35

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Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. 3.A. Frankfurt a.M. 1996, S.13: »Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische.« Vgl. hierzu die hilfreiche Dokumentation in: Kritik des Sehens, hrsg. von Rolf Konersmann. Leipzig 1997 und Pfotenhauer [Anm.9].

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wir, wenn wir Texte und Menschen ›lesen‹, d.h. sehen, und wie können wir über das Gesehene, über Menschen und ihre Bilder sprechen? Diese mit ihrem ›non sequitur‹ drohende allzu grundsätzliche Frage sei mit Wutz vorläufig so beantwortet: An wen woll’ er sich wenden, um den Hintergrund des Freimäurer-Geheimnisses auszuhorchen, an welches Dionysius-Ohr, mein’ er, als an seine zwei eignen? Auf diese an seinen eignen Kopf angeöhrten hör’ er sehr, und indem er die FreimäurerReden, die er schreibe, genau durchlese und zu verstehen trachte: so merk’ er zuletzt allerhand Wunderdinge und komme weit und rieche im ganzen genommen Lunten. (I/1,428).

MONIKA SCHMITZ-EMANS

JEAN PAUL – SCHUMANN – HEINE: ÜBERLEGUNGEN ZU EINER POETISCH-MUSIKALISCHEN KONSTELLATION

I. Zur Musikästhetik der Flegeljahre Wenn die Kunst der Romantik sich – im Sinne des ›transzendentalpoetischen‹ Konzepts einer »Poesie der Poesie« (Friedrich Schlegel) – immer wieder selbst thematisiert und damit autoreflexiv begründet, so nicht zuletzt durch Bespiegelungen der Relationen zwischen den verschiedenen Künsten. Die romantische Kunstproduktion ist einem ästhetischen Programm verpflichtet, das man schlagwortartig als die »wechselseitige Erfindung der Künste« bezeichnen könnte. In der Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst, aber auch und vor allem mit der Musik geht es der Literatur nicht nur um Selbstabgrenzung, sondern zugleich auch um Selbstbespiegelung, um Auslotung eigener Darstellungspotentiale und struktureller Affinitäten.1 Reflexionen über Musik prägen auch Jean Pauls Werk maßgeblich, wie ältere und rezente Forschungen ausführlich dargelegt haben.2 Die Flegeljahre stellen dabei einen Sonderfall dar, tritt hier doch sogar ein Berufsmusiker als Protagonist auf. ›Musikalisch‹ wirken die Flegeljahre aber auch, insofern sie an eine Bemerkung Friedrich Schlegels über die methodische Affinität der Komposition von Romanen und von Instrumentalmusik erinnern: »Die Me––––––– 1

2

Vgl. dazu die (noch ungedruckte) Habilitationsschrift von Winfried Eckel, Ut musica poesis. Die Literatur der Moderne aus dem Geist der Musik. Bochum 2005. Vgl. zu den Beziehungen zwischen Literatur und Musik um 1800 insbesondere: Carl Dahlhaus/Michael Zimmermann, Musik – zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten. München 1984. Carl Dahlhaus/Norbert Miller (Hg.), Beziehungszauber. Musik in der modernen Dichtung. München/Wien 1988. Barbara Naumann, ›Musikalisches Ideen-Instrument‹. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik. Stuttgart 1990. Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg 1995. Andreas Käuser, Schreiben über Musik. Studien zum anthropologischen und musiktheoretischen Diskurs sowie zur literarischen Gattungstheorie. München 1999. Pia Leuschner, Orphic Song with Deadal Harmony. Die Musik in Texten der englischen und deutschen Romantik. Würzburg 2000. Julia Cloot, Geheime Texte. Jean Paul und die Musik. Berlin/New York 2001.

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thode des Romans ist die der Instrumentalmusik. Im Roman dürfen selbst die Charaktere so willkürlich behandelt werden, wie die Musik ihr Thema behandelt«.3 Der Dichter Walt und der Musiker Vult werden von Jean Paul in diesem Sinn als musikalische ›Figuren‹ traktiert.4 Daß Musik in den Flegeljahren nicht nur inhaltlich prägend ist, sondern auch bezogen auf die kompositorische Ebene, wurde schon von diversen Interpreten herausgestellt. Friedhelm Döhl etwa hat das Brüderpaar Walt und Vult – anklingend an Schlegels Diktum – als »Thema und Gegenthema« charakterisiert.5 Die Zwillinge sind dabei allerdings nur ein Beispiel für diverse andere kontrastive Figurenkonstellationen in Jean Pauls Romanwerk, über die sich Analoges sagen ließe. Wiederholt findet sich solch ›thematisches Material‹ in transponierter Form im jeweils nächsten Roman wieder. Walt und Vult sind aber nicht einfach kontrastiv konzipiert, sondern ihre Beziehung zueinander changiert: zwischen Nähe und Distanz, Gleichklang und Disharmonie, Komplementarität und Unvereinbarkeit der Anschauungen.6 Beide sind bekanntlich Künstlernaturen, und entsprechend wird im Roman viel gedichtet, komponiert, musiziert, gesungen. (Auch Bilder werden angefertigt und betrachtet, Scherenschnitte zum Beispiel, aber hierbei spielen die Zwillinge nicht die Hauptrollen.) Zudem entfaltet sich in den Flegeljahren eine reiche musikalische Metaphorik, wobei eine erhebliche Zahl dieser Metaphern der musikologischen Fachsprache und der Instrumentenkunde entstammen.7 ––––––– 3

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Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner u.a. Paderborn/München/Wien 1958ff., Bd.XVI, S.208. Einen indirekten Hinweis auf das, was sich in Walt, dem älteren Zwilling, verkörpert, gibt er selbst mit der Bemerkung: »›Auch im Weltall […] war Poesie früher als Prosa […]‹« (I/2,749). Vult hat angeblich die Satirensammlung »grönländische Prozesse« verfaßt, die, 1783 erschienen, tatsächlich von Jean Paul stammen Friedhelm Döhl, Die Musik in Jean Pauls Roman ›Flegeljahre[n]‹. http://www.unistuttgart.de/ndl1/fdoehl_paul.htm. Äußere Indikatoren ihrer Beziehungen zueinander wirken so vielsagend wie vieldeutig: Die physisch und charakterlich ungleichen Zwillinge haben denselben Vornamen (Gottwalt und Quoddeusvult); sie sind im selben Bett, aber auf verschiedenen Territorien geboren (ihr Vater hat in der Geburtsstunde das Bett der Mutter über die durchs Zimmer verlaufende Landesgrenze geschoben). Zur Gegensätzlichkeit Walts und Vults, zur ihrer Funktion als Personifikation ästhetischer Konzepte und zu den doppelten Böden, auf denen ihre Kommunikation stattfindet, vgl. rezent Ralf Simon, Herders sensualistischer Platonismus auf der Jean Paulschen Rennbahn der Charaktere. Dekonstruktionen des Déjà-vu in den »Flegeljahren«, in: Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, hrsg. von Günter Oesterle. München 2003, S.115–128, insbes. S.120–124. Für die vielfältigen musikalischen Metaphern, mit denen die Figuren und ihre Beziehungen untereinander charakterisiert werden, nur ein Beispiel: Als Wina erfährt, daß Walt der Dichter der Polymeter ist, erröten beide. »Aber einander verborgen hinter den froher nachquellenden Tränen, glichen sie zwei Tönen, die un-

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Diverse Gespräche unter den Figuren erinnern an mehrstimmige musikalische Darbietungen, wobei allerdings keineswegs die (an sich naheliegende) Idee des harmonischen Miteinanders dominiert, sondern es zu eigenartigen Mißklängen und Polyphonien kommt. Ein Dialog zwischen Walt, Vult, dem Grafen Klothar und anderen Figuren wird als Konzert geschildert; die Szene gemahnt an den wörtlichen Sinn von concertare. Die einzelnen Beiträge zu dieser Unterhaltung bewirken nämlich ebensowenig eine Verständigung der Teilnehmer untereinander wie einen wirklichen Dissens. Vielmehr verhalten sich die Sprecher wie Instrumentalisten beim Abspielen von Partituren; jeder spielt die ihm vorliegende Stimme ab; manchmal passen die Stimmen zueinander, manchmal nicht. Dieses Aneinander-Vorbeitönen bemerken die Sprecher nicht einmal, da sie sich ja jeweils ihrem eigenen Redefluß hingeben. (Durch einen Mißklang unterbrochen wird das Konzert der Ideen in dem Moment, da einer der Anwesenden ein Wort mißversteht, das eine doppelte Bedeutung hat: es ist, bemerkenswerterweise, der Begriff der »Spekulation«, den der anwesende Geschäftsmann Neupeter anders versteht, als Klothar ihn zu benutzen im Begriff ist.8) Walt bleibt schließlich, im irrigen Glauben an eine konzertant begründete Seelenfreundschaft, allein zurück. In den Protagonisten und in der Komposition der Flegeljahre bespiegelt sich auf mehreren Ebenen das komplexe Verhältnis zwischen Dichtung und Musik.9 Zugleich setzt sich der Roman mit der für die romantische Kunsttheorie charakteristische Spannung zwischen Analogisierungs- und Ausdifferenzierungstendenzen auseinander. Jean Paul spielt auf differente ästhetische Grundkonzepte an und ›komponiert‹ sie auf spannungsvolle Weise. Denn es ist ja nicht einfach so, daß sich in dem Dichter Walt und dem Musiker Vult die Poesie und die Musik im Sinne einer kontrastiven Gegenüberstellung verkörperten; Walt und Vult sind beide schriftstellerisch tätig und insofern Repräsentanten der Literatur. Dabei erkundet nun gerade Walt als Lyriker die latente Musikalität der Sprache; seine »Streckverse« brechen zwar mit kon–––––––

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sichtbar zu einem Wohllaut zittern« (I/2,1042). – Döhl weist auf die Reversibilität von Musik- und Figurendarstellung hin: Personen werden musikalisiert; die Musik wird zugleich personifiziert. Den Einfall einer Personifikation musikalischer Strukturen (Harmonien) hatte bereits Schubart durchgespielt (in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst), und Hoffmann wird hier anschließen (vgl. Kreislers musikalisch-poetischer Klub aus den Kreisleriana). Die Idee einer musikalisch-kompositorischen Behandlung von Roman-Personen verhält sich komplementär dazu. Daß ausgerechnet (die) »Spekulation« Anlaß zum Mißverständnis wird, gibt zu denken. Klothar empfindet die triviale Bemerkung Neupeters als »Mißton« (I/2,751). Passend dazu, daß die Flegeljahre insgesamt als Roman über Kunst und Künste angelegt sind, deuten auch alle »neun Erb-Ämter« (I/2,589) – deren Zahl der der Musen entspricht – auf Aspekte und Metaphern des Dichtertums hin.

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ventionellen lyrischen Formen, für sie ist aber gerade deshalb ihre sprachmusikalische und rhythmische Dimension so bedeutsam. Der Flötenvirtuose Vult hingegen verfaßt als Satiriker eine wort-artistische und reflexive Prosa. Der Titel des gemeinsamen Romanprojekts (»Hoppelpoppel oder das Herz«) drückt nicht nur die gegensätzlichen Naturen der beiden Ko-Autoren aus, sondern verweist als eine mise en abyme zugleich auf die doppelte Stimmungslage des Romans – und auf die Spannung zwischen verschiedenen Einstellungen zur Kunst und zur künstlerischen Praxis. Für Walt sind Kunst und Dichtung sowohl Ausdruck als auch Stimulus innerer Regungen; er begreift Musik und Dichtung als Medien der Kommunikation zwischen gleichgestimmten Seelen. Seine Beziehung zu Wina illustriert dieses ästhetische Modell – und bestätigt es gleichsam performativ. Gedichte und Musik bringen die beiden einander näher; in der ästhetischen Sublimation der Waltischen »Streckverse« spricht, für Wina vernehmlich, ein »Herz«. Vult hingegen schreibt und lebt als »Hoppelpoppel«. Er verstellt sich immer wieder, auch und gerade als Musikvirtuose, etwa wenn er sich als blinder Virtuose ausgibt und später eine Spontanheilung simuliert, um dem Publikum (dessen Unterhaltungsbedürfnis er verachtet) etwas Spektakuläres zu bieten.10 Für Vult gibt es keine Grenzlinie zwischen Schein und Sein, wahrer Kunst und Vorspiegelung. Sein Leben, sein Denken und seine Kunst stehen im Zeichen des Jean Paulschen Humors, der alles Endliche an Unendlichem bemißt und die Gebrechlichkeit der Dinge durchschaut. Die Brüder repräsentieren ästhetische Grundanschauungen, die für die romantische Poetik und Musikästhetik gleichermaßen prägend und dabei unvereinbar sind; Jean Paul nutzt also die Form des Romans, um diese Anschauungen durch Inszenierung ihres Spannungsverhältnisses in Kunst aufzuheben: Walt ist vom empfindsamen Diskurs und seiner Ästhetik geprägt. Er betont (und repräsentiert) die Affinität künstlerischer Ausdrucksformen zur Sphäre der Empfindungen, leitet Kunst aus dem Ausdrucksbedürfnis des Menschen ab und scheut sich nicht, eigene Gefühle auf vernommene Musik zu projizieren. Vult hingegen ist dem Leitgedanken der Autonomie des Ästhetischen verpflichtet. Er verurteilt insbesondere die Deutung von Musik als Ausdruck psychischer Gehalte. Die Kontroverse zwischen beiden Brüdern bildet einen Teil ihrer Geschichte; Jean Paul komponiert den ästhetischen ––––––– 10

Wenn Vult anläßlich der Ankündigung eines Flötenkonzerts vorgibt, erblindet zu sein, um sich eine höhere Anteilnahme des Publikums zu sichern, so hat an seiner ästhetisch makellosen Darbietung ein Moment der Täuschung und Verstellung Anteil – die allerdings insofern auch wieder ihr Wahres hat, als der schein-blinde Flötist dem im übertragenen Sinn ›blinden‹ Publikum einen Spiegel vorhält.

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Streit in seinen Roman also ein. Als Walt ein Konzert seines Bruders angehört hat, will dieser dessen ästhetisches Urteil hören, erfährt aber, daß Walt die Musik mit seinen eigenen Empfindungen gleichsam vertextet hat. Vult ist als Künstler wie als Ästhetiker irritiert.11 Walts Verfahren, musikalische Erlebnisse als Vehikel zur Produktion empfindsamer Texte zu gebrauchen, erscheint ihm als Entweihung der Musik. Bei aller Harmonie im Großen führen solch unterschiedliche Akzentsetzungen zu Disharmonien im Kleinen.12 Für Vult ist zwischen Kunst und Leben eine klare Differenzierung möglich, wobei die Empfindungen des Ichs, die sich im Fall Walts ihr Ausdruckssubstrat in der Musik suchen, zum Leben (zur »Natur«) gehören.13 Für Walt ist die Grenze zwischen Kunst und Natur fließend, ist die »große Natur« selbst ein Kunstwerk, aber auch die innere »Bühne« des Ichs – wie denn ––––––– 11

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»›[…] Ich habe […] Stunden, wo ich aufbrausen kann gegen ein Paar verliebte Bälge, die, wenn sie etwas Hohes in der Poesie oder Musik oder Natur vorbekommen, sofort glauben, das sei ihnen so recht auf den Leib gemacht, an ihren flüchtigen Erbärmlichkeiten, die ihnen selber nach einem Jahr bei noch größerer als solche erscheinen, habe der Künstler sein Maß genommen […]‹ / ›Ei, Bruder,‹ sagte Walt, ›du bist so hart: was kann denn ein Mensch für eine Empfindung oder gegen sie, es sei in der Kunst oder großen Natur? – Und wo wohnen denn beide, so groß sie auch sind, als nur in einzelnen Menschen? – Wohl mag er sie sich daher zueignen, als wären sie für ihn allein. Die Sonne geht vor Schlachtfeldern voll Helden – vor dem Garten der Brautleute – vor dem Bette eines Sterbenden zugleich auf, ja in derselben Minute vor andern unter; und doch darf jeder nach ihr sehen und sie an sich heranziehen, als beleuchte sie seine Bühne nur allein und stimme ein in sein Leid oder in seine Lust […].‹ / ›Gut, so nehmt die Sonne hin,‹ sagte Vult, ›aber nur der Paradiesesfluß der Kunst treib’ eure Mühlen nicht. Darfst du Tränen und Stimmungen in die Musik einmengen: so ist sie nur die Dienerin derselben, nicht ihre Schöpferin. Eine elende Pfeiferei, die dich am Todestage eines geliebten Menschen aus den Angeln höbe, wäre dann eine gute. […] Die Musik ist unter allen Künsten die rein-menschlichste, die allgemeinste.‹ – / ›Desto mehr Besonderes geht hinein‹, versetzte Walt; ›irgendeine Stimmung muß man doch mitbringen; warum nicht die günstigste, die weichste, da das Herz ja ihr wahrer Sangboden ist? […].‹« (I/2,772f.) Mißgestimmt nimmt Vult das Gedicht auf, das Walt im Anschluß an das Konzert über seine Gefühle zu Wina gedichtet hat. Der Erzähler läßt es hier allerdings in der Schwebe, ob sich Vult mehr über die anschließend auch explizit gerügte Funktionalisierung der Musik für sentimentale Zwecke ärgert oder darüber, daß Walt von Winas Schönheit offenbar ebenso angetan war wie von der des brüderlichen Flötenspiels. Walt jedenfalls versteht seinen Bruder überhaupt nicht, da er nur auf eines Kritik des Gedichts gefaßt ist, nicht auf eine seiner inneren Haltung. (I/2,771f.) Mit Bitterkeit kritisiert Vult sowohl die konventionellen Formen der Funktionalisierung von Musik für gesellige und unterhaltende Zwecke als auch die Bereitschaft mancher Musiker und Komponisten, entsprechenden Bedürfnissen entgegenzukommen. »Wirklichkeit in die Kunst zu kneten zum Effekt, ist so eine Mischung wie an manchen Deckengemälden, in welche der Perspektive wegen noch wirkliche Gyps-Figuren geklebet sind.« (I/2,773).

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umgekehrt auch die Produktion von Kunst aus der inneren Menschen»Natur« abzuleiten ist. Von der Frage nach der Autonomie der Kunst ist die nach der Beziehung zwischen Sprache und Musik eng betroffen, sind es doch die Wörter, welche, wie Vult mutmaßt, einer Heteronomisierung seiner Kunst zumindest Tür und Tor öffnen. Daß er Flötist ist, also ein Instrument spielt, dessen Benutzung den Mund für andere Dinge verschließt, ist insofern wohl signifikant – schließlich musiziert Walt ja vorzugsweise als Sänger. Die Beziehungen zwischen Sprache und Musik stellen sich insgesamt für beide Brüder unterschiedlich dar, und zwar entschieden raffinierter als im Sinne einer unsagbarkeits-topischen Kontrastierung: Gerade der Dichter Walt liebt die Musik, weil sie ihm als Katalysator des Empfindens beim Dichten hilft; der Musiker Vult liebt die Wörter, auch weil er mit ihrer Hilfe Musik thematisieren und über Musikalisches reflektieren kann. In Walt und Vult – so läßt sich fürs erste bilanzieren – verkörpern sich auf mehreren Ebenen Spannungen: Da ist erstens die zwischen »reiner« (instrumentaler) Musik einerseits, einer das Wort suchenden Musik andererseits – sowie zweitens die zwischen dem Konzept autonomer Kunst und einer Deutung der Kunst als Ausdruck und Kommunikationsmedium.14 Nun ist allerdings gerade das Konzept einer »absoluten« Musik innerhalb des romantischästhetischen Diskurses von Schriftstellern ausformuliert, die »autonome« Musik also im Medium der Literatur konzipiert worden; ihre LiteraturGeschichte hat Carl Dahlhaus ausführlich dargestellt.15 Zum Zeitpunkt der Arbeit an den 1803/04 erschienen Flegeljahren waren die prägnantesten Dokumente des literarischen Entwurfs »absoluter« Musik, insbesondere die einschlägigen Texte Hoffmanns, zwar noch nicht erschienen,16 in den Werken ––––––– 14

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Zur Debatte der ungleichen Brüder über die Autonomie der Kunst wäre manche Pointe nachzutragen. Erstens verfaßt gerade der Autonomieästhetiker Vult mit seinen Satiren Texte, die nicht zweckfrei, sondern kritisch-parteilich auf Realitäten bezogen sind, während Walts lyrische Verse dem Ideal einer zweckfreien Kunst korrespondieren. Zweitens hat gerade Walt, theoretisch unbekümmert um autonomieästhetische Leitideen, an seinem Künstler-Dasein genug; seine Phantasie entschädigt ihn für alles, was ihm aufgrund seiner mageren ökonomischen Verhältnisse entgeht. Vult hingegen, der die Kunst theoretisch über alles stellt, empfindet den wirtschaftlichen Mangel und beklagt sich. Vgl. Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik. Kassel/München 1978. – Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988. Dahlhaus verweist insbesondere auf den kantianisch geprägten Philosophen Christian Friedrich Michaelis, dessen Aufsatz Über das Idealische in der Tonkunst 1808 in der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« erschien (Dahlhaus: Musikästhetik. [Anm.15], S.17). Zentral für die Geschichte der Konzeption einer absoluten Musik sind vor allem die musikästhetischen Schriften E.T.A. Hoffmanns. Vgl. et-

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frühromantischer Erzähler, insbesondere in Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders und den Phantasien über die Kunst, finden sich die einschlägigen Topoi jedoch bereits vorweggenommen.17 Der Verfasser der Flegeljahre ist mit seinen Reflexionen über Sprache und Musik auf der Höhe der Zeit, und er erfaßt offenbar früh den paradoxalen Umstand, daß es Texte sind, welche die Musik mit dem Argument, diese genüge sich selbst und sei durch Worte nicht wirklich erreichbar, geschweige denn überbietbar, zur höchsten Kunst deklarieren und dabei konsequent die Instrumentalmusik gegenüber der Vokalmusik aufwerten. Sein Roman als ganzer bezieht keineswegs Partei für einen der Brüder. Vielmehr ist er selbst durch die (teilweise recht ironischen) Brüche innerhalb seines ästhetisch-autoreflexiven Diskurses charakterisiert. Und gerade diese Gebrochenheit personifiziert sich in den ungleichen Zwillingen, die ja in einem Kontrast- und zugleich in einem Komplementärverhältnis stehen. Sie korrespondiert thematisch dem doppeldeutigen Verhältnis zwischen Poesie und Musik und der nicht minder doppeldeutigen Relation zwischen Kunst und außerkünstlerischer Sphäre: Figuren, Themen und Theoreme doppeln sich, ergänzen und widersprechen einander, bleiben kontrastiv und reflexiv aufeinander bezogen – und demonstrieren durch die Unauflösbarkeit ihrer Spannung unter anderem die Nicht-Reduzierbarkeit des Werks auf eine Aussage, eine Theorie, eine begrifflich darstellbare Ästhetik.

II. Papillons – Walt als Schmetterling Walts Dichtertum, von zentraler Bedeutung für die metapoetische Dimension der Flegeljahre, bezeugt sich vor allem darin, daß er »Streckverse« (»Polymeter«) verfaßt, die im Roman auch teilweise wiedergegeben sind. Die optimale typographische Wiedergabe der Polymeter, so heißt es, sei die in Ge–––––––

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wa: E.T.A Hoffmann, Beethovens Instrumental-Musik, in: Kreisleriana, in: Fantasiestücke in Callots Manier / Nachtstücke / Seltsame Leiden eines Theater-Direktors, hrsg. von Walter Müller-Seidel. München 1976 (Lizenzausgabe Darmstadt 1979), S.41–48. Wilhelm Heinrich Wackenroder/Ludwig Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796), hrsg. von Richard Benz. Stuttgart 1977. Wilhelm Heinrich Wackenroder/Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst (1799), hrsg. von Wolfgang Nehring. Stuttgart 1973. Hier insbes.: Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik (S.77–87) sowie Symphonien (S.105–114; in diesem Text wird im Zeichen der Frage nach der Autonomie der einzelnen Kunstformen die Hierarchie zwischen Vokalmusik und Instrumentalmusik umgekehrt. Letztere gilt nun als autonom gegenüber sprachlichen Bindungen; sie muß sich nichts ›sagen‹ lassen, ist ganz ›rein‹).

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stalt einer einzigen Langzeile; und der Erzähler stellt sich »arm-lange Papierwickel« vor, die »wie Flughäute« im Wind flattern. Die hier erdachten Papierwickel heißen wegen ihrer Schmetterlingsform auch Papilloten. Der Schmetterling hat im gesamten Roman leitmotivische Funktion. Vor allem zwei von Jean Paul raffiniert ausgenutzte Voraussetzungen sind dafür maßgeblich: zum einen die symbolischen Bedeutungen des Schmetterlings als Sinnbild der Psyche, der Leichtigkeit und der ›beflügelten‹ poetischen Phantasie, zum anderen die Polyvalenz des Wortes »Larve«. Dieses evoziert zum einen Vorstellungen, die der von Jean Paul so geschätzten Theatermetaphorik affin sind. Larven dienen der Verstellung, und sie sind als Inbegriff des Äußerlichen, der Hülle vor dem ›wahren‹ Gesicht, potenzielle Sinnbilder für Verstellungskünste aller Art, für die soziale Welt und ihre Betrügereien, für den schönen Schein illudierender Arrangements – und für die ›Verlarvung‹ aller Seelen in Körperhüllen. Zum anderen ist es die Larve, aus welcher, in einem symbolträchtigen Prozeß der Metamorphose, der Schmetterling hervorgeht; sich zum Aufflug vorbereitend, streift er die Häute ab, die ihn geschützt haben, bis er reif war. Positive wie negative Konnotationen der »Larve« sind in den Flegeljahren bedeutungskonstitutiv. Vult hält es dabei mehr mit Maskierungen und Entlarvungen; Walts Entwicklungsgang erinnert eher an die positive metamorphotische Konnotation des Wortes. Das Larventanz-Kapitel handelt von Tanzbewegungen und thematisiert auf verschiedenen Ebenen Übergänge: vom Tag zur Nacht, vom Alltagsleben in eine ästhetisierte Sphäre, von einer Rolle in die andere, von einer Figurenkonstellation zur nächsten, zwischen den ästhetischen Ausdrucksformen, zwischen Wort, Musik und Ausdrucksbewegungen. Passend zur Atmosphäre des Maskenballs erscheinen alle Ereignisse im Zwielicht, im Übergang zwischen wechselnden Interpretationen. Wieder stehen die Zwillinge für differierende Sichtweisen: Walt empfindet den Maskenball als Romantisierung des Lebens, als dessen Verklärung, nicht als Verstellung und trügerisches Rollenspiel – während aus Vults Perspektive gerade der Aspekt der Maskierung im Vordergrund steht. Wenn für beide Brüder der Maskenball ein Sinnbild des Lebens ist, so mit unterschiedlicher Akzentuierung: Für Walt gleicht das Leben insofern einem Maskenball, als es ein Substrat möglicher Metamorphose durch die Imagination ist; das Motiv der Larve oder Maske deutet auf diese imaginative Verwandlung hin, insofern die Differenz zwischen Alltagsgesicht und Maske ein Sinnbild der Spannung zwischen unverklärter und romantisierter Welt ist. Für Vult ist die Welt in dem Sinn ein Maskenball, wie das Barock die Metapher vom Welttheater verstanden hatte: ein Ensemble trügerischen Scheins. Ausgehend vom Boden derselben Metapher

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kann man sich also nachhaltig wirksam auseinander tanzen, wie sich dann ja auch zeigt.18 Papillons tauchen, wenngleich in verfremdeter Form, im LarventanzKapitel als Träger von Schriftzügen auf: Ein Unbekannter trägt eine »ungeheure Perücke voll Papilloten«, die er abwickelt, um die gefalteten Papierchen auszuteilen. Walt erhält einen Zettel, der allerdings nur »einen gemeinen Lobspruch auf seine bezaubernden Augen« enthält. (Das ist zum einen eine zufällige und daher nichtssagende Botschaft. Zum anderen sind die Abenteuer Walts in diesem Kapitel zu erheblichen Anteilen Augen-Abenteuer.) Zwei Kostüme beeindrucken Walt besonders, darunter ein »herumrutschender Riesenstiefel […], der sich selbst anhatte und trug« (I/2,1071f.). Dieser Fuß ohne Körper stellt das Komplementärmotiv zum Schmetterling dar, der sich allein durch seine Flügel bewegt und dazu keiner Füße bedarf. Walt selbst ist der wichtigste Schmetterling auf dem Ball. Er mischt sich zwar unter die Tänzer, tanzt jedoch nicht eigentlich, sondern bewegt nur seine Arme. Dieses etwas linkische Gebaren ist keineswegs Ausdruck einer zu geringeren inneren Anteilnahme, sondern Ausdruck einer tiefen Bewegung. Armeschwenkend fühlt Walt sich, als flöge er »hinter einem mit Sommervögeln fliegenden Sommer«; »Sommervögel« ist ein anderer Ausdruck für »Schmetterlinge«. Später berührt Walt Winas Rücken »leise, wie Schmetterlingsflügel«, wobei der Erzähler diese leise Berührung mit derjenigen vergleicht, bei welcher ein Jüngling erstmals »die Hand eines berühmten Schriftstellers […] berührt«.19 Das Leitmotiv des Schmetterlings taucht anläßlich der Beschreibung des Tanzes von Vult und Wina wieder auf. Um die ––––––– 18

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Vult nutzt den Maskenball ganz konkret im Sinne einer Verkleidung, indem er sich als verkleideter Walt ausgibt. Für ihn setzt sich das alltägliche Masken- und Rollenspiel auf dem Ball fort. Walt hingegen nimmt vor allem die Loslösung vom Alltäglichen und dessen Verklärung durch Schein und Spiel wahr. »[…] er tanzte wie die Römer, bei welchen nach Böttiger das mimische Tanzen in nichts bestand als in Bewegung der Hände und Arme. Mit den Füßen ging er feurig den Walzer bis zum Rast-Zeichen der Wage, wo der fliegende Schwarm hintereinander sich anlegte als Stand-Herde. Indes glaubt’ er, er flöge hinter einem mit Sommervögeln fliegenden Sommer. Wie ein Jüngling die Hand eines berühmten großen Schriftstellers zum erstenmale berührt: so berührte er leise, wie Schmetterlingsflügel, wie Aurikeln-Puder, Winas Rücken […]«. (I/2,1073). Der Vergleich stiftet also ein Analogieverhältnis zwischen Schmetterlingsflügel und der Schreibhand eines jungen Dichters. Als Dichter setzt Walt seine innere Bewegung vor allem in Worte um; der Tanzsaal, die Musik, der Tanz selbst sind ihm lauter Anlässe für poetische Vergleiche. Während es seinem Körper nur teilweise gelingt, sich entsprechend der Musik zu bewegen, spricht er doch davon, wie beim Tanz »sogar der Körper Musik werde« (I/2,1073), und der Tanz der Körper gilt ihm dabei doch wiederum nur als äußere Darstellung eines Tanzes der Seelen.

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polnische Wina zu gewinnen, spricht Vult einige Worte polnisch, die keinen Zusammenhang ergeben, »nur Hauche der Sprache«, die dem Vergleich des Erzählers »irre, aufs Meer verwehte Schmetterlinge einer fernen Insel« (I/2,1078) sind. Indem der Schmetterling (Sommervogel, Papillon) in den Flegeljahren metaphorisch für die tänzerische Armbewegung steht und diese wiederum metonymisch für die Darstellung von Musik, ist das Motiv auch mit der Frage nach den Beziehungen zwischen den einzelnen Künsten, genauer: mit der nach möglichen »Übersetzungen« von Musik, konnotiert. Der Schmetterling fungiert nicht nur als Sinnbild der Darstellung von Musik (durch Walts Gesten), sondern auch, indirekt, als Sinnbild eines Schreibens, das Musik darstellt, ohne selbst Musik zu sein, dessen Bewegung aber eine an der Musik wahrgenommene Bewegung nachvollzieht. (Eine andere Konnotation, die an das Bild des Schmetterlings geknüpft ist, entspricht Walts Charakter: Leichtigkeit, Bodenlosigkeit, Sorglosigkeit, poetischer Sinn.) An dieser Stelle ein kleiner Exkurs: Die Flegeljahre vermitteln auch wichtige Bausteine zu einer Ästhetik des Tanzes. Analog zur Reflexion über Musik, wird dabei aber nicht ein Konzept dieser Kunstform leitend, sondern differente Konzepte treten in ein Spannungsverhältnis – das sich wiederum in den ungleichen Zwillingen personifiziert. Walt stellt Musik tänzerisch in einer Weise dar, die nicht nur ihn selbst charakterisiert, sondern auch als Sinnbild einer spezifischen Form der Darstellung von Musik zu verstehen ist: Sein ganzes Ich wird erfaßt, und er übersetzt die Musik in Körperbewegungen, welche zugleich die musikalisch evozierten Regungen seiner Psyche zum Ausdruck bringen. Diese Umsetzung erfolgt spontan; sie ist weder durch einen bewußt angewandten Code (eine Tanz-Regel) vermittelt noch hinsichtlich ihrer Effekte ästhetisch kalkuliert. Vult hingegen übersetzt die Musik auf der Basis eines ästhetischen Kalküls in Tanz-Bewegungen. Genau genommen, wird davon berichtet, wie er eine entsprechende Umsetzung plant, nicht davon, wie er tanzt. Vult »malt« mit dem Fuß, wo Walt spontane Bewegungen vollzieht. Stellt sich bei Walt die Tanzmusik primär als innerpsychische Bewegung dar, so ist ihre Darstellungsform bei Vult die bewußt geschaffene choreographische Zeichnung. Beide Brüder verhalten sich in einem sehr konkreten Sinn komplementär, als Vult den Fuß nimmt, um eine Tanzfigur zu zeichnen, während Walt spontan, aber gerade nicht mit den Füßen tanzt. (Der Riesenstiefel, der keine Füße hat, wirkt wie ein ironischer Kommentar zu diesen paradoxen Tanzweisen.) Tanzmusik ist, je nach Darstellungsform, zweierlei: eine auf seelische Regungen verweisende, diese stimulierende

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Ausdrucksbewegung – und eine sichtbare Figuration, die dem ästhetischen Kalkül unterliegt. Die Szene um die beiden tanzenden Brüder verdeutlicht nicht zuletzt, daß Musik – das, was jeweils als Musik erfahren wird – das Produkt ihrer Darstellung ist. Es gibt kein absolutes Wesen der Musik, sie kann sich vielmehr auf verschiedene Weisen darstellen. Diese sind komplementär, aber eben auch kontrastiv, wie Walt und Vult. Verdeutlicht Jean Pauls Roman die Dependenz der Musik von ihrer Darstellungsform, so ist nicht zuletzt der Roman selbst als eine solche Darstellungsform der Musik lesbar. Schließlich stellt er durch die Figuren der beiden Brüder das doppelte Wesen von Musik dar: zum einen ist diese virtuoses Kalkül und komplexe Figuration – zum anderen innere Bewegung und sinnlich inspiriertes Sentiment, das sich körperlichen Ausdruck verschafft.

III. Zu Robert Schumanns Interesse an Jean Paul Robert Schumann, aus einem Verlegerhaushalt stammend, unterhielt bekanntlich enge Beziehungen zur Literatur.20 Als junger Mann trug er sich zeitweilig mit dem Plan, selbst Dichter zu werden. Seine literarische Bildung war beeindruckend, und parallel zu seinem Werdegang als Musiker entwikkelte er sich zum Musikkritiker. Schon bei seiner Schulabschlußfeier hatte er eine Rede zum Thema »Über die innige Verwandtschaft der Poesie und der Tonkunst« gehalten.21 Die Bedeutung Jean Pauls für Schumann, der seinen ––––––– 20

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Vgl. Joseph A. Kruse, Robert Schumanns Lektüre. Zeitgenössischer Kanon, individuelle Schwerpunkte, kompositionsspezifische Auswahl und seine Urteile als Leser, in: Robert Schumann und die Dichter. Ein Musiker als Leser. Katalog. Bearb. von Bernhard R. Appel u. Inge Hermstrüwer. Düsseldorf 1991, S.123–134. – Wie Bernhard Appel mitteilt, läßt sich aus Schumanns Tagebüchern eine Leseliste von rund 600 Titeln zusammenstellen. (Bernhard Appel, Robert Schumann als Leser, in: Robert Schumann und die Dichter, S.13). Schumann suchte in literarischen Werken Anregungen für seine Kompositionen, bezog sie als Redakteur und Autor der Neuen Zeitschrift für Musik aber auch in seine eigene schriftstellerische Arbeit ein. Jean Paul wird in der Zeitschrift wiederholt zitiert. In Schumanns Abhandlung Über die innige Verwandtschaft der Poesie und der Tonkunst heißt es: »Ja! Größeres wirket ihr Bund: Größeres und Schöneres, wenn der einfache Ton durch die geflügelte Stille, oder das schwebende Wort durch die melodische Woge des Klanges erhöht wird, wenn der leichte Rhythmus des Verses mit dem geordneten Maße des Taktes sanft sich vereint und lieblich abwechselt, wenn sie Hand in Hand ihre himmlischen Pfade wandeln. Aber nicht nur diese Vereinigung des Wohlklanges fesselt beide an einander, nein sie werden noch durch andere und zartere Banden zusammengekettet und diese sind, daß sie beide

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Lieblingsautor »über alle« stellte,22 ist immer wieder hervorgehoben worden.23 In den Hottentottiana von 1828 notiert Schumann: Ich frage mich oft, wo ich seyn würde, wenn ich Jean Paul nicht gekannt hätte: er scheint aber doch wenigstens auf einer Seite mit mir verwebt zu seyn: denn ich ahndete ihn früher: ich dichtete vielleicht jetzt eben so, aber ich würde die Menschen nicht so sehr fliehen u. weniger träumen. Ich kann mir doch nicht recht genau denken, was ich seyn würde. Die Frage kann ich nicht enträthseln.24

Viel zitiert worden ist vor allem Schumanns Diktum, er habe von Jean Paul »mehr Kontrapunkt gelernt« als von seinem Musiklehrer.25 Carl Dahlhaus zufolge hat Jean Paul Schumann zu der Sprache verholfen, in welcher er seine musikästhetischen Vorstellungen verbalisieren konnte, damit aber das musikästhetische Denken des Komponisten als solches geprägt.26 Tatsächlich dokumentieren die musikästhetischen Reflexionen Schumanns seine Affinität zu Jean Paul besonders deutlich, wobei allerdings zu bedenken ist, daß die in Jean Pauls Schriften formulierten Ideen über die »Sprache« der Töne, über ihre Beziehungen zur Psyche und zum Absoluten keinen Exklusivbesitz darstellen, sondern in den Schriften vieler Zeitgenossen auftauchen. Gleichwohl klingen Schumanns Texte über Musik vor allem nach Jean Paul27 – sowohl ––––––– 22

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gleichen Ursprung, beide gleiche Wirkung haben.« (Zit. nach Aigi Heero, Robert Schumanns Jugendlyrik. Zwickau 2003, S.80) Am 17.3.1828 schrieb Schumann an seinen Freund Carl Flechsig, Jean Paul nehme »noch den ersten Platz bei mir ein: und ich stelle ihn über Alle, selbst Schillern (Goethen versteh’ ich noch nicht) nicht ausgenommen«. Robert Schumann, Jugendbriefe. Nach den Originalen mitgetheilt von Clara Schumann. Leipzig 1886, S.13–19, hier S.17. Manfred Eger vertritt die These, daß »Jean Paul ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis mancher Schumannscher Klavierwerke ist« und zudem »als Geburtshelfer des revolutionären Schumannschen Klavierstils bezeichnet werden kann.« (Manfred Eger, Jean Paul als Schlüssel zu Robert Schumann, in: JJPG 26/27 (1991/92), S.363). Robert Schumann, Tagebücher. Bd.I. 1827–1838, hrsg. von Georg Eismann. Leipzig 1971, S.73–244, hier: S.82. Die Hottentottiana stehen unter dem Motto: »Der Mensch sey kein Gedankenstrich im Buche der Natur sondern ein Fragezeichen, das er sich beantworten muß. […]« (Tagebücher I, S.74). Dieses Bild spielt an auf das Motto zur Unsichtbaren Loge: »Der Mensch ist der große Gedankenstrich im Buche der Natur« (I/1,8) Brief Schumanns an Simonin de Sire, 15.3.1839. Robert Schumann, Briefe: Neue Folge, hrsg. von F. Gustav Jansen. Leipzig 1904. S.149. Vgl. Dahlhaus, Musikästhetik [Anm.15], S.90. An Jean Paul erinnert beispielsweise eine Passage in einem Brief Schumanns an Götte, 2. Oktober 1828: »Oh, im Menschen ruht ein großer, ungeheurer Wunsch, ein unnennbares, ein unendliches Etwas, was keine Lippe aussprechen kann; dieser Wunsch erwacht in den epischen Naturen, wenn er vor Ruinen, oder Pyramiden, oder vor Rom oder im Teutoburger Wald, oder auf Gräbern steht. In den lyrischen

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die theoretisch-abstrakten28 als auch die poetisch-evokativen.29 Bei der Vorbereitung der Anthologie Dichtergarten, einer Sammlung mit musikästhetischen Reflexionen literarischer Autoren, las Schumann mit Clara vor allem den Titan. Jean Pauls Bemerkung über den »unbestimmten romantischen Charakter« der Musik (Vorschule, I/5,94) hat Schumann im Dichtergarten zitiert.30 Seine eigenen literarischen Beschreibungen von Musik und ihren Wirkungen auf das menschliche Herz sind entsprechenden Passagen bei Jean Paul erkennbar verpflichtet.31 Interpreten haben die These vertreten, Schumanns Schriften seien als Umsetzungen musikalischer Werke lesbar. So wurde der Prosa-Abschnitt Beethoven in der Tonwelt als »poetische Transformation eines Beethovenschen Sinfonie- oder Ouvertürenanfanges« verstanden, »der aus dem Chaos der langsamen Einleitung das 1. Thema der

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Naturen (ich bin eine), wenn die sanfte Tonwelt aufbricht, oder wenn’s Abend ist oder bei Gewittern, oder bei Sonnenaufgang.« (Zit. nach Heero, Robert Schumanns Jugendlyrik [Anm.21], S.83.) So heißt es etwa: »Musik redet die allgemeine Sprache, durch welche die Seele frei, unbestimmt angeregt wird.« (Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Bd.I, 5.Aufl. Leipzig 1914. S.19.) Auch hierfür ein Beispiel: »Aus den Juniusabenden«, 16. August 1828: »O es ist jener stille Engel in der Brust, den keine Zunge nennen u. keine Lippe aussprechen kann, welcher die zerrißnenen Menschen in dem Blumen- u. Dornen-labyrinthe des Lebens vereint u. den gefühlreichen Herzen schöne Minuten giebt, die kein Leben u. keine Zukunft aufwiegen können, bis der finstere Dämon, der jedes Glück im Leben haßt, das Schiksal, mit seinen Thränen zwischen die Seelen tritt und die Rosenfesseln zerschmettert, die der Genius flocht u. den erschrokenen weinenden Engel der Menschen fortführt u. den Menschen weiter nichts zurükläßt, als Freudenzähren für die Vergangenheit u. Schmerzensthränen für die umwölkte Zukunft.« (Schumann: Tagebücher I [Anm.24], S.115). Natürlich bestehen nicht nur Parallelen zu den literarischen und ästhetischen Werken Jean Pauls. Man hat etwa Schumanns Überzeugung vom Bündnis zwischen Musik und Dichtung mit einer analogen Überzeugung Hoffmanns verglichen und diese als prägend in Betracht gezogen. Vgl. Peter Rummenhölter, Die romantischen Motive im Werk Robert Schumanns, in: Romantik in der Musik. Analysen, Portraits, Reflexionen, hrsg. von ders. Kassel 1989, S.149–158. Susanne HoyDraheim, Robert Schumann und E.T.A. Hoffmann, in: Schumann und seine Dichter. Bericht über das 4. Internationale Schumann-Symposion am 13. und 14. Juni 1991, hrsg. von Matthias Wendt, S.61–70. Hermann Beck: E.T.A. Hoffmann und R. Schumann, in: Methoden der Werkanalyse in Musikgeschichte und Gegenwart. Wilhelmshaven 1974, S.56–59. Aigi Heero, Robert Schumanns Jugendlyrik [Anm.21], S.81, vertritt die These, »daß Schumanns früheste Ansichten über das Zusammenwirken von Literatur und Musik« von Schiller inspiriert sind. Vgl. u.a. Beate Julia Perrey, Schumann’s ›Dichterliebe‹ and Early Romantic Poetics. Cambridge 2002, S.135.

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Exposition gebiert«.32 Eine Hierarchisierung der Künste hat Schumann offenbar nicht angestrebt; die Orientierung der Musik an der Dichtkunst und vice versa waren ihm gleichermaßen wichtig, und zwar sowohl auf der Ebene ästhetischer Arbeit als auch auf der ihrer Beschreibung. Als Musikschriftsteller hat er sich mit der Frage nach Analogien und Vergleichbarkeiten explizit auseinandergesetzt. Und für den Dichtergarten sammelte er Texte anderer literarischer Autoren über Musik, also Bausteine zu einer Modellierung der Musik mit literarischen Mitteln. Daß Schumann sich im Zeichen der Frage nach der Beziehung zwischen Musik und Sprache vor allem Gedanken über die Vokalmusik macht, überrascht nicht.33 Die Überzeugung, Noten und Worte seien prinzipiell analoge Ausdrucksmedien des Inneren,34 teilt er mit Walt aus den Flegeljahren. Allerdings heißt es gelegentlich auch: »jeder Tonkünstler ist ein Dichter, nur ein höherer«.35 Bereits der junge Schumann thematisiert die Beziehung zwischen Wort und Ton (Die Dichtkunst und die Tonkunst) und skizziert eine Hierarchie der Künste, an deren Spitze Literatur und Musik stehen (Prolog).36 Sein intensives Interesse an den Beziehungen zwischen Poesie und Musik macht sich in späteren Jahren auf verschiedenen Ebenen geltend.37 Liszt charakterisierte Schumann als einen Künstler, dem es um ein ›näheres Anschließen‹ der Musik an »Poesie und Literatur« ging.38 ––––––– 32

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Bodo Bischoff, Monument für Beethoven. Die Entwicklung der Beethoven-Rezeption Robert Schumanns. Köln 1994, S.58; vgl. Heero, Robert Schumanns Jugendlyrik [Anm.21], S.124. Vgl. Schumanns Tagebucheintrag vom 16. August 1828, wo es über Lieder heißt: »sie müssen so beschaffen seyn, daß der Dichter, wär’ er Musiker, es so in Tönen ausdrükte, wie im Wort, u. daß der Musiker, wär er Dichter es so in Worten, wie er in seinen Tönen.« (Tagebücher I [Anm.24], S.114) Vgl. ebd., S.96–97; hier u.a.: »Ton ist überhaupt componirtes Wort.« (ebd., S.96). Schumann, ebd., S.41 (Reisenotizen I, ›Michälis‹ 1828). Der Text ist angelehnt an Schillers: Die Huldigung der Künste. Vgl. dazu Heero, Robert Schumanns Jugendlyrik [Anm.21], S.78. »Wenn ich Beethovensche Musick höre, so ists, als läse mir jemand Jean Paul vor; Schubert gleicht mehr Novalis […].« (Schumann, Tagebücher I [Anm.24], S.97). »Schubert ist Jean Paul, Novalis u. Hoffmann in Tönen ausgedrükt.« (ebd., S.111). Franz Liszt, Robert Schumann, in: Neue Zeitschrift für Musik, 42. Bd., Nr.13, 23. März 1855, S.137, zitiert bei Appel, Robert Schumann als Leser [Anm.20], S.12: »Er hat die Nothwendigkeit eines nähern Anschließens der Musik, mit Inbegriff der blos instrumentalen, an Poesie und Literatur klar in seinem Geiste erkannt […]; ebenso hat er die Literatur der Musik angenähert […]. Musik und Literatur waren seit Jahrhunderten wie durch eine Mauer getrennt und die auf beiden Seiten derselben Wohnenden schienen sich nur dem Namen nach zu kennen. Kamen sie einmal in Contact, so erschienen sie dann nur gleich Pyramus und Thisbe […]. Schumann war Eingeborener in beiden Ländern und eröffnete den Bewohnern der getrennten Regionen eine Bresche […].«

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Explizit thematisiert Schumann ein kompositorisches Prinzip Jean Pauls, das er selbst übernimmt: die Erfindung komplementärerer Figuren. Oft zitiert wurde der Tagebucheintrag über Jean Pauls Doppelcharaktere aus den späten 1820er Jahren: In allen seinen Werken spiegelt sich Jean Paul selbst ab , aber jedesmal in zwey Personen: er ist Albano u. Schoppe, Siebenkäs u. Leibgeber, Vult u. Walt, Gustav u. Fenk, Flamin u. Victor. [...] immer harte Gegensätze, wenn auch nicht Extreme vereint er in seinen Werken u. in sich – u. er ist es doch nur allein.39

Schumann selbst erfindet für seine literarischen Texte ein Freundespaar namens »Eusebius« und »Florestan«, das Jean Pauls kontrastierenden Freundespaaren nachgestaltet ist. Daß er hier die Jean Paulschen Figurenpaare als Indikatoren der Doppelnatur Jean Pauls wahrnimmt, ist in der Forschung als eine indirekte Selbstauslegung des Künstlers Schumann gedeutet worden.40 Wie Joseph Kruse bemerkt, unterschied Schumann in sich selbst eine »Florestan-« und eine »Eusebius-Natur«. Auch andere Forscher sehen in den beiden Figuren zwei Teil-Ichs des Komponisten gestaltet.41 Erwägt man die Ebenen möglicher Selbst-Verdopplung, so ist es bemerkenswert, daß Schumann – worauf sich rezent u.a. Aigi Heero bezogen hat – teilweise eigene Texte vertont, hier also in der Doppelrolle von Dichter und Komponist wirkt. Dies legt die These nahe, daß Schumanns Interesse an Doppelfiguren à la Jean Paul in engem Zusammenhang mit seinem Interesse an Modellen der Beziehung zwischen Dichtung (Text) und Musik zu sehen ist. Ganz besonders liebte Schumann die Flegeljahre. Die Lektüre des vorletzten Kapitels der Flegeljahre stimulierte die »Papillons«.42 In Schumanns eigenem Exemplar der Flegeljahre finden sich handschriftliche Einträge an den Seitenrändern, die auf die einzelnen Nummern der »Papillons« verwei––––––– 39 40

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Schumann, Tagebücher I [Anm.24], S.82 (1828). 1826 verfaßt Schumann ein fragmentarisch bleibendes Drama Der Doppelgänger. Laut Aigi Heero, Robert Schumanns Jugendlyrik [Anm.21], S.89, wäre »dieser Text hervorzuheben als ein Beweis von Schumanns frühem Interesse an dualen Strukturen, an Masken- und Rollenspielen schon vor seiner Bekanntschaft mit dem Werk Jean Pauls.« Eine seiner Figuren, Florestan, spricht in Schumanns Imagination zu diesem selbst über seine Werke und attestiert dem Schumannschen Kompositionsstil »Gestalten und sprechende Charaktere« (Schumann, Tagebücher I [Anm.24], S.361). Diese entstanden zwischen 1829 und 1831. Am 17. April 1832 schickte Schumann das Widmungsexemplar der Erstausgabe, das für seine drei Schwägerinnen gedacht war, an seine Mutter und schrieb gleichzeitig im beigelegten Brief: »bittet sodann alle, daß sie so bald als möglich die Schlußszene aus Jean Pauls Flegeljahren lesen möchten, und daß die Papillons diesen Larventanz eigentlich in Töne umsetzen sollten«, Schumann, Jugendbriefe [Anm.22], S.166f., hier 166.

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sen.43 Doch Schumann wollte seine Klavierkompositionen nicht als Programm-Musik verstanden wissen; es ging ihm nicht um eine Übersetzung des Romangeschehens in ein musikalisches Geschehen, sondern um Korrespondenzen auf struktureller Ebene. Auf die Maskenballszene hat Schumann auch in einem Brief an den Musikkritiker Ludwig Reilstab vom 19. April 1832 aufmerksam gemacht, und zwar mit folgenden Worten: […] erlaub’ ich mir den Papillons einige Worte über ihr Entstehen hinzuzufügen, da der Faden, der sie ineinander schlingen soll, kaum sichtbar ist. Ew. Wohlgeboren erinnern sich der letzten Scene in den Flegeljahren – Larventanz – Walt – Vult – Masken – Wina – Vults Tanzen – das Umtauschen der Masken – Geständnisse – Zorn – Enthüllungen – Forteilen – Schlußscene und dann der forteilende Bruder. – Noch oft wendete ich die letzte Seite um: denn der Schluß schien mir nur ein neuer Anfang – fast unbewußt war ich am Klavier und so entstand ein Papillon nach dem anderen.44

Schumanns aus Einzelwörtern bestehende Inhaltsskizze zum LarventanzKapitel der Flegeljahre hat selbst etwas Tänzerisches; sie schwebt über den erzählten Ereignissen, löst diese in einzelne Momente auf, erinnert an die Diktion Walts, wenn dieser unter dem Eindruck bewegender Eindrücke steht. Weil Walt in den Flegeljahren wie ein Schmetterling tanzt und der Schmetterling insgesamt ein Leitmotiv des Jean Paulschen Romans bildet, ist es ––––––– 43

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Der Schumannforscher Wolfgang Boetticher hat schon 1941 die FlegeljahreAusgabe Schumanns konsultiert: Wolfgang Boetticher, Robert Schumann. Einführung in Persönlichkeit und Werk. Berlin 1941. Schumann hatte in seinem Exemplar der Flegeljahre diverse Absätze angestrichen und mit Ordnungszahlen versehen. Diese können als Verweise auf die einzelnen Papillons gedeutet werden und sind auch so interpretiert worden. Allerdings gibt es 12 Papillons und nur 10 markierte und numerierte Absätze. Die Interpretationen dieses Umstands divergieren. Boetticher präsentiert in jeweils drei Spalten die angestrichenen Passagen, eine kurze strukturelle Charakteristik der einzelnen »Papillon«-Nummer sowie eine Erklärung der entsprechenden komponierten Szene aus einem Musikführer von 1861, verfaßt von einem gewissen J. Knorr, der angibt, sein Kommentar gehe »auf Schumann selbst« zurück (ebd., S.611); Boetticher versieht diese Anmerkung freilich mit einem »?«. Skepsis verdienen die Kommentare Knorrs aber auch, insofern sie die von Schumann nicht intendierte Suggestion von Programmusik erzeugen. Zu den von Schumann markierten Passagen gehört auch diese (Nummer VIII): »Wie ein Jüngling die Hand eines berühmten großen Schriftstellers zum erstenmale berührt: so berührte er leise, wie Schmetterlingsflügel, wie Aurikeln-Puder, Winas Rücken […].« Schumann, Jugendbriefe [Anm.22], S.167–168. Die Ballszene ist – wie in der Schumann-Forschung durchaus bemerkt wurde – eben nicht die letzte Szene; Schumann erwähnt den ›forteilenden Bruder‹ – also das letzte Kapitel – dann ja auch. Wenn er den »Schluß« als möglichen ›neuen Anfang‹ wahrnimmt, so unterstreicht dies die Bedeutung der Abschiedszene: Sie wird zur Szene eines imaginierten Übergangs.

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besonders bemerkenswert, daß Schumann gerade das Schmetterlingsmotiv mit der Komposition seiner Papillons aufgreift. Walts Armbewegungen als gestische Darstellungen musikalischer Bewegungen dürften die Entscheidung für den Titel Papillons maßgeblich beeinflußt haben. Schumann schafft mit seinen Papillons eine Art Rückübersetzung der unhörbaren (weil imaginären) Musik des Larventanz-Kapitels in hörbare Klänge.

IV. Zu Schumanns Heine-Vertonungen In der Forschung sind – in der Spur Schumannscher Formulierungen – auch Schumanns Kompositionen als Dokumente seiner Auseinandersetzung mit Poesie-Musik-Beziehungen verstanden worden.45 Nachdem er seit 1828 keine Lieder mehr komponiert und sich vorwiegend der Klaviermusik gewidmet hatte, schrieb Schumann in seinem »Liederjahr« 1840 gleich 138 Lieder – darunter eine Reihe von Vertonungen zu Gedichten Heinrich Heines, der insgesamt der von Schumann am häufigsten vertonte Dichter ist.46 Seit August 1828 kannte Schumann das Buch der Lieder. Im folgenden Jahr las er die Reisebilder, die unter einem Motto aus Börnes Denkrede auf Jean Paul stehen. Thomas Synofzik hat die plausible These vertreten, daß Schumanns Affinität zu Jean Paul katalysatorische Bedeutung für seine Auseinandersetzung mit Heine als einem poetischen Vertreter des Jungen Deutschland gewirkt hat.47 ––––––– 45

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Michael Struck betont Schumanns »grenzüberschreitende[s] Kunstideal«, für das es charakteristisch sei, »daß die Titel mancher Instrumentalwerke literarische Bezugspunkte benennen oder auf Gattungen der Vokalmusik – also auf die direkte Schnittstelle von Musik und Dichtung – anspielen.« (Michael Struck, Literarischer Eindruck, poetischer Ausdruck und Struktur in Robert Schumanns Instrumentalmusik, in: Robert Schumann und die Dichter [Anm.20], S.111–122, hier: S.111). »Phantasiestücke« und »Blumenstück« sind Gattungsbezeichnungen, wie sie vor Schumann bei Hoffmann und Jean Paul auftauchen. Bernhard Appel konstatiert, Schumanns Musik übernehme Strukturformen der Literatur, darunter »[n]arrative Verläufe, rhetorische Emphase, Digressionen, Rückblenden, rezitatorische Gesten, epigrammatische Zuspitzungen und Aphoristik« als »über die Literaturrezeption gewonnene« und »ins Kompositorische konvertierte« Formen (Appel, Robert Schumann als Leser [Anm.20], S.13). – Appel hat die »Humoreske« op.20 als »musikalische Novelle« gedeutet, die inhaltlich und formal einem literarischen Muster entspreche (Bernhard R. Appel, Robert Schumanns Humoreske für Klavier op.20. Zum musikalischen Humor in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Formproblems. Diss. Saarbrücken 1981, S.319–323). Vgl. Thomas Synofzik, Heinrich Heine – Robert Schumann. Musik und Ironie. Köln 2006, S.39. Ebd.

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Interessanterweise sind gerade die Heine-Zyklen Schumanns als ästhetische Darstellungen multipler Personae, und zwar insbesondere eines Musiker- und eines Dichter-Ichs gedeutet worden. Eine Art reflexiver Selbstpotenzierung des musikalischen Maskenspiels diagnostiziert Berthold Höckner im vorletzten Lied des Liederkreises op. 24. Hier halte sich »die musikalische Maske […] selbst die Maske vor«, und zwar mittels eines musikalischen Zitats: »Für den Vierzeiler ›Anfangs wollt’ ich fast verzagen‹ verwendet die musikalische persona mit dem Zitat des Chorals ›Wer nur den lieben Gott läßt walten‹ das Mittel der ›parodia sacra‹.«48 Gerade der Choral Wer nur den lieben Gott läßt walten ist es, in dem auch die Namen Gottwalts und Quoddeusvults nachhallen, nur in jeweils anderer Sprache. Die Heinezyklen opus 24 und opus 48 haben die Heine-Schumann-Forschung nachhaltig beschäftigt. Im Mittelpunkt stand dabei lange Zeit erstens die Erörterung der Motive der Textauswahl durch Schumann sowie zweitens und in Zusammenhang damit die Frage, ob Schumann die ironische Dimension der Heineschen Texte erfaßt, ob er sie entsprechend kompositorisch umgesetzt oder aber durch die Vertonung in ihrem Charakter gründlich geändert habe. Mit dieser Frage wiederum verknüpfte sich die nach der prinzipiellen Möglichkeit ironischer Musik bzw. musikalischer Ironie. Die Bedeutung des Ironischen bei Schumann hat vor allem Thomas Synofzik rezent in seiner Monographie zu den Heineliedern erörtert und detailliert belegt; für ihn besteht zwischen dem Musikalischen und dem Ironischen gerade ein innerer Zusammenhang.49 Synofzik schlägt eine »ironische Lesart« der Heinelieder vor50 und plausibilisiert sie durch Analysen. Er betont, daß Schumann das Buch der Lieder umfassend, und dabei keineswegs nur »identifikatorisch« (im Sinne der ›Ausleihe‹ von Zitaten für Liebesbotschaften) gelesen habe. Seine Analysen machen plausibel, daß es gerade die ironische Gebrochenheit der Heineschen Texte war, die Schumann angezogen hat, daß dies für die Textauswahl maßgeblich wurde – und für die kompositorische Arbeit. Verbindend für eine ganze Reihe der Texte sei das Prinzip der »Erwartungstäu-

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Berthold Höckner, Spricht der Dichter oder der Tondichter? Die multiple persona und Robert Schumanns ›Liederkreis‹ op.24, in: Schumann und seine Dichter, hrsg. von Matthias Wendt. Düsseldorf 1993, S.18–32, hier S.31. Thomas Synofzik, Heinrich Heine – Robert Schumann [Anm.46]. Ebd., S.10. In den letzten Jahren sei »ein neues Verständnis« des Themas Ironie bei Schumann zu beobachten, so Synofzik, S.5.

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schung« (so Synofzik in Fortsetzung von Destros Ansatz51), das in der Musik Schumanns aufgegriffen werde. Daß die Diskussion über die ironische Dimension der Schumannlieder die Aufmerksamkeit gerade auf Brüche zwischen Text und Musik lenkt, überrascht nicht. Sollte, überspitzt gesagt, die Ironie der Schumannschen Lieder – über einzelne als ›ironisch‹ deutbare Wendungen hinaus – vor allem darin liegen, daß Text und Musik immer wieder ostentativ eigene Nebenwege einschlagen, auch wenn die Lieder insgesamt durch ihr Zusammenspiel konstituiert sind?52 Gerade anläßlich der Ironiefrage ist in der Forschung zu Schumanns Heineliedern schließlich die kritische Frage aufgeworfen worden, ob Angemessenheit von Vertonungen an vertonte Texte, musikalische Treue zum Text tragfähige Kriterien ästhetischen Gelingens seien. Hat Schumann denn überhaupt versucht, zu den Heineliedern ein ›adäquat‹ textauslegendes musikalisches Pendant zu schaffen? Beate Perrey beantwortet diese Frage negativ.53 Lieder haben, aus der frühromantisch und zugleich dekonstruktivistisch inspirierten Perspektive Perreys zwei »Protagonisten«: die Dichtung und die Musik. Diese können verschiedene Wege gehen; sie finden zusammen – und gehen wieder auseinander. Im Lichte dieses Ansatzes betrachtet, lautet die entscheidende Frage gar nicht, ob Schumann die zu den Texten Heines »passende« Musik geschrieben habe. Hingegen mag gefragt werden, inwiefern sich vielleicht die Heinelieder Schumanns als Pendants der Flegeljahre betrachten lassen – im Sinne der These Synofziks von Jean Pauls »katalysatorischer« Wirkung auf die HeineRezeption Schumanns. Manches verbindet op. 24 und op. 48 mit den Flegeljahren. Bespiegelt werden hier wie dort die Beziehungen zwischen Musikalischem und Dichterischem – als Spannungen zwischen ungleichen Zwillingen, die miteinander rivalisieren und einander doch lieben. Solch mehrdeuti––––––– 51

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Alberto Destro, L’attesa contradetta. La svolta finale nelle liriche del ›Buch der Lieder‹ di Heinrich Heine, in: Annali Istituto orientale Napoli. Sezione Germanica XX-1/1977, S.7–127. Vgl. Sonja Gesse-Harm, »Empfindungen sind sprachlos«. Robert Schumanns Suche nach der Synthese von Dichtung und Musik, in: Das letzte Wort der Kunst. Heinrich Heine und Robert Schumann zum 150. Todesjahr, hrsg. von Joseph A. Kruse. Stuttgart 2006, S.157–172, hier S.166 (über Schumanns Lieder): »So erheben sich seine Lieder über traditionelle Vorbilder, indem das Klavier nicht einfach nur eine begleitende Funktion übernimmt, sondern zur Versinnlichung des Textes beiträgt. Schumanns Klavier singt somit unter Umständen sein eigenes Lied, erzählt seine eigene Geschichte und verdeutlicht so dem Hörer die emotionale Mehrschichtigkeit des vertonten Textes.« Siehe dazu insgesamt: Beate Julia Perrey, Schumann’s ›Dichterliebe‹ [Anm.31].

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ger Beziehung zwischen Dichtung und Musik wird keine Theorie gerecht – nur eine künstlerische Darstellung. Wollte Schumann ein musikalisches Pendant zu den Flegeljahren schaffen, so konnte er nur Texte zur Vertonung wählen, die ihrerseits bereits doppelbödig und gebrochen waren. Heines ironische Liebesgedichte, charakterisiert durch die unaufhebbare Spannung zwischen Sentiment und Ernüchterung, Empfindungsausdruck und kritischer Selbstreflexion, haben etwas von »Walt« und von »Vult«.54

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Zudem thematisieren die Heineschen Texte vielfach das »Singen«, das »Lied«, also künstlerische Ausdrucksweisen im Überschneidungsbereich von Musik und Dichtung.

HELMUT PFOTENHAUER

JEAN PAUL UND KÖNIGIN LUISE Oder weshalb singende Prosa keinen guten Vers erlaubt*

Als Jean Paul am 14. Juni 1805 auf der Luxburg, die an diesem Tag in Luisenburg umbenannt wird, dem preußischen Königspaar Friedrich Wilhelm III. und seiner Gemahlin Luise begegnet, und man den hohen Gästen unter anderem ein festliches Zwischenspiel aus Jean Pauls Feder aufführt, ist diese Begegnung von Seiten Jean Pauls gut vorbereitet. Man kann sagen: Sie ist, in den Grenzen seiner Möglichkeiten, von Jean Paul besser vorbereitet als die jenem Interludium zugrundeliegende Dichtung selbst – eine der ganz wenigen Jean Pauls in metrisch gebundener Sprache. Jean Paul hatte bereits am 23. Februar 1805 an seine »königliche Majestät« als deren »unterthänigster Jean Paul Fr. Richter« geschrieben,1 und an eine bereits im Mai 1801 schriftlich zugesagte »Präbende«, also eine finanzielle Begünstigung, eine Art Leibrente, erinnert. Er wage es nur, weil Ihre Majestät schon seine Bitte um die Hoffnung einer Präbende durch eine allergnädigste Resolution vom 12. Mai 1801 zu erhören geruhten – und »weil er das Glück hat, in dem Staate geboren zu sein, wo der Stolz der Deutschen jetzt seinen Schutz und seine Rechtfertigung findet.« Das ist ein ungewohnt höfischer Ton des republikanisch gesinnten Schriftstellers – eines Schriftstellers, der zu den frühen marktabhängigen Berufsschriftschriftstellern gehört, in jenen Jahrzehnten der Ablösung vom höfischen Mäzenatentum.2 Aber nach dem Sensationserfolg des zweiten Romans, des Hesperus, war es stiller geworden um den Schriftsteller Jean Paul. Die Mittel für den Lebensunterhalt flossen nicht mehr so reichlich, und so wäre eine solche, eigentlich fast schon unzeitgemäße Unterstützung durch den Hof ––––––– *

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Vortrag, gehalten am 22.4.2005 anläßlich der 200. Wiederkehr des Besuchs der Königin Luise von Preußen in Wunsiedel, Juni 1805. SW III/5,25f. Vgl. dazu u. a.: Andreas Erb, Schreib-Arbeit. Jean Pauls Erzählen als Inszenierung ›freier‹ Autorschaft. Wiesbaden 1996, sowie Ludwig Fertig, Jean Paul und das moderne Berufsschriftstellertum, in: JJPG 24 (1989), S.93ff.

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willkommen gewesen. Jean Paul läßt flankierend zum Brief an den König seine Beziehungen spielen. Er korrespondiert mit dem Prinzen Georg von Mecklenburg-Strelitz, der ihn ermuntert,3 aber an den Rand des Jean Paulschen Briefes den Vermerk macht: »Da jetzt keine Praebende vacant ist, Suppl. [i.e. Supplikant] auch mit sehr vielen dazu notirten concurriret; so muß er sich gedulden bis Sr: Maj: bei eintretender Vacanz nähere Rücksicht auf ihn nehmen könne.« Der König bestätigt Jean Paul daraufhin ebenfalls die Anwartschaft auf die Präbende, aber eben auch nur diese.4 Nichts weiter. Der Zweck für die Verse, die sich Jean Paul anläßlich der Begegnung mit dem Königspaar auf der Lux- oder Luisenburg in Wunsiedel abgerungen hat und auf die wir gleich noch näher eingehen, war also verfehlt, noch bevor diese zur Aufführung kamen. So scheint denn auch die Aufnahme dieser Darbietung durch Friedrich Wilhelm und Luise eher frostig gewesen zu sein.5 Zwar berichtet Jean Pauls Gattin Karoline Richter, daß ihr Gemahl »durch den Minister Hardenberg, den er überhaupt recht viel sah, dem König nach der Mittagstafel« noch persönlich vorgestellt worden sei – und vor allem: daß bei dieser Gelegenheit dann »die Königin und die Solms [Fürstin von Solms, eine von drei Schwestern Luises] allein beisammen waren«.6 Aber geändert hat das nichts. Jean Paul und Königin Luise – eine befangene Beziehung. Befangen von Seiten Jean Pauls – und ihm wende ich mich vor allem zu, weil umgekehrt von der Königin zu Jean Paul nur wenig Material vorliegt. Befangen, weil das Selbstbewußtsein, die Autonomie des Schriftstellers, die für gewöhnlich sein Stolz ist und als Dauerreflexion dieser Autorschaft seinem Werke zugrunde liegt, hier in Konflikt gerät mit heteronomen, außerpoetischen Absichten. Allerdings bei den verschiedenen Begegnungen des Schriftstellers und der Königin und den diversen Erinnerungen an sie in ganz unterschiedlicher Weise – je nach Dringlichkeit oder gemäß dem Zurücktreten außerliterarischer Absichten. Diese verschiedenen realen und geistigen Begegnungen möchte ich – also hinausgehend über den unmittelbaren Anlaß: Wunsiedel 1805 – im folgenden Revue passieren lassen. Dabei wird sich zeigen, daß die Wunsiedler Verse ––––––– 3 4

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SW III/5,271. Vgl. Kurt Schreinert in seiner Einleitung zu SW I/17, Herbst-Blumine, Weimar 1942, S.XXXVII. Vgl. ebd. – Es gibt zahlreiche Darstellungen dieses Ereignisses, die allesamt zu demselben Ergebnis kommen. Vgl. P. Held, Der Besuch der Königin, in: Der Siebenstern, 12. Jg., 1938, S.147ff. und Elisabeth Jäger, Die Königin Luise von Preußen und die Luisenburg, Vortrag 10.3.1980 in Wunsiedel, S.14ff. SW III/5,282.

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Jean Pauls das Unselbständigste sind, das er poetisch je hervorgebracht hat, daß er hier aus panegyrischem Anlaß zu einem Medium gegriffen hat, das seinen dichterischen Absichten und Fähigkeiten im Wege steht und daß er in anderen einschlägigen Versuchen sich weit mehr diesen Fähigkeiten annähert, nämlich einer Prosa, die zwar auch rhythmisiert sein kann, aber nie gebundene Sprache ist. So läßt sich anhand der verschiedenen Stadien dieser ungleichen Beziehung und ihrer literarischen Resultate etwas für Jean Paul ganz Grundsätzliches, Poetologisches zeigen: Warum Jean Pauls »singende Prosa«, wie sie Max Kommerell einmal genannt hat,7 Prosa bleibt, wie sie funktioniert, und weshalb sie nicht in Verse übertragbar ist. Es gibt neben der Wunsiedler Begegnung zwischen Jean Paul und Luise noch drei weitere, reale oder ideelle – ja sogar, wie ich zeigen möchte, eine bisher noch nie bedachte fünfte. Zweimal hat Jean Paul Luise persönlich getroffen8 – in Sanssouci 1800 und eben in Wunsiedel 1805, einmal hat er sie knapp verfehlt, ist jedoch ihren drei Schwestern begegnet – in Hilburghausen 1799, einmal äußert sich Jean Paul bewegt nach Luisens Tod 1810 und einmal hat er sie in einem seiner Romane sozusagen vorweggenommen: als Klotilde im Hesperus, entstanden zwischen 1792 und 1794. Wir wollen neben den lebensgeschichtlichen Zusammenhängen vor allem die ästhetischliterarischen Implikationen genauer betrachten.

Wunsiedel, Juni 1805 Jean Paul schreibt für das Fest auf der Lux- bzw. Luisenburg im Juni 1805 einen »Wechselgesang der Oreaden und Najaden«, der Berg- und Quellnymphen.9 Die Musik dazu verfaßt der Bayreuther Freund und Arzt Johann Gottfried Langermann. Sie ist nicht erhalten. Der Text wurde dem Königspaar auf einem Privatdruck auf Seide gereicht, sonst aber zunächst nicht veröffentlicht. Erst 1808, unter dem Titel Meine ersten Verse, wird die Dichtung im Morgenblatt publiziert.10 1810 erscheint das Ganze dann noch einmal im von Jean Paul selbst herausgegebenen Sammelband Herbst-Blumine.11 ––––––– 7 8

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Max Kommerell, Jean Paul. 4.Aufl. Frankfurt a.M. 1966, S.30ff. Vgl. Günter de Bruyn, Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende. Berlin 2001, S.38ff. Hier zitiert nach der Ausgabe von Schreinert, SW I/7,159ff. 3. September 1808; vgl. auch Anm.19. Blumine in Anlehnung an Wolkes Eindeutschung von »Flora« – eine gegen Fremdwörter gerichtete Marotte Jean Pauls.

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In der Einleitung zu diesem Text spricht Jean Paul von der Luxburg als einem »erhabenen Vortempel des Sonnentempels der Gebirgskette«, also des Fichtelgebirges.12 Der König und seine Gemahlin hätten dort eine schöne Zeit gehabt. Eine Reise durch ein erfreuetes liebendes Volk und durch die Prunklandschaften voll reizender Fluren und voll seelenerhebender Höhen und zu einem malerischen Ziele, wie das Fichtelgebirge, bleibt auch Fürsten unvergeßlich; nicht jede Fürstenstraße führt durch Volkglück hindurch wieder zur Volkbeglückung.

Jean Paul betont, daß der König an der Aussaat des Krieges in jener Zeit nicht ›mitgesäet‹ habe. Er meint damit die napoleonischen Eroberungskriege und die damals noch versuchte Neutralitätspolitik Preußens, die aber bald – nicht zuletzt auf Betreiben der Königin hin13 – zu Ende sein sollte. Wir befinden uns im Jahr vor dem preußisch-französischen Krieg, der bekanntlich in der Katastrophe von Jena und Auerstedt endete. Die Szenerie der Aufführung seines Werkes beschreibt Jean Paul aus der Erinnerung so: Nachdem das Herrscherpaar durch einen Mädchenchor überrascht worden sei und von diesem von der Umbenennung des Felsengartens in Luisenburg erfahren habe, gab es, »von drei Granit-Türmen gleichsam in einen Felsenkeller eingeschlossen«, die zweite Überraschung: Aus der Tiefe stiegen von der Musik begleitete Stimmen herauf, welche jenen, seinen, Wechselgesang intonierten. In meist daktylisch-reimlosen Versen14 huldigen hier die Berg- und die Quellnymphen gemeinsam dem Königspaar, um dann zunächst die Najaden hervortreten zu lassen, die als vier Schwestern die vier Flüsse Saale, Eger, »Nabe« (Naab) und Main allegorisch verkörpern. Sie huldigen der Königin, welche als Venus Anadyomene apostrophiert wird, als aus dem Meer Geborene. Die Flüsse eilten dem Meere zu, wie es die Herzen zur Schönheit ziehe; und die vier Ströme spiegelten damit als vier Schwestern die königliche Aphrodite. Eine Oreade, durch diese Vereinnahmung herausgefordert, beansprucht hingegen im Wettstreit für sich den Vorrang, denn sie berge die Heilquelle, an der die Erhabenen am längsten verweilten. Darauf entgegnet die Najade der Saale, daß ja sie es sei, die das Königspaar auf dem Rückweg am längsten begleite, da sie in die Elbe münde. Am Ende einigen sich die Kontrahenten: »Wir sind alle gleich, / Denn Sie sind bei uns«, singen sie. ––––––– 12 13 14

SW I/17,160. Vgl. zusammenfassend: Elisabeth Jäger [Anm.5], S.14ff. Zu Jean Pauls unglücklichem Verhältnis zu den Versen und den Reimen vgl. erschöpfend: Eduard Berend, Jean Paul als Verseschmied, in: Hesperus. Blätter der Jean-Paul-Gesellschaft, Nr.15, März 1958, S.20ff.

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Man verzeihe die Inhaltsangabe; aber der Text dürfte, wie seine wenigen Besprechungen zeigen, nicht unmittelbar verständlich sein. Selbst ein erfahrener Leser wie Günter de Bruyn, der Biograph des Luisen-Mythos, gibt den Inhalt nicht ganz korrekt wieder, wenn er schreibt, daß in ihm vier Schwestern durch Flüsse personifiziert würden, »deren Wasser sich ins Meer, deren Schönheit sich aber in die Herzen ergießt«.15 Es werden jedoch nicht Schwestern – de Bruyn denkt an die vier fürstlichen Schwestern – personifiziert, sondern Flüsse allegorisiert; und die Schönheit ergießt sich nicht in die Herzen, sondern die Herzen ergießen sich ins Meer, das durch die Luisen-Anspielung – Luise als Aphrodite – zur mythischen Allegorie der Schönheit wird. Jean Pauls Text fehlt es an Evidenz. Nicht weil die Szenerie und die Personen ins Mythische erhoben werden. Das tut Jean Paul oft und mit großem poetischen Schwung. Sondern weil die bildlichen Figurationen nicht für sich stehen, kein eigenständiges Leben haben, vielmehr ganz uneigenständig dem Herrscherlob unterworfen sind. Sie werden nur benannt, aufgerufen, dienstbar gemacht, treten aber nicht sinnfällig vor Augen. Vor allem aber hindern die klapprigen Verse, das Korsett des metrischen Gleichlaufs, an der für Jean Pauls Prosa so charakteristischen Anspannung und Aufgipflung, die die Sprache ins Unermeßliche zu zerdehnen suchen. Das Versmaß fesselt und beeinträchtigt den Aufschwung, der Versfuß hält die Dichtung trotz aller Überhöhung auf dem Boden bloßer Rhetorik. In den »Gedanken«-Heften, einer Aphorismen-Sammlung Jean Pauls, heißt es,16 daß er wie ein Vogel sei, der »mit gebundenen Füßen (metrisch) nicht auffliegen kan«. Und auch der Autor kann sich nicht wie sonst als auktorialer Erzähler zum Inszenator dieser Erhebung ins Göttliche aufschwingen und damit indirekt, wie es Jean Paul so liebt, sich triumphal selbst inszenieren, sondern muß hinter die szenischen Gegebenheiten zurücktreten und seine PersonenAttrappen agieren lassen. In seinen Briefen äußert sich Jean Paul selbst abfällig über sein MachWerk: »einfache Anspielungen in deutschen Wulst« versteckt seien dies, so in einem Brief an den Minister von Hardenberg.17 Und wenn dieses »Ding« überhaupt gedruckt werden solle, so an den Verleger Mahlmann,18 so gönne

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de Bruyn [Anm.8], S.38. SW II/8,25, Gedanken, 1.Heft, Nr.(138) (1799). SW III/5,39 (2. Mai 1805). SW III/5,47 (22.[?] Juni 1805).

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er es wenigstens nicht der Zeitschrift Der Freimüthige, sondern allenfalls der Zeitung für die elegante Welt.19

Hilburghausen 1799, Sanssouci 1800, Titan »Erstlich denke dir«, schreibt Jean Paul im Mai 1799 an seinen Freund Christian Otto, male dir die himmlische Herzogin [Charlotte von Sachsen-Hilburghausen, H.P.] mit schönen kindlichen Augen – das ganze Gesicht vol Liebe und Reiz und Jugend – mit einer Nachtigallen-Stimrize – und einem Mutterherz – dann denke dir die noch schönere Schwester, die Fürstin von Solms [Friederike, H.P.], und eben so gut – und die dritte Schwester, die Fürstin [Therese, H.P.] von Thurn und Taxis, welche beide mit mir an einem Tage mit den gesunden frohen Kindern ankamen (Erlasse mir die Männer!) Mit der von Solms wolt’ ich in einem Kohlenbergwerk hausen, dürft ich ihren Galan da vorstellen. Diese Wesen lieben und lesen mich recht herzlich und wollen nur, daß ich noch 8 Tage bleibe, um die erhaben-schöne 4te Schwester, die Königin von Preußen zu sehen […].20

Wir vernehmen hier den noch vom Erfolg verwöhnten Autor, den Junggesellen, der in der höfischen Gesellschaft und besonders bei den empfindsamen Frauen als Paradiesvogel herumgereicht wird. Seine adlige Freundin und kurzfristige Verlobte, Karoline von Feuchtersleben, hatte ihn, der aus Weimar kommt, am Hilburghausener Hof eingeführt. Der Königin begegnet er hier noch nicht. Sie wollte ihn nach ihrer Ankunft in die Komödie einladen; sie verpaßte ihn. Dann sollte ihn der Herzog ihr vorstellen, aber der vergaß es.21 Im September 1799 bereits faßt Jean Paul den Plan, den vier schönen Schwestern seinen gerade entstehenden Kardinal-Roman, den Titan, zu widmen.22 Wenig später, im November desselben Jahres, schreibt Jean Paul an die Herzogin von Hilburghausen zu deren Geburtstag: »Bitte um das Glük des 4fachen Jas. Der Titan ist der Morgenstern zum Hesperus oder Abendstern und er sol, wenn dieses Leben eine Wiege des 2ten ist, ein kleines tröstendes Wiegenlied sein.«23 Die Schwestern willigen ein.24 ––––––– 19

20 21 22 23

Ebd. – Berend berichtet, daß der Wechselgesang in einem Bericht über die Ereignisse in der Spenerschen Zeitung am 25. Juni 1805 anonym bereits abgedruckt worden sei. Vgl. SW III/5,283. Brief vom 24. oder 25. Mai 1799, SW III/3,193f. Brief vom 10. Juli 1799 an Friedrich von Oertel, SW II/3,213. An Christian Otto, 28. September 1799, SW III/3,233. 11. November 1799, SW III/3,254.

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Der Traum der Wahrheit, so heißt die Widmung, entstand bereits 1797 separat und wurde nun zur Dedikation umgeschrieben. Die Widmung scheint der Königin geschmeichelt zu haben. Denn sie lädt Jean Paul, als dieser sich vorübergehend in Berlin aufhält, zu einer Privataudienz nach Sanssouci. »Für morgen bin ich durch Ihre gekrönte Charis, die Königin, entschuldigt, der ich den Titan dedizieret und die heute den Brief an mich geschrieben, der morgen meine Reise nach Potsdam veranlaßt«, schreibt Jean Paul am 29. Mai 1800 an Friedrich Nicolai.25 Josefine von Sydow berichtet er Anfang Juni:26 »Ich habe das große Sanssouci und die schöne Königin gesehen und bei ihr gegessen.« »Warum«, so fragt er sich, »hat sie zwei Thronen, da ihr zum Herschen an dem Thron der Schönheit genug sein konnte?« An Gleim in Halberstadt ergeht wenig später eine Schilderung des Besuchs bei der »gekrönten Aphrodite«,27 deren Sprache und Umgang ebenso reizend sei »als ihre edle Musengestalt«. Und: »Sie nahm meine Dedikazion [...] mit vieler Freude auf. – An der Tafel herschte Unbefangenheit und Scherz.« In der für Jean Paul – anders als jene Wunsiedler Verse – so charakteristischen Traumdichtung von 1797, aus der später die Widmung an die vier schönen und edlen Schwestern auf dem Thron geworden ist, figurieren Luise, wie immer bei Jean Paul, als Aphrodite, Charlotte als Aglaja, Therese als Euphrosyne und Friederike als Thalia.28 Es sind, wie in jenen späteren Wunsiedler Versen die Oreaden, Töchter des Jupiter, als die hier die vier fürstlichen Schwestern mythologisch figurieren. Der Aphrodite oder Venus Anadyomene treten hier nun die drei Charitinnen oder Grazien an die Seite, als welche Aglaja, Euphrosyne und Thalia bekannt sind. Jean Paul konnte dies in den beiden wichtigsten mythologischen Lexika seiner Zeit nachlesen, in Benjamin Hederichs Gründlichem mythologischen Lexikon29 und in der Götterlehre seines ersten einflußreichen Bewunderers und Förderers Karl Philipp Moritz.30 Im Gegensatz jedoch zu den späteren Wunsiedler Versen werden hier die Protagonistinnen nicht in ein Rollen-Konzept eingezwängt, demzufolge sie sich statisch gegenüberstehen; vielmehr werden sie in der Phantasie des auktorial Sprechenden zu handelnden Personen. Sie sind nicht nur Na––––––– 24

25 26 27 28 29 30

Das Antwortschreiben der Herzogin stammt vom 18. November 1799; vgl. SW I/8,LXV (Einleitung Berends zur Edition des Titan). SW III/3,337. 10. Juni 1800, SW III/3,340. 14. Juni, a.a.O., SW III/3,341f. Vgl. SW I/8,5. Leipzig 1770, Sp.1176ff. Karl Philipp Moritz, Götterlehre oder mythologische Dichtung der Alten. Berlin 1791, hier nach dem Nachdruck von 1979 (Frankfurt a. M.), S.226ff.

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men, sondern, so das poetische Konzept, werden zum Leben erweckt. Als Göttinnen, die sich aus freiem Entschluß in sterbliche Menschen verwandeln, sollen sie in sinnlicher Gestalt vor Augen treten. Dichtung beansprucht hier im Gegensatz zu allegorischer Versinnbildlichung Evidenz. Um der Seufzer der »Hülflosen« willen nehmen die vier den Erdenschleier und kleiden sich ein in unsere Gestalt. Sie werden Menschen und Schwestern und ihre Herzen schlagen voll Liebe. Sie blicken ihre Kinder an, in die sich die sie begleitenden Genien und Amorinen verwandelt haben, und selig-erweicht verstummen sie und lassen die Musik sprechen. »Brodverwandlung« nennt Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik in Anlehnung an die christliche Eucharistie das Prinzip der modernen, romantischen Poesie.31 Gemeint ist die freie Lizenz der dichterischen Phantasie, das Menschliche ins Göttliche und das Göttliche ins Menschliche zu verwandeln. Das Medium dieser Verwandlung ist die Einbildungskraft. Es sind die inneren Bilder, nicht die platte Wiedergabe äußerer Natur, die diese Verwandlungen vors Auge treten lassen. Deshalb ist der Traum eine der wichtigsten poetischen Konfigurationen in Jean Pauls Dichtung. Der Traum der Wahrheit knüpft an an die großen Traumdichtungen des Hesperus oder des Siebenkäs. Und es ist auch kein Zufall, daß gerade der Titan mit einer solchen eingeleitet wird, denn in keinem Roman sonst von Jean Paul werden, wie schon der Titel anzeigt, so sehr Menschen in Götter verwandelt wie anfangs Götter in Menschen. Die Sprache dieser Traumdichtung ist, so könnte man im Hinblick auf die Wunsiedler Verse sagen, eine entfesselte, eine vom Gleichlauf des Metrums entbundene. Zwar finden sich auch hier metrische Anklänge, wie die daktylische Rhythmisierung im vorletzten Absatz: »Da wurden sie Menschen und Schwestern und nannten sich Luise, Charlotte, Therese, Friederike«.32 Aber das eigentliche, für Jean Pauls singende Prosa charakteristische Satzmuster folgt erst: Und als die weiße Fahne des blühenden Frühlings flatterte – und menschlichere Thronen vor ihnen standen – und als sie, von der Liebe, der Harmonika des Lebens, selig-erweicht, sich und die glücklichen Kinder anblickten und verstummten vor Lieb’ und Seligkeit: so schwebte unsichtbar Polyhymnia vorüber und erkannte sie und gab ihnen Töne, womit das Herz Lieb’ und Freude sagt und gibt …….

Das ist noch ein vergleichsweise kurzer Satz; ähnliche können sich über eine ganze Druckseite erstrecken. Ihr Prinzip ist das der Anspannung, der Erwartung und das der endlich eintretenden Entspannung im Nachsatz (... als ... als ––––––– 31 32

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, I. Programm, §4 , SW I/11,34. SW I/8,5.

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... – so ...). Statt Gleichmaß gibt es hier Steigerung, Aufstauung, Aufgipfelung, die zum Drang wird, zum emotionalen Erlebnis, zur immer atemloser werdenden Sehnsucht nach Entladung und zur Erleichterung in dieser. Jean Pauls Traumvisionen sind inneres Geschehen und wollen inneres Geschehen: Schrankenlosigkeit, Haltlosigkeit im Aufschwung, und dann doch den erlösenden Einhalt. Das unterliegt auch einem Rhythmus, aber nicht dem des Verses, sondern dem des quasi-musikalischen Spannungsbogens, der nur in Prosa zu haben ist. Der Autor, der sich bei Jean Paul ja immer auch selbst mitfeiert, ist der Seeleningenieur, der diese psychischen Effekte souverän kalkuliert. In der Vorschule, die ja ein Jahr vor dem Wunsiedler Ereignis erschienen ist, ist im §86 vom »Wohlklang der Prose« die Rede.33 »[S]ogar der Prosaist«, so heißt es da, »verlangt und ringt in Begeisterungsstellen nach dem höchsten Wohlklang, nach Silbenmaß, und er will, wie in dem Frühling, in der Jugend, in der Liebe, in dem warmen Lande, gleich allen diesen ordentlich singen«. Aber es gebe eben auch eine andere Art des Singens, einen prosaischen Rhythmus, der anders als in der metrisch gebundenen Poesie nicht den freien Flug des Gedankens – oder man könnte genauer noch sagen: den der Einbildungskraft des Autors, beeinträchtige. An anderer Stelle, in der Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule,34 schreibt Jean Paul über die Schwierigkeiten dieser Prosa: »Die Prose wiederholet nichts, das Gedicht so viel.«35 Der prosaische Rhythmus wechsle unaufhörlich, das poetische Metrum dauere das ganze Gedicht hindurch. Deshalb gebe es in der Prosa mehr Freiheit, aber auch mehr Willkür und Gefahren. Die Eigentümlichkeit des Schriftstellers komme in ihr mehr zur Geltung, im Gelingen wie im Scheitern. Aber da es bei Jean Paul immer auch um diese Eigentümlichkeit und die Möglichkeit der Selbstinszenierung in ihr geht, ist für ihn die Prosa der eigentliche Ort des Stils. Und der Stil, das ist nach Buffon der Mensch selbst. Für Jean Paul könnte man zugespitzt sagen: nur im Stil des Schreibens ist er Mensch. Nun haben wir jedoch gesehen, daß Jean Pauls Traum der Wahrheit im Vergleich zu seinen anderen Traumdichtungen recht verhalten wirkt. Nur in Bezug auf diese vermögen wir jene überhaupt recht zu erkennen. Woran liegt das? Kehren wir zurück zur Mythologie, von der der Text ausgeht. Die Chariten oder Grazien, die der Venus an die Seite gestellt sind, sind mit den Musen und mit Amor verbunden, sie sind das Inbild der Anmut, aber auch Göttinnen ––––––– 33 34 35

SW I/11,303ff. Zuerst erschienen 1825, hier nach der Ausgabe von Norbert Miller, I/5,484ff. I/5,485.

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der »Annehmlichkeit, Wohltaten und Dankbarkeit«.36 Ihnen wird gegeben, wird geopfert, aber sie sorgen auch dafür, daß großherzig zurückgegeben wird. Es sieht ganz so aus, als hätte Jean Paul das andeuten wollen: Die Widmung ist eine Opfergabe mit der Hoffnung auf eine Gegengabe. Zwar war der Text ursprünglich nicht als Widmung gedacht, sondern wohl eher als Huldigung, zwar vermeidet der Autor jegliche direkte Aussprache von bestimmten Absichten, ja er vermeidet sogar überhaupt sorgfältig, von sich zu sprechen. Aber die Absicht scheint gleichwohl durch; Jean Paul hat sich wohl bereits in dieser frühen Phase etwas materiell Zählbares erhofft. Und Absicht, Zweckgebundenheit und freier Schwung der Phantasie kommen einander offenbar in die Quere. Der poetische Enthusiasmus wirkt steif, weil darin auch eine Verbeugung voller Hintergedanken zu erkennen ist. Ich würde zwar nicht so weit gehen wie Kurt Wölfel, der erste und bislang, so weit ich sehe, einzige, der diese Stelle bisher einer separaten Würdigung für Wert befunden hat.37 Wölfel bescheinigt dem Text »poetische Dürftigkeit«. Das Urteil hängt jedoch davon ab, welche Texte man als Vergleich heranzieht. Geht man von anderen Traumdichtungen aus,38 so ist daran zweifellos etwas Wahres. Kommt man von Jean Pauls Versuchen in gebundener Rede her, ist diese Widmung gleichwohl ein poetisches Aufatmen. Doch es bleibt der Befund des Zwiespältigen. Dies gilt gerade auch im Hinblick auf den Schluß. Der Traum ist geendigt, so heißt es, und das Erwachen bestätigt den Traum. »Und der Traum war geendigt und erfüllt; er hatte, wie immer, nach der Wirklichkeit und dem Wachen sich gebildet.«39 Auch in der Wirklichkeit finden sich vier Göttinnen auf dem Thron. Diese Homologie von Traum-Dichtung und Wirklichkeit widerspricht Jean Pauls Auffassung vom Wesen der Poesie. »[S]ie ist kein platter Spiegel der Gegenwart«, heißt es in der »Kantate-Vorlesung« zur Vorschule,40 »sondern der Zauberspiegel der Zeit, welche nicht ist«. Alle gegenteilige Behauptung hat einen heteronomen Grund, einen außerhalb der Eigengesetzlichkeit der Dichtung, und beeinträchtigt daher deren Glaubwürdigkeit.

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Hederich [Anm.29], Sp.1177. Kurt Wölfel, »Der Traum der Wahrheit«. Über das Widmungsschreiben von Jean Pauls »Titan«, in: K.W., Jean-Paul-Studien, hrsg. von Bernhard Buschendorf. Frankfurt a.M. 1989, S.301ff. Wölfel vergleicht den Text mit dem Tod eines Engels aus dem Quintus Fixlein, ebd., S.302f. SW I/8,6. I/5,447.

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Klotilde? Hesperus? Als Dank für die Einwilligung schreibt Jean Paul Mitte Mai 1800 an die Königin einen Brief.41 In ihm befindet sich ein Hinweis, dem bislang noch niemand nachgegangen ist, der aber in unserem Zusammenhang von Belang ist. Er sagt da, daß es ein Geschenk für ihn sei, vor sein zweites Lieblingswerk den Namen Luise stellen zu dürfen, »wie wohl derselbe [Name] schon in seinem ersten unter dem Namen Klotilde die Heldin bezeichnete«. Das erste Lieblingswerk aber ist der Hesperus, Klotilde seine Heldin. Es wurde 1792 bis 94 geschrieben. Im Dezember 1793 kam Luise als Braut nach Berlin und wurde als Siebzehnjährige wegen ihrer Schönheit und ihres Liebreizes sofort in ganz Deutschland berühmt. Gut möglich also, daß Jean Paul bereits bei der Abfassung seines Erfolgsromans an sie dachte. Im Roman selbst heißt es zwar: »Die Göttin Klotilde fügt’ ich aus zwei weiblichen Engeln zusammen«,42 und man weiß, daß damit zwei damalige Freundinnen Jean Pauls, Amöne Herold und Beate von Spangenberg, gemeint sind. Aber in einer bislang unbeachteten Notiz der Nachlaßhefte-Hefte von 1797 findet sich auch bereits der Hinweis: »Luise (im Altfranzösischen Clotilde, so auch im Hesperus)…«43 In der Tat ist französisch Louise aus der Wurzel »Chlod-« abgeleitet. Die Stelle könnte sich also auch auf die Königin beziehen; jedenfalls ist Jean Paul die Namensgleichheit bereits lange vor der Widmung gegenwärtig. Und anders, aber genauso wichtig sind die Hinweise Jean Pauls in Briefen an Josephine von Sydow und Christian Otto, daß er nämlich zu Klotilde gar keine bestimmten Vorbilder gehabt habe, sondern aus seiner Imagination heraus eine künftige Wirklichkeit vorweggeschrieben habe.44 Dies trifft es wohl am ehesten: Die freie poetische Einbildung – ungetrübt durch Absichten und durch Gegebenheiten des Lebens – adelt die Figuren am besten und bewirkt jene Himmelfahrten der Sterblichen und Epiphanien der Götter und Göttinnen, von denen seine Dichtung lebt. Und: Das Leben vorausschreiben – ist das nicht jener eigentliche Triumph der Autorschaft, die sich durchs Schreiben völlig eigenwillig die Welt und dazu, schöpfergleich, die eigene Unsterblichkeit schafft? Jean Paul sieht in Luise wohl die Inkarnation seiner vorweggeschriebenen Dichtung, so wie er sein

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SW III/3,355. 45. Hundposttag, SW I/4,328. SW II/6,96 (Dichtungen 2, 1797, Nr.393). Zitiert nach der Einleitung Berends, SW I/3,XXXI.

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eigenes Leben zu leben sucht als reines Schrift-Dasein, wie er es in der »Konjektural-Biographie« vorweggenommen hat.45 Wie auch immer: Die Sprache, mit der Klotilde im Hesperus evoziert wird, ihre poetischen Thronbesteigungen und Transfigurationen, lassen erst wirklich erahnen, was Jean Pauls singende Prosa im Hinblick auf Königinnen kann – sollte er auch erst später dabei an Luise gedacht haben und der Gedanke an sie durch Beimischung anderer Gedanken beeinträchtigt worden sein. Wenn Flamin, einer der Protagonisten des Hesperus, sich Klotilde ausmalt, dann klingt das so: Wenn mein Ich ein einziger Gedanke ist und brennt, und wenn ich, von Flammen umweht, die Hand in Farben tauche, um mich darin abzukühlen – wenn dann die hohe Schönheit, die ewig in mir stralet, ihr Spiegelbild auf die Wellen, die Himmel und die Erde zitternd malen, herunterfallen lässet, und den klaren Strom entflammt, wenn alsdann ein dem Himmel entsunkenes Pallasbild auf dem Strome ruht, eine Lilienhülle und eines aufgeflognen Engels weggelegte Flügeldecke – eine Gestalt, deren unbefleckte Seele kein Leib, sondern der Schnee umwallet, der um den Thron Gottes liegt, und aus dem Engel ihre flüchtigen Reisekörper bauen – und wenn die zärteste Bekleidung zu grob und zu hart und ein hölzerner Rahmen um diesen geistigen Hauch auf dem Antlitz wird, um diesen zitternden Blumensammet von Fleisch, um diese Haut aus weißen Rosen, von rothen durchglommen – wenn dieser Wiederschein meiner leuchtenden Seele auf die Farbenfläche fällt; so wendet sich jeder um und denkt: Klotilde ruht am Ufer und schlummert…46

Oder man nehme eine der vielen Traumvisionen des Textes, in welchen Klotilde in Erscheinung tritt: Da klammerten sich an die Purpurgipfel der Eisberge weiße Schmetterlinge, weiße Tauben, weiße Schwanen mit ausgespannten Flügeln wie mit Armen an, und hinter den Bergen wurden gleichsam von einer übermäßigen Entzückung Blüten emporgeworfen und Sterne und Kränze – Da stand auf dem höchsten, in lichtem Glanz und Purpurlohe ruhenden Eisberg Klotilde verherrlicht, geheiligt, überirdisch entzückt, und an ihrem Herzen flatterte eine Nebelkugel, die aus aufgelösten kleinen Tränen bestand, und auf welches Horions [des Lords, eines anderen Protagonisten] blasses Bild gezeichnet war, und Klotilde breitete die Arme auseinander.47

Man braucht das nach dem vorher Gesagten kaum zu kommentieren. Erst an solchen Stellen wirkt Jean Pauls Sprache ganz entfesselt, befreit fast von gegenständlich-beschreibendem Sinn – so daß Stefan George, nach einem, den Franzosen gleichkommenden Vorbild für absolute Poesie suchend, sagen ––––––– 45

46 47

Vgl. dazu: Jean Paul, Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften, hrsg. von H.P. München 2004. SW I/3,63 (4. Hundposttag). SW I/3,284 (19. Hundposttag).

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konnte, daß in diesen Träumen und Gesichten »unsre sprache den erhabensten flug genommen hat dessen sie bis zu diesen tagen fähig war«.48

1810 Am 19. Juli 1810 starb Luise 34-jährig. Der frühe Tod der inzwischen längst zum Mythos gewordenen Königin erschüttert ganz Deutschland und löst viele, auch literarische Reaktionen aus. Achim von Arnim etwa und Clemens Brentano schreiben Kantaten für eine Trauerfeier.49 Auch Jean Paul äußert sich zu dem Trauerfall – brieflich an den Bruder des Königs, den Erbprinzen von Mecklenburg-Strelitz, und an den König selbst,50 öffentlich mit ›Schmerzlich-tröstenden Erinnerungen an den neunzehnten Julius 1810‹, die er ebenfalls in seinen Sammelband Herbst-Blumine einrückt.51 Zunächst war dieses Totengedenken wieder als Traum-Dichtung geplant,52 als Traum vor der Geburt, als Traum ihrer Mutter vor Luisens Tod oder bei deren Vermählung, als Traum ihres Begräbnisses, als Traum der Sterbenden und so fort. Dann jedoch entscheidet Jean Paul sich für eine andere, für seine Prosagedichte ebenfalls höchst charakteristische Form. Er nennt sie Streckvers oder Polymeter. Im Hinblick auf Luise zieht Jean Paul, wenn auch in Miniatur-Form, alle seine Register. Man kann daran in nuce seine Möglichkeiten metrischer und nicht-metrischer, aber einem eigenwilligen Rhythmus folgender Prosa studieren. Dies ist über das rein Biographische hinaus das eigentlich Interessante am Thema »Jean Paul und Königin Luise«. Polymeter oder Streckverse werden nach zahlreichen Versuchen vorher53 in den Mittelpunkt der Flegeljahre von 1804 und 1805 gestellt. Bereits der Name, den Jean Paul wählt, bezeichnet ein Paradoxon: Es geht um Metrisches, das aber durch Streckung aufgehoben ist. Es bleibt Klang und Andeutung eines Rhythmus ohne Gleichklang – »Wohlklang der Prose« also, wie Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik sagt.54 ––––––– 48 49

50 51 52 53

54

Hier nach Peter Sprengel, Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. München 1980, S.LXXf. Vgl. u.a. Hermann Dreyhaus, Die Königin Luise in der Dichtung. Berlin 1926, S.52ff. und – nüchterner – Alexander Schölch, Der Luisenmythos in der deutschen Literatur der Romantik. Magisterarbeit. Erlangen 1998/99, S.41ff. Briefe vom 2. November 1810, SW III/6,144f. Erstes Bändchen, SW I/17,101ff. Vgl. die Einleitung Schreinerts zu SW I/17,XXVIII. Vgl. Peter Horst Neumann, Streckvers und poetische Enklave. Zu Entstehungsgeschichte und Form der Prosagedichte Jean Pauls, in: JJPG 2 (1967), S.13ff. §86, SW I/11,303.

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Helmut Pfotenhauer

Auch jenen Wunsiedler ›ersten Versen‹ sind in der Druckfassung von 1810 als eine Art Anhang solche Polymeter beigegeben,55 so, als wollte Jean Paul zeigen, daß er es auch besser kann. Hier nun ergeht er sich ganz in diesen, oft den Traumvisionen, oft aber auch den griechischen Epigrammen nahen, quasi singenden poetischen Miniaturen: Als Du das weiße Brautkleid für eine höhere, für uns nur bleiche Welt anlegtest und der Erde deine Krone zurückwarfst und nur mit dem Erntekranz Deiner ausgesäeten Ernten auf dem Haupte empor gingst: da weinte, wer von Dir gehört; da weinte noch mehr, wer Dich gesehen; aber die, die Du an Dein Herz gedrückt, konnten damals keine Thränen vergießen; und nachher keine mehr zählen.56

Oder: Ihr Leben war uns ein Blumengarten voll Thau, und wie sich die Blumen bewegten, zeigten sich die reinen Thauperlen als neue Edelsteine; da nahm die Sonne die vom Himmel gesandten Tropfen wieder hinauf – und die Blumen standen als ihre Zypressen (i. e. Toten-Bäume) da.

Am Ende des kleinen Textes läßt Jean Paul Luises Genius auftreten. Dieser fragt das Schicksal, welchen Kranz oder welche Krone er Luise aufsetzen solle, den Blumenkranz der Schönheit, den Myrtenkranz der Ehe, die Krone eines Königs, den Lorbeer- und Eichenkranz deutscher Vaterlandsliebe oder eine Dornenkrone. Und das Schicksal antwortet: Gib ihr alle, aber dazu noch den, der alle übrigen belohnt, den Totenkranz. Denn wenn er vonnöten ist, tritt auch der Erlöser von all dem Leid in Erscheinung: der Gott der Christen. Es ist überliefert, daß eine der hinterbliebenen Schwestern Luises, Friederike von Solms-Braunfels von Jean Pauls Text tief beeindruckt war.57 Wie der König reagiert hat, wissen wir nicht. Gut möglich, daß Jean Paul sich bei dieser Gelegenheit noch einmal eine finanzielle Zuwendung erhofft hat, die er dann wieder nicht bekam.58 Jean Pauls Prosa-Dichtung merkt man diesen wohl allmählich verblassenden Hintergedanken aber kaum mehr an.

Und Luise? Ich habe bisher fast ausschließlich im Hinblick oder aus der Sicht von Jean Paul gesprochen. Das hat mit der Quellenlage zu tun: Von Luise sind ein––––––– 55 56 57

58

Eilf Zeit-Polymeter auf den letzten Tag von 1807, SW I/17,163ff. SW I/17,101. S. Warda-Diesch, Briefe an und von Johann George Scheffner, 4.Bd., 1931, S.366 (nach SW I/17,XXVIII). Im Oktober 1807 jedenfalls hatte er es mit einer Eingabe an das preußische Königspaar noch einmal versucht (vgl. SW III/5,395).

Jean Paul und Königin Luise

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schlägige Äußerungen kaum überliefert. Der auf den ersten Blick vielleicht gegenüber der vornehmen Dame etwas unhöflich klingende Titel meines Vortrags: »Jean Paul und Königin Luise« hat also seinen ebenso einfachen wie guten Grund. Luise, in den 90er Jahren sicherlich eine Leserin Jean Pauls, dürfte sich, wie ihre Schwestern, durch die Widmung des Titan von seiten des damals ja berühmten Schriftstellers geschmeichelt gefühlt haben. Aber die Wunsiedler Irritation vom Juni 1805 geht sicherlich nicht nur auf Jean Pauls mißglückten Auftritt dort zurück. Sie ist vielmehr ein Indiz für die Kehrseite von Luisens Einstellung gegenüber dem Schriftsteller. Diese zeugt von Befremden und Überdruß. In einem Brief Luisens an Frau von Krüdener, Jean Pauls verstoßener Freundin der 90er Jahre,59 schreibt die Königin, daß »sein Mangel an Geschmack und selbst an Takt nicht mit meiner Gefühlsweise übereinstimmt. Ich liebe nicht das Amalgam von Trivialem und erhabenen Ideen, diese Mischung von Heiligem und Profanem …«60 Luise schließt sich in ihrem Urteil dem zeitgenössischen Geschmack an, der die von Jean Paul so nachdrücklich vertretene Mischung aus Witz und Satire auf der einen und von Sprachenthusiasmus auf der anderen Seite eher skeptisch gegenübersteht.61 Jean Paul muß unaufhörlich schreiben, um die vertrackte Balance zwischen niedrigem und hohen Stil zu halten – der eine ohne den andern wäre für ihn unerträglich gewesen. Er schreibt – zunehmend skeptisch aber gegenüber seinen eigenen erhabenen Szenerien und Gestalten. Das Schreiben wird immer wichtiger und rücksichtsloser; es wird zunehmend zum Selbstzweck. Das wirkliche Leben und das Publikum entfernen sich von ihm. Auch dafür mögen die wirklichen und eingebildeten Begegnungen zwischen Jean Paul und Königin Luise, die von Wunsiedel vor 200 Jahren zumal, ein Beispiel sein.

––––––– 59

60

61

Vgl. Günter de Bruyn, Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Frankfurt a.M. 1978, S.186ff. Vgl. Tessa Klatt, Königin Luise von Preußen in der Zeit der napoleonischen Kriege. Berlin 1937, S.119 (zitiert nach SW I/17,XXXVII). Vgl. noch einmal Peter Sprengel [Anm.48] zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls um 1800, S.XXVIIIff.

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Abb.1: Doppelporträt von Luise und Frederike von Mecklenburg-Strelitz. Bildnisgruppe von Johann Gottfried Schadow 1794/95.

Jean Paul und Königin Luise

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Abb.2: Ölbild der Königin Luise im Großen Rathaussaal Wunsiedel, 1980 von Wilhelm Koerber (Berlin) gemalt. Original von Joseph Grassi (1802) im Charlottenburger Schloß.

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Abb.3: Felspartie der Luisenburg. Stahlstich der Zeit, nach SW III/5,48/49.

Abb.4: Aufgang zur Luxburg. Sepiazeichnung von Fritz von Dungern, 1799. Archiv Ley.

MARISA SIGUAN BOEHMER

WENN ES CALDERÓN NICHT GEGEBEN HÄTTE, DIE DEUTSCHEN HÄTTEN IHN ERFUNDEN: DEUTSCHE ROMANTIK UND SPANISCHES BAROCK*

Wir alle sind krank und verstehen nur jene Bücher zu lesen, die von unserer Krankheit handeln Jean Cocteau, Die Schwierigkeit, zu sein Die Reisen sind die Reisenden. Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern das, was wir sind. Wie die Reisen, so die Lektüre, und wie die Lektüre, so alles übrige. Fernando Pessoa, Buch der Unruhe Dichtkunst, wie alles Göttliche im Menschen, ist an Zeit und Ort gekettet und muß immer ein Zimmermanns-Sohn oder ein Jude werden; aber in anderer Zeit kann der Stand der Erniedrigung schon auf dem Berge Tabor anfangen, und die Verklärung auf einer Sonne vorgehen und blenden. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (I/5,92)

1. Narrare necesse est: Die Spannung zwischen Universalem und Individuellem Cocteau und Pessoa sprechen das radikal Individuelle der Erfahrung, auch der literarischen Erfahrung an. Sie zeigen sich damit als Erben der Moderne, die von der Romantik aus definiert wird, und thematisieren das Lesen als Projektion, als Besitzergreifung. Jean Paul spricht von der Dichtung als zeitund ortsgebunden, um zugleich ihre Vermittlung über Grenzen und Sprachen hinweg, ihr »Wanderschicksal«, zum Gegenstand zu machen. In seinen Ausführungen über gelehrte Zeitungen warnt er mögliche Rezensenten vor der Untrüglichkeit der literarischen Werturteile:

––––––– *

Vortrag, Universität Würzburg, Juni 2006. Der Text hat die Vortragsform möglichst beibehalten.

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Marisa Siguan Boehmer

Haltet euch, meine Amtbrüder, nicht für untrüglich, da es nicht einmal der Genius ist; sondern bedenkt, daß, so wenig ein Einzelwesen im Besitze aller Wahrheiten, ebensowenig eines im Besitze des Geschmacks für alle Schönheiten sein kann. Bedenkt, wie ganze Völker und Zeiten einen Aristophanes, einen Shakespeare und Calderon verwarfen und verwerfen, und ein Corneille einen Racine – [...] Richtamtbrüder! bedenkt dies alles und bleibt noch unbescheiden, wenn ihr könnt!1

Jean Paul liefert damit ein Plädoyer für die Vielfältigkeit des Literarischen und für die Individualität der interpretatorischen Werturteile. Dass er dabei Calderón zitiert, ist sicher ein Zeichen für die Calderón-Begeisterung seiner Zeitgenossen, obwohl er selber nicht unbedingt in sie einstimmt, zumindest nicht vorbehaltlos. Die Verweise auf Calderón sind bei ihm spärlich und meistens nicht eindeutig. Tatsache ist aber, dass er darauf anspielt, und dass seine Zeit der Rezeption von fremden Kulturen besonders aufgeschlossen gegenübersteht. Tatsache ist auch, dass zu seiner Zeit eben jenes Lesen als individuelle Projektion einsetzt, das Cocteau und Pessoa – sozusagen als Werthers Erben, des projektiven Lesers schlechthin – befürworten. Unter den fremden Kulturen, die für die Romantiker einen hohen Faszinationswert haben, spielt die spanische eine besondere Rolle. Dieser Beitrag geht auf einige Aspekte der Calderón-Rezeption in Deutschland ein und stellt sich dabei folgende Fragen: – Wie hat die deutsche Romantik die spanische Barockliteratur gelesen, übersetzt, übertragen, sich angeeignet? Wie ist sie zu ihr gekommen? – Was lässt sich daraus für das Selbstverständnis der Romantiker schließen? Jede literarische Epoche konstituiert sich, indem sie ein Normgefüge aufstellt, das sich mit der Tradition auseinandersetzt. Das Projekt der Moderne, das die Frühromantik entwickelt, nutzt in einem hohen Maße die Auseinandersetzung mit fremden Traditionen, unter ihnen an wichtiger Stelle die spanische, um sich zu definieren, um die eigenen Positionen zu festigen. Rezeption einer bestimmten Tradition der Vergangenheit ist damit so etwas wie funktionalisiertes Erinnern. Um mit Jan Assmann zu sprechen: Traditionen sind nur gegen Traditionen, Vergangenheit nur gegen Vergangenheit austauschbar. Die Gesellschaft übernimmt nicht neue Ideen und setzt diese an Stelle ihrer Vergangenheit, sondern sie bestimmt die Vergangenheit anderer als der bisher bestimmenden Gruppen.2

––––––– 1 2

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, I/5,373f. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S.42

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Es geht hier nun darum, diese produktive Nutzung der Tradition, dieses funktionalisierte Erinnern, auszuleuchten. Dabei habe ich Rezeption als eine Art von Funktionalisierung gesehen. Um mit einem Zitat von Herder über den Kunstkritiker zu beginnen: Denn wen verdammt, wen lobet sein Urtheil? Nicht das Werk, sondern sich selbst; jenes bestehet für sich, wie es ist, gut oder böse; in der Kritik ist von seinem Urtheil die Rede.3

Plakativ gesprochen heißt das: die Kunstkritik spricht weniger von den Werken als von den Kritikern. Die jungen Frühromantiker suchen das Fremde und die Fremde auf und nutzen sie systematisch für die Definition der eigenen Identität und Poetik, um ihre eigene Modernität zu festigen, ihre Poetik zu untermauern. Dieses Suchen und Entdecken des Fremden geht einher mit den Veränderungen der Lesegewohnheiten um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Aufklärung hat das »Viel-und-alles«-Lesen befürwortet, ein Lesen, das nicht mehr Suche nach Autorität in den relativ wenigen, großen Werken der Tradition ist, sondern genau das Gegenteil. Dieses Lesen steht im Dienste des Mündigwerdens, das nicht nach anderen Autoritäten strebt, sondern eine eigene auszubilden sucht. Somit ändert sich die Funktion des Lesens auf eine fundamentale Weise: Der moderne Leser liest viel, liest alles, um zu wissen, um mündig zu werden. Letzten Endes liest er, um sich selbst zu definieren. Das Lesen wird ein Mittel zur Konstruktion der eigenen Identität. Der Leser sucht und liest sich selber im Buch (wie Werther!). Der enzyklopädische Sammelgeist durchbricht damit die Fundamente des Gebäudes der klassischen Poetik, bereitet den Boden für die Distanzierung von der Ästhetik der französischen klassizistischen Traditionsnorm. Er beleuchtet nämlich alles, auch das, was nicht in den Kanon gehört, und zwingt damit zu neuen ästhetischen Kriterien und Ordnungsprinzipien. Die Beschreibung der Vielfalt des Literarischen führt zur Entdeckung der Universalität des Literarischen. Der Maßstab, dem es gerecht wird, ist nicht mehr der des Kanons der klassischen Tradition, sondern der der individuellen Merkmale, die an jener Vielfalt teilhaben. Herder begibt sich im Jahr 1769 auf eine Seereise, in der er vor seiner Arbeit in Riga und vor seinem bisherigen Leben flieht. Die Faszination durch die ––––––– 3

Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Carl Redlich und Reinhold Steig. Berlin 1877–1913. Bd.XXII: Kalligone. Von Kunst und Kunstrichterei. Zweiter Theil. 1800, S.123–224, hier S.197.

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See, durch den weiten Horizont mit unklaren Konturen, der schwärmerische Schwebezustand der Reise, bringt ihn auf Überlegungen über den Ursprung des Erzählens: Nun nehme man diese Begierde, Wunder zu sehen, diese Gewohnheit des Auges, zuerst Wunder zu finden, zusammen: wo werden wahre Erzählungen? Wie wird alles Poetisch? Ohne daß man lügen kann und will, wird Herodot ein Dichter; wie neu ist er und Orpheus und Homer und Pindar und die Tragischen Dichter in diesem Betracht zu lesen!4

Das navigare necesse est wird zum narrare necesse est, könnte man sagen. Wenn Herder bewundernd das universale Dichtungsvermögen der Menschheit entdeckt und nach neuen Kriterien eine neue Theorie der Fabel, »eine Genetische Erklärung des Wunderbaren und Abentheuerlichen aus der Menschlichen Natur, eine Logik für das Dichtungsvermögen«5 fordert, trägt er auf entscheidende Weise zum Zusammenbruch der normativen klassizistischen Poetik bei. Denn die Entdeckung des universalen Dichtungsvermögen der Menschen hat die positive Bewertung der individuellen Unterschiede in diesem Universum zur Folge, und damit verliert die klassische Poetik als einheitliches normatives Bewertungsinstrument ihre Berechtigung. Der Import von Literatur, ganz besonders der Literatur, die sich nicht direkt in den klassizistischen Kanon einfügen lässt, wird für die romantische Definition von Modernität relevant. Für diese Definition von Modernität aber, für das Aufstellen eines neuen Kanons, für den Verstoß gegen das Normgefüge der Aufklärung, spielt die spanische Literatur, besonders die des Siglo de Oro, eine große Rolle.

2. Die neue Mythologie: Literatur als allegorische Chiffrenschrift Wie bekannt, ist Göttingen der Ausgangspunkt der hispanistischen Studien der Romantiker. Dort betreiben die Brüder Schlegel und später Tieck ihre ersten spanischen Studien, dort befinden sich in den Bibliotheksbeständen unter anderen Ginés Pérez de Hitas Maurenroman Las guerras civiles de Granada, der Cancionero de Romances (Amberes 1568) und die Romances líricos von Luis de Góngora (Brüsseler Edition von 1659, 4). Im Jahre 1789 waren in Bertuchs Magazin Übersetzungsproben des Romans von Pérez de Hita erschienen, Herder ––––––– 4

5

Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Carl Redlich und Reinhold Steig. Berlin 1877–1913. Bd.IV: Journal meiner Reise im Jahr 1769, S.359. Ebd., S.360.

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hatte ihn schon für seine Übersetzungen spanischer Romanzen herangezogen.6 1797 wird Friedrich Schlegel vom Buchhändler Unger die Übersetzung des Don Quijote angeboten. Friedrich Schlegel gibt das Angebot an seinen Bruder weiter, und August Wilhelm schlägt schließlich Tieck als Übersetzer vor. Tieck überträgt den Quijote, und das führt ihn zu Lope und Calderón, zu Boscán und Garcilaso. Rückblickend schreibt er: Ich war von der reichen Aussicht in diese Poesie hinein entzückt. Diese mir neue Art, künstliche Versmaße, lyrische Ergüsse in das Drama einzuführen, schien mir für gewisse Gegenstände trefflich. Ich glaubte, man könne noch auf andre Art wie die Alten die Erzählung und Lyrik in den Dialog einführen, und wohl auf seltsame Weise Fels und Wald, die einsame Natur, die Gefühle der Andacht, die Wunder der Legende, im Gegensatz mit der bewegten Leidenschaft, und das Unglaubliche in Verbindung mit der nächsten und überzeugendsten Gegenwart vortragen.7

Damit wird konsequent eine der normativen klassizistischen Poetik entgegengesetzte Tradition aufgerufen, in der die Vermischung der Gattungen, die Verbindung von Lyrik und Erzählung mit dem Dramatischen gefordert wird. Eine Ästhetik der Sprache wird entdeckt, die die Autonomie der Kunst gegenüber der Wirklichkeit befürwortet. Tieck fährt fort: [...] alles ist, auch das fernste Altertum, auch die Einsamkeit des Gebirges, das Furchtbare der Räuberbanden durch die Sprache und den wohllautenden Vers des Hofes, nahe gebracht, in die nächste Gegenwart versetzt und aufgelöst, und durch spitzfindige Dialektik, künstliche Rhythmik, selbst Künstelei in Anlage und Ausführung in die verständlichste Erleuchtung der Bühne und in das Leben derselben gezogen: so daß Alles, in einer Linie, dicht vor den Augen des Zuschauers geschieht, ohne der Zeit und Raum, dem Costum, den Sitten, der Chronologie und den Kenntnissen der Geschichte irgend etwas einzuräumen, um die Herrschaft dieser sich so gestaltenden Poesie durch nichts anderes als sich selbst beschränken zu lassen.

Ludwig Tieck argumentiert hier in die gleiche Richtung wie Friedrich Schlegel, wenn er die Vermischung der Gattungen zur Bestimmung von Modernität fordert und dadurch den Roman definiert. In Friedrich Schlegels Bemerkungen zu Tiecks Übersetzung des Quijote heißt es dementsprechend über die Prosa von Cervantes: Ich glaube, es ist die einzige moderne, welche wir der Prosa eines Tacitus, Demosthenes oder Plato entgegenstellen können. Eben weil sie so durchaus modern, wie jene antik und doch in ihrer Art eben so kunstreich ausgebildet ist. In keiner andern

––––––– 6

7

Dazu: Werner Brüggemann, Spanisches Theater und deutsche Romantik. Bd.1. Münster 1964, und Dietrich Briesemeister/Harald Wentzlaff-Eggebert, Von Spanien nach Deutschland und Weimar-Jena. Heidelberg 2003. Ludwig Tieck, Schriften. Bd.1. Vorbericht. Berlin 1828. S.XXVIII.

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Prosa ist die Stellung der Worte so ganz Symmetrie und Musik; keine andre braucht die Verschiedenheit des Styls so ganz, wie Massen von Farbe und Licht...8

Die spanische Literatur wird für den Versuch bemüht, eine Moderne gegen die Antike zu definieren, den Versuch, eine Tradition aufzuspüren, die der Antike entgegenzustellen ist. Wobei hier, beim frühen Friedrich Schlegel, die Antike als Bewertungskanon noch bestimmend ist und so seine Argumentation zum Projekt der Definition von Moderne, eine eigene und späte Art der Querelle des Anciens et des Modernes ist. In diesem Sinn wird auch das Adjektiv romantisch benutzt: Es wird angewendet auf Werke, die nicht direkt der antiken Tradition entsprungen sind, die nicht an deren Regelsysteme gebunden sind. 1796 bezeichnet Friedrich Schlegel in seinem Essay Über das Studium der griechischen Poesie Shakespeare als den für die moderne Literatur charakteristischen Autor. Und er hält Goethes Wilhelm Meister für die Morgenröte einer neuen literarischen Zeit, eines goldenen literarischen Zeitalters, das letzten Endes das moderne, das romantische sein sollte. Einige Jahre später, um 1800, bekommt in Friedrich Schlegels und in Tiecks Schriften die spanische Literatur des Barock eine fundamentale Rolle zugesprochen, und auch in den Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur von August Wilhelm Schlegel (1808) wird die spanische Literatur des Siglo de Oro zum Exponenten des Romantischen. Insbesondere Calderón nimmt darin eine wichtige Stellung ein. Der historische Kontext hat sich geändert, den Kriegen des revolutionären Frankreichs sind die Kriege Napoleons gefolgt, der Weg zur Restauration und zum nationalen Denken ist geöffnet. Das Gedankengut der Frühromantik entwickelt sich in eben diese Richtung. Wichtige Voraussetzungen für die enthusiastische Rezeption Calderóns9 sind dabei die folgenden: Die Frühromantik, und besonders Friedrich Schlegel in seiner Rede über die Mythologie, verlangt die Erfindung einer neuen Mythologie. Diese neue Mythologie sollte der neuen Erfahrung der Welt in seiner Generation entsprechen: die Erfahrung des geschichtlichen Chaos, der Französischen Revolution, der Fragmentierung der Wirklichkeit. Die neue Mythologie sollte eine poetische Chiffrenschrift für diese Erfahrung sein und ––––––– 8 9

Friedrich Schlegel u.a., Notizen, in: Athenäum II/2, S.327. Dazu: Werner Brüggemann sowie Dietrich Briesemeister/Harald Wentzlaff-Eggebert [Anm.6], darin insbesondere die Beiträge von Teresa Vinardell Puig und Marie-Christin Wilm; Henry W. Sullivan, Calderón in the German Lands and the Low Countries: His reception and influence, 1654–1980. Cambridge 1983; Martin Franzbach, Untersuchungen zum Theater Calderóns in der europäischen Literatur vor der Romantik. München 1974; Hans Gerd Rötzer, Christliche Mythologie. Calderón in der deutschen Frühromantik, in: Arcadia 24 (1989) 3, S.254–262.

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zu einer neuen Erklärung des Universums verhelfen, sollte eine Synthese zwischen Religion, Wissenschaft und Philosophie sein.10 Dieses Mythologieprojekt impliziert, dass die sichtbare Welt als »Chiffernschrift« (so Novalis in den Lehrlingen zu Saïs) einer höheren Wirklichkeit interpretiert wird, und daß der Dichter als Interpret, als Übersetzer dieser Schrift, zu sehen sei. Der Poet erhält somit einen außerordentlich hohen Stellenwert. Er wird zum Deuter, zum Übersetzer, letzten Endes zum Erlöser der Wirklichkeit, so wie es Novalis im Heinrich von Ofterdingen anhand der allegorischen Erzählung Klingsohrs von Sophia und Fabel formuliert. Dem Bedarf an Mythologie entspricht das Interesse für die Allegorie, für die allegorische Literatur, die stets verschiedene Ebenen der Interpretation ermöglicht. Die erste Rezeption Calderóns in der Frühromantik steht deutlich in diesem Zeichen. Viele von Calderóns Werken, und unter ihnen ganz besonders das von August Wilhelm Schlegel übersetzte Drama La devoción de la cruz (Die Andacht zum Kreuze),11 haben ganz offensichtlich eine allegorisch-religiöse Dimension. Sie können also ohne weiteres als Chiffrenschrift einer überirdischen Wahrheit angesehen werden, die außerdem mit Hilfe einer ausgesprochen verwickelten, artifiziellen und spannenden Intrige aufgebaut wird, voller Überraschungen und dramatischer Effekte. Sie ermöglichen ein erstes Lesen als Aventüre, als Intrige, als Arabeske und bieten zugleich Veranlassung für eine allegorische, religiöse Interpretation der Welt. In der Andacht zum Kreuze ist dies auf eine geradezu geniale Weise realisiert. Das Stück ist eine Tragödie, in der es hauptsächlich, wie im sophokleischen ––––––– 10

11

Bei Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie. (Aus: Gespräch über die Poesie, in: Athenäum, Bd.3, 1800), heißt es: »Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Phantasie und Liebe? Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserem Ohre spricht. [...] Mich deucht, wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der Goldnen Zeit, die noch kommen wird, zu erkennen und wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne. Dieses ist, was ich mit der neuen Mythologie meine.« Die Andacht zum Kreuze hat bekanntlich einen großen Eindruck auf Goethe gemacht und ist für Schellings Theorie der Tragödie bestimmend gewesen. Dazu auch: Ernst Behler, Die Bedeutung Calderóns für den Begriff des Schicksals und der Tragödie in der deutschen Romantik, in: Inevitabilis Vis Fatorum. Der Triumph des Schicksalsdramas auf der europäischen Bühne um 1800, hrsg. von Roger Bauer in Verbindung mit Michael de Graat u. Johannes von Schlebrügge. Bern/ Frankfurt a.M. u.a. 1990. S.18–33.

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Ödipus, um die Entschleierung der Vergangenheit geht, in der die Wurzeln und Gründe für die Verwicklungen der Gegenwart liegen. Diese Gründe führen den Helden schicksalhaft und unwissend in sein Verhängnis. Der Protagonist, Eusebio, kennt seine Herkunft nicht, hat aber als Muttermal ein Kreuz auf der Brust und zeigt einen festen Glauben und eine tiefe Devotion gegenüber dem Kreuz. Die Handlung beginnt mit einem Duell zwischen Eusebio und Lisardo, dem Freund und Bruder Julias, Eusebios Angebeteter. Dieses Duell wird Eusebio von Lisardo geradezu aufgezwungen. Eusebio verwundet Lisardo tödlich, lässt ihn aber, bevor er stirbt, noch beichten, was dieser ihm mit dem Versprechen dankt, für ihn im gleichen Falle auch dafür einzustehen, also sich bei Gott zu verwenden, damit Eusebio nicht ohne Beichte sterbe. Eusebio hat jedoch mit dem Duell den Bruder seiner Geliebten getötet, was die Verbindung mit ihr unmöglich macht. Von Curcio, Julias und Lisardos Vater, wird Eusebio nun gnadenlos verfolgt. Er wird zum Anführer einer Räuberbande und krönt seine Schandtaten damit, dass er Julia zu verführen und aus dem Kloster, in das sie eingesperrt ist, zu befreien sucht. Die Entdeckung aber, dass sie wie er ein kreuzförmiges Mal auf der Brust trägt, lässt ihn im letzten Moment zurückschrecken. Er flieht, und aus lauter Verzweiflung wird nun die verlassene Julia ebenfalls Banditin. Die letzte Szene12 zeigt, wie Curcio Eusebio schließlich doch einholt. Dabei erweist sich aber, dass die ganze Tragödie letztlich auf Curcio selbst zurückgeht: Er hatte nämlich vormals seiner Frau grundlos misstraut und sie getötet. Durch ein Wunder war sie aber nach Hause zurückgebracht worden, nachdem sie unter dem Kreuz, wo ihr Mann sie (vermeintlich) getötet hatte, Zwillinge geboren hatte. Sie bringt eines der beiden Kinder mit – die Tochter Julia – erinnert sich aber dunkel, auch noch einen Jungen geboren zu haben. Dieser, eben Eusebio, der Zwillingsbruder von Julia, war von einem Hirten aufgezogen worden. Eusebio wird im Schlussakt noch die Gnade zuteil, sich seiner Sünden zu entledigen: Der Bischof Alberto, den er zwar überfallen, aber dann doch verschont hatte, erscheint auf seinen Ruf hin und nimmt ihm die Beichte ab. Auch Julia gesteht ihre Schuld. Als Curcio sie, entsetzt über die Greueltaten seiner Banditentochter, erschlagen will, wird sie an dem von ihr umarmten Kreuz in die Lüfte emporgehoben und damit gerettet. Diese abenteuerliche und mirakelreiche Geschichte hat eine offensichtlich allegorische Dimension. Sie ruft ins Bewußtsein, daß der göttliche, gnadenreiche Vater über Curcio, dem irdischen Vater steht, der seine Pflichten als Ehemann verletzt, indem er sich durch einen übersteigerten Ehrbegriff zu ––––––– 12

Die spanischen Stücke des Barock sind in jornadas, nicht in Akte, aufgeteilt.

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leidenschaftlicher Eifersucht hinreißen lässt und damit das Unglück seiner Frau und seiner Kinder verursacht. Das Schicksal und die Schuld des irdischen Vaters und seiner Kinder wird von einer höheren Instanz, der Gnade des himmlischen Vaters konterkariert. – Das Ganze entbehrt übrigens nicht einiger lustiger bzw. grotesker Aspekte: Auch hier gibt es, wie sonst bei Calderón und im spanischen Drama des Barock überhaupt, die Figur des »gracioso«, des spanischen Hanswursts, die als parodistisches Pendant zum Ernst der allegorischen Dimension steht. In diesem Fall handelt es sich um Gil, einen Bauern, der von der Andacht zum Kreuze des berüchtigten Räubers Eusebio weiß und sich mit allerlei Kreuzen geschmückt und beschützt, bzw. »bewaffnet«, in den Wald zum Holzsammeln begibt. Bekannterweise sah Schelling in der Andacht zum Kreuze die Möglichkeit der Realisierung der modernen romantischen Tragödie und in Eusebio den Ödipus des Christentums, der zwischen Erbsünde und göttlicher Gnade steht. Das Schicksal ist bei ihm nicht wie bei Hamlet in den Charakter verlegt, sondern ist eine unabhängig von aller Subjektivität auf den Helden einwirkende Macht. Sünde, Verbrechen und Unheil sind nicht der subjektiven Willkür unterworfen. Schelling stellt fest, dass »das meiste durch höhere Schikkung geschieht, und durch ein christliches Schicksal verhängt ist«.13 Die göttliche Gnade aber erlischt nicht; der Glaube an sie macht sie zur Realität und löst so den Widerstreit von Notwendigkeit und Freiheit. Tieck schätzte diesen allegorischen Charakter Calderóns ebenfalls. In seinem Leben und Tod der heiligen Genoveva wie auch im Octavianus nimmt das Allegorische, veranlasst durch das spanische Vorbild, breiten Raum ein. Dass die wundersame Schlussapotheose in Die Andacht zum Kreuze Befremden auslöste, ist ebenfalls bekannt. Goethe zum Beispiel schätzte die gekonnte Entwicklung der Handlung, ihre Bühnentauglichkeit, ihre »Bretterhaftigkeit«, wie er sagt, sah die Häufung von Mirakeln aber eher kritisch. Für die Weimarer Bühne bevorzugte er Calderóns El principe constante (Der standhafte Prinz) in der Annahme, dass dieses Werk für Protestanten nicht so anstößig sei. Er inszenierte es auf eine möglichst nüchterne Weise, indem er das Religiöse in den Hintergrund treten ließ.14 ––––––– 13 14

Von Brüggemann [Anm.7] zitiert, S.196. In dem Brief, den Schelling an A.W. Schlegel am 13.10.1802 richtet, gibt er Goethes Meinung wieder: er habe die Idee einer Inszenierung der Andacht zum Kreuze zurückgewiesen, »da es auf die Menge doch nur durch den Stoff wirke, der als fremdartig selbst schon durch die Freiheit, womit er behandelt, gerade den Protestanten anstößig sei«. Dazu Marie-Christin Wilm [Anm.9], S.321, und Brüggemann [Anm.6.], S.190.

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Im katholischen Bamberg hingegen erzielte die Andacht zum Kreuze unter E.T.A. Hoffmanns Inszenierung am 13. Juni 1811 einen großen Erfolg – wenige Monate, nachdem in Weimar Der standhafte Prinz auf die Bühne gelangt war. Die Rezeption Calderóns steht also zunächst im Zeichen einer Literatur als neuer Mythologie, als Chiffrenschrift, als Hieroglyphe für einen geheimen Weltsinn. Sie steht ferner im Kontext der Diskussionen um die Theorie des Tragischen in der Moderne. Und schließlich steht sie für eine Ästhetik der Unmittelbarkeit und des Sinnlichen – bei Tieck, aber ganz besonders bei E.T.A. Hoffmann. Hoffmann war davon überzeugt, das Theater könne direkt an die Gefühlswelt der Zuschauer anknüpfen, sie damit aus ihrem grauen Alltag lösen und in eine andere, reichere Wirklichkeit emporheben. Dafür ist die Versinnlichung des Übersinnlichen von fundamentaler Bedeutung.15 Die Elixiere des Teufels stehen hierfür als ein Beispiel. Auf die Verwandtschaft zwischen der Andacht zum Kreuze und den Elixieren des Teufels hat schon Brüggemann hingewiesen. Er hat sie darin gesehen, dass die Protagonisten beider Werke ein Kreuz als Muttermal auf der Brust tragen. Dieses Mal ist für die Entwicklung der Protagonisten bestimmend. Aber das Zeichen des Kreuzes verweist bei jedem der beiden Werke auf einen anderen Sinnzusammenhang. In den Elixieren des Teufels trägt Medardus ein Mal, das wie ein Kreuz aussieht; dieses ist jedoch ein Bluterguß, der von einer Umarmung seiner Taufpatin stammt, welche ein diamantenes Kreuz als Schmuck an der Brust getragen hatte. Es handelt sich also gewissermaßen um eine Narbe und nicht um ein Muttermal. Die Narbe verweist auf eine bestandene Gefahr, in der sie erworben wurde, das Muttermal jedoch ist ein Symbol für die Bestimmung des Protagonisten von Geburt an. Für Eusebio ist das Kreuz Zeichen seiner Identität, von der er sonst nichts weiß. Er nennt sich »Eusebio vom Kreuze« nach dem Hirten, der ihn aufnahm, und weil ihn seiner Ansicht nach das Kreuz als ausgesetzten Neugeborenen vor Kälte und wilden Tieren beschützt hat. Er glaubt deshalb fest an die symbolische Kraft des Kreuzes. Der Glaube hinge––––––– 15

Dazu Teresa Vinardell: »Einen Grund für den Bamberger Erfolg der Andacht zum Kreuze sah er darin, dass das Publikum ›nicht verbildet, von dem theatralischen Genuss noch nicht übersättigt‹ sei und einen weiteren darin, dass Eusebios und Julias Verklärung ›als ein Mirakel sinnlich dargestellt‹ werde, denn ›[...] es [liege] ganz in dem Geist des Katholizismus [...], die Sinne bei der symbolischen Darstellung des Übersinnlichen in Anspruch zu nehmen‹«. In: Literatur und Mirakel. Calderóns ›Die Andacht zum Kreuze‹ bei E.T.A. Hoffmann und Schelling. In: Dietrich Briesemeister/ Harald Wentzlaff-Eggebert [Anm.7], S.213. Auch in: Teresa Vinardell, El coloquio de los textos. E.T.A. Hoffmann y la literatura española del Siglo de Oro. Barcelona. Tesis doctoral. 1997.

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gen, auf den des Medardus Narbe hinweist, ist keineswegs unerschütterlich, sondern äußerst labil, er ist für Medardus keine feste Burg. Als symbolisches Bild kann die Narbe nicht, wie das Muttermal bei Eusebio, den Schlüssel zu einer allegorischen Lösung des Weltsinnes bieten.16 Calderón ist vielleicht der letzte Schriftsteller, dem diese christlich-allegorische Literatur noch möglich war. Die Romantiker hatten, trotz ihrer Sehnsucht nach Mythologie, diese Möglichkeit nicht mehr. Sie hatten, um Kleists Metapher zu benützen, vom Baum der Erkenntnis gegessen. Über den Wert des Sinnlichen als Erkenntnisinstrument der Wirklichkeit macht sich auch Jean Paul Gedanken. Interessanterweise spielt er dabei auf Calderón an: nämlich auf das Bild des Lebens als Traum. Bei Jean Paul aber geht es dabei nicht, wie bei den Frühromantikern, um die symbolische Auslegung des sinnlich Gegebenen, sondern um seine Bedeutung als Korrektiv unserer zwar verstandesmäßigen, aber gerade deshalb halluzinatorischen Vorstellung von der Welt. In einem frühen Exzerpt aus Sulzers Vermischten philosophischen Schriften notiert sich Jean Paul, mutmaßlich einem Gedanken des von ihm viel gelesenen Autors nachsinnend: So bald es aber auf die Wirklichkeit existirender Dinge ankömt, so würden wir uns unaufhörlich verirren, wenn uns nicht die sinnlichen Empfindungen immer wieder auf den rechten Weg zurück brächten, und niemals würden wir ohne sie wissen, wo wir uns befinden. Diese Empfindungen, gleich denen an Scheidewegen errichteten Säulen, die uns den Ort, wohin sie führen, anzeigen sollen, sind uns zu dem Ende gegeben, damit wir nicht irre gehen. Hätten wir nur undeutliche und auf wenige Umstände sich beziehende sinliche Empfindungen, die nichts anders als die Vorstellung von unserm Dasein überhaupt hervorbringen könten, so würde unser ganzes Leben ein beständiger Traum sein; und es würde fast nichts in unsern Gedanken sein, das mit der Wirklichkeit der Dinge dieser Welt übereinstimte. Da es nun sehr wahrscheinlich ist, daß es viele Dinge in der materiellen Welt giebt, für welche wir keine Sinne haben, und daß wir selbst die auf unsere Sinne sich beziehenden Gegenstände nur sehr unvollkommen empfinden; so ists nicht zu verwunden, daß wir auf der einen Seite von reelen Dingen in der Welt gar nichts wissen, und daß auf der andern Seite der verständigste Mensch immer Irthümern und Täuschungen unterworfen ist.17

Die Argumentation Jean Pauls passt gut zu Calderón. Dessen Protagonist in La vida es sueño (Das Leben ein Traum), Segismundo, verfügt nicht über die Geistesgaben, um seine Welt angemessen zu begreifen, seine biographische Situati––––––– 16 17

Dazu Vinardell, Literatur und Mirakel [Anm.15], S.204ff. Jean Paul, Exzerpte. Nachlass, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz.Ib, Bd.6 (1780), S.90. Die bis jetzt unveröffentlichte Transkription wurde mir von den Bearbeitern des Würzburger Exzerpte-Projekts, Sabine Straub, Monika Vince und Michael Will, zur Verfügung gestellt.

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on macht ihm das Verständnis unmöglich. Die Erkenntnismöglichkeit des Menschen und sein Verhältnis zur Wirklichkeit wird daher in Calderóns Stück, ähnlich wie bei Jean Paul bzw. bei Sulzer in der Wiedergabe durch Jean Paul, auf sehr radikale Weise problematisiert.

2. Sprache und Volksgeist: Literaturen als Nationalliteraturen Ich möchte nun einem weiteren Aspekt der Calderón-Rezeption in der Zeit der deutschen Romantik nachgehen. Es geht dabei um die Definition der Literaturen als Nationalliteraturen und der Nationalliteraturen als Aussagen über den Charakter der Völker, die sie hervorbringen. Anders als zunächst die Frühromantik wendet sich die spätere Romantik immer konsequenter von der Antike ab. Ich überzeuge mich immer mehr, daß der Norden und der Orient in jeder Hinsicht, in moralischer und historischer Rücksicht die guten Elemente der Erde sind – dass einst alles Orient und Norden werden muss. 18

schreibt Friedrich Schlegel am 13.9.1802. Auch der Orient und der Norden können auf Spanien bezogen werden. Und so entsteht, vermittelt über das Bild von Calderón als katholischem Dichter, durch die Sehnsucht nach Exotik, nach Orient, und die Feststellung der Differenz zum Eigenen, zum Norden, ein ganz bestimmtes Spanienbild, das sich bis ins zwanzigste Jahrhundert erhält. In der 35. seiner Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur,19 die dem spanischen Theater und darin ganz besonders Calderón gewidmet ist, spricht August Wilhelm Schlegel von der Mischung aus dem Gotischen, dem nordischen Element, und dem Orient in der spanischen Geschichte. Die Goten lieferten demnach die Werte des Rittertums, des Feudalismus, besonders der Treue, der Orient liefere die aromatischen Düfte. Die arabischen Elemente werden jetzt positiv bewertet, wobei Schlegel sich auf Herder bezieht. ––––––– 18

19

Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel, Briefe, hrsg. von Edgar Lohner. München 1972, S.113. August Wilhelm Schlegel hat seine Vorlesungen 1808 in Wien gehalten, sie sind bereits 1809–1811 in Heidelberg erschienen. In den 1812 von Friedrich Schlegel in Wien gehaltenen Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur stellt auch er Calderón auf die höchste Stufe der dramatischen Kunst. In seinen von Ernst Behler herausgegebenen Schriften aus dem Nachlass findet sich ein schon um 1804 geschriebener Aufsatz zur spanischen und portugiesischen Literatur, in dem Cervantes und Calderón als die Höhepunkte der spanischen Literatur figurieren. (Wissenschaft der europäischen Literatur. Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Bd.11.2. München/Paderborn/Wien/Zürich 1958. S.156–166.)

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Die Argumentation Schlegels hebt den Wert Spaniens als Bastion Europas gegen die Araber hervor. Wenige Zeilen zuvor hatten die Araber indes gerade zur exotischen Attraktivität Spaniens beigetragen. Hervorgehoben wird dann von Schlegel auch, dass sich im Kampf gegen die Araber, in einem Jahrhunderte währenden Abenteuer, ein spanischer Nationalcharakter konstituiere. Die Araber sind also nur bedingt positiv gesehen, als Veranlassung des Kampfes der glorreichen spanischen Christen. Und sie werden gerne gesehen in dem Moment, wo sie überwunden sind. Dieser geschichtlichen Analyse zufolge werden die Spanier als freies und heroisches Volk definiert, voller poetischem Enthusiasmus, ein Volk, das seine Existenz als ein einziges und langes Abenteuer auffasst, das die Religion sehr hoch bewertet, gleichzeitig das Schwert und die Feder schwingt. Wegen ihres Jahrhunderte währenden Kampfes um ihr Land haben sie ein ganz besonderes und intensives Verhältnis zu ihrer Erde entwickelt, und in ihnen überlebt der ritterliche Geist, gefördert von einer noch sehr feudalen, einer nicht modernen Gesellschaft, die von Schlegel nostalgisch gelesen und gedeutet wird. Solche Charakterisierungen, die sich als Ergebnis einer Analyse der Geschichte ausgeben, werden als konstitutiv für den Nationalcharakter erklärt, werden also somit verewigt, verfestigt und vom geschichtlichen Wandel losgelöst. Und sie halten sich als solche Vorurteile bis zum 20. Jahrhundert und bestimmten bis dahin die Rezeption der spanischen Literatur. Als charakteristisch für das Spanische und auch für das Romantische, nun praktisch zu Synonymen geworden, gelten folgende Elemente: Religiosität, ehrliche Direktheit, heroischer Mut, ein Gefühl für Ehre und Liebe, poetische Phantasie. Schlegel fußt, wie schon erwähnt, auf Herder, der sich bereits in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zum spanischen Nationalcharakter geäußert hatte.20 Herder hatte den ritterlichen Geist als Ergebnis ––––––– 20

Auch Kant widmet sich der Beschreibung von Nationalcharakteren. Er tut es im Kontext der Bestimmung der Gefühle für das Schöne und das Erhabene, und klassifiziert die Nationalcharaktere im Verhältnis dazu. Dabei spricht er den Spaniern die Eigenschaft des Abenteuerlichen zu. »In dem Nationalcharaktere, der den Ausdruck des Erhabenen an sich hat, ist dieses entweder das von der schreckhaften Art, das sich ein wenig zum Abenteuerlichen neigt, oder es ist ein Gefühl vor das Edle, oder das Prächtige. Ich glaube, Gründe zu haben, das Gefühl der ersteren Art dem Spanier, der zweiten dem Engländer, und der Dritten dem Deutschen beilegen zu können.« Bei Kant, für den noch der klassizistische Kanon gilt, ist aber das Abenteuerliche bestimmend für schlechten Geschmack: »Nichts kann allen Künsten und Wissenschaften mehr entgegen sein als ein abenteuerlicher Geschmack, weil dieser die Natur verdreht, welche das Urbild alles Schönen und Edlen ist. Da-

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des germanischen Elements in Spaniens Völkermischung angesehen und andererseits die Bedeutung der Araber hervorgehoben, an denen er die Leidenschaft für die Literatur und das feine Gehör für die ästhetischen Impulse schätzte. Er bewertete jedoch den katholischen spanischen Staat und die Inquisition kritisch. Wie unter jenen alten Rechtgläubigen Juden und Arianer ausgetrieben waren: so galts jetzo Juden und Mauren, so daß das schöne, unter mehreren Völkern einst blühende Land nach und nach eine anmuthige Wüste wurde. Noch jetzt stehen überall die Säulen dieser alt- und neugotischen Christenstaatsverfassung in Spanien da: die Zeit hat manches zwischen sie gesetzt, ohne den Riß und Grund des Gebäudes ändern zu können. [...] Ueber ein halbhundert Erz- und Bischöfe, über dreitausend meistens reiche Klöster genießen die Opfer eines Reiches, das seine Rechtgläubigkeit mit Feuer, Schwert, Betrug und großen Hunden auch in zwei andre Welttheile verbreitet hat.21

Das Fazit Herders ist nicht sonderlich positiv und belässt Spanien auf jeden Fall in seiner Exotik und Außenseitersituation gegenüber Europa, eine Situation, die sein Weiterleben als Faszinosum ermöglicht: so wird doch, weil widrige Principien dieser Art dem Staat einmal zum Grunde liegen und in den Charakter der Nation selbst verwebt sind, das schöne Land noch lange vielleicht ein milderes Europäisches Afrika, ein Gothisch-Mauritanischer Christenstaat bleiben.22

Herder zeigt Distanz gegenüber der Mystik und distanziert sich auch, im Zeichen der Aufklärung stehend, von den Greueltaten der Spanier und Portugiesen bei der Eroberung Amerikas. Bei Schlegel ist davon überhaupt nicht die Rede. Es geht ihm nicht so sehr um Geschichte als vielmehr um die Stilisierung eines Nationalcharakters. Dabei geht er, durch Herder vermittelt, von seiner Sicht Calderóns aus. Literatur ist zu einem Dokument des Volkscharakters geworden. Über Herder ist die Sprache zum Kennzeichen des Menschen überhaupt geworden, zum Kennzeichen, das ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Sie erwächst nach Herder aus dem menschlichen Mangel an Instinkten, ist also ein Effekt der Kompensation seiner natürlichen Schwäche. Sprache ist nach Herder ferner bestimmt durch ein kreatives Moment, wel–––––––

21

22

her hat die spanische Nation auch wenig Gefühl vor die schönen Künste und Wissenschaften an sich gezeigt.« In: Von den Träumen der Vernunft. Kleine Schriften zur Kunst, Philosophie, Geschichte und Politik. Wiesbaden 1974, S.66 u. 68. Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Carl Redlich und Reinhold Steig. Berlin 1877–1913. Bd.XIV. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Vierter Theil, S.347f. Ebd., S.349.

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ches es erlaubt, Kunst hervorzubringen, und ein kollektives: Sprache ist immer die Sprache eines Volkes; ist eine der wichtigsten kulturellen Ausprägungen der menschlichen Gesellschaft. Sie bedingt alle anderen ihrer Formationen. Wilhelm von Humboldt formuliert dies in noch prägnanterer Form. Er behauptet den Zusammenhang von Sprache, Kultur und Nation. Ihm zufolge gibt es einen dauernden Austausch zwischen Individuum und Kollektiv, daher auch eine ständige Evolution der Sprache. Diese bleibt aber dabei immer Ausdruck des Volkes, das diese Sprache spricht, bleibt Ausdruck des Volksgeistes. 1806 schreibt Humboldt in Latium und Hellas: Die meisten das Leben einer Nation begleitenden Umstände, der Wohnort, das Klima, die Religion, die Staatsverfassung, die Sitten und Gebräuche, lassen sich gewissermassen von ihr trennen, es kann, selbst bei reger Wechselwirkung noch, was sie an Bildung gaben und empfingen, gewissermassen abgesondert werden. Allein einer ist von durchaus verschiedener Natur, ist der Odem, die Seele der Nation selbst, erscheint überall in gleichem Schritte mit ihr und führt, man mag ihn als wirkend oder gewirkt ansehen, die Untersuchung nur in einem beständigen Kreise herum – die Sprache. Ohne sie, als Hülfsmittel zu gebrauchen, wäre jeder Versuch über Nationaleigenthümlichkeiten vergeblich, da nur in der Sprache sich der ganze Charakter ausprägt, und zugleich in ihr, als dem allgemeinen Verständigungsvehikel des Volks, die einzelnen Individualitäten zur Sichtbarwerdung des Allgemeinen untergehen.23

Damit ist der Weg eingeschlagen, die Literaturen als Nationalliteraturen in Nationalsprachen zu betrachten, sie als Zeugnisse des Nationalcharakters zu sehen, aus ihnen diesen herauszulesen. Nichts anderes ist es, was August Wilhelm Schlegel 1808 in den schon zitierten Wiener Vorlesungen macht. Schlegel befindet sich damit auf dem Weg zur modernen Literaturgeschichtsschreibung. Das Werk Herders leistet in Deutschland Pionierarbeit dabei. Es soll das Interesse gegenüber allen Äußerungen der literarischen Sprache geweckt werden. Zunächst gilt es, sie zur Kenntnis zu nehmen. Herder animiert dazu, literarische Äußerungen aller Völker zu sammeln. Er selber gibt das Beispiel und übersetzt unter anderem mehrere spanische Romanzen. Das Konzept Volk und das Sammeln von Literatur, besonders von Volksliedern, hat für Herder einen universalen, kosmopolitischen, auf jeden Fall bereichernden ––––––– 23

Wilhelm von Humboldt, Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum, in: W. v. H., Werke in fünf Bänden, Bd.2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1961, S.25–64, hier S.58f.

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Wert. In diesem Sinne werden auch Spanien und die spanische Literatur bewertet. So schreibt Herder in den Briefen zur Beförderung der Humanität (7. Sammlung Bd. XVIII), in Spanien entzünde sich »der erste Funke einer wiederkommenden Kultur«.24 Er glaubt auch, dass Spanien die Wiege der modernen Poesie gewesen sei. Aus der Begegnung mit maurischen Sitten und maurischer Poesie, aus Liebe und Liebeswerbung, sei die provenzalische Dichtung entstanden. Er schätzt die spanische Dichtung außerordentlich, die Lyrik, den Roman. Sein meistbewunderter Autor dabei ist Cervantes. Und die dominierende Charakteristik für Spanien bleibt die des Exotischen: Ihr Land und Charakter, ihre Verwandschaft mit den Arabern, ihre Verfaßung, selbst ihr stolzes Zurückbleiben in Manchem, worauf die europäische Cultur treibt, macht sie gewißermaasse zu Europäischen Asiaten.25

Spanien wird rezipiert im Verhältnis zu Europa und zu dem als Nationalstaat nicht existierenden Deutschland, aber dabei immer in einem programmatisch auf das Universelle abhebenden Sinn: Weltliteratur, so der Tenor, ist bereichernd. Es ist dann die jüngere Heidelberger Romantik, diejenige, die ein nationales Konzept von ›Volk‹ entwickelt, die spezifisch deutsche Lieder sammelt und sie als solche bewertet. Der Begriff von Volk, von Volksgeist, wird zum Ersatz für den nicht existierenden deutschen Nationalstaat. Diese Volksidee, diese ideelle Protestform gegenüber der politischen Realität, funktioniert aber nur, indem sie immer ein Abstraktum bleibt, und indem man Volk und Nation metaphorisch und synonym verwendet. Es ist bezeichnend, dass der unmittelbare Zusammenhang von Volk und Sprache, wie er von Wilhelm von Humboldt angenommen wird, gerade von Deutschland aus konzipiert wird, einem Land, wo es noch keinen Nationalstaat gibt. Diese Idee entspringt nicht in Nationalstaaten wie England oder Frankreich, Nationalstaaten, die für eine Einheitssprache eine konsequente und radikale Sprachpolitik betreiben und sich vornehmen, eine gut funktionierende Verwaltungsstruktur aufzubauen. Die Rede von Volk und Sprache hat also kompensatorischen Charakter. Ende des achtzehnten Jahrhunderts steht das Interesse daran noch im Kontext des Kosmopolitismus der Aufklärung. Herder animiert, wie gesagt, zum Sammeln der Dokumente aller Volkspoesien – unter ihnen auch der spanischen. ––––––– 24

25

Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Carl Redlich und Reinhold Steig. Berlin 1877–1913. Bd.XVIII: Briefe zu Beförderung der Humanität, S.33. Ebd., Bd.XXIII: Adrastea, S.294.

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Schon Lessing hatte in der Hamburgischen Dramaturgie (68.–70. Stück) über spanisches Theater geschrieben, über ein zweitrangiges Stück allerdings. Dieses Stück, El conde de Essex, dient ihm aber unter anderem dazu, das Verdikt aufzuheben, das gegenüber der Normenfreiheit des spanischen Theaters bestand. Lessing geht es auch um die Figur des gracioso (den spanischen Hanswurst) und die Form der Tragikomödie. Es geht ihm um eine Poetik, die gegen die normativen Zwänge des Klassizismus gerichtet ist. Die Entdeckung, um nicht zu sagen die Erfindung der spanischen Literatur des Siglo de Oro, steht also für die deutschen Autoren im Kontext der Befreiung von den Normen des französischen Klassizismus. Im gleichen Zusammenhang steht die Entdeckung Shakespeares und der Griechen. In diesen Kontext fügt sich die deutsche Rezeption der spanischen Literatur des Barock gut ein. Es geht dabei um die spanische Literatur als Literatur aus einer nicht-klassizistischen Tradition. Wichtig wird diese Literatur aber auch als Volksliteratur, als nationaler Ausdruck eines Volkes und einer Sprache, die – wie die Deutschen – im 18. Jahrhundert bei der Konstruktion der modernen Staaten am Rande geblieben waren. Im spanischen Siglo de Oro konnten die Deutschen den Ausdruck eines Volkes lesen, das schon einen Nationalstaat hat, auf den sie ihre Sehnsüchte bzw. politischen Nationalfrustrationen projizieren konnten. Und dieser Nationalstaat, der spanische, zu anderen Zeiten groß und mächtig, gehört auch – wie die Deutschen Kleinstaaten – nicht zu den modernen Staaten, zu den modernen bürgerlichen Gesellschaften; er ist also gut geeignet für die Projektion der eigenen problematischen Identität, für die Projektion eines Volkskonzeptes aus der Sehnsucht nach einer vorbürgerlichen Harmonie. Spanien fungiert als Kontrapunkt zu modernen Staaten wie Frankreich, das auf die Französische Revolution verweist, oder England, zu dessen Vergangenheit zwar Shakespeare gehört, dessen Gegenwart jedoch durch die beginnende Industrialisierung gekennzeichnet ist. Das unglückliche Spanien dagegen, ehemaliger Herrscher über ein Weltreich, im 18. Jahrhundert in totaler politischer Dekadenz befindlich, zeigt von sich ein Bild, mit dem man sich leicht in bestimmten Zügen identifizieren kann, so dass z.B. August Wilhelm Schlegel in seinen vergleichenden Überlegungen über die Nationalcharaktere der beiden Völker zu Entsprechungen und Übereinstimmungen gelangt. Selbstverständlich handelt es sich bei Schlegel um ein homogenes Bild von Spanien und vom spanischen Volk. Spanien wird interpretiert als Legierung aus Goten und Orient: abenteuerlichromantisch-exotisch, religiös, erdgebunden-feudal.

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Auch Calderón wird in diesem Zusammenhang und mit diesem Bezug gelesen. Es geschieht im Kontext einer neuen Kanonbildung, die das Konzept der Weltliteratur prägt und die Stelle der deutschen Literatur in ihr sichern will, der deutschen Literatur, die Eigenbewusstsein und Identität (und Nationalität) gewinnen soll, indem sie sich gegen die Normästhetik des französischen Klassizismus stellt. Alles dieses wird auf das Spanienbild projiziert – von der als unglücklich empfundenen spanischen und deutschen Gegenwart aus. Die Wünsche und Hoffnungen, die dieses Unglück hervorruft, lassen die goldene Vergangenheit des Siglo de Oro in einem milden Glanz erscheinen. Dabei ist bezeichnend, dass zwar nur die Gegenwart die Voraussetzungen für solche Projektionen liefert, dass diese aber nur in der Vergangenheit ihren angemessenen Ort finden: eine funktionalisierte Erinnerung, wie ich zu Anfang sagte. Es ist nur konsequent, wenn Schlegel am Ende der erwähnten Vorlesung den Grund nennt, warum ihn nur das Spanien des Barock interessiert, nicht das moderne: Wir finden keinen Grund, meint er, in Spanien zu suchen, was wir zu Hause ebenso gut, oder, richtiger gesprochen, ebenso schlecht haben können.26 Das gegenwärtige Spanien interessiert kaum. Es ist genauso schlimm dran wie die deutsche Gegenwart. Der Leser sucht das Andere, das, was er selber nicht hat, im fremden Kontext und Text – das glorreiche Vergangene. Bezeichnend ist, dass die Grundelemente von diesem Bild des Anderen, vom Spanienbild und der spanischen Literatur, im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts konstant bleiben. Sie werden teilweise noch von den großen Hispanisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernommen und bilden ein Hindernis für die Rezeption der damit nicht mehr vereinbaren modernen spanischen Literatur, der Avantgarde.

4. Übersetzung und »Gesangton«: die Erfindung des spanischen Trochäus Ich möchte jetzt nur noch kurz die formale Tradition der Übersetzungen kommentieren. Herder und August Wilhelm Schlegel führen eine Tradition ein, die mehr oder weniger systematisch die achtsilbigen, assonanzgereimten Verse der ––––––– 26

August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von Edgar Lohner. Stuttgart 1962–74. Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. 35.Vorlesung, S.251–268, hier S.267.

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spanischen Romanzen mit vierhebigen Trochäen übersetzt. Wie ihre Zeit, gehen beide davon aus, dass Übersetzungen die eigene Sprache und Kultur bereichern. Dabei ist zu beachten, dass für die Romantik Sprechen überhaupt, ganz besonders das literarische, die poetische Sprache, schon immer ein Übertragen, ein Übersetzen der göttlichen Harmonie des Alls in eine menschliche Sprache ist. So wie es Hamann formuliert: »Reden ist Übersetzen – aus der Engelssprache in eine Schriftsprache, das heißt Gedanken in Worte, Sachen in Namen – Bilder in Zeichen«.27 Übersetzen ist also ein doppeltes Übersetzen. Novalis schreibt am 30.11. 1797 an August Wilhelm Schlegel, dessen Shakespeare-Übersetzung lobend: »Am Ende ist alle Poësie Übersetzung.«28 Welt und Kunst stehen als Chiffrenschrift oder als Hieroglyphen für einen höheren Weltsinn. Übersetzungen, sprachliche Übertragungen, bereichern die Sprache. Schleiermacher schreibt in einem Aufsatz von 1813 Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens, und hält die Übersetzung für eine vorzügliche Art, die eigene Sprache zu fördern und zu ihrer Entwicklung beizutragen. Und Humboldt assoziiert im Vorwort zu seiner Übersetzung des Agamemnon die Idee des Fortschritts der Sprache durch den Kontakt mit dem Fremden, dem Ausländischen, mit dem Fortschritt, der geistigen Bereicherung der Nation. Für Herder ist das wichtigste Problem des Übersetzens die Übertragung des Gesamttones – er nennt es »Gesangton« – der anderen Sprache in die eigene: den Ton zu verstehen und ihn neu zu formulieren, so dass er in der Zielsprache klingt. In der Vorrede zum zweiten Band der Volkslieder schreibt er: Auch beim Übersetzen ist das schwerste, diesen Ton, den Gesangton einer fremden Sprache zu übertragen [...] Oft ist kein ander Mittel, als, wenns unmöglich ist, das Lied selbst zu geben, wie es in der Sprache singet, es treu zu erfassen, wie es in uns übertönet, und festgehalten, so zu geben. [...] nicht der Inhalt, sondern ihr Ton, ihre Weise war Zweck derselben. Ist diese gelungen, klingt sie aus einer andern in unsre Sprache rein und gut über; so wird sich in einem andern Liede schon der Inhalt geben, wenn auch kein Wort des vorigen bliebe.29

Das heißt, es geht für ihn darum, der Originalsprache treu zu sein, aber in der neuen Sprache einen eigenen, sprachgerechten Stil zu finden bzw. zu schaffen. Auf keinen Fall geht es nur um den Versuch, den Ton der Originalspra––––––– 27

28

29

Zitiert nach: K. Schulz, Voraussetzungen kultureller Vermittlung der deutschen Frühromantik. Kosmopolitismus und Nationalismus der Brüder Schlegel, in: Recherches Germaniques 19 (1989), S.31. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von HansJoachim Mähl und Richard Samuel. Bd.I: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hrsg. von Richard Samuel. Darmstadt 1999, S.648. Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke [Anm.23] Bd. XXV, S.333–334.

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che direkt wiederzugeben. Herder selbst übersetzt wie gesagt die Verse der Romanzen, die in den Guerras civiles de Granada vorkommen, in vierhebige Trochäen und führt damit eine Tradition ein: Der vierhebige Trochäusvers wird als der spanische Vers überhaupt angesehen.30 August Wilhelm Schlegel überträgt dies auf Calderón. Seine Übersetzungen halten sich ganz konsequent an Herders Versmaß. Natürlich kann man sich fragen, ob der vierhebige Trochäus ein geeignetes Äquivalent des spanischen Romanzenverses ist. Der Romanzenvers folgt keiner festen rhythmischen Regel, er ist polyrhythmisch und zählt Silben, keine Hebungen; er hat damit einen fließenden Rhythmus und »Gesangton«, der dem unerbittlich regelmäßigen Gleichtakt der vierhebigen Verse nicht vergleichbar ist. Die strenge Einhaltung der vier Hebungen zwingt den Übersetzungen oft ein Ausfüllen mit weiteren Elementen auf, die der Ökonomie und Suggestionskraft der Romanzen entgegen stehen. Trotzdem gelingen Herder ganz beeindruckende Übersetzungen, die im Großen und Ganzen erstaunlich treu sind. Man muss bedenken, dass er wahrscheinlich kaum je Spanisch gehört hatte, also keine reale Auffassung von dessen »Gesangton« hatte, und dass er für deutsche Leser übersetzte und für sie einen neuen Ton im Deutschen einbürgern wollte. Das Thema des spanischen Trochäus führt zu einer ausgedehnten Polemik über den Grad, bis zu welchem man den Ton der Originalsprache beibehalten soll bzw. inwieweit man die Suche nach einem neuen, vergleichbaren Ton (vergleichbar in Funktion, Tradition, Verwendung) betreiben sollte. Bei der Polemik geht es auch um die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Trochäen oder nach der größeren Sonorität der Jamben im Deutschen. Die Übersetzer Calderóns gehören größtenteils der ersten Gruppe an, sie sind Enthusiasten der Trochäen. In Trochäen übersetzt Schlegel sowohl Die Andacht zum Kreuze als auch den Beständigen Prinzen, Das Leben ein Traum und alle weiteren Stücke Calderóns, die er herausgibt. Auch Gries, der teilweise mit Schlegel zusammenarbeitet, später allein herausgibt, die Übersetzung revidiert, die Hebungen flexibilisiert, übersetzt in Trochäen. Schlegel hält sich konsequent an die vierhebigen Trochäen, was, wie schon erwähnt, nicht unbedingt der Akzentuierung der spanischen Achtsilber entspricht, die übrigens sehr häufig, aber auch nicht ausschließlich in den Stücken Calderóns vorkommen. Gries führt in praktisch allen Werken auch Verse mit drei Hebungen ein, und das ermög––––––– 30

Zu Herders Übersetzungen siehe unter anderem: Andreas K. Kelletat, Herder und die Weltliteratur. Zur Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1984; Werner Brüggemann [Anm.6], Dietrich Briesemeister u. Harald Wentzlaff-Eggebert [Anm.6].

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licht ihm, die syntaktischen Konstruktionen etwas natürlicher, ungezwungener zu gestalten. Aber auch er hält sich systematisch an den Trochäus. Der Trochäus gibt schon beim Erscheinen der Schlegelschen Übersetzungen Grund zur Diskussion: Körner zum Beispiel hat sie nicht geschätzt. In einem Brief vom 9.10.1803 an Schiller schreibt er: »In der Übersetzung waren mir die Trochäen des Dialogs ungenießbar und schleppend.«31 In der Ausgabe Calderóns ausgewählte Werke,32 von Schlegel und Gries übersetzt, lobt Graf von Schack im Vorwort den großen Wert und die Qualität der Übersetzungen, bedauert aber die Obsession für Calderón und zugleich die Vernachlässigung von Lopes Werk. Er meint auch, dass die Obsession, bzw. das strenge und unnachgiebige Befolgen der metrischen Regel (nämlich der vierhebigen Trochäen) der Popularisierung der übersetzten Werke Calderóns unter den Deutschen im Wege stehe. Auf deutsch klingen die Jamben besser, meint Schack, und der Versuch, die Assonanzen zu reproduzieren, bringe seiner Meinung nach nichts. Einige Jahre später wird Calderón von Moritz Rapp, einem bemerkenswerten schwäbischen Gelehrten, übersetzt. Er beschäftigt sich kritisch mit dem Problem, wie man am besten aus dem Spanischen übersetzen und wie man Calderón bewerten solle.33 Rapp steht dem Katholizismus Calderóns kritisch gegenüber und entscheidet sich für den jambischen Vers im Deutschen. Die sieben Bände seiner Anthologie folgen der Geschichte des spanischen Theaters. In der Einführung skizziert Rapp selbst eine Geschichte des Theaters. Er bewertet die Romanzen sehr positiv als Urausdruck des Volkstümlichen, und er schätzt das spanische Theater in solchem Maße, dass er es auf die gleiche Ebene wie das griechische stellt. Über beide, Spanier und Griechen, stellt er Shakespeare. Er findet aber Lope viel interessanter als Calderón und steht auch den Übersetzungen von Schlegel und Gries kritisch gegenüber: Trochäen und Assonanzen wurden mit großer Kunstfertigkeit der deutschen Sprache aufgedrängt, für die sie gar kein Ohr hat. Man hat einige Male versucht, diese Stücke aufzuführen, zur Quälerei der Schauspieler und langen Weile des Publikums. Die Wahrheit ist, unsere Romantiker, die den Zopf des französischen Alex-

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33

Schillers Briefwechsel mit Körner, hrsg. von Karl Goedecke. Leipzig 1874, Bd.II, S.451. Calderóns ausgewählte Werke in 3 Bänden. Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Johann Diederich Gries. Einleitung des Grafen von Schack. Stuttgart o.J. Es gibt auch eine Ausgabe von Gries, einige Verse revidierend und neue Werke einführend: Schauspiele von Don Pedro Calderón de la Barca, in 8 Bänden. Berlin 1816–1848. Moritz Rapp, Spanisches Theater. 7 Bde. Hildburghausen 1868.

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andriners in unserer Literatur schon beseitigt antrafen, wollten der deutschen Bühne einen Zopf neuer Art im spanischen Assonanzvers aufdringen.34

Rapp entscheidet sich dafür, den spanischen Vers in der Übersetzung mehr dem deutschen Vers anzunähern, also seiner Meinung nach den Jamben. Er rechtfertigt seinen Entschluss mit der Sonorität des Deutschen, aber auch mit dem Faktum, dass nicht alle Verse des spanischen Theaters trochäisch sind, bei Lope zum Beispiel wechseln sie mit Jamben ab. Auch Cervantes benutze jambische Verse, Calderón wechsele oft, baue Oktavverse, Sonette, schreibt Rapp. Er lobt die reiche und freie Phantasie Lopes: seinen »spielenden Witz, der Dichter der Realität und des Weltwesens«.35 Die Zeit hat sich geändert, der Realismus bahnt sich an, die allegorische Literatur hat an Interesse verloren. Die Eigenschaften, die jetzt ganz offen Calderón zum Vorwurf gemacht werden, waren in ihren verschiedenen Elementen schon früher genannt worden, kurios dabei ist aber, dass sie früher positiv bewertet wurden. An erster Stelle dieser Elemente steht der allegorische Charakter der Werke Calderóns, dann sein Katholizismus. Rapp distanziert sich von Stücken wie El médico de su honra (Der Arzt seiner Ehre), wo der Katholizismus zur »Karikatur aller sittlichen Begriffe« werde: »Ich suche nicht wie Schlegel Calderóns eigentliche Größe im romantischen Schauspiele, sondern im Konversationsstück.«36 Rapp bringt deshalb in seiner Ausgabe bis dahin nicht übersetzte Werke mit einer Ausnahme, die er neu übersetzt: Hüte dich vorm stillen Wasser (Guardate del agua mansa), das Werk, das er für das beste hält. Was den Aspekt der nationalen Größe betrifft, findet Rapp ihn nicht bei Calderón, sondern in Lopes Drama Columbus. Der jambische Ton von Rapp ist feierlicher, und in den narrativen Momenten klingt er natürlicher, syntaktisch weniger forciert. Schlegels und Gries´ Trochäen sind gewandter, behender in bestimmten Momenten der bewegten Handlung. Der Streit über die Wahl zwischen Jamben und Trochäen findet so keine eindeutige Lösung. Zu unähnlich ist das Deutsche dem Spanischen mit seinen Silbenmaßen und seiner Polyrhythmik, als dass eine Übersetzungslösung als die allein überzeugende sich anböte. Im Zusammenhang der Kritik, die an Calderón geübt wurde, möchte ich noch ein weiteres Dokument besprechen. Es stammt ebenfalls aus der Zeit der Romantik, wurde aber von den Romantikern nicht besonders geschätzt oder geachtet, obwohl es wichtig für das Spanienbild der Zeit ist. Es handelt ––––––– 34 35 36

Ebd., Bd.1, S.12. Ebd., Bd.2, S.13. Ebd., Bd.6, S.12.

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sich um Friedrich Bouterweks Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des XIII. Jahrhunderts. Der dritte Band ist der spanischen und portugiesischen Literatur gewidmet.37 Bouterwek gibt eine gute Beschreibung der verschiedenen Sprachen der Halbinsel und ihrer Entwicklung. Dabei kommt dem Leser der Verdacht, dass auch er sich von Juan Andrés Werk Dell’origine, progressi e stato attuale d’ogni litterature hat inspirieren lassen, wie es später wohl Farinelli und Sismondi getan haben. Andrés war bekannt genug, sein Werk war rezipiert worden, unter anderen von Herder, der sich vornimmt, ihn auf seiner Italienreise zu besuchen, es aber dann doch nicht tut. Die Theorie über den arabischen Ursprung der Dichtung, die Andrés und auch Herder befürworten, war durch die in Italien lebenden, von Spanien exilierten Jesuiten in Umlauf gebracht worden. Die Geschichte Spaniens sieht Bouterwek als durch die Kriege mit den Arabern bedingt, und das zeige sich auch in der Literatur: Die literarische Passion des Volkes komme in den Romanzen als Zeichen eines naiven poetischen Geistes zum Ausdruck. Dieses Ausmalen ging ohne Studium und Kunstfleiß vonstatten, wie der günstige oder ungünstige Augenblick es mit sich brachte. Es sind Naturgewächse, diese alten, edlen Erzeugnisse eines poetisch befruchteten Gemüts, das sich seiner eignen Produktionskraft nur wenig bewusst war.38 In dieser Hinsicht der Bewertung des Spanischen sind sich Bouterwek und Schlegel einig. Sie sind sich auch darüber einig, die spanische Literatur als eigentümlich romantische, von klassizistischen Kunstgesetzen unabhängige zu interpretieren. Aber Bouterwek findet, was die Erklärung der Gründe der Gattungsmischung im spanischen Drama, der Tragicomedia, angeht, zu einer ganz anderen Bewertung als Schlegel. Das gilt auch hinsichtlich der Bedeutung der Komödie: Für Bouterwek zeigt sie den Wunsch nach Evasion, nach Flucht des Publikums vor einer harten historischen Wirklichkeit, einer unnachgiebigen, repressiven Religion. Dieser Aspekt hatte keinen Platz in der Schlegelschen Glorifizierung des spanischen Barocks. Für Jean Pauls Kenntnis über das Spanische und überhaupt über das Romanische, spielt nun eben dieser Bouterwek als Vermittler eine fundamentale Rolle. Jean Paul zitiert ihn, wenn er in der Vorschule der Ästhetik über das Romantische schreibt und die nördlichen und südlichen Elemente differen––––––– 37

38

Friedrich Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts. Bd.III. Göttingen 1804. Bouterwek [Anm.37], S.54.

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ziert sowie die Bedeutung des Christentums erläutert (1. Abteilung, V. Programm, §22): Die südliche Romantik in dem klimatisch Griechenland verwandten Italien muß in einem Ariosto heiterer wehen und weniger von der antiken Form abfliegen und abfliehen als die nordische in einem Shakespeare, so wie wieder dieselbe südliche sich anders und orientalisch-kühner im glühenden Spanien gestaltet.39

Bouterwek erscheint auch als Vermittler, wenn Jean Paul den Unterschied zwischen der Satire und dem Komischen erläutert und dafür die spanischen Lustspiele erwähnt. (1. Abt., VI. Progr., §29). Auch hier wird übrigens die spanische Literatur als positives Pendant zur französischen gesehen: Der freie Scherz wird in Paris, wie an Höfen, gefesselte Anspielung; so wie die Pariser sich durch ihre witzige Anspielung-Sucht sowohl die Freiheit als den Genuß der ernsten Dichtungen rauben. Daher haben die gravitätischen Spanier mehr Lustspiele als irgendein Volk und oft zwei Harlekine in einem Stück.40

Das heißt aber durchaus nicht, dass man spanische Literatur, und insbesondere Calderón, als Modell für die eigene Produktion nehmen solle. Wenn Jean Paul über den »Mißwachs an Lustspielen« (Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, XI. Progr., §18) auf der deutschen Bühne klagt, schreibt er: Neuerer Zeit borgen wir zu den ausländischen Torheiten noch auch die Toren vom Auslande für unser Lustspiel, damit wir wie Mönche gar nichts Eignes haben; und sogar in eine uns so unpassende, bald zu weite, bald zu enge Form, wie z.B. die eines Calderon oder der französischen oder der römischen Lustspieldichter, werden wir geschlagen.41

Ich habe versucht zu zeigen, dass die Rezeption, das Lesen, das Übersetzen des spanischen Theaters und ganz besonders Calderóns, bestimmend war für die Theorie der Literatur, welche zur Zeit der Romantik entwickelt wird, um die Moderne zu definieren. Eine Moderne, die den Menschen über die Sprache definiert und durch sie dann die Völker und die Nationen, eine Moderne, die die Erfahrung der Fragmentierung der Welt gemacht hat und die Kunst als Chiffrenschrift, als Hieroglyphenschrift für einen geheimen, neuen integrativen Sinn versteht. Eine Moderne auch, die eine verlorene Unmittelbarkeit zwischen Kunst und Leben wiederherstellen will und den Ort dafür in der Kunst sieht. Im Zusammenhang damit wird Calderón auch in den Dienst der ästhetischen Debatten der Zeit gestellt, ganz besonders der Debatten um ein moder––––––– 39 40 41

Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, I/5,92 Ebd., I/5,117. Jean Paul, Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, I/5,481.

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nes Tragödienkonzept. Exemplarisch sei in dieser Hinsicht noch einmal auf die gegensätzlichen Positionen Hoffmans und Goethes verwiesen: Goethe, der in Weimar den Standhaften Prinzen so überarbeitet, dass das Religiöse und Mirakelhafte darin möglichst unauffällig wird, und Hoffmann, der in Bamberg die Andacht zum Kreuze inszeniert, indem er gerade im Mirakel den Zusammenhang von Sinnlichem und Übersinnlichem sieht. Rezeption ist immer ein Funktionalisierungsprozess. Zum Abschluss noch ein weiteres Zitat zum romantisch gesehenen Calderón, und zwar von Eichendorff. Es zeigt, wie die Kunstkritik mehr vom Interpreten als von der Kunst handelt. Eichendorff schreibt in Zur Geschichte des Dramas: Indem das Göttliche menschlich, das Irdische aber, die ganze Natur, gottestrunken in Stern und Baum und Blumen mitredend, zum Symbol des Übersinnlichen wird, spielt das Ganze in einer Höhe, wo das Diesseits und Jenseits wunderbar ineinanderklingen [...] Wir fühlen, es schlummert unter dem irdischen Schleier ein unergründlich Lied in allen Dingen, die da sehnsüchtig träumen, Calderón aber hat das Zauberwort getroffen, und die Welt hebt an zu singen.42

Eichendorff beschreibt Calderón mit den Worten und Bildern seines eigenen Gedichtes; Eichendorffs Erfahrung, eine moderne Erfahrung der zersplitterten Welt und einer Sehnsucht nach einer Chiffrenschrift für die Sichtbarmachung eines höheren Sinns in ihr, wird Calderón zugeschrieben! Ich schließe mit der Feststellung: Wenn es Calderón nicht gegeben hätte, die Deutschen hätten ihn erfunden. Und zwar: die romantischen Deutschen, nicht die romantischen Spanier.

––––––– 42

Zitiert nach: Christoph Rodieck, Gottestrunkene Natur und sehnsüchtig träumende Dinge. Eichendorff als Übersetzer Calderóns, in: Euphorion 86 (1992) S.445–452.

MARIA-VERENA LEISTNER

»ROSE, LILIE, NELKE, VERGISSMEINNICHT!« Helmina von Chézy und Jean Paul*

Zu den Verehrerinnen Jean Pauls, die während seines ersten Berlin-Aufenthalts (23. Mai bis 24. Juni 1800) den persönlichen Kontakt mit ihm suchten, zählte auch die damals siebzehnjährige Enkelin der Karschin (1722–1791): Wilhelmine Christiane geborene von Klencke (1783–1856), seit August 1799 mit dem Offizier Karl Gustav Freiherrn von Hastfer (Lebensdaten unbekannt) verheiratet. Als Autorin wurde sie später unter dem Namen Helmina von Chézy bekannt; in zweiter Ehe war sie mit dem französischen Sanskrit-Forscher Antoine Léonard de Chézy (1773–1832) verheiratet. Schreibversuche hatte sie indes schon früh unternommen, wobei sie sich durch die mit der Großmutter und der Mutter, Caroline Luise von Klencke (1750–1802), sich verbindende Familientradition zu literarischer Autorschaft nachgerade disponiert fühlte. Bereits als Halbwüchsige betätigte sie sich dichterisch. Mithin war der Fünfzehnjährigen nicht nur als Leserin der Unsichtbaren Loge Jean Paul eine Offenbarung. Im November 1798 entwarf Wilhelmine einen ersten glühend hingebungsvollen Brief an ihn, den Umschwärmten kurzerhand mit »Du« anredend.1 Sie hat diesen Brief nicht abgesandt, im Mai 1799 aber griff sie auf den Text zurück. Sie formte ihn um, ersetzte das »Du« durch ein »Sie« und übergab die Epistel Hans Georg von Ahlefeldt (1770–1828), daß ––––––– *

1

Für die Darstellung der Beziehung wurden gedruckte und ungedruckte Quellen herangezogen. Da die Briefe Helmina von Chézys bisher nicht vollständig und nicht kritisch ediert vorliegen, wurden die Handschriften eingesehen, die in der Handschriftenabteilung der Biblioteka Jagiellońska Kraków aufbewahrt werden [zitiert: Kraków, NL Jean Paul]. Ich danke für die Erlaubnis, aus den bisher unveröffentlichten Briefen zu zitieren. Ebenfalls danke ich dem Akademiearchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die Möglichkeit, die Bestände des Nachlasses Helmina von Chézy einzusehen und einzelne Archivalien für die Arbeit heranzuziehen [zitiert: BBAW, NL H. v. Chézy]. Mein besonderer Dank gilt Dorothea Böck für die mir freundlich gewährte Unterstützung. Helmina von Chézy an Jean Paul am 1. November 1798; die Hs. trägt von fremder Hand den Vermerk »2.Fassung«, Kraków, NL Jean Paul; vgl. SW III/3,554, Nr.198.

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der sie dem Verehrten übermittle. Erst am 1. Juli 1799 bekam sie Jean Paul in die Hände.2 Der bislang nur fragmentarisch publizierte Sechs-Seiten-Brief3 kann als ein Rezeptionszeugnis gelten, wie es, von Frauen stammend, den Autor der Unsichtbaren Loge und des Hesperus allenthalben erreichte. Die Briefschreiberin sprach von der großen Gefühlsbewegung, die von der Lektüre in ihr ausgelöst worden sei, von ihrem »von tausend Gefühlen gedrängten Herzen«, von einer »Rührung«, der Ausdruck zu verleihen ihr die Worte fehlten und für die sie angemessen nur durch »eine Thräne« danken könne.4 Und unmittelbar fühle sie sich von ihm, der ihrer doch nicht »spotten« werde, als ein Du angesprochen: »Ihr Herz selbst hat die herrliche Stelle in der Unsichtbaren Loge diktiert / – – – – O dann geliebte Seele habe ich an dich gedacht, u ich bin dein Freund wiewohl nicht dein Bekannter gewesen – – – / O u so sind Sie ja der meine!«5 Daß sie die Enkelin von Anna Luise Karsch sei, teilte sie gleichermaßen mit, um anzufügen, den Mut zur Kontaktaufnahme gewinne sie auch aus ebendieser genealogischen Beziehung: »[...] das ich Ihnen schreibe – Dichter bleiben nicht immer beim Gewöhnlichen, u aus der Kleiderordnung der Dichterinnen sind die Umstände verbannt die unschuldige Gefühle im Zaum halten sollen.«6 Und sie legte dem Brief eins ihrer Gedichte bei. Ein knappes Jahr später, am 3. Juni 1800, kam es zur persönlichen Begegnung zwischen Helmina von Hastfer und Jean Paul, und am 18. Juni kündigte er sich und Ahlefeldt zum Besuch bei ihr an. Diesen wenigen Zeilen ist eine Reaktion auf ihren Brief zu entnehmen: »Ihren schönen Brief beantwort’ ich neben Ihnen.«7 Unter dem 19. Juni 1800 findet sich ein Eintrag in ihrem Stammbuch von Jean Pauls Hand. Die Erinnerung an einen »schönen Gartenmorgen vol Blüten und Bienen«8 bezieht sich vermutlich auf das erste Zusammentreffen. Und die Erinnerung daran ist Jean Paul geblieben. Elf Jahre später in einem Brief an Helmina von Chézy rief er sie auf: »Der Gartenmorgen, wo ich Sie zum ersten male sah, hat seine Blumen und seinen blauen Himmel noch nicht verloren; und Sie stehen mir noch immer darin mit ––––––– 2

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Helmina von Chézy an Jean Paul am 27. Mai 1799; die Hs. trägt von fremder Hand den Vermerk »1.Fassung«, ebd. Abdruck in: Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Jean Paul Friedrich Richter, hrsg. von Ernst Förster. München 1863, 3.Bd., S.40–42 (Textübertragung fehlerhaft). Helmina von Klencke an Jean Paul am 27. Mai 1799, Hs.[S.1], Kraków, NL Jean Paul. Ebd., [S.4]. Ebd. Jean Paul an Helmina von Hastfer [18. Juni 1800], SW III/3,343, Nr.478. Ebd., S.344, Nr.479a. Dieser Stammbucheintrag wird Helmina von Hastfer zugeordnet.

»Rose, Lilie, Nelke, Vergißmeinnicht!«

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Ihrer liebenswürdigen und freudigen Unbefangenheit.«9 Es mag vor allem das Erscheinungsbild der jungen Frau gewesen sein, das ihn nachhaltig beeindruckt hatte. Bei dem Besuch, den ihm der Schwede Per Daniel Amadeus Atterbom (1790–1855) am 27. November 1817 in Bayreuth abstattete und einen Brief Helmina von Chézys überbrachte, kam er darauf zu sprechen. Atterbom schrieb nach der Visite an seinen Dichterkollegen Erik Gustaf Geijer (1783–1847): Er [Jean Paul. M.-V.L.] hat sie als Mädchen gekannt und behauptet, daß sie mit achtzehn Jahren unwiderstehlich und verführerisch gewesen sei; [...] Er fragte auch, wie sie jetzt aussähe; aber nachdem ich seine erste Frage, ob sie noch ihre schlanke Taille hätte, verneint, bat er mich, einzuhalten und nicht die Gestalt zu verderben, die er von ihr im Andenken bewahrte.10

In dem Kreis der Berliner Verehrerinnen, die um Jean Pauls Aufmerksamkeit wetteiferten, wollte Wilhelmine nicht nur durch ihr Äußeres den um zwanzig Jahre Älteren für sich einnehmen, sondern sich ihm als angehende Dichterin präsentieren. Ihre dringlichen Einladungen, sie zu besuchen oder sich in einer geselligen Runde sehen zu lassen,11 lesen sich wie Stilübungen in Jean Paulscher Manier. Und sie legte ihm Proben ihrer poetischen Versuche vor. Schon wenige Tage nach der ersten Begegnung, so ist in ihrer Autobiographie zu lesen, habe sie ihm ein Heft mit Gedichten geschickt.12 Verse enthielten auch ihre Briefe: In eine zehnzeilige jambische Strophe faßte sie am 17. Juni 1800 die Klage, vergeblich auf den »Freund« gewartet zu haben.13

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Jean Paul an Helmina von Chézy am 24. November 1811, SW III/6,235, Nr.569. Per Daniel Amadeus Atterbom an Erik Gustaf Geijer am 18. Dezember 1817, in: Aufzeichnungen des schwedischen Dichters P.D.A.Atterbom über berühmte deutsche Männer und Frauen nebst Reiseerinnerungen aus Deutschland und Italien aus den Jahren 1817–1819. Aus dem Schwedischen übersetzt von Franz Maurer. Berlin 1867, S.114. Helmina von Hastfer an Jean Paul am 15. Juni [1800] und [17.–18. Juni 1800], vgl. SW III/3,573, Nr.391 und 573–574, Nr.395. Der Brief vom 17.–18. Juni ist vollständig abgedruckt in: Briefe von Helmina von Chézy an Jean Paul, mitgetheilt von Paul Nerrlich, in: Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung 1883, Nr.39 und 40, [unpaginiert], Brief Nr.I. – Am 20. Juni 1800 trafen sich in der Siedlung Pichelsdorf Jean Paul und Ahlefeldt mit Helmina von Hastfer und einigen ihrer Freundinnen. Vgl. E.T.A. Hoffmann und Jean Paul. Ihre Beziehungen zu einander und zu gemeinsamen Bekannten. Unter Mitwirkung von Eduard Berend dargestellt von Hans von Müller. 1.Heft. Köln 1927, S.94. Vgl. Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Helmina von Chézy. Von ihr selbst erzählt. Leipzig 1858, 1.Teil, S.142. Helmina von Hastfer an Jean Paul [17.–18. Juni 1800], Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.I.

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Und mit vier Versen begrüßte sie ihn am 4. Oktober 1800,14 nachdem er tags zuvor erneut in Berlin eingetroffen war. Jean Paul hat auf die poetischen Ergüsse reagiert. In einer Abschrift ist seine (undatierte) Antwort auf eine Einladung überliefert; sie lautet: »Rose, Nelke, Lilie, Vergißmeinnicht! [...] Ich bin eigentlich schon bei Ihnen, aber auf dem Parnaß – unter Ihren Versen.«15 In sehr weitschweifigen Erinnerungssequenzen hat Helmina von Chézy von seinem Interesse an ihren Arbeiten berichtet: Jean Paul nahm mehrfach Anlaß mich zum Dichten und zum Drucken einiger meiner damaligen Versuche aufzumuntern; auch den Romanentwürfen widmete er Aufmerksamkeit. [...] Jean Paul war sehr eifrig darauf bedacht, mich für die Poesie auszubilden; er munterte mich nur allzu nachsichtsvoll auf, erhob mich nur zu sehr in meinen eigenen Augen.16

Zu einem Romankapitel soll er die Bemerkung geschrieben haben: »Sanfte Seele, die uns wie eine Luna die Strahlen der gesunkenen Sonne wieder giebt, in Deinem Leben sei mehr Morgenroth als Abendroth, und Deine Sterne gehen Dir nur auf, und nicht eher unter, als mit Dir!«17 Die so mit Lob Bedachte hat im Rückblick Bedenken zu dieser unkritischen Freundlichkeit gegenüber ihren Schreibversuchen geäußert und bedauert, daß der Mentor sie zu wenig auf Schwächen in ihren Gedichten aufmerksam gemacht habe: »Was er versäumt, hat das Geschick bei mir nachgeholt.«18 Die beiden ersten überlieferten brieflichen Mitteilungen Jean Pauls an Helmina waren kurz und betrafen bevorstehende Besuche.19 In einem ersten etwas längeren Schreiben, am 28. Oktober 1800, sprach er auch Privates an. Denn die unglückliche Lage, in der sich die junge Frau befand, war ihm nicht verborgen geblieben. An jenem 28. Oktober 1800 wurde sie von Baron von Hastfer geschieden und verlor dabei das in die Ehe eingebrachte Vermögen. Teilnahmsvoll schrieb Jean Paul an Helmina: »Liebe Freundin! Gerade jezt ––––––– 14 15

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Helmina von Hastfer an Jean Paul am 4.Oktober 1800, ebd., Brief Nr.III. Im BBAW, NL H.v.Chézy, Nr.590, befindet sich die Abschrift dieser Zeilen auf einem Zettel 21,3 x 8,3 cm. Helmina von Chézy zitiert sie in ihren Erinnerungen als Jean Pauls Antwort auf die ihm nach der ersten Begegnung zugeschickten Gedichte; vgl. Unvergessenes [Anm.12], 1.Teil, S.142–143. Ebd., S.159–160 und 165. Helmina von Chezy, Erinnerungen aus meinem Leben, in: Aurikeln. Eine Blumengabe von deutschen Händen, hrsg. von Helmina von Chezy, geb. Freyin von Klencke. Berlin [1818], S.81. [Bei den von ihr selbst veröffentlichten Texten ließ sie den Akzent in ihrem Namen weg.]. Unvergessenes [Anm.12], 1.Teil, S.166. Vgl. Jean Paul an Helmina von Hastfer [18. Juni 1800] und am [4. Oktober 1800?], SW III/3,343, Nr.478 und III/4,1, Nr.1.

»Rose, Lilie, Nelke, Vergißmeinnicht!«

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um 4 Uhr, wo das Räderwerk Ihres Schicksals auseinandergelegt und neu zusammengesezt werden sol, schreib’ ich Ihnen mit dem Wunsche, daß das neue Uhrwerk Ihnen künftig nur frohe Stunden zeige.«20 Fortan enthielten seine Briefe stets ganz persönliche Worte und Wünsche für das Wohlergehen der Adressatin. Mehrfach ist die alte Helmina von Chézy in ihren Erinnerungen auf die besänftigende Wirkung zu sprechen gekommen, die von Jean Paul in jenen Wochen ausgegangen sei, von seiner Fähigkeit, zuzuhören und einer bekümmerten weiblichen Seele Tröstung zu geben: Ich könnte sie nicht mehr aufzählen, die Reihe der schönen Tage, die Jean Paul’s Freundlichkeit uns gewährte. Mir blieb seine Gegenwart das Beseligendste, was ich je empfunden. Für meine Mutter und mich, die damals unsaglich litten, lag schon Trost in seinem theilnahmvollen Blick, in seinem Bezeigen.21

Anfang November 1800 verbrachte der Berliner Freundeskreis noch einige Tage gemeinsam,22 dann sah man sich offenbar seltener. Jean Paul hatte sich mit Karoline Mayer (1777–1860) verlobt. Angesichts ihres eigenen zerbrochenen Glücks wurde Helmina von der Nachricht schmerzlich betroffen. Dennoch gratulierte sie am 24. November 1800, und dieser Brief verrät die einander widerstreitenden Gefühle der Schreiberin: Wenn Sie mein Herz kennen, so können Sie sich vorstellen, wie ich Ihr Glück fühle und wünsche; was könnte ich Ihnen sagen, was stark genug wäre, es auszudrükken? Wenn auf meinem Dornenpfade keine Rose auch blüht, so sehe ich die, die meinen Lieben duften, und finde, daß das Leben doch Freuden hat, wenn sie auch mir nicht zu Theil werden, und danke dem Schicksal für die Seligkeiten, die es meinen Freunden schenkt, ohne sie zu beneiden.23

Zum Schluß versicherte sie ihn ihrer »unwandelbare[n], ewige[n] Freundschaft«. Dann noch einmal, am 26. April [1801] wünschten Caroline Luise von Klencke und ihre Tochter, daß der Freund sie besuchen möge. Diese ließ ihn wissen, daß sie alles Schmerzliche des vergangenen Jahres überwunden habe und ihm nun als »frohe, runde, frische Helmina v. Klencke entgegeneilen« werde.24 Kurz darauf trennten sich die Lebenswege. Von Stéphanie Félicité Genlis (1746–1830), die während der Französischen Revolution als Emigrantin in Berlin gelebt hatte, war Helmina eingeladen worden, zu ihr nach Paris zu ––––––– 20 21 22 23

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Jean Paul an Helmina von Hastfer am 28. Oktober 1800, SW III/4,7, Nr.10. Unvergessenes [Anm.12], 1.Teil, S.153. Vgl. ebd., S.159. Helmina von Hastfer an Jean Paul am 24. November 1800, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.IV. Helmina von Hastfer an Jean Paul am 26. April [1801], ebd., Brief Nr.V.

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kommen. Es schmeichelte der eitlen jungen Frau, daß diese erfolgreiche Schriftstellerin sich öffentlich über ihr Talent geäußert hatte.25 Jean Paul indes war der Französin ausgewichen, obwohl sie ihn ihre Hochachtung hatte wissen lassen.26 Zudem habe er, so Helminas Erinnerung, Bedenken gegen ihre Bindung an diese schillernde Literatin gehabt: Wenn ich aufmerksamer gewesen wäre, würde mir seine Wehmuth über mich und mein Los nicht entgangen sein. Die Thatsachen, welche man aus Girtanner’s Annalen, die mir gänzlich unbekannt waren, über Frau von Genlis erfuhr, und der Ausspruch der öffentlichen Meinung über sie flößten Jean Paul Besorgnisse für mich ein, da ich ihr so glühend anhing, und über sie versäumte, ihn ganz verstehen zu lernen und seine zarten Winke für meine Zukunft zu beherzigen.27

Der im Juni 1800 entstandene Kontakt zwischen Jean Paul und Helmina bestand 22 Jahre lang und blieb maßgeblich dadurch aufrechterhalten, daß sich die Frau immer wieder in Erinnerung zu bringen wußte. Am 23. Mai 1801 war sie nach Paris abgereist und am 2. Juni dort eingetroffen. So erlebte sie Jean Pauls Hochzeit am 27. Mai nicht mehr mit. Am 22. Juni meldete sich Helmina mit einem vierseitigen Brief bei Jean Paul. Um seine Vorbehalte gegenüber ihrem Wagnis zu zerstreuen, beteuerte sie, glücklich zu sein. Ihre Gastgeberin in bestem Lichte darzustellen, schien das vorrangige Anliegen ihres Schreibens zu sein. Helmina schilderte, daß sie unter Anleitung ihrer »gute[n] zweite[n] Mutter« an der Korrektur ihrer »Fehler« – Plaudersucht, Ruhmsucht, Eitelkeit – arbeite.28 Es wurde ein Idealbild des Zusammenlebens gemalt: »Zwischen diesem Engel und mir ist alles Harmonie, Ordnung, Sanftmuth, Einheit, Stille und Heiterkeit.«29 Sie selbst »brenne vor Lehrbegierde« und betreibe vorerst außer dem Erlernen des Französischen »Chronologie, Mahlen, Schreiben«.30 Das Fazit der bisherigen Erfahrungen lautet: »Meine Genlis wiegt eine halbe Welt auf; an ihrer Seite giebt es nur einen Wunsch, den ein Herz fassen kann, das sie liebt: den, ihr gleich zu werden ––––––– 25

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Vgl. Félicité de Genlis, Le Petit la Bruyere, ou Caractères et Mœurs des Enfans de ce Siècle. Leipsic 1802, S.120: »Liebe Helmine, Sie werden viel Talent haben; die Erziehung, welche Sie erhalten und Ihre ersten Versuche deuten darauf hin. Sie werden berühmt sein [...]« (übers. von Heidi Jauregui). Vgl. Helmina von Hastfer an Jean Paul [17.–18. Juni 1800], Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.I. Unvergessenes [Anm.12], 1.Teil, S.175. – Christoph Girtanner (1760–1800), Arzt und politischer Schriftsteller, Hrsg. der Politischen Annalen, 8 Bde., Berlin 1793–94. Helmina von Hastfer an Jean Paul am 22. Juni 1801, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.VI. Der Brief ist gekürzt abgedruckt. Helmina von Hastfer an Jean Paul am 22. Juni 1801, Hs.[S.2], Kraków, NL Jean Paul. Ebd.

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[...]«31 So ungetrübt und problemlos, wie Helmina diese Beziehung in den ersten Wochen erschien, so angetan war sie anfangs auch von Paris. Zu den Berichten über die eigenen Lebensumstände gesellten sich in den weiteren Briefen fortan zwei Themen: Zum einen waren das Helminas literarische Arbeiten und der mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Wunsch, Jean Paul möge bei deren Veröffentlichung behilflich sein; zum anderen wurde von Personen erzählt, zu denen er in engerem Kontakt stand oder gestanden hatte und deren Bekanntschaft nun auch Helmina machte. Dem Brief vom 22. Juni 1801 lagen eine Satire und eine Elegie bei; letzterer sollte er zum Druck verhelfen. Im nächsten Brief, geschrieben am 20. Dezember 1803, ging es um die Briefe ihrer am 21. September 1802 in Berlin verstorbenen Mutter. Jean Paul wurde gebeten, sich bei Johann Friedrich Cotta (1764–1832) dafür zu verwenden, daß diese Briefe ediert würden.32 Es waren inzwischen zweieinhalb Jahre seit der Ankunft in Paris vergangen. Verflogen war die anfängliche Euphorie; das Bild von Félicité Genlis hatte sich gewandelt, deren Versprechungen hatten sich als falsch erwiesen. Enttäuschung bestimmte den düsteren Ton des Briefes: »Daß ich bey alle dem nicht glücklich bin, ist theils die Schuld einer Lage, in welcher eigene Kräfte nicht hinreichen wollen, theils meines eigenen Gewissens, u der ewig lebendigen Erinnerung an allem was ich verloren habe.«33 Heimisch geworden war Helmina inzwischen in Kreisen des geselligen und literarischen Lebens, und eingemietet hatte sie sich in der Wohnung von Friedrich (1772– 1829) und Dorothea Schlegel (1763–1839) am Montmartre (rue de Clichy Nr. 19). Sie schrieb, daß sie dort zusammen mit den Brüdern Sulpiz (1783– 1854) und Melchior Boisserée (1786–1851) und Johann Baptist Bertram (1776–1841) die Schlegelschen Vorträge höre. Weiter berichtete sie Jean Paul von seiner Verehrerin Julie von Krüdener (1764–1824) und seinem Freund Paul Emil Thieriot (1780–1831). Er hatte ihr Jean Pauls Briefe und bevorstehenden Lebenslauf geliehen, und diese Lektüre gab wieder Gelegenheit, über die Wirkung von Jean Pauls Werken zu reflektieren. »Haben Sie mich noch lieb?« Das hatte sie eingangs gefragt; und sie endete mit dem Satz: »Ich wünschte Sie sagten mir ein freundliches Wort, das mir wieder etwas Leben gäbe.«34 ––––––– 31

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Helmina von Hastfer an Jean Paul am 22. Juni 1801, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.VI. Vgl. Helmina von Hastfer an Jean Paul am 20. Dezember 1803, Hs.[S.3], Kraków, NL Jean Paul; SW III/4,467, Nr.315. Helmina von Hastfer an Jean Paul am 20. Dezember 1803, Hs.[S.2]. Kraków, NL Jean Paul. Ebd., [S.1] und [S.4].

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Die erbetene Antwort blieb aus. Den Brief hatte Jean Paul anscheinend an Emanuel Osmund (1766–1842) weitergegeben, denn am 13. März 1804 schrieb er ihm: »Den Brief der Helmina v. Klenke oder Hastfehr [...] erbitte [...] baldigst zurück [...]«35 Am 18. Juni 1805 ließ Ahlefeldt den Freund wissen, daß Helmina sich bei ihm über Jean Pauls Schweigen beklagt hätte.36 Bei ihm selbst in Erinnerung brachte sie sich sechs Jahre später. In der Zwischenzeit hatte sie Antoine Léonard de Chézy geheiratet,37 die Söhne Wilhelm (1806–1865) und Max (1808–1846) geboren, sich in gegenseitigem Einvernehmen von ihrem Mann getrennt und Frankreich verlassen. Nun begann sie, sich erneut in Deutschland einzurichten. Aus Heidelberg, wo sie knapp neun Monate zuvor angekommen war, begrüßte sie den »liebe[n], unvergeßliche[n] Freund«.38 Das Empfinden, sich von ihm »recht in den tiefsten Schattenwinkel« seines Herzens gestellt zu sehen,39 hinderte sie nicht daran, ihm zu versichern, er lebe noch immer in ihr. Ganz unbefangen erzählte sie vom Sanskrit-Studium ihres Mannes und von ihren Kindern. Wegen deren und ihrer eigenen Gesundheit sei sie nach Deutschland gekommen.40 Hier nun fühle sie sich »im liebenswürdigsten Kreis, den es geben kann [...] überschwänglich reich«.41 Mit Otto Heinrich Graf von Loeben (1786–1825) und Amalie von Helvig (1776–1831) war sie damals besonders eng verbunden. Letztere half Helmina von Chézy bei der Zusammenstellung ihres ersten Gedichtbandes.42 Die gedruckte Anzeige dafür legte sie dem Freund bei und bat ihn um deren Verbreitung. Zugleich ersuchte sie ihn um die Erlaubnis, seinen Namen auf die Subskribentenliste setzen zu dürfen. Als Probe aus dem Band schickte

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Jean Paul an Emanuel Osmund am 13. März 1804, SW III/4,283, Nr.452. Vgl. Hans Georg von Ahlefeldt an Jean Paul am 18. Juni 1805, SW III/5,387, Nr.50. Zum Jahr der Eheschließung gibt es unterschiedliche Angaben: Im Kommentar zu dem Brief Dorothea Schlegels an Friedrich Schlegel vom 16. März 1816 ist 1805 angegeben (Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe III/XXIX,690, Anm.11); Irina Hundt nennt auf der Grundlage bisher unveröffentlichter Briefe 1806 (Irina Hundt, ›Wäre ich besonnen, wäre ich nicht Helmina‹. Helmina von Chézy (1783–1856) – Porträt einer Dichterin und Publizistin, in: Autorinnen des Vormärz. Forum Vormärz Forschung 2/1996, Bielefeld 1997, S.43–79, hier: S.50, Anm.30. Helmina von Chézy an Jean Paul am 14. Juli 1811, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.VII. Ebd. Vgl. die im Abdruck ausgelassene Stelle in der Hs.[S 1], Kraków, NL Jean Paul. Helmina von Chézy an Jean Paul am 14. Juli 1811, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.VII. Gedichte der Enkelin der Karschin, 2 Bde., Aschaffenburg 1812.

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Helmina eine ihrer Johannes-Legenden.43 Am Schluß bat sie um eine baldige Antwort. Da diese ausblieb, wurde der Freund im nächsten Brief beschworen, sein Schweigen ihr gegenüber endlich einmal zu brechen. »Sei es, was es sei, ich muß wissen, wie Sie gegen mich gesinnt sind, ich kann an Sie ohne heißen Schmerz nicht denken.«44 Dieser Brief kam aus Aschaffenburg, wo sich die Chézy seit August 1811 aufhielt. Von ihren Heidelberger Freunden war sie an den Aschaffenburger Hofbibliothekar Karl Joseph Hieronymus Windischmann (1775–1839) empfohlen worden. Er vermittelte der gleichermaßen lernbegierigen wie geltungsbedürftigen Frau den Kontakt zu Karl Theodor von Dalberg (1744–1817), seit 1810 Großherzog von Frankfurt, der ihr Schutz und Förderung angedeihen ließ. Daß er es war, der 1809 Jean Paul eine Pension von jährlich 1000 Gulden ausgesetzt hatte, bot der Briefschreiberin einen neuen Anknüpfungspunkt. Von Dalberg hatte sie das Widmungsexemplar von Jean Pauls jüngstem Roman, Leben Fibels, zu lesen bekommen, und wie schon zwölf Jahre zuvor gestand sie dem Autor, daß sie zu Tränen gerührt worden wäre. Mitzuteilen gab es ferner, daß sich Karoline von Wolzogen (1763–1847) – Jean Pauls Weimarer Gönnerin – den Winter über in Aschaffenburg aufhalten wolle. Zum Schluß vertraute Helmina von Chézy dem Freund an, daß ihr drittes, in Heidelberg geborenes Kind nach wenigen Lebensmonaten gestorben sei.45 In keinem anderen ihrer Schreiben konnte diese Mitteilung bisher gefunden werden. Der Brief endet mit einem Satz voller Wehmut: »Jetzt bin ich hier in freundlichen Verhältnissen, aber ohne Freude.«46 Nun zögerte Jean Paul eine Antwort nicht länger hinaus. Sein Brief vom 24. November 1811 ist das herzlichste und das längste all seiner Schreiben an Helmina von Chézy. Mit der Anrede »Unvergeßne Helmine« schien er ihre ––––––– 43

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Im 1.Bd. sind die Legenden St. Johannes und das Würmlein (S.15–16) und St. Johannes und der Giftbecher (S.30–35) enthalten. Helmina von Chézy an Jean Paul am 10. November 1811, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.VIII. Über den Vater dieses Kindes gibt es nur Mutmaßungen. Die Zeitgenossen wußten von Liebesbeziehungen Helmina von Chézys zu Adelbert von Chamisso (1781– 1838), zu dem österreichischen Orientalisten, Schriftsteller und Übersetzer Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774–1856) sowie zu dem Arzt Cornelius Best. Im engsten Freundeskreis Chamissos und der Chézy vermutete man, daß HammerPurgstall der Kindesvater wäre. Vgl. dazu: Adelbert von Chamisso und Helmina v. Chézy. Bruchstücke ihres Briefwechsels, hrsg. von Julius Petersen und Helmuth Rogge. Berlin 1923, S.49 (Mitteilungen aus dem Literaturarchiv in Berlin, N.F.,19). Helmina von Chézy an Jean Paul am 10. November 1811, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.VIII.

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Klagen über sein langes Schweigen und den Vorwurf, er habe sie in den »Schattenwinkel« seines Herzens verbannt, widerlegen zu wollen. Er entschuldigte sich mit Zeitmangel und erklärte, daß er sich in der Subskribentenwerbung für ihren Gedichtband nicht habe engagieren können. Statt dessen weckte er die Erinnerung an die elf Jahre zurückliegende erste Berliner Begegnung und malte aus, was bei einer möglichen Wiederholung geschähe: »Wenn ich Sie wiedersähe, würde eine schöne Vergangenheit mit einer schönen Gegenwart in Einem Nu zusammen treffen.«47 Auf den Tod ihres Kindes ging er mit warmen Worten ein. Besonders angesprochen aber fühlte er sich wohl von Helminas derzeitigem Aufenthaltsort: »Ich beneide Sie um die Nachbarschaft des Großherzogs, die niemand so freudig theilen würde als ich. Es ist einer meiner ältesten Wünsche, zu diesem Fürsten zu reisen [...]«48 Da er sich diesen Wunsch nicht erfüllen könnte, erbat er sich als »Ersatz der Reise« Nachrichten über Dalberg. 1812 erschienen die im Juli 1811 angekündigten Gedichte der Enkelin der Karschin in zwei Bänden, und Jean Paul erhielt das Exemplar, für das er subskribiert hatte.49 In drei Briefen Jean Pauls sind Reaktionen darauf zu finden. Die Gedichte schickte er an Christian Otto (1763–1828); im Begleitbrief bezeichnete er den ersten Teil als den weitaus besseren und hob speziell die Fünf Holzschnitte sowie die Legenden und den Morgengruß an Se. Königl. Hoheit, Carl, Großherzog von Frankfurt hervor.50 Im Dezember 1812 mahnte Jean Paul bei Christian Otto die Rücksendung an, und er erklärte dazu, er sei der Dichterin »leider das Lesen, Antworten, Bezahlen und Rezensieren schuldig«.51 An die »Freundin« schrieb er am 8. Dezember 1812: »Ehe ich Ihre Gedichte gelesen, hatt’ ich Sie zwar lieb und dieß sehr; nun aber nachdem ich sie gelesen, hab’ ich Sie – fast zu lieb und es ist gut, daß ich Sie nicht noch dazu gar sehe.«52 Ausdrücklich lobte er ihre »Herrschaft über die Dichtformen« und benannte im einzelnen die gleichen Gedichte wie im Brief an seinen Freund.53 Abschließend versicherte er der Dichterin: »[...] ––––––– 47 48 49

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Jean Paul an Helmina von Chézy am 24. November 1811, SW III/6,235, Nr.569. Ebd. Vgl. den einschlägigen Subskriptionsvermerk im Band Gedichte der Enkelin der Karschin [Anm.42], 1.Bd., S.XI: »Hr. Jean Paul Friedrich Richter, Legationsrath.« Jean Paul an Christian Otto im August (?) 1812, SW III/6,290, Nr.668. – Zur Gruppe Fünf Holzschnitte gehören: Die Nachtigall, ein Zweizeiler ohne Titel, Ein paar Handschuh, an einen Strohmann, Die Dryade des Schloßgartens zu Heidelberg, Alte und neue Zeit, in: Gedichte der Enkelin der Karschin [Anm.42], 1.Bd., S.89–112; das Gedicht Morgengruß an [...] Dalberg, ebd., S.37–40. Jean Paul an Christian Otto Anfang Dezember (?) 1812, SW III/6,303, Nr.704. Jean Paul an Helmina von Chézy am 8. Dezember 1812, SW III/6,304, Nr.706. Ebd.

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kurz dieser ganze Blumenstrauß an Ihrer deutschen Brust hat mich unendlich erquickt. Beinahe hätt’ ich Sie öffentlich rezensiert d.h. gelobt, hätt’ ich nicht das allgemeine Urtheil zu deutlich wiederholen müssen.«54 Dagegen wiederholte er die Erklärung seiner Zuneigung: „[...] ich liebe Sie herzlich, wenn Sie so sind wie Sie mir erscheinen, und so blieben wie Sie mir erschienen.«55 Mit guten Wünschen für ihr Wohlergehen beendete Jean Paul diesen Brief – seinen letzten an Helmina. Er kann so gelesen werden, als habe Jean Paul damit einen Schlußstrich unter die Beziehung setzen und die Korrespondenz nun beenden wollen. Das aber hat die Empfängerin nicht herausgelesen oder nicht herauslesen wollen. Sie jedenfalls meldete sich wieder, um in der bisherigen Weise über literarische Neuigkeiten zu plaudern und Persönliches mitzuteilen. Sechs Briefe sind es noch, die die Chézy zwischen 1812 und 1822 von den wichtigsten Stationen ihres unruhigen Lebens an Jean Paul geschrieben hat. Am 16. Dezember 1812 bereits antwortete sie »dem ewig gegenwärtigen Freunde«.56 Die Lektüre seines Titan, so war ihren Ausführungen zu entnehmen, schien für sie die Wirkung eines Lebenselixiers gehabt zu haben: »Ihre Dichtungen sind mir noch lieb u neu u anziehend, wenn mich nichts andres mehr reizt, u was ich tausendmal schon kannte, feyert immer wieder eine frische Brautnacht mit meiner Seele.«57 Wieder versicherte sie, daß ihre Erinnerung »unzertrennlich« an Jean Paul geknüpft sei und sie »auch das kleinste Zettelchen« von seiner Hand auf ihren vielen Wanderungen immer mit sich trage.58 Diese hatten sie nun in den Odenwald nach Amorbach geführt, wo sie sich auf Einladung der Familie des Fürsten Emich Carl von Leinungen (1761– 1814) aufhielt. In dem gebildeten, kunstsinnigen Kreis fühlte sie sich sehr wohl. Ein Liebhaberensemble hatte hier ihr Singspiel Eginhard und Emma auf die Bühne gebracht, das ein Jahr zuvor in Aschaffenburg uraufgeführt worden war. In Darmstadt, wohin sie demnächst reisen wolle, werde es ebenfalls einstudiert. Weiterhin übersandte sie Jean Paul die Abschrift eines Briefes, den der Großherzog von Dalberg an Baron Fouqué (1777–1843) geschrieben hatte. Es sei sein Dank für den Zauberring, und den Brief habe er dem Autor durch die Chézy zusammen mit einer Medaille zukommen lassen. ––––––– 54 55 56

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Ebd. Ebd. Helmina von Chézy an Jean Paul am 16. Dezember 1812, Hs.[S.1], Kraków, NL Jean Paul. Ein Abdruck, der den Brieftext ungenau und lückenhaft wiedergibt, ist enthalten in: Denkwürdigkeiten [Anm.3], Bd.3, S.251–253. Helmina von Chézy an Jean Paul am 16. Dezember 1812, Hs.[S.1], Kraków, NL Jean Paul. Ebd.

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An dieser Stelle konnte sie die Mitteilung unterbringen, sie selbst habe vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) für ihren Gedichtband die große Huldigungsmedaille und fünf Dukaten erhalten.59 In einem Nachsatz sprach sie nun direkt die Bitte aus, Jean Paul möge doch etwas zu ihren Gedichten schreiben: Wenn Ihnen meine Gedichte wiedergebracht werden, lesen Sie ja die Persischen. Diese sind ganz für Sie. Ein öffentliches Wort von Ihnen würde mich stolz u froh machen, u thäte der lauen Zeit Noth, die des Lichts bedarf, welches ein solcher Geist auf so stille Blumen wirft.60

Zwei Jahre vergingen, bis Helmina von Chézy wieder schrieb, und zwar im Dezember 1814 aus Heidelberg,61 wo sie Ende April erneut ansässig geworden war. In der Zwischenzeit hatte sie sich in Darmstadt nach der Schlacht von Hanau (20. Oktober 1813), einer spontanen Regung folgend, der Betreuung verwundeter Befreiungskämpfer gewidmet und im Sommer 1814 Lazarette am Niederrhein und in Belgien besucht. Die unmittelbare Konfrontation mit den Auswirkungen der Kriegsereignisse ließen sie am Ende des Briefes darüber reflektieren, wie weit die realen Verhältnisse noch von den Idealen der Aufklärung entfernt wären: Die Menschen in Muße sind noch immer leblos, das Leben des Edelsinns, der Gerechtigkeit, der Freyheit u Würde, regt sich nur im Einzelnen u die Gleichgesinnten schmachten fern von einander. Noch waltet die Sünde, u vor Allem die Gemeinheit.62

Vorrangiges Anliegen des Briefes war es, Jean Paul die Schrift zu übersenden, die Graf Loeben als Erwiderung auf Germaine de Staëls (1766–1817) Deutschland-Buch verfaßt hatte.63 Die edlen Gesinnungen Loebens heraus––––––– 59

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Ebd., Hs.[S.4]. Die Widmung der Gedichte der Enkelin der Karschin [Anm.42] lautet: »Seiner Majestät Friedrich Wilhelm dem Dritten König von Preußen in Ehrfurcht und Treue zugeeignet von der Dichterinn.« (1.Bd., S.V). Helmina von Chézy an Jean Paul am 16. Dezember 1812, Hs.[S.4]. Der Nachsatz ist längs an den linken Rand geschrieben. – In den 2.Bd. der Gedichte der Enkelin der Karschin [Anm.42] sind unter dem Titel Der Palmenhayn Nachdichtungen aus dem Persischen aufgenommen (S.61–125). Vgl. Helmina von Chézy an Jean Paul [18. Dezember 1814], SW III/6,622, Nr.241. Da eine Unterschrift fehlt, hat Jean Paul an den Rand der vierten Briefseite geschrieben: »Ich errathe den Namen des Schreibers nicht mehr.« Der stark gekürzte Abdruck des Briefes in der Vossischen Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.IX, ist datiert: »[Köln, Ende 1815]«. Helmina von Chézy an Jean Paul [18. Dezember 1814], Hs. [S.4], Kraków, NL Jean Paul. Isidorus [Otto Heinrich Graf von Loeben], Deutsche Worte über die Ansichten der Frau v. Staël von unserer poetischen Litteratur in ihrem Werk über Deutschland. Heidelberg 1814.

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stellend, warb Helmina für ihn um das Wohlwollen Jean Pauls. Dessen Schweigen zu ihren Zeitgedichten64 deutete sie sich als ein Zeichen seiner Freundschaft und des Einverständnisses mit ihr, und sie lud ihn nach Heidelberg ein, damit auch er die damals vielbesprochene Gemäldeausstellung der Brüder Boisserée sehe: Hier aber sollten Sie her kommen, so lange noch Boisserées Gemälde hier sind und Ihr Auge mit Entzücken tränken; die Heiligkeit der Liebe und der Himmel der Wehmuth würde sich Ihren Blicken erschließen. Kommen Sie im Frühjahr, ich beherberge Sie, ich bin es wohl um Sie werth, daß Sie in meine Wohnung eingehen, denn ich habe Sie immer recht treu im Herzen getragen.65

Ein Brief Jean Pauls an Heinrich Voß (1779–1822) verrät, daß er damals ein Wiedersehen mit der einstigen Freundin durchaus im Sinn gehabt hat. Ihm schrieb er am 23. November 1816 von seiner Absicht, nach Heidelberg zu reisen: »Mein ganzes Herz sehnt und drängt sich nach diesem Augen-Eden. Ich grüße hier alle Ihrige [...], will aber im Frühlinge noch mehre grüßen, z.B. Helmine, die Topographin des Eden.«66 Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch schon nicht mehr dort. 1815 hatte sie die Schriftstellerei völlig hinter die Invalidenbetreuung zurückgestellt. Mit übergroßem Eifer war sie gegen Nachlässigkeiten in den von ihr besuchten Lazaretten in Köln und in Namur vorgegangen. Da die Militärärzte nicht auf die Beanstandungen der Frau von Chézy eingingen, hatte sie mit einem Schreiben an den obersten Feldherrn, General Graf Neithardt von Gneisenau (1760–1831), erwirken wollen, daß die verwundeten und invaliden Soldaten die ihnen zustehenden Entschädigungen auch wirklich erhielten. Daraufhin war von der Kölner Invalidenprüfungskommission eine Injurienklage gegen die unbequeme Frau angestrengt worden. Durch überstürzte Abreise aus Köln im Februar 1816 hatte sie sich vor einer Verurteilung gerettet und in Berlin erwirkt, daß der Prozeß vom königlich-preußischen Kammergericht geführt wurde. Den guten Verlauf ––––––– 64

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Zeitgedichte im Band Gedichte der Enkelin der Karschin sind z.B. Sonnet an Napoleon den Großen (1.Bd., S.36) und Der Rhein bei Geisenheim (1.Bd., S.85– 86). Ein Jahr später war das Bändchen Blumen in die Lorbeern von Deutschlands Rettern gewunden von Helmine von Chezy, geb. v. Klenck, erschienen (Frankfurt a.M. 1813). Helmina von Chézy an Jean Paul [18. Dezember 1814], Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.IX. Jean Paul an Heinrich Voß am 23. November 1816, SW III/7,93, Nr.236. – »Topographin des Eden« bezieht sich auf die Veröffentlichung Helmina von Chézys Gemählde von Heidelberg, Mannheim, Schwetzingen, dem Odenwalde und dem Nekkarthale. Wegweiser für Reisende und Freunde dieser Gegenden. Heidelberg 1816. – Jean Paul besuchte Heidelberg erst im Juli / August 1817.

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ihrer Gerichtssache, an dem E.T.A. Hoffmann (1776–1822) als Inquirent67 maßgeblichen Anteil hatte, meldete sie Jean Paul am 17. Januar 1817.68 Im übrigen gab sie mit blumigen Worten ihrem Wunsch nach einem Wiedersehen mit ihm in dem »Blütheneden« Heidelberg Ausdruck.69 Nach dem Freispruch im Sommer 1817 verließ Helmina von Chézy im Oktober Berlin und siedelte sich für knapp sechs Jahre in Dresden an. Hier kam es zu einer Begegnung mit dem durch Deutschland reisenden Atterbom. Helmina nutzte die Gelegenheit, ihm und seinem Freund, dem Dänen Peder Hjort (1793–1871), einen Brief an Jean Paul mitzugeben, als sie sich zu ihm auf den Weg machten. Darin schrieb sie von ihrem Schmerz über den Tod von Carl von Dalberg, über ihre Kontakte zu Jean Pauls Schwägerin Wilhelmine (Minna) Uthe, verw. Spazier (1776–1825) sowie über ihre neuesten Veröffentlichungen. Am Schluß des Briefes gab sie wieder ihrer Vertrautheit mit dem Freund Ausdruck und ließ dabei zugleich erkennen, wie stark sie nach wie vor auf ihn fixiert und bestrebt war, von ihm anerkannt zu werden: [...] behalten Sie mich lieb. Ich bin zeither dem Gefühl, dessen nicht ganz unwerth zu sein, ein wenig näher gekommen, denn ich habe viel gelitten, und Gott giebt gern Liebe für Leid, weil nur Liebe trösten kann. Ihre Fastenpredigt hat mich erquickt, gestärkt und gehoben.70

Bereits zwei Monate später schrieb sie erneut und schickte dem »unvergleichlichen Freund«71 ihr neuestes Buch. Es handelte sich dabei um die schon im November-Brief angekündigten Neuen Auserlesenen Schriften der Enkelin der Karschin.72 Sie nannte diese Zusammenfügung von Gedichten, Prosatexten politischen wie autobiographischen Inhalts, Dokumenten zu ihrem Prozeß und dem Roman Emma ihren »Schmerzenreich« und bat den Empfänger, er möge sich »des Kindes« annehmen: »Denn wenn auf Ihren Wink die Lesewelt zugreift, so kann ich ein wenig mich von dem entsetzlichen Verlust erholen, den ich gelitten und sehr herb empfinden muß.«73 ––––––– 67 68

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Vgl. Unvergessenes [Anm.12], 2.Teil, S.162–168. Helmina von Chézy an Jean Paul am 17. Januar 1817: »[...] Ihnen blos sagen, daß meine Gerichtssache, so gut steht, als sich mit meinem Herzen hoffen u voraussehn lies.« Hs.[S.2], Kraków, NL Jean Paul. Ebd., [S.3]. Helmina von Chézy an Jean Paul am 24. November 1817, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.X. Helmina von Chézy an Jean Paul am 15. Januar 1818, ebd., Brief Nr.XI. Neue Auserlesene Schriften der Enkelin der Karschin, hrsg. auf Unterzeichnung zur Unterstützung verwundeter Vaterlandsvertheidiger, 2 Abtheilungen. Heidelberg 1817. Helmina von Chézy an Jean Paul am 15. Januar 1818, Vossische Zeitung 1883 [Anm.11], Brief Nr.XI. – Am 10. Februar 1817 war der Fürstbischof Carl von Dal-

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Im Dezember 1819 besuchte Karoline Richter ihre Schwester Minna in Dresden und berichtete nach Hause, daß sie zusammen mit den Grafen Kalckreuth (1790–1873) und Loeben sowie mit Freiherrn von der Malsburg (1786– 1824) bei der Chézy gewesen wäre.74 Ebenfalls durch Minna Uthe wird die eine oder andere Nachricht über die Chézy, die sich durch etliche Affären75 ins Gerede brachte, nach Bayreuth gelangt sein. Vom 2. Mai bis 15. Juni 1822 unternahm Jean Paul selbst eine Reise nach Dresden. Schon drei Tage nach seiner Ankunft, am 8. Mai, war er Helmina über den Weg gelaufen. Davon berichtete er Karoline und meldete, sie sei dick geworden und habe ihre einstige Grazie verloren. »Aus Mitleiden und aus Dank für die alte Zeit besuch’ ich sie [...]«76 Helmina ersann umgehend die Möglichkeit eines erneuten Zusammentreffens. Sie tat es, obwohl sie durchaus hatte wahrnehmen müssen, daß er in den letzten Jahren ihr gegenüber auf Distanz gegangen war und auf ihre Briefe sowie auf ihre Veröffentlichungen nicht reagiert hatte. Am 9. Mai schickte sie ihren sechzehnjährigen Sohn Wilhelm mit Blumen zu Jean Paul und begann einen Brief an ihn zu schreiben. Den als »herrlicher Freund« Angeredeten ließ sie wissen: Bey Ihrem Wiedersehn ist mir das Herz aufgegangen, u frische Ströme neuen Leben[s] ziehen hinein.[...] so freue ich mich über den schönen Glauben an Sie in mir, der keinen schmerzlichen Zweifel ungeachtet des Schweigens in mir auf kommen ließ.77

Am 11. Mai hat Helmina den Brief selbst überbracht, nachdem Jean Paul sie am Vortag bei seinem Besuch verfehlt hatte. Es wurde ein Zusammensein gemeinsam mit dem aus Leipzig angereisten Pädagogen Christian Heinrich Wolke (1741–1825) arrangiert. Am 14. Mai traf man sich bei Jean Paul, und am 17. Mai78 in Helminas Wohnung in der Calberlaschen Zuckersiedlung79 –––––––

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berg gestorben. In den Neuen Auserlesenen Schriften [Anm.72] sind sein letzter Brief an Helmina von Chézy (1.Abtheilung, S.175–176) und ein ihm gewidmetes Gedicht abgedruckt (ebd., S.177–179). Vgl. Karoline Richter an Jean Paul am 2. Dezember [1819], SW III/7,481, Nr.231. Helmina von Chézy betreute den geistesgestörten Maler Dominicus Oechs (1775– 1836) teils in ihrer Dresdner Wohnung, teils in Pirna in der Pflegeanstalt Schloß Sonnenstein. Für Aufsehen sorgte auch ein öffentlich gemachter Streit mit Fanny Tarnow (1779–1862). Jean Paul an Karoline Richter am 12. Mai 1822, SW III/8,170, Nr.279. Helmina von Chézy an Jean Paul [9.(?)–11. Mai 1822], Hs.[S.1], Kraków, NL Jean Paul. Beide Daten vgl. in: Jean Paul, Tagebuch der Reise nach Dresden, SW II/6.1,859. In den Jahren 1817–1820 hatte der Industrielle Heinrich Calberla (1774–1836) auf den Mauern der Bastei Sol eine Zuckersiederei errichtet, eines der ersten großen

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am linken Elbufer in der Nähe des italienischen Dörfchens. Außer Jean Paul, den der Blick von dem erhöhten Standort auf die Elbe mit der Augustusbrükke beeindruckte,80 und Wolke waren dessen Schüler Karl Konstantin Kraukling (1792–1873) mit seiner Frau und ein Kurländer namens Lindemann81 anwesend. Wilhelm Chézy hat seine damaligen Erinnerungen an die Runde festgehalten: Jean Paul glänzte im hellsten Sonnenschein seiner gemüthlichen Liebenswürdigkeit, der schönen Nachbarin [Karoline Kraukling. M.-V.L.] zu Ehren, wobei er nicht versäumte, die hellen Witzfunken des Vaters Wolke durch einen Sprühregen von Witzsternen zu überglänzen.82

Jean Paul wurde von Richard Otto Spazier (1803–1847), Minna Uthes Sohn aus erster Ehe, abgeholt. Wilhelm Chézy glaubte an eine Verabredung; Jean Paul habe sich wegen der Störung verärgert gezeigt, Helmina sei enttäuscht gewesen.83 Obwohl Jean Paul noch einen Monat in Dresden blieb, kam es keiner weiteren Begegnung. Das Wiedersehen in Dresden, einundzwanzig Jahre nach den Berliner Tagen, löste bei beiden nicht nur Freude aus. Man hatte Mühe, sich wiederzuerkennen, denn das Bild, das sie voneinander in Erinnerung hatten, entsprach der Realität nicht mehr. Die nicht freundlich formulierten Urteile über die Erscheinung, die sie einander boten, lassen die Enttäuschung erkennen. In Unvergessenes erinnerte sich Helmina des Eindrucks, den Jean Paul im Mai 1822 auf sie gemacht hatte: »Ich suchte vergebens seine Züge mit meinen Erinnerungen in Einklang zu bringen: alles aufgelaufen, ausgedehnt, der Mann und sein Gesicht!«84 Krasser noch fiel sein Urteil über die einstige Freundin aus. Unmittelbar nach dem Zusammensein in Helminas Wohnung, am 18. Mai, schrieb er in sein Tagebuch: »Chezy ist aus einer Lilie ein Kohlstrunk geworden, der die Männer nicht als Schmetterlinge sondern als Raupen verlangt.«85 Einen nun wirklich endgültigen Schlußstrich unter die Freundschaft zog er im Brief an seine Frau vom 28. Mai 1822: »Chezy hat durch ihren weiblich-unsittlichen Wandel ihre geselligen Verhältnisse ver–––––––

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kapitalistischen Unternehmen in Dresden; in den Gebäuden wurden Wohnungen vermietet. Vgl. Wilhelm Chézy, Erinnerungen aus meinem Leben. Schaffhausen 1863f., 1.Buch, S.234. Vgl. Unvergessenes [Anm.12], 2.Teil, S.246. Wilhelm Chézy, Erinnerungen aus meinem Leben [Anm.80], 1.Buch, S.246. Vgl. ebd. Unvergessenes [Anm.12], 2.Teil, S.244. SW II/6.1,860.

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scherzt. [...] bereu’ es fast [sie besucht zu haben. M.-V.L.], seitdem ich ihr Leben schärfer kenne; und sehe sie nicht mehr.«86 Die in Berlin gewachsene und im Briefwechsel der Folgejahre weiter gepflegte Vertrautheit hatte sich nicht wieder herstellen lassen. Für Jean Paul gehörte die Freundschaft mit Helmina von Chézy in die Frühzeit seines literarischen Aufstiegs. Es waren die Jahre, in denen er Verehrungen und Huldigungen vieler weiblicher Wesen gern entgegennahm, die er seinerseits geistreich und teilnahmsvoll an sich zu fesseln verstand. Nachdem er seine »Wanderjahre« hinter sich und eine Familie gegründet hatte, war er seßhaft geworden. Mit strenger Disziplin unterwarf er sich dem selbst auferlegten Arbeitspensum. Für Schwatzbriefe wollte er keine Zeit vergeuden, für Freundschaftsdienste in Gestalt von Werbeaktivitäten erst recht nicht. Seine Andeutungen, den Kontakt zu ihr zu beenden, verstand Helmina von Chézy nicht, und wohlüberlegte Zurückhaltung war ihr nicht gegeben. Sie merkte auch nicht, daß sie mit manchen ihrer Verhaltensweisen schockierte und mitunter Menschen, die ihr wohlgesonnen waren, vor den Kopf stieß. An der Freundschaft mit Jean Paul hielt sie sicher deswegen so ausdauernd fest, weil sie ihr sehr viel bedeutet hatte. Zu einer Zeit, da sie die ersten Schritte in der Schriftstellerei wagte, genoß er schon die ersehnte Anerkennung. So sah sie in ihm einen Mentor, den sie vertrauensvoll mit ihren Versuchen bekannt machte; und später, als ihre Veröffentlichungen Erfolg hatten, war sie bestrebt, ihm gegenüber gleichsam Rechenschaft abzulegen. Aber nicht nur der Austausch über literarische Angelegenheiten bestimmte die Beziehung. Privates spielte dabei von Anfang an eine Rolle. In Berlin hatte man unmittelbar an persönlichem Unglück, ihrer Ehescheidung, und Glück, seiner Gründung einer Ehe, teilgenommen. So war es für Helmina selbstverständlich, auch späterhin Persönliches in ihren Briefen zu berichten. Jean Paul blieb für die Frau, die keine dauerhafte Partnerschaft hatte aufbauen können, über Jahre hin eine wichtige Bezugsperson. Das lassen die in den Briefen wiederkehrenden Bitten um ein Lebenszeichen ebenso erkennen wie die Ausführlichkeit, mit der sie in ihren Lebenserinnerungen Jean Pauls gedacht hat. Dort hat sie ihm ein ehrenvolles Denkmal gesetzt: Gütiger und milder war nie eine Größe als er; Hingebung eines Kindes, und kindliches Hinnehmen dessen, was vom Herzen kam, hat kaum sonst wer auf Erden je in diesem Grade geübt. [...] Niemand hat größer, vollkräftiger auf das deutsche Gemüth eingewirkt als Jean Paul, ohne jemals in das Getriebe der Weltthätigkeit einzugreifen, einzig durch das was er war.87

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Jean Paul an Karoline Richter am 28. Mai 1822, SW III/8,181–182, Nr.295. Unvergessenes [Anm.12], 1.Teil, S.161.

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Kai Nonnenmacher, Das schwarze Licht der Moderne. Zur Ästhetikgeschichte der Blindheit. Tübingen: Niemeyer 2006, 377 S. Seine letzte Lebenszeit verbrachte Jean Paul bekanntlich vollkommen erblindet, als wolle sein Leben bestätigen, was er schreibend vorwegnahm: »denn ich kann nichts erleben als vidimierte Kopien dessen, was ich schon zehnmal gedacht und geschrieben habe –« (I,4,1057f.). In geradezu obsessiver Weise antizipieren Jean Pauls Romane die spätere Krankheit: Sie sind in vielen Variationen mit Blinden bevölkert, mit zeitweise und definitiv Blinden, mit für den Moment Geblendeten und Nachtblinden, mit Augenkranken und gewalttätig ihres Augenlichts Beraubten. Diesem Blindheitsinventar in Jean Pauls Werk widmet sich ein langes Kapitel der Arbeit von Kai Nonnenmacher, die es indessen in einen sowohl zeitlich als auch räumlich weit gespannten Horizont stellt. Er reicht von der Mitte des 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, er umspannt die französische Literatur ebenso wie die deutsche und er umschließt philosophische Blindheitstheorien, ästhetiktheoretische Konzepte und literarische Gestaltungen der Blindheit. Die Arbeit ist epochenübergreifend, komparatistisch und interdisziplinär angelegt, sie zeigt die Interdependenzen und die Verbindungen zwischen den bearbeiteten Wissensfeldern und sie läßt Theoriekonzepte und Erzählungen der Blindheit einen vielfach verschränkten Dialog miteinander führen. Diese theoretische Ausrichtung stellt von vornherein klar, daß es sich ausdrücklich nicht um eine Motivgeschichte der Blindheit oder um eine sozialgeschichtliche Untersuchung handeln kann und soll. Auch das Etikett der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung, wozu das Thema sich hervorragend eignen würde, wäre unzureichend. Vielmehr zielt die Arbeit auf nichts Geringeres als auf eine am Leitfaden der Blindheit aufgerollte Geschichte des Sehens im Doppelaspekt von (sinnlicher) Wahrnehmung und (geistiger) Er-

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kenntnis, die evident macht, wie fundamental Blindheit ein Instrument der ästhetischen Reflexion der Moderne darstellt. Das Phänomen der Blindheit wird dabei weit gefaßt: als Gegenstand der Wahrnehmung, als Herausforderung der Erkenntnistheorie, in seiner rhetorischen Verwendung als wichtiger Bildspender in den Metaphernfeldern von hell – dunkel, außen – innen, klar – trübe, offen – verschlossen. Blindheit markiert die beiden Pole der völligen Dunkelheit und der weißen Helle, die beide gleichermaßen blind machen und zwischen denen das Sehen oszilliert. Sie werden mit Platons Höhlengleichnis identifiziert, das einen die Arbeit durchziehenden Referenzpunkt darstellt. Blindheit in dieser umfassenden Weise rhetorisch und referentiell (18) verstanden, lässt sich lesen als »mächtige Gegenerzählung« zu »triumphalen Aufklärungsphantasmen, zur technischen Zurichtung und zur verwissenschaftlichten Objektivierung des Blicks« (1). Die Titelmetapher, einem Victor Hugo auf dem Totenbett zugeschriebenen Satz entnommen: »Je vois de la lumière noire«, deutet mit ihrer contradictio in adjecto die paradoxale Ambivalenz an: die Blindheit, zunächst in der Aufklärung als Mangel verstanden, erfährt ab der Spätaufklärung und insbesondere im Idealismus und in der Romantik eine ästhetisch positivierende Umwertung: Sie erlaubt die imaginative Überschreitung der empirischen sinnlichen Welt und ermöglicht ein inneres Sehen, das auf den romantischen »Weg nach innen« mit seinem dunklen Leuchten gerichtet ist. Die Abwesenheit des Sehens wird fundamental für die ästhetische Diskussion. Im Übergang der reproduktiven zur produktiven Einbildungskraft, wie er sich am Ende der Aufklärung abzeichnet, bestimmt die Figur des Blinden zunehmend die romantische Abkehr von der Nachahmungstheorie (4). Diese Bewegung verfolgen die drei chronologisch angeordneten Großteile: (vorwiegend französische) Aufklärung und Empfindsamkeit, (deutscher) Idealismus und Jean Paul, (vorwiegend französische) Romantik und desillusionistische Nachromantik. Sie erfahren als Ganzes noch einmal eine Zweiteilung: die erste Hälfte der Arbeit gilt der »Blindheit der Philosophen«, die von Holbach bis Schelling und Hegel reicht; Jean Paul als ästhetischer Theoretiker und Dichter bildet dann das Scharnier zur zweiten Hälfte, die sich dem »dunklen Leuchten der Poesie« und der Negation des schwarzen Lichts in der Literatur widmet. Der erste Teil umreißt, nach einem Rückgriff auf Descartes, Locke und Berkeley, zunächst die aufklärerische Position zur Blindheit bei Holbach und in der Encyclopédie insgesamt: Blindheit wird darin als Negation, als Phänomen des Fehlens und der Abwesenheit verstanden, an dem sich das erkenntnisphilosophische Interesse der Aufklärung abarbeitet. Der Blinde ist

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der Unmündige, der zum Licht der Vernunft geführt werden muß und die aufklärerische Urszene dazu ist das Starstechen im Auge des Blinden. Die Wende zur empfindsamen Konzeption der Blindheit kündigt sich an mit Diderots Lettres sur les aveugles, die erstmals eine rührende und positiv überhöhte Blindheit vorstellen. Das Kapitel dazu untersucht die Metaphorizität der Blindheit und die Zeichenprozesse der Symbolisierungen, die Herausforderung der Blindheit für die sinnliche Erkenntnis und schließlich das neue ästhetische Potential, die »sensibilité«, die den Blinden privilegiert (59ff.). Bei Herder und Rousseau ist dann die Abkehr von der cartesianisch-rationalen Visualität vollzogen: Der selbst augenkranke Herder etabliert eine haptische Ästhetik, die den Blinden zum Schiedsrichter der Künste erhebt und beansprucht Descartes’ cogito für die Empfindung: »Ich fühle mich! Ich bin!« (100). Rousseaus Formel: »l’imagination éveille le sens« (126) dreht das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Einbildungskraft um. Für die Philosophie des Deutschen Idealismus konstatiert Nonnenmacher im zweiten Teil eine Umwertung der philosophischen Lichtmetaphorik »die nicht mehr in Überwindung ihrer Begrifflichkeit auf die überweltliche Sonne der Idee hinstrebt, sondern im Gegenteil aus dem anschaulichen Dunkel der platonischen Höhle heraus zu leuchten beginnt« (135). Das platonische Höhlengleichnis bildet denn auch die Matrix für die Lektüre des deutschen Idealismus am Leitfaden der visuellen Metaphorik. Insbesondere interessiert die Verdoppelung der Blindheit, die sich sowohl beim Aufstieg aus der Höhle ins Licht (als Blendung) wie beim Abstieg zurück in das Höhlendunkel einstellt. Sie wird auf die Kantische Unterscheidung der Blindheit der Empfindung (»Anschauung ohne Begriffe sind blind«) und der Blindheit der Vernunft (»Begriffe ohne Anschauung sind leer«) bezogen und in ihren krisenhaften Zuspitzungen einer weltlosen Innerlichkeit und einer reflexiven Haltlosigkeit am Beispiel Fichtes diskutiert. Nonnenmacher folgt dann der bekannten, von ihm aber mit viel Material angereicherten These, daß Hegel und Schelling Fichtes Radikalisierung des Subjekts zu korrigieren versuchen und durch die Wiederanbindung des Subjekts ans Objekt dem Blick wieder einen Halt bieten wollen. Vor diesen Hintergrund der platonischen und idealistischen Philosophie stellt Nonnenmacher Jean Pauls Blindheitskonstellationen und findet die philosophischen Modelle präzis in die narrativen Strukturen eingebaut. So wird der Hesperus mit »der platonischen vierfachen Unterscheidung des Seins und der Verdoppelung der Blindheit in eine der Empfindung (Julius) und eine der Vernunft (Emanuel)« gelesen (211), wie sie Nonnenmacher an Kants Träumen eines Geistersehers identifiziert hat; Lord Horion gehöre

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dagegen durch die aufklärungssatirische Blindenheilung der platonischen Welt des Begriffs an und Viktors Charakter bündele und breche die anderen drei Figuren. Im Titan erkennt Nonnenmacher ebenfalls ein tetralogisches Modell, das die Fichtesche Subjekttheorie und die Hegelsche Kritik daran zugleich reflektiert: er sieht die Aporien der Fichteschen Verabsolutierungen in der selbstvergessenen anfallsweise blinden Liane (weltlose Selbstvergessenheit der Empfindung) und dem selbstreflexiven Schoppe (Haltlosigkeit der Reflexion) gestaltet, während die selbstgewisse nachtblinde Linda und der amoralische Betrüger Roquairol dieser absoluten Innerlichkeit als Paar der »herzlosen Objektivität bzw. des nihilistischen Materialismus« gegenüberstehen. Erst die Verbindung von Albano und Idoine überwindet diese schlechte Alternative dann im Zeichen von Hegels Vereinigungsphilosophie. In den Flegeljahren schließlich wird die spielerisch zur Schau getragene Blindheit der Täuschung unterstellt (wie übrigens alle Motive des Romans) und – entsprechend der Hegelschen Dialektik – in eine Prozessualisierung überführt, die von Vults vorgetäuschter Blindheit zu Walts gerührter Blindheit für alle materiellen Aspekte des künstlerischen Schaffens reicht und zugleich die Wahrnehmungserfahrung des Transitorischen formuliert. Mögen diese, jeweils noch in Tabellen dargestellten Systematisierungsversuche auch bestechend wirken, so melden sich hier doch die Bedenken der Rezensentin. Jede Deutung ist notwendig eine Abbreviatur. Aber sie sollte dennoch nicht die behandelten Figuren dem Systematisierungsgedanken unterordnen. Schon daß die Blindheitsthematik in den Schemata auf alle, auch die nicht buchstäblich blinden Figuren ausgeweitet wird, macht sie unscharf. Besonders beim Titan wirkt das Verfahren gewaltsam. Die Anordnung von sechs Personen in einer Tetralogie (für die sich Liane und Schoppe verdoppeln müssen, wodurch zuletzt acht Figuren das Schema füllen) führt zu einer Schieflage, die durch die begriffliche Zuordnung verstärkt wird. Sie ist der Vorschule der Ästhetik entnommen und wendet ein dort auf das seit der Antike je veränderte Verhalten eines Künstlers seinen Objekten gegenüber (I/5,72) nun als »vier Liebesformen« auf die Figuren des Titan an. Die für das Schema verdoppelte Liane ebenso wie der verdoppelte Schoppe müssen beide sowohl die »wilde Subjektivität« als auch die »unbesonnene Objektivität« allegorisieren, die am jeweils entgegengesetzten Ende des Schemas die beiden krisenhafte Extreme der Fichteschen Ichphilosophie vertreten. Es leuchtet mir nicht ein, wie etwa die ätherisch-sanfte Liane beides repräsentieren soll. Diese Zuordnung wird ebensowenig evident wie die Lindas zur »herzlosen Objektivität«. Hier hat, so scheint mir, die Lust am Systematisieren ihr Objekt teilweise aus den Augen verloren.

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Der dritte Teil der Arbeit verfolgt die Spur des schwarzen Lichts bis hin zu seiner Negation in der deutschen und französischen Literatur, wiederum vom späten 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, mit einem Ausblick auf die Photographie. Die aus der Antike übernommenen Figuren des blinden Sängers und Sehers, Homer und Teiresias, beide »Gründungsfiguren abendländischer Dichtungs- und Deutekunst« (226), verkörpern noch emphatisch die dichterische Inspiration und Prophetie, die bei Hölderlin und André Chénier eine revolutionäre Wendung erhält. Bereits in Chateaubriands Werk sind die Blinden von einer bedrohlichen Leere umgeben, eine Tendenz, die sich bei Nerval und Hugo verstärkt verfolgen läßt und zu erkennen gibt, wie sich Hugos emphatische Sehervisionen an der trostlosen Entzauberung romantischer Hoffnungen brechen. Schließlich werden Baudelaire und Gautier zu Kronzeugen für eine entromantisierte Blindheit, für die leere Transzendenz des gebrochenen Blicks und damit für ein Ende des Blindentraums. In seiner Fluchtlinie stehen dann die – in der Arbeit nur erwähnten – Blinden aus Maeterlincks Les aveugles, die nur noch Embleme einer transzendentalen Unbehaustheit sind, und Mallarmés Rettung der Ästhetik in die absolute weiße Leere. Den Schluß bildet ein Ausblick auf die Negativität der Photographie um 1900, die in Roland Barthes Formulierung von der »chambre claire« die Logik der romantischen Vision auf die Füße stellt und das idealistische, im Dunkel schimmernde Licht in die objektive Helle der photographischen Evidenz überführt. Nonnenmachers Arbeit beeindruckt nicht nur durch die großen Linien der (ästhetischen) Blindheitsgeschichte, sondern auch durch die Menge an Texten und Theorien, die er heranzieht. Nicht nur die Primärtexte der Philosophen, der Dichter, der Theoretiker und Ästhetiker der jeweils behandelten Zeit kommen darin zur Sprache, sondern auch viel Forschungsliteratur zu den angesprochenen Themen, Texten und Autoren, weit über die Fragestellung der Blindheit hinaus. Dies ist die große Leistung der Arbeit, aber auch ihre Gefährdung. Die Breite der Theorie- und Forschungsdiskussion, wovon die Anmerkungen und das Literaturverzeichnis zeugen, verstellt manchmal den Gang der Argumentation, der immer wieder durch Forschungspositionen unterbrochen oder ersetzt wird, so daß die eigene Position von einem kontinuierlichen Forschungsbericht untermischt wird. Es hätte die Lesbarkeit erleichtert, wenn hier schärfere Trennlinien gezogen worden wären. Auch ein anderes Phänomen ist wohl ebenfalls der stupenden Materialfülle geschuldet: eine Zitierweise, die in rascher Folge dekontextualisierte Zitate aneinanderreiht. Dieser manchmal etwas sprunghafte, Fülle um Fülle häufende Darstel-

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lungsgestus zeugt vom verständlichen Bedürfnis des Verfassers, die vielen andrängenden Positionen und Aspekte unterzubringen, aber die kontinuierliche Entwicklung des Gedankengangs leidet darunter. Hier wäre manchmal weniger mehr gewesen. Die Arbeit endet mit dem schönen Satz: »Mehr Licht – wie es Goethe auf dem Sterbebett gesucht haben soll – ist in der Moderne nicht zu haben« (337). Tatsächlich hätte ich manchmal für die Arbeit selbst, wo nicht mehr Licht, so doch eine etwas straffere Führung brauchen können, um mich bei so viel angebotenem Reichtum und bei so weiten Wegen besser orientieren zu können. Aber vielleicht sind in einer Arbeit über das dunkle Licht besonders gut ausgeleuchtete Wege gar nicht passend. Denn die immensen funkelnden Schätze, die immer wieder nur kurz beleuchtet werden, könnten bei besserem Licht vielleicht blenden. So aber bleiben sie geheimnisvoll im Halbdunkel und geben den Lesenden eine Fülle an reichen und fruchtbaren Einblicken, Einsichten und Anregungen. Elsbeth Dangel-Pelloquin (Basel)

Martin Dönike, Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizimus 1796–1806. Berlin/New York: de Gruyter 2005. 430 S., 62 Abb. Um es gleich eingangs zu sagen: Martin Dönike legt hier ein großes, gewichtiges Buch vor! Gewichtig in seinem puren Umfang, in der Größe des Textcorpus, das er einer äußerst präzisen, fundierten und mit großer auch kunstgeschichtlicher Expertise kontextualisierten Analyse unterzieht, gewichtig aber vor allem, weil im Ergebnis der Blick auf die Ästhetik des Weimarer Klassizismus um mehr als eine Facette bereichert wird – man könnte fast sagen: Ausgehend von den programmatischen »Zentralorganen« des Weimarer Klassizismus wird hier dessen Geschichte neu geschrieben! Ins Zentrum seiner Dissertation stellt Dönike Aloys Hirts »Laokoon«-Aufsätze aus Schillers Horen, zentrale ästhetische Beiträge Meyers und Goethes zu den Propyläen, die Weimarer Preisaufgaben für bildende Künstler sowie abschließend Carl Ludwig Fernows zueinander komplementäre Künstlermonographien zu Asmus Jakob Carstens und Antonio Canova. Die Ausgangsfrage, die Dönike seiner Lektüre dieser Texte zugrundelegt, ist die nach dem Verhältnis der Weimarer Klassizisten zur ›Nachahmung des Gewaltsamen‹, des Pathetischen, leidenschaftlich Bewegten.

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Und damit setzt er an einem Punkt an, der für das traditionelle germanistische Verständnis des Weimarer Klassizismus ganz wesentlich ist: Winckelmanns Formel von »edler Einfalt und stiller Größe«, die stereotyp sowohl zur Beschreibung antiker Kunst als auch zur Identifikation klassizistischer Programmatik und künstlerischer Gestaltung insbesondere am Ausgang des 18. Jahrhunderts lange herhalten mußte, ist zwar spätestens seit den 1990er Jahren von verschiedenen Seiten (Osterkamp, Pfotenhauer u.a.) längst als konstruktive Deutung relativiert worden; die Andersartigkeit des Weimarer Klassizismus gegenüber dem Frühklassizismus Winckelmanns und auch Lessings aber zeigt erst Dönikes genauerer Blick in die genannten Texte. Damit kann die Arbeit das selbstgesteckte Ziel umsetzen, »hinter dem Bild eines vermeintlich statischen, in idealischer Schönheit und Stille gleichsam versteinerten Klassizismus eine weitaus dynamischere Ästhetik erkennbar werden zu lassen, für die die Darstellung von Pathos, Ausdruck und Bewegung keineswegs ein Tabu, sondern ein notwendiges Ingrediens der Kunst war« (S.11). Bevor Dönike auf Hirts in den Horen veröffentlichten, gegen Winckelmanns und Lessings Deutung gerichteten »Laokoon«-Aufsatz zu sprechen kommt, widmet er sich zunächst dessen Versuch über das Kunstschöne (1797 ebenfalls in den Horen erschienen): Hirt wird als empirischer Kunstkenner, nicht als Theoretiker eingeführt, dessen Winckelmann-Kritik nicht antiklassizistisch aufzufassen sei, vielmehr würden aus der umfassenden Kenntnis eines römischen Cicerone auch andere als harmonisierende Ausdruckansprüche klassizistischer Kunst aus den antiken Kunstwerken ableitbar gemacht. Dönike kontextualisiert Hirts Begriff der »Charakteristik« als einer Zentralkategorie ästhetischer Reflexion sowohl begriffsgeschichtlich als auch im Blick auf die Kontroverse zwischen Friedrich Schlegel und Schiller, um schließlich Hirts Exemplifikation seiner »Theorie« am Laokoon zu rekonstruieren. Hier bemächtige sich Hirt des Kernstücks der ästhetischen Überlegungen Winckelmanns und Lessings, um es im Sinne seines CharakteristikBegriffs umzudeuten. In einer präzisen Lektüre der Hirtschen ›Rhetorik der Anschauung‹, die jedes Detail der Skulptur vorgeblich beschreibe, tatsächlich aber als Ausdruck leidender Bewegung evoziere, kann Dönike zeigen, daß Hirt die »für die Interpretation der antiken Kunstwerke bislang geltenden Regeln der ›Schönheit‹ respektive ›edlen Einfalt und stillen Größe‹ durch das Prinzip der ›Karakteristik‹ [ersetzt], das sich ›in allen Werken der Alten, sowohl in Ruhe, als Bewegung und Ausdruck‹ zeige und dem sich alle anderen Kunstgesetze unterzuordnen hätten« (S.46f.). Ausführlich kommentiert Dönike das ›Museum gewaltsamer Darstellungen‹, das Hirt, wiederum aus

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seiner reichen Anschauung schöpfend, seiner Laokoon-Deutung anschließt und das die Evidenz dieser Deutung – gegen die Axiome des Frühklassizismus – belegen soll: die Tötung Niobes und ihrer Kinder, Medea und Kreusa oder Orest beim Mord an Klytämnestra und Ägisth beispielsweise, ebenfalls eine Fülle von Einzelfiguren – ein Panoptikum antiker Gestaltungen, bei denen rein quantitativ die leidenschaftlich bewegten bei weitem die ›stillen, schönen‹ überwiegen. – Nach einem knappen Exkurs zu Hirts »Nachtrag über Laokoon«, mit dem er auf Goethes – noch nicht publizierten, ihm aber zugespielten – Propyläen-Beitrag »Über Laokoon« reagiere und auf seiner Ansicht beharre, schließt Dönike den ersten Teil seiner Arbeit mit einem glänzenden Resümee ab: Hirt sei insgesamt eine »Verschiebung des Blickwinkels auf die bekannten und als kanonisch anerkannten Kunstobjekte« gelungen, die »das zeitgenössische Bild der antiken Kunst als eine kulturelle Konstruktion entschlüsseln« helfe, »die allein auf der Grundlage von Grenzziehungen und Ausblendungen entstehen konnte und deren Objektbindung sich einem eminenten Deutungswillen verdank[e]« (S.82). Damit führe er die vom Frühklassizismus aus dem ästhetischen Diskurs ausgeschlossenen Dimensionen von »Ausdruck, Leidenschaft und Bewegung wieder in die ästhetische Diskussion ein und mach[e] damit zugleich das ›Gewaltsame‹ in der Kunst aufs neue diskursfähig« (S.84). Daß Hirt diese provokanten Überlegungen nicht in irgendeiner Nische der literarischen Öffentlichkeit publizierte, sondern in Schillers Horen, läßt Dönike sehr richtig die Konsequenz ziehen, die Distanz gegenüber der Winckelmann-Lessingschen Antikedeutung für den Weimarer Klassizismus insgesamt anzusetzen – und dies im zweiten Teil seiner Arbeit an Goethes Propyläen nachzuvollziehen: Als »Grenzerweiterung des Klassischen im Rückgriff auf die Anschauung beziehungsweise die Lektüre der Quellen und Monumente« (S.90). Zunächst rekonstruiert er die Nähe Hirts zu zentralen gattungspoetologischen Überlegungen Goethes und Schiller um 1797, Schillers Rezeption von Hirts Begriffen des Charakteristischen und der künstlerischen Behandlung des Stoffes, die mit seinen dramentheoretischen Vorstellungen koninzidierten. Hirts Reflexion über die Tauglichkeit auch tragischer Gegenstände für die künstlerische Darstellung setzen Meyer und Goethe fort, in seinem Propyläen-Beitrag »Über Laokoon« greife, so Dönike in seiner präzisen Analyse, Goethe Hirts Überlegungen nicht nur auf, sondern integriere sie in ein Verständnis antiker Kunst, in der die Darstellung des Gewaltsamen durch »Ordnung und Symmetrie« (S.99) ästhetisch integriert werde; sehr genau wird hier Goethes dramatisierender Blick auf die Skulpturen-Gruppe im Lichte von Goethes Rezeption aristotelischer Tragödienästhetik herausge-

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arbeitet: »Goethe versucht, der irritierenden expressiven Leidenschaftlichkeit in der Darstellung der Laokoongruppe dadurch zu begegnen, daß er sie in eine historisch bewährte Gattung, die Tragödie, einbindet, die sich an und durch den künstlerischen Umgang mit dem Schrecklichen, Grausamen und Erschütternden, kurz: dem Tragischen herausgebildet hat« (S.107). Pointierte Künstlichkeit der Komposition also mache Tragisches für die Kunst darstellbar – Dönike unterläßt allerdings nicht, auch Goethes selektiven, ebenfalls abstrahierenden, weglassenden Blick zu konstatieren, der den Hintergrund für diese Deutungsanstrengung darstellt. Im Blick auf das sich unmittelbar an die Einstellung der Horen anschließende Propyläen-Projekt zielt Dönikes Darstellung im Folgenden darauf ab, schon in Goethes und Meyers Überlegungen über Darstellungsgegenstände der neuen Zeitschrift nachzuweisen, in wie hohem Maße auch diese klassizistische Programmschrift vom »Problem der Vereinbarkeit von klassizistischer Kunst und expressivem Pathos« (S.131) gekennzeichnet war. Die Propyläen-Beiträge, deren Argumentation Dönike mit großer Genauigkeit nachvollzieht, dienen nachdrücklich zur Verifizierung dieser Ausgangshypothese: Meyers in engem Zusammenschluß mit Goethe verfaßter Aufsatz »Über die Gegenstände der bildenden Kunst« reformuliere die aus Goethes »Über Laokoon« stammende Forderung, der (als tragischer zunächst ungeeignete) Gegenstand werde durch die künstlerische Behandlung, durch Komposition doch ästhetisch integrierbar. Eine Forderung, die Meyer in seinem (in der Klassizismus-Forschung bisher noch Desiderat gewesenen) Beitrag über »Raphaels Werke besonders im Vatikan« beispielhaft erläutere (etwa am Borgobrand, dem Bethlehemitischen Kindermord u.a.). Ebenso leiste dies Meyers Deutung von »Niobe mit ihren Kindern«, wo das »grausame Sujet […] zu einer Art Familiengemälde [werde], in dessen Zentrum statt der Götter eine ›Frau in reifen Jahren‹, eine ›Mutter vieler Kinder‹ steht, die sich, anstatt selbst vor den tödlichen Pfeilen [Apolls und Dianens] zu fliehen, schützend über ihre jüngste Tochter beugt« (S.194). Die Artifizialität des Kunstwerks halte dem gewaltigen Affekt, den es darstelle, die Waage, wie Goethe den Laokoon, so deutet Meyer die Niobidengruppe als tragische Poesie. Dönike kann in der Folge sehr schön zeigen, wie Meyer alle Figuren der Gruppe, die seinem Deutungsversuch widersprechen könnten, als nicht originale Gestaltungen denunziert, ein archäologisches Argument kompensiere das ästhetisch Fragwürdige der Deutung. Goethes kleiner ästhetisch-theoretischer Briefroman Der Sammler und die Seinigen (Propyläen II.2) kann von Dönike durchsichtig gemacht werden auf die nicht polemische, aber kritische Referenz Goethes auf Hirts Ästhetik, auf

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dessen Horen-Beiträge: In den brieflich geschilderten Auseinandersetzungen der Figuren würden das Charakteristische und das Leidenschaftliche als Bestandteile des Schönen in dessen Theorie integriert – unter der Bedingung ihrer Ästhetisierung: Der »sokratische Dialog« (236) des Sammlers enthalte allerdings nicht die integrale Ästhetik Goethes, sondern führe Winckelmanns, Hirts, Lessings, Goethe, Schillers und Meyers Positionen in einem offenen Gespräch zusammen (ähnlich wie die theatertheoretische Auseinandersetzung im Faust-»Vorspiel auf dem Theater«). – Die Konsequenzen, die Goethe und Meyer aus der kunstgeschichtlichen Debatte über die Darstellbarkeit des Leidenschaftlich-Gewaltsamen in antiker und Renaissance-Kunst für die künstlerische Praxis der Gegenwart um 1800 ziehen, kann Dönike an den Weimarer Preisaufgaben (1799–1805) aufweisen: Die Gegenstände, die (zunächst) aus Homer geschöpft werden, sind jeweils ein ›gefälliger‹ und ein ›pathetischer‹. Aus Begleitschreiben der Künstler und den Rezensionen der Weimarer Kunstfreunde kann Dönike beispielhaft (an der ›Preisaufgabe fürs Jahr 1800‹) zunächst aufzeigen, daß in der künstlerischen Praxis die Darstellung »heroisch-pathetischer Gegenstände« grundsätzlich als »eine besondere künstlerische Herausforderung« (S.252) eingeschätzt werde, die zunächst die Wahl des richtigen Moments zur Darstellung erfordere, dann aber wiederum die kunstvolle Komposition. Dönike versteht die Kunstaufgaben auch im nationalkulturellen und -politischen Kontext als Reaktion der Weimarer auf die Jacques-Louis-David-Begeisterung auch unter deutschen jungen Künstlern, die wiederum nur ein Anzeichen für die ohnehin existierende Vorliebe für pathetische Sujets sei. Der dritte, kürzere Teil der Arbeit wendet sich der professionellen Kunstkritik aus dem Weimarer Kreis zu, Fernows Künstlermonographien zu Carstens und Canova, die, nachdem mit dem Scheitern der Propyläen, dem Abbruch der Preisaufgaben und nach Schillers Tod Goethe die Erfolglosigkeit der eigenen klassizistischen Bemühungen einsehen mußte, gleichsam die ästhetische Reflexion der Horen und der Weimarer Kunstfreunde fortführten. Nachdem er mit dem »Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts« einen zweiten bisher unerforscht gebliebenen Text Meyers auf dessen Einschätzung von Füssli, Carstens und Canova (im Verhältnis zu Michelangelo und Raffael) hin vorstellt, rekonstruiert Dönike Fernows Deutungen von Carstens und Canova als kontrastive Typologie: Carstens werde in seiner künstlerischen Entwicklung schließlich zum zweiten Raffael stilisiert – Dönike kann allerdings deutlich machen, wie hoch der (durchaus gewaltsame) Um-Deutungsaufwand des Biographen angesichts des viel sperrigeren und eben doch pathetischen Œuvre von Carstens ist. Canova wird –

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entgegen der überbordenden Wertschätzung, die ihm sonst entgegengebracht wird – wegen seiner, so Fernow, mißratenen pathetisch-heroischen überdimensionalen Kunstwerke kritisiert, lediglich das Liebliche gelänge ihm; die Verkennung der Modernität von Canovas Skulpturen durch Fernow kann Dönike sowohl an der Gruppe Theseus und der Kentaur als auch am Tod des Priamos zeigen. Bei beiden Künstlern sei schließlich, entgegen der polemisch-kontrastiven Lektüre Fernows, »die ›Nachahmung des Gewaltsamen‹ ein integraler Bestandteil ihrer Kunst, der nicht ohne weiteres unterschlagen oder aus ihrem Œuvre ausgegrenzt werden« könne (S.370). Damit setzen die bildenden Künstler, Carstens und Canova, Hirts Ästhetik des HeroischPathetischen fort; Fernows Deutungsbemühungen stehen in gewisser Weise in der Tradition jener Strategien (und Tricks), mit denen vor allem Goethe und Meyer um 1800 das ›Gewaltsame‹ in eine klassizistische Ästhetik zu integrieren versuchten. Daß Goethe später, auch unter dem Eindruck neuer archäologischer Entdeckungen, Carstens und Canova neben die Alten stellt – und ungemindert gereizt wird vom Problem des ›Gewaltsamen‹ in der Kunst, kann Dönikes kurzer Ausblick schließlich überzeugend darlegen. Dönike legt mit seiner Dissertation eine beeindruckende Studie vor, die die Forderung nach einer grundlegenden Erweiterung des literar- und kunsthistorischen Begriffs vom »Klassischen« – weit über Winckelmanns stereotype Formel von »edler Einfalt und stiller Größe« hinaus – plausibilisieren kann. Der Band ist in seiner ausgezeichnet lesbaren Diktion vorbildlich, ebenso darin, daß er den Ausgangspunkt immer wieder in der intensiven Erarbeitung der Texte und ihrer Rhetorizität sucht; Dönike verfügt über eine große kunstgeschichtliche Expertise und ausgezeichnete bildinterpretatorische Kompetenz, die Arbeit verblüfft durch ihren Quellenreichtum, gleichsam eine wissenschaftliche »Schatzgräbermentalität«, deren Nachvollzug beim Lesen große Freude macht und fasziniert. Benedikt Jeßing (Bochum)

Barbara Hunfeld, Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2004. 223 S. (Zugleich: Würzburg, Univ., Diss., WS 2001/02) Barbara Hunfelds Würzburger Dissertation gilt dem literarisch inszenierten Blick ins All bei ausgewählten Autoren, deren vergleichende Betrachtung mit denkbarer Klarheit verdeutlicht, welchen denkgeschichtlichen Wandel die

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analysierten Texte spiegeln – und inwiefern damit eine jeweils modifizierte Konzeption des literarischen Schreibens verknüpft ist. Der subtile und gründliche, bei aller Nähe zu den untersuchten Texten selbst immer wieder an übergeordnete Fragestellungen anknüpfende Vergleich zwischen Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter beleuchtet eindrucksvoll die komplexen Bedeutungsdimensionen der jeweils dargestellten Himmelserkundungen. Entscheidend dafür ist, daß Hunfeld ihre Autoren-Konstellation in einem weiten Horizont erkenntnis- und zeichentheoretischer Modelle und ästhetischer Autoreflexion zu verorten weiß. Das Sehen ist in der Geschichte des abendländischen Denkens stets die privilegierte Metapher für den Bezug des erfahrenden Menschen zur Welt als dem Inbegriff der Gegenstände seiner Erfahrung gewesen. In visuellen Wahrnehmungsvorgängen bespiegeln sich Prozesse des Erkennens sowohl hinsichtlich ihrer Gegenstände als auch hinsichtlich ihrer Strukturen, ihrer Medien und ihrer Interpretation durch das jeweilige Subjekt der Wahrnehmung. Unterschiedliche Modelle visueller Erfahrung, wie sie im Lauf der Geschichte in enger Wechselwirkung mit einem sich modifizierenden und vertiefenden Wissen über Sehvorgänge und ihre Bedingungen entwickelt wurden, korrespondieren unterschiedlichen Konzepten von Erkenntnis; die theoretische Reflexion der Relation zwischen Rezeptivität und Produktivität im Erkenntnisprozeß artikuliert sich unter Rückgriff auf Konzepte des Sehens, die Abhängigkeit des Erkennens von der erkennenden Instanz findet ihr Sinnbild in der Standortabhängigkeit des Blicks, der »Perspektivik« visueller Erfahrung; Erweiterungen des Erkenntnis-»Horizonts« bespiegeln sich in solchen des Blickfeldes, Grenzen möglicher Erkenntnis in entsprechenden Beschränkungen. Einen komplexen und hochdifferenzierten Fundus an Sinnbildern zur Modellierung des erkennenden Weltbezugs bietet die Sphäre der optischen Medien, der Sehhilfen, der Instrumente zur Bilderzeugung und Bildspeicherung. Wenn sich im Zeichen der transzendentalphilosophischen Wende im ausgehenden 18. Jahrhundert der Gedanke durchsetzt, die Strukturen der erkennenden Subjekt-Instanz seien konstitutiv für die Welt seiner Gegenstände, so führt dies unter anderem zu einer intensivierten Arbeit an visuellen Gleichnissen, an Modellen, Metaphern und Sinnbildern. Eine Fülle von Sprachbildern und literarischen Darstellungen bezieht sich auf den medial gestützten, den be- oder entgrenzten, den gesteuerten, gebrochenen, verfremdeten, den vielfältigen Gegenständen gewidmeten »Blick« auf die Welt. Ist der Blick Kernmetapher des Weltbezugs, so spielt hinsichtlich der unterschiedlichen Gegenstände des Sehens der Blick ins All aus mehreren Gründen eine signifikante Sonderrolle. Denn zum einen ist der »Himmel« im

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christlichen Vorstellungshorizont (und nicht nur hier) mit Ideen der Transzendenz konnotiert (vgl. dazu die sachkundigen und klaren Ausführungen in Kapitel I: »Die Ordnung des Himmels. Die Astronomiegeschichte und die Zeichen«, S.6ff.), zum anderen gilt der Blick in den Himmel vorrangig den Gestirnen, den Konstellationen der Himmelserscheinungen, und diese waren schon seit der Antike mehr denn bloß physisch sichtbare Gebilde: Man betrachtete sie als Bedeutungsträger – pointiert: als Schrift, die von Kundigen gelesen werden wollte. Wovon die Himmelszeichen kündeten, war antiken und noch im Mittelalter maßgeblich nachwirkenden Vorstellungen zufolge nichts Geringeres als die Ordnung der Welt. Der Begriff des »Kosmos«, der vor allem die Assoziation eines Blicks in die Sternenwelt aufruft, zielte, wie Barbara Hunfeld einleitend in ihre Monographie zum literarischen »Blick ins All« in Erinnerung ruft, auf »das Weltganze als gesetzmäßige und bedeutungsvolle Konfiguration« (S.1). In diesen Zeichen schien das Absolute sich zu offenbaren (vgl. S.1). Die Beziehung zwischen Mensch und All erschien über die Gestirne zeichenhaft vermittelt; die Selbstmitteilung der göttlichen Ordnung in Zeichen erforderte einen entsprechenden Akt der Lektüre. Die topische Vorstellung vom Lesen der Himmelsschrift, von antik-philosophischen Quellen ebenso gestützt wie von biblischen, nimmt innerhalb der Topik von der »Lesbarkeit der Welt« einen prominenten Platz ein. Mit ihr verknüpft sind insbesondere zwei entscheidende Fragen: die nach der Erkennbarkeit des Absoluten – und die Frage, was denn »Lektüre« überhaupt sei. Der Blick auf die Sternenschrift löst unter dem Vorzeichen des theoretischen Interesses an Lesevorgängen als solchen also nicht zuletzt die Reflexion über das Wesen von Texten, über schriftliche Konstitution von Bedeutung, über Wesen und Funktionen von Zeichen und über die Bedingungen und Erfolge von Entzifferungsprozessen aus – die »Lettern« der Sterne werden zum Inbegriff des Schrift-Zeichens überhaupt. Wo literarische Texte vom Blick auf die Sternenschrift handeln, handeln sie vom Lesen. Mit aller denkbaren Prägnanz formuliert Barbara Hunfeld die Folgen für die Literatur (als Kunst der litterae): »Der literarische Blick ins All ist […] immer auch ein Blick, den der Text auf sich selber wirft.« (S.3) Literarische Berichte vom Blick ins All partizipieren an der semantischen Komplexität des Topos von der Himmelsschrift. Die Reflexion über das All mit seiner Sternenschrift und über die in Zeichen menschlicher Provenienz verfaßten Texte konvergieren, wie Hunfeld im folgenden theoretisch weiter begründet und an Beispielen plausibilisiert, insgesamt unter zweierlei Aspekten: Zum einen beruht die »Affinität von Literatur und Kosmosreflexion« auf der für beide gleichermaßen wichtigen »Semantik des gestirnten Himmels«, zum anderen bedienen

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sich beide derselben Erschließungsinstrumente: der »Zeichen und der Einbildungskraft« (S.35). Wie der Kosmologe, so setzen Verfasser (und Leser) literarischer Texte auf die Einbildungskraft, wie oftmals im Bild des »inneren Auges« bespiegelt wird (S.36). Anläßlich literarisch inszenierter Blicke ins All werden nicht zuletzt Leistung und Grenzen des Imaginationsvermögens thematisiert – und erprobt. Vor Anbruch der Neuzeit stand der Himmel mit seinen Gestirnen den irdischen Belangen, Kontingenzen und Unzulänglichkeiten als das ferne Andere gegenüber; er schien der Zeit entrückt und markierte eine als absolut geltende Grenze des Erfahrbaren. Die von den Gestirnen ausgehende Verheißung einer in ihrer Schrift verfaßten Botschaft mochte Lese-Optimismus oder aber die Befürchtung menschlicher Leseinkompetenz wecken (vgl. dazu u.a. S.9) – entscheidend war die Unterstellung eines transzendenten Ursprungs und Grundes dieser Botschaft. Wie sich das Wissen über den Himmel von der Antike bis zur anbrechenden Neuzeit konfigurierte und modifizierte, zeichnet das erste Kapitel auf instruktive Weise nach; Diskurse über den Himmel sind, wie dabei im vergleichenden Blick auf Lukrez, Augustinus, Cusanus und Bruno deutlich wird, immer auch Diskurse über die Grenzen des Wissens, des Wißbaren und des Vorstellbaren – Grenzen, die sich allmählich verschieben –, Diskurse über die Relation zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit (vgl. dazu insbes. Kap. I.3: »Die unbestimmbare und die unermeßliche Sphäre (Cusanus, Bruno)«, S.20ff.; Kap.I.4: »Die Selbstübereinstimmung des Himmels«, S.30ff.). Deutlich werden in Hunfelds Darstellung zur einschlägigen Wissensgeschichte u.a. die ambigen Konsequenzen der kopernikanischen Einsichten: Der menschliche Betrachter muß seinen Anspruch auf Verortung im Zentrum der Welt zwar aufgeben, aber die Vernunft weiß sich fortan dafür auch »an keinen Ort im All gebunden« (S.19): Nicht der physische Ort, sondern die Kraft des Intellekts ist neuzeitlich-wissenschaftlichem Erkenntnisoptimismus gemäß die maßgebliche Bedingung für die Erkenntnis der Ordnung der Welt; der physisch aus der Weltmitte herausgetretene Mensch erfährt, eben weil er sich denkend mit dem Kosmos auseinandersetzt, »eine neue Privilegierung als intelligibles Subjekt« (S.39). Die Erfindung des Fernrohrs macht in der Geschichte der Sehhilfen in besonderem Maße Epoche. Nicht allein, daß es die Möglichkeit bietet, neue Einsichten der Naturwissenschaft in die Struktur des Kosmos, insbesondere natürlich die Ablösung des ptolemäischen durch das kopernikanische Weltmodell durch visuelle Evidenzen zu untermauern. Indem es sichtbar macht, was bisher unsichtbar war, provoziert es die Einsicht in die Dichotomie von Sichtbarem und Unsichtbarem als in eine medienabhängige, mithin histori-

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sche und kontingente Differenz. Galilei zeichnet auf, welche Sterne dem bloßen, und welche zusätzlichen Sterne dem instrumentell bewaffneten Auge sichtbar sind. Die Folge der Erweiterung des Sehfeldes ist eine Relativierung der Himmelsschrift; der aufs physische Sehen bezogene Erkenntnisgewinn wird also erkauft mit der Erschütterung der Gewißheit, am Himmel eine der Zeitlichkeit und allen technischen Bedingtheiten enthobene absolute Botschaft lesen zu können. Jeder, der sich fortan, um Entzifferung bemüht, mit der Schrift der Gestirne auseinandersetzt, muß sich auch auch mit dem Abgrund des Unsichtbaren hinter den Zeichen, dem Unlesbaren als der Folie des Lesbaren auseinandersetzen. Brockes führt, so Hunfeld, »den Weltraum der kopernikanischen Revolution als erhabenen und somit ästhetischen Gegenstand in die deutsche Literatur« ein (S.48). In seiner Natur-Lyrik kommen angesichts des Wissens um die Unermeßlichkeit des Alls wechselnde Haltungen zum Ausdruck; sie changieren zwischen dem von Schwindelgefühlen erzeugten Schrecken ob der Entgrenzung des Blicks (S.47), verbunden mit dem Wunsch, die Unermeßlichkeit des Himmels möge durch einen Vorhang nochmals verhüllbar sein (vgl. S.46), und dem Überschwang, den die Imagination gestattet, wenn sich der All-Betrachter momentan in den gedachten Betrachterstandpunkt Gottes versetzt (S.47). Brockes’ Welt-Lektüren im Irdischen Vergnügen in Gott stehen im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Himmelsraum des nachkopernikanischen Wissens, und das heißt eben auch: mit dem unauslotbaren unsichtbaren Pendant der Himmelszeichen. Es ist der Welt-Leser, der letztere auch im Angesicht der dispersiven Kräfte jenes Abgrunds zusammenhält – genauer: es sind die Kräfte seiner Imagination. Implizit stehen Brockes’ Auseinandersetzungen mit dem Himmel nicht zuletzt im Zeichen der Frage nach dem mimetischen Charakter literarisch-poetischer Darstellung. Wenn gelegentlich die Möglichkeit einer sprachlichen Abbildung des Alls in Zweifel gezogen wird, so lastet das lyrische Ich dies allerdings sich selbst an, nicht der Sprache als solcher (S.49). Die Gedichte des Irdischen Vergnügens geben dem Bedürfnis Ausdruck, die als zeichenhaft angesprochene Welt sprachlich ins Bild zu setzen – motiviert wohl nicht zuletzt durch die Sorge, die empirische Natur möge dem Betrachter sonst unlesbar bleiben (S.55). Gelingt es – wie vor allem beim Anblick des Firmaments – nicht, die überwältigende Fülle der Erscheinungen als sinnvollen Zusammenhang zu erfassen, dann müssen Imagination und Sprache des Dichters kompensatorisch ins Feld treten. Hunfelds einleuchtender Befund: »Wo das äußere Auge überfordert scheint, die sinnliche Welt zu formen, beansprucht das imaginierende innere Auge, sie auf seine Weise zu konfigurieren. Dazu bedarf es

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einer Sprache, die […] selbst Sehakte in Gang bringt, die über die Reproduktion von ›Wirklichkeit‹ hinausgehen.« (S.67) Daß der bedeutsame Kosmos ›herbeigeredet‹ werden muß (vgl. S.78), wo er dem Blick verloren geht, zeigen wie in einer Experimentalanordnung die von Hunfeld analysierten Gedichte »Das Firmament«, »Die schnelle Veränderung« und »Die Seiffen-Blase«. In den Werken Jean Pauls, der sich zeitlebens astronomisches Wissen angeeignet hat, wird nicht allein wiederholt und intensiv in den Himmel geblickt; die entsprechenden Szenen verraten durch ihre komplexe und aufwendige Ausgestaltung auch, welch paradigmatischer Status solchen Blicken für Jean Paul zukommt. Hunfeld verdeutlicht zunächst einen wichtigen Unterschied zwischen differenten Jean Paulschen Textgattungen (vgl. S.111): Während die astronomischen Kenntnisse des Autors in Gestalt disparater gelehrter Anspielungen in seine Satiren einfließen, rücken die Romane mit ihren Darstellungen erhabener Visionen des Alls zu solch szientifischem Wissen auf Distanz. Was das Jean Paulsche Betrachtersubjekt hier am Himmel sieht, ist keine gegebene, vermeßbare Wirklichkeit, und die Darstellung solchen Betrachtens läßt sich in Kategorien des Mimetischen nicht fassen. Statt mit einem astronomischen Himmel hat man es letztlich mit einem Produkt der Imagination und ihrer Sprache zu tun. Daß die eigenen Projektionen dem Himmelsbeobachter ersetzen müssen, was sich seinem Blick entzieht, ist ein Befund, dessen Ambivalenz Jean Paul erfaßt und literarisch reflektiert. Albanos im Titan geschilderten Himmelsblicke illustrieren: Eine Möglichkeit, sich der Transzendenz durch den Blick in den Himmel zu versichern, besteht nicht mehr; kompensatorisch tritt eine Imagination auf den Plan, die sich »ihren« Himmel entwirft. Ihre Macht und – komplementär dazu – die Ahnung davon, daß es eben die Macht der Imagination ist, die sich bei jeder »Himmelsschau« zur Geltung bringt, führen einerseits zu Aufschwüngen einer sich und ihre Erzeugnisse genießenden Phantasie, andererseits zu existenziellen Ängsten vor Leere und Vernichtung. Die Erschaffung einer »zweiten Welt« aus eigener subjektiver Kraft macht sich vor allem die der Sprache inhärenten Synthetisierungs- und Semantisierungspotenziale zunutze. Der visionäre Charakter der von Jean Paul im Medium poetischer Sprache modellierten und zugleich als Produkt sprachlicher Modellierung reflektierten »zweiten Welt« wird vor allem durch das Motiv der Blindheit, des verschlossenen Auges und der inneren Schau unterstrichen. Jean Pauls Himmelsschau-Szenen illustrieren pointiert, was Hunfeld als eine das gesamte Œuvre prägende Grundspannung deutlich herausstellt: »zwischen der Aufwertung des Subjekts und dem Verdikt des Subjektivismus« changierend (S.138) und in Zusammenhang damit sowohl auf die »Selbstzeugungskraft

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der Zeichen« (S.139) setzend wie auch diese Kraft als trügerisch beargwöhnend, stellt Jean Paul einander durchgängig zwei unvereinbare Positionen gegenüber: »die Behauptung eines absolut Darstellungsunabhängigen« namens »zweite Welt« und »die Totalisierung von Darstellung« (ebd.), welche darauf hinausläuft, die zweite Welt als sprachliches Konstrukt zu begreifen. Die poetologische Folge ist eine unaufhebbare Spannung zwischen »semiotischer Transparenzutopie und autoreferentieller Selbstbeglaubigung« (ebd.). Goethe läßt seinen Protagonisten Wilhelm Meister in den Wanderjahren eine Sternwarte besuchen. Mit dieser Episode verbindet sich der Darstellungskomplex um Makarie als Schnittpunkt komplexer Korrespondenzen innerhalb der sozialen und der stellaren Welt, als ›Leitstern‹. Die Frage nach der Ordnung der Welt und ihrer Zeichen wird im Meister, wie Hunfeld darlegt, sprachkritisch beantwortet: Es gibt keine absolute Ordnung, aber Sprache vermag Ordnungen zu stiften. Für Goethe, der einerseits die Präzision der zeitgenössischen Astronomie positiv würdigte, andererseits die Dominanz technisch-instrumenteller Faktoren bei der Himmelsbeobachtung beklagte (vgl. S.152), ist dem von der Astronomie beobachteten Himmel keine »Evidenz einer universalen Ordnung« (ebd.) mehr abzugewinnen; zwischen »Kosmos« und »All« tut sich ein Abgrund auf (vgl. ebd.), der dem von Vermeßbarem und Symbolischem korrespondiert. Das All an sich ist nichts weiter als ungeheuer (im mehrfachen Wortsinn); Bedeutungen müssen ihm zugeschrieben, Ordnungen in seine Unermeßlichkeiten hineingelesen werden. Nicht die Beschreibung des Alls selbst, sondern die des Betrachters prägt in Abstimmung darauf die Sternwarten-Szene (vgl. S.161). Mit anderer Akzentuierung als bei Jean Paul (dessen Himmelsblicke vor allem im Zeichen der Frage nach der »zweiten Welt« stehen) bestätigt sich in Goethes Reflexionen über die Ordnung der sichtbaren Welt die Abhängigkeit bedeutsamer und »lesbarer« Strukturen von der Sprache und den Zeichen selbst: Dem Rätsel des Unlesbaren in der Welt setzt Goethes Protagonist einen »sprachlich konfigurierten Kosmos der Bedeutsamkeit« entgegen (S.170). Das Projekt einer Strukturierung des an sich Unstrukturierten verbindet sich auch mit dem Motiv des Archivs; mit dessen Thematisierung wird ein Schrift-Kosmos modelliert, der ein »mythisches Universum der Ähnlichkeit« spiegelt (S.177). Der Kosmos des Erzählers weist allerdings Lücken auf, das Archiv ist unvollständig (S.179). Stifters Figuren im Condor bemühen sich noch einmal darum, die gegenständliche Welt als solche unmittelbar als geordnete zu fassen. Sie scheitern, denn der Himmel ist zwar schön, aber leer (S.193); Hybris schlägt in Entsetzen um. Der Versuch, sich dem Himmel und seinen Zeichen zu nähern, führt

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anläßlich einer Ballonfahrt zur erschreckenden Einsicht in die Eingeschlossenheit des Menschen in ein Welt-»Gehäuse« (vgl. S.207), das den Betrachter nichts anderes erblicken läßt als Bilder; programmatisch erscheint der Vergleich solcher Welterfahrung mit dem Beobachten der Projektionen einer Laterna magica. Hunfelds Diagnose ist wiederum so prägnant, daß sie buchstäblich zitiert sei: »Der Kosmos der Zeichen ist unentrinnbar. Dies zeigt auch die sprachliche Form der ›laterna magica‹-Metapher selbst; auch sie ist Bild; eine abschließende ›Gegenständlichkeit‹ der Welt ist nicht in Sicht. Der Kosmos der Zeichen ist geschlossen, doch in der Bewegung der Verweisungen unabschließbar« (S.207). Die vom »Kopernikanischen« Naturlyriker Brockes über die sprach- und darstellungsbewußten Romanciers Jean Paul und Goethe zu Stifters beklemmendem Szenario eines Gehäuses voller Bilder führende Linie bestätigt: Blicke ins All spielen in der Geschichte menschlichen Wissens und der kritischen Reflexion über dieses Wissen eine ebensolch paradigmatische Rolle wie sie in der Literatur zum prägnanten Anlaß werden, über die Bedingtheiten der Erfahrung und Lektüre der Welt und im Zusammenhang damit über die eigene darstellerische Praxis zu reflektieren. Barbara Hunfelds Dissertation bietet zum einen eine souverän angelegte und ausformulierte Übersicht über die Geschichte des Himmels-Wissens, zum anderen erschließt sie ebenso souverän die differenten Bedeutungsschichten der analysierten Texte. (Die durch keine andere Darstellungsform und durch keinen wissenschaftlichtheoretischen Diskurs ersetzbare spezifische Signifikanz literarischer Darstellung für die Reflexion über menschliche Weltbezüge und Weltmodelle zeigt sich daran exemplarisch.) Im Ausgang von der in Hunfelds Buch erschlossenen Autoren-Konstellation mögen im folgenden andere Gestirne in den Blick genommen werden; an weiteren Texten, die den Topos der Himmelszeichen aufgreifen, mögen weitere Modifikationen des Himmelsblicks wahrgenommen und weitere Verflechtungen mit der Geschichte des Sehens und des literarischen Schreibens entdeckt werden: Das Verdienst, hierfür eine Sehhilfe bereitgestellt zu haben, kommt der vorliegenden Dissertation zu. Monika Schmitz-Emans (Bochum)

ANSCHRIFTEN DER MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DES JAHRBUCHS

Prof. Dr. Bernhard Buschendorf, Schadowstraße 10, 60596 Frankfurt a.M. Prof. Dr. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Dr. phil. habil. Jochen Golz, Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Direktion Goethe- und Schiller-Archiv, Hans-Wahl-Straße 4, 99425 Weimar PD Dr. Benedikt Jeßing, Germanistisches Institut, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, GB 3/60, 44780 Bochum Dr. Maria-Verena Leistner, Brockhausstraße 61, 04229 Leipzig Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abteilung, Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, GB 3/60, 44780 Bochum Prof. Dr. Marisa Siguan Boehmer, Catedrática de Filología Alemanya, Departament de Filología Anglesa i Alemanya, Facultat de Filología, Universitat de Barcelona, Gran Via, 585, E-08007 Barcelona Prof. Dr. Ralf Simon, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Dr. habil. Christian Sinn, Zollernstraße 1, 78462 Konstanz

Für ihr Mitwirken an den Korrekturarbeiten bedanken sich die Herausgeberinnen und Herausgeber sowie der Redakteur des Jahrbuchs herzlich bei Petra Zaus, Danielle Schwab, Christian Bachmann, Alexander Kupsch und Florian Hauck.