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German Pages 110 [112] Year 1996
RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding Band 10
Elizabeth Ann Gondos
Auf dem Weg zur rhetorischen Theorie Rhetorische Reflexion im ausgehenden fünften Jahrhundert v. Chr.
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Für Uli
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gondos, Elizabeth Ann: Auf dem Weg zur rhetorischen Theorie : rhetorische Reflexion im ausgehenden fünften Jahrhundert v. Chr. / Elizabeth Ann Gondos. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Rhetorik-Forschungen ; Bd. 10) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1995 NE: GT ISBN 3-484-68010-5
ISSN 0939-6462
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG/Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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1.
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Die Person des Redners 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
2.
3.
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Publikums-Psychologie
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2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
27 30 33 36 38
Verschiedene Zuhörerschaften Anpassung der Rede an das Publikum 'Nach dem Mund reden' Die Zusammensetzung eines Publikums Fazit
Gefühlsstrategien 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
4.
Persönliche Glaubwürdigkeit Positive Selbstdarstellung in der Rede Diabolë Fazit
Mitleid Freude Wut Angst Fazit
40 '43 47 49 53 57
Rationale Mittel der Rede
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4.1. Argumente
61
4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4. 4.1.5. 4.1.6. 4.1.7.
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Der Einsatz von Argumenten Das Rechtsargument Weitere Argumente Nutzen als erfolgversprechendes Argument Grenzen rechtlicher Argumentation Der Redesituation angemessene Argumente Fazit
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4.2. Belege
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4.2.1. Zeugnisse {μαρτύρια) 4.2.2. Zeichen (σημεία) 4.2.3. Tekméria 4.2.3.1. Verschiedene Arten von tekméria 4.2.3.2. Tekméria und Gewißheit 4.2.3.3. Zeichen (σημβΐov) und tekmérion 4.2.4. Beispiele (παραδείγματα) 4.2.5. Das Wahrscheinliche (εικός) 4.2.6. Fazit
72 74 76 77 78 82 83 85 89
Schlußresümee
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Bibliographische Nachweise
95
Stellenindex
102
Einleitung
In Abhandlungen zur Geschichte der antiken Rhetorik kann man erfahren, daß im ausgehenden fünften Jahrhundert v.Chr. neben der "praktische[n] Beredsamkeit", die "es bei den Griechen seit eh und je gegeben" hatte, nun "eine reflektiert geübte Beredsamkeit" einsetzte. 1 Welcher Art diese neu aufgekommene Reflexion war, wurde in der Forschung bisher vor allem durch Untersuchungen über die sogenannten Sophisten 2 und deren Redeunterricht auszumachen versucht. 3 Bedauerlicherweise haben diese Männer — Protagoras, Gorgias, Prodikos, Hippias, Thrasymachos und andere — nur wenig hinterlassen, anhand dessen man ihre Ideen und Lehren rekonstruieren könnte. 4 Was an Texten und Fragmenten der Sophisten selbst erhalten ist, würde zusammengenommen nicht mehr als zwanzig Seiten in einem modernen Buch füllen, wie J. de Romilly zur Veranschaulichung herausgestellt hat, 5 und es sind keine theoretischen Schriften zur Rhetorik darunter. 6
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M.Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, München - Zürich 1990, S. 15f. G.A.Kennedy spricht von "greatly increased consciousness of rhetorical techniques in fifthcentury Athens" (The Art of Persuasion in Greece, Princeton 1963, S. 27), P.Wülfing-v.Martitz von der "rationalen Durchdringung" der Rede, die man in früherer Zeit nicht finde (Grundlagen und Anfänge der Rhetorik in der Antike, Euphorion 63, 1969, S. 208); vgl. hierzu auch W.Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte, Darmstadt 1974, S. 8ff. Zur Bezeichnung 'Sophist' siehe C.J.Classen, Einleitung, in: C.J.Classen (Hg.), Sophistik, Darmstadt 1976, S. Iff., sowie G.B.Kerferd, The Sophistic Movement, Cambridge 1981, S. 24ff. - Für einen Überblick über die Forschungsliteratur zu den Sophisten siehe C.J.Classen, Bibliographie zur Sophistik, Elenchos 6, 1985, S. 75-140. Siehe v.a. A.Gercke, Die alte τέχνη ρητορική und ihre Gegner, Hermes 32, 1897, S. 341-381; O.Navarre, Essai sur la rhétorique grecque avant Aristote, Paris 1900; W.Süss, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik, Leipzig 1910 (ND Aalen 1975); P.Hamberger, Die rednerische Disposition in der alten ΤΕΧΝΗ ΡΗΤΟΡΙΚΗ (Korax - Gorgias - Antiphon), Paderborn 1914; S.Wilcox, The Scope of Early Rhetorical Instruction, Harvard Studies in Classical Philology 53, 1942, S. 121-155; Kennedy, The Art of Persuasion in Greece, S. 52ff.; O.Baumhauer, Die sophistische Rhetorik, Stuttgart 1986; R.L.Enos, Greek Rhetoric before Aristotle, Prospect Heights (111.) 1993. Zu diesem Problem siehe C.J.Classen, Die griechische Sophistik in der Forschung der letzten dreißig Jahre, Lampas 8, 1975, S. 344; Kerferd S. Iff.; J.de Romilly, Les grands Sophistes dans l'Athènes de Périclès, Paris 1988, S. lOff. J. de Romilly, Les grands Sophistes dans l'Athènes de Périclès, S. 11. Über manche der Sophisten wird in späterer Zeit berichtet, sie hätten eine rhetorische Schrift, eine sogenannte technê, geschrieben; siehe bei L.Radermacher (Hg.), Artium scriptores (Reste der voraristotelischen Rhetorik), Wien 1951, Β VII 1 (über Gorgias), Β IX 2 (Thrasymachos), Β X 7f. (Antiphon) und Β XXIII 9 (Lysias). Da jedoch keine solchen technai aus dem fünften Jahrhundert erhalten sind, läßt sich darüber nur spekulieren, ob zu jener Zeit tatsächlich schon welche verfaßt worden sind F. Heinimann (Eine vorplatonische Theorie der ΤΕΧΝΗ, in:
2 Einige der überlieferten Originaltexte — vor allem zwei Reden von Gorgias, der Lobpreis der Helena und der Palamedes1 - enthalten Bemerkungen über das Reden; die meisten Informationen zur sophistischen Rhetorik, die wir heute haben, stammen jedoch von Piaton und Aristoteles, und damit aus dem vierten Jahrhundert, oder aber aus noch späterer Zeit. 8 Jeder Versuch, den Stand der Rhetorik des fünften Jahrhunderts anhand von Piatons Dialogen zu rekonstruieren, ist allerdings mit einem methodischen Problem behaftet — und bei Texten aus späterer Zeit gilt dies in noch stärkerem Maße. Denn dabei muß veranschlagt werden, daß Piaton sein eigenes Theorie- bzw. Abstraktionsniveau in einem von uns nicht einschätzbaren Maße hat einfließen lassen. Piatons bekanntermaßen negatives Urteil über die Rhetorik ist demgegenüber das geringere Problem, denn es läßt sich in Rechnung stellen. Da man jedoch kaum anderweitige Kenntnisse über das Reflexionsniveau der sophistischen Rhetorik hat, läßt sich nicht beurteilen, wie authentisch Piatons Schilderungen der Sophisten in dieser Hinsicht sind und damit geeignet, Aufschlüsse über das fünfte Jahrhundert zu geben. 9 Und so sind in der Forschungsliteratur Zweifel an Piatons Darstellung der sophistischen Rhetorik angemeldet worden, zum Beispiel, ob die Rhetorik-Definition, die im Gorgias formuliert wird, 10 wirklich vom historischen Redelehrer Gorgias stammt oder vielmehr von Piaton,11 denn es sind keine früheren, originär sophistischen Definitionen für Rhetorik überliefert. Und in jüngster Zeit ist die These aufgestellt worden, selbst das Wort 'Rhetorik' (ή ρητορική [τέχνη]), das für das fünfte Jahrhundert nicht belegt ist, könnte von Piaton — vielleicht gerade im Zusammenhang des Gorgias — geprägt worden und damit kein von den
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C.J.Classen (Hg.), Sophistik, S. 133, Anm. 19) meint, ja; G.A.Kennedy (The Earliest Rhetorical Handbooks, American Journal of Philology 80, 1959, S. 172, und The Art of Persuasion in Greece, S. 54) ebenfalls; F.Blass (Die attische Beredsamkeit Bd. 1. Von Gorgias bis zu Lysias, 2 Hildesheim 1962 ('Leipzig 1868) S. 57) bezweifelt es bezüglich Gorgias; Ch.P.Segal (Gorgias and the Psychology of the Logos, Harvard Studies in Classical Philology 66, 1962, S. 152, Anm. 107) ist geneigt, ihm darin zu folgen. Abgedruckt in: Die Fragmente der Vorsokratiker griechisch und deutsch von H.Diels, hg. v. W.Kranz (DK), 2 Bde. und 1 Bd. Indices, 'Berlin 1951-60 (ND 1974), 82 Β 11 und IIa. - Für deutsche Übersetzungen der Reden siehe: Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, hg. m. Übers, und Komm, von Th.Buchheim, Hamburg 1989. Siehe die Zusammenstellung in den einschlägigen Fragmentsammlungen: DK Bd. 2, S. 252ff., sowie bei Radermacher. Vgl. hierzu auch Classen, Die griechische Sophistik in der Forschung der letzten dreißig Jahre, S. 348. Grg. 453a2. - Siehe hierzu auch unten S. 3f. [Antike Autoren und deren Werke werden hier abgekürzt nach den Konventionen von: A Greek-English Lexicon. Compiled by H.G.Liddell and R.Scott. A New Edition. Revised and Augmented throughout by Sir H.S.Jones, Oxford 1940. With a Supplement 1968 (ND 1989), S. xvi ff.] Zuerst von H.Mutschmann, Die älteste Definition der Rhetorik, Hermes 53, 1918, S. 440^43. - Für einen Forschungsüberblick zu diesem Thema siehe A.Hellwig, Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Piaton und Aristoteles, Göttingen 1973, S. 25f.
3 Redelehrern schon im fünften Jahrhundert verwendeter Begriff gewesen sein. 12 Aufgrund dieser Überlieferungssituation gehen die Meinungen bei der Einschätzung sophistischer Rhetorik in der Forschung auch noch in jüngster Zeit weit auseinander: Nach O.Baumhauer etwa war die "Rhetorik [...] für die Sophisten [...] eine empiriegegründete, praxisorientierte Theorie, ein 'wissenschaftlich' fundiertes, lehr- und lernbares System regelhafter Handlungsanweisungen".13 Die extreme Gegenposition hierzu vertritt Th.Cole: Für das fünfte Jahrhundert könne man noch nicht von rhetorischer Theorie oder überhaupt von Rhetorik im eigentlichen Sinne sprechen; es handle sich erst um eine Vorstufe der Rhetorik, die er als 'Protorhetorik' bezeichnet. Ihr fehle "[...] the analytical metalanguage characteristic of later rhetoric, and with it the ability, either to formulate general principles governing the use of discourse, or relate them to particular instances. It can only illustrate - not explain or justify - the construction of discourses that are long or short or pathetic or rousing or put together out of reusable components in a given manner. It can neither analyze the process of communication itself nor [...] give the student the means of knowing when one sort of speech should be used rather than another. 14 In der vorliegenden Untersuchung soll nun eine bisher kaum genutzte Informationsquelle herangezogen werden, um über rhetorische Reflexion im ausgehenden fünften Jahrhundert mehr zu erfahren. Gemeint ist die Literatur, die aus jener Zeit erhalten ist: Tragödien von Sophokles und Euripides, Komödien von Aristophanes, Gerichtsreden von Antiphon, Andokides und Lysias und das Geschichtswerk des Thukydides. Denn diese Werke enthalten eine Fülle von Bemerkungen, in denen sich rhetorische Reflexion niederschlägt — 'rhetorisch' im Sinne der ersten überlieferten Definition von 'Rhetorik', wie sie in Piatons Gorgias zu finden ist: Dort wird es als Aufgabe der Rhetorik definiert, peitho (Überredung/Überzeugung) zu erzeugen. 15 In der Literatur des ausgehenden fünften Jahrhunderts findet man nun eine Vielzahl von Bemerkungen, in denen Möglichkeiten erörtert werden, erfolgreich zu überreden bzw. zu überzeugen und damit: peitho zu erzeugen. Wie bereits erwähnt, ist der Begriff 'Rhetorik' selbst (ή ρητορικη) für das fünfte Jahrhun12
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Siehe E.Schiappa, Did Plato Coin Rhêtorikê?, American Journal of Philology 111, 1990, S. 457470; so auch Th.Cole, The Origins of Rhetoric in Ancient Greece, Baltimore 1991, S. 2. Dagegen: N.O'Sullivan, Plato and ή καλουμένη ρητορική, Mnemosyne 46, 1993, S. 87-89. - Auch in bezug auf die Passage im Phaidros (267a6ff.), in der es um die Rolle der Wahrscheinlichkeit in der rhetorischen Theorie von Teisias und Gorgias geht, ist der Verdacht geäußert worden, es handle sich um Formulierungen Piatons und nicht um die authentische Wiedergabe eines rhetorischen Theorems aus dem fiinften Jahrhundert; siehe E.Schiappa, The Beginnings of Greek Rhetorical Theory, in: Rhetorical Movement. Essays in Honor of Leland M. Griffin, hg. v. D.Zarefsky, Evanston (111.) 1993, S. 13ff.; M.Gagarin, Probability and Persuasion. Plato and Early Greek Rhetoric, in: Persuasion: Greek Rhetoric in Action, hg. v. I.Worthington, London - New York 1994, S. 46-68. S. 77. S. 92. 453alff.: "... πάθους δημιουργός ίστιν ή ρητορικη, και ή τ pay ματ eia αυτής άπασα και το κεφάΧαιον eiç τοντο reXevrqi".
4 dert nicht belegt, 16 jedoch das Wort peithein (τάθαν), das für die Rhetorik-Definition bei Piaton konstitutiv ist. 17 Es wird in der Literatur jener Zeit häufig verwendet. 18 Das Verb peithein, meist mit 'überreden' oder 'überzeugen' übersetzt, läßt sich im Deutschen nicht durch eine einzige Vokabel wiedergeben; es beinhaltet sowohl ein Beeinflussen auf rationalem wie auch auf nicht-rationalem Wege und damit gleichzeitig ein "Einwirken auf den Verstand durch Erkenntnis" und ein "Einwirken auf den Willen oder das Gemüt durch Auslösen eines Willensentschlusses oder einer Gemütsstimmung" 19 . Umfassend umschreiben läßt sich das Wort peithein am ehesten durch: '(jemanden) dazu bringen, etwas zu tun bzw. zu glauben'. 20 Diese Untersuchung wird sich damit beschäftigen, was in der Literatur des ausgehenden fünften Jahrhunderts zum Thema Überreden/Überzeugen geäußert wird. 21 Es wird im folgenden also nicht darum gehen, rhetorische Mittel zu untersuchen, die in den Werken von Euripides, Thukydides und anderen verwendet werden. 22 Denn damit erfaßt man gerade 16 17
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Hierzu ausführlich Schiappa, Did Plato Coin Rhêtorikê?, S. 457ff. Dasselbe gilt für die Definition von Rhetorik, die Aristoteles formuliert; für ihn ist Rhetorik die Theorie des pithanon, d.h. dessen, was überzeugen kann (Rh. 1355b 1 Off.). In den erhaltenen Dramen von Sophokles und in Aristophanes' Komödien jeweils ca. 100 Nennungen (siehe: F.Ellendt, Lexicon Sophocleum, hg. v. H.Genthe, 2Berlin 1872 (ND Hildesheim 1958), s.v.; O.J.Todd, Index Aristophaneus, Cambridge (Mass.) 1932, s.v.); bei Euripides ca. 170 (siehe: J.T.Allen und G.Italie, A Concordance to Euripides, Berkeley-Los Angeles-London 1954, s.v.), in Thukydides' Geschichtswerk ca. 200 (M.H.N, von Essen, Index Thucydideus, Berlin 1887 (ND Darmstadt 1964), s.v.). - Das Substantiv peitho findet man dagegen selten: bei Aristophanes fünfmal, bei Euripides siebenmal, bei Sophokles viermal, bei Thukydides einmal. Beide Formulierungen nach Hellwig S. 33. Vgl. R.G.A.Buxton, Persuasion in Greek Tragedy. A Study of Peitho, Cambridge 1982, S. 49: "to 'get (someone) to acquiesce in (some belief or action)' ...". - Zur Bedeutungsspanne von peithein siehe auch G.M.Pepe, Studies in Peitho, Diss. Princeton 1966, S. 2ff.; A.P.D.Mourelatos, The Route of Parmenides, New Haven 1970, S. 136ff.; Th.Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986, S. 23f. In ihren Untersuchungen zu peitho!peithein gehen Pepe und Buxton auf diesen Aspekt nicht ein; Buxton schließt ihn sogar explizit aus: "I want to emphasize at the outset that I shall not be treating the plays of Aischylos, Sophokles and Euripides as documents, as sources of evidence for what the Athenians in general, or Aischylos, Sophokles and Euripides in particular, might have thought about 'peitho'. (...) The aim of my analysis will be to reveal how a particular facet of human experience is realized in precise dramatic terms." (S. 3; Hervorh. durch R.G.A.Buxton.) Aus der Fülle der Untersuchungen, die sich das zur Aufgabe gemacht haben, seien hier genannt: J.Becker, De sophisticarum artium vestigiis apud Thucydides, Diss. Berlin 1864; F. Stein, De figurarum apud Thucydides usu, Schulprogramm Köln 1881; Th.Miller, Euripides Rhetoricus, Diss. Göttingen 1887; J.C.Robertson, The Gorgianic Figures in Early Greek Prose, Diss. Baltimore 1893; L.Mader, Über die hauptsächlichen Mittel, mit denen Euripides Eleos zu erregen sucht, Diss. Erlangen 1907; F.Rittelmeyer, Thukydides und die Sophistik, Diss. Erlangen 1915; K.Schön, Die Scheinargumente bei Lysias, Diss. Würzburg 1918; F.Schupp, Zur Geschichte der Beweistopik in der älteren griechischen Gerichtsrede, Wiener Studien 45, 1926-27, S. 17-28 und 173-185; O.Danninger, Über das άκός in den Reden bei Thukydides, Wiener Studien 49, 193132, S. 11-31; S.Wilcox, The Destructive Hypothetical Syllogism in Greek Logic and Attic Ora-
5 nicht die als neu konstatierte23 Dimension der Rhetorik jener Zeit, das Reflektieren über Rhetorik. 24 Der Einsatz eines rhetorischen Mittels gibt per se noch keinen Aufschluß darüber, ob dabei bewußt oder lediglich intuitiv vorgegangen wurde. Es ist daher nicht legitim, allein aus der Verwendung rednerischer Mittel auf eine bewußte Verwendung oder gar auf eine ihr zugrunde liegende rhetorische Theorie zu schließen, wie es manchmal geschieht. 25 In der vorliegenden Arbeit wird daher untersucht, was in jenen Texten über welche rhetorischen Mittel gesagt wird. Diese Vorgehensweise ist nicht grundsätzlich neu; gerade für das ausgehende fünfte Jahrhundert hat sie sich auch in anderen Bereichen als fruchtbar erwiesen. 26 In Hinblick auf die Rhetorik ist sie bisher allerdings nur im Rahmen kleinerer Arbeiten eingesetzt worden: A.Podlecki hat in einem Aufsatz untersucht, was im Sophokleischen Philoktet über das Reden gesagt wird, 27 und E.Schmalzriedt hat anhand von Äußerungen in den Dramen von Sophokles nachgewiesen, daß jener Dichter mit mehreren rhetorischen Theoremen vertraut war. 28 Angesprochen wird die Vorgehensweise auch von O.Luschnat in seinem Artikel zu Thukydides in der Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, denn er betont dort unter der Überschrift 'Thukydides und die Rhetorik des 5.Jahrhunderts', daß es hierbei "[...] nicht den 'Stil' des Thukydides" zu untersuchen gelte, "[...] sondern [...] Äußerungen, die die Art seines Reflektierens über Theorien und Praktiken seiner Zeit zeigen [..,]" 29 .
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tory, Diss. Yale 1938; W.Voegelin, Die Diabole bei Lysias. Das Verhältnis von Bürger und Staat in der Rechtsprechung der attischen Demokratie, Diss. Basel 1943; G.Graf, Die Agonszenen bei Euripides, Diss. Göttingen 1950; G.A.Kennedy, Focusing of Argument in Greek Deliberative Oratory, Transactions and Proceedings of the American Philological Association 90, 1959, S. 131-38; R.L.Murray Jr., Persuasion in Euripides, Diss. Cornell 1964; J.Gommel, Rhetorisches Argumentieren bei Thukydides, Hildesheim 1966; D.Fehling, Die Wiederholungsfiguren und ihr Gebrauch bei den Griechen vor Gorgias, Berlin 1969; P.Grau, Proömiengestaltung bei Lysias, Diss. Würzburg 1971; B.Due, Antiphon, a Study in Argumentation, Kopenhagen 1980; R.Leimbach, Militärische Musterrhetorik. Eine Untersuchung zu den Feldherrnreden des Thukydides, Stuttgart 1985. Siehe oben S. 1. Wobei hier nicht verschwiegen werden soll, daß um 430 v.Chr. in der Literatur auch ein starker Anstieg an rhetorischen Mitteln, die in den Texten verwendet werden, zu verzeichnen ist; siehe hierzu v.a. Graf S. 201ff. Besonders eklatant bei P.Moraux, Thucydide et la rhétorique. Étude sur la structure des deux discourse III 37-48, Les Études Classiques 22, 1954, v.a. S.23; nicht deutlich genug differenziert in dieser Hinsicht auch C.W.Macleod, Form and Meaning in the Melian Dialogue, Historia 23, 1974, S. 385. Siehe v.a. M.Pohlenz, Die Anfange der griechischen Poetik, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, philol.-hist. Klasse, 1920, S. 142-178; N.O'Sullivan, Alcidamas, Aristophanes and the Beginnings of Greek Stylistic Theory, Stuttgart 1992. A.J.Podlecki, The Power of the Word in Sophocles' Philoctetes, Greek, Roman and Byzantine Studies 7, 1966, S. 233-250. E.Schmalzriedt, Sophokles und die Rhetorik, Rhetorik 1, 1980 S. 89-110. Siehe hierzu auch E.M.Craik, Sophokles and the Sophists, L'Antiquité Classique 49, 1980, S. 247-254. Paulys Realencyclopädie der Class. Altertumswissenschaft, hg. v. K.Ziegler, Suppl.-Bd. XII, Stuttgart 1970, Sp. 1150.
6 Nun noch eine letzte Vorbemerkung; sie gilt der Auswahl der Texte, die als Grundlage dieser Untersuchung dienen: Bemerkungen aus der älteren griechischen Literatur werden im folgenden miteinbezogen. Denn das Verb peithein findet sich bereits in den Homerischen Epen, 30 und das sogar recht häufig - in Ilias und Odyssee zusammengenommen über zweihundertmal, 31 und damit so oft wie bei Thukydides. Im Zentrum steht jedoch die Literatur des letzten Drittels des fünften Jahrhunderts; dabei werden ausschließlich solche Texte berücksichtigt, deren Entstehung sich eindeutig vor 400 v.Chr. datieren läßt. Nicht etwa deshalb, weil das Jahr 400 in rhetorischer Hinsicht als eine historische Grenze anzusehen wäre, sondern um sicherzustellen, daß es sich wirklich um Reflexion aus dem fünften Jahrhundert handelt.
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Das Substantiv peitho allerdings nicht; es erscheint zum ersten Mal bei Hesiod als Bezeichnung fiir eine Göttin (771. 349 und Op. 73). - Zu peithoIpeithein in der älteren griechischen Literatur siehe F.Voigt, Peitho, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. XIX,1, hg. v. W.Kroll, Stuttgart 1937, Sp. 194ff.; Pepe S. lOff.; Buxton S. 29ff. Nach dem Lexicon Homericum, hg. von H.Ebeling, Hildesheim 1963, Bd. 2, s.v.; bei Pindar 18 mal (siehe J.Rumpel, Lexicon Pindaricum, Leipzig 1883, s.v.), bei Aischylos etwas weniger als 50 mal (G.Italie, Index Aeschyleus, editio altera correcta et aucta curavit S.L.Radt, Leiden 1964, s.v.), bei Herodot fast 150 mal (J.E.Powell, A Lexicon to Herodotus, Cambridge 1938, s.v.).
1. Die Person des Redners
Von den Überzeugungsmitteln (πίστεων), die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten (άδη): Sie sind nämlich entweder im Charakter des Redners ('tv τψ ήθα του Xéyovroç) begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu versetzen (tv τφ τον άκροατήν διαθβϊναί πως), oder schließlich in der Rede selbst (tv αύτφ τφ λόγψ), d.h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen (διά τον δεικννναι η φαίνεσθαι δβικνύναϊ)·1 In dieser Weise unterscheidet im vierten Jahrhundert Aristoteles zu Beginn seiner Abhandlung über Rhetorik. Das vorliegende Kapitel wird sich mit dem ersten dieser drei Überzeugungsmittel beschäftigen, mit dem Redner und insbesondere mit der Bedeutung der Person des Redenden für den Erfolg einer Rede. Die Relevanz der persönlichen Glaubwürdigkeit des Redners wird von Aristoteles mehrfach betont. 2 Um glaubhaft zu wirken, müsse man in der Rede Einsicht, Tugend und Wohlwollen vermitteln. 3 Schon frühere Verfasser rhetorischer Handbücher, so berichtet er, seien mit diesem Ethos, das es in der Rede zu zeigen gelte, gut vertraut gewesen, ebenso wie mit der diabolê,4 — Die diaboli (διαβολή) stellt in der rhetorischen Theorie sozusagen die Umkehrung der Erzeugung von Ethos dar, denn sie besteht darin, Schlechtes über einen Gegenredner zu äußern, um ihm die Glaubwürdigkeit zu nehmen. Die Rhetorik an Alexander,5 das früheste erhaltene rhetorische Handbuch neben Aristoteles' Rhetorik, weist ebenfalls auf die Bedeutung des Ansehens der Person des Redners6 für den rednerischen Erfolg hin und gibt zahlreiche praktische Hinweise, wie man sich in der öffentlichen Rede als ehrenwerter Bürger darstellen könne, um das Wohlwollen der Zuhörer zu gewinnen, sowie Empfehlungen zur Verleumdung eines politischen oder gerichtlichen Gegners, dazuhin auch Möglichkeiten, sich gegen eine auf die eigene Person gerichtete diabolê zu wehren. 7 1
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Arist. Rh. 1356alff.; Übers. F.G.Sieveke. [Für die vollständigen bibliographischen Angaben zu den hier zitierten Übersetzungen siehe unten S. 96.] Siehe v.a. Arist. Rh. 1356a4ff.; 1366a8ff.; 1378al4f. Ebd. 1378a6ff. Desgleichen mit dem Ansprechen von Affekten in den Zuhörern; was Aristoteles dagegen als seine eigene Leistung in Anspruch nimmt, ist die ausführliche Behandlung des Enthymems (siehe Rh. 1354allff.). Siehe hierzu, besonders zu Fragen der Verfasserschaft - die Schrift ist vor allem Aristoteles und Anaximenes von Lampsakos zugeschrieben worden: M.Fuhrmann, Untersuchungen zur Textgeschichte der pseudo-aristotelischen Alexander-Rhetorik (der Τίχνη des Anaximenes von Lampsakos), Wiesbaden 1965; zur Datierung des Textes vgl. auch E.G.Turner, Greek Papyri. An Introduction, Oxford 1968, S. 99. Dort die δόξα τον Xéyovroç genannt (143lb9). 1436b ff.
8 Wie H.-M. Hagen feststellt, ist 'Ethos' weder bei Gorgias noch bei Isokrates als rhetorischer Fachbegriff belegt.8 Auch Piaton erwähnt in seinen Dialogen nichts davon, wenn er auf den sophistischen Redeunterricht (des fünften Jahrhunderts) zu sprechen kommt. Einzig im Phaidros wird über den Sophisten Thrasymachos gesagt, er sei der Beste im Einsetzen und Entkräften der diabolë gewesen,9 was allerdings genau genommen eine Äußerung über dessen praktische Fähigkeiten auf dem Gebiet ist, jedoch nicht zwangsläufig auch über eine theoretische Beschäftigung damit. Die praktische Anwendung dieser Mittel kann man freilich bereits in der Ilias finden. Dort wird die positive Variante - Ethos in der Rede - verschiedentlich eingesetzt.10
1.1. Persönliche Glaubwürdigkeit Äußerungen in Texten des ausgehenden fünften Jahrhunderts belegen, daß es schon damals auch Reflexion über die Bedeutung der Person des Redners für den Überzeugungsprozeß und über rhetorische Möglichkeiten, die sich daraus ableiten lassen, gegeben hat. Man findet zum Beispiel des öfteren Bemerkungen, in denen eine Verbindung zwischen dem Erfolg einer Rede und der Person des Redenden hergestellt wird. So läßt Thukydides in seinem Geschichtswerk den Politiker Alkibiades sagen, er werde die ionischen Städte leicht dazu bringen (= peithein) können ("αυτός [...] ρek6ìv Ιτρωσεν αυτόν, oùôeic νμίν Xóyoc ύτέΚΐtirerò μή φονεϋσιν elmi·34
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Duden 'Bedeutungswörterbuch', hg. und bearb. v. W.Müller, 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim - Wien - Zürich 1985, s.v. - Zur Bandbreite der Verwendungen des Wortes logos siehe: A Greek-English Lexicon. Compiled by H.G.Liddell and R.Scott, s.v.; H.Leisegang, Logos, in: Paulys Realencyclopädie d. Class. Altertumswiss. Bd. XIII,1, Stuttgart 1926, Sp. 1035ff., und die Ausführungen von W.Schadewaldt, Die Anfange der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1, Frankfurt/M. 1978, S. 182ff. Zum Gebrauch des Wortes in der griechischen Literatur bis zur Mitte des 5.Jahrhunderts, einschließlich Herodot und Aischylos, siehe H.Boeder, Der frühgriechische Wortgebrauch von Logos und Aletheia, Archiv für Begriffsgeschichte 4, 1959, S. 82-112. — Eine Untersuchung zum Begriff logos und seiner Verwendung im ausgehenden fünften Jahrhundert gibt es meines Wissens bisher nicht. VI 86,1. VI 86,2. So auch Gomme, Andrewes und Dover, A Historical Commentary on Thucydides, Bd. IV, Oxford 1970, ad loc. V 64. Vgl. auch III δ 5. - In Lysias' Reden ist entsprechendes erst aus der Zeit nach 400 zu finden; siehe z.B. X 29 (eine Rede von 384/3 v.Chr.); XXII 11 (386 v.Chr.). Übers. E.A.G. III β 4.
65 Und in Euripides' Troerinnen (415 v.Chr.) räumt Helena an einem Punkt ihrer Verteidigungsrede ein, daß ihr Mann Menelaos hier vielleicht ein prächtige Argument für ihre Schuld habe, das er gegen sie richten könnte ("ϋνθεν δ' évotc αν είς εμ ευπρεπή Xóyov").35 das sie dann auch nennt: Menelaos könnte ihr entgegenhalten, daß sie zu den Schiffen der Argiver hätte fliehen können, als Paris gestorben sei, es aber nicht getan habe. 36 Wie sich somit zeigt, wird in Texten des ausgehenden fünften Jahrhunderts vom Einsatz und der Verfügbarkeit bzw. mangelnden Verfügbarkeit von Argumenten gesprochen. Die bisher angeführten Beispiele betreffen jeweils eine spezifische Situation. Bezogen auf Nützlichkeitsund Rechtsargumente werden bei Thukydides darüber hinaus auch generalisierende Bemerkungen zu deren Überzeugungskraft und angemessenem Einsatz gemacht.
4.1.4 Nutzen als erfolgversprechendes Argument Die Rede der Kerkyrer beginnt mit einer Empfehlung erfolgversprechender Möglichkeiten der Argumentation, von denen eine die Darlegung des Nutzens ist: Mit Recht muß jeder, der sich so wie jetzt wir an andere um Hilfe wendet, ohne auf ein großes Verdienst noch auf ein Bündnis hinweisen zu können, vorerst darlegen, daß sein Ersuchen Vorteil oder doch wenigstens keinen Schaden mit sich bringe, ferner aber, daß er unwandelbaren Dank abstatten werde; kann er das nicht als ganz sicher hinstellen, darf er über einen Mißerfolg nicht zürnen.37 Δίκαιον, ώ ' Αθηναίοι, τους μήτε ευεργεσίας με-γάΧης μήτε συμμαχίας προυφειΚομένης ήκοι>τας παρά τους π έ λ α ς επικουρίας, ώσπερ και ημείς νυν, δεησομένους άναδιδάξαι πρώτον, μάλιστα μεν ώς και ξύμφορα δέονται, ει δε μή, ότι ye ουκ επιζήμια, επειτα δε ώς και την χάριν βέβαιον εξουσιν εί δε τούτων μηδέν σαφές καταστήσονσι, μή όρ·γίζεσθαι ην άτυχώσιρ. 3 8
Der Darlegung des Nutzens sowie der glaubwürdigen Zusicherung der Dankbarkeit wird somit eine wichtige Rolle für den rednerischen Erfolg zugesprochen, bemerkenswerterweise als möglicher Ausgleich für solche Fälle, in denen, wie wir in der späteren aristotelischen Begrifflichkeit sagen würden, 'untechnische Beweismittel' (πίστεις άτεχνοι)39 — hier: Verdienste oder ein Bündnis, auf das verwiesen werden könnte - fehlen. Gesagt wird über diese
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V. 951. V. 952ff. Übers. H.Vretska. I 32,1. - Entsprechend stark betonen sie den Aspekt des Nutzens im weiteren Verlauf ihrer Rede (siehe v.a. 33,1 und 35,5). Siehe Rh. 1355b35ff.
66 Argumente nicht, daß sie den Erfolg garantieren, sondern lediglich: Wer ihnen nicht Rechnung trage, brauche sich nicht zu ärgern, wenn er keinen Erfolg habe. Der Hinweis auf die rhetorische Bedeutung der Darlegung des Nutzens, der in der Rede der Kerkyrer gegeben wird, entspricht Empfehlungen, wie sie später etwa in der Rhetorik an Alexander enthalten sind, und dies nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Man vergleiche diese Passage aus der Kerkyrer-Rede mit einer in der Rhetorik an Alexander, in der es, unter anderem, um die Darstellung des Nutzens geht und die in ihrer Formulierung typisch für die Empfehlungen in jenem rhetorischen Handbuch ist: [...] für den, der zu etwas auffordert, ist es notwendig zu zeigen, daß das, zu dem er rät, gerecht ist und gesetzlich und nützlich und schön und angenehm und leicht durchzuführen; wenn nicht, daß es machbar sei, falls er zu etwas Beschwerlichem rät, und daß es zwingend notwendig sei, es zu tun.40 [...] τον μεν τροτρέτοντα χρη δεικνύειν ταύτα £φ' à παρακαλεί δίκαια όντα καΐ νόμιμα καί συμφέροντα και κ α λ ά και ηδέα και ρφδια πραχβήναι- εί ôè μη, δυνατά Te δεικτέον, όταν èirì δυσχερή παρακαλή, καί ως άνα-γκαία ταύτα ποιείν έστί.41
Wie man sieht, ist die Bemerkung in der Thukydideischen Rede auf dem selben redetechnischen Niveau formuliert wie hier in einem rhetorischen Handbuch aus dem vierten Jahrhundert.
4.1.5. Grenzen rechtlicher Argumentation In der Erörterung, welche Argumente der Situation angemessen seien, stößt man im MelierDialog ebenfalls auf grundsätzliche Bemerkungen, dort zur Überzeugungskraft rechtlicher Argumente: Als Begründung, warum sie von den Meliern keine Rechtsargumente zu hören bekommen wollen, geben die Athener an, daß diese nur für bestimmte Situationen Verbindlichkeit besäßen. Die Melier sollen sie nicht anführen, [...] im Wissen, daß rechtliche Gesichtspunkte im menschlichen logos [hier: Denken? Diskurs?]42 bei Gleichheit notwendigerweise entscheiden, das Mögliche aber die Überlegenen tun, und die Schwachen fügen sich.43 [...] επισταμένους προς είδότας ότι δίκαια μεν εν τψ άνθρωπείφ λόγψ ά π ό της Ισης κρίνεται, δυνατά δε οι προύχοντες πράσσουσι καί οι ασθενείς ξυγχωροϋσιν. 4 4
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Übers. Ε.Α.G. 1421b23ff. H.Vretska übersetzt: "im menschlichen Verkehr", A.Horneffer: "bei Verhandlungen unter Menschen", G.P.Landmann: "im menschlichen Verhältnis", Ch.F. Smith: "in human arguments". Für Literatur zur semantischen Spanne des Wortes logos siehe oben S. 64, Anm. 28. Übers. E.A.G. Th. V 89.
67 Die Athener begründen ihre Ablehnung rechtlicher Argumente mit deren mangelnder Wirksamkeit in der vorliegenden Situation: Unter Gleichstarken, so postulieren sie, wo das Rechtliche Verbindlichkeit besitze, habe rechtliche Argumentation ihren Platz. Bei einem starken Machtgefálle, wie im vorliegenden Fall zwischen Athenern und Meliern, orientiere sich der Stärkere jedoch nicht am Recht; dementsprechend verliere rechtliche Argumentation ihre Überzeugungskraft.45 Die Athener sagen auch zuvor schon, daß rechtliche Argumente sie, die gegenüber den Meliern in der Position der Macht seien, nicht überzeugen können.46 Für die möglicherweise sophistisch beeinflußte Vorstellung, daß derjenige, der mächtig genug ist, sich über das Recht hinwegzusetzen, es auch tut, wenn es seinem Nutzen dient,47 werden hier rhetorische Konsequenzen aufgezeigt: Will man einen Mächtigen überzeugen, darf man nicht mit rechtlichen Argumenten aufwarten; man muß eine Argumentationsstrategie wählen, die seinen Interessen Rechnung trägt.
4.1.6. Der Redesituation angemessene Argumente In einem weiteren Fall, der Diodotos-Rede inThukydides' Geschichtswerk, haben Bemerkungen zu den Gesichtspunkten Recht und Nutzen eine ganz andere Ausrichtung: Diodotos wird dort die Position in den Mund gelegt, daß rechtliche Gesichtspunkte (δίκαια) in der politischen Beratung keine Rolle zu spielen haben. In der Auseinandersetzung um die Bestrafung der Einwohner der Stadt Mytilene hatte sein Vorredner Kleon in der athenischen Ekklesie die Todesstrafe gefordert, die er vor allem damit rechtfertigte, daß die Mytilener Unrecht getan hätten. 48 Diodotos kontert, daß rechtliche Gesichtspunkte in der betreffenden Situation der Beratung in der Ekklesie - nicht von Belang seien: "[...] wir führen j a keinen Prozeß gegen sie, so daß dikaia erforderlich wären [ . . . ] " 4 9 (ημβίς òè οΰ δικαζόμώα προς αυτούς,
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Vgl. hierzu auch eine Bemerkung aus einer Rede im ersten Buch von Thukydides' Geschichtswerk (der Athener in Sparta). Darin wird rechtlicher Argumention ebenfalls die universelle Verbindlichkeit abgesprochen (I 76,2.): Durch den dikaios logos, wird dort behauptet, habe sich noch nie jemand abhalten lassen, Macht zu erlangen, wenn sich die Gelegenheit geboten habe ("τψ δικαίφ λόγψ [...], òv ουδείς πω παρατυχόν Ισχύ ι τι κτήσασθαι τροθάς του μη πλέον εχειν άπβτράπβτο"). V 89: "glaubt nicht, uns überzeugen zu können, indem ihr sagt, daß ihr uns kein Unrecht getan habt" (ημάς οϋδίν ήδικήκατε λεγορτας οϊεσθαι ir eia αν). Sophistische Theorien zu Macht, Recht und Nutzen sind für uns nur eingeschränkt faßbar, da bis auf eine Antiphon-Schrift (siehe DK 87 Β 44A) nur über Piaton vermittelt (Kallikles im Gorgias 482e ff. und Thrasymachos in der Politela I 336b ff.). Siehe dazu u.a. Heinimann, Nomos und Physis, S. llOff.; W.K.C.Guthrie, The Sophists, Cambridge 1971, S. 55ff.; Kerferd S. 11 Iff. - Für einen Argumentationstopos der Gerichtsrede jener Zeit, der auf dem Primat des Nutzens gründet ('Warum hätte ich etwas tun sollen, das nur zu meinem Schaden gewesen wäre?'), siehe Eicken-Iselin S. 123f.; Schmalzriedt S. 107ff. Siehe bes. III 39. Übers. A.Horneffer.
68 ώστε των δικαίων δείν).50 In der gerichtlichen Auseinandersetzung, wohin Diodotos sie somit verweist, hat die Darlegung der rechtlichen Gesichtspunkte als Entscheidungsgrundlage für die Richter ihren festen Platz, wie auch andere Texte der Zeit zeigen. In den Gerichtsreden Antiphons, den fiktiven (den Tetralogien) wie den tatsächlich vor Gericht gehaltenen, wird die zentrale Bedeutung der dikaia immer wieder deutlich: Vor Gericht gehe es um das dikaion und die Wahrheit (αλήθεια).51 Die Richter werden von den Parteien aufgefordert, das dikaion bzw. die dikaia zu prüfen ("σκοπάτε")52 und danach Recht zu sprechen ("όικάζειν").53 In der Rede des Diodotos wird diese etablierte Zuordnung rechtlicher Gesichtspunkte an das Gericht explizit vorgenommen und darüber hinaus gesagt, wo sie nicht hingehörten, nämlich in die politische Beratung ("βουλεύεσθαι").54 Rechtliche Gesichtspunkte seien vor Gericht relevant, bei der Beratung jedoch nicht. Der Auseinandersetzung in der Ekklesie und der politischen Beratung ordnet Diodotos den Gesichtspunkt des Nutzens zu: [...] wir führen ja keinen Prozeß gegen sie, so daß dikaia erforderlich wären, sondern wir beraten darüber, wie wir zu unserem eignen Wohl mit ihnen verfahren sollen.55 [...] ήμΐΐς ού όικαξόμίθα προς αυτούς, ώστε των δικαίων ôeîv, άλλα βουλευόμεθα περί αύτών, δπως \ο·ησίμω