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German Pages 442 Year 2019
Martina Nothnagel »Auch wir sind Migrant_innen!«
Kultur und soziale Praxis
Martina Nothnagel (Mag. Dr. phil. MA), geb. 1983, lebt in Wien. Die Sozialhistorikerin hat an der Universität Wien promoviert, wo sie zuvor außerdem ein Studium der Ur- und Frühgeschichte absolviert hat. Neben ihrer Tätigkeit im Bereich Wissenschaftskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit ist sie als freiberufliche Journalistin und Autorin tätig..
Martina Nothnagel
»Auch wir sind Migrant_innen!« Migrant_innen aus Skandinavien, Deutschland und Spanien in Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4651-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4651-5 https://doi.org/10.14361/9783839446515 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 1
Einführung | 9
1.1 1.2
Problem und Forschungsinteresse | 9 Methoden der Untersuchung | 30
2
Migration innerhalb Europas | 49
2.1 2.2
Migrationsraum Europa | 49 Die Migrant_innen: Gründe, Motive, Verläufe, Zukunftsentwürfe | 62
3
›Doing Culture‹ – Kulturelle Praxis statt Kultur als Substanz | 95
3.1 3.2
Kulturkonzepte der Sozial- und Kulturwissenschaften | 96 Das sozial- und kulturwissenschaftliche Konzept der Transkulturalität | 103 Bedeutung und Deutung von ›Kultur‹ in den Erzähltexten | 105 Fazit | 118
3.3 3.4 4
Aspekte transnationaler und transkultureller Alltagswelten | 121
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Kommunikation | 121 Konfliktfeld geschlechtsspezifische Rollenbilder | 148 Trans- und Bikulturalität in (Kern-)Familien und Intimbeziehungen | 174 Zweisprachige, bi- und transkulturelle Erziehung | 201 Stereotype und Vorurteile | 209 Die Fremdheit und das Befremden der Migrant_innen | 235
5
Integration | 259
5.1 5.2 5.3
Integration als sozial- und kulturwissenschaftliches Konzept | 260 Wie Migrant_innen Integration verstehen und praktizieren | 264 Fazit | 291
6
Transnationalität | 293
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Transnationalität als sozial- und kulturwissenschaftliches Konzept | 293 Forschungsinteressen | 300 Dimensionen transnationaler Sozialräume in den Erzählungen | 301 Transnationale Sozialräume und Lebenswelten in den Erzählungen | 324 Fazit | 333
7
Identität – Wer bin ich? Wer bin ich wo? | 337
7.1 7.2 7.3
Identität: Die theoretische Diskussion | 338 Identität(-en) in den Erzählungen | 358 Kultur-nationale Identität als sozio-kulturelles und diskursives Postulat: Die Frage der Essentialisierung | 388 Fazit: Kultur-nationale Identitäten in der Lebenswelt der Migrant_innen | 393
7.4
8
Zusammenfassung und abschließende Reflexion | 397
8.1 8.2 8.3
Migrationsbiographien von ›affluent migrants‹ | 397 Auch ›affluent migrants‹ haben Schwierigkeiten | 398 Die Konfrontation mit Stereotypen und Vorurteilen in der Aufnahmegesellschaft | 398 Die alltägliche Theorie von ›Kultur‹ als zentrales Explanans der Migrant_innen | 399 Akkulturation | 401 Integration | 404 Transnationale Alltagswelten | 406 Prozesse der kultur-nationalen Identitätsstiftung | 408 Die Bedeutung der kultur-nationalen Herkunft und Zugehörigkeit im Alltagsleben | 409 Der Habitus in transnationalen Alltagswelten | 412 Die sozial- und kulturhistorische Perspektive: Veränderungen im Untersuchungszeitraum | 416 Schlusswort | 421
8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9 8.10 8.11 8.12
Literatur | 425 Dank | 439
Vorwort
»Trivial ist die Einsicht«, schreibt Klaus J. Bade, »dass Migration ein epochenübergreifender und konstitutiver Teilbereich der Conditio humana ist; denn schließlich hat sich der Homo sapiens als Homo migrans über die Welt ausgebreitet.«1 Diese Einsicht mag in der Tat trivial erscheinen, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Bedeutung dieses »konstitutiven Teilbereichs der Conditio humana« aber ist enorm. Bereits aus Perspektive der Prähistorikerin hat mich das Thema Migration mit seinen zahlreichen Aspekten und Facetten fasziniert.2 Aus Perspektive der vermehrt auch die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart betrachtenden Sozialhistorikerin erscheint mir dieses Thema ebenso spannend – und zugleich deutlich brisanter. Die beständige Aktualität, die sich auch im gesellschaftlichen, medialen und politischen Diskurs spiegelt, verdeutlicht, wie wesentlich es ist, sich auch aus wissenschaftlicher Perspektive immer wieder mit Migration, Akkulturation, Integration und Formen der Transnationalität zu befassen. Brisant erscheint mir in diesem Zusammenhang aber auch die politische und soziale Sprengkraft eines missverstandenen oder gar missbrauchten Kulturverständnisses. Kultur als (nationalstaatliche) Entität verstanden, muss zwangsläufig zu Reibung oder gar zu Abstoßung führen. Daher gilt es, Prozesse der kulturellen Kon-
1
Bade 2002b, 14 (Im Original: »ein Epochen übergreifender [sic!] und konstitutiver Teilbereich«). An dieser Stelle auch ein Hinweis zur Zitierweise: Häufiger als drei Mal verwendete Titel werden als Kurzzitate angeführt und sind in der Bibliographie aufgeschlüsselt. Weniger als drei Mal zitierte Werke werden als Langzitate genannt. Findet sich dasselbe Langzitat in aufeinanderfolgenden Fußnoten, wird mit einem Rückverweis darauf verwiesen. Bedingt durch die Menge der verwendeten und zitierten Literatur erschien dieses Vorgehen als die beste Lösung.
2
Vgl. dazu auch Martina Nothnagel, Weibliche Eliten der Völkerwanderungszeit. Zwei Prunkbestattungen aus Untersiebenbrunn. Archäologische Forschungen in Niederösterreich 12 (St. Pölten 2013).
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fluenz, der Transkulturalität weiter zu untersuchen und verstehen zu lernen. Auch darin sehe ich eine Aufgabe der Sozial- und Kulturwissenschaften. Zugleich stellt sich, gerade auch in der gegenwärtigen Situation (man denke etwa an die ›Flüchtlingskrise‹, die daraus folgende ›Asyldebatte‹ oder den ›Brexit‹), die Frage nach dem ›Projekt Europa‹. Wer sind wir als Europäer_innen? Klaffen nicht auch zwischen europäischen National- und Kulturstaaten Differenzen? Gibt es denn ein europäisches ›Wir‹? Angesichts dieser und ähnlicher Fragen scheint es mir umso notwendiger, auch den Migrationsraum Europa weiter zu erforschen. Als Geschichtswissenschaftlerin bin ich außerdem der Überzeugung, dass all diese Phänomene nur durch ihre Einbettung in eine gewisse historische Tiefe zu verstehen sind. »Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten«, wie Helmut Kohl formuliert hat. Aus diesen Überlegungen, in Kombination mit meinem persönlichen Interesse an ›fremden‹ Ländern, Regionen und Menschen – ich denke, es ist keine Übertreibung, mich als von chronischem Fernweh geplagte leidenschaftliche Reisende zu beschreiben – ist das Konzept dieser Forschungsarbeit entstanden. Motiviert durch persönliche Neugierde und aus der Überzeugung heraus, wertvolle Forschungsarbeit leisten zu können, wollte ich Migrant_innen erforschen, die im Europa der Spätmoderne unterwegs sind. Dies habe ich im Rahmen des Forschungsprojekts meiner Dissertation getan, die ich unter dem etwas anders lautenden Titel »Unterwegs in Europa – Migrant_innen aus Spanien, Deutschland und Skandinavien in Wien« am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien verfasst und im November 2016 mündlich verteidigt habe. Die vorliegende Publikation ist das etwas überarbeitete Ergebnis dieser Studie.
1
Einführung
1.1 PROBLEM UND FORSCHUNGSINTERESSE Das Thema der Migration wird in politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und medialen Diskursen aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder intensiv diskutiert. Auch die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung befasst sich immer häufiger mit dieser Thematik. Mittlerweile liegt eine kaum zu überblickende Menge an Studien und Arbeiten zum Thema Migration aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen vor.1 So kann auch in Österreich für die letzten Jahre eine deutlich steigende Anzahl entsprechender Studien und Publikationen verzeichnet werden.2
1
›Die Migrationsforschung‹ ist keine separate Disziplin, sondern vielmehr »eine interdisziplinäre und damit immer entweder supra-disziplinäre oder sub-disziplinäre Forschungsrichtung« Bade 2002b, 14. Damit umfasst der Bereich der Migrationsforschung eine Vielzahl an theoretischen Perspektiven, Konzepten, Fragestellungen und Forschungsdesigns, gespeist aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachbereichen. Vgl. dazu z.B. Bade 2002a, 10 ff.; Bade 2002b, 4 ff.; Reinprecht/Weiss 2012; Sabine Strasser, Über Grenzen verbinden. Migrationsforschung in der Sozial- und Kulturanthropologie. In: Faßmann/Dahlvik 2012, 33-56; Josef Ehmer, Migrationen in der historischen Forschung. Themen und Perspektiven. In: Faßmann/Dahlvik 2012, 95-109; Albert Kraler, Globale Migration. In: Sieder/Langthaler 2010, 97-135, bes. 99 ff.; Christoph Reinprecht/Rossalina Latcheva, Migration. Was wir nicht wissen. Perspektiven auf Forschungslücken. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41 (2016), 1-13.
2
Gold 2013, 14 ff.; bes. 15 Abb. 1; Sievers 2012; Bommes 2003, 42 ff. Zur österreichischen Forschungslandschaft vgl. auch die zweijährig erscheinenden Jahrbücher »Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich«. Zuletzt: Jennifer Carvill Schellenbacher/Julia Dahlvik/Hein Fassmann/Christian Reinprecht (Hrsg.), Migration und Integration. Wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich. Jahrbuch 4/2018. (Wien 2018).
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Allerdings befassen sich sowohl die Wissenschaft als auch Politik und Medien überwiegend mit einem bestimmten Typ von (transnationalen) Migrant_innen. Für den medialen und politischen sowie vermutlich auch den gesellschaftlichen Diskurs kann in Österreich und in Europa eine Differenzierung zwischen problematisierten ›unerwünschten‹ und deutlich weniger beachteten ›erwünschten‹ Migrant_innen festgestellt werden.3 ›Armutsmigration‹ wird als (potentiell) ›problematisch‹ für die österreichische Gesellschaft wahrgenommen und ist mithin unerwünscht.4 »Eliten-«5 oder »Wohlstandsmigration«6 hingegen ist durchaus erwünscht, da sie nicht mit Problemen der Integration konnotiert wird und, bedingt durch das von den Zuwandertern mitgebrachte Finanz- und Bildungskapital, als ›Gewinn‹ für die Zielgesellschaft und deren Volkswirtschaft wahrgenommen wird. Während den in diesen Diskursen negativ konnotierten und als problematisch verstandenen Migrant_innen in Medien, Politik und Gesellschaft immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, werden ›unproblematische‹ Migrant_innen, die über einen dem österreichischen ähnlichen sozio-kulturellen Hintergrund verfügen, die sich 3
Gold 2013; Hochgerner 2011, 162 ff.; Christoph Butterwegge, Globalisierung als Spaltpilz und sozialer Sprengsatz. In: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hrsg.), Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik. (Wiesbaden 20093), 55-102; Wolf-Dietrich Bukow, Urbanes Zusammenleben. Zum Umgang mit Migration und Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften. (Wiesbaden 2010), 16 ff.
4
Gemeint sind Menschen, die phänotypisch als ›Fremde‹ zu erkennen sind und deren Herkunftsländer sich hinsichtlich Kultur, Religion sowie häufig auch Politik und Lebensstandard deutlich von Österreich unterscheiden, und die zudem zumeist ›unfreiwillig‹ oder zumindest in der Hoffnung auf eine bessere Lebenssituation nach Österreich zugewandert sind. Zu unterschiedlichen Formen der Migration vgl. auch Reinprecht/Weiss 2012, 16 f.; Pries 2010a; Bade 2002a, 4 f.
5
Der Terminus »Elitenmigration« nimmt auf die berufliche Qualifizierung der Migrant_innen Bezug, die jedoch für die Auswahl der hier untersuchten Migrant_innen kein Auswahlkriterium darstellt. Vgl. z.B. Nuscheler 2009, 26 f.; Markus Pohlmann, Globale ökonomische Eliten? Eine Globalisierungsthese auf dem Prüfstand der Empirie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61/4 (2009), 513-534; 514 ff. Außerdem erscheint mir dieser Begriff zu wertend bzw. andere Migrant_innen abwertend, weswegen ich ihn im Folgenden nicht verwenden werde. Zu Kritik an diesem Terminus vgl. auch Recchi 2005, 18.
6
Unter »Wohlstandsmigration« wird gemeinhin die Migration von Menschen verstanden, die nicht primär aufgrund ökonomischer oder politischer Zwänge migrieren und die in ein Land mit einer dem Herkunftsland vergleichbaren Lebensqualität auswandern. Vgl. Melanie Hühn, Migration im Alter. Lebenswelt, Identität und Transkulturalität deutscher Ruhesitzwanderer in einer spanischen Gemeinde. (Berlin 2012), 52 ff.
Einführung | 11
bewusst und aus freien Stücken für ein Leben in Österreich entschieden haben, und die zudem häufig nicht sofort als ›Ausländer‹ zu identifizieren sind, kaum wahrgenommen. »Zuwander_innen und ihre Kinder aus ›gleichrangigen‹ (das heißt im Allgemeinen mit vergleichbarem Wohlstandsniveau ausgestatteten) Staaten und Regionen wie Deutschland, Niederlande oder Nordamerika sind,« wie Josef Hochgerner korrekt bemerkt, »primär nicht gemeint, wenn von Migrant_innen oder Menschen mit Migrationshintergrund die Rede ist.«7 Doch ist die Ausgangshypothese dieser Studie, dass auch diese Migrant_innen trotz ihrer ›Vorteile‹ mit beträchtlichen Migrationskosten, mit vielfältigen Herausforderungen oder Schwierigkeiten sozialer, psychischer sowie struktureller Art konfrontiert sind. Auch im wissenschaftlichen Diskurs kann zwischen ›potentiell problematischen‹ und ›unproblematischen‹ Migrant_innen unterschieden werden und zwar sowohl hinsichtlich des Ausmaßes an Aufmerksamkeit, welches ihnen zuteil wird, als auch hinsichtlich der behandelten Fragestellungen und forschungsimmanten Perspektiven. Im Bezug auf Erstere liegt der Fokus der Migrationsforschung zumeist auf Problemen der strukturellen und sozialen Integration, auf sozialer Ungleichheit und daraus resultierenden Konfliktpotentialen.8 Nina Glick Schiller bemerkt dazu: »Much of the European and US scholarship on migration confine themselves to the questions of ›how well do they fit into our society‹, ›what are the barriers that keep them from fully joining us‹ or ›which cultures or religions don’t fit in.‹«9 Affluent migrants (siehe Kap. 2.2.2) hingegen erfahren, wie gesagt, erheblich weniger Beachtung. Auch in Österreich kann für das Phänomen der (innereuropäischen) Wohlstandsmigration ein Forschungsdefizit konstatiert werden.10 Darüber hinaus stehen außerdem bei Untersuchungen, die sich mit ›unproblematischen‹ Wohlstandsmigrant_innen befassen, überwiegend hochqualifizierte Migrant_innen, häufig in ihrer Rolle als ökonomische Akteure im Mittelpunkt des Forschungsinter-
7
Hochgerner 2011, 163.
8
Bommes 2003, 41 f.; Sievers 2012; Hochgerner 2011, 163.
9
Nina Glick Schiller, Beyond the nation-state and it’s units of analysis. Towards a new research agenda for migration studies. Essentials of migration theory. COMCAD (Center of Migration, Citizenship and Development) Working Papers 33 (2007), 4.
10 Sievers 2012, 14 ff.; Han 2005; Caroline B. Brettell/James F. Holliflied, Migration theory. Talking across disciplines. (New York/London 2000).
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esses.11 Für die vorliegende Studie sollte, genau aus diesem Grund, die berufliche Qualifikation der Gesprächspartner_innen kein Auswahlkriterium sein.12 Um das Phänomen innereuropäischer Migration, ausgehend von der Frage nach Praxis und Erfahrung der Migration sowie nach Akkulturationsprozessen innereuropäischer Migrant_innen zu untersuchten, habe ich exemplarisch die Herkunftsländer Spanien, Deutschland sowie die skandinavischen Länder13 ausgewählt. Skandinavien als Herkunftsregion ermöglicht es, kaum erforschte, quantitativ wenig signifikante und zudem, so die der Studie vorangehende Vermutung, ›willkommene‹ Zuwander_innen zu untersuchen. Der Fokus auf Migrant_innen aus Deutschland wiederum macht es möglich, Einwander_innen aus einem Österreich sozio-kulturell, politisch und sprachlich nahestehenden Herkunftsland zu untersuchen. Als kontrastiven Vergleich zu diesen beiden Migrant_innengruppen habe ich als drittes Herkunftsland Spanien gewählt, da auch aus diesem Land Zugewanderte kaum wahrgenommen werden, verhältnismäßig selten sind und (so meine Mutmaßung) zu den mehrheitlich ›gern gesehenen‹ Migrant_innen zählen. Durch die Beschränkung auf Migrant_innen aus Spanien, Deutschland und Skandinavien wird also hypothetisch vorausgesetzt, dass die Proband_innen hinsichtlich des politischen Regimes, des Lebensstandards und der vorherrschenden Religionszugehörigkeiten den Verhältnissen in Österreich nahe sind. Zugleich soll der Blick auf diese drei national- und kulturstaatlichen Gruppen es ermöglichen, die nicht offensichtlichen, eher ›feinen Unterschiede‹, die zwischen Migrant_innen aus diesen europäischen Ländern bestehen bzw. gemacht werden, empirisch zu erfassen und auf ihre Ursachen hin zu untersuchen. Für die Auswahl der drei Herkunftsregionen sprach auch, dass für die europäische wie die österreichische14 Forschungslandschaft eine Forschungslücke bezüglich Migrant_innen aus diesen Ländern besteht.15 11 Vgl. dazu z.B. Nuscheler 2009; Eleonore Kofman, Family related migration. A critial review of European studies. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 30/2 (2007), 243262. 12 So wird immer wieder die Forderung laut, den Fokus der europäischen Migrationsforschung nicht länger ausschließlich auf diese Gruppen zu legen. Vgl. z.B. Verwiebe/Mau/ Seidel/Kathmann 2010, 275 ff. 13 Skandinavien wird hier Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland umfassend verstanden. 14 Zu Migrant_innen aus diesen Ländern liegen für Österreich z.B. einige Diplomarbeiten vor. Vgl. z.B. Rosemarie Brack, Unscheinbare Migrationen? Sächsische Arbeitsmigrant_innen im transnationalen Wanderungsraum. Diplomarbeit Universität Wien (Wien 2006); Hannes Leidinger, Tu felix Austria? Migration von Deutschland nach Österreich im Trend. Eine Studie über deutsche Erwerbstätige in den Bundesländern Tirol, Salzburg und Oberösterreich. Diplomarbeit Universität München (München 2007); Lisa Kienzl,
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Die Aufnahmeregion der Studie ist der Raum Wien.16 Als Untersuchungszeitraum wurde die Periode von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart definiert. Damit wird die Nachkriegsmigration ganz bewusst nicht berührt; dies auch, um das untersuchte Phänomen von Formen der kriegsbedingten Migration klar zu unterscheiden. Ausgangspunkt und zentrale Forschungsfrage dieser Untersuchung ist die zunächst völlig offen gestellte Frage, wie die genannten Migrant_innengruppen die Veränderung, Anpassung und Bewältigung der Lebensumstände, der Lebensweise und Lebensführung praktiziert und erfahren (d.h. erlebt, reflektiert und gedeutet) haben. Mit dieser Fragestellung wird auch die partielle Rekonstruktion der aus diesen Praktiken resultierenden Alltagswelten und Akkulturationsprozesse verbunden. Dabei gilt das Interesse nicht der (positivistischen) Frage, »was kulturelle oder gesell»... und plötzlich war ich Hausfrau.« Dänische Migrantinnen im Konflikt zwischen Integration und Identitätskonstruktion. Diplomarbeit Universität Graz (Graz 2008); Laura Spadinger, Zweisprachigkeit in finnisch-österreichischen Familien. Diplomarbeit Universität Wien (Wien 2007). Aber auch der Österreichischer Integrationsfond (ÖIF) widmete Mirgant_innen aus Deutschland eine gesonderte Ausgabe der vom ÖIF herausgegebenen Zeitschrift: Österreichischer Integrationsfond (ÖIF) (Hrsg.), Die Deutschen kommen! Integration im Fokus. Integration, Flüchtlinge und Migration in Österreich – News, Fakten und Hintergründe 4 (2008). 15 Verwandte Publikationen und Forschungsprojekte (eine Auswahl): »Berliner Studie zur transnationalen Mobilität von Europäern« (BSTME): www.wiso.uni-hamburg.de/filead min/sowi/soziologie/institut/Verwiebe/Endfassung.pdf (25.1.2016); Steffen Mau/Roland Verwiebe/Nana Seidel/Till Kathmann, Innereuropäische Wanderungen. Die Wanderungsmotive von Deutschen mit mittleren Qualifikationen. In: BIOS Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 20/2 (2007), 214-232; Recchi 2008, 197-224; Adrian Favell, Eurostars and eurocities. Free moving professionals and the promise of european integration. (Oxford 2008). Zu einer Studie über schwedische Migrant_innen in Deutschland vgl. Silvia Dürmeier, Wer hat Angst vor dem blonden Mann? Schwedische Migranten in Süddeutschland. Beiträge zur gesellschaftswissenschaftlichen Forschung 17 (Pfaffenweiler 1997). Claudia Vorheyer, Transnational mobiles. Erkenntnisse zu einer (fast) übersehenen Migrationsgruppe. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41 (2016), 55-79. 16 Im Kontext einer nötigen geographischen Einschränkung war es naheliegend, mich auf Wien, als Landeshauptstadt und größte Stadt Österreichs zu konzentrieren. Dafür sprach auch, dass Wien mein Lebensmittelpunkt ist. Da sich jedoch schon im Zuge der Suche nach Interviewpartner_innen zeigte, dass viele von ihnen im Verlauf ihrer Migrationsbiographien nicht ausschließlich in Wien lebten oder arbeiteten, sondern auch in der Umgebung Wiens wohnten, beschloss ich, den Untersuchungsraum auf die nähere Umgebung der Stadt Wien auszudehnen.
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schaftliche sozialen Tatsachen sind«,17 sondern vielmehr der (sozialkonstruktivistischen) Frage, wie diese Tatsachen interaktiv, kommunikativ und symbolisch hergestellt werden.18 Untersucht werden also sozial konstruierte transnationale oder transkulturelle soziale Wirklichkeiten, die als »Konstruktionen erster Ordnung« gelten können.19 Damit umfasst das Forschungsinteresse auch die Rekonstruktion deutungs- und handlungsgenerierender Strukturen,20 also die Frage, welche bewussten und latenten Strukturen das Wahrnehmen, Deuten und Handeln der migrierenden Akteur_innen determinieren oder wenigstens mit erzeugen. Indem die Studie auf »der Mikroebene und der subjektiven Dimension von Migration«21 ansetzt, unterscheidet sie sich von Zugängen, die lange Zeit als ›Mainstream‹ der Migrationsforschung gelten konnten. »There is a need for more study of the migrants’ own experiences and outcomes, and the para-legal barriers to migration. Moreover, little is known about the effect of cultural difference on migration within Europe«22, wie Ettore Recchi dazu im Jahr 2003 bemerkte. Mittlerweile kann auch in der Migrationsforschung eine Zunahme an qualitativen Studien verzeichnet werden.23 Die vorliegende Untersuchung stellt einen weiteren Beitrag zu dieser Entwicklung dar. Darüber hinaus gilt mein Forschungsinteresse aber auch der Frage nach den Veränderungen migrationsbedingter Praktiken und Erfahrungen unter den sich
17 Bohnsack/Nohl 2001, 19. 18 Bohnsack/Nohl 2001, 19 ff. 19 Reichertz 2014, 65-81; 70; Hans-Georg Soeffner, Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. In: Flick/Kardorff/Steinke 2010, 164-175; 167 f. 20 Vgl. z.B. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013. 21 Recchi 2003, 45. 22 Recchi 2003, 45. Vgl. z.B. auch: Katherina Hametner, Rekonstruktive Methodologie als methodologisches Paradigma einer kritischen Migrationsforschung. In: Julia Dahlvik/ Heinz Faßmann/Wiebke Sievers (Hrsg.), Migration und Integration. Wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich. (Göttingen 2012), 37-55; Karen Fog Olwig, Researching global socio-cultual fields. Views from an extended field site. Conference ›Transnational migration – Comparative perspectives‹ Princeton University, Working Paper 1/12 (2001); Claudia Vorheyer, Berufsnomaden als Prototypen der transnationalen Vergesellschaftung und deren biographieanalytische Untersuchung. In: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Transnationale Vergesellschaftung. 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. (Frankfurt am Main 2013), 249-258, bes. 255 f. 23 Aladin El-Mafaalani/Julian Waleciak/Gerrit Weitzel, Methodische Grundlagen und Positionen der qualitativen Migrationsforschung. In: Débora B. Maehler/Heinz Ulrich Brinkmann (Hrsg.), Methoden der Migrationsforschung. Ein interdisziplinärer Forschungsleitfaden. (Wiesbaden 2016), 61-96, bes. 61 f.
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wandelnden sozio-kulturellen Rahmenbedingungen im Zuge einer fortschreitenden Globalisierung und im Übergang zur sogenannten Spätmoderne. 1.1.1 Praxis und Erfahrung von Migration: Forschungsleitende Fragen im Detail Im wissenschaftlichen Diskurs wird ›Migration‹ auf sehr unterschiedliche Weise definiert und verstanden.24 Für diese Untersuchung scheint mir der soziologische Migrationsbegriff der am besten geeignete zu sein. Er definiert Migration als eine »dauerhafte Ortsveränderung, die mit einer Grenzüberschreitung verbunden sein kann und mit einem Wechsel des sozialen und kulturellen Bezugssystems einhergeht«25. ›Migration‹ soll hier des Weiteren als eine Abfolge von Entscheidungen und als offener Prozess gedacht werden, der den Akteur/die Akteurin immer wieder zu Bearbeitungen seiner/ihrer Erfahrung und seiner/ihrer Biographie herausfordert:26 »Migration wird in diesem Zusammenhang als subjektive Erfahrung konzipiert, die gebunden an die Lebensgeschichte der Individuen auf spezifische Weise gestaltet und gedeutet wird. Gleichzeitig wird Migration als kreative, grenzüberschreitende Kraft verstanden, die Zugehörigkeiten jenseits von territorialen und nationalstaatlichen Trennlinien vervielfältigt und Lebensentwürfe durchdringt, dynamisiert und neu ausrichtet.«27
Wie das empirische Material zeigt, sind für die vorliegende Untersuchung traditionelle Ansätze und Modelle, die Migration als gradlinig und als statisches Projekt definitiver Aus- bzw. Einwanderung sehen, und deren Erklärung- und Interpretationsansätze überwiegend ökonomischer Natur (Push und Pull Faktoren, Rational Choice Theorie u.v.m.) sind, nur am Rande relevant. Von Bedeutung für diese Arbeit sind vielmehr vor allem rezente Ansätze, welche die Dynamik und Prozesshaf-
24 Vgl. z.B. Josef Ehmer, Migrationen in der historischen Forschung. Themen und Perspektiven. In: Faßmann/Dahlvik 2012, 95-109; 96 f.; Kraler 2010 (Anm. 1), 97 f. Zur Entwicklung des Begriffs Migration vgl. auch Han 2005, 7 ff.; Reinprecht/Weiss 2012, 15. 25 Reinprecht/Weiss 2012, 15. Zu einer sinngemäß ähnlichen Definition vgl. z.B. auch Lüsebrink 2012, 2. 26 Vgl. auch Breckner 2009, 43 ff. 27 Eveline Dürr, Transpazifische Kulturbegegnungen. Multiple Perspektiven auf Aneignungsprozesse und Migrationserfahrungen. In: Zeitschrift für Ethnologie 136 (2011), 2746; 28.
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tigkeit individueller Wanderungsbewegungen in den Fokus rücken. 28 Dazu bemerkt etwa Ludger Pries: »Die klassische Migrationsforschung war auf die folgenden beiden Fragen fixiert: Wer wandert warum von einem nationalstaatlichen Container in einen anderen? Mit welchen Folgen für die Migranten sowie für die Ankunfts- und Herkunftsregionen bzw. -gesellschaften ist dies verbunden? Die neuere Migrationsforschung wirft hingegen ganz andere Fragen auf: In welchen sich wie verändernden und perpetuierenden Formen wandern unterschiedliche Typen von Migranten? Welche neuen, transnationalen sozialen Wirklichkeiten werden dadurch konstruiert?«29
Auch Peggy Levitt formuliert diese Problematik sehr anschaulich: »Migration scholarship has undergone a sea change in the past two decades. Most scholars now recognize that many contemporary migrants and their predecessors maintained a variety of ties to their home countries while they became incorporated into the countries where they settled. Migration has never been a one-way process of assimilation into a melting pot or a multicultural salad bowl but one in which migrants, to varying degrees, are simultaneously embedded in the multiple sites and layers of the transnational social fields in which they live. More and more aspects of social life take place across borders, even as the political and cultural salience of nation-state boundaries remains clear.«30
In diesen beiden Zitaten wird auch auf den in der rezenten Forschung immer wieder diskutierten, eingeschränkten nationalen Bezugsrahmen31 zur Analyse von Migrations- und Integrationsprozessen hingewiesen. Im Fokus der Kritik steht das als »methodolgischer Nationalismus« bezeichnete Phänomen, Nationalstaaten als quasi natürlichen Rahmen und Bezugspunkt von Migration einzusetzen.32 Von einer solchen 28 Vgl. z.B. Faßmann 2003; Pries 2010a, 12 ff.; Verwiebe/Mau/Seidl/Kathmann 2010, 279 f.; Sonja Haug, Klassische und neuere Theorien der Migration. Arbeitspapiere Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung 30 (Mannheim 2000). Zur Diskussion der Konzepte Migration und Mobilität vgl. z.B. Katrin Lehnert/Barbara Lemberger, Mit Mobilität aus der Sackgasse der Migrationsforschung? Mobilitätskonzepte und ihr Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftsforschung. In: Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung. (Berlin 2014), 45-62. 29 Pries 2010a, 53 f. 30 Peggy Levitt/Nadya Jaworsky, Transnational migration studies. Past developments and future trends. In: Annual Review of Sociology 33/1 (2007), 129-156; 130. 31 Vgl. z.B. Bommes 2005; Pries 2005; Vertovec 2004, 978; Levitt/Glick Schiller 2004. 32 Kraler 2010 (Anm. 1), 97 ff. Vgl. dazu z.B. auch Pries 2010a, 741 ff.; Strasser 2009, 42 ff.; Andreas Wimmer/Nina Glick Schiller, Methodological nationalism and beyond. Na-
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Herangehensweise möchte ich mich aber distanzieren:33 Welche Bedeutung die interviewten Migrant_innen selbst ihrem Herkunftsstaat und ihrer Herkunftskultur beimessen, wie sie diese Bedeutungszuschreibungen verhandeln oder verändern und welche sozialen Praktiken daraus resultieren, wird nicht vorausgesetzt, sondern ist vielmehr eine der Fragestellungen meiner Untersuchung. Außerdem gilt das Forschungsinteresse dieser Arbeit vor allem auch jenen ›transnationalen‹34 Praktiken und Deutungsmustern der Interviewpartner_innen, die über räumlich-politische und national-soziale Grenzen hinaus verweisen. Damit schließe ich mich Peggy Levitt und Nina Glick Schiller an, wenn diese fordern: »Our analytical lens must necessarily broaden and deepen because migrants are often embedded in multi-layered, multi-stred transnational social fields, encompassing those who move and those who stay behind. As a result, basic assumptions about social institutions such as the family, citizenship, and nation-states need to be revisited.«35
Neben dem Terminus ›Migration‹ bedarf auch der Begriff ›Akkulturation‹ einer Erörterung.36 Die Formulierung, es solle nach der Akkulturation der ausgewählten Migrant_innengruppen gefragt werden, ist noch allzu vage. Mit diesem Terminus wird gemeinhin nach der Enkulturation37 die Aneignung einer weiteren, ›fremden‹ Kultur bezeichnet. Darüber hinaus wird der Begriff in verschiedenen Wissenschaften mit leicht unterschiedlichen Bedeutungen verwendet.38 In der vorliegenden Studie beziehe ich Akkulturation auf die individuelle Einübung eines Migranten/einer Migrantin in eine für ihn/sie mehr oder minder neue Kultur. Daher habe ich mich für eine aus der Psychologie stammende Definition tion-state building, migration. In: Global Networks 2/4 (2002), 301-334. https://doi.org /10.1111/1471-0374.00043. 33 Vgl. dazu Kapitel 6. Zur Nation als »vorgestellte Gemeinschaft« vgl. Anderson 2006. Zur Unterscheidung Kulturnation/Staatsnation vgl. z.B. Han 2005, 130 ff. 34 ›Transnationalität‹ meint, dass »sich Handlungs- und Erlebnishorizonte von Migranten längerfristig an wenigstens zwei Nationalstaaten ausrichten« Goeke 2008, 5. Zu einer ausführlichen Diskussion dieses Konzepts und einer detaillierten Untersuchung damit verbundener Phänomene vgl. Kapitel 6. 35 Levitt/Glick Schiller 2004, 1003. 36 Zu einer Diskussion und Definition des Konzepts Kultur vgl. Kapitel 3.1. 37 Mit Enkulturation wird ein Aspekt der frühkindlichen Sozialisation beschrieben, in welcher der Mensch sich die ihn als Kind umgebende Kultur aneignet. Damit stellt die Enkulturation einen unbewussten Lernprozess dar. Vgl. z.B. Zick 2010, 38. 38 Vgl. dazu z.B. Maehler/Schmidt-Denter 2013, 15 ff.; Chirkov 2009, 98 f.; Zick 2010, 31 ff.; John W. Berry, Immigration, acculturation and adaption. In: Applied Psychology 46 (1997), 5-34.
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entschieden, die die individuelle Ebene und den prozesshaften, dynamischen, nicht abschließbaren Charakter von Akkulturation betont. Dieses Verständnis entspricht bestmöglich meinem Forschungsinteresse und hat sich am vorliegenden empirischen Material bewährt. Nach Valery Chirkov kann Akkulturation in diesem Sinne folgendermaßen definiert werden: »Individual acculturation (in contrast to group acculturation) is a process that is executed by an agentic individual (it is not a process that happens to an individual) after meeting and entering a cultural community that is different from the cultural community where he or she was initially socialized. Acculturation involves a deliberate, reflective, and, for the most part, comparative cognitive activity of understanding the frame of references and meanings with regard to the world, others, and self that exist in one’s ›home‹ cultural community and which one has discovered in a new cultural community. This process emerges within the context of interactions, both physical and symbolic, with the members of the ›home‹ and new cultural communities. Acculturation is an open-ended, continuous process that includes progresses, relapses, and turns which make it practically impossible to predict and control.«39
Folgt man dieser Definition, ist Akkulturation eine bewusste, gesteuerte und steuerbare, reflektierende Aktivität, deren Ziel das Verständnis einer zunächst fremden Kultur ist, was wiederum die Voraussetzung für Handlungsfähigkeit im Rahmen dieser Kultur darstellt. Möglich wird dieser Lernprozess – denn um einen solchen handelt es sich – durch zwischenmenschliche, immer auch symbolische (genauer: symbolisierende) Interaktion von Menschen, die in dieser kulturellen Gesellschaft sozialisiert wurden. Dieser Lernprozess ist nicht geradlinig, nie abgeschlossen und daher auch nicht in seinem ›Ergebnis‹ vorhersagbar.40 Akkulturation umfasst außerdem, wie auch die Erzählungen meiner Gesprächspartner_innen zeigen, zwei Dimensionen. Es geht zum einen um die Auseinandersetzung mit und die sukzessive Aneignung einer neuen (zunächst fremden) Kultur, und zum anderen um die Frage nach der Orientierung an der vertrauten Herkunftskultur, die sich im Zuge der Migration allerdings verändert, die sich vereinfacht gesprochen schwächt oder aber auch stärkt. Dies wiederum kann auf der Ebene des Verhaltens aber auch auf der kognitiven Ebene erfolgen.41 Im Spannungsfeld zwischen dem Erhalt der Herkunftskultur und der Annahme einer ›neuen‹ Kultur können »verschiedene Strategien der Akkulturation identifiziert werden«42. Zentral für dieses grundlegende Forschungsinteresse der Studie sind Fragen nach (subjektiv empfundenen) Problemen, Schwierigkeiten, Herausfor39 Chirkov 2009, 94. 40 Vgl. dazu auch Maehler/Schmidt-Denter 2013, 19. 41 Maehler/Schmidt-Denter 2013, 19. 42 Maehler/Schmidt-Denter 2013, 38.
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derungen, aber auch Erfolgen im Kontext von Migration und Akkulturation.43 Im Anschluss daran soll nach »typischen Bewältigungsstrategien von Subjekten zur je individuellen Bewältigung«44 von als schwierig oder problematisch empfundenen Situationen gefragt werden. Ergänzend gilt das Interesse meiner Forschung der Frage »wie und in welchen Prozessen sich Menschen als Wer wahrnehmen?«45 Anders formuliert: Es sollen Identitätskonstruktionen sowie Verortungsprozesse und -strategien erforscht werden. Basierend auf und ausgehend von diesen Überlegungen und Fragestellungen habe ich bereits im Zuge der Konzeption der Studie einige Subthemen und -fragestellungen formuliert, von denen ich vermutete, dass sie sich als relevant erweisen würden. Die Fragen nach Familie, (bilingualer bzw. bikultureller) Erziehung, Sprache sowie nach transnationalen sozialen Netzwerken sollten es ermöglichen, unterschiedliche Dimensionen migrantischer Alltagswelten sowie die Erfahrungen und Praktiken dieser Migrant_innen im Detail erfassen und untersuchen zu können. Das Forschungsinteresse an dem Thema Sprache wurde schließlich im Zuge des Führens und Auswertens der ersten Interviews um den Aspekt der ›interkulturellen Kommunikation‹ erweitert. Wie sich in den Erzählungen zeigte, umfasst ›die Herausforderung Kommunikation‹ weit mehr als lediglich die grammatikalische Sprachbeherrschung. Die Frage nach Erfahrungen mit Stereotypen und Vorurteilen wiederum erschien auf Grund der Vermutung wesentlich, dass die hier untersuchte Migrant_innengruppe sich von anderen Migrant_innentypen unterscheidet. Zudem spielt das subjektiv empfundene Gefühl, ›willkommen‹ oder weniger willkommen zu sein, eine wesentliche Rolle im Zusammenhang mit dem auch sozialpsychologisch zu erklärenden Vorgang der Integration in die Kultur und Gesellschaft des Aufnahmelandes. 1.1.2 Globalisierung und der Übergang zur ›Spätmoderne‹ – Sozialhistorisches Forschungsinteresse Die etwa fünfeinhalb Jahrzehnte, die der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie umfasst, waren eine Periode massiver gesellschaftlicher, politischer, sozialer aber auch technologischer Veränderungen und Umbrüche. Das Forschungsinteresse dieser sozialhistorischen Studie gilt daher auch der Frage nach den Aus- und Ein-
43 Zur Bedeutung derartiger Forschungen vgl. z.B. Chirkov 2009, 97. 44 Ruokonen-Engler 2012, 108. 45 Ruokonen-Engler 2012, 155.
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wirkungen dieser sich verändernden Rahmenbedingungen auf Migrationsprozesse und -erfahrungen, auf Migrationsbiographien sowie die Alltagswelten der Migrant_innen. Diskutiert werden diese Phänomene des gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Wandels zumeist in den Konzepten der ›Globalisierung‹ und/oder des Übergangs zur sogenannten ›Spätmoderne‹. Zwei wissenstheoretische Diskurse, die sich mit diesen Umbrüchen und Veränderungen sowie deren Auswirkungen befassen. Dabei ist eine solche Trennung bis zu einem gewissen Grad artifiziell, da die unter den Termini ›Globalisierung‹ und ›Spätmoderne‹ diagnostizierten und diskutierten Entwicklungen in der realen Lebenswirklichkeit sowohl auf der Mikro- als auch auf der Meso- und Makroebene auf das Engste miteinander verwoben sind.46 Globalisierung Der Begriff Globalisierung kam in den späten 1970er bzw. frühen 1980er Jahren auf47 und gewann in Folge im wissenschaftlichen aber auch gesellschaftlichen, politischen und medialen Diskurs zunehmend an Bedeutung. 48 Allerdings ist der Terminus ebenso diffus wie facettenreich. Je nach Kontext und Perspektive wird Unterschiedliches darunter verstanden und diskutiert, eine einheitliche Definition liegt nicht vor.49 Auch Ausmaß und Folgen ›der Globalisierung‹ werden kontrovers beschrieben und gedeutet.50 Eine, vor allem im Hinblick auf den sozial- und kulturwissenschaftlichen Fokus dieser Studie in meinen Augen treffende, Definition von Globalisierung liegt von Anthony Giddens vor. Er bezeichnet Globalisierung als einen »Komplex von Ver46 Vgl. auch Pries 2008, 11 ff. 47 Allerdings ist Globalisierung kein Phänomen, das allein das 20. und 21. Jahrhundert betrifft. Vgl. z.B. Ulrich Pfister, Globalisierung. In: Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) (Hrsg.), Europäische Geschichte Online (EGO). (Mainz 2012), 5-15; 5 f. Online unter: https://d-nb.info/1043578315/34 (9.10.2018); Joachim Matthes, Wie steht es um die interkulturelle Kompetenz der Sozialwissenschaften? In: Michael Bommes (Hrsg.), Transnationalismus und Kulturvergleich. IMIS (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien) Beiträge 15 (Osnabrück 2000), 13-31. 48 Giddens 2001, 16 ff.; Keupp 2004, 6 ff.; Preyer 2006, 181 ff.; Ludger Pries beschreibt erste Verwendungen dieses Terminus sogar bereits in den 1960er Jahren. Vgl. Pries 2008, 24 f. 49 Kessler 2009, 35 ff.; Giddens 2001, 16 ff.; Bernd Wagner, Kulturelle Globalisierung. Von Goethes ›Weltliteratur‹ zu den weltweiten Teletubbies. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12 (2002), 10 ff. Online unter: www.bpb.de/apuz/27022/kulturelle-globalisier ung?p=all (10.10.2018). 50 Kessler 2009, 19-27; Giddens 2001, 24; 26 ff.; Keupp 2004, 6 ff.; Eisenstadt 2012, 26 ff.; Brock 2008, 7 ff.
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änderungen«, betont aber, dass es sich im Grunde nicht um einen Prozess, sondern vielmehr um eine »komplexe Reihe von Prozessen«51 handelt. Ausgangspunkt dieser Veränderungsprozesse sei eine zunehmende globale Vernetzung: »In sum, globalization can be thought of as the widening, intensifying, speeding up, and growing impact of world-wide interconnectedness.«52 Dies hat, wie Ludger Pries betont, »nicht nur in der ›materiellen‹ Sachwelt, sondern auch in den Wahrnehmungswelten der Handelnden stattgefunden«53. Ähnlich beschreiben auch Andreas Reckwitz und Ludger Pries das Phänomen der Globalisierung: »Globalisierung lässt sich als eine weitere Entgrenzung der modernen Raum-Zeit-Verhältnisse verstehen, als eine Potenzierung der intendierten und vor allem unintendierten Effekte sozialer Praktiken und Ereignisse jenseits regionaler Grenzen, auf der Ebene politischer, ökonomischer, kultureller oder ökologischer Strukturen.«54
Ein solcher »Komplex von Veränderungen« kann, je nach Perspektive und Fragestellung, als ökonomische,55 politische,56 gesellschaftliche, kulturelle und technische Dimensionen umfassend beschrieben werden. Unter gesellschaftlicher Globalisierung ist das »Handeln und (Zusammen-)Leben über Entfernungen (scheinbar getrennte Welten von Nationalstaaten, Religionen, Regionen, und Kontinente) hinweg«57 zu verstehen. Als wesentliches Charakteristikum einer kulturellen Globalisierung kann die »Vereinheitlichung von Lebensstilen, kulturellen Symbolen und transnationalen Verhaltensweisen«58 aufgefasst werden. 51 Giddens 2001, 24. Vgl. auch Berger 2002, 11 ff. 52 David Held/Anthony McGrew/David Goldblatt/Jonathan Perraton, What is globalisation? (1990), 2. Online unter: www.polity.co.uk/global/whatisglobalization.asp (9.10.2018). Vgl. auch Beck 1997, 42 ff. 53 Pries 2008, 22 f. 54 Reckwitz 2007, 326 f. 55 Vgl. Giddens 2001, 9 ff.; 20 f.; Welsch 2012, 9 ff.; James Davison Hunter/Joshua Yates, In the vanguard of globalization. The world of American globalizers. In: Peter L. Berger/Samuel P. Huntington (Hrsg.), Many globalizations. Cultural diversity in the contemporary world. (Oxford 2002), 323-359; 327 ff. Zur Verflechtung von Arbeitsmärkten und der zunehmenden internationalen Arbeitsmigration, auch von gut ausgebildeten Arbeitskräften, vgl. Angenendt 2009, 37 ff.; 41 ff.; Nuscheler 2009, 26 f.; Eisenstadt 2012, 21; Brock 2008, 23 ff. 56 Vgl. z.B. Brock 2008, 75 ff.; Koch 2014. 57 Beck 1997, 45. 58 Zu Diskussion dieses Begriffs vgl. z.B. Beck 1997, 80 ff.; Keupp 2004, 6 ff.; Delanty 2011, 634 f.; Byung-Chul Han, Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung. (Berlin
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Obgleich die Mehrzahl der Definitionen und Diskussionen der Globalisierung auf einer makrosozialen Ebene ansetzt, sind Globalisierungsphänomene nicht allein auf dieser Makroebene relevant. Vielmehr werden durch sie auch der Alltag einzelner Akteur_innen und deren Lebenswelten verändert und mitbestimmt, wenn auch auf individuelle Weise.59 »We now have a picture of a cultural earthquake affecting virtually every part of the world. When the earthquake hits, different people respond differently«,60 formuliert dazu Peter Berger treffend. Im Speziellen auch für Migration besonders bedeutsame Aspekte der Globalisierung, die sich auch für die vorliegende Studie als relevant erwiesen haben, sind Mobilität, die Veränderung der Raumwahrnehmung, nationalstaatliche Bezugshorizonte sowie Innovationen in Kommunikations- und Transporttechnologien. Mobilität Ein wesentliches Element der fortschreitenden globalen Vernetzung stellt die zunehmende Mobilität dar und zwar sowohl in Form von Mobilitätsanforderungen sowie von Möglichkeiten der Mobilität.61 Mobilisierung umfasst dabei unterschiedliche, wenn auch miteinander verbundene Phänomene: räumliche, soziale, virtuelle Mobilität (bedingt durch technische Kommunikationsmöglichkeiten) und kulturelle Mobilität.62 Übernationale Arbeitsmärkte und Berufskarrieremuster fordern zunehmend geographische und biographische Flexibilität und Mobilität,63 während andererseits strukturelle Rahmenbedingungen gewünschte Mobilität und Migration erleichtern. Als strukturelle Voraussetzungen transnationaler Mobilität nennt Heinz Faßman »durchlässige Grenzen und ökonomische Ungleichheit; ›schrumpfende‹ Distanzen durch Verbesserung der Verkehrstechnologie; Einbettung in ethnische Netzwerke und Transferierbarkeit von Qualifikationen«64. Insgesamt werden diese Anforderungen und Möglichkeiten einer zunehmenden Mobilisierung allerdings ambivalent gedeutet: »Sie erweitert die individuellen
2005). Zur Diskussion der häufig postulierten ›globalen Verwestlichung‹ vgl. z.B. George Ritzer, Die McDonaldisierung der Gesellschaft. (Frankfurt am Main 1995). 59 Giddens 2001, 14 ff.; 23 ff.; Keupp 2004, 10 f. 60 Berger 2002, 9. 61 Faßmann 2003; Steffen Angenendt betont jedoch auch, dass Globalisierung und internationale Migration nicht zwangsläufig unmittelbar in Zusammenhang stehen müssen. Angenendt 2009, 37 f. Zur Diskussion der Konzepte Migration und Mobilität vgl. Anm. 30. 62 Vgl. z.B. Keupp 2008, 38 ff.; Keupp 2004, 10 ff. 63 Vgl. z.B. Keupp 2004, 10 f.; Angenendt 2009, 37 ff.; 41 ff.; Nuscheler 2009, 26 f.; Pries 2010a, 729 ff. 64 Faßmann 2003, 437.
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Handlungsräume und Bewegungsmöglichkeiten, während gleichzeitig die sozialen Erwartungen zunehmen, diese Möglichkeiten auch tatsächlich zu nutzen.«65 ›Death of distance‹? Häufig wird, als Folge der genannten Globalisierungsphänomene, eine ›Enträumlichung‹ des ›mobilen Subjekts‹ diagnostiziert. Eine Reihe von Theoretiker_innen postuliert einen »death of distance«, eine Schrumpfung der Welt zu einem »global village«66. So bemerkt etwa Hartmut Rosa, dass im Zeitalter der Globalisierung viele Prozesse und Ereignisse gleichsam »ortlos« geworden« seien: »Dies hat unzweifelhaft Konsequenzen für die Formen des Selbstverständnisses oder der Identität, die sich zunehmend von geographischen und sozialen Orten und Räumen ablösen.«67 Gleichzeitig bzw. als dieser Entwicklung gegenläufig wird aber ebenso eine vielfache Refokussierung auf lokale Traditionen und regionale Identitäten konstatiert.68 Ulrich Beck spricht in diesem Kontext von »Ortspolygamie», als dem »Verheiratetsein mit verschiedenen Orten, die verschiedenen Welten zugehören«69. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff »Glokalisierung« verwendet, der die Vernetzung von Lokalem mit Globalem beschreiben soll.70 Ob und wie ein solcher ›death of distance‹ aus den Erzählungen meiner Gesprächspartner_innen rekonstruierbar ist, soll an späterer Stelle diskutiert werden. Die These des ›Verschwindens‹ des Nationalstaates Ebenfalls im Kontext von Globalisierungsdiskursen häufig und kontrovers diskutiert wird die These vom Bedeutungsverlust des Nationalstaates. Eine Reihe von Autor_innen stellt den »Nationalstaat als Leitlinie kollektiven Handelns wie als po-
65 Norbert Schneider, Einführung. Mobilität und Familie. Wie Globalisierung die Menschen bewegt. In: Zeitschrift für Familienforschung 17/2 (2005), 90-95; 92. https://nbn-resolv ing.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-325028. 66 Zu einer ausführlichen Diskussion dazu vgl. z.B. Johannes Kessler, Der Mythos vom globalen Dorf. Zur räumlichen Differenzierung des Globalisierungsniveaus. In: Johannes Kessler/Christian Steiner (Hrsg.), Facetten der Globalisierung. Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur. (Wiesbaden 2009), 28-79. 67 Hartmut Rosa, Zwischen Selbstthematisierungszwang und Artikulationsnot? Situative Identität als Fluchtpunkt von Individualisierung und Beschleunigung. In: Renn/Straub 2002, 267-303; 267 f.; 273. 68 Giddens 2001, 25 f. Zum Konzept der »Glokalisierung«, also dem Lokalen als Aspekt des Globalen vgl. Beck 1997, 88 f. 69 Beck 1997, 127 ff. 70 Preyer 2006, 189 ff. Vgl. auch Pries 2008, 28 ff.; 281 ff.
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litisches Leitmotiv«71 zunehmend in Frage und postuliert ein postnationales Zeitalter.72 Andere Autor_innen heben gerade in Zeiten der zunehmenden globalen Vernetzung eine ›Rückbesinnung‹ auf lokale Traditionen und regionale Identitäten hervor, und damit einen Bedeutungsgewinn von Nationalismen oder regionalen Referenzrahmen:73 »It is widely acknowledged that recent decades have been marked by a resurgence of nationalism. Many have noted the apparent paradox that, in the era of globalization, national stereotypes, national images and even national brands seem to carry more resonance than ever before. Indeed, the idea of national peoples, far from being confined to the nationalist era of the 19th century and inter-war period, has come to dominate European political discourse in the 1990s and 2000s, with politicians in France, Britain and elsewhere making frequent reference to notions of French republican values, Britishness and the like. This phenomenon is also visible in the Nordic countries.«74
Die Frage nach einem Bedeutungswandel nationalstaatlicher Grenzen kann sich dabei auf eine ökonomische oder politische Ebene, oder auch auf die »sozialpsychologische Funktion von (nationalstaatlichen) Grenzen«75 beziehen. Vor allem Letzteres wird sich auch für die vorliegenden Erzähltexte als relevant erweisen.
71 Lüsebrink 2012; 113 ff. Vgl. auch Giddens 2001, 19 f.; 24 ff.; 30 ff. 72 Michael Peter Smith/Luis Eduardo Guarnizo, The Locations of Transnationalism. In: Michael Peter Smith/Luis Eduardo Guarnizo (Hrsg.), Transnationalism from below. Comparative Urban and Community Research 6 (1998) 3-35; 3. Online unter: www.citeseerx. ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.510.2934&rep=rep1&type=pdf (9.10.2018). 73 Vgl. z.B. Eisenstadt 2012; Giddens 2001, 14 ff.; 30 ff.; Hansfried Kellner/Hans-Georg Soeffner, Cultural globalization in Germany. In: Peter L. Berger/Samuel P. Huntington (Hrsg.), Many Globalizations. Cultural Diversity in the Contemporary World. (Oxford 2002), 119-146. 74 Jenny Andersson/Mary Hilson, Images of Sweden and the Nordic Countries. In: Scandinavian Journal of History 34/3 (2000), 219-228; 219. https://doi.org/10.1080/034687509 03134681. 75 Herbert Dittgen, Globalisierung und die Grenzen des Nationalstaats. In: Johannes Kessler/Christian Steiner (Hrsg.), Facetten der Globalisierung. Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur. (Wiesbaden 2009), 161-172; 166 ff.
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Kommunikation und Infrastruktur Die als Globalisierung beschriebenen Phänomene werden zu einem großen Teil durch Innovation von Kommunikationsmedien und -technologien,76 sowie durch Verkehrstechnologien und Infrastruktur ermöglicht und vorangetrieben. Aus diesem Grund werden die Entwicklungen in Informations- und Kommunikationstechnologien seit etwa Mitte der 1980er Jahre auch als »dritte industrielle Revolution« bezeichnet.77 Diese Prozesse wiederum spielen, wie sich zeigen wird, eine zentrale Rolle im Hinblick auf sich verändernde Rahmenbedingungen von Migration und Mobilität während des Untersuchungszeitraums. Den Zusammenhang zwischen dieser ›Revolution‹ und den Prozessen der Migration beschreibt Steve Verkovec folgendermaßen: »Newer, cheaper, and more efficient modes of communication and transportation allow migrants to maintain transnationally their home-based relationships and interests. Today, globally ›stretched‹ patterns of activity affect a variety of migrants’ social relations (including friendship, kinship and status hierarchies), modes of economic exchange, processes political mobilization, practices of cultural reproduction (including religious practices, institutions like marriage, images and symbols affecting group identity) forms of information transfer, and nature of professional association.«78
In diesem Kontext wesentliche Kommunikationsmedien sind vor allem verbesserte, schnellere und kostengünstigere Telefonverbindungen und das Internet. Moderne Kommunikationsmedien wie das Internet mit all seinen Angeboten (Skype, Facebook, WhatsApp usw.), Smartphones und europaweit günstige Handytarife ermöglichen es im Privatleben und in der Arbeitswelt transregionale, transnationale und transkulturelle soziale Netzwerke aufzubauen und zu erhalten, die immer mehr zu einer selbstverständlichen Infrastruktur der Lebenswelt des/der Einzelnen werden:79 »Nie zuvor war grenzüberschreitende Kommunikation so schnell, so einfach und so günstig wie heute.«80 Der globale Austausch von Informationen wiederum führt, so das Postulat, zu einem globalen Kulturtransfer, einer zunehmenden kulturellen Mo-
76 Vgl. z.B. Johann Günther, Technologie und Datenmobilität. In: Caroline Y. Robertson von Trotha (Hrsg.), Mobilität in der globalisierten Welt. (Karlsruhe 2005), 73 ff. 77 Koch 2014, 18 ff. 78 Verkovec 2002, 4 f. 79 Vgl. z.B. Gergen 1996, bes. 140 ff.; Giddens 2001, 21 ff.; Keupp 2004, 6 ff.; Manuell Castells, The Rise of the Network Society. The Information Age. Economy, Society and Culture I. (Cambridge 20002). 80 Koch 2014, 19.
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bilität und zum bereits beschrieben Phänomen der »Raumverdichtung«81 sowie der »Glokalisierung«: »Globales wird in Lokales eingeführt und Lokales wird global zugänglich gemacht. Dieser Vorgang verläuft über einen medialen Interpretationsprozess.«82 Verkehrstechnologien, die zunehmend immer preiswerter und erschwinglicher werden und ständig verbesserte Infrastrukturbedingungen erleichtern zudem die geographische Mobilität.83 In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten wurden beispielsweise durch grenzüberschreitende Autobahnen, Zuglinien und Schifffahrtswege immer schnellere Verbindungen zwischen den urbanen Zentren Europas geschaffen. Auch der zunehmend besser ausgebaute und für die Konsument_innen billigere Luftverkehr spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Für Europa wurde die Liberalisierung des Luftverkehrs sogar gezielt von der EU-Kommission vorangetrieben.84 Spätmoderne Parallel zu Globalisierungsprozessen werden umfassende sozio-kulturelle Veränderungen seit den 1950er Jahren in einem weiteren, sehr umfangreichen sozial- und geschichtswissenschaftlichen Diskurs behandelt.85 Zwar werden für diese Periode, vor allem für die Zeit nach der Epochenschwelle der 1970er und 1980er Jahre, eine Reihe unterschiedlicher Begriffe verwendet (etwa zweite Moderne, flüchtige Moderne, Postmoderne86, Postfordismus, reflexive Moderne, postfordistischer/neoliberaler Kapitalismus usw.87), in seinem Kern beschreibt dieser Diskurs aber dennoch weitgehend dieselben Phänomene. Im Folgenden soll für die Periode der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre der Begriff der ›organisierten Moderne‹ vorgezogen werden.88 Diese ›organisierte Moder81 Vgl. dazu Robert Meyer, Verkehrs- und Kommunikationsmedien in der Globalisierung und die Relevanz des Raumes. In: Tilman Mayer/Robert Meyer/Lazaros Miliopoulos/H. Peter Ohly/Erich Weede (Hrsg.), Globalisierung im Fokus von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Eine Bestandsaufnahme. (Wiesbaden 2011), 105-125; 109. 82 Preyer 2006, 189 ff. 83 Vgl. z.B. Kessler 2009, 32 Abb. 1. 84 Kessler 2009, 55 ff. 85 Vgl. z.B. die Arbeiten von Ulrich Beck, Zygmunt Bauman, Anthony Giddens oder Daniel Bell. 86 Zur Geschichte des Terminus »postmodern« vgl. z.B. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. (Berlin 20026), 9-43; Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmodere-Diskussion. (Berlin 19942), bes. 7 ff. 87 Vgl. Sieder 2004, 30 f.; Ritsert 2009, 331 f.; Bauman 2003; Kraus 2000; Keupp 2008; Gergen 1996, 17 f. 88 Keupp 2008, 72 ff.
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ne‹ ist stark durch eine fordistische Produktionsweise89 geprägt und wird als eine Periode der Arbeitsgesellschaft, der Rationalitätsgesellschaft und der territorialen Nationalstaatsgesellschaft beschrieben. Verbunden und ›geordnet‹ war diese Gesellschaft durch stabile und verbindliche gesellschaftlichen Normen, Werte und Institutionen (beispielsweise Kirche, Familie, Ehe), denen hohe Bedeutung auch für die individuellen Akteur_innen zukam. Somit war eine ›biographische Planungssicherheit‹ gegeben,90 die berufliche und private Biographie schien hinsichtlich der Optionen und Ziele überschau- und planbar. Biographische Erwartungen konnten an ›Normbiographien‹ orientiert werden (Schulbildung, Berufsausbildung, stabiles Beschäftigungsverhältnis, Familiengründung, Wohlstandserzeugung, gesicherte Pension usw.).91 Identitätsfindung und Entscheidungen für einen Lebensweg erfolgten primär in der Phase der Adoleszenz, welche als eine »Phase der Einordnung in eine wohlgeordnete Gesellschaft« beschrieben werden konnte.92 Gänzlich anders stellen sich sowohl die gesamte ›westliche Gesellschaft‹, als auch das individuelle Subjekt in der vieldiskutierten Zeit nach der ›Epochenschwelle‹ der 1970/80er Jahre dar. Im Folgenden soll hierfür, um die Nomenklatur kohärent zu gestalten, der Terminus ›Spätmoderne‹ verwendet werden. Bedingt durch sozio-ökonomische Veränderungen, wie etwa die Etablierung der neoliberalen Produktionsweise in den von wirtschaftlichen Krisen geprägten 1970er Jahren93 und der zunehmenden Globalisierung, kam es zu Prozessen gesellschaftlicher Veränderung, die häufig als Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung beschrieben werden.94 Die spätmoderne Gesellschaft, so das Postulat, sei dynamischer, flexibler und auch reflexiver. Die Lebenswelt des neoliberalen bzw. spätmodernen Subjekts sei freier und vielfältiger aber auch risikoreicher95, unbeständiger und verwirrender. Als typisches Phänomen der Spätmoderne wird etwa eine »Entbettung« der Subjekte, im Gegensatz zu der sicheren Einbettung in die überschaubare, geordnete 89 Sieder 2012, 34; 52 ff.; Gerhard Fehl, Welcher Fordismus eigentlich? In: www.zeithistori sche-forschungen.de/Portals/_zf/documents/pdf/2009-2/Fehl_Fordismus.pdf (22.1.2016). 90 Vgl. auch Gergen 1996, 262 ff. Er spricht von einer »Produktionsgeschichte« der Biographie. 91 Ronald Hitzler, Pioniere einer anderen Moderne? Existenzbasteln als Innovationsmanagement. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 24/2 (2001), 177-191; 189. 92 Keupp 2004, 10. Vgl. auch Kraus 2000, 20 ff.; Reckwitz 2007, 326 f.; Kaufmann 2010, 17 ff. 93 Sieder 2012, 52 ff.; 60 ff. 94 Vgl. z.B. Hitzler 2001 (Anm. 91), 181; Scheibelhofer 2001, 59 ff.; Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmodere-Diskussion. (Berlin 19942), 13 ff.; Rolf Eickelpasch/Claudia Rademacher, Identität. (Bielefeld 20103), 6 f. 95 Beck 1986; Sennet 2010, 99 ff.; Hitzler 2001 (Anm. 91), 183 f.
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Gesellschaft der organisierten Moderne beschrieben.96 Traditional bedeutsame Institutionen, aber auch gesellschaftliche Werte und Normen würden erodieren und so, je nach Leseart, zu mehr Freiheiten oder vermehrter Orientierungslosigkeit führen. Während gleichzeitig die Frage nach Sinn und Bedeutung des Lebens, bzw. die Aufgabe, ihm Sinn und Bedeutung zu verleihen, eine vollständig individualisierte Angelegenheit geworden ist:97 »Auf die Frage, wer man ›ist‹ erhält man keine Antwort mehr – zumindest von der Gesellschaft nicht mehr –, man muss sie sich selbst geben.«98 Individualität, Differenz und Abweichung sind nunmehr nicht nur positiv besetzte Eigenschaften, sondern werden vielmehr als gesellschaftliche Anforderung beschrieben.99 Des Weiteren werden die Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster, die Pluralisierung von Lebensformen und eine zunehmende Fragilität individueller Lebensentwürfe behauptet.100 Gleichzeitig nehmen, so der Befund, immer mehr Lebensbereiche Projektcharakter an, werden somit also temporär und revidierbar,101 während jede Entscheidung in einem Kontingenzbewusstsein getroffen wird.102 Die individuelle Biographie werde in der Retrospektive zu einer Aneinanderreihung von ›Zwischenbilanzen‹. Ein derartiger Projektcharakter gelte für alle Lebensbereiche, für Berufswahl und Wohnort, aber auch für Familiengründung, Heirat und Ehe, Lebenspartnerschaft, Intimbeziehung und mit Abstrichen sogar für die Elternschaft.103 Auch Identität, respektive die Konstruktion von Identität ist von diesem Phänomen des Projektcharakters betroffen und wird nun zu einer lebenslangen kontinuierlichen und nicht abschließbaren Aufgabe.104 Diese gesellschaftliche Anforderung zu Dynamik, Flexibilität und Risikobereitschaft beschreibt Richard Sennet folgendermaßen: »Die moderne Kultur des Risikos weist die Eigenheit auf, schon das bloße Versäumen des Wechselns als Zeichen
96
Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne. (Frankfurt am Main 19967), 36 f.
97
Vgl. z.B. Keupp 2004, 10 f.; Sieder 2012, 58 ff.
98
Norbert Meuter, Müssen Individuen individuell sein? In: Renn/Straub 2002, 187-210; 193.
99
Meuter 2002 (Anm. 98), 189 ff.
100 Vgl. z.B. Kofler 2011, 33; Sieder 2004, 31 ff.; Kraus 2000, 20 ff.; 95 ff.; Gergen 1996; Keupp 2008, 45 ff.; 76 ff. 101 Vgl. z.B. Zygmunt Bauman, Flaneur, Spieler und Tourist. Essays zu postmodernen Lebensformen. (Hamburg 1997), bes. 140 ff. 102 Hartmut Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. (Berlin 20132), 270 ff. 103 Vgl. z.B. Sieder 2008; Reckwitz 2007, 323 ff.; Bauman 2003; Sennet 2010, 29 f. 104 Keupp 2008, 72 ff.
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des Misserfolgs zu werten, Stabilität erscheint fast als Lähmung. Das Ziel ist weniger wichtig als der Akt des Aufbruchs.«105 Zugleich tritt mit der Etablierung der neoliberalen Produktionsweise zu den fordistischen Maximen des Arbeitens und Konsumierens, das Gebot der maximalen Effizienz im verschärften Wettbewerb sowie ein riskantes und unbegrenztes Gewinnstreben hinzu. Leistungs- und Konkurrenzdenken werden so zu einem integralen Bestandteil der Wahrnehmungs- und Denkmuster der spätmodernen Gesellschaft und zwar für alle Lebensbereiche. Nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im Privatleben muss der spätmoderne Mensch immerzu geistig und körperlich fit und ständig zu Höchstleistungen bereit sein.106 Ungeachtet der verwendeten Terminologie (Postmoderne oder Spätmoderne) fasst die folgende Erklärung die wesentlichen Charakteristika dieser Epoche treffend zusammen: »Allgemein bezeichnet Postmoderne in der Soziologie die Gesamtheit gegenwärtiger soziokultureller Prozesse, die auf eine zunehmende Differenzierung und Pluralisierung von weltanschaulichen Orientierungen, Wertsystemen, Einstellungen, Lebensstilen, Verhaltensweisen und Formen sozialer Beziehungen hinauslaufen, verbunden mit einer Zunahme von Orientierungsschwierigkeiten, Gegensätzen, Widersprüchen und Konflikten, aber auch von Möglichkeiten autonom-individueller Lebensgestaltung.«107
Jürgen Straub wiederum beschreibt es als »empirischen Tatbestand«, dass »moderne, funktional differenzierte Gesellschaften multi-, inter-, oder transkulturell« seien und »sich dementsprechend durch vielfältige, heterogene und hybride Lebensweisen und Lebensformen« auszeichnen.108 Nachdem das Forschungsinteresse sowie die konkreten Fragestellungen dieser Untersuchung diskutiert und im Kontext relevanter wissenschaftlicher Diskurse sowie sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Bedingungen dargestellt wurden, möchte ich nun die Methodenwahl meiner Studie erläutern. Die im folgenden Abschnitt vorgestellte methodische Herangehensweise ergibt sich aus dem eben beschriebenen Forschungsinteresse und den im Detail diskutierten Forschungsfragen.
105 Sennet 2010, 115. 106 Sieder 2012, 52 ff.; 60 ff. 107 Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie. (Stuttgart 19944), 683. 108 Jürgen Straub, Psychologie und die Kulturen in einer globalisierten Welt. In: Thomas 2003, 543-566; 546.
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1.2 METHODEN DER UNTERSUCHUNG Um die eben beschriebenen Forschungsfragen nach dem Alltagshandeln und den Relevanzsystemen der Migrant_innen109 beantworten zu können, wird eine Methode benötigt, die es ermöglicht, »die Konstruktion der Wirklichkeit zu rekonstruieren, welche die Akteure in und mit ihrem Handeln vollziehen«110. Daher orientiere ich mich in der Grundkonzeption dieser Studie an dem in den 1960er Jahren von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelten Forschungsstil der Grounded Theory111, einem qualitativer und abduktiver Forschungslogik folgenden Verfahren. Das bedeutet, dass in fortlaufender Auseinandersetzung mit dem primären empirischen Forschungsmaterial, also den Erzähltexten, Hypothesen plausibilisiert oder falsifiziert werden.112 Der gekoppelte Prozess der Auswertung (Interpretation und Analyse) und der davon angeleiteten Suche nach weiteren Fällen wird bei Glaser und Strauss als »theoretisches Sampling« bezeichnet. Im Zuge dessen werden weitere Fälle nach dem Kriterium gesucht, voraussichtlich zur Plausibilisierung oder Falsifizierung der bereits gebildeten Hypothesen beitragen zu können.113 Die hier verwendeten ›Daten‹ sind somit, wie Jörg Strübig treffend formuliert, »das prozesshafte Produkt der Interaktion von Forschenden und Feld, die durch die sich ebenfalls entwickelnde Forschungsfrage als ›Problem‹ strukturiert wird«114. Das theoretische Sampling kann abgeschlossen und beendet werden, wenn weitere neue Fälle keine grundlegenden Erkenntnisse mehr erbringen und die sogenannte theoretische Sättigung eingetreten ist. Ziel des theoretischen Sampling ist es
109 Zu dieser »doppelten Hermeneutik« vgl. Bohnsack 2012, 32 ff. Zum Unterschied zwischen Verstehen und Interpretieren nach Karl Mannheim vgl. z.B. ebda. 59 ff.; Soeffner 2010 (Anm. 19), 164-175; bes. 167 f.; Nach Alfred Schütz ist die Deutung der Welt durch die Subjekte eine Konstruktion erster Ordnung. Die wissenschaftliche Deutung dieser Deutung wiederum wird als Konstruktion zweiter Ordnung bezeichnet. Vgl. dazu z.B. Reichertz 2014, 65-81; 70. 110 Bohnsack/Marotzki/Meuser 2003, 140. Zu Metatheorie und Grundannahmen qualitativer Forschung vgl. auch Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke, Was ist qualitaitive Forschung? Ein Überblick. In: Flick/Kardorff/Steinke 2010, 13-30. 111 Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss, The discovery of Grounded Theory. Strategies for qualitative research. (Chicago 1967). 112 Vgl. z.B. Ruokonen-Engler 2012, 126; Strübing 2014, 462 ff. 113 Vgl. dazu z.B. Strübing 2014, 463; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, 177 f. 114 Strübing 2014, 460.
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also, »innerhalb eines intelligiblen (vorstellbaren, plausibel konstruierten) Raumes möglichst verschiedene Fälle des Möglichgewordenen zu repräsentieren«115. Ohne hier auf die umfangreichen Diskussionen zum Verfahren der Grounded Theory im Detail eingehen zu können116, scheint es mir dennoch wichtig, zumindest einen auch für diese Studie relevanten und möglicherweise missverständlichen Punkt anzusprechen: Das Problem des wissenschaftstheoretischen Vorwissens und der Induktion. Denn, »wenn Konzepte tatsächlich aus den Daten ›emigrieren‹ sollen, wenn die Forschenden davon Abstand nehmen sollen, ihren Daten vorgängige theoretische Konzepte über zu stülpen – dann könnte daraus der Eindruck entstehen, über Vorwissen zu verfügen sei, wenn nicht verwerflich, so doch mindestens hinderlich für die sachangemessene Analyse der jeweiligen Daten.«117
wie Jörg Strübing das Problem treffend beschreibt. Im Weiteren argumentiert er dazu folgendermaßen: »Der Unterschied zu nomologisch-deduktiven Verfahren liegt nicht in dem unterstellten Verzicht auf die Berücksichtigung vorgängiger Theorien, sondern vielmehr in einem veränderten Umgang mit jenem notwendig immer schon vorhandenen Vorwissen sowie generell in einem Theorieverständnis, das die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Theorien stärker betont als strukturelle Verfestigungen.«118
Selbstverständlich bin auch ich nicht völlig theorielos an das empirische Material herangetreten. Das wäre, wie ich meine, auch gar nicht möglich gewesen. Sämtliche wissenschaftstheoretischen Konzepte, die meine Forschung orientieren, wurden jedoch in kontinuierlichem Abgleich mit dem empirischen Material rezipiert, formuliert und entwickelt.119 In diesem Kontext sei bereits an dieser Stelle auf eine interessante Beobachtung verwiesen, die sich aus einer solchen »prozessualen Perspektive auf das Verhältnis 115 Sieder 2019, 38. 116 Vgl. z.B. Strübing 2014; Jörg Strübing, Glaser vs. Strauss? Zur methodologischen und methodischen Substanz einer Unterscheidung zweier Varianten von Grounded Theory. In: Historical Social Research Supplement 19 (2007), 157-173; Kathy Charmaz, Constructing grounded theory. A practical guide through qualitative analysis. (Los Angeles 20102). 117 Strübing 2014, 58. 118 Strübing 2014, 58. 119 Vgl. z.B. Barney Glaser/Anselm Strauss, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. (Göttingen 19982), 54 f.; Strübing 2014, 61.
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von Empirie zu Theorie bzw. von Daten zu Konzepten«120 ergab: Immer wieder zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Alltagskonzepten der Erzähler_innen und sozialwissenschaftlichen Theorien. Die Erzähler_innen denken und verstehen derartige Konzepte, etwa zu Kultur oder Identität, deutlich anders, als es konstruktivistische, sozialwissenschaftliche Theorien tun. Dort, wo die Alltagstheorien und die wissenschaftlichen Theorien signifikant auseinanderliegen, provoziert das wiederum die berechtigte und relevante Frage, warum die Alltagsmenschen so denken und handeln wie sie es tun. Folgt man der Logik der qualitativen Sozialforschung (s.u.), stülpt man also die wissenschaftlichen Konzepte nicht kurzerhand über die empirischen Funde, dann muss das Forschungsinteresse auch der Frage gelten, warum die Erzähler_innen beispielsweise keine sozialen Konstruktivisten sind: Was erzeugt denn die Differenz zwischen den essentialistischen Begriffen der Alltagsakteure oder kurz dem Commonsense und der konstruktivistischen Theorie? 1.2.1 Das narrativ-autobiographische Interview mit Themenzentrierung Die empirische Basis dieser Studie stellen in narrativ-autobiographischen Interviews gewonnene Stegreiferzählungen dar. Dieses Interviewverfahren geht auf Fritz Schützes Modell des Narrativinterviews zurück. 121 Aufgrund meiner Forschungsfragen habe ich jedoch eine deutliche Themenzentrierung vorgenommen und mich insofern von Schützes Modell etwas entfernt. Die von mir geführten Interviews können daher als ›thematisch fokussierte, biographisch-narrative Interviews‹ bezeichnet werden. Dieses Erhebungsinstrument zielt auf die »Gewinnung und Anregung detaillierter und subjektivierter Erzählungen«122, welche die subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen, d.h. die autobiographische Interpretation der Migrationserlebnisse zur Sprache bringen. Dabei wird der Erzähler/die Erzählerin »nicht in distanzierter Weise zu einem Geschehen und seinem Handeln befragt, sondern wird zum Wiedererleben eines vergangenen Geschehens gebracht und dazu bewegt, seine Erinnerung daran möglichst umfassend in einer Erzählung zu reproduzieren.«123
120 Strübing 2014, 61. 121 Vgl. z.B. Schütze 1983; Küsters 2009, bes. 21; Bohnsack 2012, 91 ff.; Nohl 2009. 122 Sieder 2019, 34. Zu den erzähltheoretischen Grundlagen vgl. auch Schütze 1983, 265 f.; Bohnsack 2010, 92 ff.; Sieder 2019, 36 ff.; Küsters 2009, 25 ff.; Brockmeier/Harré 2001, 40 ff. Zur methodologischen Kritik an diesem Verfahren vgl. z.B. Küsters 2009, 31 ff. 123 Küsters 2009, 21.
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Der handlungstheoretische und methodologische Bezugsrahmen dieses Verfahrens kann mit Ralf Bohnsack als eine »phänomenologisch-interaktionistische« Soziologie beschrieben werden.124 Deren handlungs- und erzähltheoretische Annahme ist, dass das Narrativ das »primäre strukturierende Schema ist, durch das Personen ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur physischen Umwelt organisieren und als sinnhaft auslegen«125. Mithin darf das Narrativ nicht als ontologisches Abbild einer Realität betrachtet werden. Vielmehr stehen »erlebte und erzählte Lebensgeschichte in einem sich wechselseitig konstruierenden Verhältnis«126. Autobiographische Erzählungen sind für die vorliegende Untersuchung und die hier gestellten Forschungsfragen somit perfekt geeignet: Sie gewährleisten den »Zugang zu den unterschiedlichen Ebenen der für Alltagswirklichkeit und Alltagshandeln konstitutiven Erfahrungen«127 der Migrant_innen und ermöglichen es, deren »objektive Handlungsbedingungen und subjektive Handlungsspielräume«128 bestmöglich zu erschließen. Daraus wiederum ergeben sich zwei komplementäre Frageperspektiven, die Ivonne Küsters folgendermaßen formuliert: »Zum einen ist zu beschreiben, wie die soziale Wirklichkeit aus der Sicht des Individuums aussieht; zum zweiten ist es erforderlich zu erforschen, wie diese Perspektive selbst beschaffen ist.«129 Das Forschungsinteresse richtet sich mithin auf einer ersten Ebene auf das explizite Wissen und die manifesten Bedeutungen, also auf das, was der/die Erzählende tatsächlich sagt, wissen kann und mitteilen will.130 Aber, wie Bohnsack hervorhebt, ist nicht nur Bewusstes, sondern sind auch »unbewusste Wünsche und Ängste, habitualisierte und selbstverständliche Praktiken und stillschweigendes (nicht explizierbares) Wissen [...] am Prozess der Kognition (der Ausformulierung von Wissen) betei-
124 Dieser Zugang verbindet die Tradition der Phänomenologie nach Alfred Schütz und die Theorie des Symbolischen Interaktionismus nach George H. Mead. Vgl. Bohnsack 2010, 91. 125 Donald E. Polkinghorne, Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. In: Jürgen Straub (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. (Frankfurt am Main 1998), 12-45; 15. 126 Rosenthal 1995, 20. Vgl. dazu auch Peter Alheit, Geschichten und Strukturen. Methodologische Überlegungen zur Narrativität. In: Zeitschrift für qualitative Forschung 8/1 (2007), 75-96. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-277821. 127 Bohnsack 2010, 91. 128 Sieder 2008, 67 ff. Vgl. auch Ulrich Oevermann, Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung. In: Sozialer Sinn 1 (2001), 35-81; 60 ff.; Deppermann 2014, 133 f. 129 Küsters 2009, 19. 130 Sieder 2008, 72.
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ligt«131. Daher sollen auf einer zweiten Ebene jene unbewussten, latenten Aspekte des Erlebens und Handelns, welche dem Erzähler/der Erzählerin kognitiv unzugänglich sind, und nicht intentional erzählt werden können, untersucht werden.132 Neben dem psychologischen (psychoanalytischen) Konzept des Unbewussten133 kennt die Sozialwissenschaft auch das Konzept des »impliziten Wissens«134. Dieses umfasst »im Regelfall des Alltagshandelns keine bewusst vorgenommenen und intentional gesteuerten Akte«, sondern Handlungen, die »gewissermaßen en passant im Routinehandeln« geschehen.135 Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von »unterschiedlichen Niveaus der Latenz«, die er folgendermaßen definiert: »Der Begriff der Latenz bezieht sich auf das mentale, psychische, bewußtseinsmäßige Verhältnis der Subjekte zu den ihr Handeln strukturierenden Merkmalen des (inneren) Kontext.«136 Aufgabe der rekonstruktiven Sozialforschung ist daher auch die Rekonstruktion »dieser impliziten Wissensbestände und der impliziten Regeln sozialen Handelns«137. Im Hinblick auf den Erkenntnisgewinn aus Erzählungen in narrativen Interviews ist allerdings zu bedenken, dass diese überwiegend retrospektiv sind. Gabriele Rosenthal hat sich intensiv mit der Frage der Retrospektivität auseinandergesetzt: »Erinnern basiert auf einem Vorgang der Reproduktion, bei dem das Vergangene entsprechend der Gegenwart der Erinnerungssituation und der antizipierten Zukunft einer ständigen Modifikation unterliegt.«138 Jedwede Erinnerung wird also immer von einem gegenwärtigen Standpunkt aus narrativiert (und damit reflektiert und evaluiert).139 Daraus folgt, dass im Zuge der Analyse der Erzähltexte stets von einer »Dominanz der Gegenwartsperspektive«140 in den Erzählungen ausgegangen wer131 Bohnsack 2010, 191 ff. 132 Sieder 2019, 55. 133 Zu unterschiedlichen Begriffen von Latenz vgl. Sieder 2004, 33 ff.; Sieder 2008, 64 ff.; Sieder 2019, 55; Bohnsack 2010, 90. 134 Zum Konzept des »schweigendes Wissen«, oder »tacit knowledge« vgl. Michael Polanyi, Implizites Wissen. (Frankfurt am Main 1985). Vgl. auch Kapitel 3.1. 135 Bohnsack/Marotzki/Meuser 2003, 140. 136 Bohnsack 2010, 90. 137 Bohnsack/Marotzki/Meuser 2003, 140. 138 Rosenthal 1995, 70. Aber auch Faktoren wie Müdigkeit oder gewisse emotionelle Stimmungen während des Interviews können die Erzählung beeinflussen. Vgl. dazu ebda., 71 f. 139 Zur Nachträglichkeit vgl. z.B. Sieder 2019, 59; Sieder 2014, 159; Rosenthal 1995, 15 ff.; 87 ff. 140 Rosenthal 1995, 44; Fritz Schütze selbst postuliert, dass es für die Forschenden möglich sei, in der Erzählung trennscharf zwischen damalig erlebten und nachträglicher Reflexion zu unterscheiden. Vgl. dazu Küsters 2009, 34 f.
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den muss. Dieses Wissen der Forschenden wiederum muss in die Interpretation mit einfließen. Es geht mithin um die von Reinhard Sieder präzise beschriebene Frage, »wie die formulierte Vorstellung vom Vergangenen zustande kam, und ob diese Vorstellung mit dem Ziel einer gangbaren und plausiblen Konstruktion des Vergangenen interpretier- und analysierbar ist«141. Orientiert man sich an dieser Fragestellung, muss die jedem autobiographischen Narrativ inhärente Retrospektivität keineswegs eine Minderung des Erkenntnisgewinns bedeuten. Für die vorliegende Untersuchung ist diese Reflexion der Retrospektivität vor allem auch im Hinblick auf den Vergleich der Fälle (s.u.) von Relevanz, da die interviewten Migrant_innen zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten nach Wien zuwanderten, die zeitlichen Distanzen zum Erlebten also verschieden lang sind. Zwar sagt Rosenthal zufolge »die Zeitspanne, die zwischen Erlebnis und Erzählung liegt, nichts über den Modifizierungsgrad der Erzählung aus«142, aus den unterschiedlichen Zeitspannen folgt aber, dass die Interviewpartner_innen sich zum Zeitpunkt des Interviews in sehr verschiedenen Migrations- und Lebensphasen befinden; ein Umstand, der natürlich auch im Zuge der der Interpretation bedacht werden muss. Interviewführung Der Einstieg in das Interview erfolgt durch eine Erzählaufforderung, die sowohl thematisch als auch zeitlich möglichst weit und offen gehalten werden.143 Dies vor allem deshalb, weil Stegreiferzählungen angeregt werden sollen, die die Gesprächspartner_innen nicht vorbereitet haben, um eine freie Assoziation (das heißt: einen spontanen Prozess der Komposition der Erzählung) zu begünstigen. Die Aufgabe des Forschers/der Forscherin ist zunächst das aktive Zuhören (die »körpersprachliche und subsprachliche Symbolisierung ihrer aufmerksamen Teilnahme«)144, ohne die Gesprächspartner_innen mit Fragen oder Kommentaren zu unterbrechen.145 Im Anschluss an die Haupterzählung können in einem immanenten Nachfrageteil, der unmittelbar auf die Haupterzählung Bezug nimmt, weitere Fragen zu dem in der Haupterzählung bereits Thematisierten gestellt werden. Im abschließenden exmanenten Nachfrageteil kann der Interviewer/die Interviewerin schließlich auch völlig neue, noch nicht angesprochene Themen einbringen.146 In den vorliegenden Inter141 Sieder 2014, 159 f. 142 Rosenthal 1995, 83. 143 Vgl. dazu Rosenthal 1995, 197; Küsters 2009, 44; Sieder 2014, 157 f. 144 Sieder 2019, 34. 145 Zu Prinzipien und Praxis der Gesprächsführung vgl. z.B. Rosenthal 1995, 186 ff.; Steiner Kvale/Svend Birkmann, Interviews. Learning the Crafts of Qualitativ Research Interviewing. (Los Angeles/Londen/New Dehli u.a. 20092); Ivonne Küsters, Narratives Interview. In: Baur/Blasius 2014, 575-581; 578 ff.; Küsters 2009, 21 ff. 146 Vgl. z.B. Küsters 2009, 61 ff.; Sieder 2014, 162 ff.
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views habe ich diese letzte Phase genützt, um spezifischere Fragen zu den beschriebenen Forschungsfragen (s.o.) zu stellen, so diese Themen nicht ohnehin schon zuvor in der Eingangserzählung von den Erzähler_innen angesprochen worden waren. 1.2.2 Analyse der Erzähltexte: Die dokumentarische Methode Zur gewählten Methode des autobiographisch-narrativen Interviews passt das rekonstruktive Analyseverfahren der sequentiellen Textanalyse 147 nach dem Modell der von Bohnsack explizierten ›dokumentarischen Methode‹.148 Denn wie Bohnsack ausführt, ist das Ziel der dokumentarischen Methode »die Rekonstruktion des handlungsleitenden Erfahrungswissens im Alltag von Individuen und Gruppen, um das Zusammenspiel gesellschaftlicher Strukturen und individueller bzw. kollektiver Handlungen zu erkennen«149. Die hier kombinierten Verfahrensschritte gehen auf Karl Mannheim, Ulrich Oevermann, Fritz Schütze, Hans-Georg Soeffner u.a. zurück. Von Bohnsack unter dem Begriff dokumentarische Methode zusammengefasst, hat dieses Verfahren inzwischen in den Sozial- und Kulturwissenschaften ein breites und vielfältiges Anwendungsfeld gefunden.150
147 In der Transkription der Interviewtexte markiert - eine Sprechpause von etwa einer Sekunde, = markiert den unmittelbaren Anschluss zwischen zwei Worten, / markiert den Abbruch eines Satzes, // den Anbruch eines Themas. Unverständliche Stellen sind mit ( ) gekennzeichnet. Vgl. dazu auch Sieder 2014, 167 ff. Um eine bessere Übersichtlichkeit zu gewährleisten, werden im Text zitierte Sequenzen aus den Interviews in einer anderen Formatierung dargestellt als Literaturzitate. 148 Im Gegensatz zum Verfahren der objektiven Hermeneutik liegt das Schwergewicht bzw. der Fokus dieser Methode »dort, wo das Fremde in seiner anders gearteten milieugebundenen Normalität begriffen werden soll« Bohnsack 2010, 85. Damit entspricht diese methodische Herangehensweise dem Forschungsinteresse dieser Studie. Zu weiteren Unterschieden zwischen diesen beiden Verfahrensweisen vgl. Bohnsack 2010, 83 ff. Zur objektiven Hermeneutik vgl. Ulrich Oevermann/Tilman Allert/Elisabeth Konau/ Jürgen Krambeck, Die Methodologie einer »objektiven Hermeneutik« und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. (Stuttgart 1979), 352-434; Detlef Garz/Uwe Raven, Theorie der Lebenspraxis. Einführung in das Werk Ulrich Oevermanns. (Wiesbaden 2015). 149 Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, 156. 150 Vgl. z.B. Sieder 2019, 50; Bohnsack 2010, 31 f.; Bohnsack 2003. Zu Beispielen für eine Anwendung in der Migrationsforschung vgl. z.B. Arnd-Michael Nohl/Karin Schittenhelm/Oliver Schmidtke/Anja Weiß, Kulturelles Kapital in der Migration. Ein Mehrebenenansatz zur empirisch-rekonstruktiven Analyse der Arbeitsmarktintegration hoch-
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Im Sinne eines hermeneutischen Konstruktivismus geht es um die Frage »nach dem Wie der Herstellung dessen, was im Common Sense als gesellschaftliche Tatsache erscheint«151. Anders formuliert, fragt eine derartige »praxeologische« Wissenssoziologie also nach der Praxis, durch welche die gesellschaftliche Realität hergestellt wird:152 »Wie gehandelt wird, weist immer auf unterschiedliche Ausformungen des Alltagswissens und damit auch auf unterschiedliche soziale Bedingungen der Handelnden zurück. Diesen Umstand machen sich Sozialwissenschaftler zunutze, die mit Hilfe der Dokumentarischen Methode untersuchen, welche unterschiedlichen typischen Denk- und Handlungsmuster existieren, wie diese zustande kommen und welche praktischen Konsequenzen sich daraus ergeben.«153
Die von Bohnsack vorgesehenen Schritte zur Analyse des in Sequenzen gegliederten Textes154 sind die formulierende Interpretation, die reflektierende Interpretation und schließlich die Typenbildung.155 Die formulierende Interpretation fragt nach dem kommunikativen bzw. immanenten Sinngehalt156, also danach, was gesagt wird. In diesem Analyseschritt wird eine Paraphrasierung und inhaltlich themati-
qualifizierter Migrant_innen. In: Forum Qualitative Sozialforschung 7/3 (2006), Art. 14; Arnd-Michael Nohl, Migration und Differenzerfahrung. Junge Einheimische und Migranten im rekonstruktiven Milieuvergleich. (Opladen 2001); Ralf Bohnsack/ArndMichael Nohl, Ethnisierung und Differenzerfahrung. Fremdheit als alltägliches und als methodologisches Problem. In: Zeitschrift für qualitative Bidlungs-, Beratungs-, und Sozialforschung 9/3 (2001), 15-36; Ralf Bohnsack/Arnd-Michael Nohl, Adoleszenz und Migration. Empirische Zugänge einer praxeologisch fundierten Wissensoziologie. In: Ralf Bohnsack/Winfried Marotzki (Hrsg.), Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung. (Opladen 1998), 260-282. 151 Bohnsack 2003, 556 f. 152 Darunter ist die Praxis des Handelns aber auch des Sprechens, Darstellens und Argumentierens zu verstehen. Bohnsack 2010, 187 ff.; Ralf Bohnsack/Iris Nentwig-Gesemann/Arnd-Michael Nohl, Einleitung: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. In: Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013, 9-33. 153 Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, 154. 154 Vornehmlich werden hierbei Sequenzen mit besonderer metaphorischer und/oder interaktioneller Dichte im Detail analysiert. Vgl. Bohnsack 2013, 136 f. 155 Vgl. z.B. Nohl 2009, 45 ff.; Bohnsack 2010, 34 ff. 156 Nach Karl Mannheim kann der immanente Sinn einer Äußerung weiter in Objektsinn und intendierten Ausdrucksinn (die »kommunikative Selbstdarstellung«) unterschieden werden. Vgl. z.B. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, 159 f.
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sche Zusammenfassung der einzelnen Sequenzen vorgenommen und diese nach vorherrschenden Textsorten untersucht (s.u.).157 Im Unterschied dazu fragt die reflektierende Interpretation nach dem dokumentarischen Sinngehalt, also danach, wie ein Thema behandelt wird.158 Dieser Analyseschritt zielt mithin, in den Worten Bohnsacks, auf die »Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird«159. Unter dem Oberbegriff ›Orientierungsmuster‹ ist zwischen Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen zu unterscheiden: Orientierungsrahmen sind »in der habitualisierten Handlungspraxis, im habituellen Handeln implizierte und diese Praxis orientierende Muster«160. Orientierungsschemata hingegen orientieren »als (kontrafaktische) Erwartungen im Sinne von Normen und als zweckrationale Modelle der (theoretischen) Verständigung über diese Praxis unsere Kommunikation«161. Anders formuliert repräsentieren Orientierungsschemata »das Wissen um institutionalisierte und normierte Verläufe, mit denen Individuen sich auseinandersetzen und innerhalb derer sie handeln müssen. [...] Diese Schemata erlebt der Einzelne als soziale Anforderungen an sein Handeln; sie entfalten also eine gewisse normative Kraft«162.
Die Unterscheidung von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen veranschaulicht Bohnsack an folgendem Beispiel: »Wenn ich bspw. von meiner ›Familie‹ spreche, so verweist dieser Begriff als ›Allgemeinbegriff‹, also in seiner kommunikativen Bedeutung, auf institutionalisierte Rollenerwartungen und die damit verbundenen Orientierungsschemata. Zugleich verweist der Begriff Familie auf den konjunktiven Erfahrungsraum derjenigen, die Gemeinsamkeiten einer konkreten familialen Praxis und somit einen Orientierungsrahmen miteinander teilen.«163
157 Vgl. z.B. Bohnsack 2003, 563; Bohnsack 2010, 134 f.; Nohl 2009, 77 ff.; Bohnsack/ Nentwig-Gesemann/Nohl 2013, 325 f.; Sieder 2014, 151 f. Zu unterschiedlichen Textsorten (Geschichte, Bericht, Beschreibung, Argumentation, Evaluation) vgl. auch Sieder 2019, 31 f.; Sieder 2014, 158 f. 158 Vgl. z.B. Bohnsack 2003, 563; Bohnsack 2010, 135 ff.; Nohl 2009, 82 ff.; Bohnsack/ Nentwig-Gesemann/Nohl 2013, 325 ff. 159 Bohnsack 2010, 135. 160 Bohnsack 2012, 119; 125 ff. 161 Bohnsack 2012, 119; 120 ff. 162 Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, 156 f. 163 Bohnsack 2012, 122 f.
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Bereits im Zuge der Rekonstruktion von Orientierungsmustern und Orientierungsrahmen bedarf es einer komparativen Analyse, also eines Fallvergleichs, »da sich der Orientierungsrahmen erst vor dem Vergleichshorizont anderer Fälle in konturierter und empirisch überprüfbarer Weise herauskristallisiert«164. Rekonstruktion spezifischer Fallstrukturen aus den Erzählungen Anschließend an die Analyse der einzelnen Textsequenzen wird eine spezifische Fallstruktur erarbeitet. Dazu wird die Erzählung in ihrem strukturellen, soziokulturellen Kontext gedeutet und theoretisch reflektiert, um anschließend eine Gesamtgestalt des Falles charakterisieren zu können. Dabei sollen objektive und subjektive Handlungsbedingungen herausgearbeitet werden, indem die Verbindung zwischen strukturellem, sozio-kulturellem Kontext und individuellem Handeln und subjektiven Handlungsmotiven rekonstruiert wird.165 Ziel dieses Arbeitsschrittes ist es, »zu verallgemeinerbaren Aussagen über diesen Fall und seine gesellschaftlichen Bedingungen zu gelangen«166. Damit zielt eine solche Untersuchung auf »Gesetze des Typischen, nicht des Repräsentativen«167 (s.u.). Diese Untersuchung folgt demnach der Forderung Max Webers an jede historische Sozial- und Kulturwissenschaft, »soziales Handeln deutend zu verstehen und dadurch seinen Ablauf und seine Wirkungen kausal zu erklären«168. Der Brückenschlag zwischen dem deutenden Verstehen und dem kausalen Erklären wird durch die Verbindung der Ebene der »vom Menschen selbst gesetzten Zwecke, Mittel und Werte« und der Ebene der einwirkenden »kausalen und strukturellen Zwänge« hergestellt. Durch die Konfrontation dieser beiden Ebenen kann das typische Verhalten herausgefunden, dargestellt und »sinnadäquat« nachvollzogen werden.169
164 Bohnsack 2003, 563. 165 Sieder 2008, 65; Bohnsack 2010, 32 ff.; 137 ff.; Nohl 2009, 57 ff.; Bohnsack/Marotzki/ Meuser 2010, 60 ff. 166 Sieder 2004, 180 f. Vgl. auch Kofler 2011, 100 ff.; Bohnsack 2010, 139 ff. 167 Bohnsack/Marotzki/Meuser 2003, 61. 168 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Bd. 1 (Tübingen 1922), 1 ff. Vgl. z.B. auch Gerd Nollmann, Luhmann, Bourdieu und die Soziologie des Sinnverstehens. Zur Theorie und Empirie sozial geregelten Verhaltens. In: Armin Nassehi/Gerd Nollmann (Hrsg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich. (Frankfurt am Main 2004), 118155; 118. 169 Nollmann 2004 (Anm. 168), 118-127; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, 28 ff.
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Fallvergleich und Typenbildung Als nächster Schritt erfolgt nun die Abstraktion vom Einzelfall durch den kontrastiven Vergleich der Fälle170 und die Typenbildung. Um ›offene Typologien‹ bilden zu können, werden die Fallstrukturen zunächst nach Ähnlichkeiten und Differenzen untersucht171, die wiederum sozial-, wirtschafts- und kulturhistorisch kontextualisiert und mit diversen wissenschaftlichen Theorien konfrontiert werden. Das fundamentale Kriterium in der Generierung solcher ›offener Typiken‹ und zugleich »die Klammer, die eine ganze Typologie zusammenhält«, ist der »Kontrast in der Gemeinsamkeit«172. Durch Fallvergleich und Typenbildung sollen »Regelmäßigkeiten oder Regeln, die für eine Gruppe von Fällen gelten, für eine andere Gruppe von Fällen aber nicht«173, entdeckt und festgestellt werden. Im Zuge der Typenbildung lassen sich zwei Grundformen unterscheiden: Sinntypen beziehen sich auf in den Erzählungen explizit oder implizit angebotene Bewertungen, Interpretationen und Argumentationen.174 Die Soziogenese dieser Sinntypen, also deren sozio-strukturelle Entstehungszusammenhänge, hingegen verweist auf Soziotypen. 175 Mit ihnen soll der »spezifische Erfahrungsraum« beschrieben werden, »innerhalb dessen die Genese einer Orientierung, eines Habitus zu suchen ist«176. Generalisierung Ein häufiger Kritikpunkt an qualitativen Studien ist die geringe Fallzahl und damit die fehlende Repräsentativität, die oftmals zu Misstrauen oder Zweifeln an den gewonnenen Erkenntnissen führt. In diesem Zusammenhang kann nicht oft genug betont werden, dass Repräsentativität und Generalisierbarkeit strikt zu unterscheiden sind. Repräsentativität beschreibt »die angestrebte Eigenschaft von statistischen Erhebungen, die Grundgesamtheit in der ausgewählten Stichprobe möglichst unverzerrt nachzubilden«177. Hingegen ist unter Generalisierbarkeit der epistemische Vorgang zu verstehen, aus der Untersuchung (Interpretation, Analyse und Ver-
170 Vgl. dazu Bohnsack 2010, 95 f.; Sieder 2019, 39 ff. 171 Bohnsack/Nohl 2001, 31. Da der Gegenstand der Interpretation Alltagspraktiken ist, können nicht Theorien, sondern lediglich alternative Praktiken als Vergleichshorizonte herangezogen werden. 172 Bohnsack 2010, 143; 141 ff. 173 Sieder 2019, 39. 174 Sieder 2019, 43. 175 Vgl. dazu Nohl 2009, 13 f. 176 Bohnsack 2013, 248. Vgl. auch Sieder 2019, 43 ff. 177 www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/quantitative/quantitative-24.html (11.12.2018).
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gleich) von beliebig vielen Fällen Erkenntnisse zu gewinnen und Theorien zu bilden, die solange Geltung haben, als sie nicht empirisch widerlegt worden sind. 178 Als qualitativ empirische Untersuchung kann und will die hier vorgelegte Studie keinen Anspruch darauf erheben, ›repräsentativ‹179 zu sein. Ziel ist vielmehr, wie Alexandra Kofler dies formuliert hat, »ein (methodisch-geleitetes) Sich-Einlassen auf die empirische Vielfalt der Lebenspraxis von Subjekten«180. Auf diese Weise kann eine solche Untersuchung, wie eben dargestellt, sehr wohl methodisch kontrolliert generalisieren181 und so zu verallgemeinerbaren Erkenntnissen gelangen. Durch die Dokumentation, detaillierte Rekonstruktion und Analyse biographischer Fallgeschichten ist es möglich, »im speziellen Fall das Allgemeine sichtbar«182 zu machen, können die typischen Fälle des Möglichen herausgefunden und erklärt werden.183 Die Qualität der Forschung und die Aussagekraft der Ergebnisse sind daher nicht in der Anzahl der Fälle begründet, sondern in an der am jeweiligen Fall gewonnenen Einsicht im Hinblick auf die Forschungsfragen.184 1.2.3 Zum Forschungsdesign Damit der Untersuchungszeitraum von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart erfasst werden konnte, mussten Interviews mit Migrant_innen geführt werden, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Raum Wien zugewandert sind. Daher habe ich, um eine Vergleichbarkeit dieser Fälle gewährleisten zu können, drei Gruppen von Migrant_innen gebildet, die ich im Folgenden der Einfachheit halber als ›Migrationsgenerationen‹ bezeichnen möchte: Migrant_innen, die in den 1960er und 1970er Jahren (Gruppe 1), den 1980er und 1990er Jahren (Gruppe 2) sowie den 2000er und 2010er Jahren (Gruppe 3) nach Österreich zugewandert sind. Als weitere Voraussetzung sollten die Proband_innen ihren Lebensmittelpunkt seit zumindest einigen Jahren in Wien bzw. dem Raum Wien haben, gleichzeitig aber wenigstens bis über das Kindesalter hinaus im Herkunftsland gelebt haben.
178 Vgl. auch Uwe Flick, Design und Prozess qualitativer Forschung. In: Flick/Kardorff/ Steinke 2010, 252-265; 259 f. 179 Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, 45 f. 180 Kofler 2011, 81. 181 Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, 45 ff.; 312 ff. 182 Kofler 2011, 100. 183 Vgl. z.B. Sieder 2008, 62 ff.; Sieder 2019, 39; 244 ff.; Kofler 2011, 199 ff. 184 Kofler 2011, 100 ff. Zu »Gütekriterien qualitativer Sozialforschung« vgl. auch Uwe Flick, Gütekriterien qualitativer Sozialforschung. In: Baur/Blasius 2014, 411-424; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, 35 ff.
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Weitere Kriterien, wie beispielsweise der Besitz einer österreichischen Staatsbürgerschaft oder ein spezieller Bildungshintergrund, wurden für die Wahl der interviewten Migrant_innen nicht relevant gesetzt. Ich habe also bewusst nicht nur sogenannte ›hochqualifizierte‹ Migrant_innen ausgewählt, da es nicht Ziel meiner Studie war, eine bestimmte ›Klasse‹ an Einwander_innen zu untersuchen. (Siehe Kap. 1.1) Die hier interviewten Migrant_innen sind schlicht ›qualifiziert‹, sie alle haben eine Berufsausbildung. Die Mehrheit hat zwar ein Studium absolviert und kann daher auch als ›hochqualifiziert‹ bezeichnet werden, aber das ist primär dem Zufall geschuldet.185 Die Suche nach diesen Kriterien entsprechenden Interviewpartner_innen startete ich zunächst ausgehend von meinem Freundes- und Bekanntenkreis, durch dessen Hilfe und Vermittlung ich im Schneeballsystem erste Gesprächspartner_innen finden konnte. Zusätzlich wandte ich mich mit meinem Anliegen an diverse Kulturvereine, wie etwa das Kulturforum DanAustria, die Asociación Española en Austria oder das Institutio Cervantes. Auf diese Weise und durch die überaus freundliche Unterstützung dieser Vereine, konnte ich ebenfalls Gesprächspartner_innen für meine Arbeit gewinnen, die mir wiederum weitere Proband_innen vermittelten. Vor allem für Migrant_innen der ersten Gruppe, also jenen, die während der 1960er und 1970er Jahre zugewandert sind, war allerdings häufig eine längere und intensivere Suche nötig. Die Interviews selbst fanden an unterschiedlichen Orten, die in Absprache mit den Interviewpartner_innen festgelegt wurden, statt. Einige Male wurde ich zu den Gesprächspartner_innen nachhause eingeladen, andere Interviews fanden in Kaffeehäusern statt, einige wenige führte ich auch bei mir zuhause. Ein zentraler Faktor für das Gelingen eines Interviews ist gegenseitiges Vertrauen. Um dieses Vertrauen zu gewährleisten, war das Versprechen erforderlich, die Anonymität der Gesprächspartner_innen zu wahren, weswegen die in der Publikation verwendeten personenbezogenen Namen Pseudonyme sind. Auch die Kurzbiographien (siehe Kap. 2.2.1) wurden im Hinblick auf eine Anonymisierung in einigen Fällen leicht abgewandelt.186 1.2.4 Zur Forschungspraxis Ergänzend zur Darstellung der methodischen Herangehensweise möchte ich noch einige Anmerkungen zur Umsetzung und Anwendung der beschrieben Verfahren in der konkreten Durchführung der Forschung machen.
185 Zum steigenden Ausbildungsniveau innereuropäischer Migrant_innen im Zeitraum 1995 bis 2005 vgl. z.B. Recchi 2008, 207 ff. 186 Vgl. dazu auch Küsters 2009, 75.
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Vor allem im Hinblick auf die Interviewführung und, damit verbunden, auf Struktur und Beschaffenheit der Erzähltexte, unterscheidet sich das in der Literatur beschriebene Ideal der theoretischen Methodenlehre gelegentlich von den Umständen, mit denen der/die Forschende in der Praxis konfrontiert ist. Denn »Befragte sind weder statische Auskunftsautomaten, die ihre Subjektivität unabhängig vom interaktiven Kontext sprachlich veräußerlichen, noch sind sie abhängige Variablen des Interviewerhandelns, deren Reaktionen durch die Vorgaben der Interviewerin bzw. des Interviewers determiniert werden.«187
Bei den meisten der von mir geführten Interviews war zu Beginn eine »Aushandlungsphase«188 nötig, oder anders gesagt: der Erzählstimulus musste leicht modifiziert wiederholt werden. Trotz der vorab geführten Informationsgespräche waren die Interviewpartner_innen häufig zunächst etwas unsicher, wie und was sie erzählen sollten. Sie hatten Angst etwas ›falsch‹ zu machen, oder meinen Erwartungen und Interessen nicht zu entsprechen. Um den Gesprächspartner_innen diese Unsicherheit zu nehmen, habe ich ihnen, manchmal auch wiederholt, versichert, dass mich alle ihre Erinnerungen, die mit dem Thema im Zusammenhang stehen, interessieren. Die Interviews unterscheiden sich auch in ihrer Detailliertheit und im Umfang der Erzählungen. Das ist nicht weiter verwunderlich, handelt es sich bei den Interviewten doch um Migrant_innen mit individuellen narrativen und sprachlichen Kompetenzen und Präferenzen.189 Unterschiedlich waren daher auch der individuelle Umgang mit der speziellen Situation des Interviews, die schließlich in keiner Weise der vertrauten Routine von Interaktionspraxis in der Alltagskommunikation entspricht,190 sowie die diesbezüglichen Bedürfnisse nach Handlungssicherheit (etwa die benötigte Versicherung, ›Interessantes‹ zu erzählen, oder der Wunsch nach einem eher alltäglichen, annähernd symmetrischen Gespräch mit der Interviewerin). In einigen Interviews überwiegen tendenziell Beschreibungen, Berichte, Argumentationen und Evaluationen, während elaborierte Geschichten seltener sind.191 Solche Abweichungen von dem in der Methodenlehre postulierten idealen Inter187 Deppermann 2014, 144. 188 Vgl. dazu Küsters 2009, 57 f. 189 Zur Frage der individuellen »narrativen Kompetenz« vgl. Küsters 2009, 30 f.; Gabriele Rosenthal zufolge gibt es unterschiedliche »Erzähltypen«, von denen einige eher zu den narrativen Formen Bericht, Evaluation oder Argumentation neigen. Vgl. dazu Küsters 2009, 67 f. 190 Zum Thema Interviews und Alltagsinteraktion vgl. Deppermann 2014, 139 f. 191 Zur Funktion der Textsorten Beschreibung, Bericht, Argumentation und Evaluation im Kontext der Textanalyse vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 112 ff.
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viewverlauf werden meines Erachtens nach zu wenig thematisiert.192 Dabei ist dieses ›Problem‹ vielen Interviewer_innen nur zu vertraut: »Nicht immer gelingt es, eine Narration hervorzulocken. Zuweilen nutzt der Interviewte andere Darstellungsverfahren, z.B. Beschreibungen der Argumentationen, um seine Erfahrungen auszudrücken – mit einem Wort: er verwendet alles andere, nur keine Erzählungen. [...]« »So wundert es nicht, daß normativ organisierte Bilderbuch-Erzählungen relativ selten sind und gerade bei längeren Erzählungen, wie sie in narrativen Interviews vorkommen, Mischformen dominieren. Solche Interviewtexte sind gemixte Texte, sie enthalten Merkmale anderer Darstellungsverfahren, etwa der Beschreibung, der Argumentation etc.«193
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, »über die Erzählung hinaus die anderen Textsorten, die in narrativen Interviews vorkommen, zu berücksichtigen und sie zu diskutieren bezüglich der Aspekte subjektiver Wirklichkeit, die sich in ihnen ausdrücken«194. Werden diese Textsorten als differenzierte und zu differenzierende verbale Darstellungsformen verstanden und interpretiert, lassen sich aus ihnen durchaus wesentliche Rückschlüsse auf die subjektive Wirklichkeit der Gesprächspartner_innen ziehen.195 Die Bedeutung der Textsorte Argumentation liegt zum einen in der hier möglichen Manifestation von Selbst- und Fremdpositionierungen des Erzählers/der Erzählerin. Zum andern werden in einer solchen Textsequenz komplexe Deutungsmuster entfaltet, werden Relevanz, Bedeutung und Moral bestimmter Erzählpassagen begründet.196 Vor allem zur Rekonstruktion von Deutungsmustern, die »nicht unbedingt an bestimmte sprachliche Darstellungsformen gebunden«197 sind, bieten Argumentationen einen »privilegierten« Zugang:198
192 Vgl. z.B. Günter Mey, Erzählungen in qualitativen Interviews. Konzepte, Probleme, soziale Konstruktion. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung (2000), 135-151. Er spricht gar von einer »Verabsolutierung der Textsorte Erzählung« ebda. 147. 193 Wiedemann 1986, 88; 96. 194 Wiedemann 1986, 88. 195 Vgl. z.B. Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 110; Wiedemann 1986, 96; 101 ff. 196 Vgl. z.B. Wiedeman 1986, 108 ff. 197 Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 130. 198 Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 145 ff. Zur Evaluation vgl. Wiedemann 1986, 95 f.
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»Die realisierten Komponenten einer Argumentation sind gewissermaßen die Spitze des Eisbergs, von der aus komplexe Gefüge von Annahmen, Meinungen und Erwartungen, die für die Erfahrungsdeutung des Erzählers maßgeblich sind, rekonstruiert werden können.«199
Beschreibungen (Deskriptionen) wiederum zeugen von der Relevanz, welche bestimmten Aspekten beigemessen, oder eben nicht beigemessen wird. Anhand von Wahl und Art der Beschreibungen können »sehr unterschiedliche, weit über die Beschreibung hinausgehende Schlussfolgerungen, Bewertungen, Erklärungen etc. nahegelegt werden«200. Ein sprachlich-kommunikatives Element von Deskriptionen, welches sich für die hier analysierten Erzähltexte als besonders bedeutsam erwiesen hat, stellt beispielsweise die Kategorisierung dar.201 (Siehe dazu z.B. Kap. 4.5) Trotz der beschrieben ›Hürden‹, können nahezu alle für diese Studie geführten Interviews als gelungen202 betrachtet werden. Nur ein einziges Interview war gar nicht verwertbar, da der betreffende Gesprächspartner aus Dänemark weder Deutsch noch Englisch spricht. Das stellte sich allerdings erst beim Interviewtermin heraus. Die Kontaktaufnahme und Kommunikation war zuvor per Mail erfolgt; doch wusste ich nicht, dass diese Mails die Ehefrau in seinem Namen verfasst hatte. Aus Höflichkeit und Respekt führte ich dennoch ein kurzes Interview durch, während die Ehefrau übersetzte. Auch wenn dieses Gespräch durchaus spannend war, konnte es dennoch nicht in das Sample aufgenommen werden. Im Hinblick auf die Analyse und Auswertung der Interviewtexte gilt es, der meiner Ansicht nach wesentlichen Tatsache Rechnung zu tragen, dass derartige Interviews ebenfalls soziales Handeln sind, sich also mit Max Weber auf die erwartbare Gesprächsbeteiligung des Gesprächspartners beziehen und aus den Erwartungen an den Gesprächspartner wünschenswerte Reaktionen oder befürchtete Reaktionen antizipieren. Ich schließe mich der Forderung Arnulf Deppermanns an, »Interviews im Rahmen der qualitativen Sozialforschung stärker als dies bisher getan wird als interaktiv konstruiertes, soziales Handeln zu verstehen und entsprechend zu analysieren«203. Im Hinblick darauf muss ich meine eigene Rolle als Forscherin und Interviewerin kritisch reflektieren. Allen Gesprächspartner_innen war beispielsweise bewusst, dass ich ›Österreicherin‹ bin.204 Trotz positiver Reaktionen auf mein Interesse an ih199 Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 254. 200 Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 214. 201 Vgl. dazu Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 214 ff. 202 Zu ›gelungenen‹ und ›misslungenen‹ Interviews vgl. Küsters 2009, 66 ff. 203 Deppermann 2014, 134. 204 Zu »interkulturellen« Interviews, bzw. Interviews mit Migrant_innen vgl. auch Küsters 2009, 188 f.; Wassilios Baros, Innovative methodische Zugänge für qualitative For-
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ren Erfahrungen der Migration wurde ich dennoch von den interviewten Migrant_innen als Teil der Aufnahmegesellschaft wahrgenommen. In einigen Fällen schien aus dieser Wahrnehmung beispielsweise eine gewisse Hemmung zu resultieren, über Österreich kritisch zu sprechen. Zugleich war den Interviewten bewusst, dass sie für mich in ihrer Rolle als Migrant_in und ›Spanier_in‹, ›Dän_in‹ usw. von Interesse waren. Zu dem Problem derart »sozialwissenschaftlich präformierter Daten« bemerkt Deppermann: »Interviewte werden für die Forschung rekrutiert in ihrer Eigenschaft, Mitglied bestimmter sozialer Kategorien zu sein, die im Sinne der Untersuchungsfrage interessieren. Damit werden sie von vorne herein in Bezug auf eine Identität angesprochen, die bestimmte Relevanzen und Erwartungen setzt.«205
Da dies nicht veränderbar war, wählte ich im Zuge der Nachfragen bewusst ›provokante‹ Formulierungen, wie beispielsweise die Frage, »Welche Rolle spielt die Tatsache, dass Sie Spanierin sind, in Ihrem Alltag?«. Auf diese Weise konnte eine ohnehin unvermeidbare Rollenzuschreibung respektive der unvermeidbare Prozess der Selbst- und Fremdpositionierung expliziter gemacht und die verbale Reaktion auf eine solche Formulierung in die Interpretation der Erzähltexte mit einbezogen werden.206 In der vorliegenden Arbeit muss außerdem dem Thema Muttersprache/Fremdsprache Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Alle Interviews wurden auf Deutsch geführt, da keiner/keine der interviewten Migrant_innen mein Angebot annahm, das Gespräch auf Englisch zu führen. Die Tatsache, dass die Erzählungen zum Teil nicht in der Muttersprache der Interviewpartner_innen erfolgten, muss im Zuge der inhaltlichen Analyse mitbedacht werden. Entwickelte Deutungen müssen stets auch daraufhin geprüft werden, ob der sprachliche Faktor hierbei eine Rolle spielen könnte. 1.2.5 Zum Aufbau der Arbeit Bedingt durch die unterschiedlichen narrativen Kompetenzen meiner Gesprächspartner_innen (s.o.), vor allem aber durch den Anspruch, im Sinne eines Theoretischen Samplings zu verfahren, habe ich letztlich insgesamt 29 Interviews geführt
schung im interkulturellen Kontext. In: Jörg Hagedorn/Verena Schurt/Corinna Steber/ Wiebke Waburg, Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. (Wiesbaden 2010), 375-402. 205 Deppermann 2014, 135; 135 f. 206 Vgl. dazu auch Deppermann 2014, 142 ff.
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und mich dazu entschieden, all meine Gesprächspartner_innen auch in der Darstellung der Ergebnisse zu Wort kommen zu lassen. Ich habe mich also nicht, wie es in derartigen Studien häufig praktiziert wird, auf die Darstellung einiger weniger Fälle beschränkt. Der Aufbau dieser Arbeit folgt somit der folgenden Struktur: Die Ergebnisse werden thematisch geordnet diskutiert, wobei die Anordnung der Kapitel vornehmlich dem Verständnis des Lesers/der Leserin dienen soll und nicht notwendigerweise eine Abfolge im Forschungsprozess widerspiegelt. Zunächst werde ich einige grundlegende Überlegungen zur europäischen Binnenmigration im Untersuchungszeitraum anstellen, meine Interviewpartner_innen vorstellen sowie erste empirische Ergebnisse dazu erörtern. In den folgenden Kapiteln – »Doing Culture« (Kap. 3), Aspekte transnationaler und transkultureller Alltagswelten (Kap. 4), Integration (Kap. 5), Transnationalität (Kap. 6) und Identität (Kap. 7) – werden die behandelten Themen bzw. Konzepte zunächst aus einer theoretischen Perspektive diskutiert, und zwar in einer mir der Thematik entsprechenden und für die Analyse der Erzähltexte nötig erscheinenden Ausführlichkeit. Daran anschließend und darauf aufbauenden werden die Themen aus dem Blickwinkel der Erzähltexte betrachtet und die empirischen Ergebnisse diskutiert. Den abschließenden Teil der Arbeit stellt schließlich eine zusammenfassende Reflexion des Forschungsprojekts dar.
2
Migration innerhalb Europas
2.1 MIGRATIONSRAUM EUROPA Als innereuropäische Migrant_innen bewegen sich jene Personen, denen das Forschungsinteresse dieser Studie gilt, im ›Migrationsraum Europa‹. Von den meisten Autor_innen rezenter Forschungsarbeiten wird dieses Konzept mit der Institution der Europäischen Union (EU) gleichgesetzt. Auch der Begriff ›Europa‹ wird häufig synonym für die EU verwendet.1 Als entscheidender Wendepunkt bzw. als Beginn der Etablierung dieses Migrationsraums wird die Inkraftsetzung der Verträge von Maastricht 1993 beschrieben.2 Dem Soziologen Roland Verwiebe zufolge, stellt die EU »einen eigenen gesellschaftlichen Wanderungsraum dar, der durch spezifische institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen geprägt ist und der durch die Ausbildung neuer transnationaler sozialer Räume sowie die Überlagerung bestehender sozialer Strukturen charakterisiert werden kann«3.
1
Vgl. z.B. Verwiebe 2006a, 302; Jan Delhey, European social integration. From convergence of countries to transnational relations between people. WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) Discussion Papers I (2004), 3. Online unter: https://Econ Papers.repec.org/RePEc:zbw:wzbisi:spi2004201 (20.11.2018).
2
Vgl. z.B. Steffen Mau/Roland Verwiebe/Till Kathmann/Nana Seidel, Die Arbeitsmigration von Deutschen in Europa – Erste Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung. Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. (Frankfurt am Main 2008), 4471 ff.; Thomas Faist/Andreas Ette, The Europeanization of National Policies and Politics of Immigration. Research Questions and Concepts. In: Thomas Faist/Andreas Ette (Hrsg.), The Europeanization of National Policies and Politics of Immigration. Between Autonomy and the European Union. (London 2007), 3-31.
3
Verwiebe 2006b, 156.
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Wenngleich diese Definition auch für meine Untersuchung von Interesse ist, kann der für die vorliegende Studie relevante europäische Migrationsraum nicht mit der Institution der EU gleichgesetzt werden: Der für diese Studie gewählte Untersuchungszeitraum umfasst schließlich auch innereuropäische Wanderungen zu einem früheren Zeitpunkt der ›Europäischen Integration‹, d.h. der politisch-rechtlichen aber auch sozialen Vernetzung einzelner Nationalstaaten durch eine supranationale Institution. Daher kann der Migrationsraum Europa hier, auch hinsichtlich der zeitlichen Begrenzung, nicht als an das Projekt EU gebunden verstanden werden.4 Vielmehr sind Transformations- und Entwicklungsprozesse seit den 1960er Jahren von Bedeutung.5 Das hier ebenfalls untersuchte Norwegen wiederum ist auch heute kein EUMitglied, dort wurde ein Beitritt zur Europäischen Union von der Bevölkerung mehrmals abgelehnt. (Als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraumes [EWR]6 und durch die Teilnahme am Schengenraum ist dieser Staat allerdings dennoch stark mit der EU verbunden. [S.u.]) Darüber hinaus wurde die Herangehensweise, einen Untersuchungsraum zu definieren, der sich über die politisch-rechtlichen Grenzen der EU hinaus erstreckt, bewusst gewählt, da auch das Forschungsinteresse nicht an rechtlich-politische Grenzen und Strukturen gebunden ist (wenngleich diese als Rahmenbedingungen natürlich von Bedeutung sind). Generell kann Europa seit den 1990er Jahren, also seit der Gründung der EU und des EWR, aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden; als »politisches Regime«, als »Schirm-Organisation für ein Amalgam unterschiedlicher Projekte« oder als »sozialer Raum«.7 Im Kontext des Forschungsinteresses der vorliegenden Studie ist es während des gesamten Untersuchungszeitraums vor allem wesentlich, den europäischen Migrationsraum nicht allein als einen politischen und strukturellen, sondern eben auch als einen sozialen Raum zu betrachten. Innereuropäische Mobilität kann so in Anlehnung an Verwiebe auch »als Bewegung von einem nationalen sozialen Raum ›in‹ einen transnationalen sozialen Raum interpretiert werden«8. (Siehe auch Kap. 6) Eine detaillierte Darstellung der europäischen Transformations- und Entwicklungsprozesse sowie der unterschiedlichen sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse der hier untersuchten Herkunftsländer im Verlauf des Untersuchungs4
Zur politisch-rechtlichen Geschichte der Europäischen Integration vgl. z.B. Emiliana Baldoni, The Free Movement of Persons in the European Union. A Legal-historical Overview. PIONEUR Working Paper 2 (2003).
5
Vgl. z.B. Bach 2000, 11-39.
6
Das diesbezügliche Abkommen wurde 1992 geschlossen.
7
Delhey 2004 (Anm. 1), 5 ff.
8
Verwiebe 2008, 185.
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zeitraums würden den Rahmen dieser Arbeit deutlich sprengen. Soziale, politische und ökonomische Rahmenbedingungen, die für Verständnis und Analyse der Erzählungen relevant sind, werden im Kontext der Interpretation und Darstellung der jeweiligen Erzählpassagen ausführlich diskutiert. Im Hinblick auf innereuropäische Migrationssysteme im Verlauf des Untersuchungszeitraums soll die folgende Zusammenfassung einen groben Überblick über wesentliche ›Eckdaten‹ geben: Bereits seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, »Montanunion«) 1951 kann von Europa als einem ›Migrationsregime‹ gesprochen werden, da auch diese Institution qualifizierten Arbeitnehmer_innen Zugang zur Beschäftigung in anderen Mitgliedstaaten gewährte.9 Während der 1960er und frühen 1970er Jahre dominierten fordistische Migrationssysteme die innereuropäische Migration.10 Prägend für die europäische Binnenmigration, aber auch für die österreichische Migrationsgeschichte11, waren in diesem Zeitraum die sogenannten Gastarbeiter; niedrig qualifizierte, temporäre Arbeitsmigranten (es waren überwiegend Männer), die von Süden nach Norden wanderten. Bis in die frühen 1970er Jahre waren diese Migranten in Zentral- und Westeuropa gesuchte und willkommene Arbeitskräfte, deren Anwerbung durch Kooperationen von Ziel- und Herkunftsländern (Gastarbeiterabkommen) auch politisch gesteuert und forciert wurde. Obwohl am 2. Mai 1962 das erste Gastarbeiterabkommen Österreichs mit Spanien geschlossen (und 1963 bis 1969 neu verhandelt) wurde, ist das Phänomen der Gastarbeiter für die vorliegende Studie nicht von Bedeutung. Zum einen blieb dieses Abkommen mit Spanien weitgehend folgenlos,12 die Mehrheit der Gastarbeiter
9
Für diesen Hinweis danke ich Christoph Reinprecht. Vgl. z.B. auch: Frederick Haußmann, Der Schuman-Plan im europäischen Zwielicht. Ein Beitrag zu den Grundproblemen und zur Weiterentwicklung des Schuman-Planes. (München 1952); Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen. (Köln/Wien 2010); HansJoachim Seeler, Geschichte und Politik der Europäischen Integration. (Baden-Baden 2008), 33 ff.
10 King 2002, 94 ff. 11 Zu Österreich als Einwanderungsland vgl. z.B. Weigl 2009, 14 ff. 12 Insgesamt wanderten von 1960 bis 1975 ca. zwei Millionen Spanier_innen in andere europäische Staaten aus. Österreich war jedoch, wegen seines niedrigen Lohnniveaus, gegenüber anderen westeuropäischen Anwerbestaaten nicht konkurrenzfähig. Vgl. dazu z.B. August Gächter, Migrationspolitik in Österreich seit 1945. Zentrum für soziale Innovation. Arbeitspapiere Migration und soziale Mobilität 12 (Wien 2008); Fernández Asperilla, La emigración como exportacion de mano de obra. El fenomeno migratorio a Europa durante el franquismo. In: Historia Social 30 (1998), 63-81; www.focus-mig ration.hwwi.de/Spanien-Update-08-2.5420.0.html (21.10.2018).
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in Österreich kam aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien. 13 Im Jahr 1973 waren beispielsweise in Österreich gerade einmal 291 Arbeitsmigrant_innen aus Spanien beschäftig, im Gegensatz zu insgesamt 178.134 Jugoslaw_innen und 26.692 Türk_innen.14 Zum anderen kam keiner/keine der hier interviewten Migran t_innen als Gastarbeiter nach Österreich und diese Thematik wird daher auch in keiner der Erzählungen angesprochen. Die sogenannte Ölkrise des Jahres 1973 und die darauffolgende wirtschaftliche Rezession setzten dem Bedarf an ausländischen Arbeitskräften schließlich ein Ende. Für die ehemaligen Anwerberstaaten stand nun der ›Schutz‹ der inländischen Arbeitskräfte im Vordergrund. Der politisch gesteuerte Versuch, Gastarbeiter zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen, war jedoch nur bedingt erfolgreich. Vor allem in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren etablierten sich ehemalige Gastarbeiter immer häufiger dauerhaft in den Aufnahmeländern, was außerdem zu vermehrten Familiennachzügen führte. Ab den 1980er Jahren begannen sich neue Migrationsmuster zu entwickeln, es kam zu einer Veränderung von Migrant_innentypen, zu einer Diversifizierung von Migrationsprozessen, aber auch von individuellen Migrationsverläufen.15 Wesentliche Wendepunkte im Kontext einer zunehmenden Europäischen Integration waren hierbei der Fall der Berliner Mauer 198916, der auch für die hier untersuchten Migrant_innen aus Deutschland von Bedeutung ist, sowie der Beitritt Österreichs zur EU 1995, im Zuge dessen sich die Wanderungsbewegungen nach Österreich maßgeblich veränderten.17 So hat sich seit den 1990er Jahren die Zahl der EU-Migrant_innen in Österreich verdreifacht, was einen der höchsten Anstiege unter allen Mitgliedsstaaten darstellt.18
13 Vgl. z.B. Bernhard Perching, Ein langsamer Weg nach Europa. Österreichische (Arbeits) migrations- und Integrationspolitik seit 1945. In: Leibnitz Institut für Sozialwissenschaften/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Migration und ethnische Minderheiten. (Mannheim 2010), 11-32; bes. 14 ff.; Hakan Gürses/Cornelia Kogoj/Sylvia Mattl, Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration. Ausstellungskatalog Wien Museum. (Wien 2004); Weigl 2009, 35 ff. 14 Heinz Faßmann/Rainer Münz, Einwanderungsland Österreich? Gastarbeiter, Flüchtlinge, Immigranten. (Wien 1992). Zu einer anschaulichen zeithistorischen Quelle vgl. z.B. Sand im Getriebe. In: Der Spiegel 14 (1967), 109-110. Online unter: www.spiegel.de/spiegel/ print/d-46450738.html (21.10.2018). 15 Vgl. z.B. Verwiebe 2006a, 302; Bade 2002a, 28 ff. 16 Vgl. dazu King 2002, 95; Bade 2002a, 16 ff. 17 Stephan Marik-Lebeck, Einwanderungsland Österreich. Strukturen und Trends. In: Standort – Zeitschrift für Angewandte Geographie 33 (2009), 63-70; 63 f.; 67 ff. 18 Recchi 2005, 11.
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Die neuen ›spätmodernen‹ Migrationsmuster seit den 1980er Jahren sind aber auch in engem Zusammenhang mit ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierungsprozessen sowie einer zunehmenden Individualisierung19 zu sehen und zu erklären. Es sind nunmehr nicht allein hochqualifizierte ›Eliten‹ und minder qualifizierte Arbeitsmigrant_innen, die an innereuropäischen Wanderungen partizipieren.20 Steffen Mau beispielsweise beschreibt das »Mobilitätskapital« einzelner Individuen »im Sinne von inkorporierten Fähigkeiten und Wissensbeständen, die zu einem bestimmten Mobilitätsverhalten befähigen«21, als eines der Kennzeichen der spätmodernen Gesellschaft. »Spätmoderne Mobilität« definiert er als »die Bereitschaft zur Veränderung im geographischen und/oder sozialen Raum und als die Fähigkeit eines Akteurs, die Richtung der eigenen Bewegung zu beeinflussen«.22 Dass spätmoderne Migrant_innen vermehrt über ein so definiertes Mobilitätskapital verfügen, belegen auch die vorliegenden Erzählungen. Ergänzend zur makrosozialen Perspektive Maus’ zeigen die Ergebnisse dieser Studie aber ebenso, dass eine derart definierte Form von Mobilität durchaus auch unter Bedingungen, die der Spätmoderne vorausgehen, zu finden sind. Allerdings tritt er zu dieser Zeit vermutlich, dazu kann diese Studie keine Aussage treffen, in quantitativ geringerem Ausmaß auf. Im Zuge der Wirtschaftskrise ab 2007 und der darauf folgenden Rezession, die zu hohen Arbeitslosenquoten, vor allem in Spanien23, Griechenland und Portugal führte, änderten sich die Migrationsmuster innerhalb Europas erneut.24 Die Emigration von oft auch hochqualifizierten Personen aus diesen Ländern stieg aufgrund dessen bedeutend an. Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen der in dieser Studie untersuchten Migrationsform scheint, diese Einführung abschließend, auch ein Blick auf quantitative Daten zu den hier untersuchten Migrant_innen von Interesse zu sein. Allerdings erwies es sich als schwierig, statistische Daten zur Zuwanderung aus den einzelnen hier untersuchten Ländern zu finden. Vor dem Jahr 2002 wurden Länder wie Spani19 Esser 1980, 175 f. Zu Individualisierung und Migration vgl. auch Scheibelhofer 2001, 59 ff.; 183 ff. 20 Vgl. z.B. Mau 2007, 126 f.; Verwiebe 2006a, 320 ff. 21 Mau 2007, 123. 22 Mau 2007, 123. 23 Im Jahr 2013 erreichte die Arbeiteslosigkeit in Spanien mit 26,1 % ihren Höhepunkt. Mittlerweile, Ende 2018, liegt sie bei 15,5 %. wko.at/statistik/eu/europa-arbeitslosenquo ten.pdf (8.10.2018). 24 Vgl. z.B. Christiane Kuptsch, Die Wirtschaftskrise und Arbeitsmigrationspolitik in Europa. In: Comparative Population Studies/Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 37/1-2 (2012), 33-54. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bib-cpos-2011-17de5.
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en, Deutschland oder die skandinavischen Länder in den Daten der Statistik Austria lediglich zusammenfassend als »EU-Migration« klassifiziert. Aber auch wenn, vor allem für Spanien und Skandinavien, keine durchgängige, den gesamten Untersuchungszeitraum umfassende statistische Datenreihe vorliegt, erfüllen die im Folgenden angeführten Zahlen doch ihren Zweck und vermitteln einen Eindruck der quantitativen Bedeutung der Migration aus diesen Ländern nach Österreich. Quantitativ waren Einwander_innen aus Deutschland seit der Nachkriegszeit ein wesentlicher Faktor für Österreich.25 Vor allem in den frühen 1990er Jahren migrierten viele deutsche Staatsbürger_innen aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich. Bedingt durch die auf den kurzen Boom nach der Wiedervereinigung folgende lange Periode der wirtschaftlichen Stagnation und hohen Arbeitslosigkeit, wanderten viele Bewohner der ehemaligen DDR nach Süddeutschland und Österreich aus.26 Seit der Jahrtausendwende stellen Zuwander_innen aus Deutschland erneut die größte Gruppe an Einwander_innen in Österreich dar. Ein wesentlicher Faktor hierbei ist die Migration von Studierenden, aber auch Saisonarbeit, da viele Deutsche im Tourismus in den Bundesländern tätig sind. (Vor allem in Tirol arbeiten viele Deutsche in dieser Branche.) Die wichtigsten europäischen Zielländer deutscher Auswander_innen seit der Jahrtausendwende sind die Schweiz, Österreich, Großbritannien und Spanien. Während Spanien vor allem ein beliebtes Ziel von Rentenmigrant_innen darstellt, ist die Migration in die übrigen der genannten Länder zumeist durch Berufs- und Karrieregründe bedingt.27
25 Etwa eine Million Flüchtlinge aus Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend in Österreich aufgenommen. Etwa 530.000 von ihnen blieben im Land und 350.000 erhielten bis 1961 die österreichische Staatsbürgerschaft. Vgl. dazu Rainer Bauböck/Bernhard Perchinig, Migrations- und Integrationspolitik in Österreich. (Wien 2003). Online unter: www.okay-line.at/file/656/osterr_migr_integr_politik.pdf (22.11.2018); IOM (Internationale Organisation für Migration), 50 Jahre Migration in Österreich. (Wien 2001), 3 f. 26 Vgl. dazu Rainer Münz, Die neuen Gastarbeiter. In: ÖIF (Österreichischer Integrationsfond) (Hrsg.), Die Deutschen kommen! Integration im Fokus. Integration, Flüchtlinge und Migration in Österreich – News, Fakten und Hintergründe 4 (2008), 7. 27 Vgl. dazu z.B. Verwiebe/Mau/Seidel/Kathmann 2010, 278; Nana Seidel/Steffen Mau/ Roland Verwiebe, Die Wanderung von Deutschen mit mittleren Qualifikationen in Europa. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Migration? In: Hamburg Review of Social Science 4/3 (2009), 171-192; 172 f. https://nbn-resolving.org/urn: nbn:de:0168-ssoar-270393.
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Für Migrant_innen aus skandinavischen Ländern konnte ich zwar für die Zeit vor 2002 nur wenige statistische Daten finden, quantitativ stellen diese Einwander_innen aber auch damals eine sehr geringe Größe dar. Zahlen zu dem Zeitraum vor 2002 konnte ich lediglich für finnische Migrant_innen in Österreich entdecken: 1971 lebten 305 finnische Staatsbürger_innen in Österreich, 1991 waren es 521 und 2001 waren es 1.025.28 Im Vergleich dazu lebten 1994 in Österreich 866 Schwed_innen.29 Dän_innen und Schwed_innen machen zudem auch insgesamt die kleinsten Gruppen unter den innereuropäischen Migrant_innen aus.30 Spanische Migrant_innen stellten in Österreich ebenfalls nie einen quantitativ bedeutenden Faktor dar. Wie bereits beschrieben, führte sogar das Gastarbeiterabkommen mit Spanien von 1962 zu keinem bedeutenden Anstieg der Migrationszahlen.31 Erst im Zuge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise seit 2008 stieg die Zahl der aus Spanien Zugewanderten in Österreich deutlich an. In der Stadt Wien lebten beispielsweise 2009 1.837 Spanier, im Jahr 2011 waren es bereits 2.159.32 Während vor allem aber Deutschland zum beliebten Zielland dieser Migrant_innen wurde, blieb der Anstieg der Migrationszahlen in Österreich jedoch vergleichsweise gering. Das Plus von 50% Zuwander_innen aus Spanien in Vorarlberg klingt beispielsweise spektakulär, bedeutet in absoluten Zahlen aber lediglich die Einwanderung von 133 Spanier_innen mehr.33
28 www.migrationinstitute.fi/stat/Finnish_citizens_in_Europe_1971-2010.pdf
(9.10.2015).
Für Finn_innen ist immer noch Schweden das traditionelle Auswanderungsziel Nummer Eins. Vgl. Saara Koikkalainen, Europe is my oyster. Experiences of Finns working abroad. In: Finnish Journal of Ethnicity and Migration 4/2 (2009), 27-39. 29 Elisabeth Lichtenberger, Schmelztiegel Wien. Das Problem der ›neuen Zuwanderung‹ von Ausländern. In: Geographische Rundschau 47/1 (1995), 10-17; 10. 30 Recchi 2003, 14 f. 31 www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/data/tabellen_einwanderungsland.pdf (23. 10.2018). 32 Stadt Wien/Magistratsabteilung 17 Migration und Diversität (Hrsg.), Integrations- und Diversitätsmonitor der Stadt Wien 2009-2011. (Wien 2012), 169. Online unter: www. wien.gv.at/menschen/integration/pdfmonitor-2012.pdf (22.10.2018). 33 Simon Rosner, Krisengewinnler Österreich. In: Wiener Zeitung (19.02.2014). Online unter: www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/609698_Krisengewinnler-Oest erreich.html (22.10.2015).
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2.1.1 EU-Bürger_innen Als EU-Bürger_innen34, bzw. Bürger_innen des EWR-Mitgliedsstaates Norwegen, gelten für die hier interviewten Migrant_innen während eines erheblichen Teils des Untersuchungszeitraums spezifische rechtlich-strukturelle Rahmenbedingungen, die Migration und (strukturelle) Integration wesentlich erleichtern. Die Institution der EU-Bürgerschaft kann folgendermaßen treffend beschrieben werden: »The citizenship of the European Union, which integrates the national citizenship without replacing it, is characterised by a set of rights and duties aiming to strengthen the link between the citizen and Europe, and to develop a political European identity.«35
Einer der hierbei wesentlichsten Aspekte ist die sogenannte Personenfreizügigkeit36, das heißt, die Möglichkeit und das Recht, in jedem EU-Land ohne Aufenthaltsgenehmigung leben und ohne Arbeitsgenehmigung arbeiten zu können.37 Dadurch soll eine ungehinderte Mobilität in einem »völlig offenen Migrationsregime«38 gewähr-
34 Im Vertrag von Maastricht, der 1992 unterzeichnet wurde und 1993 in Kraft trat, wurde auch die Institution der Unionsbürgerschaft geschaffen. Vgl. z.B. Recchi 2005, 6 ff.; Thomas Faist, Soziale Bürgerschaft in der Europäischen Union. Verschachtelte Mitgliedschaft. In: Maurizio Bach (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 40 (Wiesbaden 2000), 229-251; Theresa Wobbe, Die Koexistenz nationaler und spuranationaler Bürgerschaft. Neue Formen politischer Inkorporation. In: Ebda., 251-277. 35 Baldoni 2003, 9. 36 Weitere Rechte sind: Wahlrecht im EU-Parlament und bei Kommunalwahlen sowie das Recht, dort als Kandidat_in anzutreten; das Recht Petitionen an das EU-Parlament einzureichen; Recht auf Schutz durch diplomatische Vertretungen durch ein anderes Mitgliedsland in einem Nicht-EU Land, wenn das Land der eigenen Staatsbürgerschaft dort nicht vertreten ist. Vgl. dazu Recchi 2005, 6 ff. 37 Nicht EU- aber EWR-Mitglieder sind außerdem die Schweiz und Lichtenstein. Für Bürger_innen dieser Staaten gilt, wie auch für EU-Bürger_innen, das Recht auf Personenund Arbeitnehmerfreizügigkeit. Allerdings müssen sie innerhalb von drei Monaten nach ihrer Niederlassung eine Anmeldebescheinigung beantragen. Für sie ist die Erlangung einer »Bescheinigung des Daueraufenthalts« nicht so einfach und unbürokratisch wie für EU-Bürger_innen, aber wesentlich einfach als für »Drittstaatenangehörige«. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Unternehmensserviceportal. Online unter: www.usp.gv.at/Portal.Node/usp/public/content/mitarbeiter/auslaendische_besc haeftigte/buerger_aus_eu_ewr_staaten/Seite.930100.html (22.10.2018). 38 Braun/Recchi 2008, 161 ff.
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leistet werden. Die Juristin Elspeth Guild bringt dies treffend auf den Punkt, indem sie feststellt, das Recht auf ungehinderte Mobilität »boils down to the right not to encounter the administrative authorities of member states.«39 EU-Bürger_innen genießen außerdem, abgesehen vom Wahlrecht bei nationalen Wahlen, die gleichen Rechte wie Staatsbürger_innen des jeweiligen Aufnahmelandes (Nichtdiskriminierungsgebot)40, haben freien Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem dieses Landes, und ihre Bildungsabschlüsse sollten in jedem EU-Land anerkannt werden.41 Zwar stellt die Förderung der innereuropäischen Mobilität ein wesentliches und klar als ein solches deklariertes Ziel der EU dar,42 bislang blieben die erhofften Erfolge dieser Bemühungen jedoch offenbar aus. Innereuropäische Wanderungen stellen nach wie vor ein »quantitativ marginales Phänomen« dar.43 Mögliche Gründe hierfür werden kontrovers diskutiert.44 Sowohl aus rechtlicher Perspektive als auch auf Basis sozialwissenschaftlicher Studien werden drei grobe, strukturelle Hindernisse für innereuropäische Migrant_innen beschrieben: die heterogenen Sozialsysteme der einzelnen Mitgliedsstaaten, die verschiedene Besteuerung und die durch jeweilige nationale Regelung häufig erschwerte Anerkennung von beruflichen Qualifikationen bzw. Bildungsabschlüssen.45 Außerdem stellen, wie auch die vorliegende Untersuchung belegt, innerhalb des Migrationsraums Europa sprachliche und ›kulturelle‹ Unterschiede mitunter eine wesentliche Herausforderung bzw. Hürde für innereuropäische Migrant_innen
39 Elspeth Guild, Preface. In: Jean Yves Carlier/Elspeth Guild (Hrsg.), The Future of Free Movement of Persons in the EU. (Brüssel 2006), 15. Zitiert nach Recchi 2008, 205. 40 D.h. rechtliche Gleichstellung aller EU-Bürger_innen, auch am Arbeitsmarkt. (Gestaltung der Arbeitsverträge, Kündigungsschutz usw.). Vgl. dazu auch Mau 2007, 127 f.; Recchi 2005, 1 f. 41 Vgl. z.B. Verwiebe/Mau/Seidel/Kathmann 2010, 276 f.; Recchi 2008, 206 f. 42 European Commission, Commission’s Action Plan for skills and mobility. (Brüssel 2002). Online unter: www.europa.eu/rapid/press-release_DOC-02-2_en.htm (9.10.2018). 43 Thomas Straubhaar, Internationale Migration. Gehen oder bleiben. Wieso gehen wenige und bleiben die meisten? HWWA (Hamburg Institute of International Economics) Discussion Paper 111 (Hamburg 2002), 11. Online unter: https://EconPapers.repec.org/Re PEc:zbw:hwwadp:26289 (8.10.2018). Vgl. auch Recchi 2005, 17 f.; Büttner/Mau 2010, 289 ff. 44 Straubhaar 2002 (Anm. 43); Tanja El-Cherkeh/Max Steinhardt/Thomas Straubhaar, Did the European free movement of persons and residence directive change migration pattern within the EU? A first glance. In: CESifo (Center for Euroean Studies) DICE Report 4 (2006), 14-21. 45 Baldoni 2003, 13 ff.; Verwiebe/Mau/Seidel/Kathmann 2010, 276 f.
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dar.46 Das folgende Zitat aus der Rede eines Gesandten der Britischen Botschaft in Deutschland illustriert diese möglichen Differenzen und Hindernisse recht eindrucksvoll: »In Deutschland bedeutet Freiheit das Recht, auf der Autobahn zu rasen. Im Grunde verblüfft es mich, dass die Raserei nicht als Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Manche Deutsche scheinen, sobald sie im Auto sitzen, alle Maßstäbe der Zivilisation zu verlieren, die Deutschland sonst so liebenswert machen. Wir in England sehen es als unveräußerliches Grundrecht an, die Straße zu überqueren, wann wir wollen und wo wir wollen. Dies braucht man nur in Zusammengang zu bringen mit der deutschen Rechtsauffassung und der Neigung, so schnell wie möglich zu fahren, und sofort sieht man, welche Probleme die europäische Integration mit sich bringen kann.«47
2.1.2 Europäer_innen Mit der EU (und der EWR) wurde jedoch nicht nur ein »neuer, die Mitgliedsstaaten überwölbender Herrschaftsraum«, also eine rechtlich-politische Institution, geschaffen, sondern auch ein neuer »Mitgliedsraum«.48 Auch wenn das quantitative Ausmaß der innereuropäischen Migration verhältnismäßig gering blieb, führte die Etablierung dieser supranationalen Institutionen doch zu einer »Zunahme grenzüberschreitender Interaktion und Austauschbeziehungen innerhalb Europas«.49 Die Frage nach Bedeutungen, Möglichkeiten und Perspektiven der europäischen Integration auf sozialer und kultureller Ebene wird dennoch sehr kontrovers diskutiert. »Inwiefern wir angesichts der langen Phase nationalstaatlicher Abschottung in Europa heute bereits von der Herausbildung einer europäischen Gesellschaft sprechen können, ist allerdings eine offene Frage«50, wie die Soziologen Sebastian Büttner und Steffen Mau konstatieren.
46 Vgl. z.B. Braun/Recchi 2008, 161 f.; Steffen Mau/Roland Verwiebe/Till Kathmann/Nana Seidel, Die Arbeitsmigration von Deutschen in Europa – Erste Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung. Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006 (Frankfurt am Main 2008), 4471 ff. 47 Bausinger 2009, 11. 48 Bach 2000, 23. 49 Büttner/Mau 2010, 297; Allerdings partizipieren einzelne Akteure sehr unterschiedlich an der »horizontalen Integration Europas«. Das Ausmaß dieser Partizipation wird zumeist als in Korrelation mit sozialem Status stehend gesehen. Vgl. Büttner/Mau 2010, 297 f; Neil Fligstein, Euroclash. The EU, European Identity, and the Future of Europe. (Oxford 2008), 2 ff. 50 Büttner/Mau 2010, 274. Vgl. auch Bach 2000, 11-19.
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Maurizio Bach etwa »deutet den Prozess der Europäischen Integration in erster Linie als Herausbildung eines neuartigen supranationalen Herrschaftsverbands ohne entsprechende soziale Basis – als Herausbildung eines neuen transnationalen Raums politischer Machtausübung ohne Gesellschaft«51. Im Gegensatz dazu sehen andere Autor_innen die europäische Integration als »einen offenen und dynamischen Prozess der horizontalen Europäisierung nationaler Gesellschaften, der zum Abbau nationaler Egoismen und Eigenständigkeiten und möglicherweise sogar zur Entstehung einer neuen kosmopolitischen Gesellschaft führen kann«52. Büttner und Mau beschreiben in diesem Sinne drei Dimensionen einer »subjektiven Europäisierung«: »Die Erweiterung des individuellen Erfahrungs- und Handlungsraums, die Zunahme interkultureller Erfahrung und Fremdheitsfähigkeit und die Entstehung eines europäischen Interdependenzbewusstseins.«53 Als Folge davon wiederum postulieren sie eine Europäisierung auch der alltäglichen Lebenswelten. Die Frage, ob sich daraus eine ›europäische Identität‹ entwickeln kann oder ob es eine solche gar schon seit Jahrhunderten gibt54, wird ebenfalls sehr unterschiedlich beantwortet.55 Diskutiert wird in diesem Kontext immer wieder auch der bewusste, politisch gesteuerte Versuch von Seiten der EU, eine solche Identität zu schaffen bzw. zu etablieren. Der Politikwissenschaftler Thomas Dienz beschreibt so eine ›europäische Identität‹ sehr treffend als »leeres Signifikant, dessen Bedeutungszuschreibung ein zentraler Bestandteil politischer Debatten ist«56.
51 Büttner/Mau 2010, 274. Vgl. Bach 2000, 11-39. 52 Büttner/Mau 2010, 274. 53 Büttner/Mau 2010, 281. 54 Als verbindende Gemeinsamkeiten werden immer wieder das Christentum und das Erbe der Aufklärung diskutiert. Vgl. z.B. Diez 2010; Büttner/Mau 2010, 274 ff. 55 Vgl. z.B. Büttner/Mau 2010, 279 ff; Diez 2010; Nina Rother/Tina M. Nebe, More mobile, more European? Free movement and EU identity. In: Ettore Recchi/Adrian Favell (Hrsg.), Pioneers of European integration. Citizenship and Mobility in the EU. (Cheltenham 2009), 120-155. 56 Diez 2010, 236. Vgl. auch Klaus Eder, Integration durch Kultur? Das Paradox der Suche nach einer europäischen Identität. In: Reinhold Viehoff/Rien T. Segers (Hrsg.), Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. (Frankfurt am Main 1999), 147-180; Peter Burke, Globale Identitäten aus Sicht eines Historikers. Drei Szenarios für die Zukunft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12 (2002), 26-32; Sophie Duchesne, Waiting for a European identity. Reflections on the Process of Identification with Europe. In: Perspectives on European Politics and Society 9/4 (2008), 397-410; Petra Deger/Robert Hettlage (Hrsg.), Die Grenzen Europas. Zur narrativen Konstruktion europäischer Identität. (Wiesbaden 2007).
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2.1.3 Die Bedeutung der EU und des Konzepts ›Europa‹ für die interviewten Migrant_innen Diesen Abschnitt abschließend soll nun den Fragen nachgegangen werden, wie die hier interviewten Migrant_innen die EU, bzw. das Konzept ›Europa‹ im Kontext ihrer Migrationserfahrungen deuten und welche Bedeutung das Konzept ›Europäer_in‹ für sie hat. Zunächst fällt auf, dass Bezugnahmen auf die EU oder auf Europa im Vergleich zu Referenzen auf Nationalstaaten in den Interviewtexten vergleichsweise selten sind, wie sich auch noch im Zusammenhang der Diskussion des Themas Identität zeigen wird. (Siehe Kap. 7) Von einigen Gesprächspartner_innen wird die EU als supranationale politische Institution aufgrund der Vorzüge, die sie ihnen als innereuropäischen Migrant_innen im Hinblick auf Personenfreizügigkeit bietet, thematisiert. »Also wir sind, so wie ich sage, mein Mann und ich, EU Produkte. Oder unsere Kinder sind vor allem EU Produkte«,
bemerkt etwa die aus Spanien stammende Maja. Andere Interviewpartner_innen, wie Erik aus Norwegen und Isabella aus Deutschland, Jahrgang 1981 bzw. 1979, argumentieren sehr ausführlich zugunsten des Projekts EU. Erik bemerkt dazu beispielsweise: »Ich finde ja die EU oder das europäische Projekt eine großartige Idee. Ich möchte noch mehr, möchte noch mehr Europa, so viel wie=s geht. Ich mag das ganze Konzept von Nationen von Haus aus nicht. Das geht gar nicht. Ich find das ist ein ganz gefährliches Konstrukt. Ein imaginäres Konstrukt.«
Beide sind schockiert über die in Österreich sehr häufig in Politik und Medien propagierte anti-europäische Haltung respektive den diesbezüglichen ›populistischen Backslash‹. »Man vergisst das auch, dass wir mit diesem Luxus aufgewachsenen sind. Ich glaub, ich hab grad noch beides kennengelernt, mit Passkontrollen an der Grenze und Visum und so weiter und andere Währungen. Vielleicht direkt die Generation nach mir, also meine kleine Schwester, die kennen das alles nicht mehr. Die verstehen nicht, was für ein Luxus das is, dass wir uns einfach ohne Pass in den Flieger setzten und in Urlaub fliegen. Und dann auch dortbleiben dürfen und arbeiten. Und dass wir bereit sind, das überhaupt in Frage zu stellen oder, oder rückgängig zu machen, dass der Gedanke überhaupt hochkommt, das
Migration innerhalb Europas | 61 is so was von / Ich glaub es is wirklich, die Leute wissen gar nicht, was wir da haben.« (Erik) »Wir sind so vielfältig. Du fährst ja, egal wo du lebst, in Europa nie länger als ne Stunde und du hast ne vollkommen andere Mentalität. Und sei=s, du wohnst in Schottland, musst du nur nach London fahren, hast du was Anderes. Oder du fliegst kurz nach Norwegen oder so was. Und hier genauso. Halbe Stunde und du bist in Bratislava und hast ne komplett neue Mentalität. Und das musst du erst mal alles versuchen irgendwie unter einen Hut zu bekommen.« (Isabella)
Europa, verstanden als geographischer und ›kultureller‹ Raum, wird gelegentlich auch als Referenzrahmen einer ›kulturellen Identität‹ herangezogen. Vor allem jene Gesprächspartner_innen, für die eine kultur-nationale Identität des Herkunftslandes kein wesentliches Deutungsmuster und keinen Referenzrahmen darstellt, beschreiben sich als ›Europäer_innen‹. (Siehe Kap. 7) Dabei fällt auf, dass ausschließlich Migrant_innen, die zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 30 und 40 Jahren alt sind, auf dieses Deutungsmuster zurückgreifen, um sich hinsichtlich ihrer ›kulturellen‹ und kollektiven Identität zu verorten. »Ich sehe mich als Individuum und als, also Europäerin. Ich seh mich jetzt auch nicht als Weltbürger, das kann ich auch nicht sagen. Aber so irgendwie verortet in der europäischen Kultur oder so.« (Katharina) »Ich fühl mich als Europäer. Weltbürger wär natürlich noch cooler, aber das stimmt nicht, ich bin sehr europäisch. Das muss man sich gestehen, irgendwo.« (Erik)
Damit scheint sich auch eine Feststellung Gerard Delantys zu bestätigen, der postuliert: »European identity is thus more defined in terms of culture than on citizenship.«57 Das Konzept Europa als ›Kulturraum‹ wird außerdem herangezogen, um ›kulturelle Unterscheide‹ zwischen Aufnahme- und Herkunftsland in Relation zu setzen. Auch wenn derartige ›(national-)kulturelle Unterschiede‹ immer wieder diskutiert und beschrieben werden (siehe Kap. 3.4), betonen viele, dass diese Differenzen weniger groß seien als jene zwischen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften. Die Frage, inwieweit der politischen und strukturellen Integration EU-Europas auch »eine Europäisierung der europäischen Gesellschaften« folgen wird,58 kann im 57 Delanty 1996, 6. 58 Bach 2000, 17.
62 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Rahmen dieser qualitativen sozial- und kulturhistorischen Studie nicht beantwortet werden. Allerdings weisen die Ergebnisse in eine ähnliche Richtung wie auch makrosoziale Befunde, die konstatieren, dass »von einer Emergenz einer europäischen Gesellschaft als endogenem Homogenisierungsprozess oder als Resultat der politischen Integration nicht gesprochen« werden könne.59 Trotz der großen Bedeutung, die dem Nationalstaat und nationalstaatlicher Herkunft in Europa beigemessen wird (siehe Kap. 7.2), bestätigen die vorliegenden Interviewtexte zugleich aber auch, dass Europa als ›Mitgliedsraum‹ für die Mehrheit der Gesprächspartner_innen durchaus auch einen Referenzrahmen darstellt. Somit kann anhand der vorliegenden Studie den bereits mehrfach zitierten Soziologen Büttner und Mau zugestimmt werden, wenn sie postulieren: »Dieses Zusammenhangsgefühl mag diffuser und weniger greifbar sein als die Vorstellungen von Zusammengehörigkeit und Verbundenheit im nationalstaatlichen Rahmen, aber es führt dennoch dazu, dass Menschen lernen, die Gesellschaft und Politik Europas mehr in ihrer Verflechtung und Abhängigkeit zu begreifen.«60
2.2 DIE MIGRANT_INNEN: GRÜNDE, MOTIVE, VERLÄUFE, ZUKUNFTSENTWÜRFE Bevor nun weitere Themen im Detail diskutiert werden, gilt es zunächst, der Frage nachzugehen, wer denn die von mir interviewten Migrant_innen sind. Zur besseren Orientierung für den Leser/die Leserin soll daher im Folgenden ein kurzer Überblick über die wesentlichsten biographischen Daten meiner Gesprächspartner_innen gegeben werden. Im Anschluss an diese, nach dem ersten Buchstaben des Vornamens gereihten, Kurzbiographien werde ich dann die Frage nach Gründen und Motive der Migration, nach Migrationsverläufen und Zukunftsentwürfen der hier interviewten Migrant_innen diskutieren.
59 Bach 2000, 17. 60 Büttner/Mau 2010, 274 ff.
Migration innerhalb Europas | 63
2.2.1 Kurzbiographien der interviewten Migrant_innen Alicia Herkunftsland
Spanien
Geboren
1984
Migration nach Österreich
2005
Interview
17.7.2013
Alicia kommt im Sommer 2005 zunächst für einen vierwöchigen Deutschkurs nach Wien. Im Zuge dessen lernt sie hier einen jungen Mann aus Österreich kennen, mit dem sie nach Ende des Kurses eine Fernbeziehung zwischen Teneriffa und Wien führt. Alicias Wunsch, nach Wien zu ziehen, hier zu studieren und zu leben, ist aber nicht allein durch diese Beziehung bedingt. Vielmehr sind ihre Begeisterung für die Stadt Wien und ihre jugendliche Abenteuerlust die ausschlaggebenden Motive. Mit einiger Hartnäckigkeit gelingt es Alicia, einen Erasmusplatz an der Universität Wien zu bekommen. Obwohl die Beziehung zu ihrem Freund kurz nach dem Umzug auseinandergeht, ändert dies nichts daran, dass Alicia das Leben in Wien genießt. Aus diesem Grund bleibt sie auch nach Ablauf des Stipendiums und setzt ihr Studium hier fort. Zum Zeitpunkt des Interviews steht Alicia kurz vor dem Abschluss ihres Psychologiestudiums und hat zahlreiche Ideen, aber keine konkreten Pläne für ihre weitere Zukunft. Auch eine Remigration nach Spanien ist für sie vorstellbar, scheint jedoch nicht realistisch, da sie dort, bedingt durch die hohen Arbeitslosenzahlen, zurzeit vermutlich wenig Chancen auf einen Arbeitsplatz hat. Álvaro Herkunftsland
Spanien
Geboren
1983
Migration nach Österreich
2005
Interview
11.6.2013
Álvaro kommt 2005 als Erasmusstudent aus einem kleineren Ort im Norden Spaniens nach Graz, da er im Hinblick auf seine spätere berufliche Karriere als technischer Ingenieur Deutsch lernen möchte. In Graz begegnet er seiner späteren, aus Tschechien stammenden Ehefrau und kehrt nach Abschluss des Studiums nicht
64 | »Auch wir sind Migrant_innen «
wieder nach Spanien zurück. Als ›Mittelweg‹ und Kompromiss zwischen den beiden Herkunftsländern wählt das junge Paar Österreich als Lebensmittelpunkt. 2008 übersiedeln die Beiden nach Wien, da Álvaro hier eine vielversprechende Arbeitsstelle angeboten wird. Mittlerweile hat das Paar drei kleine Kinder, die alle dreisprachig erzogen werden. Astrid Herkunftsland
Schweden
Geboren
1985
Migration nach Österreich
2012
Interview
1.4.2013
Astrid kommt im Juni 2012 mit ihrem Ehemann und ihrer kleinen Tochter nach Österreich, da ihr Mann in Wien eine Post-Doc Stelle annimmt. Einer gemeinsamen Migration nach Österreich stimmt sie unter anderem auch aufgrund der geographischen und ihrer Erwartung nach auch kulturellen Nähe zu Ungarn, dem Herkunftsland ihres Vaters, zu. Als Mutter eines Kleinkindes ist Astrid primär mit Elternarbeit beschäftigt, möchte aber bald ihre Arbeit als Logopädin wieder aufnehmen. Zunächst ist nur ein zweijähriger Aufenthalt in Österreich geplant. Danach sind für die Familie mehrere Optionen denkbar. Das Paar kann sich sowohl eine Rückkehr nach Schweden, als auch eine Migration in ein weiteres europäisches Land vorstellen. Primär wird der weitere Weg der Familie von den beruflichen Angeboten und Möglichkeiten des Ehemannes bestimmt sein. August Herkunftsland
Dänemark
Geboren
1987
Migration nach Österreich
2009
Interview
18.9.2013
August kommt 2009 nach seinem Schulabschluss in Dänemark nach Österreich, um hier in einem großen Skigebiet eine Saison lang als Skilehrer zu arbeiten. In den skandinavischen Ländern ist es üblich, nach dem Schulabschluss ein Jahr im Ausland sei es mit Reisen oder mit Arbeiten zu verbringen, bevor ein Studium oder eine weitere Ausbildung begonnen wird. Mit seiner Tätigkeit als Skilehrer erfüllt sich
Migration innerhalb Europas | 65
August als passionierter Skifahrer einen langjährigen Traum. Aber auch der Wunsch, »eine andere Kultur kennenzulernen« war für ihn ein Motiv zur – zunächst als temporär geplanten – Migration. Während seiner Zeit als Skilehrer lernt er eine junge Frau aus Österreich kennen und entscheidet aufgrund dieser Beziehung, sein Biologiestudium nicht wie geplant in Dänemark, sondern in Wien zu beginnen. Als die Paarbeziehung nach einem Jahr in die Brüche geht, entschließt sich August das Studium dennoch in Wien abzuschließen. Als er dann seinen Bachelorabschluss geschafft hat, fühlt er sich bereits derart wohl in Österreich, dass er beschließt, auch das aufbauende Masterstudium in Wien zu absolvieren. Zum Zeitpunkt des Interviews hat er keine Pläne für eine Remigration nach Dänemark, ist aber offen gegenüber unterschiedlichen Zukunftsentwürfen. Er kann sich vorstellen, irgendwann nach Dänemark zurückzukehren, in Österreich zu bleiben oder auch in ein anderes, drittes Land zu migrieren. Caroline Herkunftsland
Dänemark
Geboren
1943
Migration nach Österreich
1971-1973/1983
Interview
28.5.2013
Als Ehefrau eines aus Mexiko stammenden Mitarbeiters der UNIDO (United Nations Industrial Development Organization) ist Carolines Leben von einer Vielzahl unterschiedlicher Migrationsetappen geprägt. Ihren späteren Ehemann lernt Caroline während ihres Studiums in Frankreich kennen. Nach der Heirat lebt das Paar zunächst drei Jahre in Dänemark, bevor es aus beruflichen Gründen des Ehemannes in die USA übersiedelt. Die Familie kommt 1971 das erste Mal nach Österreich. Drei Jahre später zieht sie nach Mexiko, wo sie bis 1975 bleibt. Anschließend kehrt die Familie nach Dänemark zurück, von wo aus sie 1981 in die Schweiz übersiedeln. Caroline migriert 1983 mit ihrer Familie erneut nach Wien, seither lebt sie mit dem Ehemann und vier Kindern durchgehend in Österreich. Im Laufe ihres Lebens geht Caroline unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten nach, viele davon auch ehrenamtlich, obwohl sie als Mutter von vier Kindern umfangreiche Elternarbeit zu leisten hat. Nachdem 1995 das offizielle dänische Kulturinstitut in Wien geschlossen wird, gründet Caroline gemeinsam mit einer Österreicherin ›DanAustria‹, einen dänischen Kulturverein in Wien.
66 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Seit den 1990er Jahren verbringt Caroline jedes Jahr drei Monate in Dänemark, eine dauerhafte Remigration kann sie sich aber nicht vorstellen. Clara Herkunftsland
Spanien
Geboren
1979
Migration nach Österreich
1993
Interview
25.4.2013
Bereits als Kind entdeckt Clara durch Besuche bei einer in der Schweiz lebenden Tante ihre Begeisterung für die deutsche Sprache. Deshalb entscheidet sie sich für ein Studium der Germanistik. Zumindest eine Zeit lang im Ausland zu leben, war ebenfalls seit ihrer Kindheit Bestandteil ihres Lebensplanes. Während des Studiums arbeitete Clara daher als Au-pair-Mädchen in Deutschland und kann, unterstützt durch ein Stipendium, einige Zeit in Berlin studieren. Sie kommt 1993 nach Österreich, da sie hier eine Stelle als Sprachassistentin an einem Gymnasium in Niederösterreich annimmt. Als ihr Vertrag dort nach neun Monaten ausläuft, entscheidet sich Clara dazu, dennoch in Österreich zu bleiben. Wenig später findet sie erneut Arbeit als Sprachlehrerin und lernt außerdem ihren Lebenspartner kennen, der ebenfalls ein spanischer Migrant in Wien ist. Das Paar beschließt 2003 zurück nach Spanien, genauer nach Mallorca, der Herkunftsregion ihres Freundes, zu ziehen. Dort wird auch der gemeinsame Sohn geboren. 2009 kehrt die Familie, vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen, nach Wien zurück. Daniela Herkunftsland
Spanien
Geboren
1985
Migration nach Österreich
2005
Interview
26.3.2013
Daniela kommt 2005 als Erasmusstudentin nach Wien. Noch vor Ablauf ihrer Erasmuszeit lernt sie ihren Freund kennen und entschließt sich daher, ihr Studium der Geodäsie in Wien abzuschließen. Für Daniela ist das jedoch keine Entscheidung zur endgültigen Migration, sie plant nach dem Studium nach Spanien zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt ist allerdings mittlerweile die Wirtschafts- und Finanzkri-
Migration innerhalb Europas | 67
se über Spanien hereingebrochen und Daniela weiß, dass sie im Herkunftsland kaum Aussichten auf einen Arbeitsplatz hat. Daher kehrt sie nicht wie geplant und erwünscht nach Spanien zurück, sondern bleibt in Wien. Zwar findet sie nach längerem Suchen eine Arbeitsstelle und lebt nach wie vor in einer Beziehung mit ihrem aus Österreich stammenden Freund, möchte aber eigentlich nach Spanien zurückkehren. Diego Herkunftsland
Spanien
Geboren
1978
Migration nach Österreich
(ab) 2003
Interview
24.5.2013 und 21.6.2013
Diego kommt zunächst 2003 als Erasmusstudent für ein Jahr nach Graz, wo er seine aus Österreich stammende Freundin kennenlernt. Die beiden führen über einige Jahre hinweg eine Fernbeziehung, während Diego seine Ausbildung als Architekt in Spanien abschließt. Danach zieht er, seiner Freundin wegen, nach Österreich. Als die Beziehung jedoch zerbricht und das Bauprojekt, an dem Diego gearbeitet hat, zu Ende ist, hält ihn nichts mehr in Österreich und er kehrt 2009 nach Spanien zurück. Dort hat aber mittlerweile die Wirtschaftskrise zugeschlagen und es gelingt Diego nicht, eine Arbeitsstelle zu finden. Nach einigen Monaten der erfolglosen Arbeitssuche nimmt er daher ein Jobangebot in Vorarlberg an. Nur ein Jahr später fällt Diegos Stelle Einsparungsmaßnahmen zum Opfer, woraufhin er wieder nach Spanien zieht. Frustriert von der ergebnislosen Jobsuche kehrt Diego aber schon mehrere Monate später nach Wien zurück. Hier arbeitet er ein Jahr lang, bevor er noch einmal versucht, in Spanien Fuß zu fassen. Als er sechs Monate später immer noch arbeitslos ist, entscheidet er sich erneut für eine Arbeitsstelle in Wien. Mittlerweile arbeitet und lebt Diego seit zwei Jahren hier, sehnt sich aber nach einem Leben in Spanien.
68 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Ella Herkunftsland
Finnland
Geboren
1988
Migration nach Österreich
2010
Interview
27.6.2013
Ella kommt 2010 als Au-pair-Mädchen nach Wien. Die Initiative dazu geht jedoch nicht von ihr aus. Eine aus Finnland stammende Migrantin, die mit ihrem österreichischen Ehemann und ihrer Tochter in Wien lebt, tritt mit diesem Jobangebot an Ella heran. Zunächst etwas unsicher und zögerlich, sagt Ella letztlich, ermutigt von ihrer Mutter und ihrer damaligen Chefin, zu. Nach drei Monaten in Wien lernt sie einen jungen Österreicher kennen und die beiden werden ein Paar. Zunächst denkt Ella noch nicht daran, deshalb, anders als geplant, nach Ablauf eines Jahres nicht nach Finnland zurückzukehren. Die Beziehung entwickelt sich jedoch gut und so beschließt sie vorerst in Wien zu bleiben. Sie findet eine ihrer ursprünglichen Berufsausbildung entsprechende Arbeitsstelle als Köchin und lernt eifrig Deutsch. Zum Zeitpunkt des Interviews sind Ellas Zukunftsvorstellungen recht vage. Sie ist mit der Situation zufrieden, weiß aber nicht, wie sich ihr Leben weiter entwickeln wird und ob sie tatsächlich dauerhaft in Österreich bleiben möchte. 2016, zum Abschluss der Arbeit, lebt sie nach wie vor in Österreich, ist mit ihrem damaligen Freund verheiratet und das Paar hat einen kleinen Sohn. Erik Herkunftsland
Norwegen
Geboren
1981
Migration nach Österreich
2000
Interview
14.2.2014
Als Sohn eines Österreichers und einer Norwegerin wächst Erik zwar in Norwegen auf, verbringt aber schon als Kind seine Sommerferien in Österreich. Da ihn sowohl sein Herkunftsort, als auch Norwegen im Allgemeinen langweilen, beschließt er nach dem Schulabschluss nach Österreich auszuwandern. Seine Eltern sind mittlerweile geschieden, der Vater lebt wieder in Österreich und Erik hat hier somit bereits soziale Anknüpfungspunkte.
Migration innerhalb Europas | 69
In Wien versucht er sich in mehreren Studien und schließt letztlich ein exotisches Sprachenstudium ab. Während dieses Studiums verbringt er ein Auslandsjahr in Neuseeland, eine Zeit, die er sehr genießt. Heute ist er in Österreich sozial und strukturell weitgehend etabliert, kann sich aber eine weitere Migration durchaus vorstellen. Eva Herkunftsland
Spanien
Geboren
1970
Migration nach Österreich
1998
Interview
14.4.2013
Bereits 1995 lernt Eva während eines Auslandssemesters in Frankreich ihren späteren Ehemann kennen, der aus Tirol stammt. Die beiden führen drei Jahre lang eine Fernbeziehung, während Eva in den USA studiert. Nach Abschluss ihres Studiums beschließt das Paar, ein gemeinsames Leben in Wien »zu probieren«. Eva ist zu diesem Zeitpunkt die flexiblere und beweglichere der beiden, da ihr späterer Ehemann bereits eine berufliche Karriere in Wien beginnen konnte. Zunächst ist für Eva eine gemeinsame Migration des Paares nach Spanien, oder auch in ein anderes Land, eine realistische Möglichkeit. Erst nach der Geburt der ersten Tochter wird eine weitere Migration komplizierter und damit immer unwahrscheinlicher. Heute ist Eva in Österreich beruflich gut etabliert und auch sozial verankert, träumt aber dennoch immer wieder von einer Remigration nach Spanien. Frida Herkunftsland
Dänemark
Geboren
1939
Migration nach Österreich
1962
Interview
9.4.2013
Frida kommt 1958 im Alter von 18 Jahren nach Österreich, um hier in der Steiermark eine Freundin zu besuchen, die während der Nachkriegszeit als sogenanntes »Wiener Kind« bei Fridas Familie in Dänemark lebte. Während dieses Besuchs lernt Frida einen jungen Österreicher kennen. Es ist der Beginn einer fünfjährigen Fernbeziehung. Als der junge Mann sein Studium in Wien abschließt, kommt Frida
70 | »Auch wir sind Migrant_innen «
1962 zunächst für ein Jahr nach Wien, arbeitet hier, wenn auch nicht in einer ihrer ursprünglich gehobenen Berufsausbildung entsprechenden Position, und lebt ›versuchsweise‹ in Österreich. Sie fühlt sich wohl hier und das Paar heiratet im darauffolgenden Jahr. Nach über zehn gemeinsamen Ehejahren, in denen Frida zwar auch berufstätig ist, ihre Aufgabe aber hauptsächlich darin sieht, ihren Mann in seiner Karriere zu unterstützen, bekommt das Paar das erste Kind. Eine weitere Tochter folgt kurz darauf. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frida seit einigen Jahren verwitwet, pflegt zwar intensiven Kontakt mit ihrem Herkunftsland, möchte aber auch im Alter nicht dauerhaft nach Dänemark zurückkehren. Inés Herkunftsland
Spanien
Geboren
1975
Migration nach Österreich
1999
Interview
21.5.2013
Inés kommt 1999 durch ein Erasmusstipendium nach Wien. Von Anfang an war ihr jedoch klar, dass sie mehrere Jahre, also über das Stipendium hinaus, in Österreich bleiben will. Neben dem Wunsch nach ›Auslandserfahrung‹ ist die Möglichkeit, in Wien Musik zu studieren und Deutsch zu lernen, ein wesentliches Motiv für diesen Schritt. Eher zufällig entdeckt Inés in den folgenden Jahren ihre Freude am Unterrichten der spanischen Sprache und ist heute, nach Abschluss eines Lehramtsstudiums, als Spanischlehrerin tätig. Während ihrer Studienzeit lernt sie auch ihren späteren Ehemann kennen und ist mittlerweile Mutter zweier Kinder. Mit der Gründung einer Familie in Wien hat sie sich zugleich für den dauerhaften Wohnsitz in Österreich entschieden.
Migration innerhalb Europas | 71
Isabella Herkunftsland
Deutschland
Geboren
1979
Migration nach Österreich
2006
Interview
1.10.2013
»Neugierde« und das »Bedürfnis in einer Großstadt zu leben« sind die Gründe dafür, warum Isabella 2006 nach Wien kommt. Zwar erscheint ihr dafür eine transnationale Migration nicht unbedingt nötig, sie entscheidet sich aber letztlich doch für Wien. Hier gelingt es ihr relativ schnell in der Medienbranche beruflich Fuß zu fassen. Aber auch privat findet sie rasch Anschluss. Mittlerweile lebt sie in Wien in einer Beziehung mit einem Österreicher, hat sich beruflich für sie zufriedenstellend etabliert und möchte »erst mal hierbleiben«. Katharina Herkunftsland
Deutschland (ehem. Ostdeutschland)
Geboren
1977
Migration nach Österreich
2004
Interview
10.8.2013
Zunächst kommt Katharina wegen ihres damaligen Partners nach Österreich. Zwar stammt auch er aus Deutschland, studiert aber in Wien. Immer wieder besucht Katharina hier ihren Freund und verbringt sogar selbst ein Auslandssemester in Wien. Nach Abschluss ihres Studiums zieht sie 2004 erneut nach Wien, um die Zeit, bis auch ihr Freund seine Ausbildung beendet hat, gemeinsam verbringen zu können. Danach möchte das Paar zusammen in eine andere Stadt in Deutschland oder in ein anderes europäisches Land ziehen. Dazu kommt es aber nicht. Das Paar trennt sich und Katharina, die in Deutschland nirgendwo bedeutende soziale Anknüpfungspunkte oder konkrete Perspektiven hat, steht »vor dem Nichts«. Sie entscheidet sich dazu, in Wien zu bleiben, da sie hier bereits ein soziales Netzwerk aufbauen konnte, und da sie sich einem kompletten Neuanfang zu diesem Zeitpunkt nicht gewachsen fühlt. Wenige Jahre später lernt Katharina in Wien ihren späteren Ehemann kennen, mit dem sie zwei Kinder bekommt. Damit ist für sie die Frage einer weiteren Migration nicht mehr aktuell. Katharina hat vor, dauerhaft in Österreich zu bleiben.
72 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Leo Herkunftsland
Deutschland
Geboren
1945
Migration nach Österreich
1974
Interview
31.3.2014
Leo kommt 1974 wegen und mit seiner damaligen Ehefrau nach Österreich. Seine Frau stammt aus der Steiermark und hat Leo im Zuge einer Ausbildung, die sie in Deutschland absolvierte, kennengelernt. Zunächst lebt das Paar in Deutschland, Leos berufliche Träume zerschlagen sich aber gesundheitsbedingt und die Schwiegereltern bieten dem Paar an, es bei einem Hausbau im Herkunftsort der Tochter finanziell zu unterstützen. Dieses Angebot nimmt das Ehepaar an und Leo verbringt die nächsten Jahre in einem kleinen Ort in der Steiermark, von wo aus er als Vertreter arbeitet. Einige Jahre später wird die Ehe geschieden. Heute lebt Leo mit seiner zweiten Ehefrau in Wien. Lisa Herkunftsland
Deutschland
Geboren
1980
Migration nach Österreich
2006
Interview
19.9.2013
Lisa kommt 2006 nach Wien, um hier zu studieren. Zwar waren der Wunsch nach neuen Erfahrungen und einer Erweiterung des Horizonts wesentliche Motive dafür, nicht im Herkunftsort zu studieren, eine transnationale Migration erschien ihr dafür jedoch nicht unbedingt erforderlich. Neben Wien bewirbt sie sich in einigen deutschen Städten, die Wahl fällt schließlich auf Wien, da von der Wiener Universität die erste Zusage kommt. Zwar beendet Lisa ihr Studium nicht, kann sich aber dennoch beruflich erfolgreich in der Tourismusbranche etablieren. Mit einem aus Wien stammenden Lebenspartner und einem großen Freundeskreis ist sie mittlerweile auch sozial gut integriert und kann sich eine Remigration nicht mehr vorstellen.
Migration innerhalb Europas | 73
Lucía Herkunftsland
Spanien
Geboren
1936
Migration nach Österreich
1960
Interview
1.7.2013
Lucía kommt 1960 nach Wien, um hier im Rahmen eines Stipendiums ein Doktoratsstudium zu absolvieren. Ihr eigentlicher Plan ist es, zwei Jahre hierzubleiben, ihre Doktorarbeit zu schreiben und danach nach Spanien zurückzukehren. Während dieser Zeit lernt sie jedoch ihren späteren Ehemann kennen und entscheidet sich dazu, in Österreich zu bleiben. Zunächst lebt das Paar in Oberösterreich, wo Lucía als Spanischlehrerin zu arbeiten beginnt. Als die Familie später nach Wien zieht, absolviert Lucía, mittlerweile Mutter zweier Kinder, das entsprechende Lehramtsstudium. Mit viel Engagement setzt sie sich für eine vermehrte Förderung von Spanischunterricht an österreichischen Schulen ein und gründet 1987 den österreichischen Spanischlehrerverband, als dessen Präsidentin sie auch 2013, im Alter von 77 Jahren, noch tätig ist. Maja Herkunftsland
Dänemark
Geboren
1937
Migration nach Österreich
1963
Interview
6.8.2013
Maja kommt 1963 aus beruflichen Karrieregründen ihres Ehemannes nach Österreich. Zunächst erfolgt diese Migration für sie eher unfreiwillig; das Paar ist frisch verheiratet, die erste Tochter ist erst wenige Monate alt und die Familie hat ein gutes Leben in Dänemark. Ihr Mann aber möchte aus Karrieregründen ins Ausland gehen. Maja akzeptiert diesen Wunsch ihres Gatten und stimmt schließlich zu, ihn nach Österreich zu begleiten. Von Anfang an macht sie das Beste aus ihrer Situation und fühlt sich zunehmend wohl in Österreich. Wenig später werden eine weitere Tochter und ein Sohn, ein Zwillingspärchen, geboren. Nach einer langen Periode als Hausfrau und Mutter, ist Maja im Unternehmen ihres Mannes, der sich mittlerweile selbstständig gemacht hat, tätig. Eine Remigration ist für die Familie bald kein Thema mehr. Auch heute, im Ruhestand denkt das Ehepaar nicht an eine Rückkehr nach Dänemark.
74 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Marta Herkunftsland
Spanien
Geboren
1957
Migration nach Österreich
1985
Interview
15.4.2014
Marta kommt 1985 aufgrund einer Intimbeziehung nach Österreich. Ihr späterer Ehemann stammt zwar wie sie aus Spanien, lebt aber seit Jahren in Wien. Die beiden lernten sich in Spanien kennen und nach einem halben Jahr Fernbeziehung entschließt sich Marta, zu ihm nach Wien zu ziehen, wo die beiden eine Familie gründen. 1992 stirbt ihr Ehemann, Marta entscheidet sich aber dazu, dennoch in Wien zu bleiben. Zum einen möchte sie ihrer Tochter die Möglichkeit bieten, weiterhin zweisprachig aufzuwachsen, zum anderen ist Marta hier mittlerweile beruflich als Inhaberin eines Reisebüros gut etabliert. Mia Herkunftsland
Norwegen
Geboren
1975
Migration nach Österreich
1998
Interview
25.7.2013
Wie in den skandinavischen Ländern üblich, möchte auch Mia nach Abschluss der Schulzeit ein Jahr im Ausland verbringen. Aus diesem Grund nutzt sie die Chance, eine einjährige Tanzausbildung in England zu absolvieren. Während dieser Zeit lernt sie ihren Freund, der aus Österreich stammt, kennen. Diese Beziehung, aber auch ein vielversprechendes Jobangebot als Tänzerin in Wien, sind Mias Motive dafür, nach Ablauf dieses Jahres nicht wie geplant nach Norwegen zurückzukehren, sondern nach Österreich zu ziehen. Als sich das Paar einige Jahre später trennt, entscheidet sich Mia, in Österreich zu bleiben. Allerdings beendet sie ihre Karriere als Tänzerin und beginnt 2002 ein Medizinstudium. Zum Zeitpunkt des Interviews macht die junge Ärztin gerade ihren Turnus61, lebt mit ihrem neuen Freund, dessen Familie aus Korea stammt, zu61 Der sogenannte Turnus ist in Österreich Teil der Ausbildung zur Ärztin/zum Arzt für Allgemeinmedizin. Dabei müssen die Turnusäzte/Trunusärztinnen in unterschiedlichen Fachabteilungen eines Krankenhauses arbeiten.
Migration innerhalb Europas | 75
sammen und denkt über die Gründung einer Familie nach. Das würde wiederum würde für sie einen weiteren Schritt zur endgültigen und dauerhaften Migration darstellen. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit im Jahr 2016 ist Mia bereits Mutter einer kleinen Tochter. Michael Herkunftsland
Deutschland (ehem. Ostdeutschland)
Geboren
1962
Migration nach Österreich
1995
Interview
30.4.2014
Michael kommt 1995 aus beruflichen Gründen nach Wien, da er hier ein vielversprechendes Stellenangebot als technischer Ingenieur bei einem großen internationalen Konzern annimmt. Die Entscheidung, nach Österreich auszuwandern, ist für ihn dauerhaft. Im Gegensatz zu manchen aus dem Ausland zugezogenen Arbeitskollegen plant Michael keine ›Probezeit‹, sondern übersiedelt gleich mit der ganzen Familie, d.h. mit einer Ehefrau und seinen beiden Kindern nach Österreich. Die Familie fühlt sich hier von Anfang an wohl und auch seine Frau kann sich beruflich bald etablieren. Olivia Herkunftsland
Spanien
Geboren
1977
Migration nach Österreich
2000
Interview
23.7.2013
Olivia kommt 1996 nach Wien, um hier einen vier Monate dauernden Sprachkurs zu absolvieren. Der Nachweis von Deutschkenntnissen ist Voraussetzung, um zu dem von ihr geplanten Dolmetscherstudium in Spanien zugelassen zu werden. Während dieser Zeit in Wien lernt Olivia ihren späteren Ehemann kennen, mit dem sie während des Studiums eine Fernbeziehung führt. Nach Abschluss ihrer Ausbildung übersiedelt sie im Jahr 2000 nach Österreich und heiratet ihren langjährigen Freund. Das Ehepaar lebt zwei Jahre in Österreich, bevor sie entscheiden, aus Karrieregründen des Mannes nach München zu ziehen. Zwei Jahre später kehrt die Familie wieder zurück nach Wien. Heute hat Olivia eine kleine Tochter, mit der sie
76 | »Auch wir sind Migrant_innen «
jedes Jahr drei Monate während des Sommers in Spanien verbringt. Eine Form der Mobilität, die Olivia sich durch ihre berufliche Selbstständigkeit bewusst ermöglicht hat. Sabine Herkunftsland
Deutschland (ehem. Ostdeutschland)
Geboren
1982
Migration nach Österreich
2005
Interview
2.7.2013
Sabine kommt 2005 gemeinsam mit ihrem Freund nach Wien, weil sie in Deutschland trotz mehrmaliger Versuche keinen Studienplatz für ihr Wunschstudium bekommt. Das Paar studiert an der Universität Wien und Sabine wird während dieser Zeit zweimal Mutter. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Sabine nach Abschluss des Studiums auf Arbeitssuche. Sie hat vor, mit ihrer Familie in zwei Jahren wieder zurück nach Deutschland zu ziehen, da dann ihr älterer Sohn das Schulalter erreicht haben wird. Sara Herkunftsland
Finnland
Geboren
1975
Migration nach Österreich
1994
Interview
7.11.2013
Sara kommt 1994 im Anschluss an dem Schulabschluss mit dem Plan nach Österreich hier ein Jahr als Au-pair-Mädchen zu arbeiten, bevor sie ein Studium in Helsinki beginnen möchte. Damit erfüllt sie sich den langjährigen Traum, »einmal im Ausland zu leben«. Noch während ihrer Zeit als Au-pair-Mädchen lernt sie jedoch einen Österreicher kennen und entschließt sich, aufgrund dieser Beziehung nicht wie geplant in Finnland, sondern in Wien zu studieren. Drei Jahre später kehrt Sara, nach der Trennung von diesem Freund, nach Finnland zurück. Dort fühlt sie sich zwar wohl, vermisst aber die Freunde und Bekannten, die sie mittlerweile in Österreich gewonnen hat. Aus diesem Grund und um die Flexibilität und Mobilität, die sie als Studentin genießt, zu nützen, entscheidet sie sich, ihre Ausbildung doch in Wien zu beenden und kommt nach einem Jahr in Helsinki erneut nach Österreich. Zurück in Wien, lernt sie bald darauf ihren späteren Ehemann kennen. Nach Ab-
Migration innerhalb Europas | 77
schluss ihres Studiums bekommt Sara das erste Kind. Aus sprachlichen und beruflichen Gründen bleibt die Familie in Österreich. Allerdings nimmt Saras Ehemann nach der Geburt des zweiten Sohnes ein Jahr Väterkarenz und die Familie verbringt dieses Jahr in Finnland, wo Sara ihrem Beruf als Pastorin nachgehen kann. Diese Zeit, mit der Familie im Herkunftsland zu leben und dort auch zu arbeiten, bedeutet ihr viel, war aber von Anfang an nur als temporärer Aufenthalt geplant. Heute lebt Sara mit ihrer Familie in einem Ort nahe von Wien, wo sie beruflich und sozial etabliert und sehr gut integriert ist. Sven Herkunftsland
Deutschland (ehem. Ostdeutschland)
Geboren
1978
Migration nach Österreich
2009
Interview
17.3.2013
Svens primäres Motiv für eine Migration ist der Wunsch »Neues zu entdecken« und »die Sehnsucht danach, in einer Großstadt zu leben«. Für Sven und seine damalige Freundin kommen einige europäische Städte dafür in Frage, nach einem Kurzbesuch in Wien ist Sven derart begeistert von dieser Stadt, dass sich das Paar für Wien entscheidet. Daher zieht das Paar 2009 von Dresden nach Wien. Es gelingt Sven ohne Probleme, einen Arbeitsplatz als Programmierer zu finden und er fühlt sich auf Anhieb rundum wohl. Seine Freundin allerdings teilt dieses Gefühl nicht und das Paar trennt sich nach wenigen Monaten. Wenig später lernt Sven eine Österreicherin kennen, mit der er zum Zeitpunkt des Interviews zusammenlebt. Eine Rückkehr nach Deutschland kann sich Sven nicht vorstellen, er möchte dauerhaft in Wien bleiben. 2016, zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit ist Sven bereits Vater einer kleinen Tochter.
78 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Theresa Herkunftsland
Deutschland
Geboren
1958
Migration nach Österreich
1981
Interview
17.10.2013
Theresa ist die in Deutschland geborene und aufgewachsene Tochter eines aus Griechenland stammenden Vaters und einer aus Ungarn stammenden Mutter (die selbst slowakisch-ungarische Vorfahren hat). Theresa kommt 1981 nach Österreich, um in Linz ein Studium an der Kunsthochschule zu beginnen, da sie in Deutschland an keiner entsprechenden Ausbildungseinrichtung aufgenommen wird. Eigentlich hatte sie geplant, nach Abschluss ihres Studiums in ein anderes europäisches Land oder auch nach Amerika auszuwandern. Allerdings lernt sie noch in Linz ihren späteren Ehemann kennen und bleibt aufgrund dieser Beziehung in Österreich. Die Ehe wird wenige Jahre später geschieden und Theresa träumt weiterhin davon, Österreich zu verlassen. Zweimal reist sie für einige Monate mit einem Arbeitsstipendium in die USA, ein Jahr lebt sie auch in Griechenland, dem Herkunftsland ihres Vaters. Aber obwohl sie die Landessprache spricht und dort Verwandte hat, gelingt es ihr nicht, in Griechenland beruflich Fuß zu fassen. Theresa kehrt nach Österreich zurück. Zum Zeitpunkt des Interviews steht sie erneut an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Sie hat eine Greencard gewonnen und wird für einige Monate in die USA reisen. Ob sie dauerhaft in den USA bleiben oder doch wieder nach Österreich zurückkehren wird, möchte sie erst nach dieser Reise und einem Ausloten ihrer beruflichen Möglichkeiten in den USA entscheiden. Tilde Herkunftsland
Dänemark
Geboren
1942
Migration nach Österreich
1960
Interview
16.4.2013
Tilde kommt 1960 im Alter von 18 Jahren nach Österreich, um die Wartezeit auf einen Ausbildungsplatz in Dänemark zu überbrücken. Sie möchte nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin machen, muss jedoch ein Jahr warten, bevor sie mit dieser Ausbildung beginnen kann. Daher verbringt sie zu-
Migration innerhalb Europas | 79
nächst sechs Monate als Au-pair-Mädchen in England. Danach kommt sie nach Wien, da ihre Mutter aus Österreich stammt und Tilde hier Verwandte hat. Aus der geplanten Rückkehr nach Dänemark wird aber nichts. Sie lernt in Wien ihren späteren Ehemann kennen und entscheidet sich dazu, in Wien zu bleiben. Seither lebt sie mit ihrem Ehemann und ihren beiden, mittlerweile erwachsenen, Töchtern in Wien. Tobias Herkunftsland
Dänemark
Geboren
1938
Migration nach Österreich
1981
Interview
8.7.2013
Tobias ist als junger Jurist unzufrieden mit seiner beruflichen Situation in Dänemark und entscheidet sich aus diesem Grund dazu, ein aufbauendes Studium in Italien zu absolvieren. Nach einem Jahr bietet sich ihm die Möglichkeit, dieses Studium in Washington abzuschließen und Tobias zieht in die USA. Dort lernt er seine spätere Ehefrau kennen, derentwegen er auch nach Abschluss seiner Ausbildung in Amerika bleibt, wo er eine Stelle bei der UNO annimmt. Die Ehe wird bald wieder geschieden, Tobias aber macht bei der UNO Karriere und kommt im Zuge dessen 1981 aus beruflichen Gründen nach Wien. Nach einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn heiratet er nach seiner Pensionierung eine Österreicherin und erwirbt ein Haus in der Umgebung Wiens, wo das Paar heute lebt.
80 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Tabelle 1: Übersicht der Gesprächspartner_innen (Herkunftsland, Zeitpunkt der Migration nach Österreich)
Alicia
Spanien
2005
(2000er/2010er)
Álvaro
Spanien
2005
(2000er/2010er)
Astrid
Schweden
2012
(2000er/2010er)
August
Dänemark
2009
(2000er/2010er)
Caroline
Dänemark
1971
(1960er/1970er)
Clara
Spanien
1993
(1980er/1990er)
Daniela
Spanien
2005
(2000er/2010er)
Diego
Spanien
2003
(2000er/2010er)
Ella
Finnland
2010
(2000er/2010er)
Erik
Norwegen
2000
(2000er/2010er)
Eva
Spanien
1998
(1980er/1990er)
Frida
Dänemark
1962
(1960er/1970er)
Inés
Spanien
1999
(1980er/1990er)
Isabella
Deutschland
2006
(2000er/2010er)
Katharina
Deutschland
2004
(2000er/2010er)
Leo
Deutschland
1974
(1960er/1970er)
Lisa
Deutschland
2006
(2000er/2010er)
Lucía
Spanien
1960
(1960er/1970er)
Maja
Dänemark
1963
(1960er/1970er)
Marta
Spanien
1985
(1980er/1990er)
Mia
Norwegen
1998
(1980er/1990er)
Migration innerhalb Europas | 81
Michael
Deutschland
1995
(1980er/1990er)
Olivia
Spanien
2000
(2000er/2010er)
Sabine
Deutschland
2005
(2000er/2010er)
Sara
Finnland
1994
(1980er/1990er)
Sven
Deutschland
2009
(2000er/2010er)
Theresa
Deutschland
1981
(1980er/1990er)
Tilde
Dänemark
1960
(1960er/1970er)
Tobias
Dänemark
1981
(1980er/1990er)
2.2.2 Gründe und Motive der Migration Generell werden in der Migrationsforschung unterschiedliche Formen (bzw. Klassifikationen)62 von Migration je nach Gründen und Motivation für diesen Schritt unterschieden. Der für diese Studie relevante Migrant_innentyp wird in der Literatur, im Gegensatz zur »traditionellen Migration von unqualifizierten Arbeitskräften, die durch formalisierte Rekrutierungsmechanismen oder Kettenmigration geprägt ist«63, häufig als »Wohlstands«- oder »Elitenmigrant_innen« (siehe Kap. 1.1) beschrieben. Als etwas neutralere Bezeichnung findet sich auch der Terminus »free movers«, eine Migrationsform, die als primär durch individuelle Wanderungen und Migrationsverläufe charakterisiert beschrieben werden kann.64 Als ebenfalls präzise und weitgehend wertneutrale Bezeichnung der hier untersuchten Migrant_innen kann der von mir bevorzugte Terminus ›affluent migrants‹ dienen. Insgesamt lassen sich unter den für diese Studie interviewten affluent migrants vier Typen hinsichtlich der Gründe für die Migration unterscheiden. Da es sich als häufigste Form jedoch um eine sukzessive Form der Migration handelt (s.u.), treffen auf eine Reihe von Interviewpartner_innen mehrere dieser Gründe zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Migrationsbiographie zu. Eine erste Gruppe machen ›Liebesmigrant_innen‹ aus, die sich wiederum in zwei Subtypen differenzieren lassen: Für manche war eine Intimbeziehung ein Grund dafür, in Österreich zu bleiben, nachdem sie zuvor aus anderen Gründen 62 Vgl. z.B. Reinprecht/Weiss 2012, 16 f. 63 Braun/Recchi 2008, 162. 64 Als drei Haupttypen dieser ›free movers‹ werden Hochqualifizierte, Rentner und Studierende beschrieben. Vgl. Braun/Recchi 2008, 162 f.
82 | »Auch wir sind Migrant_innen «
(z.B. Studium, Beruf) für einen ursprünglich begrenzten oder offenen Zeitraum gekommen waren. Für einen zweiten Subtyp war eine Liebesbeziehung der Grund, nach Österreich zu kommen. Zu diesem Subtyp sind zum einen jene Interviewpartner_innen zu zählen, die nicht bereits zuvor in Österreich lebten und aufgrund der Intimbeziehung mit einem österreichischen Partner/einer österreichischen Partnerin migrierten. Zum anderen trifft dies aber auch auf Frauen zu, die ihre Partner aus dem gemeinsamen Herkunftsland begleiteten, da ihre Partner bzw. Ehemänner aus Gründen ihrer beruflichen Karriere nach Österreich migrierten. Auch der Typ der ›Arbeitsmigrant_innen‹ kann in zwei weitere Subtypen unterschieden werden. Erstens gehören hierzu Karrieremigrant_innen, die aufgrund der beruflichen Weiterentwicklung und sich bietender Karrierechancen nach Österreich zuwanderten.65 Zweitens zählen zum Typ der Arbeitsmigrant_innen auch jene Migrant_innen, die aufgrund einer arbeitsbedingten Notwendigkeit in Österreich blieben (›subsistence migration‹ bzw. ›betterment migration‹). Im vorliegenden Sample sind dies ausschließlich Migrant_innen aus dem von der Wirtschaftskrise der letzten Jahre stark getroffenen Spanien. Nachdem sie aus anderen Gründen, etwa als Liebesmigrant_innen oder als Studierende, nach Österreich gekommen sind, bleiben sie weiterhin hier, da sie in Spanien derzeit kaum Chancen am Arbeitsmarkt sehen. Einen weiteren Typ stellen ›Lifestylemigrant_innen‹66 dar. Zu diesem Typ zählen jene Interviewpartner_innen, für die der Wunsch nach einem Leben im Ausland und/oder nach einer »Erweiterung des Horizonts« nicht nur ein gewichtiges Motiv, sondern auch der tatsächliche Grund für die Migration war. Zu den Studentenmigrant_innen67 zählen Interviewpartner_innen, die im Zuge eines Erasmusaufenthalts68 nach Österreich kamen. Aber auch Studierende aus Deutschland, die nach Wien zogen, weil sie in Deutschland keinen Studienplatz bekamen (oder weil die Zusage aus Wien die erste war), lassen sich diesem Typus zuordnen. 65 Bade 2002b, 1 f.; Han 2005, 87 ff.; Recchi 2003, 37 ff. 66 Vgl. dazu Michaela Benson/Karen O’Reilly (Hrsg.), Lifestyle Migration. Expectations, Aspirations and Experiences. (Farnham 2009), 1 ff. 67 Sogenannte ISM (International Student Migration) wird seit den 1980er Jahren durch zahlreiche Programme unterstützt und wurde in den vergangen Jahrzehnten ein immer häufigeres Phänomen. 1,8 Millionen studierten im Jahr 2000 zeitweise außerhalb ihres Herkunftslandes, 2013 waren es bereits 4,5 Millionen. Schätzungen der OECD zufolge soll die Zahl bis 2025 auf 7,2 Millionen steigen. Vgl. dazu Han 2005, 116 ff.; Braun/ Recchi 2008, 298 ff.; King 2002, 99 f.; Recchi 2003; Mau 2007, 137 ff. 68 Zu Erasmus, einem 1989 gegründeten, von der EU geförderten Programm vgl. z.B. Recchi 2005, 17.
Migration innerhalb Europas | 83
Auch für diese Gesprächspartner_innen beschreibt der Typ der Studierendenmigration jedoch stets nur die erste Migrationsetappe; sie kamen aus Gründen des Studiums und blieben dann aus einem anderen der beschrieben Gründe auch nach Ablauf des Erasmusstipendiums oder nach Abschluss des Studiums weiterhin in Österreich. Die Gesprächspartner_innen unterscheiden sich jedoch nicht allein durch die praktischen und tatsächlichen Gründe für die Migration, sondern auch durch unterschiedliche kognitive und emotionale Orientierungsmuster und Prädispositionen, aus denen sich wiederum zwei unterschiedliche Typen rekonstruieren lassen. Einzig im Fall der Lifestylemigrant_innen entsprechen diese Orientierungsmuster, wie etwa ein bestimmter Lebensentwurf, auch dem tatsächlichen Migrationsgrund. Für einige der interviewten Migrant_innen stellt der langjährige Wunsch nach einer »Auslandserfahrung«, nach einem »Leben im Ausland«, ein wesentliches Motiv für die Migration dar. Für sie war eine (zumeist temporäre) Migration Bestandteil ihres Lebensentwurfs. Häufig wurde dieser Wunsch in einer ersten Migrationsetappe, wie etwa einem Erasmusaufenthalt, umgesetzt, woraus sich in Folge weitere Optionen und Gründe ergaben, die schließlich zum Bleiben in Österreich führten. Im Gegensatz zu allen anderen in diesem Kapitel vorgestellten Typen lässt sich diesbezüglich ein Unterschied zwischen Migrant_innen aus Deutschland und jenen aus Spanien und Skandinavien ausmachen; eine Auslandserfahrung machen zu wollen ist für Migrant_innen aus Deutschland kein Motiv, um nach Österreich zu migrieren. Als Pendant zum Motiv ›Auslandserfahrung‹ kann aber für eine Reihe von Migrant_innen aus Deutschland der Wunsch »den Horizont zu erweitern« gelten. In diesen Fällen hätte eine binnennationale Migration innerhalb Deutschlands dieses Bedürfnis ebenso erfüllen können. Bedingt durch Zufälle oder praktische Überlegungen fiel die Entscheidung aber auf Wien. »Und ich wollte halt nicht nach England oder nach Amerika oder sonst irgendwas, das wollt ich nicht. Das hat mich auch nie interessiert, interessiert mich jetzt auch nicht«,
bemerkt dazu etwa die aus Deutschland stammende Lisa. Erst nach einer ersten Zeit in Wien bzw. Österreich wurde den deutschen Gesprächspartner_innen bewusst, dass sie doch dabei waren, eine ›Auslandserfahrung‹ zu machen. Im Gegensatz zu jenen Migrant_innen, für die Mobilität ein wichtiger Bestanteil ihres Lebensentwurfes war, war für Andere ein Leben im Ausland kein bereits lange gehegter Wunsch und kein Teil ihres Lebenskonzepts. Ihnen boten sich die Möglichkeiten und Chancen (berufliches Angebot, Liebe) nach Österreich auszuwandern, zufällig und für sie oft überraschend.
84 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Hinsichtlich der Deutung von und dem Umgang mit sich im Zuge der Migration auftuenden Herausforderungen und Konflikten lassen sich keine generellen Unterschiede zwischen diesen beiden Motivtypen ausmachen. Migrant_innen, deren ursprüngliches Lebenskonzept keine Auslandserfahrung umfasste, sind nicht zwingend weniger offen, aktiv und selbstverantwortlich als jene, die ein Leben im Ausland bewusst angestrebt hatten. Auch wenn das vorliegende Sample natürlich keine quantitativen Rückschlüsse zulässt, scheinen mir in diesem Kontext doch auch Ergebnisse anderer Studien, die sich mit der Frage nach Gründen für innereuropäische Migration befassen, von Interesse zu sein. So ergab die BESTME-Erhebung aus dem Jahr 200269, dass nur etwa ein Siebentel der Befragten ökonomische Gründe als Hauptgründe für ihre Migration anführte, während soziale (familiäre und persönliche Gründe) weitaus häufiger genannt wurden.70 »Einen großen Stellenwert für innereuropäische Mobilität« haben gemäß dieser Untersuchung aber auch kulturelle Gründe, »sei es das Interesse an einer anderen Sprache und Kultur oder die institutionalisierten Wanderungen aufgrund der Austauschprogramme von Bildungseinrichtungen«71. Daraus schlossen die Autor_innen dieser Studie, dass die große Bedeutung sozialer und kultureller Gründe ein »spezifischer europäischer Faktor« ist, »wie er für Wanderungen außerhalb Europas eine geringere Rolle spielen dürfte«72. Auch hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede in den Gründen für eine Migration lässt die Kleinheit des vorliegenden Samples keine quantitativen Aussa69 Die Berliner Studie zur Untersuchung transnationaler Mobilität von Europäern (BSTME) wurde von Januar 2001 bis August 2004 am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin (Leitung Klaus Eder, DFG-Förderung bis Dezember 2002) und später am Institut für Soziologie der Universität Hamburg durchgeführt. Hier wurden Wanderungsgründe von Auswander_innen aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Dänemark und Polen in einer offenen Abfrage (standardisiert postalisch) erhoben. Vgl. Verwiebe 2006b. Ein ähnliches Forschungsprojekt stellt das Projekt PIONEUR (»Pioneers of Europe’s Integration ›from Below‹: Mobility and the Emergence of European Identity among National and Foreign Citizens in the EU«) dar. Als Quelle dienten hierbei Sekundäranalysen von allgemeinen Bevölkerungsumfragen sowie qualitative Interviews mit Intra-EU-Migrant_innen (aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien in die jeweils anderen Länder) aber auch mit Migrant_innen, die von außerhalb der EU gekommen sind (aus Polen und Rumänien). Vgl. Braun/Recchi 2008. 70 Vgl. z.B. Verwiebe 2006b, 161 ff.; Roland Verwiebe, Die Wanderungsgründe von innereuropäischen Migranten. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 13 (2005), 131154; Verwiebe/Mau/Seidel/Kathmann 2010. 71 Verwiebe 2006b, 162. Vgl. auch King 2002; Verwiebe/Mau/Seidel/Kathmann 2010, 289. 72 Verwiebe 2006b, 162. Vgl. auch Mau 2007, 129 f.
Migration innerhalb Europas | 85
gen zu.73 Dennoch fällt auf, dass alle in den 1960er und 1970er Jahren gekommenen Frauen dem Typus der Liebesmigrant_innen zuzuzählen sind. Zwar überwiegt auch in den 1980er und 1990er Jahren dieser Typ, doch stellt in diesen beiden Jahrzehnten die berufliche Karriere ebenfalls einen wichtigen Orientierungsrahmen dar. Diese Beobachtung entspricht der in der Migrationsforschung bereits mehrfach belegten Tatsache, dass Frauen zumindest bis in die frühen 1990er Jahre weniger oft aus beruflichen bzw. Karrieregründen migrierten, sondern weitaus häufiger aufgrund einer Intimpartnerschaft oder aus familiären Gründen.74 2.2.3 Verläufe der Migration Bezüglich der Verläufe der Migration ergibt sich ein überaus facettenreiches Bild auch innerhalb einzelner Migrationsbiographien. Insgesamt lassen sich drei Typen an Migrationsverläufen aus den vorliegenden Interviewtexten konstruieren. Hinsichtlich der Herkunftsländer sind hierbei keine Unterschiede auszumachen. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Migrant_innengenerationen kann jedoch eine klare Tendenz zu mehr Mobilität festgestellt werden. Während Migrant_innen der 1960er und 1970er Jahre nie mehr als zwei Migrationsetappen durchlebten, zeichnen sich die meisten Migrationsbiographien ab den 1980er, vor allem aber ab den 1990er Jahren, durch eine Vielzahl unterschiedlicher Etappen der Migration aus. Auch ohne anhand des vorliegenden Samples quantitative Rückschlüsse ziehen zu können, fällt doch auf, dass nur wenige der Gesprächspartner_innen eine ›geradlinige‹ Migration, in Form einer konkreten Entscheidung, eines durchdachten Plans, der konsequent verwirklicht werden konnte, erleben (s.u.). Die überwiegende Mehrheit der Interviewpartner_innen kann dem Typ ›sukzessive und iterative Migration‹ zugeordnet werden. Diese Immigrant_innen hatten ihr Leben, so wie es schließlich verlief, nicht erwartet oder geplant. Ihre Migrationsbiographie besteht vielmehr aus einer Abfolge von Migrationsetappen, basierend auf ›kleinen‹, ›über-
73 Generell scheint es als würden männliche Migranten grundsätzlich überwiegen. Verwiebe/Mau/Seidel/Kathmann 2010, 278. 74 Verwiebe 2006b, 165 f.; King 2002, 97 f.; Felicitas Hillmann, Von internationalen Wanderungen zu transnationalen Migrationsnetzwerken? Der neue europäische Wanderungsraum. In: Bach 2000, 363-385; Petrus Han, Frauen und Migration. (Stuttgart 2003); Silvia Pedraza, Women and Migration. The Social Consequences of Gender. In: Annual Review of Sociology 17 (1991), 303-325; Eleonore Kofman, The invisibility of skilled female migrants and gender relations in studies of skilled migration in Europe. In: International Journal of Population Geography 6 (2000), 45-59. https://doi.org/10.1002/(SICI)10991220(200001/02)6:13.0.CO;2-B.
86 | »Auch wir sind Migrant_innen «
schaubaren‹ Entscheidungen, die zunächst für einen offenen oder begrenzten Zeithorizont getroffen wurden.75 In manchen Fällen finden all diese Migrationsetappen in Österreich statt. Es werden aber auch ›Zwischenmigrationen‹ in andere Länder oder eine kurze Phase der Remigration in das Herkunftsland beschrieben. Das mit einem derart sukzessiven, iterativen Verlauf verbundene überwiegende Deutungsmuster der eigenen Migrationsbiographie ist, »picken (kleben) geblieben zu sein« bzw., dass »es sich so ergeben« hat. Die folgenden Zitate illustrieren die Rolle, die diesem Deutungsmuster in den Erzählungen zukommt: »Ja, ja, ich habe mich verliebt in meinen zukünftigen Mann und ja. Also, als ich von Spanien wegfuhr haben meine Geschwister gesagt, ›Bitte bleibe nicht dort‹ und so weiter. Habe ich gesagt ›Kommt nicht in Frage.‹ Und dann bin ich doch kleben geblieben.« (Lucía) »Ich würd nicht sagen, dass ich mich Anfangs zu hundert Prozent entschlossen habe nach Österreich zu kommen und da zu bleiben. Es hat sich alles so ergeben. Vielleicht sieht man einen Prozess dahinter aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Aber ich seh=s einfach als eine Reihe von Entscheidungen, die zu einem gewissen Zeitpunkt und in einem gewissen Rahmen getroffen werden mussten.« (Álvaro) »Das Leben ist geprägt von Zufällen, wie sich die Dinge ergeben. Also so war=s in meinem Fall und ich glaub, dass es in den meisten Fällen auch so is. Von daher is es schon ein großer Zufall, dass ich da in Wien bin, irgendwie.« (Katharina)
Immer wieder werden die Entscheidungen für eine weitere Migrationsetappe sehr ungezwungen und entspannt mit einem »Schau ma mal« getroffen. »Da hab ich ah gsagt okay, ich hab mal die Wohnung für eineinhalb Jahre und dann schau ma mal. Und dann mach ich meine Ausbildung fertig, das war dann nach drei Jahren, dann hab ich gsagt dann schau ma mal.« (August)
In einigen Fällen spielt hier auch ein mehr oder weniger bewusstes und reflektiertes Vermeiden einer ›endgültigen‹ Entscheidung eine Rolle.
75 Vgl. dazu auch Thomas Straubhaar, Internationale Migration. Gehen oder bleiben: Wieso gehen wenige und bleiben die meisten? HWWA (Hamburg Institute of International Economics) Discussion Paper 111 (Hamburg 2000), bes. 12 ff.; Claudia Vorheyer, Transnational mobiles. Erkenntnisse zu einer (fast) übersehenen Migrationsgruppe. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41 (2016), 55-79; 58 f.
Migration innerhalb Europas | 87 »Und die Entscheidung, ob ich jetzt zurückgehe nach Norwegen oder nicht, is / das hab ich weit vor mit geschoben, das hab ich gar nicht / Diese Entscheidung hab ich gar nicht getroffen oder treffen wollen.« (Mia) »Also für mich war es nicht so schwierig, und ich muss ehrlich sagen, also ich hab=s, ich weiß es nicht ob=s irgendwann einmal so ganz bewusst beschlossen hab, dass ich jetzt dann, dann wirklich jetzt ahm fix dableiben will, also das war, glaub ich, nie so, also es ergibt sich vieles im Leben. ((Lachen))« (Sara)
Im Unterschied zu diesem, im empirischen Material dominierenden Muster der sukzessiven Migration beschreiben nur wenige Interviewpartner_innen76 einen geradlinigen Migrationsverlauf. Sie sind gekommen, um zu bleiben. Für sie galt es eine (einmalige) Entscheidung für einen sehr langen, manchmal gar lebenslangen Zeitraum zu treffen. Dies wiederum verleiht dieser Entscheidung ein anderes Gewicht. Sie wird meist als »schwere« Entscheidungen beschrieben oder zumindest als eine, deren Bedeutungsschwere und langfristige Auswirkungen dem/der Betroffenen im Moment der Entscheidungsfindung bewusst waren. Ähnliche Entscheidungsprozesse beschreiben aber auch Akteur_innen des sukzessiven Migrationstyps, die im Anschluss an eine erste Migrationsetappe eine derartig ›weitreichende‹ Entscheidung treffen mussten. »Dann kommt dieser Walter in mein Leben und was is jetzt? Jetzt musst du wieder vollkommen neu, jetzt musst du ganz anders wieder entscheiden. Was is jetzt wichtiger? Nicht, also dann kommt eine neue Entscheidung. Und da kann mir auch niemand helfen, das muss ich alleine machen. Und es hat mir auch niemand zugeredet oder abgeraten, niemand. Das hät ich auch nicht zugelassen. Ja, ich hab schon gespürt an den Mienen, an den Gesichtern, wie sie denken, aber das hab ich so bissl weggeschoben.« (Tilde)
Ergänzend kann noch eine dritte Verlaufsform unterschieden werden, die als ›Migration aus dem Herkunftsland als (einmalige) langfristige Entscheidung, aber mit unterschiedlichen Migrationsetappen in verschiedenen Zielländern‹ umschrieben werden kann. Zwar handelt sich hier auch um eine Form der sukzessiven, iterativen Migration, aber nicht um derart von Zufällen geprägte Migration nach Österreich, wie als Typ Eins beschrieben. Diesem dritten Typ kann etwa die Dänin Caroline zugerechnet werden. Sie begleitete ihren Ehemann, der bei der UNIDO tätig war, zunächst in die USA, dann nach Österreich, nach Mexiko, in die Schweiz und schließlich wieder nach Österreich, wo sie nun seit über dreißig Jahren lebt. 76 In diese Kategorie fallen sowohl Liebesmigrant_innen, Lifestylemigrant_innen als auch Karrieremigrant_innen.
88 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Für Caroline und zwei weitere Frauen, die ihre Ehemänner begleiteten, da diese aus Karrieregründen das Herkunftsland verlassen wollten, stellt sich auch die Migrationsentscheidung anders dar als für individuelle Migrant_innen: »Weil ich ja nicht aus meine eigene Wille ins Ausland gegangen bin. Ich musste mein Mann folgen. Weil ich gemeint und gemerkt habe, er will ins Ausland. Und wenn ich ihm nicht folge, dann wären wir nicht zweiundfünfzig Jahre verheiratet. Hallo, so. Und wenn man dann A gesagt hat, dann muss man auch B sagen.« (Maja)
Die eben zitierte Maja, eine Dänin, die ihren Mann 1963 nach Österreich begleitete, betont außerdem mehrmals, dass sie eigentlich gar nicht migrieren wollte: »Und wir waren schon verheiratet und mein Mann hatte einen guten Job und wir haben ein kleines Kind gehabt und ich konnte nicht recht verstehen warum man das alles aufgeben soll. Auch kleines Haus und kleiner Garten und nette Schwiegereltern, alles heile Welt. Aber ich hab gemerkt, dass - er will weg und da muss ich dann ja sagen.«
Während sie sich also einerseits ihrem Ehemann anpasst, behält sie sich ein Mitspracherecht bei der Wahl des Ziellandes vor. Nach Grönland wollte sie beispielsweise nicht, zu Österreich sagte sie dann aber »Ja«. Ähnliches erzählt Astrid, eine, zum Zeitpunkt des Interviews 29jährige Schwedin, die ihren Mann im Zuge seines Postdocstudiums nach Österreich begleitete. Auch die bereits erwähnte hypermobile Dänin Caroline beschreibt Vergleichbares. Während alle drei Frauen ihr Herkunftsland ihren Ehemännern zuliebe verließen, war es ihnen zugleich wichtig, bei der Wahl des Ziellandes ein gewisses Mitspracherecht zu haben. »Wir haben in USA gewohnt damals, und mein Mann hat von irgendeine Konferenz, wo er war, angerufen und gesagt ›Wie wäre es nach Wien zu gehen?‹. Und ich habe gedacht, Wienerwald, blaue Donau, was weiß ich. ((Lachen)) Ich hab es mir sehr romantisch und schön vorgestellt.« (Caroline)
Bemerkenswert erscheint auch, dass alle drei diese ›unfreiwillige‹ Migration keineswegs negativ deuten. Sie zeigen eine optimistische und aktive Haltung. An keiner Stelle der Interviewtexte lassen sich explizite oder implizite Vorwürfe an die Ehemänner oder eine pessimistische Bewertung von Problem und Herausforderungen unter dem Deutungsmuster »ich wollte das ja nicht« ausmachen. Natürlich sind die Migrationsentscheidungen auch im Kontext des Alters und der jeweiligen Lebensphase des/der Betroffenen zum fraglichen Zeitpunkt zu sehen. Alle Interviewpartner_innen verließen ihr Herkunftsland in jungen Jahren, zumeist in ihren 20ern. Mit dem Deutungsmuster ›ich war jung‹ erklären sie auch die Leich-
Migration innerhalb Europas | 89
tigkeit und relative Ungezwungenheit, mit der viele von ihnen diese Entscheidungen getroffen haben. 2.2.4 Warum Europa? Im Kontext der beschriebenen strukturellen Rahmenbedingungen und Entwicklungen im europäischen Migrationsraum seit den 1960er Jahren wäre eine Zäsur in den Erzählungen zwischen Migrant_innen, die vor 1995 und jenen, die danach nach Österreich zuwanderten, zu erwarten. Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen und damit verbundene Erschwernisse der Migration werden jedoch lediglich von einem einzigen deutschen Interviewpartner, der in den 1970er Jahren nach Österreich kam, thematisiert. Allen anderen Gesprächspartner_innen dieser Migrationsgenerationen erscheint dies offenbar nicht relevant genug, um in der respektiven Erzählung drüber zu sprechen. Jüngere Migrant_innen hingegen thematisieren häufiger die Vorteile, die ihnen die EU bietet. (Siehe Kap. 2.1.2) Aber auch wenn niemand diese besonderen Rahmenbedingungen als expliziten (Mit-)Grund für eine Migration innerhalb Europas beschreibt, so ist doch zu vermuten, dass die Regeln und Vorteile der EU die ›Hemmschwelle‹ zur Migration zwischen den Ländern der Union gesenkt haben. Ein wesentlicher Orientierungsrahmen für die Migrationsentscheidung – sei es zu bleiben oder zu kommen – ist hingegen für Interviewpartner_innen aus Spanien und Skandinavien die geographische Distanz. (Siehe Kap. 6.3) Die Entfernung zu dem als Heimatland gedeuteten Herkunftsland ist emotional von großer Bedeutung. Auch für jene Migrant_innen, in deren Erzählungen sich dieses Orientierungsmuster nicht klar erkennen lässt, kann vermutet werden, dass die Frage der räumlichen Entfernung eine Rolle spielte. Häufig werden Australien oder die USA symbolisch und beispielhaft als zu weit entfernte Zielländer einer potenziellen Migration genannt. »Aber in diesem Moment ist das passiert, dass ich meinen Mann kennen gelernt habe. Und habe ich mir gedacht, die Entscheidung is nicht so kompliziert, ich meine die Situation eh war leicht. Wien war in Europa, es war auch nicht, dass man weiß Gott nach Australien oder irgendwohin gegangen ist.« (Marta)
Damit wird deutlich, dass es vornehmlich die als bewältigbar erscheinende geographische Distanz und nicht etwa eine ›kulturelle‹ Distanz ist, die eine innereuropäische Migration erleichtern. Als englischsprachige ›westliche Gesellschaften‹ taugen Australien und die USA nicht unbedingt als Paradebeispiele für die Migration in ein sprachlich und ›kulturell‹ besonders fremdes Land.
90 | »Auch wir sind Migrant_innen «
In einigen Erzählungen wird deutlich, dass eine subjektiv als gering und bewältigbar eingeschätzte Entfernung zwischen dem Herkunfts- und dem Zielland deshalb von so großer Bedeutung ist, da sie den Migrant_innen das Gefühl vermittelt, jederzeit und verhältnismäßig schnell ›nachhause‹ reisen zu können. »Und es ist nicht so weit weg. Wenn ich einmal mehr Urlaub habe und will zum Beispiel alleine fliegen, sind es drei Stunden und ich bin dort. Oder fünf Stunden dann noch mit dem Auto vom Flughafen, aber trotzdem. Also fünf Stunden und ich bin zuhause.«
Ella, eine junge Finnin, bringt diese Argumente, die in ihrem Entscheidungsprozess eine wichtige Rolle spielten. Für sie stellte sich die Frage, ob sie nach einer Zeit als Au-pair-Mädchen weiterhin in Österreich bleiben sollte, zumal sie hier einen jungen Mann kennengelernt und mit ihm eine Intimbeziehung begonnen hatte. 2.2.5 Warum Österreich? Hinsichtlich der Frage, warum die Wahl des Ziellandes auf Österreich bzw. den Raum Wien fiel, lassen sich drei mögliche Gründe unterscheiden; reiner Zufall; der Wunsch, Deutsch zu lernen oder andere, pragmatische Überlegungen. Liebesmigrant_innen und in manchen Fällen auch Arbeitsmigrant_innen haben zumeist nicht die Möglichkeit, sich ein Zielland nach Belieben ›auszusuchen‹. Die Migration wird vielmehr davon bestimmt, ›wo die Liebe hinfällt‹. Für einige der Migrant_innen aus Spanien und Skandinavien, die als Liebesmigrant_innen geblieben sind, stellte aber der Wunsch, Deutsch zu lernen einen (Mit-)Grund dafür dar, sich in einer ersten Etappe als Erasmustudent_in oder Au-pair-Mädchen für Österreich zu entscheiden. Die Entscheidung für Österreich und nicht etwa für Deutschland erfolgte in fast all diesen Fällen, wenn sie nicht ohnehin durch praktische Möglichkeiten determiniert war, auf Basis von vagen Vorstellungen und Stereotypen. Gelegentlich wird die Entscheidung für Österreich damit begründet, dass Österreich »irgendwie sympathischer« erschien als Deutschland. »Weil wir mussten, wir konnten zwischen Düsseldorf und Wien auswählen. Und wir haben uns für Wien entschieden, weil Wien netter klingt als Düsseldorf. Und ja, also deswegen Wien. Und es war wirklich eine sehr wichtige Entscheidung, weil vielleicht wäre ich jetzt in Düsseldorf. ((Lachen))« (Olivia) »Also ahm ja, und Österreich is mir von außer her netter vorgekommen.« (Álvaro)
Lediglich Inés, eine Gesprächspartnerin aus Spanien, entschied sich aufgrund konkreter Vorteile für Wien:
Migration innerhalb Europas | 91 »Und ich wollte Deutsch lernen, Musik studieren und natürlich: Wien, die Stadt der Musik, so ja.«
Wie bereits beschrieben, stellt für Migrant_innen aus Deutschland das Orientierungsmuster ›Leben im Ausland‹ kein primäres Motiv dar, um nach Österreich zuzuwandern. Vielmehr waren es entweder pragmatische Überlegungen (Partnerschaft oder Studienplatz). Auch der Wunsch nach einer Erweiterung des persönlichen Erfahrungshorizonts wird, wie bereits beschrieben, als Motiv genannt. Im Unterschied zu dem Orientierungsmuster eines Lebens im Ausland, ist für sie der Wunsch nach einer »Erweiterung ihres Horizonts« nicht unbedingt an den Wunsch eines Lebens im Ausland geknüpft. Vielmehr geht es ihnen um einen Wechsel des sozialen, beruflichen und urbanen Umfeldes und die Möglichkeit, auf diese Weise neue Erfahrungen zu machen. Dieser Wunsch hätte also theoretisch auch durch eine Migration innerhalb Deutschlands befriedigt werden können. »Es war nur das Bedürfnis mal wegzugehen. Ja, einfach mal so das saubere München, das man so gewöhnt is ((Lachen)), wo man unter einer Käseglocke wohnt, weil ja alles super ist. Das man das mal verlässt und mal über den Tellerrand hinausschaut, das war mir wichtig.« (Lisa)
Manche Interviewpartner_innen aus Deutschland nennen explizit den Wunsch nach dem Leben in einer Großstadt als ihr Motiv dafür, nach Wien zu kommen. Wobei die Frage, wie sehr Wien als Großstadt zu betrachten ist, naturgemäß von der subjektiven Wahrnehmung abhängt. Für andere Interviewpartner, die beispielsweise aus Berlin kamen, macht wiederum gerade die Überschaubarkeit und Ruhe von Wien den Charme dieser Stadt aus. Der aus Dänemark zugewanderte August führt außerdem die geographische Lage Österreichs als einen der Gründe an, warum er sich hier so wohl fühlt: »Aber auch, wenn ich nachdenk, dann find ich schon, da gefällt=s mir eigentlich um einiges besser, weil du kannst so viele Sachen machen. Weil du hast die Berge, ich fahr ja auch Motorrad. Ich fahr ganz gern im Sommer dann wieder Skifahren. Du bist eigentlich in der Mitte von Europa. Du kannst überall hinfahren oder hinfliegen, oder was weiß ich. Und du musst auch nicht weit fahren am Wochenende, dann bist du irgendwo und alles schaut ganz anders aus.« (August)
92 | »Auch wir sind Migrant_innen «
2.2.6 Zukunftsentwürfe Hinsichtlich der erwünschten oder auch konkret geplanten Zukunft lassen sich ebenfalls verschiedene Typen unterscheiden. Die zum Zeitpunkt des Interviews möglichen und erwünschten Zukunftsperspektiven hängen in starkem Ausmaß auch vom Alter der Migrant_innen ab. Einem ersten Typ ist der Orientierungsrahmen Mobilität gemein. Eine Remigration ist weder ausgeschlossen noch explizit erwünscht oder geplant, auch eine weitere Migration in ein anderes (drittes) Land als Option oder Perspektive wird beschrieben. Für andere Interviewpartner_innen ist hingegen eine mögliche Remigration in das Herkunftsland ein vager positiver Horizont in der unbestimmten Zukunft. In einigen Fällen ist dieser vage Orientierungsrahmen durch eine tatsächliche Unzufriedenheit oder durch Probleme in Österreich bedingt. Für Andere jedoch, die ihr Leben in Österreich als sehr zufriedenstellend empfinden, scheint der Orientierungsrahmen einer eventuellen Remigration vielmehr in der Unmöglichkeit, ein ›nie wieder‹ zu denken, begründet: Diese Migrant_innen besuchen ihr Herkunftsland regelmäßig und fühlen sich auch emotional mehr oder minder stark an Orte, Angehörige und Freunde im Herkunftsland gebunden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie die Option einer Rückkehr in das Herkunftsland nicht endgültig ausschließen möchten, ohne dass sie aber diesbezüglich konkrete Pläne machen. Dieser vage Zukunftshorizont einer möglichen Rückkehr wiederum erleichtert den Umgang mit emotionalen Migrationskosten, die durch die starken emotionalen Bindungen an das Herkunftsland bedingt sind. Von diesem ersten Typ können Migrant_innen unterschieden werden, für die eine erwünschte oder erhoffte Remigration einen expliziten positiven Horizont darstellt. Zu diesem Typ zählen vornehmlich Migrant_innen aus Spanien, auch wenn für sie dieses Ziel aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Spanien zumindest in naher Zukunft unrealistisch erscheint. »Leider is es die Situation / Wird ja länger dauern, weil hat schon vor fünf Jahre angefangen und hat sich nix geändert, sondern is alles nur schlimmer gegangen. Und die Leute reden, na in zehn Jahren vielleicht. Mann, wenn die Leute des sagen, das is für mich so, ( ) wirklich zehn Jahre ( ) sag das nicht. - Ich werde hier alt, des kann net sein!« (Diego)
Für andere Gesprächspartner_innen ist eine Remigration oder eine Folgemigration in eine weitere Stadt außerhalb des Herkunftslandes ausgeschlossen, sie wollen in Österreich bzw. in Wien bleiben. Dies trifft auf Migrant_innen aller Altersstufen zu.
Migration innerhalb Europas | 93 »Aber mein Lebensmittelpunkt is jetzt hier. Ich lebe hier aus Überzeugung. Es is wunderschön, es is toll«,
bemerkt beispielsweise Lisa aus Deutschland. Für wieder andere der interviewten Migrantinnen ist die Remigration bereits sicher geplant; für Astrid, die ihren Mann nach Wien begleitete, da er hier ein Postdocstudium absolviert und die nach einer möglichen weiteren Migrationsetappe irgendwo in Europa nach Schweden zurückkehren wollen, und für Sabine, die aufgrund eines Studienplatzes nach Wien kam. 2.2.7 Fazit Was lässt sich nun zusammenfassend und generalisierend für diese Migrant_innengruppe festhalten? Ein wesentliches Ergebnis ist, dass es sich primär um sukzessive, iterative Formen der Migration von alleinstehenden Akteur_innen oder Kernfamilien handelt.77 Die hier dokumentierten Migrationsverläufe entsprechen somit nicht der in den meisten Migrationsmodellen angenommenen ›geradlinigen‹ Migration in Form einer »einmaligen Entscheidung zur Auswanderung, die noch im Ausgangsland getroffen wurde«78. Eine ›traditionelle Meinung‹ die Heinz Faßman folgendermaßen beschreibt: »Wer wandert, verlässt eben ›für immer‹ den Wohnort, lässt sich ›für immer‹ im Zielort nieder, schaut nicht zurück, sondern ›vorwärts‹ und wird danach trachten, über kurz oder lang zu einem perfekt angepassten Teil der Gesellschaft zu werden.«79
Vielmehr bestehen die Migrationsbiographien aus einer Abfolge von Zufällen, aus für einen beschränkten Zeitraum getroffenen Entscheidungen in Kombination mit individuellen Orientierungsmustern. Die Migrationsetappen sind eher als »Durchgangsstationen in einem größeren biographischen Zusammengang« denn als »Endstationen« zu beschreiben.80 Somit verweisen auch die Ergebnisse dieser Untersuchung auf die These, die u.a. Elisabeth Scheibelhofer vertritt, wonach Migration als
77 Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt auch Elisabeth Scheibelhofer in einer qualitativen Studie zu Migrant_innen aus Österreich, die in die USA ausgewandert sind. Scheibelhofer 2001, bes. 178 ff. Vgl. auch Mau 2007, 130 f. 78 Mau 2007, 130. 79 Faßmann 2003, 430. 80 Mau 2007, 130.
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»eine kontinuierliche Entwicklung« zu verstehen ist, »die in der ersten Generation kaum abgeschlossen wird«81. Ein Vergleich der hier dargestellten Typen zwischen den untersuchten Migrationsgenerationen zeigt außerdem eine deutliche Zunahme hypermobiler Migrant_innen seit den 1990er Jahren und vor allem seit den 2000er Jahren. Somit bestätigt auch die vorliegende Untersuchung, dass die Grenze zwischen temporärer und permanenter Migration zunehmen fließend ist.82 Auch die Tatsache, dass einige der Gesprächspartner_innen zunächst im Zuge eines Studien- bzw. Erasmusaufenthalts nach Österreich kamen, scheint im Kontext der Ergebnisse anderer (quantitativer) Studien interessant. Diese lassen den Schluss zu, dass »die internationale Bildungsmobilität ein Katalysator transnational orientierter Lebensentwürfe ist«83. Die rekonstruierten Typen von Migrant_innen hinsichtlich ihrer Gründe und Motive verdeutlichen außerdem, dass es durchaus sinnvoll ist, den Fokus nicht immer und ausschließlich auf bestimmte ›Klassen‹ oder Typen von Migrant_innen zu legen, d.h. also etwa ausschließlich Arbeitsmigrant_innen zu untersuchen. Die Mehrheit der innereuropäischen Migrant_innen lassen sich nämlich nicht allein einem Typ zuordnen. Derart beschränkte Forschungskonzeptionen laufen daher Gefahr, die Buntheit und Vielfalt innereuropäischer Migrationsbiographien zu ›übersehen‹. Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen demnach auch die Annahme Roland Verwiebes, dass »innereuropäische Mobilität als ein selbstreferenzieller, multidimensionaler und zeitabhängiger Prozess zu betrachten ist«84.
81 Scheibelhofer 2001, 27. 82 Vgl. dazu z.B. auch King 2002, 92. 83 Mau 2007, 147. 84 Verwiebe 2006b, 156 ff.
3
›Doing Culture‹ – Kulturelle Praxis statt Kultur als Substanz
Im Folgenden möchte ich zunächst das dieser Studie zugrunde liegende Verständnis von Kultur erläutern, da dies die Basis aller weiteren Diskussionen darstellt. Kann eine historisch-sozialwissenschaftliche Studie in der Gemengelage ihrer empirischen Daten ›kulturelle Praktiken‹ von sozialen oder ökonomischen Daten trennscharf unterscheiden? Welche sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepte liegen dazu vor, welches eignet sich insbesondere für die Erforschung der hier untersuchten Formen der Migration und korrespondiert mit den Erzählungen meiner Gesprächspartner_innen? In diesem Zusammenhang werde ich auch der Frage nachgehen, welche Bedeutung Migrant_innen der ›Kultur‹ bzw. dem ›Kulturellen‹ zuweisen, wenn sie von ihren Migrationserlebnissen erzählen. Was unterscheidet das sozial- und kulturwissenschaftliche Konzept der ›Alltagskultur‹ von der subjektiven Wahrnehmung des Kulturellen seitens der Migrant_innen?
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3.1 KULTURKONZEPTE DER SOZIAL- UND KULTURWISSENSCHAFTEN Im Gegensatz zu objektivistischen, essentialistischen1 und substantialistischen Bestimmungen2 heben die rezenten Sozial- und Kulturwissenschaften den »dynamischen, diskursiven, prozessualen Charakter jeder Kultur«3 hervor. Neben ihren sozialen und ökonomischen Aspekten ist Migration auch immer eine kulturelle Praxis, da die Akteur_innen ihr Migrationshandeln an seinen Bedeutungen orientieren, die erfahrenen Veränderungen ihrer Lebenslage und ihrer Lebenschancen vergleichen, bewerten und nicht zuletzt darüber erzählen. So wie Migration diverse Veränderungen mit sich bringt, ist alles Kulturelle »relational, situativ, interaktiv und temporär«4. Was wir im Common Sense als eine ›bestimmte Kultur‹ bezeichnen, ist demnach eine mehr oder minder ideologische Konstruktion. Sie ist das gleichsam eingefrorene ›Standbild‹ eines Geschehens, das niemals zum Stillstand kommt. Jede Kultur hat Geschichte, ist aus unterschiedlichsten Einflüssen und Elementen gewachsen, verändert sich aktuell und wird sich in Zukunft weiter wandeln: »Kulturen sind keine homogenen Einheiten. Sie bestehen aus Selbstdefinitionen und Symbolisierungen, die ihre Mitglieder im Laufe ihrer Beteiligung an komplexen sozialen und bedeutungsgebenden Praktiken hervorgebracht haben. Kulturelle Praktiken erreichen selten den Grad an Kohärenz und Klarheit, die Theorien aus ihnen destillieren.«5
Kultur ist – so ist eingangs der Untersuchung von Migration resümierend festzuhalten – ein infiniter und inhomogener ›Prozess‹, der durch Praktiken des Deutens,
1
»By ›cultural essentialism‹ I mean a system of belief grounded in a conception of human beings as ›cultural‹ (and under certain conditions territorial and national) subjects, i.e. bearers of a culture, located within a boundaried world, which defines them and differentiates them from others.« Ralph Grillo, Cultural Essentialism and Cultural Anxiety. In: Anthropological Theory 3/2 (2003), 157-173; 158.
2
Vgl. dazu z.B. Welsch 2012, 25; 32 ff.; Kimmich/Schahadat 2012, 7 f.
3
Straub 2003, 555. Vgl. auch Klaus Lösch, Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 26-49; 33 ff.; Bade 2007, 5. Er verweist in diesem Kontext im Speziellen auf den Prozesscharakter von Kulturen in Einwanderungsgesellschaften.
4
Straub 2003, 555.
5
Seyla Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. (Frankfurt am Main 1999), 49. Vgl. dazu auch Eagleton 2009; Straub 2003, 555 f.
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Ausdrückens oder auch des mehr oder minder konfliktiven oder gar gewaltsamen Durchsetzens einer Bedeutung zwischen Menschen vorangetrieben wird. Um das für die vorliegende Studie am besten geeignet scheinende Verständnis von Kultur im Detail darzulegen, möchte ich im Folgenden, an diesen Überlegungen ansetzend, zwei kompatible Konzepte verknüpfen: das Konzept von Kultur als Orientierungsschema und das Konzept von Kultur als Praxis, d.h. als die prozessuale Hervorbringung und Symbolisierung von Bedeutungen. Kultur als Orientierungsschema Auf der kognitiven Ebene ›verortet‹, fungiert Kultur als Orientierungsschema oder als ›kollektives Orientierungssystem‹, von dem Menschen Gebrauch machen und an dem sie gestaltend beteiligt sind.6 In diesem Sinn argumentiert u.a. Alexander Thomas: »Kultur ist ein universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft usw. tradiert. Es beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller Mitglieder und definiert deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Kultur als Orientierungssystem strukturiert ein für die sich der Gesellschaft zugehörig fühlenden Individuen spezifisches Handlungsfeld und schafft somit die Voraussetzungen zur Entwicklung eigenständiger Formen der Umweltbewältigung.«7
Folgen wir dieser bei Thomas allerdings in Hinsicht auf den Gesellschaftsbegriff ungenau formulierten Auffassung, erscheint ›Kultur‹ oder ›das Kulturelle‹ als eine »gewisse mentale (Vor-)Programmierung des Denkens, Fühlens und Handelns von Individuen, die einer Kultur-Gemeinschaft angehören«8. Das Kulturelle an der Praxis der Menschen kann dann mit Hans-Jürgen Lüsebrink auch als »software of the mind« beschrieben werden.9 Demgemäß können ›kulturelle Unterschiede‹ als wahrgenommene, gefühlte oder auch unbewusst bleibende Differenzen in wiederkehrenden Deutungsmustern definiert werden:
6
Vgl. dazu z.B. Lüsebrink 2012, 21; Jochen Roose, Der Index kultureller Ähnlichkeit. Konstruktion und Diskussion. BSSE (Berlin Studies on the Sociology of Europe) Arbeitspapier 21 (Berlin 2010).
7
Alexander Thomas, Interkulturelle Kompetenz. Grundlagen, Probleme und Konzepte. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 243-274; 245 f.
8
Lüsebrink 2012, 11.
9
Lüsebrink 2012, 11. Vgl. auch Swidler 2003, 6; Ann Swidler, Culture in Action. Symbols and Strategies. In: American Sociological Review 51/2 (April 1986), 273-286.
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»Kulturelle Unterschiede betreffen die für eine Kultur typischen Muster der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handelns. [...] Konflikte, Missverständnisse und Probleme ergeben sich, wenn handlungsleitende Werte (z.B. Zeitverständnis oder Einstellung zur Autorität) zwischen Kommunikationspartnern verschieden sind.«10
In Anlehnung an Henrike Evers11 kann auch auf das Konzept der »konjunktiven Erfahrungsräume« nach Ralf Bohnsack12 verwiesen werden, um die Genese von ›Kultur‹ in diesem Verständnis zu erklären. »Konjunktive Erfahrungsräume« sind »von mehreren Personen geteilte Erlebenswelten, die zur Ausbildung von dem Erleben zugrunde liegenden gemeinsamen Orientierungen führen«13. Dies erklärt, wie aus dem individuellen Erleben kollektive Orientierungsmuster etabliert und reproduziert werden können, wie Kulturelles als etwas von Vielen Geteiltes, Verbindendes, Konjunktives ›entsteht‹. Daraus folgt, dass die Zugehörigkeit zu ›einer Kultur‹ nicht durch Faktoren wie die formale Staatsbürgerschaft oder eine oktroyierte Ordnung des Staates oder der Religion bedingt sind, sondern durch »innere Übereinstimmung und geteilte Erfahrungen«14. Kultur als soziale Praxis und als Kommunikation Wenn eine ›software of the mind‹ kulturelle Orientierungsmuster erzeugt, die handlungsleitend sind, verknüpft sich die kognitive Ebene des Wahrnehmens, Handelns und Deutens mit der sozialen Ebene der Interaktion, also mit sozialer Praxis. »Kultur als Praxis verbindet das Kulturelle mit dem Sozialen. Wie und was wir essen, wie und was wir arbeiten, wie und wen wir heiraten, ist aus dieser Perspektive weder eine rein kulturelle noch eine rein soziale Angelegenheit [...].«15 So verstanden, erfassen wir mit dem Konzept Kultur »ein soziales [...] praktisches Geschehen und dessen perspektivenabhängige, symbolisch-diskursive Repräsentationen«16. In diesem Sinne argumentiert auch Stuart Hall, wenn er kurz und bündig schreibt, »Kul-
10 Lüsebrink 2012, 31. Vgl. auch Richard Nisbett, The Geography of Thought. How Asians and Westerners think differently … and why. (New York 2003). 11 Evers 2009. 12 Bohnsack verwendet den Terminus Kultur jedoch nicht. Vgl. dazu auch Evers 2009. 13 Evers 2009, 4. 14 Evers 2009, 4. Vgl. auch Klaus Eder, Das Paradox der ›Kultur‹. Jenseits einer Konsenstheorie der Kultur. In: Paragrana Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 3/1 (1994), 148-173. 15 Karl H. Hörning/Julia Reuter, Doing Culture. Kultur als Praxis. In: Karl H. Hörning/Julia Reuter, Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. (Bielefeld 2004), 10. 16 Straub 2003, 556.
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tur ist gelerntes und geteiltes Verhalten«17. Ein wesentlicher Träger oder das Medium dieses »gelernten und geteilten Verhaltens« ist Kommunikation und Interaktion. Hall geht sogar so weit zu sagen: »Kultur ist Kommunikation und Kommunikation ist Kultur«.18 Kommunikation umfasst zum einen die Sprache und das Sprechen, geht aber weit darüber hinaus. Kultur drückt sich vielmehr in allen Bereichen der kommunikativen Praxis aus. So haben besonders auch para-verbale Kommunikation (Intonation, Sprachrhythmus, Lautstärke, Tempo usw.) und non-verbale Kommunikation (Gestik, Mimik, Proxemik sowie non-verbale Handlungen) »kulturspezifische Bedeutung und kulturspezifischen Stellenwert«19. Ergänzend ist zu betonen, dass Kultur als ›software of the mind‹ oder als »Repertoire«20, aber auch als soziale Praxis individuell sehr unterschiedlich ›angewandt‹ oder ›eingesetzt‹ wird. Die Deutung der jeweils verfügbaren und für die Akteur_innen zugänglichen kollektiven Orientierungsschemata erfolgt selektiv und mitunter sehr differenziert. Kultur als soziale Praxis ist demnach immer (auch) individuelle Praxis. Wie ein Subjekt gemäß eines kulturellen Orientierungsschemas kommuniziert und interagiert, hängt von seinen Dispositionen, von aktuellen Situationen und Problemlagen sowie von den Beziehungen und Bindungen zwischen den interagierenden Partner_innen ab.21 Kultur ist nicht kongruent mit dem Nationalstaat Kultur ist, wie aus dem bisher Gesagten deutlich hervorgeht, nicht mit einem staatlich oder sonst wie verfassten und verwalteten Gemeinwesen gleichzusetzen. Schon gar nicht endet sie an den Grenzen des modernen Staates, dessen Bürger_innen bekanntlich zahlreiche Deutungen, Interpretationen und Artefakte über Massenmedien teilen, die ›international‹, ›transnational‹, ›transkontinental‹ oder gar ›global‹ sind.22 Dies sei auch kritisch gegen die Diskussionen um eine sogenannte ›Leitkultur‹ angemerkt.23 Eine objektive und normative Beschreibung einer bestimmten, abgrenzbaren oder gar als ›offiziell‹ privilegierten Kultur ist nach den eben skizzierten
17 Hall 1981, 47. Vgl. auch Hubert Knoblauch, Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. In: Ilja Srubar/Joachim Renn/Ulrich Wenzel (Hrsg.), Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen. (Wiesbaden 2005), 172194; Breidenbach/Zukrigl 1998, 14 ff. 18 Hall 1981, 47. 19 Lüsebrink 2012, 49 ff. Vgl. auch Guy Deutscher, Through the Language Glass. Why the World looks different in other Languages. (London 2011). Vgl. dazu auch Kapitel 4.1.2. 20 Vgl. Swidler 2003, 24 ff. 21 Swidler 2003, 6 ff.; 15 ff.; 31 ff. 22 Vgl. z.B. Straub 2003, 544 ff.; Beck 1997, bes. 49. 23 Vgl. z.B. Grote 2011, 25 ff.
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Überlegungen unmöglich. Wie gesagt: Kultur ist an sich ein Hybrid,24 Kulturen sind, mit Bernd Wagner gesprochen, »Bastarde«25. Das aber bedeutet auch, dass Menschen, Migrant_innen, Flüchtlinge, nicht kurzerhand auf ›die Kultur‹, aus der sie ›kommen‹, zu reduzieren sind. Darauf hat auch Jürgen Straub hingewiesen: »Ob und in welcher Weise das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln von Menschen als kulturspezifische Phänomene betrachtet werden können und sollten, ist [...] nicht von vornherein – alleine durch die vermeintlich (!) vorab feststehende kulturelle Zugehörigkeit der betreffenden Person – ausgemacht.«26
Kultur ist (auch) implizites Wissen und gewinnt Relevanz im Kontakt mit Anderem und Fremdem Ein weiterer Aspekt des hier umrissenen Kulturkonzepts ist, dass es sich dabei nicht nur um explizites, sondern auch, wenn nicht sogar überwiegend, um implizites Wissen handelt. Jürgen Straub benutzt in diesem Zusammenhang den von Michael Polanyi geprägten Begriff des »tacit knowledge« oder des »tacit knowing«: »Zu einem großen Teil besitzt kulturelles, handlungs- und interaktionsleitendes Wissen die Gestalt eines tacit knowledge.«27 Es ist das Resultat eines in der Kindheit beginnenden unbewussten Lernprozesses.28 Kultur und Sozialisation29 sind daher aufs Engste miteinander verbunden. Orientierungsmuster legen fest, was in einem bestimmten Kontext oder in einer bestimmten Gesellschaft als wünschenswert oder als unerwünscht gilt.30 Zugleich ist die kulturelle Praxis (das Wahrnehmen, Deuten, Interpretieren und Handeln) der Weg, über den Handlungsmuster tradiert und perpetuiert werden.
24 Vgl. dazu Kimmich/Schahadat 2012, 7 f.; Reinprecht/Weiss 2012, 21 f. 25 Bernd Wagner, Kulturelle Globalisierung. Von Goethes ›Weltliteratur‹ zu den weltweiten Teletubbies. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12 (2002), 11. Online unter: www.bpb. de/apuz/27022/kulturelle-globalisierung?p=all (2.10.2018). 26 Straub 2003, 559. 27 Straub 2003, 554. 28 Zur Enkulturation siehe Breidenbach/Zukrigl 1998, 14 ff.; Gisela Trommsdorff, Kultur und Sozialisation. In: Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Handbuch Sozialisationsforschung. (Weinheim 2008), 229-239; 229 ff. 29 Sozialisation kann verstanden werden als »das Zusammenwirken von Individuum, sozialen Gruppen und Institutionen. [...] Mit dieser Definition werden alle Handlungen der an der Sozialisation beteiligten Personen, Gruppen und Institutionen sowie die Bedingungen und Wirkungen dieser Handlungen berücksichtigt« Trommsdorff 2008 (Anm. 28), 229. Vgl. auch Gergen 1996, 31 ff.;127 ff. 30 Trommsdorff 2008 (Anm. 28), 231 ff.
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Die erlernten kollektiven Orientierungsschemata, Deutungsmuster und Verhaltensweisen erscheinen dem Akteur/der Akteurin im Alltagshandeln zumeist als natürlich und selbstverständlich. Insofern ist das Bewusstsein in ihrem Alltagsleben ideologisch. Erst durch den Kontakt und durch die Interaktion mit ›anderen Kulturen‹ (also mit anderen Deutungs- und Verhaltensmustern) wird ihnen bewusst, dass ihre Orientierungsschemata nicht selbstverständlich, sondern spezifisch sind; erst dann werden sie als ›die eigene Kultur‹ thematisiert und reflektiert.31 Oder in der Formulierung Straubs: »Das kulturelle Selbstverständnis von Individuen und Kollektiven ist nur im Spiel der Differenzen artikulierbar: In Abgrenzung des Eigenen von (mehr oder weniger einflussreichem) Anderen und Fremden.«32 Ann Swidler macht darauf aufmerksam, dass genau darin eine Ursache dafür zu suchen ist, dass das Kulturelle so leicht und so oft für das Natürliche gehalten wird: »The culture we fully accept does not seem like culture, it is just real life. The difficulty of studying culture stems from this: that when culture fully takes, it so merges with life as to be nearly invisible.«33 Dies beschreibt auch Hall mit der anschaulichen Metapher von der »Schwierigkeit des Menschen, aus seiner kulturellen Haut zu steigen«: »Die meisten Menschen sind sich der komplexen Verhaltensmuster nicht gewahr, die den Umgang mit Zeit, räumlichen Verhältnissen, Vorstellungen von Arbeit, Spiel und Lernen bestimmen.«34 Alltagskultur kann daher als vermeintlich selbstverständlich gegebene und unhinterfragte Lebenswirklichkeit, als Doxa im Sinne Pierre Bourdieus, beschrieben werden. Beginnt ein Akteur/eine Akteurin das Kulturelle bewusst wahrzunehmen, zu reflektieren oder zu hinterfragen, tritt er/sie aus der Doxa heraus. In diesem Moment wird aus der Doxa Heterodoxie, oder aber im Kontext von Nationalismus, Religion und Rassismus: Orthodoxie. Wird sich ein Akteur/eine Akteurin der Konfrontation mit dem Fremden der eigenen (Alltags-)Kultur gewahr und beginnt er/sie Deutungsmuster und Verhaltensweisen zu reflektieren, setzt er/sie einen Prozess des eigenen kulturellen Lernens in Gang. Dieser Lernprozess kann unterschiedliche Formen annehmen und unterschiedliche Folgen haben. Er kann zur Ablehnung des Fremden und zur Glorifizierung des ›Eigenen‹ führen (Nationalismus, Rassismus) oder aber zu Neugierde und Offenheit, die interkulturelles Lernen ermöglichen. Ein solches interkulturelles Lernen ist die
31 Vgl. z.B. Klaus Lösch, Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 26-49; 33 ff. 32 Straub 2003, 557. 33 Swidler 2003, 14. 34 Edward T. Hall, Was ist Kultur? In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 227243; 228. Vgl. auch Hall 1981, 72 ff.
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»Fähigkeit [...] im Umgang mit fremden Menschen einer anderen Kultur deren spezifisches Orientierungssystem der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handelns zu verstehen, in das eigenkulturelle Orientierungssystem zu integrieren und auf ihr Denken und Handeln im fremdkulturellen Handlungsfeld anzuwenden.«35
Doch auch dann bleiben freilich Elemente der Herkunftskultur weiterhin bedeutsam. Wie Alexander Thomas argumentiert, wird die eigene Kultur just dann wirksam, wenn sich für das Subjekt oder ein Kollektiv in einer herausfordernden neuen Situation (beispielsweise infolge von Migration) erhöhte Unsicherheiten einstellen: Das in der Enkulturation Gelernte bleibt bestehen und liegt stets als »Notfallgepäck« bereit. »Zum Einsatz kommt es, wenn die interkulturelle Kompatibilität und Vielfalt und die damit verbundenen kognitiven Anforderungen und emotionalen Belastungen so stark zunehmen, dass den Akteur nur noch ein einfaches, routinemäßiges Beherrschtes und Gelerntes vor dem drohenden Orientierungsverlust retten kann.«36
3.1.1 Kulturkonzepte in der vorliegenden Studie Dieser Arbeit liegt aus wissenschaftstheoretischer Perspektive ein anti-essentialistisches Kulturkonzept zugrunde. Kultur wird nicht als Entität, sondern als dynamische und prozesshafte Praxis, als ›Doing Culture‹, verstanden.37 Diese Praxis kann auf zwei Ebenen ›verortet‹ werden: auf der kognitiven Ebene der kollektiven Orientierungsmuster und als von den Orientierungsmustern angeleitete soziale Praxis. Als kollektives Orientierungsschema stellt Kultur nicht nur explizites, sondern oft auch implizites Wissen bereit, das erst durch den Kontakt mit anderen oder fremden Mustern bewusst und reflektierbar wird. Zugleich ist die Deutung, ›Umsetzung‹ und ›Nutzung‹ des Kulturellen in Abhängigkeit von einer Reihe von Variablen unterschiedlich. »Der theoretische Begriff Kultur verweist stets auf eine variable Mehrzahl von Personen, die in ein gemeinsames, strukturell, funktional und inhaltlich bestimmbares Bezugsgewebe aus
35 Lüsebrink 2012, 75; 73 ff. 36 Alexander Thomas, Interkulturelle Kompetenz. Grundlagen, Probleme und Konzepte. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 243-274; 263. 37 Vgl. auch Ruokonen-Engler 2012, 91: »Demzufolge ist es Zeit, nicht mehr nach den roots, sondern vielmehr nach den routes des kulturellen Gewordenseins zu fragen.«
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kollektiven Selbst- und Weltauffassungen, Deutungen und Orientierungen, Wirklichkeitsdefinitionen und Praktiken eingebunden sind.«38
Was also beispielsweise von einem Besucher Kopenhagens im Common Sense als ›dänische Kultur‹ wahrgenommen und im Alltagsdiskurs so bezeichnet wird, kann nach den vorgelegten Argumenten präziser beschrieben werden: Die sogenannte ›dänische Kultur‹ ist (anders als der alltägliche Sprachgebrauch suggeriert) kein fester Bausatz an Kulturtechniken oder Artefakten, sondern eine gewisse Schnittmenge an Orientierungsschemata, Deutungsmustern und Verhaltensweisen, die Individuen beherrschen und die sie praktisch leben. Auch dabei gilt Polanyis These, dass nicht nur bewusstes Wissen, sondern auch »tacit knowledge«, im konjunktiven Erfahrungsraum der Gesellschaft verinnerlicht wird.
3.2 DAS SOZIAL- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE KONZEPT DER TRANSKULTURALITÄT Um das Resultat von ›Kulturkontakten‹, die Vermischung und das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen (verstanden im eben dargelegten Sinn) zu beschreiben und zu untersuchen, liegen eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Konzepte vor. Tauglichkeit und Implikationen dieser theoretischen Modelle werden in der Literatur kontrovers diskutiert. Als Konzept, das mir im Einklang mit den Erzähltexten für die vorliegende Studie am geeignetsten erscheint und das ich daher für die Erklärung von Formen und Wirkungen der Migration für am tauglichsten halte, möchte ich im Folgenden kurz das Konzept der Transkulturalität vorstellen. Im Kontext der Diskussion zu Transnationalität und ›transnationalen Sozialräumen‹ werde ich später noch einmal im Detail darauf zurückkommen. (Siehe Kap. 6) Ebenso wie der im vorigen Abschnitt diskutierte Begriff von Kultur bzw. vom Kulturellen, ist auch Transkulturalität ein mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen verwendeter Begriff. Der Terminus Transkulturalität kam, ähnlich wie der Begriff Transnationalität, in den 1990er Jahren in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung im Kontext des Globalisierungsdiskurses auf. Im deutschsprachigen Raum wurde das Konzept im Rahmen der philosophischen (u.a. bei Wolfgang Welsch), soziologischen (u.a. bei Ulrich Beck) und anthropologischen (u.a. bei Ulf Hannerz) Globalisierungsforschung aufgegriffen und weiterentwickelt. Dabei ging der Begriff Transkulturalität aus der Kritik an Konzepten des Inter-, Multi- und
38 Straub 2003, 554.
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Plurikulturalismus hervor.39 Im Gegensatz zu diesen heute als veraltet betrachteten Konzepten geht Transkulturalität nicht mehr von gegeneinander abgrenzbaren Kulturen aus. Vielmehr verweist das ›Trans-‹ auf die stets vorliegenden ›Durchdringungen und Verflechtungen‹. Der Begriff Transkulturalität hat daher aus meiner Sicht zu Recht den Begriff Interkulturalität abgelöst. Als einer der Ersten kritisierte der Philosoph Wolfgang Welsch am Modell der Interkulturalität, dass es klar voneinander abgegrenzte Kulturen unterstellt und in dieser Hinsicht auf das Kulturverständnis des 18. Jahrhunderts nach Johann Gottfried Herder zurückgeht. In Herders »traditionalem Kugelmodell von Kultur«40 stellen Kulturen klar abgrenzbare Entitäten dar. Welsch wiederum kritisierte diese Fixiertheit und die starre Außengrenze von Kultur im Herder’schen Sinn: Wie quasi geschlossene Kugeln müssen einander verschiedene Kulturen abstoßen oder gar bekämpfen.41 Austausch oder Kontakt sind in dieser Vorstellung nur an den Außengrenzen der Kultur möglich und führen zu keiner Veränderung in deren Inneren. Interkulturalität kann somit zu Dialog oder Auseinandersetzung führen, nicht aber zu etwas Neuem.42 Dem stellt Welsch das Modell der Transkulturalität gegenüber:
39 Zur Kritik an dem Terminus der Interkulturalität vgl. Kimmich/Schahadat 2012, 7 f. Vgl. auch Welsch 2012, 25 ff.; Han 2005, 56 f. Zum Konzept des Multikulturalismus vgl. Lars Allolio-Näcke, Multikulturalität. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 151155; Slavoj Zizek, Das Unbehagen im Multikulturalismus. In: Das Argument 224 (1998), 51-63. Gleichzeitig wird das Konzept des Mulitkulturalismus nicht nur als ein Analysemodell verwendet, sondern es impliziert vielfach auch eine sozio-politische Forderung bzw. ein sozio-politisches Verhaltensmodell. Vgl. dazu Grote 2011; Reinprecht/Weiss 2012, 18 f.; Bloemraad/Korteweg/Yurdakul 2011, 24 f.; Rainer Bauböck, Farewell to Multiculturalism? Sharing values and identities in societies of immigration. In: IWE (Forschungsstelle für Institutionellen Wandel und europäische Integration) Working Paper 23 (Dezember 2001). Das rezentere Konzept der Hybrid-Kulturen befasst sich, wie der Name sagt, mit der Verschmelzung und Vermischung unterschiedlicher Kulturen. Die Kritik an diesem Begriff hebt jedoch hervor, dass ein Konzept von Hybrid-Kulturen unterstellt, es gebe ›reine‹ Kulturen, wo doch eigentlich jede Kultur ein Hybrid ist. Vgl. Hein 2006, 57 ff. Zum Konzept der Transdifferenz vgl. Lars Allolio-Näcke/Britta Kalscheuer, Wege der Transdifferenz. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 1526; Britta Kalscheuer, Die raum-zeitliche Ordnung des Transdifferenten. In: AllolioNäcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 68-85; Christoph Keit/Lars Allolio-Näcke, Erfahrungen der Transdifferenz. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005, 104-117. 40 Welsch 2012, 26 ff. 41 Vgl. dazu Welsch 2012, 26; 32 ff.; Kimmich/Schahadat 2012, 7 f. 42 Vgl. z.B. Han 2005, 56 f.; Welsch 1999, 194-213.
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»Transkulturalität will, dem Doppelsinn des lateinischen trans- entsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und dass dies eben insofern der Fall ist, als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Es geht mir um ein Kulturkonzept, das auf die Verhältnisse des 21. Jh. zugeschnitten ist. Das neue Leitbild sollte nicht das von Kugeln, sondern das von Geflechten sein.«43
Welsch argumentiert weiters, dass ›kulturelle Differenzen‹ nicht zwischen Gesellschaften bestehen, sondern (auch) innerhalb von Gesellschaften. Transkulturalität ›betrifft‹ deshalb nicht nur Migrant_innen, sondern vielmehr alle Individuen der Spätmoderne.44 Kritiker des Konzepts der Transkulturalität werfen ein, dass es »in seiner Komplexität empirisch bisher noch nicht hinreichend erfasst«45 sei. Auch liege ihm kein »ausreichend ausgereiftes Kulturmodell zugrunde« und »die Diskussion dieser kulturtheoretischen Positionen [habe M.N.] bis jetzt keinen Eingang in die aktuellen methodologischen Debatten der Transnationalen Studien gefunden«46. Aber auch wenn es möglicherweise noch an empirischen Studien mangelt, eignet sich das Konzept der Transkulturalität für meine Forschungsarbeit dennoch gerade durch den Fokus auf sich in den Erzählungen auf vielfältige Weise manifestierende Verflechtungen und Konfluenzen, die es zu erfassen und zu untersuchen gilt.
3.3 BEDEUTUNG UND DEUTUNG VON ›KULTUR‹ IN DEN ERZÄHLTEXTEN Schon ein erstes Lesen der Erzähltexte zeigt eine beträchtliche Differenz zwischen wissenschaftstheoretischen Konzepten und dem Alltagsdenken meiner Gesprächspartner_innen. Nachdem ich eben dargelegt habe, wie Kultur- und Sozialwissenschaften Kultur ›denken‹ und insbesondere wie sie den Kontakt oder die Vermi-
43 Welsch 2012, 30. Vgl. auch Welsch 1999; Richter/Nollert 2014, 461 ff. 44 Welsch 2012, 30 ff. 45 Katrin Hauenschild/Meike Wulfmeyer, Transkulturelle Identitätsbildung. Ein Forschungsprojekt. In: Asit Datta (Hrsg.), Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion. (Frankfurt am Main 2005), 183-201; 183. 46 Anna Amelina, Jenseits des Homogenitätsmodells der Kultur. Zur Analyse von Transnationalität und kulturellen Interferenzen auf der Grundlage der hermeneutischen Wissenssoziologie. In: Richard Bettmann/Michael Roslon (Hrsg.), Going the Distance. Impulse für die interkulturelle Qualitative Sozialforschung. (Wiesbaden 2013), 35-61; 36.
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schung der Kulturen konzipieren, wende ich mich daher nun der Frage zu, welche Bedeutung der Kultur und kulturellen Unterschieden im Common Sense der Gesprächspartner_innen zukommt. Ich wechsle also von den Begriffen der Beobachter auf die Seite der Beobachteten. Wie sehen sie ihre Kulturalität, welche Begriffe finden sich in ihren Erzählungen? Welche Bedeutung messen sie einer solchen Kulturalität bei? Wie sich zeigt, werden ›kulturelle Unterschiede‹ von den interviewten Migrant_innen immer wieder als Deutungsmuster herangezogen. Drei Typen lassen sich dabei anhand des empirischen Materials unterscheiden: Erstens, Gesprächspartner_innen, für die Kultur und kulturelle Unterschiede ein ganz wesentliches Deutungsmuster für Fremdheitserfahrungen, Schwierigkeiten und Lernprozesse darstellen. Diese Erzähler_innen benutzen in ihren Erzählungen und Argumentationen immer wieder auch explizit den Terminus Kultur. Zweitens, Gesprächspartner_innen, für welche dieselben Deutungsmuster relevant sind, die diese aber nicht explizit als ›kulturell‹ benennen. Schließlich kann, drittens, eine Gruppe von Gesprächspartner_innen unterschieden werden, für die Kultur und kulturelle Unterschiede keine dominierenden Deutungsmuster darstellen. Das bedeutet jedoch nicht, dass kulturelle ›Phänomene‹ im Sinn der oben vorgestellten Definition keine Rolle in ihren Erzählungen spielen würden, sondern lediglich, dass die Interviewpartner_innen selbst nicht explizit auf diese Konzepte referenzieren. Bemerkenswert scheint, dass die Herkunft der Migrant_innen diesbezüglich keine Unterschiede macht. Kultur und kulturelle Differenzen sind sowohl für Migrant_innen aus Skandinavien und Spanien, als auch aus Deutschland wesentliche Deutungsmuster.47 Das ›Ausmaß‹ dieser kulturellen Unterschiede wird jedoch divergierend wahrgenommen und bewertet. Vor allem die Einwander_innen aus Deutschland unterscheiden sich darin deutlich von den anderen Gesprächspartner_innen, indem sie sehr heterogene Wahrnehmungen beschreiben. Michael, Mitte der 1990er Jahre aus Deutschland nach Österreich zugewandert, verweist zwar durchaus auf kulturelle Unterschiede zwischen »Deutschen« und »Österreichern«, hält sie aber nicht für gravierend: »Vom Kulturkreis seh ich da keine großen Unterschiede. Die Österreicher kopieren die Gewohnheiten der Deutschen und umgekehrt ist es, glaub ich, auch schon so. Es vermischt sich alles.«
Katharina und Lisa hingegen, 2004 und 2006 ebenfalls aus Deutschland nach Österreich zugewandert, nehmen die Differenzen als gewichtiger wahr: 47 Auch Sinntypen lassen sich diesbezüglich keine rekonstruieren, das Bildungsniveau der interviewten Migrant_innen spielt in diesem Kontext ebenfalls keine Rolle.
›Doing Culture‹ | 107 »Ganz am Anfang hab ich eigentlich geglaubt, das haben wahrscheinlich viele Deutsche, na is ja eh nicht so anders wie bei uns. Und ich kann jetzt gar nicht genau, ad hoc zumindest, festlegen, woran ich=s festmach irgendwie. Aber es gibt doch einfach Unterschiede, ja.« (Katharina) »Und ich musste dann aber relativ schnell feststellen, dass es doch viele Unterschiede gibt einfach, die einfach da sind. Wir haben zwar die gemeinsame Sprache, aber es gibt wirklich viele Unterschiede. Und am Anfang war=s nicht so einfach für mich. Das war eine schwierige Zeit, wo ich dann nach einem halben, dreiviertel Jahr eigentlich gedacht hab, ich brech die Brücken hier wieder ab.« (Lisa)
Für Lisa waren diese »Unterschiede« demnach während ihrer ersten Zeit in Wien sogar ein Grund dafür, ernsthaft über Remigration nachzudenken. Heute, nachdem sie diese erste Phase gemeistert hat und mit ihrem Leben in Österreich überaus zufrieden ist, deutet sie die ›unterschiedlichen Kulturen‹ völlig anders. Aus ihrer gegenwärtigen Situation heraus beschreibt sie die Differenz als positiv und als Chance, ihren persönlichen Erfahrungshorizont zu erweitern. Und zwar ohne dafür geographisch weite Distanzen zurücklegen zu müssen: »Ist nicht der riesen Schritt, wie wenn man jetzt nach Australien geht, oder Neuseeland, oder nach China, keine Ahnung. Aber du hast halt die Möglichkeit, dich mit=ner anderen Kultur auseinanderzusetzen, auf einem einfacheren Weg sag ich jetzt mal.«
Auch die interviewten Migrant_innen aus Skandinavien und Spanien beschreiben ihre Wahrnehmung des ›Ausmaßes‹ der kulturellen Unterschiede individuell differenziert. Allerdings sind ihre Deutungen weitaus homogener als jene der deutschen Zuwander_innen: Gesprächspartner_innen aus Skandinavien und Spanien sprechen von »groben Unterschieden« zwischen ihrer Herkunftskultur und Österreich. Lediglich Tobias, der aus Dänemark stammt, beschreibt die Situation etwas anders. »Aber ich bin ja in Dänemark aufgewachsen, so war Wien mir nicht so fremd.«
Hierbei gilt es jedoch zu bedenken, dass Tobias, bevor er nach Österreich kam, einige Jahre in New York lebte, also aufgrund seiner Erfahrungen eine andere Perspektive auf die ›Größenordnung‹ derartiger Differenzen hat. Jene Migrant_innen, für die Kultur ein explizites Deutungsmuster darstellt, erklären sich damit Probleme oder Schwierigkeiten, die sie in Österreich hatten oder immer noch haben, und die ihnen einen Prozess des Lernens, Aushandelns und Adaptierens abverlangten. (Siehe Kap. 5.2) Für den zum Zeitpunkt des Interviews 28jährigen Dänen August war genau dies ein wesentlicher (Mit-)Grund bzw. ein Motiv dafür, in ein anderes Land (also nach Österreich) zu migrieren »Ich wollt
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wirklich ins Ausland, was erleben und halt diese Kultur erleben, das wollt ich.« Genau diese »neue Kultur« macht ihm dann aber, zusammen mit anderen Faktoren, in seiner ersten Zeit in Österreich doch zu schaffen: »Aber erst nach einem Jahr hab ich mich so richtig wohlgefühlt. Das erste Jahr war wirklich die Hölle. Des hat mir überhaupt net gefallen. Also wenn ih da net des Skifahren und eben Kung-Fu Training gehabt hätt, dann glaub ich, wär ich sicher wieder heimgfahren. Also das hat mir überhaupt nicht gefallen. Überhaupt nicht. Aber da waren viele persönliche Sachen, also Ex-Freundin, neue / Net neue Kultur, weil Österreich is net so weit weg, aber is aber doch viel Unterschied. Und halt deine ganzen Freunde san net do und Eltern san net do.«
Kulturelle Unterschiede, die August zunächst als problematisch bezeichnet, sind etwa der in Österreich gängige Umgang mit Autorität und die damit verbundene Form der persönlichen Anrede, also das ›Siezen‹ und ›Duzen‹. Aber auch die von mehreren Dän_innen angesprochene ›Stillosigkeit‹ der Österreicher_innen wird mit einigem Erstaunen, und mit starkem Bezug auf den diskursiv erzeugten Stolz der Dänen auf ›Dänisches Design‹48 hervorgehoben: »Mode und Fashion des is schon sehr wichtig. Und Designersachen des muss ma schon haben. Weil Küche, oder was weiß ich, Wohnzimmer, da braucht ma die richtigen Sessel, da braucht man die richtigen Dinger, da braucht ma richtige Tische oder richtige Schuhe. Und des is hier in Österreich also überhaupt nicht so. Also da hat man überhaupt kan Stil. Des is ma schon aufgfallen. Des hat mich a genervt, weil ich hab mir gedacht: Pfau, was ziehen die Leut sich an? Und die Frauen im Studium, was is des? Und ich bin halt gewohnt, dass man schon irgendwie da sich interessiert dafür.«
In dieser Erzählsequenz positioniert sich August wie ein Beobachter distanziert zu beiden Kulturen, die er etwa im Sinn des Herder’schen Konzepts für zwei ›Kugel‹Kulturen hält. Längst sind dänische Designs in Österreich zu haben und die Dänen importieren auch Möbel aus Deutschland, Frankreich oder England. In diesem Sinn existiert keine österreichische und keine dänische Möbelkultur. Die Aussage Augusts ist also selektiv und übertreibend, zugleich verdeutlicht der (im Transkript nicht klar erkennbare, in der gesprochenen Erzählung aber sehr deutliche) ironische Ton seiner Beschreibung der Bedeutung von Mode und Design in Dänemark, dass er dies durchaus kritisch-reflexiv wahrnimmt, sich als auch von 48 Vgl. dazu z.B. Marc Schalenberg, ›Finnish Design‹. Zur Genese eines Werbediskurses zwischen nationaler Selbstbehauptung und globalem Markt. In: Oliver Kühschelm (Hrsg.), Nationalisierende Produktkommunikation. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21/2 (Wien 2010), 130-151. Vgl. auch die Kapitel 5 und 7.
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der Herkunftskultur bis zu einem gewissen Grad distanziert. Zugleich bezieht er deutlich abwertend Stellung zu den Bekleidungsgewohnheiten der Österreicher_innen. Auch das ist die Fiktion einer Einheitlichkeit im Sinne des Kugelmodells. Möglicherweise macht August deshalb vom Kugelkonzept Gebrauch, weil dieses ihm ermöglicht, sich selbst in der Begegnung mit den Bürger_innen einer anderen, relativ fremden Kultur mit Selbstwert auszustatten. Die zitierte Sequenz aus dem Interview ist auch deswegen informativ, weil sie zeigt, dass das Alltagsbewusstsein vollends ideologisch ist. Sie ist ein Beleg für die stets wirksamen Mythen des Alltags. Außerdem wird hier Kultur auch in ihrer Dimension als Deutungsmuster (s.o.) angesprochen. Wie ein roter Faden zieht sich die Deutung durch Augusts Erzählung, dass er zum Teil andere Handlungsmuster, Prioritäten und Erwartungen habe. Dass er also, in wissenschaftliche Termini übersetzt, im Zuge seiner Enkulturation in Dänemark anders sozialisiert worden ist, als wenn er in Österreich aufgewachsen wäre. Oder in seinen eigenen Worten ausgedrückt, dass er dies oder jenes »gewohnt ist«, dass er »halt so erzogen« worden ist. Hier wird das großteils schweigende Wissen (»tacit knowledge«) um die Wirksamkeit des kulturellen Deutungsmusters orientierungs- und praxisrelevant. Es bestimmt gleichsam wie selbstverständlich die Orientierung im Zielland der Migration. Indem August die kulturellen Differenzen wahrnimmt, nimmt er auch seine eigene Identität wahr. Bis zu einem gewissen Grad ›entschärft‹ er auf diese Weise auch seine recht pauschale (undifferenzierte) Kritik an den in Österreichs Bevölkerung vermeintlich durchwegs vorfindbaren Verhaltensweisen. Anders gesagt: August produziert durchaus aus Eigennutz ein nationales Heterostereotyp von »den Österreichern«. Die Dänin Caroline spricht den materiellen Ausdruck von Kultur ebenfalls an. Genau wie August empfindet sie die Möblierung der ›österreichischen Wohnungen‹ als »geschmacklos«. »Ich merke sehr viel beim Design, meine Kultur. Ich mein, wenn ich einen Möbelkatalog, einen österreichischen Möbelkatalog aufschlage (Gestik, Mimik; gespieltes Entsetzen). Da seh ich es. Ja, da ist ein sehr großer Unterschied.«
August und Caroline haben einen Geschmack, der in Fragen der Kleidung, der Möbel oder der Architektur wesentlich am ›Dansk Design‹ geschult und geübt ist, d.h. an einem ›nationalisierten‹ Stil, der wohl präziser ›skandinavischer Stil‹ heißen müsste. Offenbar ist es in Dänemark gelungen, ein weit verbreitetes Bewusstsein für das ›eigene‹ Design zu schaffen. Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass dieses Bewusstsein auch bei Migrant_innen wie August und Caroline wirksam und subjektiv nützlich eingesetzt wird, um das Eigene zu stilisieren und es sodann positiv von einem demgegenüber deutlich abgewerteten Fremden abzuheben.
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Caroline zählt außerdem zu jenen Gesprächspartner_innen, für die Kultur ganz bewusst als ein Deutungsmuster fungiert. Und sie macht davon nicht nur ›schweigend‹ Gebrauch, sondern betont im Gegenteil, dass Kultur eines ihrer Lieblingswörter sei, dass sie sich also in Diskussionen und Auseinandersetzungen mit Vorliebe ihres Konzepts von Kultur bediene, vor allem um Unterschiede, die relevant oder gar irritierend erscheinen, für sich selbst und Andere erklärbar zu machen. In der folgenden Passage aus ihrer Erzählung wird auch deutlich, dass sie ein Konzept von Alltagskultur benutzt, das den praktischen Nutzen hat, viele kleine, im Alltagsleben wahrgenommene Differenzen und Besonderheiten erklären zu können. Neuerlich zeigt sich auch bei ihr, dass die Differenz von störenden Verhaltensweisen »der Österreicher« zu Verhaltensstandards in Dänemark besonders hervorgehoben wird. »Das ist eine Mentalitäts-, eine Kulturfrage. Mein Favorit-Wort Kultur. Es ist eine Frage der Kultur. Auch im Supermarkt ist es eine Frage der Kultur, ob man sein Einkaufskörberl zur Seite gibt oder ob man es stehen lässt, und dann können die Leute sehen wie sie vorbeikommen. Oder auch bei der Kasse, da kommt jemand vorbei und sagt ›Ich hab nur drei Sachen, ich geh vor Ihnen.‹ Moment bitte, ja. Wenn alle das machen. Und nur drei Sachen, ja. Aber bitte, wenn es zehn mit drei Sachen sind, dann wart ich lange. Das gibt=s nicht in Dänemark. Man wartet bitte, bis man dran ist.«
Auf ähnliche Weise versteht auch die aus Spanien zugewanderte Inés Kultur vornehmlich als Alltagskultur. Anders als die dänischen und deutschen Immigrant_innen hebt sie, wie auch andere Spanier_innen, in diesem Kontext beispielsweise den Unterschied im Umgang mit Zeit hervor. Dieser Unterschied scheint ihr auf verschieden strikte Zeitregime und unterschiedliche Grade der Disziplinierung der Akteur_innen in ihrem Arbeits- und Alltagsleben hinzuweisen:49
49 Diese Erfahrungen decken sich mit der Differenzierung nach Stuart Hall zwischen Kulturen mit einem monochronen Zeitverständnis und Kulturen mit einem polychromen Zeitverständnis. In ersteren ist eine rigide Zeiteinteilung mit erwarteter Pünktlichkeit üblich, während in zweiteren eine flexiblere Zeiteinteilung praktiziert wird, in welcher Handlungen und Arbeitsprozesse in der Regel weniger strikt geplant und strukturiert ablaufen. Hall zählt beispielsweise Deutschland zu den monochromen ›Zeit-Kulturen‹, während Spanien als romanische Kultur den polychromen ›Zeit-Kulturen‹ zuzuordnen sei. Österreich könnte gemäß der Wahrnehmung der interviewten Migrant_innen wohl zwischen diesen beiden eingeordnet werden. Gesprächspartner_innen aus Deutschland beschreiben einen für sie in Österreich sehr flexiblen Umgang mit Pünktlichkeit, während Zuwander_innen aus Spanien immer wieder die für sie ungewohnte Anforderung der ›Pünktlichkeit‹ thematisieren. Vgl. Hall 1981, 1 ff.; 137 ff.; Lüsebrink 2012, 28 ff.
›Doing Culture‹ | 111 »Zum Beispiel die Zeit, unsere Kulturen, beide Kulturen sind da total unterschiedlich. In Österreich is man sehr genau mit der Zeit, is alles sehr geplant mit Monaten voraus. Solche Sachen waren vorher für mich undenkbar. Zu sagen, ich weiß schon, dass am Samstag, ich weiß es nicht, den 10. Juli um 10 Uhr habe ich einen Brunch mit Freunden. Das bei uns ist undenkbar, normalerweise machen wir die Termine kurzfristig.«
Obwohl Inés sehr viel Wert auf die Anpassung und Adaption ihres eigenen Verhaltens legt – beispielsweise Termine mittlerweile längerfristig vereinbart (siehe Kap. 5.2) –, zählt sie sich selbst zu den ›Spaniern‹, indem sie die Pluralformen »wir« und »uns« verwendet. Im Kontrast zu den bislang zitierten Migrant_innen sind kulturelle Unterschiede für die aus Spanien nach Wien zugewanderte Eva nicht nur ein Deutungsmuster, mit dem sie sich anfängliche Schwierigkeiten oder andauernde ›Ärgernisse‹ erklärt. Sie sieht darin vielmehr den Grund für massive Probleme, die sie während ihrer gesamten vierzehn Jahre in Österreich hatte und immer noch hat. (Siehe Kap. 4.3.2 und 4.4) »Also ich bin auch berufstätig, für mich der Beruf spielt eine große Rolle in meinem Leben. Also selbstverständlich meine Familie ist das Allerwichtigste, aber ich bin konfrontiert worden mit manchen Sektoren in der Gesellschaft, denen es in irgendeiner Form lieber ist, dass die Mutter zuhause, oder mehrheitlich zuhause bleibt. Das war für mich auch ein großer Kulturschock50 irgendwie. Ich musste ein bisschen dagegen kämpfen.«
Unter anderem (sie erzählt noch von einer ganzen Reihe anderer ›Kämpfe‹) sind es unterschiedliche geschlechtsspezifische Rollenbilder (siehe Kap. 4.2), die Eva als eine Frage der Kultur deutet. Sich selbst beschreibt Eva als »aus einer Mittelmeerkultur kommend« und erklärt damit die groben Unterschiede in Verhaltens- und Denkweisen, die sie zum Teil als verletzend empfindet.
50 Der Terminus »Kulturschock« geht auf den Anthropologen Kalervo Oberg zurück: »Anxiety that results from loosing all our familiar signs and symbols of social intercourse. These signs or cues include the thousand and one ways in which we orient ourselves to the situations of daily life.« Kalervo Oberg, Cultural Shock. Adjustment to new Cultural Environments. In: Practical Anthropology 7/4 (1960), 177-182. https://doi.org/10.11 77/009182966000700405. Vgl. auch Broszinsky-Schwabe 2011, 212. Eva bezieht sich hier aber natürlich auf Kulturschock im nicht-wissenschaftlichen Diskurs und Alltagsverständnis. Dennoch unterstreicht die Verwendung dieses Terminus die Tragweite ihrer Probleme und ›Kämpfe‹.
112 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Ich komme aus einer Kultur, wo zum Beispiel es ist ein kultureller Wert freundlich zu sein.« »Weil die Österreicher können sehr, sehr sarkastisch sein. Sie haben eine Zunge so wie scharfe Messer. Und das sind vielleicht Tabus in meiner Kultur, das macht man nicht. Und sie sagen manchmal solche Sätze, so wie man schneidet zwei Menschen. Es gehört zur Umgebung, es gehört zur Kultur, und ja und sie bleiben halt cool.«
Ein anderes Merkmal, an dem Eva im Rahmen ihrer Erzählung die kulturellen Unterschiede exemplifiziert, ist der ›in Österreich‹ übliche Umgang mit Stress. »Stress ist nicht willkommen. Ich habe damals auch bemerkt, Stress ist so wie eine Gefahr für das Leben. ›Also ich bin gestresst, ich bin gestresst, ich bin gestresst.‹ Jeder hat das gesagt, also ›ich bin gestresst‹. Hab ich mir gedacht, wo ist der Stress? Also irgendwie es ist er sehr angstvoll, dieser Stress.«
Als Synonym für Kultur verwendet Eva einige Male den Begriff »Umgebung«. »Solche Dinge sind mir sehr aufgefallen, auch wie unfreundlich manche Menschen sein können. Also es gehört einfach zur Umgebung, nehm ich an.«
Die Norwegerin Mia wiederum zählt zu jenen Gesprächspartner_innen, für die Kultur zwar ein Deutungsmuster darstellt, die jedoch im Vergleich deutlich seltener explizit von »Kultur« sprechen. »Man muss sich vorstellen, wenn man sogar da sich unsicher fühlt, in die Kommunikation mit jemand. Wie fühlt man sich sonst in der Kommunikation? Also wir sind weit weg von überzeugend ein Thema rüberbringen oder was präsentieren können, wenn es schon da anfängt mit der Verunsicherung. Also es war wirklich eine harte Schule. Also es ist überhaupt nicht alles so gleich. Ah, nein überhaupt nicht, es ist ganz anders. Gesellschaftlich gesehen sind Österreich und Norwegen sehr weit auseinander.«
Für sie ist das Deutungsmuster der kulturellen Unterschiede eine Erklärung, aber, wenn man so möchte, in gewisser Weise auch eine Entschuldigung in dem Sinne, dass kulturell bedingte Verhaltensweisen einer bestimmten Person nicht verübelt werden sollten. Im Rahmen eines Berichts über die Unfreundlichkeit auf österreichischen Ämtern sagt sie Mia etwa: »Also ich seh es wirklich nur als ein kultureller Unterschied.«
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Auch Frida, in den 1960er Jahren aus Dänemark zugewandert, berichtet sehr ausführlich (ohne allerdings diesen Terminus zu benutzen) von kulturellen Unterschieden, beispielsweise im Bezug auf geschlechtsspezifische Rollenbilder, Egalität in der Gesellschaft oder Bestattungssitten. Aber auch differenzierende Interaktionsund Kommunikationsnormen und Muster deutet sie auf diese Weise. »In Dänemark ist die Mentalität ein bissl anders, weil da is man bissi mehr ehrlich zueinander. Also das is nicht so verpackt und höflich und ›oh meine Liebe‹. Das is sehr nüchtern und sehr direkt. Und jeder weiß, wo er steht. Ja. Freundlich, aber man fangt nicht an, wenn man sagt ›Wie gefällt dir mein Kleid heute?‹, man sagt nicht, ›Entzückend, entzückend‹. Das sagt man nicht, man sagt ›Du, passt dir eigentlich nicht so gut‹. Aber man braucht ja nicht jemanden fragen, wenn man nicht fragt, dann wird es auch nicht gesagt. – Ja. ((Lachen)) Oder man sagt nicht ›Oh, wie schön, dass wir uns treffen. Oh, wie wunderbar‹, wenn man das nicht wirklich meint. Also man ist ehrlich und das wissen die anderen, man ist ehrlich und man lebt damit.«51
Die aus Deutschland stammende Katharina wiederum beschreibt zwar Kultur- und Mentalitätsunterschiede (s.u.), doch stellt sie die gängige Deutung der Differenzen als ›kulturell begründet‹ des Öfteren in Frage und vermutet, dass die Gründe vielmehr in der individuellen Persönlichkeit zu suchen seien. Ihr Ehemann neigt dazu, viele ihrer Verhaltensweisen auf die Tatsache, dass sie »Deutsche ist«, zurückzuführen. Katharina zweifelt an dieser Deutung, auch wenn sie der kulturellen Prägung durchaus Gewicht zuerkennt. »Es kommt aber eher von ihm, nicht von mir, dieses Daraufhinweisen, dass es da eben Unterschiede gibt. Also ich nehme bestimmte Dinge einfach als eher individuell oder so. Er sagt, ›Ja das hat mit Kultur zu tun, ja.‹ Also, wo ich einfach bestimmte Erwartungen an ihn habe oder Ansprüche, oder so. Wo er sagt, ›Mein Gott. So quasi typisch Deutsch und davon musst du mal runterkommen irgendwie.‹ Ich weiß nicht, ob er das nicht auch benutzt, natürlich zum Teil für seine Zwecke. ((Lachen)) Ja, aber ich bin schon geneigt zu sagen, bisschen was wird schon auch dran sein.«
Für Diego, der aus Spanien nach Wien zugewandert ist, stellen kulturelle Unterschiede nach wie vor eine Schwierigkeit dar. Ihm fällt es extrem schwer, sich mit Umgangsformen und Verhaltensweisen in Wien zu arrangieren. Wie die folgende Passage verdeutlicht, können auch alltägliche Situationen und, objektiv betrachtet, Kleinigkeiten ihn in unangenehmer Weise mit seiner ›Fremdheit‹ konfrontieren. Ähnlich wie in Fragen des Umgangs mit der Zeit geht es in der folgenden Passage 51 Zur Dichotomie Direktheit/Indirektheit in der interkulturellen Kommunikation vgl. auch Lüsebrink 2012, 52 ff.
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um den vermeintlich besonderen Gehorsam der Österreicher gegenüber Regeln und Geboten im Straßenverkehr: »Schau, zum Beispiel, ich bin viel mit dem Fahrrad hier unterwegs. Und zum Beispiel, das is wirklich nur ein blödes Beispiel, aber das bedeutet wirklich viel, gell, was ich sage. Wenn ich um acht in der Früh zum Arbeiten gehe, ganz am Anfang des Tages, und dann ich fahre mit dem Fahrrad und dann es gibt vielleicht, ich muss zwanzig Meter gegen die Einbahnrichtung und dann bin ich schon in der Arbeit. Aber es ist keine Gefahr, überhaupt nichts. Es is niemand auf die Straße. Und ich fahre so diese zwanzig Meter mit dem Fahrrad, dann kommt mir jemand vielleicht entgegen und fangt an, mich zu schimpfen. ›Du, was machst du, das is Einbahn.‹ Mann! - Das is normal, es is egal weil, es sind zwanzig Meter. Und solche Situationen wirklich, ganz am Anfang des Tages, gell. Ja Mann, was hat diese Person drinnen und man sollte sich keine Sorge für so was machen oder? ›Pfu, okay ja Tschuldigung, Tschuldigung.‹ Und zum Beispiel diese Situation kann ich mir wirklich nicht vorstellen bei mir zuhause. Also wenn ich so fahre mit dem Fahrrad, man geht ein bisschen auf die Seite, oder ich gehe ein bisschen auf die Seite. Aber passt, oder. Kein Problem. Und hier //.«
Die aus Finnland nach Wien zugewanderte Sara beschreibt einen umgekehrten »Kulturschock«, als sie bei einer temporären Rückkehr nach Finnland entdeckte, dass ihr einige Eigenarten der Finn_innen nach einem Jahr in Österreich »fremd« geworden waren.52 »Für mich war es schlimmer dann irgendwie, wie ich ein Jahr später dann im Sommer nach Finnland gekommen bin. Also das war in die Richtung für mich immer eher ein Kulturschock, also wieder nachhause zu kommen. Also es war leichter eigentlich hier, weil=s eigentlich klar is, es is, es is natürlich anders. Aber ich hab mich eigentlich immer ganz gut anpassen können. ((Lachen)) Und es war in die andere Richtung eher dann schwierig. Ich mein, mittlerweile nach zwanzig Jahren lernt man damit zu leben, aber es war damals halt dann als junges Mädchen.«
Dieser Zustand hält für sie immer noch an, sie hat jedoch gelernt, damit umzugehen. Möglicherweise kann dies mit einer ›Entfremdung des Vertrauten‹ erklärt werden. Migrant_innen durchleben in der Migration einen Lernprozess, gewöhnen sich an die Alltagskultur im Aufnahmeland und beginnen auch die Herkunftskultur aus einer anderen, einer distanzierteren und reflektierenden Perspektive zu betrachten.
52 Nach dem Sinologen und Kulturwissenschaftler Martin Woesler wird dieses Phänomen als »Eigenkultur-Schock« bezeichnet. Martin Woesler, A new model of cross-cultural communication. (Berlin 2009), 31 ff.
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Dies führt zu einer anderen Wahrnehmung, einem anderen Erleben der bislang unhinterfragt vertrauten Herkunftskultur. Bis zu einem gewissen Grad mag auch die Tatsache, dass Sara auf eine solche Reaktion ihrerseits nicht gefasst war, eine Rolle spielen. Während ihr von vornherein klar war, dass sie sich in Österreich integrieren und anpassen muss, hatte sie die Anforderungen der Rückkehr nach Finnland nach einem Jahr in Österreich offenbar unterschätzt. Diese Überraschung bezeichnet Sara als Schock: »Ja, ahm kann ich gar nicht sagen warum, aber es war jedes Mal dieser Schock, wo man plötzlich dort war und dann plötzlich hat man überall wieder Finnisch gehört und dann irgendwie die finnischen Eigenarten.«
Die aus Deutschland nach Österreich zugewanderte Theresa erzählt, dass sie viele Freunde aus Deutschland in Österreich habe. Die ›Subkultur‹ der Deutschen bewahre sie vor dem Verlust ihrer Zugehörigkeit. Theresa vermutet, dass viele der deutschen Migrant_innen bewusst oder unbewusst die Gesellschaft anderer Deutscher suchen würden, um in der Migration die erworbene kulturelle Identität als Deutsche weiter zu pflegen: »Das Witzige is, dass meine Bekannten und Freunde sind, wie soll ich sagen, sind auch Deutsche. Also wie wenn halt, wenn wir uns irgendwie anziehen würden. Ich glaub das passiert automatisch, ja. Weil man halt eine gewisse ähnliche Sozialisationen durchlebt hat, ähnliche Gedankengänge hat oder auch Strukturen kennt, ja.«
Für Theresa ist es also »die gemeinsame« Kultur im Sinne geteilter, konjunktiver Erfahrungsräume und Referenzrahmen, die den zwischenmenschlichen Umgang erleichtern und dazu führen, dass sie sich in der Interaktion mit ›anderen Deutschen‹ wohler fühlt als mit ›Österreicher_innen‹. Von Eltern noch nicht erwachsener Kinder wird wiederholt im Kontext der Erziehung auf das Konzept Kultur Bezug genommen. (Siehe auch Kap. 4.4) Ihnen ist es ein wesentliches Anliegen, ihren Kindern auch die eigene Kultur zu vermitteln.53 Dies kann als Form der »Weitergabe intergenerativer Kontinuität« gelesen werden54 und soll primär durch regelmäßige Besuche und Aufenthalte im Herkunftsland des migrierten Elternteils gewährleistet werden. Inés berichtet darüber:
53 Vgl. dazu Eckart Müller-Bachmann, The Family as a Unit. Experiences, Compromises and Negotiations in the Acculturation Process. In: Geisen/Studer/Yildiz 2014, 113-130; 113 ff.; 122 f. 54 Ruokonen-Engler 2012, 306.
116 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Ja, und natürlich nicht nur die Sprache, ich versuche auch die Kultur beizubringen. Essen, ich erzähle Geschichten, und im Sommer ich versuche jetzt alleine nur mit den Kindern zu sein. So der Papa hat Urlaub und sie können die Traditionen erleben so wie in Spanien ist, ohne österreichischen Einfluss.«
Ein mögliches Deutungsmuster, um kulturelle Unterschiede zu erklären, ist jenes der Sozialisation. So finden sich Aussagen wie die folgenden immer wieder in den Erzähltexten. »Und also, ich wär sicher auch nicht irgendwie solange die Kinder klein sind, also wäre ich sicher auch nicht zuhause geblieben. Weil ich es einfach so ganz anders gelernt hab. Das hätt ich nicht ausgehalten, ja.« (Sara) »Und ich kann mich überhaupt nicht, oder konnte mich auch nicht beschweren und trotzdem war irgendwas da. Also irgendeine, so die heimlichen Mechanismen, die man einfach nicht versteht, weil man einfach nicht damit aufgewachsen ist.« (Erik)
Wie das bisher Gesagte zum Teil bereits verdeutlicht, unterscheiden sich die Handlungsstrategien und Umgangsformen mit kulturellen Unterschieden (man könnte auch formulieren, die Deutungen dieser Deutungsmuster) der Interviewpartner_innen beträchtlich. Die Mehrheit berichtet vor allem in einer ersten Phase der Migration von diesbezüglichen Schwierigkeiten, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen. (Siehe Kap. 5.2) Einige haben diese Probleme bis zum Zeitpunkt des Interviews, während andere gerade das Leben in zwei Kulturen als lohnend und bereichernd deuten. So resümiert beispielsweise die aus Dänemark stammende Frida: »Und ich muss auch sagen, abschließend, dass ein Horizont auch größer wird, wenn man zwei Länder hat und zwei Traditionen und Denkweisen. Dann kann man ja aussuchen, was gefällt mir am besten von diesen.«
Verweise auf Herausforderungen, Lernanforderungen oder Anekdoten zu diesem Thema finden sich in allen Erzählungen, unabhängig davon, wie sie individuell gedeutet werden. Die in den 1980er Jahren aus der Umgebung Madrids nach Wien zugewanderte Marta erinnert zum Beispiel folgende Begebenheit: »Ich kann mich erinnern, vor vielen Jahren, mein Mann hat noch gelebt, es war im Winter und wir waren in Grinzing gewesen. Und wir waren am Weg nachhause und es war sehr spät, nach Mitternacht, 100 Grad minus, ein Meter Schnee, keine Verkehrsmittel mehr. Und auf einmal haben wir in einer Ecke ein Ehepaar gesehen, die angeblich auf ein Taxi oder irgendwas gewartet haben, und niemand is gekommen. Damals gab es keine Handys und nix. Und wir sind stehen geblieben und haben sie gefragt, ob wir sie in die Stadt
›Doing Culture‹ | 117 fahren können. Und die haben sich angeschaut ((sie spielt mimisch Erstaunen und Verwunderung)) so, ›Bitte?‹. Mein Mann hat gesagt, ›Es is kalt und ich will nachhause, wollen Sie mit uns fahren?‹. ›Ja, ja, bitte. Ja, danke, sehr gerne.‹ Ich meine, wir haben ein schönes Auto gehabt, wir haben nicht wie Verbrecher ausgesehen. Und die waren total verkrampft hinten, total verkrampft. Ich hab=s immer gesehen, wir haben versucht, so ein bisschen Small Talk zu führen. ›Und ja, wo kommen sie her?‹ ›Aus Spanien, ah schön, Spanien ah, ja‹. Und wir haben gesagt, ›Bitte wo wohnen sie? Wir bringen sie nachhause. Wir sind im Auto es is wurscht.‹ ›Na, das, das können wir sicher nicht‹. Ich sag, ›Bitte, machen Sie=s kurz, wollen sie, dass wir sie nachhause bringen, dann bringen wie sie nachhause.‹ Und wir haben sie auch nachhause gebracht. Und die wollten sich revanchieren. Das is ein Wort, dass mich immer / Weil bei uns hat Revanche eine andere Bedeutung in Spanisch, das is mehr Rache. ((Lachen)) Aber hier dieses Revanchieren war für mich schon ein bisschen / Hab gesagt, ›Bitte, gute Nacht. Seien sie glücklich, haben sie ein schönes Leben, sie brauchen sich nicht revanchieren, es is gern geschehen. Tschüss, auf Wiedersehen.‹ ›Danke, danke.‹ Ich mein, das war für sie ein Erlebnis. Ich mein, sie haben sicher jeden darüber erzählt, was ihnen passiert ist, zwei verrückte Spanier haben sie aus Grinzing gerettet, weil sie einfach aufgeschmissen waren, mitten in der Nacht.«
Die Spanierin Marta erzählt diese Anekdote mit einem ironischen Unterton und amüsiert sich dabei über das österreichische Ehepaar, das offenbar mit der Hilfsbereitschaft von Marta und ihrem Mann überfordert war. Ihre Aussage, sie »hätten ja nicht wie Verbrecher ausgesehen«, lässt darauf schließen, dass sie dachte, das Ehepaar habe Zweifel an den lauteren Absichten dieses Hilfsangebotes von zwei völlig Fremden gehabt. Die Zurückhaltung in der Annahme von Hilfe und das Bedürfnis sich »zu revanchieren« führt Marta offenbar darauf zurück, dass eine solche Hilfsbereitschaft in Wien oder in Österreich außergewöhnlich ist. Gerade weil Marta und ihr Mann aber anderen Verhaltensweisen folgen, meint sie, das österreichische Ehepaar hätte sie für »verrückt« gehalten, wobei Verrücktheit im alltagssprachlichen Sinn stets die Abweichung von der Norm bedeutet. Dennoch hält das spanische Ehepaar an seinem Verhalten fest und Marta zeichnet das Bild von zwei offenen, hilfsbereiten Spaniern als Retter zweier ängstlicher, misstrauischer und ›verblüffter‹ Österreicher.55 Eine Deutung, die einerseits zutreffen könnte und sich mit vielen anderen Beobachtungen deckt, andererseits gewiss aber auch hilfreich ist, um sich als zugewandertes Paar ethisch-moralisch in der mitgebrachten Ordnung ›heimisch‹ zu fühlen.
55 Zur Differenzierung zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen vgl. auch Hofstede 2001, 209 ff.
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3.4 FAZIT Zunächst kann die folgende Aussage auch anhand des vorliegenden empirischen Materials bestätigt werden: »Die Ergebnisse der Untersuchungen von Hofstede und Hall belegen zugleich, dass benachbarte Kulturen – wie etwa Frankreich und Deutschland oder Österreich und Italien – durchaus ebenso markante Wertunterschiede aufweisen können wie geographisch weit auseinanderliegende Kulturen. Die Zugehörigkeit zum gleichen geopolitischen Kulturraum und zur gleichen Sprachfamilie impliziert keinesfalls, wie häufig angenommen, eine weitgehende Übereinstimmung der Symbolsysteme und Wertvorstellungen.«56
Bezüglich der Frage, wie die Interviewpartner_innen Kultur und kulturelle Unterschiede verstehen und deuten, zeigt sich, dass sich Kultur im Common SenseVerständnis in bestimmten Hinsichten mit der eingangs des Kapitels dargelegten sozial- und kulturwissenschaftlichen Definition deckt; auch sie verstehen Kultur als Orientierungsmuster und als davon orientierte soziale Praxis. Als markante Differenz zwischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Kulturbegriffen und Kultur im Common Sense-Denken der interviewten Migrant_innen, zeigt sich aber in den vorliegenden Erzählungen ein vorwiegend essentialistisches Kulturverständnis: Die von mir interviewten Migrant_innen verstehen sich im Sinne eines essentialistischen Kulturbegriffs als Träger_innen einer, oder zweier, als klar umrissenen gedachten Kulturen; sie gehen davon aus, dass Menschen eine Kultur ›haben‹. Die empirische Untersuchung zeigt weiters, dass für die Interviewpartner_innen Kultur und kulturelle Unterschiede wesentliche Deutungsmuster darstellen, die sie wiederholt von sich aus aufgreifen und benützen, um die Entwicklung ihrer Lage und Stellung als Migrant_innen zu erläutern. Vornehmlich Lernund Adaptionsprozesse sowie Fremdheitserfahrungen im Zuge der Migration und danach werden über das Common Sense-Konzept von Kultur erklärt. Den Migrant_innen dient Kultur demnach überwiegend als explicans.57 Dies steht zumindest teilweise im Gegensatz zu den aktuellen Konzepten von Kultur in den Sozial- und
56 Lüsebrink 2012, 31. Kulturvergleichende Untersuchungen wie die hier zitierten werden häufig aufgrund tendenziell essentialistischer Kulturkonzepte kritisiert. Das ihnen zugrunde liegende Verständnis von Kultur deckt sich in einigen Fällen nicht mit jenem der vorliegenden Studie. Dennoch scheinen mir die Ergebnisse derartige Forschungsarbeiten auch für diese Studie zumindest interessant zu sein. 57 Zu vergleichbaren Forschungsergebnissen vgl. z.B. Ruokonen-Engler 2012, 299 ff.
›Doing Culture‹ | 119
Kulturwissenschaften, für die Kultur das explicandum ist, also das, was zu erklären ist.58 Die Gesprächspartner_innen verbinden Kultur außerdem explizit oder auch implizit mit dem Nationalstaat, aus dem sie als Migrant_innen aufgebrochen sind. So ist Janine Dahinden, wie sich auch im Weiteren noch zeigen wird (siehe auch Kap. 7.2), zuzustimmen, wenn sie feststellt: »Hier zeigt sich, dass auch in Zeiten der Globalisierung und der Transnationalisierung von sozialen Realitäten der Nationalstaat noch immer ein wichtiges Instrument ist, wie Zugehörigkeit und Ausschluss definiert werden. Nationalstaaten haben vielleicht einen Teil ihrer Durchsetzungskraft verloren, was ökonomische Angelegenheiten betrifft: Noch immer aber hat die nationalstaatliche Logik ein starkes Gewicht bei Prozessen der Selbstfindung und der Konstruktion von Eigenem und Fremden.«59
58 Vgl. auch Dahinden 2014, 101. 59 Dahinden 2014, 118.
4
Aspekte transnationaler und transkultureller Alltagswelten
Eines der Ziele dieser Untersuchung ist die partielle Rekonstruktion von soziokulturellen Praktiken der Migration und Akkulturation sowie daraus resultierender Alltagswelten. Bevor ich Integration, Transnationalität und Identität als theoretische Konzepte und empirische Phänomene umfassend diskutiere und untersuche, möchte ich daher zuvor, ausgehend von den eben dargestellten Überlegungen und Erkenntnissen, in den folgenden Abschnitten einige hier wesentlich erscheinende Aspekte transnationaler und transkultureller Alltagswelten in Detail behandeln. Sowohl das Thema Kommunikation als auch divergierende geschlechtsspezifische Rollenbilder und der Bereich Familie werden immer wieder als konfliktreiche und herausfordernde Handlungsfelder angesprochen. Des Weiteren werde ich in diesem Zusammenhang aus den Erzählungen rekonstruierbare Fremdheitserfahrungen untersuchen. Dafür soll zunächst nach Konfrontationen und Erfahrungen meiner Gesprächspartner_innen mit Stereotypen und Vorurteilen gefragt werden. Im Anschluss werde ich das Thema Fremdheit diskutieren.
4.1 KOMMUNIKATION 4.1.1 Sprachlich-verbale Kommunikation Eine Fremdsprache zu lernen und dann im Alltag mit dieser Sprache bestehen zu können, stellt wohl für die meisten Migrant_innen einen wesentlichen Aspekt des Migrations- und Integrationsprozesses dar. Die sprachliche Anschlussfähigkeit ist zudem eine grundlegende Voraussetzung für die Integration auf allen Ebenen1 bzw. für die Inklusion in unterschiedliche Teilsysteme der Sozietät des Aufnahmelandes. Sowohl eine umfassende soziale als auch strukturelle Integration beispielsweise in 1
Zu den unterschiedlichen Ebenen der Integration vgl. Kapitel 5.
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den Arbeitsmarkt, ist schwer bis unmöglich, wenn die Landessprache nicht auf dem den Integrationsebenen angemessenen Niveau beherrscht wird.2 Die Bedeutung von Sprache geht jedoch weit über ihre Funktionalität in der Kommunikation hinaus. Mittels Sprache wird Zugehörigkeit ausgedrückt, oder aber Fremdheit interaktionell konstruiert. Damit ist die sprachliche Ausdrucksfähigkeit eines Zuwanderers/einer Zuwanderin eng mit Identitätsprozessen und -konstrukten verbunden. Durch Bilingualität3 und die Verwendung zweier oder mehrerer Sprachen im Alltag können außerdem individuelle Formen der Transkulturalität und Transnationalität etabliert und gelebt werden, wie auch Christian Büttner und Irmhild Kohte-Meyer argumentieren: »Sie [die Sprache, M.N.] ist nicht nur der Mittler und Vermittler kognitiver Prozesse. Sprachlich werden die allerfrühesten Rollenmuster und Identifizierungen internalisiert, die in Familie und sozialer Gruppe angeboten werden. Sprache ist Träger und Vermittler von Riten, Bräuchen und gibt Zugehörigkeit. Sprache ist als eine handlungsorganisierende Kraft an ein Netz von Bedeutungen geknüpft. Ihre Grammatik und ihr Aufbau können Ausdrucksmuster von kulturellen Beziehungen und Strukturen in einem symbolischen Formungsprozess sein.«4
Für die vorliegende Studie ist zwischen Migrant_innen, die aus Spanien und Skandinavien nach Österreich kamen, für die Deutsch also eine Fremdsprache ist, und Einwander_innen, die aus Deutschland kamen, zu unterscheiden. Unabhängig vom Herkunftsland soll im Folgenden der Frage nach der Bedeutung von Sprache für alle interviewten Migrant_innen nachgegangen werden. Welche Rolle spielt Sprache in den von ihnen vollzogenen Migrationsprozessen? Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen werden beschrieben? Wie werden diese gedeutet? Welche Lösungsstrategien finden und entwickeln die Gesprächspartner_innen? Deutsch als Fremdsprache: Migrant_innen aus Skandinavien und Spanien Hinsichtlich der genannten Fragestellungen lassen sich keine Unterschiede zwischen den Migrant_innen im Hinblick auf den Zeitpunkt der Migration ausmachen. Die im Folgenden beschrieben Erkenntnisse können also für den gesamten Untersuchungszeitraum gelten. Sehr wohl aber zeichnen sich subtile Unterschiede zwischen Migrant_innen aus Skandinavien und jenen aus Spanien ab. Aus diesem Grund möchte ich diese beiden Migrant_innengruppen zunächst getrennt diskutieren. 2
Vgl. z.B. Esser 2006, 81 ff.
3
Zu Bilingualität vgl. z.B. Esser 2006, 47 ff.
4
Christian Büttner/Irmhild Kohte-Meyer, Am wichtigsten die Sprache ... Erkundungen zur Bedeutung von Sprache im Migrationsprozess. HSFK (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) Report 11 (Frankfurt am Main 2002), 16 f.
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Migrant_innen aus Skandinavien Mit Ausnahme einer einzigen Migrantin aus Finnland hatten die Migrant_innen aus Skandinavien bereits in der Schule Deutsch gelernt und verfügten somit bereits vor der Migration nach Österreich über zumindest rudimentäre Deutschkenntnisse. Dies beschreiben sie als mehr oder weniger gute Basis, die aber für eine als zufriedenstellend empfundene Kommunikationsfähigkeit in der Praxis nicht ausreicht. In diesem Kontext werden immer wieder auch Probleme mit dem Verständnis regionaler Dialekte, wie Kärntnerisch, Burgenländisch oder Wienerisch thematisiert. Eine etwas außergewöhnliche Geschichte zum Thema Deutschlernen kann die aus Dänemark stammende, 1942 geborene Tilde erzählen. Als Tochter einer österreichischen Migrantin und eines Dänen hätte für sie die Möglichkeit bestanden, bilingual erzogen zu werden. Da ihre Mutter es jedoch unter den Bedingungen der Nachkriegszeit vermied, mit ihren Kindern Deutsch zu sprechen, lernte Tilde Deutsch in der Schule sowie von einer estnischen Haushälterin im Haushalt der Eltern (die kein Dänisch, aber Deutsch sprach), weswegen Tilde in ihrer Jugend Deutsch mit leicht estnischem Akzent sprach. »In Dänemark konnte man damals nicht Deutsch sprechen. Ich war ein 42er Jahrgang, das bedeutet, dass wenn man den Mund aufmacht auf=m Gehsteig und da Deutsch spricht, dann ist man ein Nazi. Also das war so furchtbar. Die Stimmung war natürlich von der Besatzungszeit her so, dass alles, was Deutsch ist, ist Nazi und Hitler. Man hat ja genug schreckliche Dinge erlebt.«
Diese Erfahrung Tildes exemplifiziert nicht nur die eingangs erwähnte Funktion von Sprache zur Konstruktion von Zugehörigkeit und Identität, sie zeigt auch, wie sehr die symbolische Bedeutung, die einer Sprache beigemessen wird, vom jeweiligen sozio-politischen Kontext abhängig ist.5 Für meine Gesprächspartner_innen war und ist es ein erklärtes Ziel, ihr Deutsch nach der Migration möglichst rasch zu verbessern. Wobei der diesem Ziel zugrundeliegende Orientierungsrahmen nicht allein ein bloßes pragmatisches ›Zurechtkommen in Österreich‹ ist. Vielmehr werden fundierte Deutschkenntnisse als wesentliches Element einer hohen bzw. als zufriedenstellend empfundenen Lebensqualität in Österreich gedeutet. Ohne sehr gute Deutschkenntnisse sei ein ›Wohlfühlen‹ oder gar ›Zuhausefühlen‹ in Österreich nicht möglich. Interessanterweise lassen sich diesbezüglich subtile, aber dennoch deutliche Unterschiede zu Interviewpartner_innen spanischer Herkunft aus den Erzählungen rekonstruieren (s.u.).
5
Vgl. z.B. Karl Christian Lammers, Forschungsbericht. Die neueste deutsche Geschichte aus skandinavischer Sicht. Das Deutschland-Bild in Skandinavien und die skandinavische Deutschlandforschung. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), 347-366.
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Das folgende Zitat von August, einem jungen Dänen, verdeutlicht diese von den skandinavischen Migrant_innen als erforderlich empfundene Notwendigkeit, Deutsch zu lernen. »Und also ohne die deutsche Sprache in Wien oder Österreich geht das net. Also nur mit Englisch kommst net weit in Wien. Also da braucht es schon a gewisse Grundlage. Aber wenn du dich bemühst / Aber das is genau das Gleiche, wie wenn ein Österreicher nach Dänemark kommt. Wenn du versuchst Dänisch zu lernen, dann wirst du gleich akzeptiert, dann ist=s okay!«
Offenheit und Lernbereitschaft und das (im weitesten Sinn) kulturelle Interesse für das Aufnahmeland werden von Migrant_innen aus Skandinavien als wesentlich für die kulturelle und soziale Integration beschrieben. (Siehe auch Kap. 5.2) Dies bedeutet zuvorderst die Bereitschaft Deutsch zu lernen, wobei es zunächst weniger um das Beherrschen der Sprache an sich geht, sondern zumindest in der ersten Zeit nach der Ankunft um ein sichtbares Bemühen, das als Zeichen der ›Intergrationswilligkeit‹ gedeutet wird. Als Reaktionen der Österreicher_innen wiederum werden Hilfsbereitschaft, Akzeptanz und erwidertes Interesse beschrieben, was das Lernen der deutschen Sprache und das Erlangen von Kommunikationssicherheit für diese Migrant_innen erleichtert und fördert. Hinsichtlich ihrer Ansprüche an Perfektion und der individuellen Definition von ›Erfolg‹ beim Erlernen der deutschen Sprache unterscheiden sich die einzelnen skandinavischen Gesprächspartner_innen allerdings deutlich. Während einige kein Problem damit haben, gelegentlich einen grammatikalischen Fehler in der gesprochenen Sprache zu machen, empfinden Andere ein nicht völlig fehlerfreies mündliches oder schriftliches Deutsch als »ärgerlich« und deuten dies als Misserfolg.6 Die aus Norwegen stammende Mia zählt beispielsweise zu ersteren: »Also die Sprache, ich weiß, ich mache Fehler, aber ich bin nicht gestört dadurch selbst. Ich rede ganz einfach weiter. ((Lachen)) Und das ist klarerweise ganz wichtig, dass man sich wohl fühlt mit der Sprache, die man spricht.«
Jene, die für sich den Anspruch auf Perfektion erheben, führen dies selbst auf den persönlichen Charakter (Deutungsmuster ›Ich bin Perfektionist_in!‹) oder auf das persönliche Wertesystem (Deutungsmuster ›Fehlerfreie Sprache ist mir wichtig!‹) zurück. Die von mir interviewten Migrant_innen aus Skandinavien beschreiben das Deutschlernen als keineswegs einfachen und anstrengenden Lernprozess. Sie deu6
Zu den unterschiedlichen Sprachformen Verstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben vgl. Esser 2006, 37 f.
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ten die damit verbunden Anforderungen jedoch keinesfalls als ›Problem‹, sondern sehen dies vielmehr als beschwerlichen, aber temporären Teil des Migrationsprozesses, der vor allem Geduld und Ausdauer erfordert:7 »Ich habe wirklich Tage, wo ich denke, ich will nicht Deutsch reden, ich kann nicht Deutsch reden heute. Weil es mich schwächt ganz einfach. Und wo ich eigentlich dann Englisch reden will, weil es einfacher ist für mich. Norwegisch kommt eh nicht in Frage, weil ich ja hier keinen Umgang habe. Aber da muss ich zugeben, dann rede ich Englisch und plötzlich fällt mir das Wort nicht ein und ich will dann sofort wieder Deutsch reden. Weil da fällt mir die Phrase ein oder so. Aber das ist so, kann man lernen. Das kann man lernen.« (Mia) »In der Vorlesung die ersten paar Monate, da war mein Hirn / Also jeden Tag war ich komplett fertig. Da war alles nur auf Deutsch, die ganzen Vorlesungen, da waren ja auch Begriffe und akademische Sachen, die hab ich nie gehört. Also vorher war=s ja nur Gaude, Skifahren, passt geh=ma Vollgas und so was. Des war einfach. Aber dann auf einmal war alles sehr akademisch und so. Und des war dann natürlich net so einfach, aber nach ein paar Monaten war das auch kein Problem. Reine Gewöhnungssache. Aber es war anstrengend am Anfang, muss ich schon sagen. Aber ich hab Gott sei Dank eine ziemlich gute Basis gehabt von der deutschen Sprache und deswegen war das für mich kein Problem.« (August) »Deutsch ist sehr schwer. Also diese ganzen Fälle und Genitiv und Dativ, das is ja für einen intelligenten Dänen schon ein Horror. Das ist wirklich nicht leicht. Aber viele Österreicher können auch nicht Deutsch, also das lernt man dann.« (Tilde)
Die bereits zitierte Mia, die 1998 aus Norwegen nach Österreich gekommen ist, beschreibt etwas ausführlicher anfängliche Hürden beim Erlernen der deutschen Sprache. Diese Schwierigkeiten lagen jedoch primär darin begründet, dass es ihr an Gelegenheiten mangelte, ausreichend zu üben. Da sie sowohl in ihrer Intimbeziehung als auch in ihrem Arbeitsumfeld Englisch sprach, musste sie sich bewusst und unter großer Anstrengung Möglichkeiten schaffen, um das von ihr als nötig und wünschenswert erachtete Sprachniveau zu erlangen.
7
In diesem Kontext muss auch die jeweilige bisherige Dauer des Lebens in Österreich bedacht werden. Für Migrant_innen, die schon sehr lange hier leben, nimmt das Thema Deutschlernen vermutlich in der Retrospektive eine andere Rolle in ihren Erzählungen ein als für jene Gesprächspartner_innen, die diesen Prozess noch nicht oder erst kürzlich bewältigt haben.
126 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Und irgendwann war ich aber sehr wütend mit meinem Freund. Ich habe gesagt, ich will Deutsch lernen. Ich habe gesagt, ich bin hier und ich will Deutsch lernen und niemand will mit mir Deutsch reden. Ich habe Deutsch gehabt in der Schule. Maturiert in Deutsch und habe aber dann / Das war drei, vier Jahre dann seitdem. Und es war schwierig dann anzufangen zu reden. Ich habe ganz einfach gebraucht, dass jemand Geduld hat mit mir zu reden. Aber alle haben Englisch mit mir geredet. Und das war ein Kampf am Anfang, dass das stattfindet.«
Frida aus Dänemark wiederum erwähnt, dass die Anstrengung, die ihre zunächst mangelhaften Deutschkenntnisse bedeuteten, sie gar über eine Remigration nachdenken ließ: »Ich kann mich erinnern, am Anfang, da waren wir mit Freunden beim Heurigen, und das war also sehr, sehr anstrengend. Also wenn sie Witze erzählt haben und gelacht haben, und ich hab nix verstanden. Da kann ich mich erinnern, da hab ich ein bissl überlegt, ob das doch nicht zu anstrengend ist, aber das sind so Sachen, die man mit der Zeit lernt.«
Wobei die »Anstrengung«, die Frida hier beschreibt, sich ebenfalls nicht in erster Linie auf die Ebene inhaltlicher Kommunikation bezieht. Vielmehr scheint sie aus dem Gefühl, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein, zu resultieren. Um ihr Deutsch zu verbessern, besuchten einige Gesprächspartner_innen in Österreich weitere Deutschkurse, zum Großteil aber lernten sie Deutsch im Alltag. Eine Strategie, die dabei einige Gesprächspartner_innen anwandten, ist den Kontakt zu ›Landsleuten‹ zu meiden, um damit quasi ›gezwungen‹ zu sein, Deutsch zu sprechen. Für Skandinavier_innen ist die Sprache zudem das einzige Merkmal, das sie im Alltag als ›Fremde‹ erkenntlich macht, da sie über den Phänotyp meist nicht als ›Ausländer‹ zu erkennen sind. Damit kommt für diese Migrant_innengruppe der Sprache als Element von Identitätskonstrukten eine besonders hohe Bedeutung zu. Die aus Finnland stammende Sara etwa bemerkt: »Ich mein solange die Sprache noch irgendwie holprig ist, oder so lange man irgendwie sofort sozusagen als Ausländer irgendwie erkennbar ist, ist es wahrscheinlich, also jetzt auch für einen selber, schwer, sich wirklich zuhause zu fühlen.«
Wie dieses Zitat zeigt, ist es für Sara im Kontext des Erlangens von ›Heimatgefühl‹ nicht nur wesentlich, ›ungehindert‹ kommunizieren zu können. Dem ›Zuhausefühlen‹ steht das beständig als ›Fremde‹ erkannt und wahrgenommen zu werden im Wege. Auch einige andere Gesprächspartner_innen teilen diese Deutung. Wieder andere Migrant_innen sind sich zwar bewusst, dass sie durch ihr Deutsch als NichtÖsterreicher_innen zu erkennen sind, stören sich aber nicht daran. Sind sie sonst
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mit ihrem Leben in Österreich zufrieden und empfinden sie kleine grammatikalische Fehler nicht als Hindernis in der Kommunikation, deuten sie diese Tatsache nicht als belastend. Der Norweger Erik erfuhr die Funktion von Sprache als Marker sozialer Zugehörigkeit und als Grund für (gefühlte) Exklusion auf sehr spezielle Weise. Er stellt gewissermaßen einen Sonderfall dar, da er, bedingt durch seinen österreichischen Vater, bereits ein hohes Niveau in Deutsch erreicht hatte, als er im Alter von 18 Jahren nach Österreich einwanderte. Allerdings bezogen sich seine Deutschkenntnisse auf die mündliche Sprache, die zudem stark umgangssprachlich geprägt war. Das führte einerseits dazu, dass er in der mündlichen Kommunikation oftmals nicht als ›Ausländer‹ zu erkennen war. Vor allem sein umgangssprachliches Deutsch wurde als Merkmal sozialer Zugehörigkeit gedeutet. »Natürlich im Augenblick wo du ein bisschen Mundart reden kannst bist du schon / Du stehst bei irgendeiner Behördenstelle und du bist schon viel besser dran. Das is eigentlich traurig, aber das is so. Oder auch wenn du von einem Polizisten aufgehalten wirst. ›Warum sagst es net glei, dass du von dort bist? Na foahr wieder‹. ((Lachen))«
Zugleich hatte er andererseits massive Probleme in sozialen Feldern, in denen ein gutes Hochdeutsch in Wort und Schrift gefordert war. Während seines Studiums etwa empfand er seine (gefühlte) Unfähigkeit sich passend und der Situation adäquat zu artikulieren, als massives Hemmnis und als Quelle großer Unsicherheit. »Und dann plötzlich steh ich da, und ohne dass ich=s weiß, versuch ich Hochdeutsch zu reden und es kommt ein Kauderwelsch raus. Das is ein totaler Misch. [...] Mir war das bewusst, aber es hat mich auch gehemmt. Ich hab mich nicht getraut, weil ich schon wusste, das ist eine Welt, die ich nicht beherrsche.«
Vor allem für Migrant_innen aus Skandinavien lässt sich aber auch eine große Bedeutung der Muttersprache aus den Erzähltexten rekonstruieren. Ihre »Pflege« und regelmäßige Übung ist für sie ein essentieller Bestandteil ihrer Identität und ihres Alltagslebens. »Da bin ich dankbar, dass ich meine Sprache immer gepflegt hatte und wirklich gefunden habe, du darfst nie deine Sprache vergessen. Und das is eine ganze wichtige Sache, dass man das nie vergessen darf!« (Frida)
Im Allgemeinen verstehen die Interviewpartner_innen unter einer solchen »Pflege« das bewusste Praktizieren der Sprache (Lesen, Schreiben, Sprechen) mit dem Ziel, die Muttersprache nicht ›zu vergessen‹. Dies ist zum einen eine rein praktische Notwendigkeit zum Erhalt transnationaler sozialer Netzwerke. Zum anderen spielt
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die Muttersprache als Element der Herkunftskultur auch eine wichtige Rolle im Rahmen von Identitätskonstruktionen. Das Ausmaß der »Pflege« der Muttersprache und die individuellen Ansprüche dabei variieren jedoch. Im Gegensatz zu der eben zitierten Frida deutet Tilde von ihr nicht aktiv miterlebte sprachliche Veränderungen, und damit eine gewisse ›Entfremdung‹ von der Muttersprache und von ›zuhause‹, als wenig bedeutsam. »Weil mein Dänisch ist so wie vor vierzig Jahren, und die Sprache entwickelt sich ja auch weiter. Und wenn die jungen Dänen sprechen so schnell miteinander, ich versteh jedes Wort, aber ich denk, uh die haben so ein flache Aussprache. Und ich wiederum werde so ein bissl gehänselt: ›Du redest wie die Königin!‹«
Zugleich bemerkt Tilde, bezogen auf ihr Deutsch, dass »man hört, dass ich nicht eine Österreicherin bin«. Sie ist, ihrer Darstellung zufolge, also in keiner Sprache vollkommen ›zuhause‹. Allerdings lässt sich kein daraus resultierender Leidensdruck für diese Migrantin aus ihren Erzählungen rekonstruieren. Vielmehr deutet Tilde diesen Umstand als Resultat und Bestandteil ihrer transnationalen und transkulturellen Biographie und Lebenswelt. Während also einige eine bewusste und pflichtbewusste Pflege ihrer Muttersprache beschreiben, erzählen andere lediglich, wie sehr sie es genießen, immer wieder in ihrer Muttersprache kommunizieren zu können. Für wieder andere ist die Verwendung der Muttersprache mit Freunden und Familie im Herkunftsland oder mit den eigenen Kindern in Österreich ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltags, der gar nicht besonders erwähnt wird. Wobei natürlich gerade auch diese Selbstverständlichkeit auf die Bedeutung verweist, die dieser Sprache für sie zukommt. Das Praktizieren der Muttersprache ist demnach für Interviewpartner_innen aus Skandinavien ein wesentliches Element der auf unterschiedliche Weise praktizierten und hergestellten Transkulturalität und Transnationalität. (Siehe Kap. 6) Zugleich kommt der Muttersprache für aus Skandinavien Zugewanderte im Kontext von Identitätskonstrukten und -prozessen hohe identitätsstiftende Bedeutung zu. (Siehe Kap. 7) Migrant_innen aus Spanien Im Gegensatz zu den Migrant_innen aus dem skandinavischen Raum verfügen die interviewten Zuwander_innen aus Spanien über deutlich andere sprachliche Voraussetzungen. Zwar haben einige bereits im Vorfeld Deutsch gelernt, allerdings stets im Zusammenhang mit der späteren (oder weiteren) Migration nach Österreich. D.h. sie lernten Deutsch, weil sie wussten, sie würden nach Österreich übersiedeln, oder sie kamen nach Österreich, um Deutsch zu lernen und blieben in Folge hier.
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Auch für diese Zuwander_innen war und ist es ein wesentliches Ziel, die deutsche Sprache so gut wie irgend möglich zu beherrschen. Während sich für Migrant_innen aus Skandinavien allerdings der Orientierungsrahmen einer hohen Lebensqualität als primäres Motiv des Deutschlernens rekonstruieren lässt, werden von den aus Spanien Zugewanderten primär praktische Anforderungen wie Beruf oder Familie als Gründe und Motivation des Deutschlernens genannt. Auch die Bedeutung von Deutschkenntnissen für soziale Integration wird immer wieder thematisiert. Daraus soll jedoch nicht geschlossen werden, Lebensqualität habe keine Bedeutung für diese Zuwander_innen, schließlich sind auch zufriedenstellende berufliche und familiäre Umstände wesentliche Bestandteile einer hohen Lebensqualität. Es fällt aber doch auf, dass Faktoren wie ›wohlfühlen‹ oder ›sich zuhause fühlen‹ von Migrant_innen aus Spanien kaum als Motiv und Teil des positiven Orientierungshorizontes im Kontext des Lernens der deutschen Sprache thematisiert werden. Spanische Interviewpartner_innen beschreiben sprachlichen Hürden als große bzw. die größte anfängliche Schwierigkeit. Aber auch sie sehen darin kein unüberwindbares Problem, sondern eine ›fordernde Schwierigkeit‹, die mit Engagement und Beharrlichkeit überwunden werden könne. »Aber, man muss sich wie gesagt durchkämpfen. Und Fehler machen. Und wie gesagt, Kaiserschnitt im Aida bestellen anstelle von Kardinalschnitte oder solche Sachen, und dann funktioniert das irgendwann.« (Marta)
Gleichwohl fällt auf, dass die interviewten Spanier_innen sprachliche Schwierigkeiten im Vergleich tendenziell als größere Hürden beschreiben bzw. wahrnehmen, als Migrant_innen aus Skandinavien dies tun. Das kann jedoch möglicherweise damit erklärt werden, dass letztere, wie bereits erwähnt, nahezu alle bereits in der Schule Deutsch gelernt haben. Die geringe linguistische Distanz zwischen Deutsch und vor allem Dänisch, mag in diesem Kontext ebenfalls eine Rolle spielen. Ebenso wie von den Skandinavier_innen wird auch von den Gesprächspartner_innen aus Spanien ein (anfängliches) Gefühl von Fremdheit aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse beschrieben. Die Unfähigkeit, sich auf eine als zufriedenstellend empfundene Art und Weise artikulieren zu können, wird als belastend gedeutet. »Nur bei der Sprache vielleicht, manchmal fühle ich mich nicht so sicher. Ich habe eine gute Beziehung zu den Nachbarn, aber die Sprache macht schon einen Unterschied: Bist du ein bisschen anders, kannst du nicht so perfekt reden wie deine Sprache, um deine Gefühle oder Gedanken so richtig aussprechen.« (Clara)
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Die Erfahrung aber, durch die Sprache als ›Ausländer‹ erkannt zu werden, und so durch die Wahrnehmung der Anderen zu einem/einer ›Fremden‹ ›gemacht‹ zu werden, wird interessanterweise von den hier interviewten Migrant_innen aus Spanien nie beschrieben. Möglicherweise ist dies auch darin begründet, dass einige Spanier_innen bereits durch ihren Phänotyp zumindest als ›Südländer_innen‹ erkennbar sind. Ein Phänomen, das erstaunlicherweise wiederum nur von Spanier_innen beschrieben wird, ist eine gewisse Verschiebung der Prioritäten im Laufe der (Migrations-)Biographie. Einige aus Spanien stammende Gesprächspartner_innen investierten zunächst viel Zeit und Mühe in das Erlernen der deutschen Sprache. Sobald sie jedoch berufstätig sind und/oder Kinder haben, liegen ihre Prioritäten überwiegend auf diesen Lebensbereichen. Sie hören auf, weiterhin so intensiv und aktiv Deutsch zu lernen, was von ihnen mit einem Mangel an Zeit begründet und erklärt wird. Die von Interviewpartner_innen aus Skandinavien ebenfalls beschriebene Strategie, ›Landsleute‹, zumindest in der ersten Zeit in Österreich, zu meiden, um auf diese Weise schneller Deutsch zu lernen, wird auch von einer Reihe von Gesprächspartner_innen aus Spanien angewandt. Selbst wenn dies die erste Zeit der Migration für sie zunächst erschwert, wie beispielsweise Daniela zu berichten weiß: »Also es gibt sehr viele spanische Studenten in Wien und die bauen so kleine Gruppen. Und ich wollte das aber nicht. Ich wollte mich ein bisschen integrieren und so. Und Deutsch lernen und so. Und deswegen war es dann einfach am Anfang sehr, sehr schwierig, weil wenn man die Sprache nicht kennt, dann kann man wirklich nix machen.«
Die Bedeutung der Muttersprache wird, im Gegensatz zu Migrant_innen aus Skandinavien, von Zuwander_innen aus Spanien nicht thematisiert. Auch wenn aus den Erzählungen hervorgeht, dass auch Spanier_innen ihre Muttersprache regelmäßig (beispielsweise im Kontakt mit Familie und Freunden im Herkunftsland), oder auch im Alltag (etwa mit den Kindern) praktizieren, wird die Bedeutung, die sie der Pflege ihrer Muttersprache beimessen, nie expliziert. Eine Erfahrung, die von Spanier_innen wie Skandinavier_innen (also von Migrant_innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist) immer wieder beschrieben wird, ist es, sich aufgrund mangelhafter Sprachkenntnisse ›dumm zu fühlen‹ bzw. das Gefühl zu haben, von anderen aufgrund dessen als wenig(-er) intelligent wahrgenommen zu werden. Diego formuliert dies sehr deutlich: »Manchmal fühlst du dich wie so ein Idiot, gell, vor den Leuten. ((Lachen)) Und die denken von dir, was hast du gelernt oder was hast du studiert? Ja, dann hab ich net amal das Wort, was zu sagen. Naja, das war schwer!«
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Derartige Erfahrungen verweisen auf einen weiteren Aspekt der Bedeutung von kommunikativer Anschlussfähigkeit. Die (Un-)Fähigkeit, Gedanken und Gefühle artikulieren zu können, betrifft nicht allein ein inhaltliches Verständnis, sondern ebenso das interaktionell konstruierte Selbstbild der individuellen Akteure. Das Gefühl, aufgrund eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit nicht zeigen zu können, ›wer man wirklich ist‹ und ›was man wirklich kann‹, wird als extrem belastend beschrieben. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass meine Interviewpartner_innen, sowohl aus Spanien als auch aus Skandinavien (natürlich in Abhängigkeit von der Dauer ihres Aufenthalts in Österreich bis zum Zeitpunkt des Gesprächs8), sehr gut Deutsch sprechen. Zumindest auf Basis der mündlichen Erzählungen im Zuge der geführten Interviews können die Gesprächspartner_innen als bilingual bezeichnet werden. Hartmut Esser zufolge ist dieser Befund aus quantitativer Perspektive jedoch eine Ausnahme. Er schreibt: »International überwiegt über die Einwanderergenerationen hinweg eine deutliche Tendenz zur monolingualen Assimilation. Eine kompetente Zweisprachigkeit, also die Beherrschung von sowohl Herkunfts- als auch Landessprache auf hohem (mündlichem und schriftlichem) Niveau, wird der Ausnahmefall bleiben.«9
Die jeweiligen Ziele, Möglichkeiten und Erfolge des Deutschlernens hängen von einer Reihe individueller Faktoren ab. Esser nennt vier »grundliegende Größen«, die eine wesentliche Rolle im Prozess des Spracherwerbes spielen: »die Motivation, [...] die Gelegenheiten des Lernens, messbar an den Häufigkeiten eines Zugangs zu entsprechenden Verstärkungen aus der Umgebung, die grundlegende Fähigkeit, mit der ein bestimmtes Lernen überhaupt stattfinden kann, [...] die Abwesenheit von stärkeren aversiven Folgen, die man auch als die erlebten oder erwarteten Kosten des Lernens ansehen kann«10.
Alle von mir interviewten Gesprächspartner_innen verfügen über die grundlegenden kognitiven Fähigkeiten und zeigen keinerlei Aversion gegen das Lernen der deutschen Sprache. Wie beschrieben, ist ihre Motivation zudem in allen Fällen sehr hoch, da sie (individuell definierte) ausreichende Deutschkenntnisse für unbedingt erforderlich erachten und das Lernen der Landessprache als einen zwar nicht einfa8
Zum Zusammenhang von Sprachbeherrschung und Aufenthaltsdauer vgl. z.B. Esser 2006, 23 f.
9
Esser 2006, ii.
10 Esser 2006, 16 ff.
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chen, aber doch wichtigen Teil ihres Migrationsprozesses ansehen. Dies betrifft auch jene Immigrant_innen, die mit Ehepartnern aus demselben Herkunftsland nach Österreich kamen. Auch für sie, die in der Familie keine Fremdsprache sprechen (müssen), hat das Deutschlernen hohen Stellenwert. Hinsichtlich der Gelegenheiten des Lernens können die Gesprächspartner_innen als selbstverantwortlich und aktiv beschrieben werden. Indem sie beispielsweise den Kontakt zu ›Landsleuten‹ meiden oder Sprachkurse besuchen, schaffen sie sich die nötigen Möglichkeiten selbst. Österreichisches Deutsch – Deutsches Deutsch Deutlich anders stellt sich die Situation für jene Migrant_innen dar, die aus Deutschland nach Österreich zugewandert sind. Aber auch wenn sie in ein Land migrierten, in welchem formal die selbe Sprache gesprochen wird wie im Herkunftsland, zeigt sich aufgrund der plurizentralen deutschen Sprache11, dass auch für diese Zuwander_innen in einem spezifischen Sinn das österreichische Deutsch eine fremde Sprache ist, und der lernbereite Umgang damit eine Herausforderung darstellt. Die Unterschiede zwischen dem Deutsch der Herkunftsregion in Deutschland und dem österreichischen Deutsch, das sie in jener Region Österreichs vorfinden, in der sie sich niederlassen, werden von meinen aus Deutschland stammenden Interviewpartner_innen als signifikant wahrgenommen und beschrieben. Allerdings ist offenbar nicht allen bewusst, dass das Deutsche auch in Deutschland vielfältig ist, woraus hin und wieder ein Sprachzentrismus entsteht, d.h. die Ansicht, das Österreichische sei eine Abweichung vom Deutschen: »Und für mich ist es auch so, dass in Österreich nicht Deutsch, sondern Österreichisch gesprochen wird.« (Theresa)
Zahlreiche Gesprächspartner_innen hatten mit derartigen sprachlichen Differenzen (und den daraus resultierenden Herausforderungen oder Schwierigkeiten) nicht gerechnet. Das Ausmaß und die Bedeutung dieser Differenzen waren für sie völlig überraschend. »Und dann bin ich hier herkommen und dachte, ja is eigentlich ganz geil. Wien, da spricht man meine Muttersprache. Das war der erste Irrtum, dem ich unterlegen bin. ((Lachen))« (Isabella)
11 Zu Deutsch als einer plurizentristischen Sprache vgl. Rudolf De Cillia, Deutsche Sprache und österreichische Identität. In: Medien – Impulse. Thema 1 (1995), 4-13; 6. Zur sprachpolitischen Auseinandersetzung im Zuge des EU-Beitritts Österreichs vgl. z.B. ebda. 7 f.
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Aus den vorliegenden Erzähltexten lassen sich zwei unterschiedliche Aspekte dieser (überraschenden) Wahrnehmung sprachlicher Differenz rekonstruieren: Erstens ein Nichtverstehen und Nichtverstandenwerden und zweitens die Tatsache, dass auch diese Migrant_innen durch ihre Sprache ständig als ›Fremde‹ zu erkennen sind, respektive erkannt werden. Das Nichtverstehen oder Nichtverstandenwerden deuten die Interviewpartner_innen – zumindest in der Retrospektive – als weniger problematisch, da sich diese Kommunikationsprobleme letztlich mit der Zeit durch einen nicht übermäßig schweren und mehr oder weniger automatischen Lernprozess wie von selbst lösen. Dennoch zeigt sich, dass dieser Herausforderung unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden und differenzierte Umgangs- und Lösungsstrategien angewandt werden. Katharina beispielsweise, die von Halle an der Saale nach Wien übersiedelt ist, empfand die sprachlichen bzw. dialektalen Unterschiede anfangs als »schwierig«, hörte sich aber bald ein: »Und ja, ganz am Anfang hab ich eigentlich mir gedacht, okay die Sprache is schwierig. Ich hab teilweise wirklich versucht zu vermeiden, Leute anzusprechen, weil ich mir dachte, ich versteh dann irgendwie nicht, was die sagen. Und es is irgendwie unangenehm, da noch mal nachfragen zu müssen. [...] Und die Sprache, das war eigentlich relativ bald mal, dass ich mich eingehört hab und dass es dann kein großes Thema mehr war.«
Während Katharina das Nichtverstehen als »unangenehm« empfindet und mit einem tendenziellen Vermeidungsverhalten reagiert, nehmen andere dies von an Anfang an mit Humor und betrachten andere Ausdrucksformen oder Sprachfärbungen als Bereicherung. So erzählt etwa Isabella: »Als ich hierhergekommen bin und das erste Mal den Satz gehört hab ›Es geht sich nicht aus‹, hab ich gedacht, wie konnte ich sechsundzwanzig Jahre lang ohne diesen Satz existieren? War mir wirklich schleierhaft, dass es in Deutschland diesen wunderbaren Satz nicht gibt. Wir müssen das umschreiben, und das is hier ein einfaches ›Es geht sich nicht aus‹!«
Der Tatsache, dass sie sich durch ihre Sprache unweigerlich als Fremde ›outen‹, wird von den Interviewpartner_innen deutlich mehr Bedeutung beigemessen als den ohnehin begrenzten semantischen und dialektalen Verständigungsproblemen: »Ich bin anscheinend recht dialektresistent. Also ich werd oft angesprochen, ›Woher kommst du?‹, ›Kommst du aus Deutschland?‹, ›Woher aus Deutschland?‹ Weil ich halt rede wie ich rede. Das is so das Alltäglichste, womit ich konfrontiert bin.« (Isabella)
134 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Ich dachte, ich tu hier in der Masse total untergehen weil ich spreche ja auch fließend Deutsch und dann bin ich einer von vielen. Aber das is nicht so, oder das ist mir bewusst geworden, dass es eben nicht so ist.« (Sven)
Während einige Interviewpartner_innen das ständige als ›Deutsche‹ Verortetwerden als Bestandteil ihres Lebens in der Migration hinnehmen, ohne es zu bewerten, empfinden es andere als belastend und störend. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen stehen wohl auch im Zusammenhang mit den jeweiligen Erfahrungen (und deren Deutungen) mit Stereotypen und Vorurteilen. Die Erfahrung, dass die Verortung als Deutscher/Deutsche mitunter auch negative Stereotypen nach sich ziehen kann, wird von einigen Gesprächspartner_innen beschrieben. (Siehe Kap. 4.5.4) Wie aus den vorliegenden Interviews deutlich hervorgeht, spielt Sprache eine bedeutende Rolle für die Konstruktion kultur-nationaler Identitäten, auch und vielleicht sogar besonders, wenn es sich dabei wie beim Deutschen um regionale Formen einer plurizentralen Sprache handelt. Für die Zugewanderten stellt sich, mehr oder weniger bewusst, die Frage, wie weit sie sich sprachlich an eine regionale Variante des österreichischen Deutsch anpassen wollen und können. Etwas von dieser Abwägung, wie weit man in der Anpassung gehen will, ist in dem folgenden Zitat aus der Erzählung von Sven zu erkennen: »Es gibt so=n paar österreichische Wörter, gegen die ich mich lange gewehrt habe, weil ich sie peinlich finde. Sackerl ganz konkret. Das ist etwas, worin ich nicht mehr sonderlich konsequent bin. Wo ich mir dann denke okay, ich beiß mir kurz auf die Zunge und weiß aber, ich werde unmissverständlich verstanden. Aber es gibt so=n paar Sachen, gegen die ich mich gesperrt habe.«
Sven verweigert zunächst die Verwendung von bestimmten österreichischen Ausdrücken, die dem im Herkunftsland erworbenen Deutsch und damit seinem Sprachgefühl widerstreben. Schließlich adaptiert er sein Deutsch jedoch bewusst in einigen Bereichen. Zum einen tut er das, weil er es als ermüdend empfindet, nicht verstanden zu werden, zum anderen aber ebenso, weil er das »Heimatgefühl«, das er für Österreich mittlerweile empfindet, bewusst auch durch seine Sprache ausdrücken möchte. Somit stellt auch Svens Erzählung ein sehr gutes Beispiel für die Funktion von Sprache als Träger und Ausdruck (multipler oder hybrider) Zugehörigkeiten dar. »Ich denke, ehe ich mich jetzt erklären oder wiederholen muss, sag=s ich lieber, auch wenn=s immer so ein kurzer Ekel is. Auch weil ich inzwischen doch stolz bin, hier irgendwie ne Heimat gefunden zu haben. So sehr, dass ich hin und wieder auch ne Freude habe, wenn ich in Deutschland bin, Redewendungen die sich jetzt hier ergeben haben, einfach genauso wie ich sie hier sage, zu sagen. Auch wenn ich jetzt weiß, dass es falsch ist.
Alltagswelten | 135 Also, dass man=s in Deutschland nicht so sagt. So dieser exzessive Gebrauch von ›Eh‹, ›Eh klar. Weiß ich eh‹, ist etwas, das mir inzwischen auch in Deutschland sehr viel Freude macht das anzuwenden und damit halt so meine neue österreichische Heimat zu präsentieren, raushängen zu lassen. Oder dieses Gefühl von Angekommensein.«
Einen ähnlichen Widerwillen gegen bestimmte österreichspezifische Ausdrücke beschreibt auch Theresa, die jedoch keinerlei Bereitschaft bzw. Notwendigkeit verspürt, sich in ihrer Sprechweise an das österreichische Deutsch anzupassen. Sie hält einzelne Besonderheiten des österreichischen Deutsch für falsch und weiß scheinbar nicht, dass einige der österreichischen Besonderheiten durchaus ›richtig‹ sind. Offenbar ist die Unkenntnis der multiplen Varianten des ›richtigen‹ Deutsch die Folge einer Primärsozialisation und eines Deutschunterrichts, der diese Varianten leugnet, sei es, um die Kinder in der eigenen regionalen Variante zu sozialisieren, sei es aus dem Motiv, sie über das Falsche und das Richtige nicht zu verwirren. »Manches kann ich gar nicht aussprechen, geht mir nicht über die Lippen. Und anderes finde ich einfach auch falsch, so grammatikalisch zum Beispiel ›das Service‹ zu sagen. Oder - was gibt=s da noch - also zu einem Stuhl Sessel zum Beispiel. Also das geht nicht. Also das mach ich dann bewusst nicht, weil=s für mich falsch ist, weil ich das so nicht kenn, das anders in mir drin hab. Sackerl kann ich auch nicht sagen. Da sag ich trotzdem immer noch Tüte zum Beispiel, weil ich das Wort nicht mag. Ich red halt einfach weiter so, wie ich immer geredet hab.«
Theresas selbstbewusstes und resolutes Festhalten an ihr vertrauten Ausdrücken kann als Ausdruck von nicht entwickelten ›Heimatgefühlen‹ für Österreich gelesen werden. Im Gegensatz zu Sven fühlt sie sich hier weder willkommen, noch stellt Österreich für sie einen identitätsstiftenden Bezugshorizont dar. Während Svens Migration von Anfang an von Offenheit und Euphorie geprägt ist, ist für Theresa die Suche nach Zugehörigkeit und das Gefühl beständiger Exklusion dominant. Dementsprechend stellt sich für sie die Frage einer möglichen sprachlichen Adaption auch anders dar: »Also ich hab das natürlich auch versucht am Anfang, Österreichisch zu sprechen, aber das hört sich lächerlich an. Also ich mach mich da nur zum Clown. Und das hab ich dann auch irgendwie nicht gebraucht und hab dann auch damit aufgehört. Und, wie du=s jetzt hörst, das hört man immer noch. Ich sprech halt so wie mir der Schnabel gewachsen is. Und ich werde heute, nach dreißig Jahren, wenn ich neue Leute kennen lerne, werd ich immer noch gefragt, ja, ob ich denn nächstes Jahr auch wieder vorhabe nach Österreich zu kommen, um Urlaub zu machen. ((Lachen)) Is doch großartig oder?«
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Andere Interviewpartner_innen gehen mit der Frage der sprachlichen Anpassung weniger bewusst oder reflektiert um. Sie verwenden weder bewusst österreichische Begriffe, noch gehen sie restriktiv mit einer unbewussten und schleichenden Veränderung ihrer Sprache um. Die Haltung, ich rede »wie mir der Schnabel gewachsen ist«, und die leichten dialektalen Färbungen weisen allerdings auf eine unmerkliche Anpassung an lokale Varianten des österreichischen Deutsch hin, die ironischer Weise auch dann zur Geltung kommt, wenn sich Einwander_innen eigentlich davon distanzieren: »Ich hab Ausdrücke hier angenommen. ›Bist du deppert‹ zum Beispiel. ((Lachen)) Und reden tu ich, so wie mir der Schnabel gewachsen is und ich würd da nichts unterdrücken. Oder bewusst Österreichisch sprechen, weil ich dann einen Vorteil daraus ziehe, oder sonst irgendwas würd ich nicht machen. Es is so wie=s is!« (Lisa) »Ich habe keine Probleme mit dem wienerischen Dialekt oder auch mit dem niederösterreichischen Dialekt. Ich versteh alles, aber ich gewöhn mir das auch nicht an, es selber zu sprechen, komischerweise.« (Michael)
4.1.2 Interkulturelle Kommunikation Wie an den vorliegenden Erzähltexten deutlich wird, stellt Sprache aber nicht allein in der bisher diskutierten Form eine Herausforderung für transnationale Migrant_innen dar. Kommunikative Probleme und Hürden werden auch in Bereichen beschrieben, die als ›interkulturelle Kommunikation‹ subsumiert werden können. Nach einer kurzen einführenden theoretischen Diskussion dieses Begriffs soll daher im Folgenden der Frage nach sogenannten »critical incidents« also nach »typischen, sich wiederholenden interkulturellen Schlüsselerlebnissen und Konfliktsituationen«,12 in den Erzählungen nachgegangen werden. Welche Differenzen in Kommunikations- und Verhaltensmustern werden beschrieben? Ergeben sich daraus Konflikte oder Schwierigkeiten? Wie werden diese Erfahrungen gedeutet und wie gehen meine Interviewpartner_innen damit um? Theoretische Diskussion Interkulturelle Kommunikation kann in unserem Zusammenhang auf die interpersonale Face-to-Face Kommunikation zwischen in verschiedenen Ländern bzw. Kulturnationen13 sozialisierten Akteur_innen bezogen werden.14 Mit dem Begriff ›in-
12 Broszinsky-Schwabe 2011, 220. 13 Vgl. Kapitel 3.
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terkulturell‹15 werden dabei Beziehungen beschrieben »in denen die Beteiligten nicht ausschließlich auf ihre eigenen Kodes, Konventionen, Einstellungen und Verhaltensformen zurückgreifen, sondern in denen andere Kodes, Konventionen, Einstellungen und Alltagsverhaltensweisen erfahren werden. Dabei werden diese als fremd erlebt und/oder definiert.«16 Der Begriff Kommunikation umfasst dabei nicht nur die rein grammatikalische Ebene der Sprache, sondern auch eine Reihe weiterer Aspekte und möglicher Verständnishürden. Neben verbaler Kommunikation stellen auch para-verbale Kommunikation (Intonation, Sprachrhythmus, Lautstärke, Tempo) und non-verbale Kommunikation (Gestik, Mimik, Proxemik sowie non-verbale Handlungen) Elemente interpersonaler Kommunikationsprozesse dar. Diese Kommunikationsmuster und Verhaltensweisen basieren zu einem großen Teil auf gelernten ›Scripts‹, also auf ›vorbestimmten Handlungsabläufen‹. Sie »haben kulturspezifische Bedeutung und kulturspezifischen Stellenwert«.17 Edith Broszinsky-Schwabe führt dazu aus: »Jede Kultur enthält ein spezifisches Muster für die Kommunikation mit anderen. Das betrifft das Verhalten in einer Kommunikation: Grußverhalten, Regeln für die Interaktion mit Mitgliedern unterschiedlicher Altersgruppen, Geschlechter oder sozialer Hierarchien, Gebrauch der Sprache in diesen Interaktionen und Gebrauch von nonverbalen Mitteilungen, zeitliche Dauer von Gesprächen oder Veranstaltungen, die Art, wie man miteinander redet. Man lernt in einer Kultur, wann man was zu wem sagen darf oder wann man schweigt. Dies alles gehört zum Code, den eine Kultur für die Kommunikation vorgibt. Fremde können diesen Code a priori nicht beherrschen, da er innerhalb einer Kultur erlernt wird. Man kann sich ihm nähern durch Beobachtung von Verhalten der anderen, durch Nachfragen bei Missverstehen etc.«18
14 Vgl. dazu Lüsebrink 2012, 7; Hall 1981, 47; Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurse der Moderne. (Frankfurt am Main 1988); Hubert Knoblauch, Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. In: Ilja Srubar/Joachim Renn/Ulrich Wenzel (Hrsg.), Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen. (Wiesbaden 2005), 172-194. 15 Wie in Kapitel 3 diskutiert und dargelegt, soll in dieser Studie das Konzept der Transkulturalität verwendet werden, um kulturelle Konfluenz analytisch zu erfassen und zu beschreiben. Da der Terminus ›interkulturelle Kommunikation in der Literatur stets in dieser Form verwendet wird, wird diese Benennung im Bezug auf dieses Konzept zur besseren Verständlichkeit beibehalten. 16 Lüsebrink 2012, 7. 17 Lüsebrink 2012, 49. 18 Broszinsky-Schwabe 2011, 66.
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Zugleich ist aber natürlich zu bedenken, dass Verhalten, Wahrnehmung und Deutung in der Kommunikation zwar auf gelernten (kulturellen) Scripts sowie Werten und Handlungsmustern basieren, aber dennoch auch individuell unterschiedlich sind. Wahrnehmung und Reaktion werden stets auch von der jeweiligen Biographie und den Erfahrungen der Interaktionspartner_innen beeinflusst.19 Interkulturelle Kommunikation in den Erzählungen der interviewten Migrant_innen Von den hier interviewten Migrant_innen werden Aspekte interkultureller Kommunikation auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen, beschrieben oder auch nur gedeutet. Einige schildern selbst erlebte Schwierigkeiten, andere berichten von diesbezüglichen Beobachtungen, während wieder andere Derartiges nicht explizit thematisieren. Unterschiede zwischen Migrant_innen aus Skandinavien und Spanien lassen sich hinsichtlich des empfundenen Ausmaßes der Schwierigkeiten sowie der Bedeutung, die diesen Erfahrungen beigemessen wird, nicht ausmachen. Gesprächspartner_innen aus Deutschland hingegen berichten deutlich weniger von Problemen oder Missverständnissen in diesem Kontext, was wohl auf die relative sprachliche und kulturelle Nähe zwischen Deutschland und Österreich hinweist. Zwischen den untersuchten Migrationsgenerationen lassen sich hingegen keine Unterschiede feststellen. Die Norwegerin Mia beispielsweise beschreibt differente Umgangsformen und Verhaltensmuster sowie die deshalb von ihr empfundene Unsicherheit in der Kommunikation als große anfängliche Schwierigkeit. Sie schildert einen als lang und intensiv erlebten Lernprozess, um Verhaltenssicherheit in Österreich zu gewinnen: »Und man muss bestehen in einer Gesellschaft, die man prinzipiell überhaupt nicht versteht. [...] Und es ist ein ständiges Lernen, ein tägliches Lernen, wie ich mit den Situationen umgehe. Da ist für mich hier nichts selbstverständlich. Also es ist oft eine große Anspannung einfach. Weil ich weiß, jede neue Situation muss ich mit voller Aufmerksamkeit und irgendwie schon analytisch angehen. Weil sonst verfall ich in Emotionen und das ist dann nicht gut. Also wenn man nur sagt ›Niemand versteht mich!‹ oder so. Aber das ist jetzt lange her, diese Phase.«
Zum einen musste Mia jede neue Interaktionssituation bewusst reflektieren und analysieren, da sie diese intuitiv weder richtig (d.h. im vom Gegenüber intendierten Sinn) verstehen, noch angemessen reagieren konnte. Diese Unsicherheit und Notwendigkeit zur ständigen Reflexion deutet sie als massives Problem, das sie im sozialen Umgang hemmt und Interaktionen für sie anstrengend macht. So musste sie beispielsweise lernen, im Umgang mit Behörden »kämpferisch« aufzutreten, um 19 Vgl. z.B. Broszinsky-Schwabe 2011, 43.
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Gehör zu finden, oder ein gelegentliches ›Angegrantelt-werden‹ nicht persönlich zu nehmen und die Schuld für unfreundliches Verhalten nicht bei sich selbst zu suchen (s.u.). Als Unterstützung für diesen Lernprozess nahm sie sogar Sprachunterricht, in dem es nicht primär um das Erlernen der Grammatik ging, sondern explizit auch um para- und non-verbale Elemente der Kommunikation. »Also man muss auch mit einer gewissen Stimme auftreten und einem Ton. Das hab ich auch dann geübt bei diesem Sprachunterricht. Und ich merk jetzt sofort, wenn jemand ein bisschen komisch kommt am Telefon oder sonst wo, dann ändere ich meine Stimme und ändere meine Attitüde. Und mache eine andere Körperhaltung, das kann ich vom Tanzen. Aber man muss das Selbstbewusstsein haben, das auch zu machen.«
Auch Eriks Kommunikationsprobleme beschränkten sich nicht allein auf die verbale Ebene der Kommunikation. Obwohl er zumindest umgangssprachliches Deutsch bereits in der Kindheit gelernt hatte (s.o.), ist er einer jener Gesprächspartner_innen, die die größten Unsicherheiten und »Hemmungen« beschreiben. Er hatte etwa Probleme im Umgang mit Professoren der Universität, da er diese siezen musste, wusste nicht, wie er beispielsweise Kellner_innen richtig ansprechen sollte, und konnte sein Selbstbild als »lustiger Kerl« in Österreich nicht mehr leben (s.u.). Erik deutet seine diesbezüglichen Unsicherheiten als Resultat einer kulturellen Differenz und erklärt sie damit, dass er die in Österreich gebräuchlichen Anredeformen und Konventionen nicht kannte. Die aus Deutschland stammende Katharina beschreibt, wie Unterschiede im para- und non-verbalen Kommunikationsverhalten immer wieder zu Reibungen und Missverständnissen mit ihrem österreichischen Ehemann führen. Dabei ist sie nicht sicher, inwieweit die Schwierigkeiten auf persönliche Eigenschaften der Ehepartner oder auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen sind: »Er [der Ehemann, M.N.] is dann halt auf ne andere Art und Weise grad raus und dann aber schnell verletzend. Es fällt mir sehr schwer das wirklich zu beschreiben. Es hat nicht nur mit Sprache zu tun. Es hat auch in dem Fall mit Gestik zu tun und damit, wie man den anderen halt wahrnimmt. Ich glaub das ist eine sehr persönliche Sache, ich weiß nicht, wie sehr das Ganze wirklich mit kulturellen Prägungen zu tun hat. Also er empfindet mich dann auch von der Gestik her als kühl und abweisend.«
Während der Ehemann ihre Verhaltensmuster in einer Diskussion oder einem Streit als kalt und abweisend empfindet, wirkt seine Form der Kommunikation – seine »raue Art« wie sie sagt – auf Katharina verletzend. Interviewpartner_innen aus allen Herkunftsregionen berichten über Schwierigkeiten, ihr österreichisches Gegenüber richtig ›einordnen‹ zu können. Um den Interaktionspartner/die Interaktionspartnerin ›deuten‹ und ›lesen‹ zu können, ist über die
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rein verbalen Aspekte der Kommunikation hinaus ein Verständnis para- und nonverbaler Signale von hoher Bedeutung. Sich diese Kompetenzen anzueignen erfordert einen ebensolchen, oder vielleicht sogar einen noch schwierigeren Lernprozess, als das Erlernen einer Fremdsprache. Frida etwa beschreibt anfängliche Schwierigkeiten mit dem ›meta-verbalen‹ Verständnis, also der Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, und auf diese Weise soziale Rollen und Handlungsanforderungen zutreffend zu deuten, um dann auch passend zu reagieren: »Also in Dänemark weiß ich genau, wenn ein Mensch redet, von welcher Kategorie dieser Mensch kommt und wie man zurück antwortet. Ich kann genauso zurück antworten, wie sie mich fragen.«
Um die von meinen Interviewpartner_innen thematisierten Aspekte und Erfahrungen im Detail zu analysieren erwies sich ein auf Hans-Jürgen Lüsebrink zurückgehendes Analyseraster als am besten geeignet, weswegen die Explikation der gewonnenen Ergebnisse im Folgenden anhand dieses Rasters erfolgen soll. Lüsebrink definiert zehn Komponenten interkultureller Kommunikation: 1. Soziale Bedeutung/Lexikon, 2. Sprechhandlung/Sprechhandlungssequenzen, 3. Gesprächsorganisation/Konventionen des Diskursverlaufs, 4. Themen, 5. Direktheit/Indirektheit, 6. Register, 7. para-verbale Faktoren, 8. non-verbale Faktoren, 9. kulturspezifische Werte/Einstellungen sowie 10. kulturspezifische Handlungen und Handlungssequenzen.20 Die Komponente Soziale Bedeutung/Lexikon wird von Lüsebrink folgendermaßen definiert: »Hierunter wird die kulturspezifische Bedeutung von Wörtern und Begriffen verstanden, die auf den ersten Blick – nach ihrer denotativen Wörterbuchbedeutung – anscheinend leicht und problemlos übersetzt werden können, aber bei genauerem Hinsehen sehr unterschiedliche konnotative (bzw. assoziative) Bedeutungen haben können.«21
In diesem Zusammenhang werden, sowohl von Interviewpartner_innen aus Spanien als auch aus Skandinavien, Probleme mit dem im Deutschen gebräuchlichen Siezen und Duzen mehrfach thematisiert. Interessanterweise unterscheiden sich jedoch die Gründe für diese Schwierigkeit respektive die damit verbundenen Deutungsmuster je nach Herkunftsregion. Im Zusammenhang mit dem Thema Integration (siehe Kap. 5) werde ich darauf noch näher eingehen, soviel sei aber schon hier angemerkt: Gesprächspartner_innen aus Skandinavien haben einerseits rein formal Prob20 Lüsebrink 2012, 52 ff. nach Bernd Müller-Jacquier, Interkulturelle Kommunikation und Fremdsprachendialektik. (Koblenz 1999). 21 Lüsebrink 2012, 54 f.
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leme zu entscheiden, wann wer gesiezt werden muss, da diese Anrede im skandinavischen Raum kaum verwendet wird. Mia beschreibt das ihr fehlenden intuitive Wissen, wann wer auf welche Weise anzusprechen ist folgendermaßen: »Man muss sich vorstellen, wenn man sogar da sich unsicher fühlt, in der Kommunikation mit jemand. Wie fühlt man sich sonst in der Kommunikation? Also wir sind weit weg von überzeugend ein Thema rüberbringen oder etwas präsentieren können, wenn es schon da anfängt mit der Verunsicherung. Also es war wirklich eine harte Schule!«
Auch Erik aus Norwegen beschreibt seine eigenen Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang: »Und es passiert was ganz Besonderes, weil du bist so erzogen worden, dass du jeden duzt. Die würden ja den König duzen die Norweger, geschweige denn die eigenen Lehrer siezen.«
Andererseits hadern Interviewpartner_innen aus Skandinavien aber auch mit der im Österreichischen mit der Ansprache in der dritten Person verbundenen Respektsbezeugung oder dem damit ausgedrückten Autoritätsverhältnis. »Ich glaub, wenn man damit aufwächst, mit diesem sprachlichen Respekt, dann lernt man irgendwann einmal zu unterscheiden, was rein sprachlicher Respekt ist, und wo der Respekt wirklich hingehört. Also dass man nur weil man jemanden siezt, nicht irrsinnige Ehrfurcht vor dem haben muss.« (Erik)
Den von Interviewpartner_innen aus Skandinavien beschriebenen Schwierigkeiten liegen offenbar unterschiedliche soziale Werte und kulturelle Praxen im Herkunftsund im Aufnahmeland zugrunde.22 Gesprächspartner_innen aus Spanien haben hingegen kein Problem, die richtige Anrede einer Person zu finden. Auch sie empfinden aber die Anrede in der dritten Person (›Siezen‹) als eine Form der sozialen Distanzierung und damit als hinderlich im zwischenmenschlichen Umgang. »Das ›Du‹ Benutzen vereinfacht die Beziehungen. Dieses ›Sie‹ etabliert so was wie eine Wand.« (Marta)
Die aus Dänemark stammende Tilde wiederum beschreibt ein gewissermaßen umgekehrtes Phänomen. Als sie Dänemark in den 1960er Jahren verließ, war dort das 22 Vgl. dazu z.B. Paul Watzlawick, Man kann nicht nicht kommunizieren. Das Lesebuch. (Bern 2011), bes. 16 ff.
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Siezen noch gebräuchlicher. Sie hat also diese sprachlichen und kulturellen Veränderungen nie »gelebt« und muss sich heute bewusst »zusammenreißen«, um während ihrer Besuche in Dänemark auch Fremde zu duzen. Sie deutet das aber nicht als Problem, sondern vielmehr als amüsanten Fallstrick. »Was man merkt ist, dass man in Dänemark immer ›Du‹ sagt. Da muss ich mich selber am Schopf nehmen. Am ersten Tag wenn ich in Dänemark hinein geh in den Supermarkt und zu dem Mann bei der Kasse sagen muss, ›Hast du so und so?‹ Muss ich direkt immer denken, du musst jetzt ›Du‹ sagen, du musst jetzt ›Du‹ sagen, weil sonst sag ich ›Sie‹. Und wenn mir das passiert, dann schaut er mich an wie wenn ich direkt vom Mond in sein Geschäft runter geplumpst wäre. So wie ›Was bist denn du für eine Schrullige?‹ Also das darf einem nicht passieren, dass man ›Sie‹ sagt. Das war in den 60er Jahren aus. Und das hab ich nicht gelernt, weil ich=s nie gelebt hab.«
Im Kontext interkultureller kommunikativer Fallstricke im Kontext der Komponente Soziale Bedeutung/Lexikon erzählt auch Lisa, eine junge Migrantin aus Deutschland, eine eindrucksvolle Episode, die es verdient, vollständig zitiert zu werden. Während ihrer ersten Tage in Wien wurde sie von einem Österreicher eingeladen, gemeinsam etwas zu unternehmen: »Und er hat gemeint, ›Ja komm Lisa, super, wir gehn in den Prater‹. Und ich so, ›Ja gut gem=ma in den Prater, wunderbar.‹ Und dann ham=ma da dieses Kettenkarussell gesehen, das so hochfährt. Und ich meinte dann ›Du Peter, lass uns das fahren, das is ja super‹. Und er sagt zu mir ›Bist du deppert!‹ Das war in dem Moment die größte Beleidigung die man mir sagen kann! Ich kannte den nicht, jetzt sagt der ich bin dumm und deppert, was is mit ihm los? War dann den ganzen Abend also etwas zurückhaltender, bis ich herausgefunden habe, dass es ja nur so ein Ausspruch is. ›Oh mein Gott, Wahnsinn!‹ wie der Deutsche sagen würde. Und solche Sprachbarrieren halt am Anfang, wo man sich denkt, ja okay! ((Lachen))«
Diese Erzählung veranschaulicht, dass es auch zwischen Menschen, die vermeintlich dieselbe Sprache sprechen, zu gravierenden Missverständnissen von Worten und Sätzen kommen kann. Sprechhandlungen stellen nach Lüsebrink »kommunikative Grundkategorien dar, durch die Handlungsintentionen wie Versprechen, Entschuldigungen, Befehlen, Herausfordern, Auffordern usw. zum Ausdruck gebracht werden«23. Diese sind häufig bestimmten Codes und Konventionen unterworfen und werden nicht direkt, also ohne ihre Codierung, zum Ausdruck gebracht. In diesem Zusammenhang er-
23 Lüsebrink 2012, 56 f.
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zählen beispielsweise der Däne August und die Spanierin Alicia, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, von Problemen mit dem deutschen Wort ›bitte‹. August erzählt, er habe in seiner ersten Zeit in Wien seine österreichische Freundin häufig vor den Kopf gestoßen, weil er das Wort ›bitte‹ kaum verwendete, und daher als sehr unhöflich wahrgenommen wurde. Ihm war nicht bewusst, dass es einen großen Unterschied macht zu sagen »Gib mir das Messer« anstatt »Gib mir bitte das Messer«. Er hingegen hatte diesen Satz einfach wörtlich aus dem Dänischen übersetzt, wo das Wort ›bitte‹ in diesem Kontext nicht verwendet wird. Der Befehlston, der dadurch in der Wahrnehmung seiner österreichischen Interaktionspartnerin entstand, war von ihm keineswegs intendiert. Alicia wiederum beschreibt ihre Irritation darüber, dass das Wort ›bitte‹ im Deutschen nicht zwingend höflich gemeint sein muss, sondern je nach Betonung, auch einer Aufforderung Nachdruck verleihen kann. »›Kannst du bitte jetzt das machen?‹ Und es is ein Charakteristikum von Fragen, die ich unschön finde. Weißt du, ›kannst du jetzt bitte‹, das ist etwas, das mich nervt. So kleine Unterschiede zwischen beiden Sprachen hat man immer gemerkt.«
Unter der von Lüsebrink definierten Kommunikationskomponente ›Gesprächsorganisation und Konventionen‹ des Diskursverlaufs sind »Formen der Organisation von Konversation« zu verstehen.24 Unterschiede in der gewohnten Streit- und Diskussionskultur beschreibt die eben zitierte Spanierin Alicia als Quelle häufiger Missverständnisse oder Irritation in ihren Intimbeziehungen. Sie neigt dazu, sich in derartigen Kommunikationssituationen »mehr aufzuregen« und »mehr zu schimpfen«. Was für sie jedoch kurze Zeit später vergessen und vergeben sein kann, wurde aufgrund ihrer, für österreichische Verhältnisse heftigen Reaktion, von ihrem Gegenüber häufig als große Krise gedeutet. Probleme mit unterschiedlichen Konventionen des Redewechsels werden von Inés, einer anderen Interviewpartnerin aus Spanien, beschrieben. In Spanien ist synchrones Sprechen üblich, dort unterbricht man den Gesprächspartner/die Gesprächspartnerin nicht in der Absicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und das Gespräch zu stören, sondern um Interesse zu zeigen. In Österreich hingegen ist der »glatte Turn-Wechsel« üblich, man lässt, um nicht unhöflich zu sein, sein Gegenüber stets aussprechen.25 Inés beschreibt, wie sie sich bewusst bemühen muss, ihre Gesprächspartner_innen stets ausreden zu lassen. Sie deutet diese Anpassungsleistung jedoch als ihre Aufgabe und argumentiert, dass sie von Österreicher_innen schließlich nicht verlangen kann, spanische Handlungsmuster zu kennen und ihre ›spanische Kommuni24 Lüsebrink 2012, 57 ff. 25 Lüsebrink 2012, 58 ff.; Broszinsky-Schwabe 2011, 112 ff.
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kationsform‹ (d.h. häufiges Unterbrechen) damit in dem von ihr intendierten Sinn deuten zu können. Mit der Komponente Direktheit/Indirektheit »ist die kulturspezifische Art gemeint, mit der Aussagen oder Sprechhandlungen unmittelbar oder aber in indirekter bzw. umschreibender Weise zum Ausdruck gebracht werden. Insbesondere die Art und Weise, Aufforderungen zu formulieren, Höflichkeitsformeln zu artikulieren und eigene Meinungen oder Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen, beinhaltet interkulturelle Reibungs- und Konfliktpotentiale«26.
Schwierigkeiten mit dem in Österreich gebräuchlichen, sehr viel indirekteren Kommunikationsstil, als er in allen untersuchten Herkunftsländern von Zuwander_innen üblich ist, werden von zahlreichen Gesprächspartner_innen thematisiert. »In Dänemark ist die Mentalität ein bissl anders, weil da is man bissi mehr ehrlich zueinander. Also das is nicht so verpackt und höflich und ›Oh meine Liebe!‹. Das is sehr nüchtern und sehr direkt.« (Frida)
Aber auch Sabine aus Berlin fehlt »die Direktheit« der Berliner_innen in Österreich: »Also mir hat halt die Direktheit gefehlt. Also, dass halt jemand sagt ›Verpiss Dich‹ und nicht das freundlich umschreibt, aber das eigentlich meint. Also damit hab ich irgendwie, oder da musste ich mich dran gewöhnen, das hat eine Zeit gebraucht, da rein zu finden, wie was gemeint ist.«
Das Thema Humor und die damit verbundenen Kommunikationsregister wie Ironie oder Sarkasmus werden als häufige Gründe für Differenzen und Schwierigkeiten der Kommunikation von Gesprächspartner_innen aller Herkunftsländer thematisiert. Der bereits häufig zitierte Erik beschreibt beispielsweise große Schwierigkeiten mit dem »anderen Humor«. »Der Humor ist ein anderer. Österreichische Witze sind anders als norwegische. Aber wirklich! ((Lachen)) Ich glaub, der nordische Humor ähnelt ja dem britischen ein bisschen. Sehr viel Ironie, Sarkasmus, Selbstironie auch. Man sagt irgendetwas und meint es nicht ernst. Und hier, ich hab das Gefühl, so der klassische österreichische Humor is ein bisschen mehr Slapstick. Was ich nicht beherrsche. Und natürlich, wenn ich versucht habe etwas Lustiges zu erzählen, dann haben die das für bare Münze genommen und dann wirst nur blöd angeschaut.«
26 Lüsebrink 2012, 60.
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Bedingt durch das unterschiedliche Verständnis von Humor ergab sich für Erik eine Divergenz zwischen seinem Selbstbild bzw. seiner Selbstwahrnehmung und der von ihm empfundenen Fremdwahrnehmung seiner Person durch Interaktionspartner. Während er aus Norwegen die Einschätzung gewohnt war, »ein lustiger Kerl« zu sein, konnte er diesem Bild in Österreich nicht entsprechen und hatte das Gefühl, »der trockenste Kerl auf Erden zu sein«. Mittlerweile hat aber auch er das in Österreich übliche Verständnis von Ironie und Humor verstehen und umzusetzen gelernt, fühlt sich damit aber immer noch nicht restlos wohl. Auch die aus Spanien zugewanderte Inés hat Schwierigkeiten mit dem österreichischen Humorverständnis. Wie sie erzählt, basiert der spanische Humor mehr auf Sprachspielen und dem Spiel mit Doppeldeutigkeiten. Sie habe jedoch deshalb keine Schwierigkeiten, den Humor in Österreich zu verstehen, für sie besteht das Problem vielmehr darin, in Spanien »nicht mehr mitzukommen«. Die Tatsache, dass Inés im Herkunftsland viele Witze nicht mehr verstehen kann, erklärt sie damit, dass sie »ungeübt ist« und, dass ihr Informationen fehlen, sie also Anspielungen usw. nicht mehr nachvollziehen kann. Die ebenfalls aus Spanien stammende Eva hingegen nimmt den ›österreichischen Humor‹ gänzlich anders wahr. Wo andere Ironie und Doppeldeutigkeiten vermissen, sieht sie in Österreich einen weit verbreiteten Sarkasmus. Für sie liegen die Schwierigkeiten daher auch nicht darin, ›nicht lustig sein zu können‹, sondern vielmehr darin, sich durch diese Form von Humor nicht verletzt zu fühlen. »Weil die Österreicher können sehr, sehr sarkastisch sein. Sie haben eine Zunge so wie scharfe Messer.«
Für Eva hält der Lernprozess an, sich ständig zu vergegenwärtigen, dass sie sarkastische Aussagen nicht persönlich nehmen darf. Zu den non-verbalen Faktoren der Kommunikation, einem weiteren Kommunikationsregister nach Lüsebrink, zählen, wie bereits beschrieben, Gestik, Mimik und Proxemik.27 Im Hinblick auf Proxemik28 zählt der Süden Europas zu den sogenannten high-contact Kulturen, während in Mittel-, vor allem aber Nordeuropa weniger Körperkontakt üblich ist (low-contact Kulturen).29 Dies spiegelt sich auch in den Interviews. So beschreibt die Spanierin Daniela die Anforderung, sich diesbezüglich an in Österreich übliche Verhaltensmuster anzupassen, als nicht einfach. Während ihr (mehr) Körperkontakt in der Interaktion natürlich erscheint, muss sie sich in Ös27 Lüsebrink 2012, 62 ff.; Broszinsky-Schwabe 2011, 117 ff. 28 Unter Proxemik versteht man »Körperbewegungen, die den Kommunikationsabstand zwischen den Interaktionspartnern und Fortbewegungen im Raum betreffen« Lüsebrink 2012, 62. 29 Broszinsky-Schwabe 2011, 136 ff.
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terreich bewusst »zusammenreißen«, da sie weiß, dass ihr Verhalten hier anders gedeutet werden würde als von ihr intendiert. Diese Schwierigkeit schildert sie jedoch als verhältnismäßig einfach zu überwinden. Für sie war das Erlernen der deutschen Sprache das größere Hindernis und der Hauptgrund für ihre anfängliche Einsamkeit in Wien. Ähnliches beschreibt auch Eva, für die diese Differenz jedoch bedeutend schwerer wiegt. Sie erzählt von einer Episode, als sie einen Freund ihres Mannes, den sie von diversen gemeinsamen Unternehmungen her kannte, zufällig auf der Straße traf und ihn zur Begrüßung auf die Wangen küssen wollte. Er aber wich zurück: »Und er hat diese Distanz und das war für mein Herz sehr hart!«
Während sie auf der kognitiven Ebene weiß, dass diese Reaktion nicht als Zurückweisung intendiert war, empfindet sie es auf der emotionalen Ebene sehr wohl immer noch als eine solche und ist dann »unbewusst beleidigt«, wie sie selbst sagt. Völlig anders stellt sich die Situation für die aus Finnland stammende Ella dar. In Finnland ist es üblich, zur Begrüßung nur die Hand zu geben, das soziale Küssen wird dort nicht praktiziert.30 Ella beschreibt dies jedoch lediglich als einen Unterschied, den sie beobachtet hat, und nicht als tatsächliche Schwierigkeit. Álvaro aus Spanien berichtet im Bezug auf Mimik von seinem Problem, Menschen in Österreich nicht »einschätzen« zu können. Für ihn ist die im Vergleich zu in Spanien üblichen Kommunikationsmustern31 wenig ausgeprägte Mimik ein Hindernis in der Kommunikation. Zur Komponente der kulturspezifischen Werte und Einstellungen bzw. kulturspezifischen Handlungen und Handlungssequenzen kann die immer wieder thematisierte ›Unfreundlichkeit‹ der Österreicher_innen gezählt werden. Eine Reihe von Interviewpartner_innen aller hier thematisierten Herkunftsländer berichtet von Problemen mit deutlich anderen und ›raueren‹ Umgangsformen und Umgangstönen in Österreich. Sie beschreiben es als zum Teil langwierigen Lernprozess, diese ›raue Art‹ nicht persönlich zu nehmen. Die instinktive Reaktion meiner Gesprächspartner_innen ist es, sich zu fragen, was sie denn falsch gemacht hätten. »Wenn man das nicht gewohnt ist, dass ein bisschen ein strikteren Ton oder ein bisschen Grant sein darf, dann ist man erschrocken zuerst. Und denkt ›Oh, Gott was ist hier falsch?‹ Also ich komme von einem Hintergrund, wo ich dann eher so eine Reaktion hatte, irgendwas passt nicht, liegt es an mir? Woran liegt es? Was ist da los? Und jetzt versteh
30 Broszinsky-Schwabe 2011, 165 f. 31 Zu Gestik und Mimik in der spanischen Kultur vgl. z.B. Lüsebrink 2012, 49; BroszinskySchwabe 2011, 125 ff.
Alltagswelten | 147 ich es und ich nehm es nicht so ernst. Und dann sieht man es ist nicht so schlimm wie ich es interpretieren würde, von meinem Hintergrund sozusagen.« (Mia) »Also der Umgang miteinander is schon sehr rau. Ja, also ich hab mich oft so ein bisschen vor den Kopf gestoßen gefühlt am Anfang.« (Sara)
4.1.3 Fazit Alle Interviews zeigen: Kommunikation ist sowohl in verbaler als auch in para- und non-verbaler Form für transnationale Migrant_innen ein großes Thema. Dennoch: Kommunikative Anschlussfähigkeit herzustellen zählt zu den größten Herausforderungen im Migrationsprozess. Das Erlernen von Deutsch als Fremdsprache wird von den interviewten Zuwander_innen als schwierige und fordernde, aber letztlich durchaus bewältigbare Anforderung beschrieben. Gute Deutschkenntnisse werden als nötig für eine zufriedenstellende Integration und (damit verbunden) zum Erlangen einer als zufriedenstellend wahrgenommenen Lebensqualität in Österreich gedeutet. Aber auch zur Vermittlung eines akzeptablen oder erwünschten Selbstbildes und damit als wesentliches Element interaktioneller Identitätsprozesse wird verbale Anschlussfähigkeit als Voraussetzung empfunden. Gesprächspartner_innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, zeichnen sich durch ihre aktive und selbstverantwortliche Herangehensweise im Hinblick auf das Lernen und Verbessern der deutschen Sprachkenntnisse aus. Die Bedeutung der Muttersprache wiederum wird nur von Migrant_innen aus Skandinavien ausdrücklich hervorgehoben. Sie erachten, wenn auch in individuell unterschiedlichem Ausmaß, ein Praktizieren und ›Erhalten‹ der Muttersprache als für unbedingt wünschenswert. Für sie stellt die Muttersprache auch nach Jahren in der Emigration einen überaus wichtigen identitätsstiftenden Bezugshorizont dar. In diesem Kontext ist Sprache auch für Migrant_innen aus Deutschland von Bedeutung. Für sie ist die Frage nach einer Adaption ihres ›deutschen Deutsch‹ an das Österreichische eng an die Frage nach kultureller Integration und Identitätsprozessen geknüpft. Damit konnte gezeigt werden, dass Sprache über ihre Funktion als Vermittlerin kognitiver Prozesse hinaus große Bedeutung als Mittel der Konstruktion von Zugehörigkeit, Fremdheit (da viele durch ihre Sprache als solche zu erkennen sind), (kultur-nationaler) Identität sowie transnationaler Lebenswelten hat. Das Studium der Interviewtexte zeigte außerdem, dass ›kulturelle Unterschiede‹ in Kommunikationsmustern selbst bei relativ großer ›kultureller‹ Nähe, durchaus im Alltagsleben relevant sind. Kommunikationshürden in der interkulturellen Kommunikation werden sogar tendenziell als die größere Herausforderung wahrgenommen als das Erlernen einer Fremdsprache.
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Critical Incidents ergaben sich für die Interviewpartner_innen aus Differenzen in Kommunikationsmustern (para- und non-verbal) und aus kommunikativen Handlungserwartungen, was in den erinnerten und erzählten ›incidents‹ zu unter Umständen schwerwiegenden Fehlinterpretationen oder auch nur peinlichen Missverständnissen führte. Vor allem im Hinblick auf kulturelle Integration und die Entwicklung »interkultureller Kompetenz«32 erfordern die sprachlichen Differenzen Lernprozesse von Seiten der Migrant_innen. Aufgrund der Tatsache, dass die hier interviewten Migrant_innen ›lernwillig‹ sind und diese Anforderung als einen Teil (bzw. eine Folge) ihrer Migrationsentscheidung deuten, konnten sie jedoch diese Hürden zumeist überwinden. Sprachlich vermittelte Ausdrücke für eine relative Fremdheit bleiben aber zugleich auch nach langen und erfolgreichen Lernprozessen des Spracherwerbs und der Enkulturation weiterbestehen.
4.2 KONFLIKTFELD GESCHLECHTSSPEZIFISCHE ROLLENBILDER Bereits im Lauf der ersten Interviews zeichnete sich ab, dass divergierende geschlechtsspezifische Rollenbilder im Herkunfts- und im Aufnahmeland sowie daraus resultierende Konflikte und Spannungen in den Erzählungen einiger Interviewpartner_innen aus Spanien und Skandinavien von großer Relevanz sind. Im Folgenden soll daher nun, nach einigen nötigen theoretischen Vorüberlegungen, die Frage diskutiert werden, welche Konflikte oder Schwierigkeiten daraus für die Immigrant_innen entstehen, welche Bedeutung sie diesen zuweisen und welche Strategien sie entwickeln, um diese Konflikte aufzulösen. 4.2.1 Theoretisches und Konzeptuelles Unter geschlechtsspezifischen Rollenbildern sollen hier in einer Sozietät weitgehend als ›normal‹ akzeptierte, reproduzierte und teilweise auch in das praktische Handeln übersetzte Vorstellungen von gängigen und erwünschten Rollen von Män-
32 Interkulturelle Kompetenz kann definiert werden als »Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompabilität und einer Entwicklung zu einer synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeitet, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung« Lüsebrink 2012, 75. Zum interkulturellen Lernen vgl. ebda., 75 f.
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nern und Frauen verstanden werden. Diese Rollenbilder evozieren Handlungsmuster sowie Erwartungen an kollektive und individuelle Akteure, darunter auch Selbstkonzepte und Lebensentwürfe, also Erwartungen an sich selbst und an das eigene Leben.33 Wie in allen Aspekten wähle ich auch hier, im Bezug auf Geschlecht (Gender) und damit verbundene Rollen einen sozialkonstruktivistischen Ansatz, der mir am besten geeignet erscheint. Der Untersuchung liegt also die Annahme zugrunde, dass auch das Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, das aus einem »gesellschaftlichen Prozess der Bedeutungskonstruktion«34 resultiert. Sowohl auf der Mikroebene der Face-to-Face Kommunikation und Interaktion, als auch auf der Makroebene der Gesellschaft wird Gender, verstanden als sozio-kulturelles Geschlecht, interaktionell verhandelt, konstruiert, etabliert und reproduziert.35 Daraus folgt, dass die für die einzelnen Akteur_innen relevanten geschlechtsspezifischen Rollenbilder gesellschaftlich-kulturell determiniert sind. Sie sind »vor dem Hintergrund differierender kultureller Traditionen in europäischen Gesellschaften unterschiedlich beschaffen«36. Im speziellen Kontext der Migration ist hier, bezogen auf die Differenzen zwischen mit auf die Wanderung genommenen und im Aufnahmeland vorgefundenen geschlechts-spezifischen Rollenbildern, mit Michiko Mae und Britta Saal festzuhalten: »Genderfragen können nicht losgelöst vom Kulturbegriff und damit auch nicht vom jeweiligen kulturellen Kontext gestellt und bearbeitet werden; sie benötigen vielmehr eine transkulturelle Perspektive, um ihren Gegenstand angemessen erfassen zu können.«37
Birgitt Pfau-Effinger definiert für das Verhältnis von Kultur und geschlechtlichen Rollenbildern den Begriff der »Geschlechterkultur«:
33 Zum Rollenkonzept vgl. z.B. Erving Goffmann, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. (München 1983). 34 Ruokonen-Engler 2012, 65 ff. 35 Vgl. dazu Andrea Leitner, Gender als Mainstream. Doing Gender in Theorie und politischer Praxis. Institut für Höhere Studien (IHS) Reihe Soziologie 70 (Wien 2005), 4. 36 Pfau-Effinger 2000, 21 ff. Vgl. auch Ruokonen-Engler 2012, 65 ff. Zur Diskussion von Gender unter Bedingungen der Globalisierung vgl. auch Michiko Mae, Auf dem Weg zu einer transkulturellen Genderforschung. In: Michiko Mae/Britta Saal (Hrsg.), Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht. Geschlecht und Gesellschaft 41 (Wiesbaden 2014), 49-71. 37 Mae/Saal 2014 (Anm. 36), 10.
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»Es gibt in jeder Gesellschaft kulturelle Werte und Leitbilder, die sich auf die Formen der gesellschaftlichen Integration und der Arbeitsteilung von Frauen und Männern beziehen. [...] Solche Vorstellungen bzw. Leitbilder bezeichne ich als Geschlechterkultur.«38
Diese Geschlechterkultur ist sowohl die Ursache als auch die Folge des sozialen Handelns von Männern und Frauen.39 Dabei nehmen Migrant_innen auf gesellschaftliche und politische Diskurse Bezug, woraus sich eine enge Wechselwirkung zwischen dem gesellschaftlichen und politischen Diskurs und den diskursiv erzeugten autobiographischen Realitäten der Migrant_innen ergibt.40 Normative Genderordnungen entstehen als: »a historically specific complex of norms and cultural ideals that refer to gender roles, to a gendered division of labour, and to sexuality, which are reproduced in institutions like the welfare state, the labour market, the family, and the educational system«41. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen verfügen die einzelnen Akteur_innen, auch als Migrant_innen, über individuelle Handlungsmacht und über Handlungsspielraum, wie auch die vorliegenden Erzählungen zeigen werden. Spannungen und Konflikte, die durch das Aufeinandertreffen divergierender und teilweise auch inkompatibler Rollenbilder entstehen, wurden bereits in zahlreichen Studien untersucht.42 Orientieren sich Interaktionspartner_innen an den soziokulturellen Codes des jeweiligen Herkunftslandes oder an unterschiedlichen »Kon-
38 Pfau-Effinger 2000, 69. 39 Pfau-Effinger 2000, 68 f. 40 Vgl. z.B. Leitner 2005 (Anm. 35), 1 ff.; Ingrid Jungwirth (Hrsg.), The change of normative gender orders in the process of migration. A transnational perspective. (Bielefeld, 2008), 6 f.; Angelika Poferl, ›Gender‹ und die Soziologie der Kosmopolitisierung. In: Heike Kahlert/Christine Weinbach, Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog. (Wiesbaden 2012), 125-148; 136. 41 Jungwirth 2008 (Anm. 40), 6. Zur Diskussion der Frage nach dem Verhältnis Gender, Nationalstaat und Globalisierung vgl. auch Mae/Saal 2014 (Anm. 36). 42 Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Migrationsforschung vgl. z.B. Helma Lutz, Gender in the migratory process. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 36/10 (2010), 1647-1663; 1651 f.; Elisabeth Tuider, ›Feminisierung der Migration‹. Migrantinnen zwischen Ausbeutung und Empowerment. In: Waltraud Ernst (Hrsg.), Grenzregime. Geschlechterkonstellationen zwischen Kulturen und Räumen der Globalisierung. Internationale Frauen und Genderforschung in Niedersachten Bd. 13/5. (Berlin 2010), 67-86; Elisabeth Aufhauser, Migration und Geschlecht. Zur Konstruktion und Rekonstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit in der internationalen Migration. In: Karl Husa/ Christof Parnreiter/Irene Stacher (Hrsg.), Internationale Migration. Die globale Herausforderung des 21. Jahrhunderts? (Wien 2000), 97-122.
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struktionen von Weiblichkeit«43 bzw. von Männlichkeit, muss auch Gender in der interkulturellen Kommunikation stets neu verhandelt werden. Judith Schlehe stellt dazu fest: »In Umbruchs- und Übergangssituationen werden etablierte Selbstverständlichkeiten und Orientierungsmuster – einschließlich der Deutung des eigenen Geschlechtsstatuses, also Weiblichkeits- und Männlichkeitsmuster – aufgebrochen oder doch zumindest zeitweilig in Frage gestellt, reflektiert, relativiert oder aber bestätigt.«44
Wie das von mir in dieser Studie vorgelegte empirische Material zeigt, birgt dieser Umstand beträchtliches Konfliktpotential, das zusammen mit je individuellen Deutungen und Lösungsstrategien ein wesentliches Element der Migrationserfahrung darstellt. 4.2.2 Historische und gegenwärtige Rahmenbedingungen Geschlechtsspezifische Rollenbilder haben seit den 1960er Jahren in ganz Europa tiefgreifende Veränderungen erfahren. Dies zeigt und manifestiert sich nicht zuletzt in der auch in den Erzählungen immer wieder thematisierten Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Der Anteil der erwerbstätigen Frauen stieg beständig an, während die Zeit, die Frauen in unbezahlte Haus- und Elternarbeit investierten, abnahm. Zugleich erlangte die Berufstätigkeit über rein ökonomische Zwänge hinaus immer mehr Bedeutung hinsichtlich weiblicher Selbst- und Identitätskonzepte.45 Da Erwerbsarbeit im Allgemeinen eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung erfährt als Haus- und Elternarbeit, ist die Frage der familiären Aufgabenverteilung und der Erwerbstätigkeit von Frauen bzw. Müttern stets auch ein Indikator für Ungleichheiten in den Geschlechterbeziehungen. Werden in den vorliegenden Erzählungen Konflikte und Kontroversen im Kontext divergierender geschlechtsspezifischer Rollenbilder beschrieben, so handelt es sich auch hierbei vor allem um Konflikte bei der Aufgabenverteilung im Haushalt und der Elternarbeit sowie um die Frage der Vereinbarkeit von Mutterschaft und beruflicher Karriere. Genderkonflikte können deshalb auch als Ausdruck der schwierigen Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und die Politik angesehen werden, da dadurch tra-
43 Vgl. dazu Aufhauser 2000 (Anm. 42). Elisabeth Aufhauser versteht unter »Konstruktion von Weiblichkeit« Erwartungen von Aufnahmeländern an Migrantinnen bestimmter Weltregionen, an die sich Frauen oft auch anpassen. 44 Judith Schlehe (Hrsg.), Interkulturelle Geschlechterforschung. Identitäten – Imaginationen – Repräsentationen. (Frankfurt am Main/New York 2001), 9-29; 10. 45 Vgl. z.B. Pfau-Effinger 2000, 104 ff.; 120 ff.; Cyba 1996, 436 ff.
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ditionale Rollenbilder, welche auf streng getrennte Rollen und auf männlicher Dominanz basieren, in Frage gestellt werden.46 Trotz aller Veränderungen in den letzten Jahrzehnten kann keineswegs von einer Geschlechtergleichheit in Europa gesprochen werden. Familiäre Aufgabenverteilungen, aber auch Arbeitsmarkt- und Karrierechancen werden nach wie vor vom Faktor Geschlecht determiniert und beeinflusst.47 Dieser Prozess verlief und verläuft in den einzelnen europäischen Ländern immer noch sehr unterschiedlich. Vor allem die für meine Studie relevanten Regionen Spanien und Skandinavien zeichnen sich, auch im Vergleich mit Österreich, diesbezüglich durch unterschiedliche Rahmenbedingungen und Entwicklungsprozesse aus. Zurückführen lassen sich diese Differenzen wiederum auf eine Reihe von miteinander verwobenen Faktoren, wie etwa Arbeitsmarktbedingungen, Politik, Karenzregelungen, Genderarrangements, gesellschaftlich normierte bzw. etablierte Familienmodelle sowie kulturelle Leitbilder zu Mutterschaft.48 Spanien machte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidende Veränderungen in Sachen Geschlechtergleichstellung und Gleichstellungspolitik durch. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte wurde aus einer von massiver Unterdrückung und weitgehender Rechtlosigkeit der Frauen geprägten Gesellschaft unter der katholisch-militärischen Diktatur Francisco Francos (1939-1975)49 ein Vorreiter in Sachen Geschlechtergleichheit innerhalb der Europäischen Union.50
46 Vgl. z.B. Cousins 1999, 200 f.; Scambor/Wojnicka/Bergman 2012, 78 ff.; Pfau-Effinger 2000, 14 ff. 47 Vgl. z.B. Neilson/Stanfors 2013, 270; Christine Weinbach, Funktionale Differenzierung und Wohlfahrtsstaat. Zur gesellschaftstheoretischen Verortung der Geschlechterdifferenz. In: Heike Kahlert/Christine Weinbach (Hrsg.), Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog. (Wiesbaden 2012), 193-213; Ulle Jäger/Tomke König/Andrea Maihofer, Pierre Bourdieu. Die Theorie männlicher Herrschaft als Schlussstein seiner Gesellschaftstheorie. In: Ebda., 15-34; Länderübergreifend zeichnet sich außerdem die Tendenz ab, dass Frauen, sobald sie Mütter werden, eher in traditionale Rollenbilder zurückfallen und nun den Großteil der Haus- und Elternarbeit übernehmen. Eine vermehrte Teilnahme der Männer am Familienleben und damit eine Verbesserung der Möglichkeiten für Frauen am Arbeitsmarkt zu partizipieren, sind allerdings wesentliche Ziele im Rahmen des von der EU formulierten Pact for Gender Equality für 2011 bis 2020. Vgl. dazu Scambor/Wojnicka/Bergman 2012, 78 ff. 48 Vgl. z.B. Scambor/Wojnicka/Bergman 2012, 78 ff.; Pfau-Effinger 2000, 16 ff.; 74 ff. Zum Konzept Genderarrangement vgl. ebda. 22 ff.; 71 ff. 49 Zur gänzlichen anderen Situation in der kurzen Periode der Zweiten Republik (19311936) vgl. Rodolfo Valentino, Ehe, Familie und andere Lebensgemeinschaften in Spani-
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Während der an konservativen katholischen Werten und Leitbildern orientierten Diktatur Francos kam die gesellschaftliche Stellung der Frauen einer nahezu vollständigen Entmündigung gleich. Beide Geschlechter hatten traditionalen Rollenbildern zu entsprechen, dem Mann kam die Rolle als Ernährer der Familie zu, während die Frau selbstaufopfernde Mutter und Ehefrau zu sein hatte.51 Zwar wurden bereits in den 1960er Jahren von Seiten des spanischen Staates einer Reihe von Veränderungen vorgenommen, so wurde beispielsweise Frauen der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, allerdings aus ökonomischen Gründen. Die Gesamtsituation änderte sich jedoch kaum. Erst nach dem Tod Francos im Jahr 1975 kam es im Rahmen einer Reihe fundamentaler gesamtgesellschaftlicher Veränderungen auch zu einer Neuorientierung hinsichtlich der Rechte und Rollen von Frauen. Auch von staatlich-politischer Seite wurde nun viel für die Verbesserung der Situation der Frauen und deren Gleichstellung unternommen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt wurde ihnen erleichtert, Verhütungsmittel wurden wieder legalisiert. In der Verfassung von 1978 wurde schließlich die Gleichstellung von Männern und Frauen verankert.52 Das Mitte der 1980er Jahre gegründete Instituto de la Mujer trug wesentlich zum weiteren Fortschritt der Geschlechtergleichheit bei,53 eine wesentliche Rolle spielte hierbei aber auch die EU. In jüngster Vergangenheit wurden vor allem unter der sozialdemokratischen Regierung des Premierministers José Luis Rodríguez Zapatero (2004-2011) weitere wesentliche politische Maßnahmen gesetzt und die Situation der Frauen in Spanien erheblich verbessert.54 en. Die Familie als sozio-emotionaler Stabilisator und intergenerationeller Konfliktherd. Dissertation Universität Bonn (Bonn 2010), 30 ff. 50 Cousins 1999, 210 f. 51 Ehebruch, Abtreibung und der Gebrauch von Verhütungsmitteln wurden strafrechtlich verfolgt. Frauen verfügten über keinerlei Erb- und Eigentumsrechte, ohne Einwilligung des Ehemannes war es ihnen weder möglich Bankkoten zu eröffnen, noch Verträge zu unterzeichnen. Vgl. Valentino 2010 (Anm. 49), 30 ff.; Giles Tremlett, Ghosts of Spain. Travels through a country’s hidden past. (London 2006), 210 ff.; Danièle Bussy Genevois, Spanische Frauen. Von der Republik zum Franco-Regime. In: Georges Duby/ Michelle Perrot (Hrsg.), 20. Jahrhundert. (Frankfurt am Main 1995), 205-222. Zum Projekt ›Mujer y Memoria‹ vgl. www.mujerymemoria.org/web/home (16.10.2018). 52 Vgl. Celia Valiente, El feminismo institucional en España. El instituto de la mujer, 19831994. In: Revista Internacional de Sociologia 13 (1996), 163-204. 53 María Bustelo, Spain. In: International Feminist Journal of Politics 11/4 (2009), 530-546; 532 ff. 54 Bustelo 2009 (Anm. 53), 533 f.; Kerman Calvo/Irene Martín, Ungrateful citizens? Women’s rights policies in Zapatero’s Spain. In: South European Society and Politics 14/4 (2009), 487-502.
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Gänzlich anders stellte und stellt sich die Situation in den skandinavischen Ländern dar, die spätestens seit den 1990er Jahren international als Vorbilder in Sachen Geschlechtergleichheit und Genderpolitik angesehen werden.55 Auch wenn sich Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden durchaus in den jeweiligen Entwicklungen und aktuellen Situationen unterscheiden, zeichnen sich diese Länder bereits seit den 1960er Jahren durch an Geschlechtergleichheit orientierten Rollenbilder sowie durch frauenfreundliche Politik aus.56 Die Bedeutung, die der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen im gesellschaftlichen Diskurs zukam, wurde in diesen Staaten stets auch von Seiten der Politik aktiv gestützt und gefördert. So ist bereits seit den 1970er Jahren Gleichberechtigung ein wesentlicher Stützpfeiler der skandinavischen Familienpolitik. Ziel dieser Politik war das Recht beider Elternteile, Eltern- und Erwerbsarbeit kombinieren zu können,57 also ein ›duales Ernährermodell (dual-breadwinner model)‹ zu ermöglichen und zu etablieren, in dem beide Partner und Elternteile erwerbstätig und für die Finanzierung des Familienlebens gleichermaßen zuständig sind.58 Dennoch kann auch in diesen Gesellschaften und Staaten noch nicht von der vollständigen Durchsetzung der Gleichberechtigung gesprochen werden. Führungspositionen in Wirtschaft, Kirche und Militär aber auch in Wissenschaft und Forschung werden nach wie vor von Männern eingenommen; auch die Arbeitsbelastung von Frauen und Männern in der Eltern- und Hausarbeit ist keineswegs völlig ausgeglichen59 (s.u.). 55 Vgl. z.B. Christine Ingebritsen, Scandinavia in world politics. (Lanham 2006); Gunnhildur Lily Magnusdottir, Small states power resources in EU-negotations. (Saarbrücken 2010). 56 Vgl. z.B. Neilson/Stanfors 2013, 269 ff.; Thomas Ekman Jørgensen, The Scandinavian 1968 in a European perspective. In: Scandinavian Journal of History 33/4 (2008), 326338; bes. 334.; Kari Melby/Christina Carlsson Wetterberg/Anna-Birte Ravn (Hrsg.), Gender equality and welfare politics in Scandinavia. The limits of political ambition? (Bristol 2008). 57 Dies wird auch als »skandinavischer Staatsfeminismus« bezeichnet, ein Terminus, der die enge Verknüpfung zwischen Feminismus und dem (Sozial-)Staat beschreiben soll. Vgl. dazu z.B. Bergman 2008; Neilson/Stanfors 2013, 270 f.; Scambor/Wojnicka/Bergman 2012, 78 ff.; Øystein Gullvåg Holter/Helge Svare/Cathrine Egeland, Gender Equality and Quality of Life. A Norwegian Perspective. (Oslo 2009). 58 Neilson/Stanfors 2013, 270 f.; Christine Weinbach, Funktionale Differenzierung und Wohlfahrtsstaat. Zur gesellschaftstheoretischen Verortung der Geschlechterdifferenz. In: Heike Kahlert/Christine Weinbach, Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog. (Wiesbaden 2012), 193-213; 204 f.; Zu ähnlichen Modellen vgl. Pfau-Effinger 2000, 86 ff. 59 Vgl. z.B. Bergman 2008.
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In Österreich stellte und stellen sich die vorherrschenden geschlechtsspezifischen Rollenbilder und Ungleichheiten nochmals anders dar. Zwar war die Situation der Frauen in den 1960er und 1970er Jahren in Österreich erheblich besser als jene der Frauen im franquistischen Spanien, aber dennoch herrschte hier, vor allem im Vergleich zu den skandinavischen Ländern, ein traditional-konservatives Bild von weiblichen und männlichen Geschlechterrollen vor. Die gesellschaftlichen Normen und die Frauen- und Familienpolitik basierten primär auf dem ›männlichen Ernährermodell (male breadwinner model)‹. Der Mann war nach dieser Vorstellung als Ehemann und Vater erwerbstätig und verantwortlich für die finanzielle Versorgung der von ihm abhängigen Ehefrau und ihrer beiden Kinder. Die Frauen waren für unbezahlte Tätigkeiten im Haushalt und in der Elternarbeit zuständig.60 Besonders in der Zeit des ›Wirtschaftswunders‹ der 1960er Jahre galt das normative Leit- und Idealbild für die Frau, als nichtberufstätige Mutter und Hausfrau für eine ›intakte‹ Familie hauptverantwortlich zu sein, dem auch die meisten Frauen (und Männer) in ihren individuellen Lebenskonzepten möglichst zu entsprechen versuchten. Gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre etablierte sich schließlich das sogenannte Dreiphasenmodell. Nunmehr kam es nach einer ersten Zeit der Berufstätigkeit und einer langen Phase des Mutter- und Hausfrauendaseins zum vermehrten Wiedereinstieg von Frauen in den Arbeitsmarkt. Hinsichtlich Bezahlung, beruflichen Möglichkeiten und Positionen waren Frauen jedoch stark benachteiligt.61 In den sozialdemokratisch geprägten 1970er Jahren kam es dann auch in Österreich zu einer Reihe wesentlicher Entwicklungen im Bereich der Geschlechtergleichstellung. 1979 wurde beispielsweise die Gleichbehandlung von Mann und Frau in der Entlohnung gesetzlich verankert und im Zuge einer Familienrechtsreform wurde das juristische Ehemodell von einem patriarchalen Modell in ein Modell der Gleichberechtigung von Mann und Frau als Partner_innen umgewandelt. Zugleich wurden Frauen mit Kindern dabei unterstützt, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, allerdings zu sehr ungleichen Bedingungen hinsichtlich Bezahlung und Karrierechancen.62 All dies führte jedoch keineswegs auch schon zu einer Infragestellung der traditionellen Rollenbilder und Aufgabenverteilungen in weiten Teilen der Bevölkerung. Vielmehr mussten Frauen nun sowohl die Rolle der Hausfrau und 60 Vgl. dazu auch Leibetseder 2013; Ingrid Mairhuber/Ulrike Papouschek, Frauenerwerbsarbeit in Österreich. Brüche und Kontinuitäten einer begrenzten Integration seit Mitte der 90er Jahre. In: Bundesministerium für Frauen und öffentlichen Dienst (Hrsg.), Frauenbericht 2010. (Wien 2010), 427-464; 433. 61 Cyba 1996, 439 ff. 62 Vgl. z.B. Marina Fischer-Kowalski, Sozialer Wandeln in den 1970er Jahren. In: Sieder/ Steinert/Tálos 1996, 200-213; 202 ff.
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Mutter, als auch die der berufstätigen Frau erfüllen, waren also einer massiven ›Doppelbelastung‹ ausgesetzt, während Männer sich kaum an der Haus- und Elternarbeit beteiligten.63 Maria Mesner bemerkt dazu, dass »das Postulat der ›Gleichheit‹ im Bereich Arbeitswelt, also des Nachvollzugs männlich konnotierter Lebensmuster, konterkariert wurde durch eine sehr ungleiche Zuschreibung reproduktiver Aufgaben, die durch entsprechende staatliche Regelungen nochmals festgeschrieben wurden«64.
Auch wenn die patriarchale Familie als gesellschaftlicher Imperativ ab Mitte der 1970er Jahre nach und nach an Legitimität verlor, änderte dies wenig an der Doppelbelastung der Frauen. Bis in die 1990er Jahre manifestierte sich eine klare geschlechtsspezifische Zuschreibung, die allein Frauen als Betreuerinnen der Kinder vorsah, auch in den gesetzlichen Grundlagen.65 Obwohl in den letzten zwanzig Jahren auf politischer und gesellschaftlicher Ebene weitere Veränderungen erfolgten, zeigt dies in Bezug auf die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau im Haushalt und in der Elternarbeit nur sehr bedingt Auswirkungen. Auch heute herrscht weitgehend tendenziell das männliche Ernährermodell vor, vor allem auch als Basis politischer Entscheidungen.66 Von einer Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeitswelt und Familie ist die österreichische Gesellschaft daher erheblich weiter entfernt als es die skandinavischen Länder sind.67 In den Worten Bettina Leibetseders kann daher resümiert werden: »Austrian social policy is based on the ideal of familialism and the gendered division of labour: an ideal mother should stay at home and take care of the children as part of the Catholic tradition. [...] Gender equality cannot be achieved, as the existing division of labour between men and women of paid and unpaid work remains the same.«68
63 Das Vorherrschen traditioneller Vorstellungen in der Bevölkerung für diese Zeit ist durch empirische Studien belegt. Vgl. dazu Cyba 1996, 444 ff.; Fischer-Kowalski 1996 (Anm. 62), 202 ff. 64 Maria Mesner, Geschlechterpolitik. Österreich und die USA im Vergleich. In: Sieder/ Langthaler 2010, 334-367; 358. 65 Vgl. Mesner 2010 (Anm. 64), 356 ff.; Cyba 1996, 447 ff. 66 Manfred Auer/Heike Welte, Work-family reconciliation policies without equal opportunities? The case of Austria. In: Community, Work & Family 12/4 (2009), 389-407. 67 Vgl. z.B. Pfau-Effinger 2000, 104 ff.; 120 ff.; Cyba 1996, 436 ff. 68 Leibetseder 2013, 547.
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4.2.3 Genderprobleme und Genderkonflikte in den Erzählungen Probleme und Konflikte, die aus unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Rollenbildern zwischen dem Herkunftsland der Migrant_innen und der österreichischen Gesellschaft resultieren, werden in den vorliegenden Interviews vorwiegend von Frauen beschrieben. Einzig ein junger Norweger thematisiert diesen Aspekt ebenfalls, allerdings lediglich in Form einer relativ wertneutralen Beobachtung. Zumeist werden Genderkonflikte von Immigrantinnen aus Skandinavien beschrieben, aber auch einige Interviewpartnerin aus Spanien erzählen diesbezüglich über zum Teil massive Probleme. Konflikte und Probleme mit differenzierenden weiblichen Rollenbildern werden dabei auf zwei Ebenen thematisiert; zum einen auf der Ebene der direkten Interaktion mit signifikanten Anderen wie dem Ehemann oder der Schwiegermutter, und zum anderen auf einer strukturellen, gesellschaftspolitischen Ebene. Die zwischenmenschliche Ebene wird ausschließlich von Migrantinnen aus Skandinavien angesprochen. Es geht dabei in allen Fällen um die Frage der Aufgabenverteilung im Bereich von Haus- und Elternarbeit zwischen den Lebens- bzw. Ehepartnern. Mit einer einzigen Ausnahme sind diese Frauen in keiner Weise bereit, Kompromisse einzugehen; sie beharren auf dem Gleichheitskonzept, das gleiche Rechte und Pflichten für beide Geschlechter bzw. Partner vorsieht. Sie sind ausdrücklich nicht bereit, davon Abstriche zu machen, auch wenn ihnen dies von österreichischen Partnern und Freunden oder auch nur durch die in Österreich beobachtete ›Stimmung‹ nahegelegt wird. (Siehe Kap. 5.2) Auf der strukturellen gesellschaftspolitischen Ebene beschreiben sowohl Zuwanderinnen aus Skandinavien, als auch eine Immigrantin aus Spanien diesbezügliche Probleme, vor allem im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit. Für Skandinavierinnen sowie für die Migrantin aus Spanien ist ein Kontrast zwischen dem ›traditionalen‹, diesbezüglich hinterherhinkenden Österreich, und ihren jeweiligen ›fortschrittlichen oder zeitgemäßen‹ Herkunftsländern das entscheidende Deutungsmuster dieser Konflikte. Sara aus Finnland, 1975 geboren, thematisiert die Unterschiede in der Aufgabenteilung bei Haus- und Elternarbeit, obwohl sie selbst in ihrer Ehe davon nicht betroffen ist. Zwischenmenschlich habe es mit ihrem Ehemann keine Konflikte gegeben, erzählt sie, und begründet das damit, dass ihr Ehemann – in ihrer Deutung – »kein typischer Österreicher« sei. Warum der eigene Ehemann dem Stereotyp nicht entspricht, wird von Sara in der folgenden Sequenz innerhalb der Alltagstheorie gleichsam unter Bezugnahme auf eine Sozialisierungstheorie der Geschlechter begründet:
158 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Und bei meinem Mann, also muss ich sagen, er ist wahrscheinlich kein typischer Österreicher. Weil seine Eltern haben sich relativ früh scheiden lassen und er ist mit seiner Mutter aufgewachsen und ist immer sehr selbstständig gewesen. Und es war für ihn immer völlig klar, dass er auch im Haushalt und so was tut. Und er hat gelernt für sich zu sorgen.«
Der ›typische Österreicher‹ (eine typisierende und stereotypisierende Konstruktion, wie sie für das Alltagsdenken typisch ist, siehe auch Kap. 4.5) ist für Sara ein Mann, der sich wenig bis gar nicht um den Haushalt kümmert und der sich quasi eine Frau hält, um sich umsorgen und bedienen zu lassen. Da sie in einer früheren Beziehung mit einem Österreicher dieses Modell kennenlernte, kann sie sich nicht nur abstrakt oder ›theoretisch‹, sondern aus ›eigener Erfahrung‹ davon distanzieren. Sara schließt die Sequenz mit einer Coda, in der sie die ihr persönlich näher bekannten Fälle und deren Unterschiede auf die Ebene des Vergleichs der Gesellschaften hebt. Die abschließende Bezugnahme auf die Herkunftsgesellschaft und ihre Differenz zu Österreich zeigt einmal mehr, dass die kulturell-nationale Konstruktion auch in Genderfragen maßgeblich ist. Sie erklärt und unterstützt außerdem den geltenden Entwurf ihrer personalen Identität in der maßgeblichen Genderdifferenz. »Also was ich bemerkt hab, bei meinem ersten Freund, also er war ein Kärntner. Und da hab ich schon Schwierigkeiten gehabt damit, also mit diesen ganz traditionellen Rollenbildern. Also da denk ich mir, also wenn das ein anderer Mann wäre, der also sozusagen nicht so aufgewachsen ist wie mein Mann, könnte es sein, dass da größere Reibereien wären. Weil es für mich immer selbstverständlich war, dass der Mann mitmacht und dass man die Hausarbeit auch teilt. Also und dass es nicht selbstverständlich ist, dass ich als Frau jetzt alles machen muss. Und das is glaub ich schon so ein Punkt, wo sicher, wenn ich jetzt sozusagen mit dem ersten Freund zusammengeblieben wäre, wo sicher einiges zu kämpfen gewesen wäre. Weil einfach hier / Also in Finnland ist man viel weiter in Vielem!«
Unmissverständlich macht Sara deutlich, dass sie in diesen für sie offenkundig wesentlichen Punkten zu keinen Kompromissen bereit gewesen wäre. Ihr nach ihrem eigenen Dafürhalten für Österreich ›untypisches‹ Selbst- und Lebenskonzept deutet sie als Resultat ihrer Sozialisation in Finnland bzw. in ihrer finnischen Familie: »Und also ich wär sicher auch nicht, irgendwie solange die Kinder klein sind, also wäre ich sicher auch nicht zuhause geblieben, weil ich es einfach so ganz anders gelernt hab. Das hätt ich nicht ausgehalten.«
Sara erzählt auch, dass ihr Vater in Finnland schon vor 30 Jahren in Karenz gegangen sei, während ihr Mann, der in Österreich vor acht Jahren ein Jahr Vaterurlaub
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nahm, immer noch eine seltene Ausnahme und Teil einer Minderheit war. Für Sara resultiert das Fehlen von diesbezüglichen Konflikten in ihrer Ehe demnach aus der Tatsache, dass ihr Mann ihren Orientierungsrahmen der gleichen Rechte und Pflichten für beide Partner teilt, worin er ›untypisch‹ österreichisch ist. Ähnlich kompromisslos präsentiert sich Tilde, die bereits in den 1960er Jahren aus Dänemark nach Österreich kam, in ihrer Erzählung: »Ich weiß nicht. Ich hab ihn nicht gefragt ob=s ein Problem is. Weil für mich hat es kein Problem zu sein. ((Lachen)) Wenn=s ihm nicht passt, dann muss er eine andere Frau haben, das geht nicht. Weil ich kann das nicht ändern. Also ich kann nicht so eine Ichmache-nur-alles-was-du-möchtest-Ehefrau‹ sein. Also auf die Idee komm ich gar nicht!«
Mit ihrem Mann gab es diesbezüglich offenbar keine Konflikte, da er ihre Verhaltens- und Deutungsmuster hinsichtlich des Haushalts, der Elternschaft und des Berufs respektierte. Dennoch nahm Tilde die unterschiedlichen geschlechtlichen Rollenbilder zwischen Dänemark und Österreich, vor allem in den 1960er Jahren, sehr deutlich wahr. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass der Vergleich zwischen dem Eigenen und dem Fremden das Eigene konturiert, oder anders gesagt: dass das kulturell Eigene im Fremden gelesen wird. (Siehe auch Kap. 4.6) Und auch hier zeigt sich die hohe Bereitschaft, die personale Identität als dänische Frau am kulturellnationalen Konstrukt zu stärken und bis zu einem gewissen Grad auch zu erklären (siehe auch Kap. 7.2): »Natürlich in der allgemeinen Auffassung damals war es schon sehr anders. Wenn ein Mann einen Kinderwagen schiebt, zum Beispiel. Das war bei uns ganz normal. Oder, dass mein Mann oder ich aufsteh in der Nacht, wenn ein Baby brüllt. Oder, dass ich selbstverständlich sofort wie wir ein Auto hatten, sofort den Führerschein gemacht hab. Also nicht ein halbes Jahr gewartet hab. Sondern wenn er fährt, fahr ich auch. Er konnte sehr gut fahren und ich lern das auch sofort. Also es gab nie so etwas wo man sagt, das geht nicht weil du bist eine Frau. Aber man konnte vielleicht an den Reaktionen von anderen Leuten merken, dass ich / Ja, dass vielleicht meine Einstellung mehr so war wie=s hier zwanzig Jahre später war. Also so wie=s in Schweden und Dänemark normal is, dass die beiden quasi die gleichen Rechte haben, aber auch beide sich plagen müssen mit den gleichen Pflichten. Und diese Einstellung war eigentlich so für mich normal. Oder ja ›Du gehst alleine weg‹. Hab ich gesagt, ›Was heißt alleine weg, ich bin auch ein Mensch, ich kann alleine überall hingehen!‹«
Auch Tilde erklärt also ihren Orientierungsrahmen der Gleichberechtigung durch ihre Sozialisation in Dänemark, wo bereits in den 1960er und 1970er Jahren deutlich andere Werte und Normen etabliert waren als in Österreich.
160 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Geärgert hat=s mich wahnsinnig damals, dass mein Mann mitgehen muss, wenn in meinem eigenen Pass meine eigene Tochter eingetragen wird. Das hab ich nicht verkraftetet, da war ich wütend. Natürlich war ich nicht wütend auf meinen Mann, der kann nichts dafür. Aber auf diese Ding, was bilden sich die ein quasi, dass der Mann über mein Kind bestimmt, mehr als ich. Wir haben nicht die gleichen Rechte. Also was ist das jetzt?«
Während ihr Ehemann ihr Selbstkonzept offenbar durchwegs akzeptierte, wurde Tilde in anderen sozialen Feldern wie gesetzlichen Regelungen oder durch die Reaktion von Außenstehenden immer wieder mit der in Österreich bestehenden Ungleichheit konfrontiert. Was diese gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen betrifft, ist sie als einzelne Frau weitgehend macht- und hilflos. Dies fühlt sie noch in der Erinnerung, und genau dieses Gefühl erregt sie heute immer noch, macht sie »wütend«. Die Reaktionen von Außenstehenden nimmt sie zwar wahr, diese tangieren sie aber nicht weiter. Auch in dieser ›Konfrontation‹ hält sie unbeirrt und ohne sich verunsichern zu lassen, an ihren Verhaltens- und Deutungsweisen fest. Adaption, Anpassung oder ideologische Integration sind für sie keine Optionen. Ein ähnlich kompromissloses Festhalten an einem Deutungsmuster, das in der Genderfrage als überlegen gilt, lässt sich aus Carolines Erzählung rekonstruieren, die wie Tilde aus Dänemark nach Österreich zugewandert ist. Hier kollidieren unterschiedliche geschlechtsspezifische Erwartungen und Anforderungen allerdings weder mit einem ersten österreichischen Freund noch mit dem in Mexiko aufgewachsenen Ehepartner, sondern mit der (mexikanischen) Schwiegermutter, also mit jener Frau, die den späteren Ehemann geschlechtsspezifisch erzogen hat. »Ich weiß, einige Däninnen, die mit Österreichern verheiratet sind, sprechen immer über die Schwiegermütter. Ah (Lachen)), weil der Sohn, der sollte ja bedient werden, seine Hemden gebügelt werden und das Mittagessen auf dem Tisch stehen, am liebsten mit Knödl und Schweinsbraten. ((Lachen)) Und das ist für eine Dänin, auch damals, sehr schwierig. Weil in Dänemark machen die Männer genauso viel wie die Frauen, oder ab und zu ein bissl mehr sogar. Das Problem hab ich nicht gehabt. Ich hab eine mexikanische Schwiegermutter gehabt. ((Lachen)) Aber sie war eigentlich sehr lieb. Und sie hat zugehört, wenn ich gesagt hab, ›Naja, also ich stehe nicht auf, wenn ich da sitze und hol das Essen. Er soll bitte da sein, wenn es Zeit ist zum Essen!‹ Sie hat sich ein bissl gewundert. Aber sie hat=s angenommen. ((Lachen))«
Die Schwiegermutter als signifikante Andere der jungen Ehefrau, zu der ein potentiell konfliktträchtiges Verhältnis besteht, spielt auch in Fridas Erzählung eine zentrale Rolle. Frida, 1939 geboren und 1961 nach Österreich gekommen, erzählt nicht ohne Ironie:
Alltagswelten | 161 »Also meine Schwiegermutter hat sehr viel von Reinigung gehalten. Das war das aller Wichtigste, dass die Wände jeden Tag, einmal in der Woche jedenfalls, am liebsten jeden Tag müssen die abgestaubt werden. Also die war wirklich enorm und da wollte ich also nicht mein Leben der Reinigung widmen. Also da ham=ma verschiedene Sachen gehabt. Und dann hat sie von mir verlangt ((Lachen)), ja angeboten, darf ich nicht so schlimm sein, angeboten, dass ich zwei Monate, bevor ich geheiratet hab, bei ihr gelernt hab, wie man Hemden bügelt und wie man saubermacht. Und ich war ja eigentlich nur interessiert zu lernen, wie man kocht.«
Diese Episode aus den 1960er Jahren, die aus heutiger Sicht nahezu unglaublich erscheinen mag, amüsiert Frida in der Retrospektive. Dennoch ist sie die einzige Gesprächspartnerin, die einem anderen Orientierungsmuster folgt als jenem, den aus der Herkunftskultur ›mitgebrachten‹ Deutungs- und Verhaltensmustern kompromisslos zu folgen. Frida ist zu einer gewissen Adaption bereit und deutet diese partielle Adaption als notwendig für eine gelingende Ehe mit einem Österreicher in Österreich. »Es war jedenfalls anders, ja das war es. Es war überhaupt eine andere Ehe in Dänemark. In Dänemark ist es so die kameradschaftliche Ehe. Natürlich ist auch Liebe dabei, das muss ja sein, aber man steht eher auf eine Linie in Dänemark. Das gibt=s nicht, dass der Mann der alles Sagende ist und die Frau nur die, die draußen putzt und so. Das musste ich mir auch umstellen und so ist das halt hier.«
Allerdings erklärt Frida die Notwenigkeit der Adaption damit, dass es »damals« so war, während sie gleichzeitig andeutet, dass sich die Lage der Frauen inzwischen auch in Österreich etwas verbessert hat: »Aber damals war das wirklich so, dass der Mann, also pfu was ganz besonderes ist, der absolut nichts mit Haushalt zu tun hat und nix. Also das war gang und gäbe. Geheiratet haben wir 1963 und das war selbstverständlich, dass ich also die Hausarbeit und Einkäufe und Wohnungseinrichtung bestimm und so. Und als ich Kinder bekam, ich kenne keine von unsere Umgangskreis, wo der Mann Windeln gewechselt hat oder Kinderwagen geführt oder das, was ich jetzt bei meine Kinder sehe. Also da ist ein riesiger Unterschied passiert in Österreich, sicher zum Vorteil. [...] Da musste man sich schon einordnen mit dem Mann damals. Also sonst ist es nicht gegangen. Jetzt würde das ganz anders sein. Also ich mach, was ich will, nicht. Ja, das ist ganz anders. Auch weil Frauen jetzt sehr gut ausgebildet sind und im Berufsleben stehen, die können sich schon das Leben selber schaffen.«
Massive Probleme mit der aktuellen sozio-politischen Situation, also auf der zweiten angesprochenen ›Konfliktebene‹, im gegenwärtigen Österreich thematisiert
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Mia, die 1998 aus Norwegen nach Österreich gekommen ist. Sie empfindet das österreichische Arbeits- und Sozialsystem als »frauenfeindlich«, da dadurch Mutterschaft und Karriere kaum in zufriedenstellender Weise vereinbart werden können. »Das sind so ›Oh jetzt kommt eine Frau, sie wird eh schwanger werden‹. ›Keine Kinder, junge Frau, na gut, sie wird wahrscheinlich sechs oder neun Jahre weg sein vom Betrieb, wir sollten sie gar nicht anstellen!‹ Also solche Dinge gibt es hier mitunter wirklich. In Norwegen is es so, du weißt, das is eine Frau, sie wird vielleicht insgesamt zwei Jahre weg sein, ja, aber nicht mehr. Das gibt auch entsprechendes Vertrauen von Arbeitsgeber. Dass die Frauen nicht wegbleiben so lange. Aber was sollen die Frauen hier machen? Der Mann geht nicht weg. Der Mann bleibt. Und der Arbeitsgeber behält die Männer deswegen. Und eine Frau weiß, sie kriegt weniger Gehalt nachher. Also was macht eine Familie? Der Mann geht arbeiten. Das is ganz klar hier, das is politisch gesteuert. Und ich glaube, auch die Frauen hier haben nicht andere Erfahrungen gemacht. Dass sie das schaffen können, mit ruhigem Gewissen zu arbeiten und ein Kind und gute Mutter zu sein.«
Zum Zeitpunkt des Interviews war Mias Frustration dermaßen groß, dass sie aus diesen Gründen ernsthaft eine Rückkehr nach Norwegen in Erwägung zog. »Und das sind so Dinge, politische Dinge, wo ich hadere, also was mich wirklich wahnsinnig wütend macht. Und das ist da wo ich denke, da geh ich zurück nach Norwegen, was soll das Ganze. Aber es ist ein bisschen die Wut in mir, die da spricht.«
Mittlerweile ist Mia, wie ich kurz vor dem Fertigstellen dieser Studie erfahren habe, Mutter und lebt immer noch in Österreich. Die Problematik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen thematisiert auch Caroline in einer sehr emotionalen Argumentation. Sie spricht vor allem über die Diskussion zum Thema Ganztagsschule, die in den letzten Jahren in Österreich geführt wurde. Caroline geht es vor allem darum, dass eine Halbtagsschule ohne weitere Betreuungsangebote es Frauen unmöglich macht, voll berufstätig zu sein. Ihre eigenen Kinder haben immer Ganztagsschulen besucht. »Also da kann man nicht berufstätig sein. Ich versteh das überhaupt nicht, diese Diskussion. Das ist nicht normal in einer modernen Gesellschaft, das geht nicht. Das werde ich nie verstehen. Und ich verstehe die Frauen nicht, die sich das einreden lassen!«
Carolines Coda, »Ich verstehe die Frauen nicht, die sich das einreden lassen«, steht für ein Deutungsmuster, das sich in den Erzählungen aller Migrantinnen aus Skandinavien findet und ein wesentliches Element des ›skandinavischen Habitus‹ von Frauen auszumachen scheint. Sie blicken auf etwa acht Jahrzehnte eines öffentli-
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chen und privaten Diskurses zu diesen Fragen der Geschlechterpolitik in Skandinavien zurück und haben gelernt, sich darin dominante Grundpositionen zu eigen zu machen. Für skandinavische Frauen ist eine solche Position kein provokantes feministisches Statement, sondern sie demonstrieren mit Stolz und Selbstbewusstsein die Überzeugung, dass in diesem Punkt erzielte Fortschritte einen Zuwachs an Frauenrechten bedeuten, die wie alle Menschenrechte nicht verhandelbar sind. Die langjährige Praxis des öffentlich-politischen und des alltagspolitischen Diskurses ermöglicht es, den Anspruch auf Gleichberechtigung in die eigene Position zu integrieren, oder anders gesagt, ihn zu einer geronnenen Erfahrung, zu einer habitualisierten Erfahrung werden zu lassen. Dies manifestiert sich auch in Fridas Argumentation zum Thema Eifersucht: »Ich glaube, das ist eine Unsicherheit. Das ist eben diese Unsicherheit, dass die Frauen die / Sie müssen doch denken, es gibt doch keine bessere als mich für meinen Mann. Es gibt einfach keine bessere! ((Lachen)) Da kann er suchen die ganze Welt herum, es gibt kein bessere. Diese Einstellung muss man haben, dann kommt man durch! ((Lachen)) Ja aber man soll=s natürlich nicht laut sagen, man soll nur so reagieren.«
Einzig Ella, Jahrgang 1989, eine Migrantin aus Finnland, spricht zwar über Hausarbeit und dergleichen, thematisiert jedoch keine inneren oder äußeren Konflikte in diesem Kontext. Sie sagt, sie mache Hausarbeit gerne, koche gerne und es mache ihr nichts aus, diese Aufgaben zu übernehmen. Für sie waren eine ›große Karriere‹ und beruflicher Erfolg von vornherein kein Teil des Lebenskonzepts. Sie ist gelernte Köchin und hat offenbar ihren Beruf gleichsam zur privaten Hauptaufgabe gemacht. Ihr Verhalten kann zudem auch derart gedeutet werden, dass sie, als in Finnland aufgewachsene und sozialisierte junge Frau, bereits so weit emanzipiert ist, dass sie es sich erlauben kann, einem traditionalen Rollenbild zu folgen, wenn sie das für sich richtig hält und auch selbst möchte. Erik, ein junger Mann, der aus Norwegen nach Österreich zugewandert ist, ist der einzige Mann in meinem Sample, der das Genderthema anspricht. Er thematisiert unterschiedliche geschlechtsspezifische Rollenbilder im Kontext seiner Reflexionen der Migration seiner österreichischen Mutter nach Norwegen sowie im Kontext der Frage, ob die Tatsache, dass er aus Norwegen kommt, in seinem Alltag eine Rolle spielt. »Da denk ich mir doch, dass Österreich und Norwegen emanzipatorisch auf unterschiedlichen Höhen sind. ((Lachen)) Vor allem damals mehr als heute, aber immer noch würde ich sagen. [...] Ahm ich mein Sexismus gibt=s in Norwegen genauso, aber die Erwartungen daran, welche Rollen übernommen werden, sind andere. Ich hab das gemerkt, ich komm nach Österreich und erstens zum Beispiel, vielleicht nicht so sehr jetzt meine Generation, aber die meiner Eltern, wenn man dann merkt, dass es wirklich noch diese Tren-
164 | »Auch wir sind Migrant_innen « nung gibt, von wegen die Frau kocht und bringt auch das Essen zum Tisch und der Mann räumt nicht mal ab oder irgendetwas, geschweige denn Geschirr spülen oder so. Solche Kleinigkeiten fallen total auf, und da bin ich natürlich anders geprägt, auch im Alltag!«
Erik beschreibt hier nicht einen persönlichen Konflikt, sondern einen von ihm teils beobachteten, teils aus Diskursen übernommenen Unterschied zwischen seinem Herkunftsland Norwegen und Österreich, wo er seit Jahren lebt. Die Tatsache, dass ihm die beschriebenen Rollenbilder ›fremd‹ sind, führt auch er auf seine Sozialisation in einem ›fortschrittlicheren‹ Norwegen zurück. Aber auch in »seiner Generation«, d.h. bei Leuten um Anfang/Mitte Dreißig, konstatiert er Verhaltensmuster, die von den in Norwegen üblichen deutlich abweichen. Er meint auch einen generell anderen Habitus der Frauen in Norwegen und in Österreich bemerken zu können: »Ich glaub, man merkt=s auch in dem allgemeinen Umgang. Weil ich das Gefühl habe, dass Norwegerinnen mit einer Selbstverständlichkeit auftreten und Ansprüche stellen, und auch irgendwie direkter sind. […] Die reißen sich dann die Burschen auf, schleppen sie mit nachhause. Es klingt wie kein großes Ding, aber es deutet auf eine ganz andere Einstellung zum Balzverhalten hin zum Beispiel. Und auch eine andere Selbstsicherheit, eine andere Selbstständigkeit mit dem Leben allgemein.«
Damit fügt sich Eriks Wahrnehmung in der Bild der stolzen, selbstsicheren skandinavischen Frauen, dass auch von anderen Interviewpartner_innen gezeichnet wird. Exakter kann er seinen eigenen Beobachtungen bzw. diese von ihm zitierten diskursiv verbreiteten Unterschiede jedoch nicht festmachen: »Es ist sehr vage. Es ist auch ein Vernehmen, so wie man einen Geruch wahrnimmt. Ich könnt nicht den Finger drauf legen oder es genau beschreiben.«
Für die aus Spanien zugewanderte Eva liegen genderbedingte Konflikte ebenfalls auf der strukturellen, politischen und gesellschaftlichen Ebene. Sie beschreibt ihre Erkenntnis und ihre Erfahrung, dass es in Österreich wenig bzw. im Vergleich weniger Unterstützung und Akzeptanz berufstätiger Mütter gibt, als eine Art »Kulturschock«. »Also ich bin auch berufstätig, für mich der Beruf spielt eine große Rolle in meinem Leben. Also selbstverständlich meine Familie ist das allerwichtigste, aber ich bin konfrontiert worden mit manchen Sektoren in der Gesellschaft, denen lieber ist, dass die Mutter zuhause oder mehrheitlich zuhause bleibt. Das war für mich auch ein großer Kulturschock irgendwie. Ich musste ein bisschen dagegen kämpfen. Und diese Idee beschäftigt mich auch noch. Ich bin auch tätig bei einer Fachhochschule, ich leite eine Abteilung. Und dort habe
Alltagswelten | 165 ich gesehen, es gab damals, jetzt ist es ein bisschen besser geworden in den letzten Jahren, aber es gab keine Frau in Führungspositionen. Ich hab mir gedacht, ›Aha das heißt, wenn man schwanger wird, ist alles aus oder?‹ Und dann hat man gesehen, es ist schwierig, einen guten Kindergarten oder eine Kinderkrippe zu finden. Die nächste Sache, dass die Schulen nur bis Mittag funktionieren. Hab ich mir gedacht, ›Entschuldigung, aber welchem Arbeitgeber, welcher Arbeitgeberin kann ich erzählen, dass ich, Entschuldigung, zu Mittag zuhause sein muss und noch das Mittagessen vorbereiten?‹ Also es tut mir leid. Da hab ich mir gedacht, so die Frau als berufstätiger Mensch, wenn sie Mutter ist, wird nicht ernst genommen. Also das war für mich ein großer Kulturschock!«
Beruf und ihre Karriere sind also für Eva bedeutende Orientierungsrahmen, die sie auch für ihre Familie nicht ›opfern‹ möchte. Wie auch Caroline kritisiert Eva den Mangel an Ganztagsschulen und Betreuungsplätzen für Kleinkinder, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft erst gewährleisten würden. Ihre persönlichen Erfahrungen und diese mangelhaften Strukturen deutet sie als Ausdruck fehlender Wertschätzung und Akzeptanz berufstätiger Mütter in Österreich. Ihr weibliches Selbstbild als erfolgreiche Frau im Beruf und als gute Mutter kann sie daher unter diesen Umständen nur schwer umsetzten. Dennoch beharrt auch sie auf diesem Lebenskonzept. Ihre 18 Monate alte Tochter gibt sie in die Kinderkrippe, um wieder arbeiten gehen zu können. Die Reaktionen in ihrem sozialen Umfeld, die sie als symbolisch für generelle Werte und Normen in Österreich deutet, empfindet sie jedoch als verletzend und beleidigend. Ihre Wünsche und Werte stoßen auf Unverständnis und Ablehnung. »Und Männer, nicht nur Frauen. Entschuldigung, Männer haben mich angeschaut als wäre ich diese bekannte Rabenmutter. Also diese bekannte Rolle. Und Männer, die mir gesagt haben, ›Wie erlaube ich, dass mein 18 Monate altes Kind in den Kindergarten, also in die Krippe kommt?‹«
Bei diesem Konflikt geht es, deutlich über sozio-ökonomische Faktoren hinaus, um die Frage, wie eine ›gute Mutter‹ zu definieren ist und welche Werte für die Kindererziehung angemessen sind (s.u.).69 Unverständnis erfährt Eva sowohl von Arbeitskolleg_innen als auch von Freunden und den Schwiegereltern: 69 Evas Deutungen und Argumentation decken sich weitestgehend mit den Ergebnissen einer diesbezüglichen Studie aus dem Jahr 2005. Dort kommen die Autor_innen anhand einer Reihe von Interviews mit u.a. Frauen aus Spanien zu dem Ergebnis, dass, »spanish women, unlike those in France, assign only low or medium value to family life. They reject the idea that women really prefer home and children, and do not think that women need children to be fulfilled or that being a housewife can be as satisfying as paid work. They clearly believe that mothers should have the option of paid work and that children
166 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Oder zum Beispiel wie ich vom Rektor der Fachhochschule angesprochen worden bin, als ich zurückgekehrt bin nach der ersten Karenz, wie schaffe ich das und und wow. Und ich habe mir gedacht, ›Entschuldigung, in welchem Jahrhundert wohnen wir? Ist es das 21. Jahrhundert, oder bin ich zurückgekehrt ins 19. Jahrhundert?‹ Ich habe es nicht ausgehalten. Entschuldigung, es gibt so viele Länder in der Welt, wo das nicht so ein Problem ist. Was ist hier los?«
Sie argumentiert, dass es ihrer Tochter gut gehe, dass sie gerne in die Kinderkrippe gehe, sie selbst gerne erwerbstätig sei und ihrer Berufsarbeit hohe Bedeutung einräume. Daraus zieht sie den Schluss: Wenn also dem Anschein nach alle Angehörigen der Familie zufrieden sind, warum sollte es dann ein Problem sein, für sich als Frau und Mutter diesen Weg zu wählen? Ihre Orientierungsmuster im Bezug auf Mutterschaft und Beruf, aber auch ihr Selbstkonzept als Frau, die sich nach ihrer Erfahrung sehr von den typischen Mustern und Konzepten in Österreich unterscheiden, führt sie auf ihre Sozialisation in ihrer spanischen Herkunftsfamilie zurück: »Meine Familie hatte andere Vorstellungen. Also meine Familie wollte nicht, dass ich so lange zuhause bleibe. Wofür habe ich so lange studiert, gekämpft?«
Ihre Herkunftsfamilie hatte, so ist diese Bemerkung wohl zu lesen, deutlich andere Erwartungen an sie, als die in Österreich geprägte Herkunftsfamilie des Vaters ihrer Kinder. Dies führt unweigerlich zu inneren wie auch äußeren Konflikten entlang des Unterschieds zwischen den beiden ›kultur-nationalen‹ Familienteilen. Für Eva ist es ihr größter Konflikt, dass es ihr, wie sie findet, so schwergemacht wird, ihren Lebensentwurf zu verwirklichen, dass sie ständig darum kämpfen und Missfallen, Kritik und Unverständnis ertragen muss. Zugleich ist zu vermuten, dass sich aus der Unmöglichkeit, die konträren Erwartungen unterschiedlicher signifikanter Anderer zu erfüllen, ein inneres Spannungs- und Konfliktfeld ergibt. Berechtigt erscheint mir auch Evas Frage, wozu sie Zeit und Energie in die Akkumulation von Bildungskapital investiert hat, wenn dieses ab dem Zeitpunkt der Schwangerschaft, zugespitzt formuliert, wertlos wird. Auf diese Frage findet Eva in der ›österreichischen Kultur‹ keine befriedigende Antwort. Die unterschiedlichen Orientierungsmuster zwischen Spanien und Österreich erklärt sich Eva auch mit der anderen Bedeutung, die der Familie und dem sozialen Kollektiv in Spanien beigemessen wird. Sie argumentiert, dass es in einem Umfeld, in welchem dem Kollektiv mehr Bedeutung zukommt, als selbstverständlich und gesund angesehen wird, wenn das Kleinkind in die Kinderkrippe geht. Dort wird es do not suffer if their mothers are out at work« Linda Hantrais/Peter Ackers, Women’s choices in Europe. Striking the work-life balance. In: European Journal of Industrial Relations 11/2 (2005), 197-212; 202.
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ein soziales Wesen und die ersten Jahre der Kindheit bestehen nicht nur in der abgeschotteten Dyade Mutter und Kind. Die Rolle, die Evas Ehemann in diesen Konflikten einnimmt, bleibt in ihrer Erzählung undeutlich und in manchem auch unklar. Vermutlich unterstützt er seine Frau zwar bis zu einem gewissen Grad, steht aber nicht völlig hinter ihren Wünschen und Konzepten. Auch wenn sie das nicht explizit formuliert, lässt sich dennoch etwa aus folgender autobiographischer Andeutung ein gewisses Gefühl des Alleingelassenseins erkennen: »Ja also, wie gesagt, das war für mich eine große Krisenzeit, na mit dem Land und mit der Kultur.«
Wie andere Frauen auch, deutet Eva ihre Erfahrungen als Resultat der anderen ›Kultur‹ im Zielland der Migration, sie sieht Menschen, mit denen sie schlechte Erfahrungen gemacht hat, nicht nur als Individuen, sondern auch als Teil und Ausdruck eines Aspekts der ›österreichischen Kultur‹. (Siehe auch Kap. 3.4) Olivia, eine weitere Migrantin aus Spanien, etwa in Evas Alter, nimmt diese Thematik gänzlich anders wahr. Sie erwähnt keinerlei Probleme mit der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf. Auf einer sehr abstrakten Ebene beschreibt sie zwar Unterschiede zwischen dem österreichischen und dem spanischen Mutterschafts- und Karenzsystem, für sie ist das spanische jedoch nicht unbedingt das bessere. Sie argumentiert, dass es in Spanien eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist, die Kinder bereits im Alter ab etwa vier Monaten in die Kinderkrippe zu geben. Die Tatsache, dass in Spanien die Zeit, die Frauen der Mutterrolle widmen, wesentlich kürzer ist, erklärt sie mit dem schwachen Sozialsystem sowie mit der wirtschaftlichen Situation, nicht jedoch mit unterschiedlichen Orientierungsmustern und Selbstkonzepten. Auch Lucía, eine Spanierin, die bereits in den 1960er Jahren nach Österreich kam, verweist in ihrer Erzählung immer wieder auf unterschiedliche weibliche Rollenbilder. Im Gegensatz zu den Däninnen Tilde und Frida, die ebenfalls zu dieser Zeit nach Österreich zuwanderten, thematisiert Lucía Fragen der Aufgabenverteilung im Haushalt und in der Kindererziehung nicht. Sehr deutlich geht jedoch aus ihrer Erzählung hervor, welch wichtiger Orientierungsrahmen der Beruf und die Berufsarbeit für sie waren und sind. Sie erzählt aber auch, dass sie gleich nach der Heirat lernte, österreichische Gerichte zu kochen. Kochen war demnach offenbar die von ihr weitgehend selbstverständlich – und auch gern – übernommene Aufgabe im Haushalt. »Ich koche gerne. Ich habe am Anfang natürlich sofort gelernt, Schnitzel zu machen.«
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Natürlich stellte sich die Situation für Lucía gänzlich anders dar als für die beiden Däninnen derselben Generation. Während Skandinavien in den 1960er Jahren in Sachen Geschlechtergleichheit bereits sehr fortschrittlich war, kam Lucía aus dem Spanien der franquistischen Diktatur, in der Frauen in der Gesellschaft massiv unterdrückt wurden. »Aber die Frau in Spanien war, wirklich, die konnte allein weiß Gott nicht fortgehen. Und ich kann mich erinnern, damals am Anfang des Studiums haben die Frauen angefangen so eine Zigarette zu rauchen. Das war furchtbar gesehen, na. Aber als Studentinnen haben wir gesagt, uns ist es wurscht. Ich meine, mir hat=s nicht geschmeckt und ich habe nicht weiter geraucht, aber ein bisschen angeben haben wir. Oder, dass wir Frauen allein in ein Kaffeehaus gegangen sind, oder sogar wie ich allein gegangen bin, weil ich einen Kaffee wollte. Wir haben auch nicht viel Geld damals gehabt, na. Aber das war nicht gut gesehen. Damals, gell, das ist viele Jahre her. Aber ich war für die damalige Zeit ein modernes Ding, net. Und zuhause wurde ich eben so erzogen. Aber ich musste zuhause um zehn Uhr Abends sein. Also das war selbstverständlich.«
Sie beschreibt die gesellschaftliche Situation im Spanien der 1960er Jahre relativ wertneutral. Maßgeblich ist auch hier der Vergleich zwischen Spanien und Österreich in den 1960er und 1970er Jahren, den auch die folgende Sequenz eindrucksvoll verdeutlicht: »Ja, ja in Österreich war=s anders. War auch nicht so wie heute gell, es war auch nicht so. Aber immerhin, die Frauen im Sommer zum Beispiel, die kurze Zeit, weil ich bin nach Spanien im Sommer gefahren. Aber zum Beispiel wir sind im Traunsee baden gegangen und ich habe ein volles Ding [einen einteiligen Badeanzug, M.N.] gehabt, und die Österreicherin haben schon Bikini getragen. Und ich wollte natürlich auch einen Bikini, aber habe mir gedacht, es hat kein Sinn, dass ich da Geld ausgebe, ich habe wenig Geld, und dass ich=s dann in Spanien nicht anziehen kann, nicht.«
Auch die in Deutschland aufgewachsene Theresa spricht das Thema Emanzipation an. Sie lebte auch einige Zeit in Griechenland und hatte massiv mit dem dort vorherrschenden Frauenbild zu kämpfen. Aber auch in Österreich sagt sie, gebe »es keinen gelebten Feminismus« und deutet es als die Holschuld der Frauen, ihre Rechte einzufordern. »Also dass es nicht gelebt wird, ist für mich zum Beispiel daran sichtbar, dass Männer jeglicher Alterklasse / Ich spreche jetzt mal allgemein, ja. Ausnahmen bestätigen die Regel. Es gibt sicher Ausnahmen, aber so in beruflichen Kontexten erleb ich das immer wieder, dass es da keine Gleichbehandlung gibt. Und dass von Seiten der Frauen auch nicht darauf gepocht wird. Dass nicht gesagt wird, ›Entschuldige, das ist nicht korrekt, was du hier
Alltagswelten | 169 tust, oder wie du dich ausdrückst! Und was ist der Unterschied zwischen dir und mir? Warum behandelst du mich so schlecht?‹ - Also es wird nicht, wie sagt man, das eingearbeitet. Ich meine, natürlich kann man den Männern viel vorwerfen, ja aber wenn man=s nicht einfordert, was sollen sie denn machen, wenn man=s ihnen nicht sagt. Das meine ich mit gelebtem Feminismus. Da kommen wir natürlich jetzt in eine riesen Diskussion rein. Ja, so viel erstmal dazu.«
4.2.4 Fazit, Vergleich und Kontextualisierung Es zeigt sich also, dass für die Gesprächspartner_innen das Konfliktfeld Gender und Geschlechterkulturen vornehmlich die Frage der Rechte und Pflichten von Männern und Frauen umfasst, die sich in geschlechtsspezifischen Rollenbildern manifestieren bzw. durch diese normativen Zuschreibungen allererst etabliert werden. Tatsächlich sind es die an diese Rollenbilder geknüpften Erwartungen, die bei kulturnationalen und persönlichen Differenzen zu Konflikten führen. Erwartungen von signifikanten Anderen und/oder der Umgebungsgesellschaft, die im latenten oder manifesten Widerspruch zum Selbstkonzept stehen, werden im Alltagsleben mehrfach virulent und in den autobiographischen Erzählungen immer wieder entweder episodisch oder generalisierend hervorgehoben. Auf den beiden Ebenen, auf denen Konflikte beschrieben werden, d.h. der interaktionellen Ebene und der gesellschaftspolitischen Ebene, treten so unterschiedliche Facetten derselben Problematik hervor. Der Konnex von Subjekt und Gesellschaft spiegelt sich sehr deutlich in den Erzählungen wider. Die in einer Sozietät akzeptierten und etablierten Rollenbilder treten in Wechselwirkung mit der jeweiligen politischen Agenda des Staates und den daraus resultierenden strukturellen Rahmenbedingungen. So werden soziale Konstrukte wie Mutterschaft oder Vaterschaft durch staatliche Karenzregelungen und staatliche Geschlechter- und Familienpolitik wesentlich mitkonstruiert. Unterschiedliche Deutungen davon, was es bedeutet ›eine gute Mutter sein‹, führen zu Konflikten, wie den von Eva beschriebenen. Tine Rostgaard resümiert dazu: »Life schemes not only give parents entitlements to spend time with their children: they create norms as to what it means to be a ›good‹ parent.«70 Angesichts der Wechselwirkungen zwischen dem gesellschaftlichen und politischen Diskurs und den lebensgeschichtlichen Entscheidungen und Praxen der Frauen und Männer kann der Umstand, dass in den skandinavischen Ländern eine an Gleichberechtigung orientierte Familienpolitik vorherrscht, auch darauf zurückge-
70 Tine Rostgaard, Setting time aside for the father. Father’s leave in Scandinavia. In: Community, Work & Family 5/3 (2002), 343-364; 351. Vgl. auch Neilson/Stanfors 2013, 270 f. Zu länderspezifischen ›Modellen von Mutterschaft‹ vgl. Pfau-Effinger 2000, 53 ff.
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führt werden, dass Geschlechtergleichheit innerhalb und außerhalb des Haushaltes ein prioritäres Anliegen ist. Die am männlichen Ernährermodell orientierte Familienpolitik der südeuropäischen Länder hingegen liegt in einem traditionalen Familienmodell begründet, durch das Ungleichheiten in Familie und Arbeitswelt reproduziert werden. Während also in den nordeuropäischen Ländern ein egalitäres Modell von Familie und Gender gewünscht, akzeptiert und zu einem großen Teil auch praktiziert wird, konnten in einer Reihe von wissenschaftlichen Studien für Spanien Differenzen zwischen erwünschter und gelebter Realität nachgewiesen werden. Obwohl auch Spanierinnen heute ein egalitäres Modell vorziehen würden, werden traditionale Rollenbilder und Aufgabenverteilungen praktiziert, woraus sich eine starke Ambivalenz ergibt, wie u.a. Almudena Moreno Mínguez argumentiert: »As for Spain, ambivalence is what defines the desired ideal model of family; there is a struggle between the innate wish to accept that females can deal with family and work at the same time and the weight of familist traditions, where the family role is more important than the labour role.«71
Die hier interviewten Skandinavierinnen teilen den Orientierungsrahmen der Gleichberechtigung, sowohl in der Intimbeziehung als auch in der Arbeitswelt. Unabhängig davon, ob die daraus resultierenden Differenzen und Konflikte auf einer zwischenmenschlichen oder gesamtgesellschaftlichen Ebene beschrieben werden, deuten sie die unterschiedlichen Orientierungsmuster der jeweiligen Akteur_innen als Ausdruck unterschiedlicher kultureller Prägungen. So wird auch der ›typische österreichische Mann‹ als kulturelles Produkt gedeutet. Mithin erklären sich aus Skandinavien nach Österreich zugewanderte Frauen ihre Einstellungen, Erwartungen sowie ihre Werte und Normen als Resultat ihrer Sozialisation in einer ›geschlechterpolitisch relativ fortschrittlicheren‹ Gesellschaft. Aber auch Einwanderinnen aus Spanien beschreiben die relativen Widerstände in Österreich im Hinblick auf ihren Anspruch, möglichst bald nach der Geburt eines Kindes wieder ins Berufsleben einzusteigen, als »Kulturschock«. Auch sie erklären sich demnach die privaten Kontroversen in diesen Fragen aus ›kulturellen Unterschieden‹. Hinsichtlich der aus differenten Geschlechterkulturen resultierenden Konflikte zeigt sich in den vorliegenden Erzählungen eine Zäsur etwa in den 1990er Jahren. Für ältere Migrantinnen manifestiert sich dieses Konfliktfeld zumeist in der individuellen
71 Almudena Moreno Mínguez, Familiy and gender roles in Spain from a comparative perspective. In: European Societies 12/1 (2010), 86-111; 88. https://doi.org/10.1080/14616 690902890321. Vgl. auch Cousins 1999.
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Aufgabenverteilung von Haus- und Elternarbeit und daher eher auf der privaten und interaktionellen als auf der sozial-politischen Ebene.72 Für jüngere Generationen ist zwar die Frage der Aufgabenverteilung ebenfalls Thema, überwiegend ist es aber die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die zu Konflikten führt. In diesem Kontext manifestiert sich der Konflikt vor allem auf der sozio-politischen Ebene. Dadurch wird auch verständlich, warum Frauen, die derartige Probleme beschreiben, mit Wut oder auch mit hartnäckigem Widerstand reagieren. Diese affektive Energie speist sich vermutlich aus dem Gefühl, dass sie auf diese Umstände unmittelbar keinen Einfluss nehmen können, zumal viele von ihnen ohne die österreichische Staatsbürgerschaft auch kein Wahlrecht in Österreich haben. Die einzigen Alternativen wäre eine Remigration oder eine weitere Migration, eine Option, über die einige Frauen auch ernsthaft nachdenken. Betrifft der Konflikt jedoch einen Bereich wie die eigene Ehe oder Partnerschaft, der sich der Handlungsmacht der Person nicht entzieht, kann ein typisch skandinavischer Habitus der Selbstsicherheit, Kompromisslosigkeit und der ›Bereitschaft zu kämpfen‹ konstatiert werden. Aber auch die aus Spanien zugewanderte Eva legt dieses Verhaltensmuster an den Tag. Einzig Frida stellt eine Ausnahme oder möglicherweise eine Variation dieses Orientierungsmusters dar. Wie beschrieben, ist sie durchaus zu Kompromissen bereit, ja sie erachtet sie für unumgänglich. Zugleich deutet sie diese Adaptionen und Zugeständnisse aber keineswegs als völlig unvereinbar mit ihrem Selbst- und Lebensentwurf. Sie akzeptiert dieses Lebenskonzept, weil auch sie sich letztlich damit wohl fühlt. »Ich hab einen Mann gehabt, der so viel verdient hat, dass es lächerlich war, also wenn ich gearbeitet hätt. Das war viel besser, ich bleib zuhause und schau, dass alles gut läuft. Aber das soll man nur machen, wenn man, wenn man wirklich zufrieden ist. Eine Mutter zuhause zu sein und denken, die Welt geht an mir vorbei und ich hab nichts mit meinem Mann zu reden, wenn nachhause kommt, also des is nix!«
Ähnliches gilt auch für Ella, die zwar den Großteil der Hausarbeit erledigt und keine berufliche Karriere plant, dies aber weniger aus Gründen der Anpassung an bestimmte Rollenbilder, sondern weil es ihrem Selbst- und Lebenskonzept entspricht. Dass sich hinsichtlich der Herkunftsländer Spanien und Skandinavien Unterschiede in den Erzählungen abzeichnen, verwundert angesichts der so unterschiedlichen Rahmenbedingungen nicht weiter. Alle Skandinavier_innen, egal welcher Migrationsgeneration, die über das Thema Geschlechterkulturen sprechen, be72 Vgl. dazu auch Barbara Wallis, Zur Analyse von geschlechtstypischen Migrationsstrategien bei binationalen Paaren. In: Judith Schlehe (Hrsg.), Interkulturelle Geschlechterforschung. Identitäten – Imaginationen – Repräsentationen. (Frankfurt am Main/New York 2001), 132-152.
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schreiben ihre Herkunftsregion als deutlich fortschrittlicher im Vergleich zu Österreich. Oder, präziser formuliert: Sie beschreiben Österreich als rückständig. Damit decken sich ihre persönlichen Erfahrungen mit dem internationalen soziopolitischen Diskurs, in dem den skandinavischen Staaten eine Vorreiterrolle in Sachen Geschlechtergleichheit zugeschrieben wird. So belegen auch statistische Daten, dass die Hausfrauenrolle beispielsweise in Dänemark bereits in den 1960er Jahren verhältnismäßig selten war. 1965 verzichteten 66 % der Frauen mit Kleinkindern freiwillig auf eine Erwerbstätigkeit, 1991 waren es nur mehr 3 %. In Dänemark ist es demnach seit geraumer Zeit üblich und normal, die Berufstätigkeit nur für die Karenzdauer von sechs Monaten zu unterbrechen. In Österreich lag die Zahl der Frauen, die unmittelbar nach der Karenz in das Berufsleben zurückkehrten, Ende der 1990er Jahre noch bei etwa einem Drittel. Im europäischen Vergleich beteiligen sich dänische Männer am häufigsten und intensivsten an Hausarbeit.73 Wie bereits angesprochen, gilt es bei all dem allerdings zu beachten, dass es durchaus Unterschiede in den Entwicklungen zwischen den einzelnen skandinavischen Ländern gibt.74 Zudem kann auch für die ›skandinavischen Vorbilder‹ nicht von einer völligen Ausgewogenheit der Arbeitsteilung bzw. einer völligen Gleichheit beider Geschlechter gesprochen werden.75 Auf die Gegenwart bezogen, beschreiben auch Spanierinnen ihr Herkunftsland ebenfalls als ›fortschrittlich‹ im Vergleich zu Österreich. Dennoch ist die Situation dort eine gänzlich andere als in Skandinavien. Obwohl sich die Geschlechterrollen in Spanien in den letzten Jahrzehnten im Vergleich zu Skandinavien und Österreich drastischer und rascher gewandelt haben und weiterhin in rascher Veränderung sind, verbringen spanische Frauen nach wie vor etwa doppelt so viel Zeit mit Hausarbeit als Männer.76 Auch wenn Männer sich vermehrt an der Hausarbeit beteiligen, 73 Annemarie Schiffbänker, Frauenerwerbstätigkeit und Kinderbetreuungspolitik. Österreich und Dänemark im Vergleich. In: SWS Rundschau 41/4 (2001), 420-434. Zu Finnland vgl. Pfau-Effinger 2000, 179 ff. 74 In Schweden und Finnland wurde bereits in den 1990er Jahren ein duales Ernährermodell etabliert. Das Rollenbild der Hausfrau und Mutter war in Norwegen im Vergleich zu den anderen skandinavischen Staaten deutlich länger gesellschaftlich akzeptiert. Vgl. Neilson/ Stanfors 2013, 270 f.; Tine Rostgaard, Setting time aside for the father. Father’s leave in Scandinavia. In: Community, Work & Family 5/3 (2002), 343-364; 360. Zur Entwicklung in Schweden vgl. beispielsweise Yvonne Hirdmann, State Policy and Gender Contracts. The Swedish experience. In: Eileen Drew/Ruth Emerek/Evelyn Mahon (Hrsg.), Women, Work and the Family in Europe. (London 1998), 36-46. 75 Kari Melby/Christina Carlsson Wetterberg/Anna-Birte Ravn (Hrsg.), Gender equality and welfare politics in Scandinavia. The limits of political ambition? (Bristol 2008). 76 Eine Studie zu Genderstereotypen in Spanien kam zu dem interessanten Ergebnis, dass Frauen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung maskulinisiert werden, während Männer
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sind es die Frauen, die letztlich die Verantwortung tragen und für Organisation und Planung der Haus- und Familienarbeit zuständig sind. Dies führt zu einer großen Doppelbelastung für viele Frauen, da die derzeitige Generation spanischer Mütter die erste ist, deren Mehrheit erwerbstätig ist.77 Im Gegensatz zu Skandinavien ist das staatliche Betreuungssystem in Spanien keineswegs ausreichend, um dem Großteil der Mütter eine volle Berufstätigkeit zu ermöglichen.78 Als Lösung und Substitut werden daher häufig die Großmütter für die Kinderbetreuung herangezogen, da die Mütter aus finanziellen Gründen gezwungen sind, möglichst bald wieder in das Berufsleben zurückzukehren.79 Das bedeutet, es ist keineswegs primär die gesellschaftlich und politisch etablierte Wahrung der Rechte und Bedürfnisse von Frauen, die zu dem baldigen Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit führt, sondern vielmehr ein ökonomischer Zwang, der den Müttern in Spanien keine anderen Optionen lässt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für Frauen, die mit Konflikten hinsichtlich unterschiedlicher geschlechtsspezifischer Rollenbilder zu kämpfen haben, diese Kontroversen einen der größten und wesentlichsten Posten der Migrationskosten darstellen. Im Rahmen der Deutungen und der eingesetzten Strategien im Umgang mit diesen Kontroversen stellt sich außerdem die Frage nach der für nötig erachteten Integration sowie nach der individuellen Selbstkonzeption und -verortung im Kontext kultur-nationaler Identitäten. Diese Fragen sollen im Weiteren noch ausführlich behandelt werden (siehe Kap. 5 und 7), zunächst möchte ich aber, thematisch gewissermaßen anschließend, die Themenbereiche Familie und Erziehung diskutieren.
jedoch nicht als weiblicher wahrgenommen werden. Esther Lopez-Zafra/Rocio GarciaRetamero, Do gender stereotypes change? The dynamic of gender stereotypes in Spain. In: Journal of Gender Studies 21/2 (2012), 169-183; 170. https://doi.org/10.1080/095892 36.2012.661580. 77 Constanza Tobío, Working and mothering. Women’s strategies in Spain. In: European Societies 3/3 (2001), 339-371; 342 f.; 355 f. https://doi.org/10.1080/146166901200793 69. 78 Selbst wenn ein Krippenplatz zur Verfügung steht, öffnet die Krippe für gewöhnlich zwischen 9.00 und 9.30, also nach Beginn der normalen Arbeitszeiten. Schulen wiederum betreuen Kinder nur bis 16.30 oder 17.00, während ein Arbeitstag erst um 19.00 oder 20.00 endet. Tobío 2001 (Anm. 77). 79 Vgl. dazu auch Fernándezu-Cordon/Juan Antonio/Constanza Tobio, Conciliar las responsabilidades familiares y laborales. Políticas y prácticas sociales. (Madrid 2005); Linda Hantrais/Peter Ackers, Women’s choices in Europe. Striking the work-life balance. In: European Journal of Industrial Relations 11/2 (2005), 197-212; 202 ff.; Tobío 2001 (Anm. 77), 349 ff.
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4.3 TRANS- UND BIKULTURALITÄT IN (KERN-)FAMILIEN UND INTIMBEZIEHUNGEN 4.3.1 Einführende Überlegungen Da auch Familie ein wesentliches und zentrales Element (transnationaler) Lebensräume und Alltagswelten darstellt,80 soll im Folgenden der Frage nach Migration, bzw. dem Leben als Migrant_in im Kontext von Familie und Intimbeziehung nachgegangen werden. Zum Thema Migration und Familie (verstanden zum einen als Zeugungsfamilie [›Kernfamilie‹] zum anderen als ein bi- oder plurilokaler, oft auch dreigenerationaler Familienverband) liegen zwar zahlreiche Studien zu verschiedenen Aspekten vor, doch kaum eine dieser Untersuchungen befasst sich mit transnationalen und transkulturellen Familien, die als ganze oder von denen einzelne Angehörige aus den relativ wohlhabenden Ländern Skandinaviens, aus Deutschland oder aus Spanien nach Wien zugewandert sind.81 Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive kann Familie als »soziale Institution und Lebensform«82 verstanden werden.83 Eine Institution ist Familie, weil sie eines der »relativ dauerhafte(-n), Generationen übergreifend(-s) Gebilde von Routinen, Regeln, Normen und wechselseitigen Erwartungen [darstellt], die für große Verflechtungszusammenhänge wie zum Beispiel Ethnien oder nationale Gesellschaften bestimmte Bereiche des soziale
80 Vgl. dazu z.B. Katja Eichler, Migration und Gesundheit. Die »transnationale Familie« als Raum für Reflexions- und Hybridisierungsprozesse. In: Thomas Geisen/Tobias Studer/ Erol Yildiz (Hrsg.), Migration, Familie und soziale Lage. Beiträge zu Bildung, Gender und Care. (Wiesbaden 2013), 313-331; bes. 314. 81 Vgl. z.B. Kofman/Kraler 2011; Geisen/Studer/Yildiz 2014; Pries 2008, 271 ff.; Pries 2010b, 35 ff.; Gabrielle Varro/Gunter Gebauer (Hrsg.), Zwei Kulturen – eine Familie. Paare aus verschiedenen Kulturen und ihre Kinder am Beispiel Frankreichs und Deutschlands. (Opladen 1997); Paloma Fernández de la Hoz, Migrantenfamilien und Integration in den EU Mitgliedstaaten. Bericht der europäischen Beobachtungsstelle zur sozialen Situation, Demographie und Familie. Schriftenreihe des ÖIF (Österreichisches Institut für Familienforschung) 10 (Wien 2002). 82 Zu dieser Definition vgl. Christine Hunner-Kreisel/Manja Stephan (Hrsg.), Neue Zeiten, neue Räume: Kindheit und Familie im Kontext von (Trans-)Migration und sozialem Wandel. (Wiesbaden 2013), 12 f. 83 Zum Konzept der Institutionen, als einem von drei Typen transnationaler Sozialräume vgl. Kapitel 6.3.
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Lebens und die dazugehörigen Handlungsprogramme strukturieren und die gleichzeitig Identität, Integration, Stabilität und Berechenbarkeit stiften«84.
Wenn also durch Lernprozesse weitergegebene Kulturmuster »eine gewisse Komplexität (unterschiedlicher Normen, Symbole, sozialer Praktiken), Dichte (im Sinne der allgemeinen Gültigkeit für bestimmte Lebensbereiche abgrenzbarer Menschengruppen) und Dauerhaftigkeit (über mehrere Generationen hinweg) entwickeln, kann man vom Entstehen einer sozialen Institution sprechen«85.
Auch die vorliegenden Erzählungen zeigen, dass sich die Institution Familie sowie die Bedeutung, die ihr beigemessen wird, je nach Herkunftskultur und Herkunftsland unterscheiden können. »The family is a social construct which entails beliefs and values defining family members and relationships with them. It thus constitutes a moral order, albeit with widely diverse understandings of what that order should be. At the same time, certain conceptions of what the family is, and how relations within it should be conducted, are likely to be hegemonic in a particular national formation«86,
wie der Sozialanthropologe Ralph Grillo dazu bemerkt. Während für Migrant_innen aus Skandinavien und Deutschland ›Familie‹ entweder die eigene Kernfamilie ist (bestehend aus Ehe- bzw. Lebenspartnern und einem oder mehreren Kindern) oder aber die Herkunftsfamilie (bestehend aus Eltern oder einem Elternteil und Geschwistern), besteht für Spanier_innen darüber hinaus auch eine noch weiter gefasste Familie, der auch Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, Cousins und Cousinen angehören.87 Umfasst diese weitere Familie nahezu alle lebenden Verwandten, unabhängig davon, in wie vielen Haushalten sie leben, ist in anthropologischer Sichtweise nicht mehr von einer Familie, sondern von einem Clan zu sprechen, der sich aus der gemeinsamen genealogischen Abstammung definiert. Für Migrant_innen bestehen daher unterschiedliche Erwartungen, Ansprüche und Verpflichtungen gegenüber der ›eigenen Familie‹ als ›Kernfamilie‹, der 84 Pries 2008, 242. 85 Pries 2008, 242. 86 Grillo 2008, 15. Vgl. auch Reinhard Sieder, Haus und Familie. Regime der Reproduktion in Lateinamerika, China und Europa. In: Sieder/Langthaler 2010, 285-343. 87 Vgl. Hofstede 2001, 227 ff.; Gerardo Meil Landwerlin, Padres e hijos en la España actual. Colección Estudios Sociales 19. (Madrid 2006), bes. 136 ff.; Valentino 2010 (Anm. 49) Er diskutiert in Spanien verbreitete Familienmodelle und die Bedeutung, welche ihnen beigemessen wird u.a. auch im sozialhistorischen Kontext der Franco-Ära.
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enger oder weiter gefassten Herkunftsfamilie oder dem Clan. Dass für sie die größere Familie und oft auch ›der Clan‹ wichtig und verpflichtend sind, wird von Gesprächspartner_innen aller Altersstufen aus Spanien hervorgehoben: »Der familiäre Aspekt ist etwas, was mir auch manchmal ein bissl abgeht. Ich glaub, dass wir in Spanien sehr viel Wert auf die Familie legen. Nicht nur auf die, sagen wir mal, auf die eigenen Eltern, oder auf die eigene Frau und Kinder, sondern auch auf den Clan sozusagen.« (Álvaro) »Also wenn man eine Spanierin heiratet, heiratet man auch die ganze Familie mit.« (Olivia) »Ich finde, wenn ich nach Spanien gehe und mit meiner Familie einige Tage verbringe, du bekommst diese Kraft der Liebe. Das ist richtige Liebe, die sind füreinander da, egal was passiert.« (Marta)
Gesprächspartner_innen aus Spanien berichten von der Beobachtung, dass in ihrer Herkunftskultur die Bindungen an die eigenen Eltern und an Geschwister stärker seien als in Österreich. Zwar stammt diese Beobachtung aus dem Vergleich der aus Spanien zugewanderten Gesprächspartner_innen mit Bekannten in Österreich, es erscheint mir aber dennoch bemerkenswert, dass sich diese Beobachtung bei Zuwander_innen aus mittel- und nordeuropäischen Ländern nicht findet. Allerdings messen auch Migrant_innen aus Skandinavien und Deutschland Familienangehörigen eine ähnlich große Bedeutung bei. Die Bedeutung, die den Herkunftsfamilien von den interviewten Migrant_innen jeweils beigemessen wird, sowie die damit verbundenen Familienpraktiken werde ich im Kontext der transnationalen Sozialräume noch ausführlich diskutieren. (Siehe Kap. 6.3) Hier soll im Weiteren der Fokus vielmehr auf den Kernfamilien und auf den Intimbeziehungen der Einwander_innen im Zielland der Migration liegen. So sehr Intimbeziehung und Elternschaft sowohl positive (Liebesglück, Glück der Elternschaft, Lebenszufriedenheit etc.), als auch negative (das befürchtete Scheitern der Ehe bzw. der Lebenspartnerschaft, negative Folgen für die Elternschaft) Orientierungshorizonte umfassen, so komplex und fordernd sind auch die damit verbundenen psychischen sowie sozialen Prozesse und Dynamiken. Michaela Schier und Karin Jurczyk beschreiben Familie dementsprechend als »Herstellungsleistung«: »In Familien treffen mehrere individuelle Lebensführungen mit unterschiedlichen Strukturen, Bedürfnissen und Interessen aufeinander, die miteinander ausbalanciert werden müssen. Sie werden in permanenter Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu einer – mehr oder weniger – gemeinsamen Lebensführungen verschränkt, die Familie alltäg-
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lich und biografisch als spezifisches System konstituiert und nicht als eine Addition von Menschen. Dieses System ist fragil und wechselhaft, es basiert auf Interaktionsprozessen zwischen den familialen Akteuren, die sich zu Handlungsmustern verdichten, und kommt nicht ohne ein Minimum gemeinsamer Handlungen, Ressourcen, Emotionen und Deutungen aus.«88
Es sind demnach stets zwei zunächst ›Fremde‹, die in einer Ehe oder Intimbeziehung aufeinandertreffen, die »in ihrer individuellen Lebensgeschichte sowohl andere Prioritäten und Erwartungen gelernt haben, als auch andere implizite Regeln der Lebensgestaltung, Kommunikation und Entscheidungsfindung«89. Während diese Herausforderungen für alle Familien bestehen, werden für binationale bzw, bikulturelle Paare gar noch ›verschärfte‹ Bedingungen postuliert: »Nun kann man sagen, in jeder Ehe – also auch da, wo die Partner aus demselben Land oder gar Ort kommen – müssen unterschiedliche Lebensweisen, Werte, Denkweisen, Kommunikationsformen, Rituale und Alltagsroutinen verknüpft und zu einer gemeinsamen Lebensweise, einer Ehe- und Familienwelt zusammengefügt werden. Aber dennoch zeichnen sich binationale Verbindungen durch eine Besonderheit aus. Während nämlich im einen Fall mehr die persönlichen Eigenheiten der beiden Beteiligten zu vereinbaren sind, kommen im anderen Fall noch kulturelle Unterschiede hinzu. Da sind, zumeist jedenfalls, die Herkunftswelten ferner und fremder und die Unterschiede der Sozialisationserfahrungen größer«90,
schreibt beispielsweise Elisabeth Beck-Gernsheim. Der Soziologe Rüdiger Peuckert wiederum bemerkt dazu: »Binationale Paare bewegen sich in einem Raum, der kaum vorstrukturiert ist, und sie sehen sich mit der Aufgabe konfrontiert, eine interkulturelle Lebenswelt bzw. binationale Familienkultur zu schaffen.«91 Bedingt durch die sehr unterschiedlichen Familienkonstellationen, in welchen meine Gesprächspartner_innen leben, ergibt sich in der vorliegenden Studie ein sehr heterogenes Bild. Für manche war die Liebe oder eine Intimbeziehung der Grund zur Migration, für andere war dies ein Grund, in Österreich zu bleiben. (Siehe auch Kap. 2.2) Viele führen eine Ehe Partnerschaft mit Österreicher_innen, einige mit Partner_innen aus dritten Herkunftsländern, während wieder andere gemeinsam mit einem Partner/einer Partnerin aus demselben Herkunftsland nach Österreich gekommen sind und hier weiterhin zusammenleben. 88 Schier/Jurczyk 2008, 10. 89 Scheibler 1992, 68. 90 Elisabeth Beck-Gernsheim, Deutschland ist bunter geworden. Binationale Paare und ihre Familien. In: Zeitschrift für Familienforschung 13/2 (2001), 74-79; 76. Vgl. auch Beck/ Beck-Gernsheim 2011, 35 ff. 91 Peuckert 2012, 22. Vgl. auch Scheibler 1992, 49 ff.; 68 ff.
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In diesem Kontext ist auch der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie von Bedeutung: Die Konzepte ›Familie‹ und ›Intimbeziehung‹ erfuhren seit den 1960er Jahren wesentliche Veränderungen, die unter anderem zu einer Diversifikation von Familien-, Beziehungs- und Haushaltstrukturen in ganz Europa führten.92 (s.u.) Konkret soll nun die Frage diskutiert werden, welche Rolle unterschiedlichen Herkunftsländern und -kulturen der jeweiligen Ehe- und Intimpartner_innen im Hinblick auf Beziehungsvorstellungen, Beziehungsalltag und Beziehungspraktiken zugeschrieben wird93 (bzw. welche Rolle der gemeinsamen Migration und/oder Herkunft zugeschrieben wird), und welche Handlungsstrategien die interviewten Migrant_innen in Problemlagen entwickeln. 4.3.2 Familie und Partnerschaft in den Erzählungen der Migrant_innen Für Kernfamilien mit Kindern, in welchen der Partner/Vater 94 aus Österreich stammt, lassen sich anhand der vorliegenden Erzählungen zwei Typen rekonstruieren.95 Ein erster Typ kann folgendermaßen umschrieben werden: Die Migrantin ist die trans- oder bikultureller Akteurin in einer Familie, die sich mit den trans- oder bikulturellen Orientierungsmustern dieser Akteurin zwar auseinandersetzt, ohne dass diese jedoch hegemonial werden. Beim zweiten Typus, dem Gegenpol zum ersten, überwiegen auch bei dem Partner bzw. Ehemann der zugewanderten Frau transkulturelle und bikulturelle Ori-
92 Vgl. dazu z.B. Grillo 2008, 17 ff.; Peuckert 2012, 8; Reinhard Sieder, Haus und Familie. Regime der Reproduktion in Lateinamerika, China und Europa. In: Sieder/Langthaler 2010, 285-343; 324 ff.; Anthony Giddens, The transformation of intimacy. Sexuality, love and eroticism in modern societies. (Cornwall 1992); Karl Otto Hondrich, Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft. (Frankfurt am Main 2004); Eva Illouz, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. (Frankfurt am Main 2007). 93 Die Frage »Denken Sie, dass die Tatsache, dass Sie aus X sind, eine Rolle in der Ehe/Beziehung spielt?« wurde im Nachfrageteil der Interviews explizit gestellt, da als Arbeitshypothese angenommen wurde, dass dieser Umstand von Bedeutung sein könnte. 94 In den hier untersuchten Fällen sind es stets die Männer, die aus Österreich stammen. 95 Diese Typologie gilt vorwiegend für aus Spanien und Skandinavien stammende Interviewpartner_innen. Für Gesprächspartner_innen aus Deutschland trifft dies hingegen weniger zu. Das ist vermutlich aber dem Sample (und somit dem Zufall) geschuldet, da von den Interviewpartner_innen aus Deutschland weniger Personen in einem solchen Familienmodell leben.
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entierungsmuster. Die Migrantin, Ehefrau und Mutter ist eine trans- oder bikultureller Akteurin in einer vollends trans- oder bikulturell orientierten Familie. Bei beiden Typen handelt es sich also um zumindest ansatzweise, zum Teil aber auch um vollständig transnational und transkulturell geprägte Familien. Der zweite Typ kommt interessanterweise nur bei Migrant_innen vor, die ab den 1980/1990er Jahren in Österreich eine Familie gründeten. Eine Beobachtung, die für die These einer zunehmenden Transnationalität und Transkulturalität als einem Phänomen der Spätmoderne spricht. (Siehe auch Kap. 8.11) Aber auch Emanzipationsprozesse, die es den Migrantinnen eher ermöglichen und ›erlauben‹ die Umsetzung ihrer Wünsche und Vorstellungen einzufordern, mögen hierbei eine Rolle spielen. (Siehe auch Kap. 4.2.3) Saras finnisch-österreichische, trans- und bikulturelle Familie steht für den zweiten Typus. Über die zweisprachige Erziehung der Kinder herrscht Einigkeit zwischen den Eltern (s.u.). Die beiden Söhne nehmen die bilinguale und bikulturelle Erziehung an und haben eine doppelte Staatsbürgerschaft. Nach der Geburt des ersten Sohnes ging Saras Ehemann ein Jahr in Karenz und die Familie verbrachte dieses Jahr in Finnland. Saras Mann akzeptiert und unterstützt ihr emanzipiertes, ›finnisches‹ weibliches Lebenskonzept. Im Gegensatz zu anderen Frauen (s.u.) fühlt Sara sich daher in keiner Weise als ›Fremde‹ in der eigenen Familie. Vielmehr werden die durch sie eingebrachten finnischen Elemente vom Ehemann und von den beiden Söhnen angenommen und wertgeschätzt, sie sind selbstverständlicher Teil der Familienkultur.96 Auch die Familie der Spaniern Olivia ist eine weitgehend konfliktfrei funktionierende transnationale Familie. In der Ehe gibt es keine Dispute, die durch kulturelle Unterschiede begründet wären. Zwischen den Ehepartnern herrscht Einigkeit über die bilinguale und bikulturelle Erziehung der Tochter (s.u.) und sogar eine gewisse Multilokalität der Familie wird von beiden Partnern gewünscht und praktiziert. »Weil ich von Spanien aus auch arbeiten kann. Ich meine, es ist für meinen Mann auch gut, dass er auf uns verzichten kann. Ich mein verzichten, aber dass er kein Problem hat zwei Monate hier zu sein. Gut, er ist von den vier Monaten, die wir in Spanien sind, auch fast zwei Monate unten. Also er nimmt sich auch Urlaub und ist mit uns auch in Spanien. Aber ein Monat war er hier alleine. Und das macht er jedes Jahr.«
96 Verstanden als die spezifischen »Wertvorstellungen, Denkweisen, Rituale, Umgangsformen, Entscheidungslinien und -verfahren sowie Gepflogenheiten« Scheibler 1992, 87. Vgl. auch Robert Hess/Gerald Handel, Family Worlds. A Psychosocial Approach to Familiy Life. (Chicago 1959). Sie waren die ersten Autoren, die den Begriff »Familienkultur« prägten.
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Dieses Einverständnis sieht Olivia unter anderem darin begründet, dass sowohl sie als auch ihr Ehemann ein derartiges transnationales Familien- und Partnerschaftsmodell als Teil ihres Lebenskonzepts explizit anstrebten. »Vielleicht weil er, also er wollte keine österreichische Freundin. Er hat immer andere, also ausländische Freundinnen gehabt. Und so haben wir uns ausgeglichen. Also ich wollte auch keinen Spanier. ((Lachen)) Also es hat gepasst. Also wenn wir uns mal gestritten haben, war=s sicher nicht wegen kultureller Unterschiede. Das waren andere Gründe, aber keine kulturellen.«
Ganz anders stellt die Spanierin Eva ihre Familie dar, die dem ersten Typ entspricht. Eva selbst ist als Immigrantin, die sich in Wien eingelebt hat, transkulturell und bikulturell, lebt aber dennoch in einer kulturell eher österreichischen Familie, da diese sehr stark von den Schwiegereltern und von einem wenig zur Bikulturalität geneigten Ehemann geprägt ist. Sie hat(-te) sowohl in der Herkunftsfamilie ihres österreichischen Mannes, als auch in ihrer ehelichen Beziehung mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die sie selbst vornehmlich in kulturellen Unterschieden begründet sieht. Der Grund, der aus kulturellen Unterschieden Konflikte entstehen lässt, liegt offenbar in mangelndem Verständnis und auch in mangelnder Akzeptanz von Seiten ihres Ehemannes. Im Gegensatz zu Sara und Olivia muss Eva außerdem eine (von ihr als ausreichend empfundene) Unterstützung ihres Mannes für die zweisprachige Erziehung der Kinder wiederholt einfordern. Zudem weigert sich die ältere Tochter oft, zuhause Spanisch zu sprechen (s.u.). Immer wieder wird in Evas Erzählung deutlich, dass sie sich in ihrer eigenen Kernfamilie häufig fremd fühlt. »Ich bin die einzige Ausländerin, na.«
Evas Schwierigkeiten mit ihrem Anspruch, berufliche Karriere und Mutterschaft zu verbinden, wurden bereits beschrieben. (Siehe Kap. 4.2.3) »Die Familie meines Gatten, sie hatte hohe Erwartungen an mich sozusagen. Auch gute Freunde. Und da musste ich mit großen Schwierigkeiten ihnen klar machen: Das passt mir nicht, ich bin anders, ich habe auch andere Referenzen. Weil damals habe ich mir gedacht, ich hoffe, dass meine Tochter, wenn sie Mutter ist, so etwas nie erlebt. Sie hat prinzipiell wenig Rechte, was den Beruf betrifft, weil sie entschieden hat, Mutter zu werden.«
Aber auch für die Ehe sind diese Konflikte eine Belastung. Im Gegensatz etwa zu Saras Mann versteht und unterstützt Evas Gatte sie nur bedingt und wirft ihr »Überempfindlichkeit« vor. Zugleich ist auch er in keiner einfachen Situation, da er in diesem Disput gewissermaßen zwischen seinen Eltern und seiner Frau steht.
Alltagswelten | 181 »Aber irgendwann musste man Entscheidungen treffen. Weil ich habe gesagt, ›Schau, entweder bist du mit mir oder bist du nicht mit mir. Weil, ich bin hierher gekommen wegen dir und ich bleibe allein. Ich verstehe, du bist Österreicher, du verstehst es besser als ich, klar, ich bin Ausländerin‹. Aber es war auch eine Krisenzeit könnte man sagen zwischen uns.«
Die Formulierungen »ich bleibe alleine«, »ich bin Ausländerin« verdeutlichen auch anhand dieser Passage, wie Eva in der Intimbeziehung zu ihrem Ehemann zur Fremden wird und dass sie sich im Stich gelassen fühlt. Als weiteres Beispiel für Konflikte, die durch die kulturelle Distanznahme des Ehemannes begründet sind, erzählt Eva, dass ihr Mann die Gewohnheit habe, die Zeitung zu lesen, während man mit Gästen bei Tisch sitzt. Dies jedoch wird von Spanier_innen, so Eva, als extrem unhöflich empfunden, weshalb sie sich an diesem Verhalten stößt. »Ich habe gesagt, ›Johannes, wenn spanischsprachige Leute da sind, dann darfst du das nicht, es ist absolut unhöflich‹. Und ich weiß, dass es für ihn sehr schwierig ist, weil er nicht regelmäßig in Spanien wohnt. Er hat nicht dort studiert oder ein Auslandsemester oder was auch immer gemacht. Aber ich hab ihm gesagt, ›ich bitte dich ausnahmsweise diese Regeln zu respektieren‹. Er hat=s schwierig, muss ich sagen. Aber, ja also wir haben ausgewählt eine Zweikultur-Familie zu sein, jeder hat seinen Teil davon.«
In dieser Argumentation zeigt Eva sehr viel Verständnis für die Situation ihres Mannes. Wie andere auch, glaubt sie, dass gemeinsam gemachte Erfahrungen die transkulturelle Beziehung vereinfachen (s.u.). Obwohl sie oben davon spricht, eine »Zweikultur-Familie« zu sein, wird auch in dieser Sequenz deutlich, dass die ›österreichische Kultur‹ für ihren Mann der primäre Orientierungsrahmen ist. (Wobei meines Erachtens Zeitungslesen, während Gäste mit am Tisch sitzen, in der österreichischen Kultur ebenso als unhöflich empfunden werden könnte.) Aber auch ihren Kindern, vor allem der älteren Tochter gegenüber, ist Eva immer wieder mit ihrer ›Fremdheit‹ konfrontiert. Zum einen weigert sich das Mädchen oftmals, Spanisch zu sprechen und stellt die Sinnhaftigkeit davon, die Sprache der Mutter zu erlernen, in Frage, was für Eva »schmerzhaft« ist. Zum anderen kritisiert die Tochter die nicht perfekten Deutschkenntnisse ihrer Mutter. »Und dass zum Beispiel meine große Tochter sagt, obwohl ich mich bemühe, gut Deutsch zu sprechen, ›Dein Deutsch ist nicht perfekt‹. Und das ist ein bisschen beleidigend für mich, weil ich sage, ›Schau ich bin gekommen, ich musste anfangen zu arbeiten. Du bist in die Schule mit sechs Jahren gekommen. Es gibt Dinge, wenn man arbeiten muss, kann man nicht mehr machen‹. Und das ist ein bisschen schmerzhaft irgendwie.«
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Auch die, ebenfalls aus Spanien zugewanderte Inés lebt, wie sie selbst sagt, in einer »österreichischen Familie«. Im Hinblick auf von ihr als erforderlich empfundene Anpassungsleistungen97 und familiäre Konfliktfelder unterscheidet sich ihr Fall klar von Sara und Olivia. Im Gegensatz zu Eva hat Inés aber dennoch mit weniger Konflikten zu kämpfen. Über die zweisprachige Erziehung der Kinder beispielsweise herrscht Einigkeit zwischen den Ehepartnern (s.u.). Zugleich erzählt Inés aber auch über innerfamiliäre Dispute und Konflikte, die sie auf kulturelle Unterschiede zurückführt. »Aber trotzdem, viele Sachen würde ich gerne machen auf andere Art. Und ich darf nicht, weil in der Familie, wo ich wohne, wird es anders gemacht. Und dann kommen wirklich viele Diskussionen. Dadurch, dass zwei Kulturen kommen zusammen und man im Land von einer der zwei Kulturen wohnt, ist natürlich eine Kultur dominanter als die andere. Und dann kommen viele Diskussionen, weil entweder sagt man zu alles ›Ja und Amen‹ und dann kommen diese Diskussionen nicht, weil der andere Teil, der dominant ist, zufrieden ist. Oder wenn man versucht zu sagen, ›ich mache auch das, ich bin auch anders‹, dann kommen die Diskussionen. Und es ist nicht leicht. Manchmal geht es auf die Nerven und man hat genug und will einfach ausschalten. Es ist eigentlich ein täglicher Kampf manchmal, vor allem, wenn Kinder da sind.«
Sowohl Inés als auch Eva sprechen in ihren Erzählungen wiederholt von der »dominanten Kultur« des Aufnahmelandes, an die sie sich »anpassen« müssen, oder gegen welche sie, wenn sie nicht bereit sind sich »anzupassen«, »kämpfen« müssen. Eine solche Deutung, wird interessanterweise von Interviewpartner_innen aus Skandinavien nie auf diese oder ähnliche Weise formuliert. Will sie sich den Handlungsmustern und Werten der dominanten Kultur nicht völlig, also gewissermaßen ›widerstandslos‹, anpassen, führt das für Inés, wie auch für Eva, zu Diskussionen und Konflikten. Sie müssen auch innerhalb der eigenen Kernfamilie den Handlungsspielraum, in dem sie gemäß ihrer eigenen kulturellen Werte handeln können, immer wieder konkret einfordern und/oder sich »erkämpfen«. Ein Thema, das in diesem Kontext nicht nur von Inés, sondern auch von anderen Interviewpartner_innen angesprochen wird, ist die Kindererziehung98 (s.u.). »Weil wenn die Kinder da sind, dann werden Unterschiede größer, weil es geht um die Erziehung von den Kindern. Man geht von dem Muster aus, wie man selbst erzogen wor-
97 Sie beschreibt die Kernfamilie als wesentlichen sozialen Referenzrahmen ihrer Integration. Vgl. auch Kapitel 5. 98 Vgl. z.B. Christine Hunner-Kreisel/Manja Stephan (Hrsg.), Neue Räume, neue Zeiten. Kindheit und Familie im Kontext von (Trans-)Migration und sozialem Wandel. (Wiesbaden 2013).
Alltagswelten | 183 den ist und dann, wenn die Kinder da sind, kommen diese Unterschiede viel stärker. Und wenn man sich irgendwie nicht abspricht und Kompromisse nimmt, dann kommen auch die Diskussionen. Und es ist nicht leicht.«
Diese Erzählsequenzen machen deutlich, dass vor allem im Hinblick auf die Kindererziehung häufig unterschiedliche »Routinen, Regeln, Normen und wechselseitige Erwartungen«99 innerhalb der sozialen Institution Familie zwischen in unterschiedlichen Kulturen sozialisierten Elternteilen existieren, was häufig zu Konflikten und Disputen führt. Die aus Dänemark stammende Frida wiederum unterscheidet sich von von Eva, Inés und Sara durch die (scheinbare) Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren ›österreichischen Mann‹ und dessen Erwartungen als den auch für sie gültigen Orientierungsrahmen akzeptiert. Sie entspricht so etwa den Wünschen des Mannes hinsichtlich der Kindererziehung, weswegen die zweisprachige Erziehung der Kinder misslingt, und sie verpflichtet sich dazu, ihre Kinder nach der Religion ihres Gatten katholisch zu erziehen. (S.u.; siehe die Kap. 4.2.3 und 5.4) Wenngleich Frida sich durchaus eine gewisse Transnationalität und ›dänische Identität‹ bewahrt (siehe Kap. 6. und 7.2), so ist es für sie dennoch der primäre positive Orientierungshorizont, eine ›österreichische‹ Familie zu haben. Auch sie kann also dem ersten Typ zugeordnet werden. »Aber deswegen war=s auch so wichtig für mich, die Kinder haben im Kindergarten gegessen und später in der Schule, weil ich will, dass sie von Anfang an österreichisches Essen, rein österreichische Essen erlernen. Weil so ist es am besten, die sollen nicht was Besonderes sein, sie sollen ganz normale Österreicher sein.«
Mit dieser Orientierung ihres Deutens und Handelns entspricht sie, wie ihre gesamte Erzählung zeigt, vornehmlich den Wünschen ihres Ehemannes, die sie akzeptiert und übernimmt. Zugleich mag in diesem Kontext auch die Tatsache eine Rolle spielen, dass in den 1970er Jahren, als Fridas Töchter geboren wurden, transnationale Familien noch weitaus seltener waren und in der (österreichischen) Gesellschaft ein weitaus weniger etabliertes und als ›normal‹ erachtetes Familienmodell darstellten als heute. Während Frida also das von ihr gelebte Familienmodell einer primär an der österreichischen Kultur orientierten Familie zumindest auf der bewussten kognitiven Ebene als ihren Wünschen entsprechend deutet, ist für Eva und Inés ein deutlich bikulturelles Familienmodell, wie es auch Sara und Olivia leben, der gültige, positive Orientierungshorizont. Der Unterschied zwischen diesen Fällen besteht weniger in den Wünschen und Vorstellungen dieser Frauen, sondern vielmehr in deren Umset99 Pries 2008, 242.
184 | »Auch wir sind Migrant_innen «
zungen. Die Frage, warum diese Umsetzung eigener Vorstellungen einigen gelingt, während andere dabei ›scheitern‹, kann anhand des vorliegenden kleinen Samples nicht ausreichend beantwortetet werden. Klar ist jedoch, dass die Ehemänner und mitunter auch deren Eltern in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen. Die Möglichkeiten einer transnationalen und -kulturellen Familienkultur und Familienpraxis hängen stets auch von Erwartungen und Anforderungen, aber auch vom Verständnis, von der Offenheit und Kompromissbereitschaft des nicht zugewanderten Partners/der nicht zugewanderten Partnerin ab. Ergänzend zu den beiden bisher unterschiedenen Familientypen kann, drittens, der Typ einer ›multikulturellen und transnationalen Familie‹ anhand der vorliegenden Erzähltexte konstruiert werden. Diesem Typus ist beispielsweise Carolines Familie zuzurechnen. Als dänische Ehefrau eines aus Mexiko stammenden UNIDOAngestellten lebte Caroline mit ihrer Familie in zahlreichen, sehr unterschiedlichen Ländern auf der ganzen Welt. Über die unterschiedlichen Herkunftsländer hinaus, sind daher beide Eheleute mit einer jeweils dritten Kultur des entsprechenden Gastlandes konfrontiert. Probleme mit diesem facettenreichen Familienleben erwähnt Caroline nicht. Im Gegenteil, ihre Erzählung erweckt den Eindruck, dass sie gerade ein solches Leben und Familienleben als zufriedenstellend, erfüllend und bereichernd empfindet. Für sie sind auch kulturelle Unterschiede keine Erklärung für etwaige Probleme oder Konflikte in der Ehe, wobei ihr jedoch, wie sie argumentiert, eine Vergleichsmöglichkeit fehlt. »Ja, sicher. Ich bin ja nur einmal verheiratet gewesen und ich weiß nicht ob es deswegen Probleme gegeben hat, oder ob es ganz normal is. Ich mein, wir sind ja völlig verschieden ausgewachsen. Aber das sind ja zwei Österreicher oder zwei Dänen auch. Aber wir sind beide offene Menschen, also wir sind international eingestellt, und natürlich hat es Probleme gegeben, aber das gibt es ja in jeder Ehe.«
Auch Álvaros Familie ist eine ›multikulturelle und transnationale Familie‹. Der Spanier lebt mit seiner aus Tschechien stammenden Ehefrau in Wien. Probleme in diesem Zusammenhang gibt es jedoch keine, wie er behauptet. Ganz im Gegenteil, die mehrsprachige Erziehung der Kinder wird von beiden Elternteilen gewollt, voll unterstützt und funktioniert reibungslos (s.u.), auch differenzierte Werte oder Erwartungen sind kein Grund für Konflikte in der Ehe. Ganz anders stellt sich die Situation für Maja dar, die als ›trailing spouse‹100 ihrem ebenfalls aus Dänemark stammenden Ehemann nach Österreich folgen »musste«. 100 D.h. Frauen oder Männer, die ihren Partner_innen ins Ausland folgen, weil diese aus Gründen der beruflichen Karriere migrieren wollen oder müssen. Zu einer empirischen
Alltagswelten | 185 »Ich musste mein Mann folgen, weil ich gemeint und gemerkt habe, er will ins Ausland. Und wenn ich ihm nicht folge, dann wären wir nicht 52 Jahre verheiratet. Hallo, so. Und wenn man dann A gesagt hat, dann muss man auch B sagen.«
Trotz Majas ›unfreiwilliger‹ Migration fühlt sich die Familie in Österreich schon bald sehr wohl und etablierte ihren faktischen aber auch emotionalen Lebensmittelpunkt rasch und dauerhaft in Österreich. Für Maja ist die Kernfamilie außerdem der entscheidende Orientierungsrahmen. Dem sozialen Ort Familie kommt für sie weitaus mehr Bedeutung zu als dem geographischen Ort, an dem sie sich befindet. »Aber wenn ich mich wohl fühle mit meiner Familie, dann kann ich überall hin. Dann können Sie mich auch nach China schicken. Ich kann mich überall zurechtfinden.«
Für Maja ist das wesentliche Deutungsmuster ein ›Zusammen‹ und ›Gemeinsam‹ der Ehepartner, das eine erfolgreiche Migration, aber auch ein ›gutes Leben‹ ermöglicht. Aber auch etwas Glück sei dafür nötig. »Das ist alles auch im Leben irgendwie mit Glück. Es hängt mit Glück zusammen. Und es hat auch damit zu tun, ob man miteinander das alles schafft.«
Die Familie – Belastungen und Probleme Obgleich die hier interviewten Zuwander_innen durch ihren Status als Migrant_innen bedingte ›Probleme‹, Herausforderungen oder zumindest potentielle Problemfelder beschreiben, wird zugleich erneut deutlich, dass auch in diesem Kontext die hier untersuchten sozio-kulturell, beruflich und materiell besser gestellten Migrant_innen (›affluent migrants‹) sich von anderen Typen von Migrant_innen unterscheiden. Ihre Schwierigkeiten und Herausforderungen sind nahezu ausschließlich in der Privatsphäre und im innerfamiliären, zwischenmenschlichen Intimbereich, wie allenfalls im beruflichen Bereich zu verorten. Doch kaum jemals werden ihre Familien oder Familienpraktiken Thema eines politischen und medialen Diskurses oder Konflikts. In Fragen des Aufenthaltsrechts, in religiösen oder moralischnormativen Fragen erregen diese ›affluent migrants‹ in Politik und Öffentlichkeit keinerlei Aufsehen.101 Die dennoch durch Migration erzeugte Belastungen und Probleme werden, unabhängig von individuell gelebten Intimbeziehungs- und Familienmodellen, von meinen Gesprächspartner_innen sehr unterschiedlich beschrieben. Wie bereits aus dem bisher Gesagten aber hervorgeht, werden als Erklärung für Konflikte in binatiStudie dazu vgl. z.B. Johanna Stadlbauer, Mobile Gattinnen. Privilegierte Migration und Geschlechterverhältnisse. (Münster 2015). 101 Vgl. dazu z.B. Kofman/Kraler 2011; Grillo 2008; Beck/Beck-Gernsheim 2011, 34 ff.
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onalen und bikulturellen Intimbeziehungen kulturelle Unterschiede102, also mithin »das Zusammentreffen unterschiedlicher kultureller Wertsysteme«,103 herangezogen.104 Dies betrifft allerdings keineswegs nur Migrant_innen aus Spanien und Skandinavien. Auch Einwander_innen aus Deutschland beschreiben derartige kulturelle Differenzen. Zwar nicht als überaus problematisch, aber im Alltag relevant beschreibt beispielsweise die 2006 aus Deutschland zugewanderte Isabella »Mentalitätsunterschiede« zwischen sich und ihrem österreichischen Freund. »So tendenziell bin ich dann doch eher ein positiver, fröhlicher Mensch. Und diese positive, fröhliche Art findet man hier, oder find ich auch in ihm weniger. Einfach weil so was Negatives und ›alles is doof und wie soll=n das weitergehen‹ und grantl, grantl, grantl. Und da merk ich, da haben wir so ein bisschen Unterschiede, an Dinge ranzugehen, an=s Leben ranzugehen.«
Gelöst werden potentiell konfliktträchtige Situationen, die aus differierenden Deutungsmustern und Mentalitäten hervorgehen, von diesem Paar durch Humor. »Aber wir haben sehr viel Humor, wir beide. Und die Humorebene, die is dann doch wieder ähnlich. Man sagt ja den Wienern, Österreichern so eine morbide Art nach, die mag ich ja sehr gern. Damit komm ich sehr gut zurecht. Deswegen haben wir da eine Brücke, die das Ganze überwinden lässt.«
Sowohl feine Unterschiede in Denk- und Handlungsmustern als auch Humor als ›Brücke‹ werden auch von der ebenfalls aus Deutschland stammenden Lisa beschrieben. »Also es hat bei weitem, bei weitem nicht die Gewichtung wie bei anderen Paaren, würd ich jetzt mal sagen. Wir machen halt immer so unsre Scherze. Manchmal is in dem Scherz auch ein bisschen Ernst dabei. Er is halt in seiner Verhaltensweise, finde ich, sehr Öster-
102 Verstanden als differenzierende Handlungs- und Deutungsmuster sowie Werte, Normen und – damit verbunden – Erwartungen. Vgl. dazu auch Kapitel 3. 103 Scheibler 1992, 99. 104 Vgl. dazu auch Scheibler 1992, 84 ff. Diese Studie zu binationalen Ehen zwischen Migrant_innen aus EG-Ländern und Deutschen kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Auch die im Rahmen dieser Untersuchung Interviewten beschreiben vielfältige kulturelle Unterschiede als ›Herausforderung‹ in diesen Ehen. Zu derartigen »kognitiven Strukturen« vgl. auch Beck/Beck-Gernsheim 2011, 49 ff.; Eva Wunderer, Partnerschaft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Anforderungen von Ehepartnern und ihre Wirkung in der Ehebeziehung. In: Zeitschrift für Familienforschung 17/3 (2005), 308-332.
Alltagswelten | 187 reicher, ja. ((Lachen)) Und ich bin halt sehr deutsch. Und wenn dann manche Komponenten aufeinandertreffen, dann kommt es sehr durch. Sag ich jetzt mal so. Das is nicht häufig und es is auch gar nicht schlimm. Aber dann merkt man halt einfach, okay, ich komm aus Deutschland, er kommt aus Österreich. Das sind dann halt so kleine Reibungspunkte. Sprich jetzt zum Beispiel die Correctness. Ich will jetzt nicht sagen, dass mein Freund nicht korrekt is, aber er sieht halt Dinge lockerer. ((Lachen)) Und ich bin halt so, ›Nein, man darf bei Rot nicht über die Straße gehen‹, ja zum Beispiel. Und er geht bei Rot über die Straße und muss dann halt warten auf mich.«
Eine mit dem Deutungsmuster der kulturellen Unterschiede verbundene Stereotypisierung durch den Partner wird aber auch als belastend beschrieben. Die Spanierin Daniela, die 2005 nach Wien kam, erzählt: »Also es gibt viele Sachen, wo wir wirklich komplett verschieden sind. Mir fällt jetzt nicht so vieles ein, aber, ja also wirklich komplett anders. Und mich stört wirklich, dass wenn ich, keine Ahnung, etwas mache, dann sagt er, ›Ja, das ist, weil du aus Spanien bist, und ihr Spanier macht alles so und so‹. Das mag ich nicht.«
Daniela stößt sich demnach nicht an den von ihr, als solche empfundenen kulturellen Unterschieden per se, sondern daran, dass und wie ihr Freund diese thematisiert, indem er ihr Verhalten als stereotyp erklärt. Durch dieses Deutungsmuster und dessen Artikulation weigert er sich gewissermaßen, sich mit den Gründen, welche sie als Person für ihr Verhalten hat, auseinanderzusetzen und umgeht die Notwendigkeit des Versuchs, diese tatsächlich zu verstehen. Zudem konstruiert er, durch die Reduzierung seiner Freundin auf ›eine Spanierin‹, deren Fremdheit auch innerhalb der Intimbeziehung (siehe auch Kap. 4.6). Ein Phänomen, welches auch die Deutsche Katharina beschreibt. Katharina schildert, wie ihr Ehemann sie durch seine, auf ihre Herkunft reduzierte Deutung ihres Verhaltens und Denkens zu einer ›Fremden macht‹. In ihrem Fall kommt diesem Verhalten des Ehemannes auch im Kontext ihrer Selbstwahrnehmung erhebliche Bedeutung zu, da Katharina ansonsten »im Alltag immer wieder vergisst«, dass sie Migrantin – und damit Fremde – ist. »Der Toni, mein Mann, mein Ehemann ((Lachen)), sagt mir ab und an, ›Katharina, vergiss nicht, bist eine Deutsche‹, wenn ich ihm berichte von irgendwelchen Konversationen mit Leuten, kurzen Dialogen im Alltag einfach oder so, die mir aufstoßen oder wo mir irgendwelche Sachen merkwürdig vorkommen. Oder wo ich mir irgendwie nicht sicher bin, wie jetzt die Leute das gemeint haben oder so. Ja, der macht mich dann immer wieder mal drauf aufmerksam. Ich glaub, ich vergess es oft, also mir selber kommt=s sehr, sehr selten irgendwie so ins Gedächtnis oder in den Kopf, dass ich jetzt da irgendwie Migrantin bin oder so, im Alltag.«
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Auch der Faktor Sprache und insbesondere die Tatsache, dass einige Paare nur in einer Sprache kommunizieren können, die für einen der beiden (oder auch für beide) eine Fremdsprache ist, wird als (in bestimmten Situationen) »anstrengend« und »ermüdend« beschrieben.105 Aber auch Migrant_innen aus Deutschland erzählen von in der Sprache begründeten Missverständnissen mit aus Österreich stammenden Partner_innen. »Das macht sich auch manchmal in Alltag insofern bemerkbar, dass wir unterschiedliche Annahmen von irgendwas haben. Aber im Kleinen eher. Da fällt mir jetzt kein größeres Beispiel ein. Aber es gibt kleinere kommunikative Missverständnisse, die durch die unterschiedliche Herkunft halt resultieren oder unterschiedliche Ausdrucksweisen.« (Sven)
Wie die folgende Argumentation von dem 1981 aus Dänemark zugewanderten Tobias zeigt, werden kulturelle Unterschiede und transkulturelle Partnerschaften jedoch nicht notwendigerweise als, im Wortsinn, ›außergewöhnlich‹ belastend oder schwierig empfunden. »Naja, ich glaube vielleicht, beidseitig sind die Unterschiede wohl eher ein Anreiz gewesen. Man hat das beidseitig als interessant gefunden, etwas anderes zu erleben. Ich muss eigentlich sagen, auch die Frauen, die waren sehr flexibel und offen. Und man wird akzeptiert wie man ist, nicht wie man so sein soll. Ich glaube eher, wenn man mit einer Frau von einem anderen Hintergrund zusammenkommt, das setzt doch voraus, dass diese Frau offen ist und flexibel. Würde man mit einer Frau von demselben Dorf leben, hat die oft Vorstellungen, was richtig ist, was nicht richtig ist und die insistiert, dass diese Vorstellungen auch gelebt werden. Also da kommt eine gewisse Enge, die bei Fremden nicht so leicht vorkommt. Und ja, ich bin ein freier Vogel und das gefällt mir.«
Während also für einige meiner Gesprächspartner_innen unterschiedliche Erwartungen, Werte und Normen zum Problem oder Konfliktfeld werden, deutet Tobias gerade dies als ein Stück seiner Freiheit. Zum einen machte er die Erfahrung, dass Frauen, die Intimbeziehungen mit Männern mit einem »anderen Hintergrund« eingehen, eine gewisse Prädisposition zu Offenheit und Flexibilität haben. Zum anderen bedeuten für ihn gerade die sich in bikulturellen Beziehungen mitunter ergebenden differenziellen Normen und Erwartungshaltungen die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, diese individuell auszuhandeln und zu leben. Völlig unabhängig von kulturellen Unterschieden oder sprachlichen Hindernissen beschreibt die Norwegerin Mia ihre zunächst mangelnde soziale Integration sowie ihren, für sie sehr fordernden Integrationsprozess (siehe Kap. 5.2.2) als extrem belastend für die Beziehung zu ihrem österreichischen Ex-Freund. 105 Vgl. auch Scheibler 1992, 91 ff.
Alltagswelten | 189 »Klarerweise hatte ich Phasen, wo es mir nicht gut gegangen ist. Und das war sicher eine Belastung für ihn auch. Jemanden aufzunehmen, der niemand anderen hat eigentlich, ja. [...] Sondern es war nur uns beide. Und das war sicher sehr hart für die Beziehung. Sicher auch ein Grund, wieso wir dann entschieden haben auseinander zu gehen, dass es teilweise viel Schwermut war.«
Eine wesentliche Belastung für diese Beziehung sieht Mia also in dem Mangel an sozialen Ressourcen in Österreich. Da sie zunächst über keine Freunde verfügt und auch ihre Herkunftsfamilie nicht vor Ort ist, bleibt nur der Intimpartner, an den sie sich mit ihren Problemen wenden kann. Damit kommt ihm, über seine ›normale‹ Rolle als Intimpartner hinaus auch zu, der einzige soziale Bezugspunkt und signifikante Andere vor Ort zu sein. Mia beschreibt in diesem Kontext auch ein weiteres Phänomen, das sicherlich für Intimbeziehungen allgemein gelten kann: Hat einer der Partner, aus welchen Gründen auch immer, Probleme und immer wieder Phasen, in denen »es ihm/ihr schlecht geht«, so stellt diese »Schwermut«, aber auch die Frage des Umgangs damit, gewiss eine Herausforderung und Belastung für die Intimbeziehungen dar. Vor allem wenn es keine oder zu wenige Freunde oder Verwandte vor Ort gibt, die diesen Partner ›auffangen‹ könnten. Der Intimpartner/die Intimpartnerin wird unweigerlich von seinem Partner/seiner Partnerin in das Stimmungstief mit hineingezogen. »Weil da gibt=s für ein paar Jahre niemanden anderen. Und das ist prinzipiell nicht so gut für eine Beziehung, glaub ich mal. Weil da kommt es zu gewisse Co-Abhängigkeiten und so weiter, nicht. Was eigentlich nicht gesund ist für die Beziehung. Aber das war nicht der kulturelle Hintergrund.«
Ein ›Problemfeld‹ im Bereich des Familienlebens wiederum, das vornehmlich von Skandinavierinnen thematisiert wird, sind Schwiegermütter. Einige Migrantinnen (es sind tatsächlich ausschließlich Frauen) beschreiben massive Konflikte mit ihren österreichischen Schwiegermüttern.106 Die Dänin Caroline hat zwar selbst eine mexikanische Schwiegermutter (siehe Kap. 4.2.3), kann aber auf zahlreiche Erzählungen ihrer dänischen Freundinnen zum Thema Schwiegermütter zurückgreifen. So erzählt sie aus zweiter Hand: »Und das Problem ist natürlich, wenn man einen Österreicher heiratet / Meistens ist der Mann Österreicher, weil die Frauen in Dänemark sind sehr offen und gehen sehr viel auf Reisen und dort treffen sie Leute und bleiben dort. Aber die haben die Schwiegermütter noch nicht getroffen. ((Lachen)) Und das ist eben das Problem. Da kommen die Probleme.«
106 Vgl. dazu z.B. auch Scheibler 1992, 74 ff.
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Frida, die seit 1962 mit einem Österreicher verheiratet ist, kann über eigene derartige Erfahrungen mit ihrer österreichischen Schwiegermutter berichten: »Also Schwiegermutter, das ist ein Eigenkapitel. Schwiegermutter wird immer ein Problem sein. Ob man einen Dänen heiratet oder einen Österreicher. Ich weiß nicht, warum diese Machtkämpfe zwischen zwei Frauen sind. Das ist überall, das höre ich überall. Also da muss sowohl Schwiegermutter als auch die Schwiegertochter genau die Grenze wissen, wie weit man geht.«
Auch die 1960 nach Österreich zugewanderte Spanierin Lucía hatte massive Probleme mit der Mutter ihres Ehemannes, die beispielsweise die zweisprachige Erziehung der Enkelkinder zu unterbinden versuchte und die Lucía wiederholt im tatsächlichen Wortsinn als Fremde zurückstieß. »Und das erste Mal, dass wir Weihnachten feierten zusammen. Meine Schwiegermutter ist gekommen und sie hat uns so eine Küchenmaschine geschenkt, damals war das weiß Gott was, net. Ich habe mich sehr gefreut und wollte ihr ein Bussi geben, umarmen, weil sie hat mir immer so die Hand gegeben. Sie hat mich mit die zwei Hände zurückgestoßen. Seit diesem Augenblick habe ich niemals wieder die Hand meiner Schwiegermutter gegeben, noch ein Bussi, selbstverständlich. Kein Kontakt mehr physisch. Habe ich nie mehr ein Kontakt gehabt. Weil das für mich ein Affront war. Ich habe es geschluckt, natürlich. Aber, aber das war einer der schwierigsten Momente. Aber das war mehr familiär, das hat mit Österreich nix zu tun.«
Interessanterweise deuten diese Frauen diese Probleme mit ihren Schwiegermüttern als ›normales‹ oder beinahe als ein ›natürliches‹ Phänomen, das aber nicht mit ihrem Status als Migrantin in Zusammenhang stünde. Einzig die aus Deutschland stammende Theresa beschreibt Konflikte mit ihrer in der Steiermark lebenden Schwiegerfamilie, die sie als durch ihre Herkunft bedingt deutet. Sie versuchte die Zurückweisung durch die Familie ihres Ehemannes hinzunehmen und artikuliert diese Verletzungen erst in der Retrospektive. »Naja was so das Deutschtum jetzt in meiner Ehe betrifft, das war schon auch ein bisschen schwierig. Weil mein Ex-Mann, der kommt aus der Steiermark, und ich bin in seiner Familie nicht wirklich gut aufgenommen worden. Eben weil ich wieder, also auch da bin ich wieder damit konfrontiert gewesen, dass ich zumindest keine Österreicherin aus der Steiermark bin, und auch überhaupt nicht aus Österreich bin. Und da hab ich dann schon auch ein bisschen mit Ressentiments zu kämpfen gehabt, ja. Also ich war damals schon so weit, dass ich mir gedacht hab, ich will mich nicht dadurch verletzen lassen. Und ich mein, ich hatte diesen Mann, den ich geliebt hab, und ich wollte da irgendwie nix drüber
Alltagswelten | 191 kommen lassen, also hab ich versucht, das außen vor zu halten. Was mehr oder weniger gut gelungen is.«
Handlungs- und Lösungsstrategien Als wesentlich und ›hilfreich‹ für transnationale und transkulturelle Intimbeziehungen werden von Migrant_innen aller hier untersuchter Regionen immer wieder gemeinsame Erfahrungen und, damit verbunden, gegenseitiges Verständnis der Intimpartner_innen thematisiert. Vor allem die Fähigkeit und der Wille, den Partner/die Partnerin im Hinblick auf im Zuge der Migration gemachte Erfahrungen sowie im Hinblick auf herkunftsbedingte Handlungs- und Denkweisen zu verstehen, wird als essentiell für die Herstellung einer gelingenden Beziehung empfunden. Ermöglicht werde dies durch konjunktive Erfahrungsräume, etwa, wenn der Partner/die Partnerin ebenfalls Migrationserfahrung hat, oder wenn er/sie bereits im Herkunftsland des (späteren) Partners/der (späteren) Partnerin gelebt hat. Sven aus Dresden sagt dazu: »Was grad halt im Zusammenhang mit meiner Freundin sehr angenehm ist, diesen Kontrast betreffend, dass sie ja selbst auch mal ne Zeit in Deutschland gewesen ist. Eben in Berlin, und ich mich da ziemlich gut verstanden fühle, oder nicht so viel erklären muss, was sonst vielleicht schwerer vorstellbar wäre, warum ich was wie sehe oder ausdrücke oder empfinde.«
Die Deutsche Theresa berichtet von vergleichbaren Erfahrungen. Sie versteht sich als Europäerin, die das Migrieren schon gewöhnt ist. Die Migrationserfahrung konfrontiere einen zu allererst mit der eigenen Identität. Und diese Erfahrung können man niemanden, der selbst keinerlei Migrationserfahrung hat, qua Erzählen nahebringen. »Die Tatsache, dass ich Europäerin bin, macht Beziehungen nicht einfach. Eben weil, wenn mein Gegenüber sich noch nie woanders hinbewegt hat, nicht weiß, wenn man sozusagen in Anführungsstrichen auswandert, keine Ahnung davon hat, was es heißt, mit seiner eigenen Identität konfrontiert zu sein und sich damit auseinander zu setzten und auch irgendwie zu sehen, also die Spiegelungen zu sehen. Das is natürlich was, also das kannst du niemandem erzählen, dass musst du erleben. Und wenn du das nicht erlebt hast, dann ist das für deinen Partner, Partnerin dann is das / Ich bin jetzt nicht unbedingt auf Unverständnis gestoßen, aber ich merke einfach, dass viele Dinge, die kann man dann nicht besprechen oder sind nicht nachvollziehbar. Also auch, hauptsächlich von der Emotionalität her, was das tatsächlich bedeutet.«
Einen konjunktiven Erfahrungsraum kann aber auch ein für beide Partner ›fremdes‹ Land darstellen, in welchem sie zusammenleben. Hier verbindet eine Art von sym-
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metrischer Fremdheit, und vor allem auch, dass die Partner einander helfen können, diese Fremdheit auszuhalten und graduell abzubauen, u.a. mit gemeinsamem Aufbau von Netzwerken, Bekanntschaften und Freundschaften vor Ort. Dies beschreibt beispielsweise Mia, die aus Norwegen stammt und mit ihrem Freund, der wiederum koreanische Wurzeln hat, in Österreich lebt: »Und dass ich sicher auch genieße, dass mein Freund auch von einer anderen Kultur kommt und dass wir uns ein bisschen da treffen können. Wir dadurch eine gemeinsame Identität sozusagen haben.«
Auch die Dänin Caroline und die aus Deutschland stammenden Sabine haben ähnliche Erfahrungen gemacht: »Eine Sache ist sehr wichtig, finde ich. Und ich weiß, sehr viele internationale Ehen sind einig, dass man besser nicht in dem Land des einen oder des andern wohnen sollte, weil es ist einfach für uns, zu sagen ›Aha, die Österreicher‹. Also das ist besser, wenn man irgendwo sonst wohnt.« (Caroline)
Was Caroline hiermit auch behauptet, ist, dass es einfacher sein kann, in einem dritten Land zu leben anstatt im Herkunftsland eines der beiden Partner, weil sich auf diese Weise keiner der beiden durch etwaige Kritik an ›seiner Kultur‹ angegriffen zu fühlen braucht. Dass die Neigung, über das Gastland immer wieder einmal im Gespräch mit dem Partner/der Partnerin zu »lästern«, merkwürdig häufig ist und offenbar zu den Strategien gehört, die eigene Fremdheit zu bewältigen, bestätigt Sabine: »Und sonst auch so is es gut manchmal so ein bisschen zu lästern ((Lachen)) oder auch verstanden zu werden, weil er auch Deutscher ist.«
Einen anderen, meines Erachtens nach sehr wesentlichen Punkt, spricht die Dänin Frida im Hinblick auf Migrationskosten im Kontext einer liebesbedingten Migration an.107 »Das muss man wissen, das is schon viel, das man entbehren muss. Aber man darf niemals, und das hab ich jedem gesagt, der mich gefragt hat, wie ich das aushalte, man darf nie dem Mann sagen, ›Schau was ich alles für dich entbehrt habe, weil ich dich geheiratet habe‹. Also das ist zu viel für einen Mann, das zu tragen, dass er ein Leben ganz umgeändert hat von einer anderen Frau. Das glaub ich ganz sicher, dass das Schwierigkeiten für viele gibt. Dass die, wenn irgendwas ist, dann fangen die Frauen ja an ›Oh alles ver-
107 Vgl. dazu auch Scheibler 1992, 99 ff.
Alltagswelten | 193 lassen zuhause‹ und so. ((Lachen)) Also das, das kann man nicht. Da darf man keinen Mann belasten mit diesem Problem. Die wissen das sicherlich innerlich schon, aber man darf das nicht als Vorwurf machen.«
Dass die Kosten einer Migration beträchtlich sind und die Migrant_innen viel »entbehren« müssen, wird in den Erzählungen immer wieder deutlich. Auch, dass diese Kosten vornehmlich in schwierigen Phasen und Krisenzeiten als besonders hoch empfunden werden, bestätigen die vorliegenden Interviews. Es scheint außerdem intersubjektiv verständlich, dass derartige Vorwürfe und Schuldzuweisungen eine Beziehung über die Maße belasten können, zudem letztlich all diese Migrantinnen die Entscheidung zur Migration aus freien Stücken getroffen haben. Daher scheint mir Fridas Rat, derartiges unter keinen Umständen zu artikulieren, weise und wertvoll. 4.3.3 Transnationale und transkulturelle Familien seit den 1960er Jahren Im Kontext der Frage nach Veränderungen im Untersuchungszeitraum, zeigt sich für die Familienform der Kernfamilie anhand der vorliegenden Erzähltexte eine interessante Differenz: Für Migrant_innen, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Österreich kamen und hier Familien gründeten, stellte die Trans- und Bikulturalität der Kernfamilie (nicht ihrer Person) einen weit weniger starken und verbindlichen Orientierungsrahmen dar, als für später zugewanderte Frauen und Männer. Auch die in den 1980er Jahren und danach zugewanderten Interviewpartner_innen, in deren Familien die österreichische Kultur der hegemoniale Orientierungsrahmen geblieben ist, würden sich dies anders wünschen. Der Unterschied in der Gruppe der nach den 1980er Jahren zugewanderten Migrant_innen liegt also im Gelingen der Umsetzung ihrer Wünsche, und nicht in den Orientierungshorizonten per se. All diese Zuwander_innen wünschen sich eine ausgeprägte und von allen Familienmitgliedern (Partner_in, Kinder, Großeltern, Schwiegereltern) getragene Transnationalität und Transkulturalität der Kernfamilie. Bemerkenswert ist auch, dass diese Differenz zwischen Migrant_innen der 1960er/1970er Jahre und seit den 1980er Jahren gekommenen Migrant_innen ausschließlich für die Kernfamilie behauptet werden kann. Der Herkunftsfamilie hingegen wird von Migrant_innen aller Generationen eine vergleichbar große und unveränderte Bedeutung beigemessen. Unterschiede zeigen sich in Bezug auf die Herkunftsfamilien einzig in der Art und Häufigkeit der Kontakte, was allerdings in den verfügbaren Kommunikations- und Transporttechnologien begründet ist. (Siehe Kap. 6.3.2)
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Zugleich wird aus den Erzählungen deutlich, dass bi- und transkulturelle Intimbeziehungen und Kernfamilien in der Spätmoderne immer weniger als ›außergewöhnlich‹ oder gar als nachteilig (etwa für die Erziehung der Kinder) betrachteten werden. Während Frida und Lucía davon berichten, in den 1960er Jahren als dänische bzw. spanische Ehefrau etwas »ganz Besonderes« gewesen zu sein, wird eine solche Wahrnehmung von Migrant_innen späterer Generationen nicht erwähnt. Abb. 1: Eheschließungen 1970 bis 2015 mit Ehepartner_innen anderer Staatsangehörigkeit in Österreich108
Quelle: Statistik Austria; eigene Darstellung.
Die quantitative Zunahme binationaler Ehe zeigt sich in den (verfügbaren) statistischen Daten. (Siehe Abb. 1) Sie weisen darauf hin, dass bi- und transnationale Partnerschaften primär ein Resultat der zunehmend als ›normal‹ empfundenen transna-
108 Hierbei gilt zu bedenken, dass hier nur Ehen, nicht aber andere Formen der Intimbeziehungen, erfasst wurden. Zudem sind in dieser Statistik nur binationale, nicht aber bikulturelle Ehen, etwa nach einer Übernahme der Staatsbürgerschaft des/der migrantischen Partners/in, angeführt. Der rapide Anstieg vor dem Jahr 2006 kann vermutlich – als einer von mehreren Faktoren – durch im Vorfeld der Einführung einer Novelle des Fremdenpolizeigesetzes 2005 geschlossene Ehen erklärt werden, durch welche das Eingehen sogenannter Aufenthaltsehen zum Straftatbestand wurde. Persönliche Mitteilung Dr. Irene Messinger. Vgl. auch Irene Messinger, Schein oder nicht Schein. Konstruktion und Kriminalisierung von »Scheinehen« in Geschichte und Gegenwart. (Wien 2012).
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tionalen Mobilität darstellen.109 In Österreich beispielsweise kann eine Zunahme derartiger Eheschließungen um mehr als das Fünffache zwischen den 1980er und den 2010er Jahren festgestellt werden.110 Im Untersuchungszeitraum veränderten sich aber auch ökonomische und soziokulturelle Rahmenbedingungen (siehe auch Kap. 1.1.2.), und mit ihnen auch Modelle und Möglichkeiten für Intimbeziehungen und Familienformen. So hatte sich spätestens in den 1950er Jahren das Modell der Zwei-Kinder-Familie als Zielvorstellung im europäischen Raum etabliert, und blieb dies auch in den der 1960er Jahren, dem »Golden Age of Marriage«.111 Mit dem Ende der 1960er und in den frühen 1970er Jahren begannen jedoch Institutionen wie die kirchliche oder die weltliche Ehe ihre normative Kraft einzubüßen.112 Die ›normale‹, typische Normfamilie aus verheirateten Eltern mit (meist zwei) Kindern stand zunehmend in Konkurrenz zu anderen Partnerschaftsmodelle.113 Mit dem Übergang zur Spätmoderne in den 1970er und 1980er Jahren wurden schließlich individuelle Lebensentwürfe zunehmend fragiler; dies betraf auch Familien und Intimbeziehungen.114 Die zur Gewohnheit gewordene ständige Suche nach der bestmöglichen Option führte unter anderem dazu, dass nunmehr auch vermeintlich ›vernutzte‹ Beziehungen immer leichtfertiger durch ›frische‹ ersetzt wurden und dem öffentlichen Diskurs folgend, auch ersetzt werden sollten, wenn die hinreichende Regeneration der Arbeitskraft und ihre Leistungs- und Konsumfähigkeit auf dem Spiel standen.115 109 Vgl. z.B. Peuckert 2012, 525 ff.; Kofman/Kraler 2011, 26 ff. 110 Vgl. dazu Kofman/Kraler 2011, 18; www.medienservicestelle.at/migration_bewegt/2 012/04/17/fast-jede-vierte-ehe-ist-binational (9.10.2018); www.statistik.at/web_de/ser vices/publikationen/2/index.html? id=2&listid=2&detail=621 (9.10.2018). 111 Vgl. dazu z.B. Sieder 2012, 50 ff.; Beck 1986, 161 ff.; Fischer-Kowalski 1996 (Anm. 62), 200 ff. 112 In den frühen 1970er Jahren waren, Untersuchungen in Österreich zufolge, 95 % aller Menschen zumindest einmal verheiratet. Dieser Prozentsatz war weder zuvor erreicht worden, noch wurde er später bislang jemals wieder erreicht. Fischer-Kowalski 1996 (Anm. 62), 200 f. 113 Vgl. z.B. Peuckert 2012, 12 ff.; Sieder 2012, 50 ff.; Beck 1986, 161 ff.; Schier/Jurczyk 2008, 11 ff. 114 Kofler 2011, 33; Karl Otto Hondrich, Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft. (Frankfurt am Main 2004), 34 ff. Er diskutiert diese Phänomene im Kontext der ›Individualisierungsthese‹. Individualisierung definiert er als »Freisetzung von traditionalen Bindungen«. 115 Vgl. z.B. Sieder 2004, 18 ff.; Peuckert 2012, 19 ff.; Bauman 2003, 174 ff.; Eva Illouz, Warum Liebe weh tut. (Berlin 2011).
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Auch im vorliegenden Material zeichnet sich, über die Migrationsgenerationen hinweg, eine Tendenz zu vermehrt seriellen Intimbeziehungen ab. Migrant_innen, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Österreich kamen (soweit dies aus den Erzählungen hervorgeht), heirateten häufig in jungen Jahren ihren ersten Intimpartner/ihre erste Intimpartnerin116 während jüngere Migrant_innen zumeist von einer Abfolge mehrerer Intimbeziehungen und Phasen des Singlelebens berichten (so sie dies thematisieren). Zwar kann die, eben nur in groben Zügen beschriebene, Entwicklung für Gesamteuropa gelten, zugleich lassen sich jedoch auch Differenzen zwischen einzelnen Ländern bzw. Regionen Europas ausmachen.117 Konflikte oder Spannungen, die aus derartigen regionalspezifisch unterschiedlichen Entwicklungen resultieren, werden von meinen Gesprächspartner_innen allerdings primär im Zusammenhang mit divergierenden Vorstellungen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Rollenbilder beschrieben. (Siehe Kap. 4.2) Den (alle Herkunftsländer betreffenden) Wandel der Werte und Normen, die regulieren, in welcher Weise und mit welchen Hoffnungen und Routinen Beziehungen eingegangen, geführt und gelebt werden können, spricht die in den 1960er Jahren aus Dänemark zugewanderte Frida im Interview explizit an. »Aber es ist sicher nicht die schönste Zeit. Nein, das hab ich auch meinen Kindern gesagt, beide verheiratet, habe ich gesagt, das erste Jahr war nicht unser schönstes. Ja, das hab ich gesagt.«
Die Tatsache, dass das erste Ehejahr »nicht ihr schönstes war«, führt sie darauf zurück, dass ein Zusammenleben und damit verbunden ein tatsächliches Kennenlernen, vor der Heirat in den 1960er Jahren nicht denkbar war. »Wir haben uns ja nicht so gekannt wie andere. Meine Kinder, die leben ja schon drei, vier Jahr mit ihrem Partner, bevor sie heiraten. Wunderbar, da kennt man sich! Wir haben nie zusammen gelebt, niemals, das war auch nicht möglich. Und dann entdeckt man ja erst dass man ein bissl anders / Verschiedene andere Sachen meint.«
Auch aus den vorliegenden Erzähltexten lässt sich eine Veränderung hinsichtlich der Bedeutung, welche der Institution Ehe beigemessen wird, rekonstruieren. Wie die Erzähltexte zeigen, kommt Heirat und Ehe unter spätmodernen Bedingungen
116 Von den hier interviewten Migrant_innen ist außerdem niemand aus dieser Migrationsgeneration geschieden, was jedoch aufgrund der Kleinheit des Samples natürlich auch zufallsbedingt sein mag. 117 Vgl. dazu z.B. Kaelble 2007, 47 ff.
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nicht nur eine verminderte Bedeutung als gesellschaftlicher Imperativ zu, 118 auch im spezifischen Kontext von Migrationsbiographien und -verläufen lässt sich im Untersuchungszeitraum ein deutlicher Bedeutungsverlust der Ehe erkennen. Auffallend viele Gesprächspartnerinnen aller Migrationsgenerationen erzählen beispielsweise von einer Art ›Probephase‹ vor der endgültigen Entscheidung zur Migration. Für Migrant_innen der 1960er und 1970er Jahre wird das Ende dieser Probephase klar durch die Ehe, d.h. durch das Ritual der Heirat, markiert. Liebesmigrant_innen späterer Generationen hingegen beschreiben keinen spezifischen und essentiellen Punkt ihrer Migrationsbiographie, der für sie ihre Migrationsentscheidung und die dauerhafte Migration ›zementierte‹. Anstelle eines derart punktuellen Ereignisses nimmt die (endgültige) Entscheidung zur dauerhaften Migration einen zunehmend prozesshaften, nicht an ein bestimmtes Ereignis, oder gar eine Institution wie die Ehe gebundenen Charakter an.119 Auch wenn die Mehrheit dieser Migrant_innen zwar verheiratet ist, ist es nunmehr die Tatsache »dass die Beziehung funktioniert«, oder die Geburt eines gemeinsamen Kindes120, welche als den Migrationsverlauf determinierend beschrieben wird. Die bereits mehrfach zitierte Frida berichtet beispielsweise Folgendes über ihre Entscheidung, aufgrund ihrer Liebe zu ihrem späteren Ehemann in den 1960er Jahren nach Österreich zu migrieren: »Ja, er hat gerade zum Studieren angefangen in Wien. Und so haben wir also fünf Jahr hin und her geschrieben. Und er hat mich ein paar Mal besucht und meine Eltern besucht. Und als wir dann beide gesehen haben, das könnte was werden, dann hab ich beschlossen, bevor ich ›ja‹ sagte, und bevor ich hier heiratete, komm ich ein Jahr vorher nach Wien. Und habe da Job gehabt und habe gesehn, ob ich es überhaupt aushalten kann hier zu leben. Und erst dann haben wir geheiratet.«
Diese Sequenz illustriert sehr klar die Bedeutung, welche der Eheschließung in Fridas (Migrations-)Biographie zukommt. Zugleich bezieht sie diese Probephase auf ein Leben in Österreich und nicht auf das (Zusammen-)Leben mit ihrem späteren Ehemann. Ein gemeinsamer Haushalt vor der Ehe war damals nicht möglich (s.o.). Ähnlich wie im Fall von Frida verhielt es sich auch in Tildes Fall:
118 Vgl. z.B. Peuckert 2012, 29 ff.; Kaelble 2007, 35 ff. 119 Interessanterweise wird die Hochzeit selbst von keinem/r der Gesprächspartner_innen näher beschrieben. Über den Ort, die Form (kirchlich, standesamtlich) oder Ähnliches wird nichts erzählt. 120 Häufig wird zudem eine »Sinnverschiebung« der Ehe in Richtung einer vermehrt »kinderorientierten Eheschließung« postuliert. Vgl. dazu z.B. Peuckert 2012, 41 ff.
198 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Weil wir wurden ja offiziell dann verlobt, 1962, und geheiratet dann 1964. Das war noch so ganz altmodisch. Also vielleicht kann man sagen, dass das so eine Zeit war, sich alles zu überlegen, wie mach=ma das überhaupt und so.«
Hier verweist Tilde selbst auf die veränderten Modelle und Konventionen für Intimbeziehungen, indem sie ihre zweijährige Verlobungszeit als »altmodisch« bezeichnet. Und auch für sie war die Ehe letztlich ein entscheidender Punkt in ihrer Biographie. Deutlich anderes beschreibt hingegen Eva, die in den 1990er Jahren aus Spanien nach Österreich kam, ihren Entscheidungsprozess: »Ich habe gearbeitet und ein bisschen Geld gespart. Falls unsere Beziehung nicht gut laufen sollte, damit ich selbstständig sein könnte. Aber die Sache ist, mein Gatte ist Mediziner, er hat schon im AKH gearbeitet, und er hat mir gesagt, ›Schau ich bin schon halbwegs drinnen. Ich kann auch dich unterstützen falls es nötig wird‹. Und dann hab ich gesagt ›Okay, dann probieren wir‹. [...] Und ich hab mir gedacht, ich kann halt probieren. Beziehung probieren, wenn es nicht funktioniert, dann kehre ich halt zurück. Hat aber funktioniert. ((Lachen))«
Für Eva war demnach ihre (finanzielle) Unabhängigkeit ein entscheidendes Kriterium am Beginn ihres Lebens in Österreich und ihres Zusammenlebens mit ihrem späteren Ehemann. Auch für sie war die Migration nach Österreich und die Beziehung zunächst ein »Probieren«. Das Ende dieser Probephase wird aber nunmehr nicht durch das einmalige Ritual der Eheschließung markiert, wann die Hochzeit stattfand, erwähnt sie in der Erzählung überhaupt nicht. Vielmehr war es die Tatsache, dass die Beziehung »funktionierte«, sowie ihre berufliche Integration, die sie als prozessuales Ende dieser Phase deutet. Für andere Migrant_innen, die bereits geraume Zeit in Österreich gelebt hatten, bevor sie ihren späteren Ehepartner kennenlernten, ist eine solche Probephase obsolet. Aber auch diese Gesprächspartner_innen deuten die Heirat nicht als essentiell für ihren Migrationsverlauf. Für Olivia beispielsweise ist es nicht die Ehe, bzw. Heirat, sondern das »Zusammenziehen«, welches den entscheidenden Wendepunkt darstellt: »Die Beziehung war vier Jahre eine Fernbeziehung. Wir haben gedacht, also entweder ziehen wir jetzt zusammen, oder es geht auf die Dauer nicht so.«
Inés wiederum beschreibt ihre erfolgreich empfundene Integration in Österreich als jenen Aspekt, der ihre dauerhafte Migration determinierte:
Alltagswelten | 199 »War nicht mehr so leicht für mich zu sagen, ich kehre wieder zurück nach Spanien. Weil ich habe eigentlich alles hier gehabt, Familie, meinen Mann, dann nachher die Kinder und Beruf.«
Immer wieder wird von Interviewpartner_innen jüngerer Generationen zudem die Elternschaft als Wendepunkt der Migrationsbiographie beschrieben. Selbst nach der Heirat mit einem/einer österreichischen Partner_in war eine weitere (gemeinsame oder alleinige) Migration oder eine Remigration für sie ein möglicher Zukunftshorizont. Ab dem Zeitpunkt der Geburt eines Kindes jedoch ist das Paar weitaus weniger »flexibel«, und in vielen Fällen führt so erst die Elternschaft zur dauerhaften Migration nach Österreich, bzw. zur Erkenntnis, dass diese dauerhaft bleiben wird. »Ja, es is konkreter geworden natürlich weil, wenn man heiratet / Okay, wenn man nur verheiratet ist, und man heiratet und sagt ›okay, jetzt bin ich verheiratet, ich bleibe länger‹ und, sagen wir mal nach ein paar Jahre man lasst sich scheiden. Dann ist es einfacher zu sagen, entweder bleibt man hier oder ich kehre zurück nach Spanien. Er ist mein Ex, egal. Aber wenn die Kinder kommen, dann kann man das nicht mehr so sagen. Weil der zweite Teil ist da, wohnt da und hat auch einen Anspruch und Recht auf die Kinder und deswegen kann man nicht so locker sagen, ich komme wieder zurück.«
Aus dieser Argumentation von Inés geht sehr deutlich hervor, dass nunmehr die Elternschaft und nicht die Ehe das verbindende Element transnationaler und transkultureller Intimbeziehungen darstellt. Diese Beobachtungen bestätigen und exemplifizieren also die keineswegs neue Erkenntnis, dass die Institution der Ehe in den vergangenen Jahrzehnten einen Bedeutungswandel aber auch Bedeutungsverlust erfuhr. Bemerkenswert ist jedoch die Beobachtung, dass und wie sich dieser Bedeutungswandel in Migrationsverläufen und -biographien niederschlägt. 4.3.4 Fazit Betrachtet man die in den Erzählungen beschriebenen Belastungen und Konfliktfelder transkultureller und transnationaler Intimbeziehungen, so zeigt sich, dass diese sehr unterschiedliche Gründe haben können. Auffallend häufig werden aber als ›kulturelle Unterschiede‹ gedeutete Aspekte in diesem Kontext beschrieben und genannt. Das bedeutet, anders formuliert, dass »individuelle Lebensführungen mit ihren unterschiedlichen Strukturen, Bedürfnissen und Interessen«121, die in Familien aufeinandertreffen und ausbalanciert werden müssen, in derartigen Partnerschaften überwiegend als Resultat ›kultureller Unterschiede‹ gedeutet werden.
121 Schier/Jurczyk 2008, 10.
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Einen wesentlichen Aspekt in diesem Kontext machen auch Kontroversen im Zusammenhang mit durch unterschiedliche Sozialisation erworbenen geschlechtsspezifischen Kulturmustern einiger Paare im Hinblick auf Normen, Symbole und soziale Praktiken aus, die bereits im vorigen Kapitel diskutiert wurden. Als unbedingt nötig für eine zufriedenstellend funktionierende transnationale Intimbeziehung werden wiederum von den Interviewpartner_innen gegenseitiges Verständnis und Toleranz empfunden. Ohne Zweifel mögen Paarbeziehungen zwischen Personen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund spezielle potentielle Konfliktfelder mit sich bringen. Allerdings stellt das ›Doing Familiy‹ per se eine Herausforderung da, wie auch der Soziologe Thomas Geisen treffend feststellt: »Insgesamt gilt, dass Familienbeziehungen im Kontext von Migration sozialen, ökonomischen, kulturellen und emotionalen Herausforderungen ausgesetzt sind, die vielfach mit einem umfassenden Wandlungsprozess in Bezug auf die Familienstruktur und auf Familienbeziehungen einhergehen. Allerdings gelten die vielfältigen, ambivalenten Prozesse von Kontinuität und Veränderung von Familie, des doing family oder der family practices nicht nur für Familien im Kontext von Migration, sie stellen vielmehr ein zentrales Kennzeichen von Familien in modernen Gesellschaften dar.«122
Inwieweit die hier beschrieben Ehe- und Beziehungsprobleme auch aus einer objektiven Perspektive auf die unterschiedlichen Herkunftsregionen der Partner_innen zurückzuführen sind, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Die beschriebenen Konflikte können tatsächlich in ›kulturellen Unterschieden‹ begründet sein. Doch muss auch in Betracht gezogen werden, dass Ehe- und Beziehungsprobleme, die von den Akteur_innen auf ›kulturelle Unterschiede‹ zurückgeführt werden, in manchen Fällen lediglich ein Ausdruck von aus anderen Gründen vorhandenen Spannungen und Differenzen sein können. »›Nicht gemischte Paare‹, die ihre Ehekonflikte nicht auf die Rivalitäten zischen ihren Ländern, Religionen, Sprachen, Kulturen usw. schieben können, haben andere Unterschiede und Alibis. Dem ›gemischten Paar‹ wiederum steht zur Bemäntelung seiner Konflikte mit der ›Nationaltracht‹ ein wohl bestückter Kleiderschrank zur Verfügung.«123
122 Thomas Geisen, Multilokale Existenzweisen von Familien im Kontext von Migration. Herausforderungen für Forschung und Theorieentwicklung. In: Geisen/Studer/Yildiz 2014, 27-57; 28. Vgl. auch Kofman/Kraler 2011, 29 ff. 123 Gabrielle Varro/Gunter Gebauer (Hrsg.), Zwei Kulturen – eine Familie. Paare aus verschiedenen Kulturen und ihre Kinder am Beispiel Frankreichs und Deutschlands. (Opladen 1997), 86; 73 ff.
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4.4 ZWEISPRACHIGE, BI- UND TRANSKULTURELLE ERZIEHUNG Im Hinblick auf das Forschungsinteresse dieser Studie wurde im Nachfrageteil der Interviews mit jenen Migrant_innen, die zum Zeitpunkt des Interviews Kinder hatten, auch nach der Kindererziehung gefragt, so diese nicht ohnehin in der ersten Interviewphase thematisiert wurde. Grund für diese Nachfrage war die Annahme, dass die Form der (vor allem auch sprachlichen) Erziehung ein wesentliches Element möglicher transnationaler und transkultureller Familien- und Lebenswelten darstellt. So gibt die Frage, ob Kinder mono- oder bilingual erzogen werden, wesentliche Hinweise auf die soziale Konstruktion migrantischer Lebenswelten, aber auch auf kultur-nationale Identitäten und Selbstverortungen der Eltern. Bereits während des Führens der ersten Interviews konnte diese Annahme bestätigt werden. Wie sich zeigte, ist das Thema der sprachlichen und kulturellen Erziehung für die interviewten Migrant_innen absolut von Bedeutung. Für einige ergaben sich daraus, wie bereits im vorigen Kapitel angedeutet, auch Spannungen und Konflikte innerhalb der Familie. Unter den von mir interviewten Migrant_innen finden sich sehr unterschiedliche Formen von ›Elternkonstellationen‹; fünf Migrant_innen aus Spanien und drei aus Skandinavien haben gemeinsam mit ›Österreichern‹, also mit in Österreich geborenen und aufgewachsenen Partnern, Kinder. Ein aus Spanien zugewanderter junger Mann hat mit einer Tschechin in Österreich eine Familie gegründet. Zwei Spanierinnen haben gemeinsam mit ihren, ebenfalls aus Spanien stammenden Partnern, Kinder, eine davon ist mittlerweile verwitwet. Eine Dänin kam gemeinsam mit ihrem ebenfalls aus Dänemark stammenden Mann, mit dem sie drei Kinder hat, nach Österreich, ebenso wie eine Schwedin, die mit einer Tochter und ihrem schwedischen Ehemann nach Wien zuwanderte. Eine andere Dänin wiederum ist mit einem Mexikaner verheiratet, mit dem sie ebenfalls Kinder hat. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle fiel die Entscheidung für eine zwei(oder mehr-)sprachige Erziehung der gemeinsamen Kinder im Konsens zwischen den Ehepartnern, bzw. Mutter und Vater erzielten Einigkeit über die zweisprachige Erziehung ihres Kindes oder ihrer Kinder. Diese Erziehung wird/wurde in der Folge von beiden Elternteilen unterstützt und getragen. Lediglich in seltenen Fällen befürwortet(-e) der österreichische Ehemann dieses Erziehungsziel nicht, oder unterstützt(-e) es zumindest nicht in einer Weise, die seine Ehefrau als ausreichend empfand124 (s.u.).
124 Studien, die sich mit der Frage nach dem Einfluss von Gender auf die Weitergabe einer Minderheitensprache befassen, kommen zu dem Schluss, dass eine Minderheitenspra-
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In jenen Fällen, in denen eine Zweisprachigkeit der Kinder angestrebt wird, erfolgt die Erziehung in Form von simultaner Zweisprachigkeit, d.h. die Kinder werden mit zwei Sprachen zugleich erzogen.125 Die dafür angewandte Methode stellt in allen hier thematisierten Familien das sogenannte Grammont’sche Prinzip dar. Das bedeutet, dass je eine Person konsequent je eine Sprache mit dem Kind/den Kindern spricht.126 Kinder aus Ehen zwischen zwei Migrant_innen wurden zunächst dänisch bzw. spanisch erzogen, oder in einem Fall spanisch und tschechisch. Deutsch lernten sie dann etwas später im Kindergarten. Aber auch in diesen Fällen sind/waren fließende Deutschkenntnisse des Kindes/der Kinder ein wesentliches Erziehungsziel der Eltern. Als Gründe und Motivation für eine bilinguale Erziehung werden interessanterweise kaum praktische Motive, wie etwa das Erlangen von Bildungskapital, genannt, was jedoch nicht bedeuten muss, dass dies nicht dennoch Faktoren im Entscheidungsprozess einiger Eltern waren. Die Muttersprache des migrantischen Elternteils wird auch dann an das Kind vermittelt, wenn dies für das Kind keine erkennbaren praktischen Vorteile in der Gesellschaft des Ziellandes der Migration verspricht. Sofern nicht Rückwanderungspläne bestehen, scheint es sich dabei um einen Versuch zu handeln, dem Kind die sprachkulturelle Welt eines Elternteils und damit einen optionalen Zugang zum Herkunftsland dieses Elternteils zu erschließen. »Also eben Finnisch spricht ja sonst kein Mensch, das braucht man ja hier nicht. Also es wär anders, wenn jetzt jemand zum Beispiel aus Spanien oder Frankreich, oder was weiß ich von wo kommt, wo man die Sprache vielleicht sonst auch lernen würd. Also brauchen würd. Das is wahrscheinlich anders. Aber Finnisch is natürlich keine Weltsprache ((Lachen))«,
berichtet dazu beispielsweise Sara, deren Kinder konsequent zweisprachig erzogen werden. Vor allem für Migrant_innen der jüngeren Generationen, also für seit den 1980er und 1990er Jahren gekommene Zuwander_innen, stellt die Integration der che eher an die Kinder weitergegeben wird, wenn die Mutter diese Minderheitensprache spricht, als wenn der Vater es tut. Vgl. z.B. Ingrid Piller, Linguistic intermarriage. Language choice and negotiation of identity. In: Aneta Pavlenko u.a. (Hrsg.), Multilingualism. Second language learning and gender. (Berlin/New York 2001), 199-230. 125 Aus soziologischer Perspektive kann Zweisprachigkeit als »das Lernen von zwei Sprachen in der Kindheit durch eine Person, deren Muttersprache diese Sprache ist«, definiert werden. Laura Spadinger, Zweisprachigkeit in finnisch-österreichischen Familien. Magisterarbeit Universität Wien (Wien 2007), 8 ff. Zum simultanen Bilingualismus vgl. z.B. auch Suzanne Romaine, Bilingualism. (Oxford 1989), bes. 165. 126 Spadinger 2007 (Anm. 125), 38.
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Kinder, auch in die im Ausland lebende Herkunftsfamilie des ›ausländischen‹ Elternteils, einen wesentlichen Orientierungsrahmen dar. Gewisse Sprachkenntnisse sind dafür eine elementare Voraussetzung. Immer wieder wird im Kontext der Gründe für eine bilinguale Erziehung auch der Wunsch thematisiert, ›die Kultur‹ des Herkunftslandes des nicht-österreichischen Elternteils für das Kind/die Kinder zugänglich zu machen. Diesen Punkt betonen, in ihren Argumenten weitgehend übereinstimmend, Olivia und Inés, zwei aus Spanien zugewanderte Frauen, sowie die aus Skandinavien stammende Mia: »Und es is gut, dass wir auch nach Spanien fahren, damit sie auch die Kultur mitbekommt. Und wir fahren jedes Jahr zum Beispiel nach Weihnachten im Jänner. In Spanien feiert man die Heiligen Drei Könige. Und da gibt=s einen großen Umzug mit den Heiligen Königen und da sind die Kinder immer ganz verrückt. Also am 5. ist die Parade, am 6. kommen die Geschenke. Und sie wächst auf damit. Also bei ihr kommen zweimal Geschenke. Für mich ist es sehr wichtig, die Bräuche und die Kultur beizubehalten, damit sie beide Kulturen richtig kennt.« (Olivia) »Ja und natürlich nicht nur die Sprache, ich versuche auch die Kultur beizubringen. Essen, ich erzähle Geschichten und im Sommer versuche ich jetzt alleine nur mit den Kindern zu sein. So, der Papa hat Urlaub und sie können die Traditionen erleben so wie es in Spanien ist, ohne österreichischen Einfluss. Das ist, was wir entschieden haben.« (Inés) »Sollte ich Kinder bekommen, dann würde ich vielleicht da mehr Kontakt aufnehmen. Es wäre mir halt wichtig, dass meine Kinder in ein skandinavisches Milieu, also das auch kennenlernen. Auch hier unten.« (Mia)
Wie sich zeigt, ist eine bilinguale von einer bikulturellen Erziehung weder praktisch noch analytisch zu trennen. Vielmehr verstehen die Migrant_innen die Zweisprachigkeit als das vielleicht wichtigste Element für die Integration der Kinder in die Kulturen beider Elternteile. Primäres Ziel und Motiv einer bilingualen und bikulturellen Erziehung ist demnach die Sozialisation der Kinder/des Kindes in die ›Herkunftskultur‹ (gedeutet als Komplex aus Sprache, Sitten, Traditionen und Verhaltensweisen) beider Elternteile. Dies soll zum einen dem Wohl des Kindes dienen (s.u.). Zum anderen lässt sich hinter dieser Praxis aber auch das Bedürfnis nach einer ›Weitergabe‹ der eigenen kultur-nationalen Identität an die Kinder vermuten. Damit verbunden lässt sich aus den Interviewtexten die Angst herauslesen, dem eigenen Kind/den eigenen Kindern ein ›Fremder‹/eine ›Fremde‹ zu sein. Die Angst also, dass das Kind wesentliche Aspekte der Biographie und Identitätskonstruktion des migrantischen Elternteils nicht kennt oder nicht zu verstehen vermag. Um dies zu vermeiden, wird das Kind in die eigene trans- bzw. bikulturelle Lebensführung und Alltagspraxis integriert.
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Hinsichtlich der Entscheidung zu einer zweisprachigen Erziehung sowie der Deutung, Bedeutung und Praxis dieser Elternarbeit lassen sich keine Unterschiede zwischen Migrant_innen aus Spanien und jenen aus dem skandinavischen Raum ausmachen. Sehr wohl aber zeigen sich große Differenzen im zeitlichen Vergleich: Lediglich in zwei der hier thematisierten Fällen wurden die Kinder aus Ehen zwischen Migrantinnen und einem Österreicher nicht zwei- oder mehrsprachig erzogen. Dabei handelt es sich, sowohl im Fall von Tilde als auch in dem von Frida, um die Kinder von Däninnen, die in den 1960er Jahren nach Österreich kamen. Probleme mit dem Vorhaben, die Kinder auch auf Spanisch zu erziehen, beschreibt außerdem Caroline, eine Spanierin, die ebenfalls in den 1960er Jahren nach Österreich kam (s.u.). Von den anderen interviewten Migrant_innen, die überwiegend zwischen den 1980er und 2000er Jahren Kinder bekamen, wird eine bilinguale Erziehung als Selbstverständlichkeit angesehen. Auch die österreichischen Elternteile teilen diese Deutung, nur die Spanierin Eva spricht über diesbezügliche Konflikte mit ihrem aus Österreich stammenden Ehemann. Die einzige Interviewpartner_in, die selbst keinen Wert auf eine zweisprachige Erziehung ihrer Töchter legte, obwohl sie diesbezüglich gegen keine externen Widerstände (von Seiten des Ehemanns oder seiner Familie) zu kämpfen hatte bzw. gehabt hätte, ist Tilde, eine Liebesmigrantin aus Dänemark, die in den 1960er Jahren einen Österreicher geheiratet hat. Sie spricht mit ihrer älteren Tochter zunächst etwas Dänisch, hört damit jedoch auf, als sich herausstellt, dass das Kind einen S-Fehler hat. Tilde dachte, eine bilinguale Erziehung könnte der sprachlichen Entwicklung schaden. Heute ist ihr jedoch bewusst, dass eine zweisprachige Erziehung keinen Nachteil für das Kind gehabt hätte. Mit der jüngeren Tochter spricht sie in Folge kaum Dänisch: »Ja und bei der zweiten Tochter muss ich ehrlich gestehen war ich komplett faul. Das war dann so, wenn zwei Dänisch reden und die anderen verstehen nix. Das hab ich verschlampt.«
Auf diese Weise umgeht Tilde das Problemfeld der Exklusion jener Familienmitglieder, welche die jeweilige Zweitsprache nicht beherrschen; ein Konfliktpotential, das immer wieder thematisiert wird (s.u.). In der Retrospektive deutet Tilde dies jedoch als Fehler und schreibt es ihrer eigenen Nachlässigkeit und »Faulheit« zu, die Chance einer bilingualen Erziehung nicht genutzt zu haben. Gänzlich anders stellt sich die Situation für die in Dänemark geborene Frida dar, die ebenfalls in den 1960er Jahren nach Wien migrierte und hier in den 1970ern Mutter wurde. Sie hätte ihre Töchter gerne auch in dänischer Sprache erzogen, unter anderem damit sie mit ihrer dänischen Großmutter kommunizieren können. Fridas Ehemann aber wollte das nicht.
Alltagswelten | 205 »Bevor wir Kinder bekommen haben, habe ich natürlich meinen Mann schrecklich verwöhnt. Und da hat er gesagt, ›Das fangst bitte nicht an, mit den Kindern Dänisch zu reden‹. Weil das hat er nicht verstanden, er hat ja die dänische Sprache nicht verstanden. Und da habe ich schon gedacht, jetzt muss ich bissl aufpassen, dass er nicht eifersüchtig wird. Und dann haben wir einen Kompromiss gemacht. Die Kinder müssen zuerst Deutsch lernen und mit zwei Jahren, wenn sie mit zwei, drei Jahren also relativ gut Deutsch reden, dann fange ich an mit ihnen Dänisch zu reden. Und das habe ich gemacht und das war also ein totaler Misserfolg, weil die Kinder haben geweint und haben gesagt ›Red normal Mama, das wollen wir nicht hören das da‹.«
Hier ist also Eifersucht, mithin eine (gefühlte und gefürchtete) Exklusion eines Familienmitglieds ausschlaggebend für den Konflikt um die Erziehung der Kinder in zwei Sprachen, von denen der Vater der Kinder nur eine spricht und versteht. Frida meidet die direkte Konfrontation mit ihrem Ehemann und versucht als Lösung einen Kompromiss zu finden, womit sie jedoch keinen Erfolg hat. Offene Widerstände von Seiten der betroffenen Väter werden von jüngeren Migrant_innen nicht beschrieben. Soweit eine solche Annahme auf Basis der Interviewtexte möglich ist, vermute ich außerdem, dass diese Frauen in einem solchen Fall, im Unterschied zu Frida, einen offenen Konflikt mit dem Partner durchaus riskiert hätten, um ihren Wunsch einer zweisprachigen Erziehung durchzusetzen. Heute sieht auch Frida ihre damalige Entscheidung kritisch und deutet ihr Verhalten als Fehler. Vor allem die ältere Tochter machte ihr in Folge als Teenager deswegen Vorwürfe. »Und die hat mir die schrecklichste Vorwürfe gemacht, dass ich nicht von Anfang an mit ihr Dänisch gesprochen hab. Und das sage ich auch später, das würde ich jeder (Mutter) empfehlen, ganz egal was das für eine Sprache ist, dass man das macht.«
Bereits im Alter von 16 Jahren beginnt Fridas Tochter aus eigenem Antrieb Dänisch zu lernen, später studiert sie Skandinavistik und spricht heute – zum Stolz der Mutter – fließend Dänisch. Interessanterweise hat auch die ältere Tochter von Tilde einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Obwohl auch sie nicht zweisprachig erzogen wurde, entschied sie sich ebenfalls für ein Studium der Skandinavistik und spricht heute fließend Dänisch und Schwedisch. Dem Verhalten von Frida (und möglicherweise auch von Tilde) und jenem späterer Generationen liegt offenbar ein gänzlich anderer Orientierungsrahmen zugrunde. Frida betont, dass ihre Kinder »ganz normale Österreicher« sein sollten. »Die sollen nicht was Besonderes sein, sie sollen ganz normale Österreicher sein.«
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Bei späteren Migrationsgenerationen jedoch dominiert der Orientierungsrahmen der Multi- und Transkulturalität auch die Erziehung der Kinder. Die Kinder im Gegensatz zum ›ausländischen‹ Elternteil zu »ganz normalen Österreichern« zu erziehen, erscheint dieser Generation nicht mehr als nötig oder erstrebenswert. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Familie von Clara dar, die in den 1990er Jahren nach Wien kam. Ihr Sohn ist zum Zeitpunkt des Interviews fünf Jahre alt und soll, wie die Mutter erklärt, möglichst viele Sprachen lernen, um offener zu sein und multiple Zugehörigkeiten und Anschlussmöglichkeiten zu haben: »Wir wollten, dass der Kleine mehrsprachig aufwächst, damit er offener wird. Wenn du nur eine Sprache kannst, dann bist du in dieser Sprache. Die Sprache ist so wie: ich habe diese Sprache, ich gehöre in diese Gruppe. Wenn man verschiedene Sprachen kann, haben wir gedacht, fühlt man sich offener als viele andere.«
Aber auch Lucía, die ebenfalls bereits in den 1960er Jahren aus Spanien migrierte, teilt Fridas Erziehungsziel nicht. Ihr liegt eine zweisprachige Erziehung ihrer Söhne sehr wohl am Herzen. Im Gegensatz zu Migrant_innen jüngerer Generationen erzählt sie aber in diesem Kontext auch von familiären Konflikten. In ihrem Fall war es jedoch die (bereits im vorigen Kapitel angesprochene) österreichische Schwiegermutter, die es ihr ›nicht erlaubte‹, mit den Kindern Spanisch zu sprechen. Lucía deutet diese Reaktion als Eifersucht, resultierend aus einem Gefühl der Exklusion der Großmutter. »Sie war ein bisschen komisch und hat sich beleidigt gefühlt. Und hat geglaubt, wir haben Geheimnisse vor ihr. Blödsinn.«
Die Rolle bzw. Position ihres Ehemannes in diesem Konflikt thematisiert Lucía nicht. Allerdings lässt sie sich auch vom Widerwillen und Widerstand der Schwiegermutter nicht davon abbringen, ihre Kinder zweisprachig zu erziehen. Heute ist sie stolz auf die Spanischkenntnisse ihrer Söhne und auch ihrer Enkelkinder, mit denen sie ebenfalls ausschließlich Spanisch spricht. Lediglich eine Migrantin der jüngeren Generationen thematisiert Probleme im Kontext der zweisprachigen Erziehung ihrer Töchter. Die aus Spanien stammende Eva, die bereits im vorigen Kapitel immer wieder zu Wort kam, ist Mutter von zwei, in den 2000er Jahren geborenen Töchtern. Vor allem die ältere Tochter, die zum Zeitpunkt des Interviews acht Jahre alt ist, lehnt es, seit sie in die Schule geht, immer mehr ab, mit der Mutter Spanisch zu sprechen. Die Mutter erklärt sich das damit, dass Spanisch für die Tochter lediglich eine »Nebensprache« sei, die für das Kind im Alltag keine Relevanz habe. Diese Verweigerung wird von der Mutter als schmerzhafte Zurückweisung empfunden, da die Weitergabe ihrer Muttersprache und Herkunftskultur auch für sie ein wesentlicher Orientierungsrahmen ist. Um die-
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ses Problem zu lösen, spricht sie mit ihrem Mann und fordert ihn auf, der Tochter ebenfalls zu erklären, warum es wichtig ist Spanisch zu sprechen. Außerdem wünscht sie sich, dass während der gemeinsamen Familienzeit mehr Spanisch gesprochen wird. »Ich bin die einzige Ausländerin, na. Ich habe gesagt, ›Schau wir müssen Kompromisse finden und du musst der Maria sagen, dass es halt wichtig ist, dass sie auch Spanisch spricht‹. Weil man kann die Kinder nicht verpflichten, das funktioniert nicht. Aber ich habe gesagt, ›mindestens wenn wir zu viert sind‹.«
Es scheint, als wäre der Ehemann zwar nicht grundsätzlich gegen eine zweisprachige Erziehung der Töchter, möchte diese aber auch nicht aktiv fördern. Seine Frau fordert von ihm nun die Pflichten und Versprechen ein, die er ihrer Deutung gemäß mit der Gründung einer bikulturellen Familie einging. Den Ausgang des Gespräches beschreibt sie nicht näher, eine fortdauernde Unzufriedenheit mit der Situation ist jedoch deutlich zu erkennen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das einzige hier beschriebene tatsächliche ›Hindernis‹ einer (erfolgreichen) zweisprachigen Erziehung Eifersucht darstellt. Diese Eifersucht eines Elternteiles oder (in einem Fall) der Großmutter resultiert aus dem Gefühl der Exklusion, wenn diese Person die zweite Sprache nicht ebenfalls spricht.127 In der überwiegenden Mehrheit der Fälle beherrscht jedoch auch der andere Elternteil die Muttersprache des Partners/der Partnerin zumindest ausreichend. »Ja, ih bin net so fließend auf Tschechisch, aber die Kindersprache kann ich packen.« (Álvaro)
Zugleich wird von den Gesprächspartner_innen immer wieder darauf hingewiesen, wie wesentlich die Rolle und das Engagement beider Elternteile für bilinguale Erziehung ist. Ein solches Erziehungsziel kann nur dann erreicht werden, wenn beide Eltern gleichermaßen an diesem Projekt arbeiten und zwischen ihnen Konsens über Ziele, Erwartungen und die kommunikativen Vorgangsweisen im Zusammenleben herrscht.128 127 Zu einer Studie mit Verweis auf Eifersucht unter Eltern, wenn ein Kind eine Sprache bevorzugt, vgl. z.B. Janet Aleemi, Zur sozialen und psychischen Situation von Bilingualen. (Frankfurt am Main 1991). 128 Auch in der Forschung wird immer wieder auf die Bedeutung der richtigen Einstellung beider Elternteile zu dem Projekt zweisprachige Erziehung hingewiesen. Vgl. z.B Annik De Houwer, An Introduction to Bilingual Development. (Bristol 2009).
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Von jenen, die eine zweisprachige Erziehung anstreben, wird so auch die Notwendigkeit konsequent und diszipliniert im Einhalten der ›eine Sprache, eine Person‹-Regel zu sein, als Herausforderung thematisiert. Hier ist also auch von Seiten der Eltern ›Arbeit‹ und Investition gefordert. Die Finnin Sara beschreibt dies so: »Ich muss halt konsequent sein. Weil das ist natürlich das Schwierige, manchmal sind sie halt faul. Also wenn ihnen nicht das finnische Wort gleich einfällt, dann sagen sie halt auf Deutsch. Und dann muss ich immer auch mit mir sehr konsequent sein, dass ich das auch dann gemeinerweise auch verlange ›Was hast=n gesagt‹ oder ›Wie heißt das auf Finnisch?‹. Weil sie können=s eh. ((Lachen))«
In den vorliegenden Interviewtexten zeigt sich, dass seit den 1990er Jahren eine zweisprachige Erziehung der Kinder zunehmend als vorteilhaft gedeutet wird. Zugleich wird das Erziehungsziel sorgfältiger und langfristig geplant. Unterstützt werden diese Planung und deren Umsetzung durch die Konsultation von Fachliteratur, Ratgebern und durch den Austausch mit anderen Eltern in gleicher Lage. Nun ist nicht allein die mündliche Beherrschung der Zweitsprache das Ziel, sondern die Kinder sollen vielmehr auch schriftlich in zwei Sprachen muttersprachliches Niveau erlangen. In diesem Kontext wird von spanischsprachigen Müttern das Fehlen einer deutsch-spanischen Schule in Wien als bedauerlich thematisiert. Alternativ wird dazu das Angebot von Kindersprachkursen am Instituto Cervantes genutzt. Ein zum Zeitpunkt des Interviews zweijähriges Mädchen soll beispielweise außerdem später eine Schule besuchen, in der die Matura in Spanisch möglich ist, und zusätzlich während der Schulzeit ein Jahr in Spanien verbringen. Bis in die 1970er Jahre war Zweisprachigkeit von Eltern nicht als vorteilhaft gewertet worden. Auch im wissenschaftlichen Diskurs war eher davon die Rede, dass sie die Entwicklung des Kindes behindern und verlangsamen könnte.129 Seither wird nicht nur Bilingualität aufgewertet, sondern generell Trans- und Bikulturalität als durchwegs vorteilhaft eingeschätzt. Dies ist auch mit einem generell veränderten spätmodernen Verständnis von Eltern- und Erziehungsarbeit zu erklären.130 Umfas-
129 Spadinger 2007 (Anm. 125), 33 ff.; 47 ff.; Ellen Bialystok, Bilingualism. The good, the bad, and the indifferent. In: Language and Cognition 12/1 (2009), 3-11. 130 Elternschaft erfuhr etwa in den 1990er Jahren massive Veränderungen. Der Druck auf Eltern, möglichst effiziente Erziehungsarbeit zu leisten und möglichst viel in Bildung und Ausbildung der Kinder zu investieren, wuchs von Jahr zu Jahr. Statt einer großen Zahl an Kindern lautet das Ideal nunmehr ›Qualitätskinder‹ zu erziehen. Vgl. z.B. Johannes Huinink/Dirk Konietzka, Familiensoziologie. Eine Einführung. (Frankfurt am Main 2007), 148 ff.
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sende (Fremd-)Sprachenkenntnisse wurden im Zuge der kulturellen und sozialen Globalisierung immer mehr zu einer wesentlichen Ressource.
4.5 STEREOTYPE UND VORURTEILE In diesem Abschnitt ist die zentrale Frage, ob und in welcher Form und welchem Umfang die hier untersuchten Migrant_innen aus Deutschland, Skandinavien und Spanien in Österreich mit Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert sind. Dazu habe ich bereits eingangs, im Zuge der Konzeption des Forschungsdesigns und der Formulierung der Forschungsfragen, zwei Thesen formuliert: Erstens, so habe ich vermutet, dürften die hier untersuchten Gruppen von Migrant_innen mit spezifisch anderen Stereotypen und Vorurteilen zu tun haben als Migrant_innen etwa aus der Türkei, aus Osteuropa, aus dem arabischen Raum oder aus Afrika. Zweitens nahm ich an, dass negative oder positive Stereotypen maßgeblichen Einfluss darauf haben, welchen Fremdheitserfahrungen sich die Migrant_innen ausgesetzt sehen, ob sie ihre Integration als gelungen betrachten und ob sie ihre Zuwanderung letztendlich als Erfolg interpretieren. Daher wurde in den Interviews die Frage, ob der Migrant/die Migrantin Stereotypen oder Vorurteilen begegnet sind, im abschließenden Nachfrageteil jedes Interviews explizit gestellt. Autosteretoype wiederum kamen schon im Hauptteil der Erzählung immer wieder spontan zur Sprache. 4.5.1 Begriffe, Definitionen, Unterscheidungen Stereotype oder Klischees können als »eine Reihe von Überzeugungen über die Mitglieder einer sozialen Gruppe«131 definiert werden oder auch als »unkritische Verallgemeinerungen, bei denen eine kritische Überprüfung nicht gefragt ist oder verhindert wird, und die deshalb resistent sind gegen Veränderungen«.132 Anders formuliert, stellen Stereotype »sozial geteilte Wissensstrukturen« dar, die aus »kategoriespezifischen Erwartungen an typische Eigenschaften und Verhaltensweisen der Mitglieder« einer sozialen Gruppe bestehen.133 ›Stereotyp‹ ist also ein sozialund kulturwissenschaftlicher Begriff für eine alltägliche und daher zwangsläufig
131 Petersen/Six 2008, 21. 132 Bausinger 2009, 17. 133 Karl Christoph Klauer, Soziale Kategorisierung und Stereotypisierung. In: Petersen/Six 2008, 23-33. Zu weiteren Definitionen vgl. auch Antje Schönwald, Identitäten und Stereotype in grenzüberschreitenden Verflechtungsräumen. Das Beispiel der Großregion. (Wiesbaden 2012), 77 ff.
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»unwissenschaftliche Einstellung«134, die typisch und im Alltagsleben normal ist. Doch auch Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen sind keineswegs vor Stereotypen gefeit. Aus diesem Grund ist die sozial- und kulturwissenschaftliche Textproduktion stets auf die intentionale oder unbeabsichtigte Fortschreibung von Stereotypen aus dem Alltagsleben zu überprüfen. Während Stereotype auch neutral oder positiv sein können (wie etwa das Stereotyp von den ›fleißigen Deutschen‹) sind Vorurteile stets negativ konnotiert.135 Sie »stellen gewissermaßen eine Steigerung von Stereotypen ins Negative dar. Während mit dem Begriff Stereotyp auch schrullige Harmlosigkeiten gefasst werden, sind Vorurteile oft Elemente von Feindbildern«136.
Von der Bildung eines Stereotyps und eines Vorurteils sind die Akte der Typisierung und der Klassifizierung zu unterscheiden. Diese sind basale Akte der kognitiven Wahrnehmung und Informationsverarbeitung und dienen als »reduktionistische Ordnungsraster«,137 als Instrumente der individuellen und sozialen Orientierung in einer komplexen sozialen Umwelt, in der sie einen »gängigen Erfahrungsmodus« darstellen.138 Sie ermöglichen es den Akteur_innen, die Masse der wahrgenommen Informationen rasch und situationsangemessen zu verarbeiten, zu strukturieren und den verfügbaren und vertrauten Interpretationsmustern zuzuordnen.139 »Die Typisierung ist ein Moment der Entlastung – sie vermittelt das Gefühl, man habe das 134 Lüsebrink 2012, 102. Zitat nach Hermann Bausinger, Stereotype und Wirklichkeit. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 14 (1988), 157-170; 160. 135 Zur Frage der Definition, d.h. auch der Frage, ob Vorurteile immer negativ zu sein haben, vgl. Broszinsky-Schwabe 2011, 203 ff. 136 Bausinger 2009, 17. Zu Definition und Begriffsgeschichte vgl. auch Petersen/Six 2008, 109 ff. Hier wird Vorurteil definiert als »ablehnende oder feindselige Haltung gegenüber einer Person, die zu einer Gruppe gehört und deswegen dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man der Gruppe zuschreibt«. Zu Diskriminierungsund Vorurteilsforschung vgl. Han 2005, 193 ff.; Lüsebrink 2012, 105 ff. 137 Lüsebrink 2012, 110 f. 138 Lüsebrink 2012, 102. Vgl. auch Karl Christoph Klauer, Soziale Kategorisierung und Stereotypisierung. In: Petersen/Six 2008, 23-33; 23 f.; Uwe Wolfradt, Implizite Persönlichkeitstheorien. In: Petersen/Six 2008, 71-80; 71 ff. Zur sozialen Funktion von Stereotypen vgl. auch Broszinsky-Schwabe 2011, 205 ff. 139 Vgl. z.B. Lüsebrink 2012, 102 f.; Heinz Abls, Wirklichkeit. Über Wissen und andere Definitionen der Wirklichkeit, über uns und Andere, Fremde und Vorurteile. (Wiesbaden 2009), 240 ff. Zur Linguistic Intergroup Bias, d.h. zur Bedeutung von Stereotypen in der Sprache vgl. Antje Schönwald, Identitäten und Stereotype in grenzüberschreitenden Verflechtungsräumen. Das Beispiel der Großregion. (Wiesbaden 2012), 80 f.
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Fremde verstanden, obwohl man ihm in vielen Fällen nur einen Namen verpasst hat«140, wie Hermann Bausinger dazu bemerkt. Wichtig in diesem Kontext ist allerdings die Feststellung, dass nicht jede Typisierung ein Stereotyp produziert, aber jedem Stereotyp eine Typisierung vorausgeht. Die Bildung eines Stereotyps setzt immer die Typisierung als basale kognitive Leistung voraus. Für derart entstandene Stereotype beschreibt Hans-Jürgen Lüsebrink eine Reihe möglicher Funktionen: Stereotype, die in der Regel durch die Verallgemeinerung von Merkmalen entstehen, haben zunächst Verallgemeinerungsfunktion (eine kognitive Funktion), etwa des Typs: »Alle Dänen haben einen guten Geschmack.« Des Weiteren dienen Stereotype sozialen Gruppen zur Identitätsstiftung, d.h. sie besitzen Abgrenzungsfunktion und zugleich Selbstdarstellungsfunktion (soziale Funktionen), etwa des Typs: »Die Deutschen sind fleißiger als die Österreicher«. Schließlich können damit auch eigene Verhaltensweisen und Denk- und Deutungsmuster gerechtfertigt bzw. legitimiert werden (affektive Funktion).141 Ausgangspunkt jeder Typisierung wie auch ihrer Spezialformen der Stereotypisierung und des Vorurteils sind individuelle oder kollektive Kontrasterfahrungen.142 Dabei geht es stets darum, das vermeintlich Typische im Fremden und Anderen zu erfassen. Stereotype und Vorurteile als Spezialformen der Typisierung können interpersonelle Erwartungen prägen (beispielsweise: »Er ist ein Deutscher, also wird er wohl fleißiger sein und zu meiner Zufriedenheit arbeiten«) und insofern auch oft handlungsleitend sein. (»Als Geschäftsführer stelle ich den Deutschen und nicht den Spanier ein.«) »Gruppen von Menschen, die im sozialen Miteinander häufig zusammengefasst gesehen, diskutiert und bewertet werden«,143 bestehen nur, weil Praktiken der Typisierung oder der Stereotypisierung und des Vorurteils vollzogen werden. Dazu zählen alle ›national‹ konstruierten Gruppen von Einwander_innen, etwa ›die Dänen‹, ›die Spanier‹, ›die Deutschen‹. In jedem dieser Konstrukte sind eine Reihe von ›bewährten‹, vermeintlich vielfach beglaubigten Typisierungen, oft auch Stereotypisierungen und nicht selten Vorurteile konnotiert oder ›enthalten‹. Für die vorliegende Studie sind vor allem solche Stereotype, die eine ›nationale‹ Migrant_innengruppe konstruieren (oft auch als ›Völkerstereotype‹ bezeichnet) von Bedeutung.144 Der Begriff Stereotyp geht im Übrigen auf den amerikanischen Publizisten Walter Lippmann zurück, der ihn aus dem Bereich der Drucktechnik entlehnte, wo Me140 Bausinger 2009, 25. 141 Lüsebrink 2012, 103 f. Vgl. auch Schönwald 2012 (Anm. 139), 77 ff. 142 Bausinger 2009, 19. 143 Karl Christoph Klauer, Soziale Kategorisierung und Stereotypisierung. In: Petersen/Six 2008, 23-33. 144 Broszinsky-Schwabe 2011, 207 ff. Vgl. auch Edensor 2002, 95.
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tallplatten, die zur Vervielfältigung eines gesetzten Textes dienten, als Stereotype bezeichnet wurden. Diese Metapher Lippmanns macht sehr anschaulich deutlich, dass im Stereotyp »pictures in our head«, wie Lippmann sie nannte, ›vervielfältigt‹ werden.145 Von diesen theoretischen Überlegungen ausgehend soll nun der Frage nachgegangen werden, mit welchen Heterostereotypen die aus Spanien, Skandinavien und Deutschland nach Österreich zugewanderten Interviewpartner_innen konfrontiert wurden oder werden, aber auch wie sie diese Stereotype deuten und gegebenenfalls ›beantworten‹. Die Ergebnisse des folgenden Abschnitts werden später im Kontext der Integration und im Zusammengang mit Konstrukten ›nationalisierter‹ Identität erneut von Bedeutung sein. (Siehe Kap. 5.7) Da sich die Erzählungen mit Bezügen auf Stereotype je nach Herkunftsland deutlich unterscheiden, scheint es sinnvoll, die Untersuchung zunächst getrennt nach Herkunftsregionen vorzunehmen, ehe in einem zusammenfassenden Abschnitt vergleichende und verallgemeinerbare Aussagen getroffen werden können. 4.5.2 Migrant_innen aus skandinavischen Ländern Für Interviewpartner_innen, die aus einem skandinavischen Land nach Österreich bzw. nach Wien zugewandert sind, lassen sich keine Unterschiede zwischen einzelnen nordischen Herkunftsländern ausmachen. Im Gegensatz zu Migrant_innen aus Spanien sind für sie auch keine deutlichen Differenzen je nach Zeitpunkt der Migration festzustellen. Die Interviewpartner_innen aus skandinavischen Ländern beteuern auf meine diesbezügliche Nachfrage hin, in Österreich bzw. in Wien niemals mit negativen Stereotypen über ihr Land und dessen Bewohner_innen konfrontiert worden zu sein. Die meisten heben sogar hervor, dass sie »immer nur positiv aufgenommen« wurden. So sagt Maja, die 1963 aus Dänemark nach Österreich kam, auf die Frage, ob sie »jemals als Dänin mit Stereotypen oder Vorurteilen in irgendeiner Form konfrontiert wurde«: »Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, im Gegenteil. Bin überall sehr gut aufgenommen, empfangen worden. Das kann ich nur positiv beantworten. – Spricht für die Österreicher.«
Die junge Norwegerin Mia versteht die Frage, ob sie je mit Stereotypen konfrontiert worden sei, anders als von mir intendiert, und beschreibt geschlechtsspezifische
145 Vgl. dazu Bausinger 2009, 16 f.; Walter Lippmann, Public Opinion. (Brunswick/London 1921).
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Stereotype, die sie als Frau erfahren hatte. Die Möglichkeit als ›Norwegerin‹ stereotypisiert zu werden, kam ihr offenbar zunächst gar nicht in den Sinn. »Ich weiß nicht, wie man Norwegen stereotypisieren würde. Ich weiß es nicht. Das zeigt ja, dass ich auch nicht das angetroffen habe.«
Positive Stereotype gegenüber Einwander_innen aus diesen Ländern werden sehr häufig auf das Herkunftsland, dessen Landschaften und dessen politisches oder ökonomisches System bezogen (im Gegensatz zu einem Bezug auf die Bewohner_innen und deren vermeintliche Charakteristika). Sara, die in den 1990er Jahren aus Finnland nach Österreich zugewandert ist, erzählt so beispielsweise, dass sie immer wieder nach dem Klima in Finnland gefragt werde, oder darum gebeten werde, das finnische Schulsystem zu erläutern. Eine andere Möglichkeit, Zuwander_innen mit Stereotypen zu konfrontieren, ohne das Risiko einzugehen, sie zu ärgern oder zu kränken, ist der scherzhafte Rückgriff auf Typisierungen. »Wie, du frierst? Du bist doch Norweger!«
Einige Male wird von auch Stereotypen erzählt, die zwar nicht in negativer Absicht geäußert werden, was den betroffenen Migrant_innen auch bewusst ist, die aber dennoch als ärgerlich oder »nervig« empfunden werden. So beschreibt Sara, die seit über zwanzig Jahren in Österreich lebt, dass es sie »ärgert«, immer wieder darauf hingewiesen zu werden, wie gut ihr Deutsch sei. Was als Kompliment intendiert ist, fasst Sara als negativ auf. Sie empfindet es als ärgerlich, dass ihre Deutschkenntnisse auch nach langer Zeit immer noch ›bemerkenswert‹ scheinen, ist es für sie doch selbstverständlich, nach zwanzig Jahren in Österreich die deutsche Sprache zu beherrschen. Frida, die in den 1960er Jahre aus Dänemark nach Österreich zugewandert ist, traf in ihrer ersten Zeit in Österreich unter anderem auf folgende Typisierungen und Stereotype: »Trifft man ältere Menschen, haben sie immer gesagt, ›Oh da war=s so schön in Dänemark, die haben immer Butter genug gehabt und Schlagobers!‹ Das hab ich ein bissl zuviel gefunden, weil Dänemark bietet auch anderes als Butter und Schlagobers.«
Während ältere Österreicher_innen, die Hunger und Armut der Nachkriegszeit erlebt haben, Dänemark also überaus positiv werten und mit Wohlstand und Gastfreundschaft assoziieren, empfindet es Frida als unangenehm und oberflächlich, dass ihr Herkunftsland immer wieder auf diese, wenn auch positiven, Stereotype reduziert wird.
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Einzig die Dänin Caroline berichtet von Erfahrungen mit Vorurteilen und rassistischer Diskriminierung, allerdings nicht gegen ihre Person oder ihre Herkunft aus Dänemark gerichtet, sondern gegen ihren aus Mexiko stammenden Ehemann. Er sei in Österreich als ›Ausländer‹ (im negativ konnotierten Sinn) mit Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit konfrontiert, wie sie erzählt. »Er ist Ausländer! Ah, als wir jetzt in unsere jetzige Wohnung eingezogen sind - 89 glaub ich, na in 90, hat=s ja auch geheißen, ›Uh, Ausländer.‹ - Aber sie wissen jetzt, dass wir ganz angenehm und unschuldig und still sind. ((Lachen)) Also es geht.«
Eine Deutung bzw. Erklärung für die durchwegs positiven Stereotype gegenüber Skandinavier_innen, welche die Interviewpartner_innen selbst vorschlagen, ist der Mangel an Informationen vieler Österreicher_innen über die skandinavischen Länder: »Ich glaube, man hat auch kein Bild von Norwegen ehrlich gesagt. Das ist ein bisschen so Elch und Wikinger und Fisch. Mehr weiß eh niemand.« (Erik)
Typisierung setzt ein gewisses Wissen, zumindest die Anschauung des Phänomens, voraus. Eine Stereotype entsteht, wenn das Wissen nicht ausreicht, um sich vor einer falschen Einschätzung oder Verallgemeinerung eines Aspektes des Phänomens zu bewahren. Paradoxerweise kann aus geringem Wissen, und daher sehr vagen Vorstellungen über skandinavische Länder, Landschaften und Menschen, die sie bewohnen, erklärt werden, warum sich Migrant_innen aus Skandinavien in Österreich häufiger mit positiven Stereotypen konfrontiert sehen. Eine weitere mögliche Erklärung für die überwiegend »positive Aufnahme« und hohe »Akzeptanz« der Zuwander_innen aus Skandinavien ist der Phänotyp (d.h. das wahrgenommene oder auch bloß vorgestellte Aussehen des Phänomens) der skandinavischen Immigrant_innen, die in der Tat oft blond, blauäugig und groß gewachsen sind und auch dementsprechend vorgestellt werden. »Also so typisch dänisch na, natürlich blond. Ich bin ja blond, blaue Augen. Da sagen die alle ja Schwede, Norweger oder Däne. Irgendein Skandinavier, des sehn die Leut scho gleich.« (August) »Weil du musst dich halt wirklich integrieren. Is ja auch net so schwierig, weil du wirst ja akzeptiert. Du schaust ja auch normal aus und net / Net, dass da irgendwelche rassistischen Sachen reinkommen.« (August) »Ich hab ja das Glück ein gern gesehener Migrant zu sein. Ich bin ja kaukasisch und bla, bla. Also alle Vorteile, weiß, männlich, jung, aus Norwegen.« (Erik)
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Maßgeblich für positive Stereotype ist nicht zuletzt auch das hohe Ansehen der skandinavischen Länder aufgrund ihrer Sozial- und Bildungspolitik. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass die von vielen Österreicher_innen noch gut erinnerten 1970er und 1980er Jahre im Zeichen einer sozialdemokratischen Sozialund Kulturpolitik der Ära Kreisky stehen, die sich selbst in eine skandinavische (schwedische) Tradition stellte und in dieser Tradition erinnert wird.146 Allerdings steht Skandinavien nicht nur für schon in den 1960er Jahren hoch entwickelte Sozialstaaten, sondern auch für überzogene Regulierung (etwa das Verbot von Alkohol in öffentlichen Bereichen), für den Mangel an Licht und für eine hohe Zahl an Selbstmorden, auch wenn diese in den vorliegenden Erzähltexten nicht thematisiert werden. »Scandinavia has become much more than the sum of it’s parts, generating a number of myths and counter-myth: as socialist utopia of ever regulated nightmare, as haven of sexual libertarianism of stifeld by collectiv conformity, as societies on exeptional high standards of living and of exeptional high rates of suicide.«147
Die Zuwander_innen bilden aber zugleich auch ihre eigenen Stereotype über Österreich als Land, als Landschaft und die Österreicher_innen als deren Bewohner_innen. So meint der aus Dänemark in den 2000er Jahren zugewanderte August, viele skandinavische Immigranten wären der Meinung, »dass alle Österreicher gut Skifahren können. Das is auch nicht so.« ((Lachen)) Andere, wie etwa die Finnin Sara, berichten über stereotype Vorstellungen vom »typisch österreichischen Mann«, der die Frau alleine kochen, putzen und bügeln lasse. Ein Stereotyp, das sich bei dänischen Gesprächspartner_innen in leichten Variationen findet, ist »die Geschmacklosigkeit« der Österreicher_innen. Sie würden nur geringen Wert auf gutes Design der Mode und der Wohnungseinrichtung legen. (Siehe auch Kap. 3.4; 6.4; 7.2.6) Dieses Heterostereotyp wird durch das gleichsam mitlaufende Autostereotyp der skandinavischen Zuwander_innen getriggert, die weltweit anerkannte hohe Qualität des skandinavischen Designs bestimme und beweise den guten Geschmack »aller Skandinavier«.148 Der bereits zitierte August produziert auf der Grundlage des genannten Autostereotyps eine harsche Verurteilung des »österreichischen Geschmacks«: 146 Zum ›nordischen Sonderweg‹ vgl. Jenny Andersson/Mary Hilson, Images of Sweden and the Nordic Countries. In: Scandinavian Journal of History 34/3 (2000), 219-228; Jenny Andersson, Nordic nostalgia and nordic light. The Swedish model as utopia 1930-2007. In: Scandinavian Journal of History 34/3 (2009), 229-245. 147 Hilson 2008, 12 f. 148 Zum skandinavischen Funktionalismus in Design und Architektur vgl. z.B. Hilson 2008, 21 ff.
216 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Mode und Fashion, das ist schon sehr wichtig. Und Designersachen, das muss man schon haben. Weil Küche oder was weiß ich Wohnzimmer, braucht ma die richtigen Sessel, da braucht man die richtigen Dinger, da braucht man richtige Tische oder richtige Schuhe. Und des is hier in Österreich also überhaupt nicht so. Also da hat man überhaupt keinen Stil. Des is ma schon aufgfallen, des hat mich a genervt, weil ich hab mit gedacht, pfau was ziehen die Leut sich an?«
Caroline weiß zu Fragen des Lebensstils und des demonstrativen Konsums in Österreich Folgendes zu erzählen: »Eine andere Stereotype ist der große Wagen auf der Straße. Und dann wohnt man in eineinhalb Zimmer mit Klo am Gang. Darüber lachen wir sehr viel. Weil in Dänemark ist es eher umgekehrt, große Wohnung, ganz kleines Auto. Oder überhaupt keins. Aber das ändert sich auch, es gibt ja nicht so viele Substandardwohnungen mehr wie früher.«
Zeithistorisch interessant ist eine Episode, die die 1960 aus Dänemark zugewanderte Tilde im Zusammenhang mit ihrer Hochzeit in den 1960er Jahren erzählt. Als sie Bekannten und Freunden über ihre kurz bevorstehende Migration nach Österreich und die damit verbundene Heirat erzählt, wird ein zu dieser Zeit verbreitetes geopolitisches Stereotyp schlagend: »Was ich gefragt wurde bei meiner Hochzeit war: ›Was, du ziehst hinunter so nah zu den Kommunisten?‹ Weil wenn man sich die Landkarte vorstellt, war ja da dieser Eiserne Vorhang, der war ja sehr lange Zeit. Und das Ostende von Österreich war ja eigentlich schon quasi drinnen in so einem u-förmigen Ding, wo die Kommunisten sind rundherum. Und sie haben gedacht, dass ich dort hingeh, freiwillig, für immer, das können sie nicht verstehen. Was ist, wenn die Kommunisten kommen?«
Offenbar wurde Österreich damals aus Sicht dieser dänischen Verwandten Tildes nicht nur als ein Land am Eisernen Vorhang gesehen, sondern beinahe selbst dem sogenannten Ostblock zugerechnet. Die zitierte Sequenz zeugt von der Angst vor den kommunistischen Regimen der Sowjetunion und ihrer ›Satellitenstaaten‹, die damals in Nordeuropa verbreitet war. Zum Schluss seien noch einige Autostereotype skandinavischer Immigrant_innen (oder genauer: in Skandinavien verbreitete Autostereotype) erwähnt, die die Migrant_innen mit nach Österreich genommen haben. Sie stehen den Heterostereotypen in mehrfachem Sinn ›gegenüber‹. Verschiedene Gebrauchsformen von Autostereotypen können hier unterschieden werden: Erstens werden Autostereotype in der Absicht eingesetzt, die Gesellschaft, aus der man ›ausgewandert‹ ist, nicht nur positiv zu stilisieren, sondern sie auch ironisch zu betrachten. Zweitens werden positive Autostereotype von skandinavischen Zuwander_innen dazu benutzt, um sich
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mit Stolz gegen Heterostereotype der Österreicher_innen zu behaupten. Ein Autostereotyp, das in den Erzählungen nicht ohne Selbstironie eingesetzt wird, ist die Geschichte über die Vorliebe vieler Dän_innen für Kartoffeln.149 »Wir brauchen die. Das ist ein Teil von unserem Lebenselixier. In allen möglichen Formen, gekocht, gebraten, was weiß ich.« (Tilde)
Auffälliger sind Autostereotype, die eine gleichsam angeborene Charaktereigenschaft behaupten, die dann den Zuwanderer/die Zuwanderin ausgesprochen oder unausgesprochen von der Bevölkerung des Gastlandes unterscheiden soll. So erzählt Caroline die Geschichte vom ehrlichen und offenen Dänen. Ein leichter Zweifel an der Gültigkeit eines jeden Stereotyps ist erkennbar (»man soll nicht generalisieren«), aber auch, dass sich Caroline doch gern an einem positiven Autostereotyp stärken möchte. »Ich bin Däne, wir reden offen. Wir tun nicht als ob, meistens. Man soll nicht generalisieren, aber / Und wir versuchen uns nicht anzulügen.«
Unbesprochen (verschwiegen) bleibt die differenzielle Wirkung des Autostereotyps: Wer ist dann weniger offen und weniger ehrlich? ›Die Österreicher‹ vermutlich. 4.5.3 Migrant_innen aus Spanien Im Allgemeinen beschreiben auch Interviewpartner_innen, die aus Spanien nach Österreich zugewandert sind, dass sie in Österreich »gut aufgenommen« und »nicht diskriminiert« worden seien oder aktuell abweisend behandelt werden. Auch ihnen begegnet ein gewisses Interesse vieler Österreicher_innen, dem wohl sehr oft eigene Urlaubserinnerungen (vermutlich überwiegend an der Mittelmeerküste Spaniens oder auf den Balearen) zu Grunde liegen. Dennoch existieren in Österreich im Vergleich zu Migrant_innen aus dem skandinavischen Raum, deutlich mehr negative Stereotype und auch Vorurteile gegenüber Spanien als Land und als Landschaft, wie auch gegenüber ›den Spaniern‹. Häufig schließen die negativen Stereotype an weit verbreitete Vorurteile gegenüber südeuropäischen Ländern im Allgemeinen (Italien, Griechenland) an. Während der Gedanke, aufgrund ihrer Herkunft angefeindet zu werden, Einwander_innen aus skandinavischen Ländern wenig beschäftigt und ihnen fern zu liegen scheint, sind sich Migrant_innen aus Spanien dessen bewusst, dass es neben
149 Zum Diskurs der ›Dänischheit‹ vgl. z.B. Hilson 2008, 162 ff.
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positiven auch negative Stereotype und auch Vorurteile über sie gibt. Selbst die Assoziationen Spaniens mit Sommer, Sonne und Fiesta werden oft mit einem ›klassischen‹ Vorurteil gegen Südländer verbunden, das sinngemäß lautet, wer zu viel Sonne und Meer hat, neige nicht zu fleißiger Arbeit und lebe gern über seine Verhältnisse. Interviewpartner_innen, die aus Spanien nach Österreich zugewandert sind, empfinden daher das scheinbar so freundliche Südlandklischee als eine Reduzierung der enormen Vielfalt von Land, Landschaft und Menschen, hinter der manches böse Vorurteil lauert: »Ich meine, wir leben in Spanien nicht nur am Strand und tanzen Flamenco.« (Marta)
Welche Vorurteile verbergen sich hinter dem ›klassischen‹ Südlandklischee? Wie alle Südländer seien auch ›die Spanier‹ faul, unpünktlich, ineffizient und bequem. Oft wird in diesem Kontext auch die Siesta angesprochen.150 Offenbar wird die Tradition einer längeren Mittagspause von manchen Österreicher_innen als Beweis für die Faulheit der Spanier_innen gedeutet. Die damit konfrontierten Migrant_innen fühlen sich herausgefordert, diese Argumentation zu widerlegen und als negatives Stereotyp erkennbar zu machen. So argumentiert, die in den 1980er Jahren zugewanderte Marta folgendermaßen: »Wenn ich nicht verpflichtet war durch meine Mutter oder im Kindergarten, hab ich keine Siesta geschlafen, sondern ich hab gearbeitet. Wir arbeiten hart dort. Und wir haben nicht so viel soziale Unterstützung, im Gegenteil. Man muss sich alles sehr hart erarbeiten und dafür kämpfen, dass man einen gewissen Standard oder Status bekommt oder erreicht. Hier ist es viel einfacher. Hier wird die Faulheit sehr gut unterstützt und viele Leute machen sich=s gemütlich in dem Sozialstaat. Aber das is bei uns nicht. Ich hab schon mit ein paar Leuten ein bisschen diskutiert. Weil es war ein Klischee, ja. Spanier, Südländer: faul.«
Negative Stereotype werden gelegentlich auch in Scherze ›verpackt‹, offenbar, weil man zwar an ihnen festhalten, die damit angesprochenen Gesprächspartner_innen aber nicht unbedingt verletzen will. In humorvoller Form geäußerte Stereotype können auch als ›Spiel‹ aufgefasst werden. So erzählt Álvaro über kleine Wortgefechte am Arbeitsplatz, die von den Beteiligten nicht allzu ernst genommen werden, aber doch eine soziale Funktion zu haben scheinen: nämlich die Differenz der Herkünfte und der kulturellen Prägungen zur Sprache zu bringen. Es könnte aber auch sein, dass Álvaro das Geschehen etwas herunterspielt, um sich in unserem Gespräch nicht als Opfer negativer Stereotype darstellen zu müssen. Darauf deutet auch hin, 150 Vgl. z.B. www.theguardian.com/world/2012/jan/26/spanish-stereotypes-we-have-mon days-too (4.1.2016).
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dass er sich nicht als ein so angesprochener Spanier bezeichnet, sondern als einer ›der Arbeitskollegen‹ (Identifikation mit der österreichischen Mehrheit eines großen Konzerns), der in einer distanzierten Weise darüber berichtet, dass ›mit den Spaniern‹ (der Minderheit) am Arbeitsplatz so mancher ›Spaß‹ getrieben werde: »Manchmal machen die Arbeitskollegen ein bisschen einen Spaß mit den Spaniern oder so. Bequemer oder fauler oder was auch immer, aber ich nehme es eher sportlich. Also es is überhaupt kein Problem.«
Auch der aus Andalusien stammende Diego weist darauf hin, dass unter Arbeitskollegen auf eine subtile Weise verhandelt wird, welche negativen Stereotype einander zuzumuten sind, ohne dass daraus gleich ernste Konflikte entstehen. Das erfolgt oft auch dann, wenn die Beurteilung von Arbeitsleistungen mit ›nationalen‹ Stereotypen einhergeht. Sich in derart subtilen Kommunikationen zu behaupten, scheint eine Herausforderung zu sein, die Sprachkompetenz, Wortwitz und Augenmaß verlangt, wie Diego in der folgenden Erzählung zeigt: »Von Arbeitskollegen zum Beispiel, wenn ich sage, ›Na passt schon.‹ ›Ja Mann, passt schon, vielleicht in Spanien, aber hier nicht!‹ Das ist ein Scherz und die Leute haben das net schlimm gemeint, na überhaupt nicht. Ich sage, ›Ja, Mann du bist auch so. Du bist so wie ein Viereck, alle Seiten könnten ein bisschen runder sein, gell‹.«
Stereotype werden außerdem herangezogen um individuelles Verhalten auf vermeintliche ›nationale‹ Charaktereigenschaften zurückzuführen. So erzählt die aus Spanien zugewanderte Inés über ihr anfänglich häufigeres Zuspätkommen. Von Seiten der österreichischen Bekannten werde es darauf zurückgeführt, dass sie Spanierin ist. Clara, ebenfalls aus Spanien zugewandert, arbeitet als Spanischlehrerin und erzählt von einer Situation, in der ein Schüler sie beschimpfte, weil er über eine ausgefallene Spanischstunde nicht informiert worden war. In seinem Ärger griff der junge Mann das Stereotyp des unzuverlässigen, schlampigen Spaniers auf und gab Clara die Schuld an diesem Fehler. Gelegentlich wird auch über eine Veränderung der Fremdenfeindlichkeit in Österreich im Lauf der letzten Jahrzehnte gesprochen – eine Wahrnehmung, die jedoch nicht von allen Gesprächspartner_innen geteilt wird. Lucía, die schon in den 1960er Jahren nach Wien gekommen ist, beteuert, nie mit Vorurteilen konfrontiert worden zu sein, weder damals noch später. Nach den Erfahrungen von Marta hingegen war die österreichische Gesellschaft in den 1980er Jahren noch weniger offen und Fremdenfeindlichkeit gegenüber ›Ausländern‹ weiter verbreitet als später. Marta, die 1985 nach Wien kam, machte entsprechende Erfahrungen, als sie während ihrer ersten Monate in Wien in einem Lebensmittelgeschäft Schinken kaufen wollte. Die Verkäuferin glaubte offenbar nicht, dass sich die junge Ausländerin den re-
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lativ teuren Schinken leisten konnte, oder, dass sie nicht über den hohen Preis Bescheid wisse. Anstatt die Bestellung entgegenzunehmen, wies sie die Kundin wiederholt darauf hin, dass dies aber ein sehr teurer Schinken sei. Erst als eine zweite Verkäuferin, die Maria bereits als Kundin kannte, dazukam, klärte sich die Situation. Marta fühlte sich verletzt und ärgerte sich darüber, aufgrund ihres Aussehens (sie hatte damals lange schwarze Haare und trug legere Kleidung) und ihrer damals noch mangelhaften Deutschkenntnisse als ›arme‹ und ›dumme‹ Ausländerin stereotypisiert zu werden. Sie erzählt auch, dass ihr schon in den 1960er Jahren aus Spanien zugewanderter Ehemann in einer Wiener Straßenbahn als »Neger« beschimpft worden sei. Von einigen Gesprächspartner_innen, die von Spanien nach Österreich übersiedelt sind, wird eine ›veränderte Wahrnehmung‹ Spaniens und der Zuwander_innen aus diesem Land im Zuge der Wirtschaftskrise etwa seit dem Jahr 2008 bemerkt und beschrieben. »Wir haben nicht mehr so viel Glamour wie früher wegen der Krise.« (Clara) »Und ich hab das Gefühl, dass vielleicht in den letzten zwei Jahren so wegen der Krise die, wie soll ich sagen, die Wahrnehmung der Spanier oder des Südens Europas ein bisschen anders geworden ist. Vielleicht negativer. Aber im Allgemeinen hab ich das Gefühl, dass die Österreicher keine, wie soll ich sagen, keine Anfeindungen oder keine enormen – wie sagt man, Vorurteile gegen die Spanier haben.« (Álvaro)
Bedingt durch die schwierige finanzwirtschaftliche Situation und die hohe Arbeitslosigkeit in Spanien, wird das Stereotyp der faulen und ineffizienten Spanier_innen nochmals verstärkt und in den Augen vieler Österreicher_innen ›bestätigt‹. Einige Interviewpartner_innen fühlen sich deshalb immer wieder verpflichtet, die Situation zu erklären und darzulegen, warum die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht mit der behaupteten Faulheit der Spanier_innen zu erklären ist. Eine Gesprächspartnerin erzählt jedoch auch, offenbar um ein Gleichgewicht der Stereotype bemüht, dass ihr angesichts der Berichte über die starken Auswirkungen der Krise auf weite Teile der Bevölkerung Spaniens oft auch mit Verständnis und Interesse begegnet werde. Ein Phänomen, das von einigen interviewten Migrant_innen thematisiert wird, ist die regionale ›Fremdenfeindlichkeit‹ innerhalb Spaniens, bekanntlich ein plurinationaler Staat, in dem sich durch Binnenwanderung in die wirtschaftlich stärkeren Provinzen ethnische Minderheiten bilden. Die aus Asturien stammende Olivia erzählt von Diskriminierung und Anfeindung, die sie in Katalonien, insbesondere in Barcelona erlebt habe. Während in Österreich ihr zunächst noch holpriges Deutsch nie Fremdenfeindlichkeit evoziert habe, sei ihr in Barcelona deutlich kommuniziert worden, dass sie als Nicht-Katalanin, die kein Katalanisch spricht, nicht willkommen sei.
Alltagswelten | 221 »Ich glaube, die Auswanderung nach Barcelona wäre schwieriger gewesen als nach Wien.«
Freilich ist denkbar, dass diese Schlussfolgerung Olivias durch den in weiten Teilen Spaniens geführten Diskurs gegen die separatistischen Tendenzen der katalanischen Bevölkerung und Provinzregierung beeinflusst ist. Andererseits ist Olivia nicht die einzige Interviewpartner_in, die den katalanischen Nationalismus und Separatismus aufgreift und sich davon latent bedroht fühlt. Auch die in Madrid aufgewachsene Clara, die zwischen zwei Migrationsphasen in Wien auch auf Mallorca lebte, vergleicht ihren dortigen Aufenthalt mit jenem in Wien und gelangt zu dem Schluss: »Andererseits auf Mallorca, manchmal habe ich mich weniger wohl gefühlt als hier. Das mit der Geschichte von Nationalismus na, du bist hier nicht geboren. Und das habe ich zum Beispiel hier nie gehört.«
Bemühen sich aus Spanien zugewanderte Frauen und Männer um eine Erklärung der Stereotype, denen sie in Wien und in Österreich begegnen, führen sie, ähnlich wie die Zuwander_innen aus skandinavischen Ländern, mangelndes Wissen vieler Österreicher_innen über Spanien an. Álvaro etwa argumentiert: »Ich glaub nicht, dass der durchschnittliche Österreicher, naja durch den Urlaub schon, aber im eigenen Lande glaub ich nicht, dass der durchschnittliche Österreicher schon einen Spanier gesehen hat in seinem Leben. In Deutschland ist es anders, weil viele Spanier in den 60er und Anfang der 70er Jahre nach Deutschland emigrierten.«
Positive Veränderungen in den letzten Jahrzehnten werden mit der inzwischen höheren Bekanntheit Spaniens vor allem auch als eines der Urlaubsländer der Österreicher_innen erklärt. So meint Marta eine zunehmend positivere Haltung gegenüber Spanien beobachten zu können, die auf die politische Situation und die Tatsache zurückgehe, dass Spanien heute den meisten Österreicher_innen nicht mehr, wie bis zum Tod Francos 1975, weitgehend fremd und unbekannt sei. Der Beitritt Österreichs zur EU habe die österreichische Bevölkerung weltoffener gemacht: »Ich meine Spanien ist länger als Österreich in der EU. Aber nachdem Österreich auch in der EU ist, ja und ein bisschen offener geworden ist, dann sehen sie, ich glaube bewerten sie die anderen Länder ganz anders. Nicht mehr aus den üblichen Klischees wie damals, sondernd mehr aus, aus einer anderen Perspektive. Ich meine, Spanien ist nicht mehr dieses obskure Land mit Leuten, die nur aus der Diktatur damals gekommen sind und wenig im Ausland zu tun gehabt haben.«
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Stereotype gegenüber Österreichern werden in den Erzählungen spanischer Migrantinnen nur selten erwähnt. Álvaro liefert dazu die gut bekannten Klischees: »Also Österreich ist für jeden Spanier ein ganz nettes Urlaubsland mit schöner Landschaft und guten Mehlspeisen und Torten und Walzer und so weiter. Das sind so die Dinge, die der durchschnittliche Spanier über Österreich weiß.«
4.5.4 Migrant_innen aus Deutschland Migrant_innen aus Deutschland werden von den hier verglichenen Migrant_innengruppen in Österreich am häufigsten mit negativen Stereotypen, Vorurteilen und Anfeindungen konfrontiert.151 Viele mussten schon mehrfach Beschimpfungen als »Piefke« oder andere Formen von Anfeindungen und Unfreundlichkeiten erleben. Dazu berichtet etwa Theresa, die 1981 nach Österreich kam: »Also ich hab das ganz klar so erfahren, dass viele Menschen in Österreich rassistisch und vorurteilsbeladen sind Deutschen gegenüber. Und wenn es dann halt so Gespräche darüber gibt mit Österreichern, die schütteln dann ganz ungläubig den Kopf und versuchen das zu verteidigen. Also im Sinne von ›Das gibt=s gar nich. Ja und wir sind doch hier ein offenes und freundliches Land. Ja, wir sind doch dafür bekannt, dass wir hier, dass wir Österreicher immer so höflich und freundlich sind.‹ Also, das wag ich halt zu bezweifeln.«
Einige Immigrant_innen aus Deutschland stellen derartige negative Erfahrungen jedoch in Relation zu vielen positiven. Offenbar haben sie kein Interesse daran, die oft halb versteckten Feindseligkeiten groß herauszustellen. Manchen der interviewten Migrant_innen aus Deutschland war es zudem, bevor sie nach Österreich kamen, gar nicht bewusst, dass »Deutsche in Österreich nicht unbedingt willkommen« (Isabella) sind. Sie bewerten ihre Vorstellung, ohne Abstriche willkommen zu sein, in der Retrospektive als »naiv« oder »blauäugig«. So habe auch Sven, in den 2000er Jahren aus Dresden nach Wien zugewanderte, eine negative Einstellung gegenüber Deutschen in Österreich nicht vorhergesehen: »Ja, vielleicht ein bisschen naiv. Auf die Idee wäre ich nie gekommen, dass man als Deutscher eventuell nicht von unbedingt jedem gemocht wird. Nicht dass es bis zu einer Fremdenfeindlichkeit geht. Aber dass es schon mal ausreicht für ne negative Bemerkung. Wie ich das die ersten Male hatte, dachte ich mir so, ›Oh okay, interessant, jetzt weiß ich mal aus der Perspektive, wie sich das anfühlt‹.«
151 Vgl. z.B. www.sueddeutsche.de/politik/nationen-stereotype-in-europa-vorurteile-undihr-wahrer-kern-1.1267775-5 (20.12.2015).
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Diese Sequenz verweist auf einen bemerkenswerten Umgang mit dem zunächst überraschenden Phänomen. Anstatt mit Wut oder Verärgerung zu reagieren, betrachtet Sven dies als eine interessante Erfahrung, die seinen persönlichen Horizont erweitert. Eine derartige Offenheit für neue Erfahrungen dominiert seine gesamte Erzählung und ermöglicht ihm auch gegenüber unerfreulichen Begegnungen eine gewisse reflexive Distanz. Dennoch nimmt Sven die Ressentiments ernst. Sind beispielsweise wichtige Anrufe zu erledigen (etwa bei der Hausverwaltung), übernimmt das seine österreichische Freundin, da er nicht möchte, dass diese Angelegenheiten durch mögliche Vorurteile ihm gegenüber, der durch seine Sprache sofort als Deutscher zu erkennen ist, kompliziert werden. Mögliche Formen, um den negativen Stereotypen ein wenig die Schärfe zu nehmen, sind Humor und Ironie. So bezeichnet sich Michael selbst als »gelernten Piefke«. Leo, dem es »nicht unbedingt gefällt«, als »Piefke« abgewertet zu werden, sieht das zwar ebenfalls mit Humor, lässt es sich aber dennoch nicht gefallen. Wenn er in einem kleinen steirischen Dorf herablassend behandelt wird und sich darüber ärgert, setzt er den Stolz auf seine Herkunftsstadt und deren Größe dagegen ein: »Natürlich hat man dann als Piefke schon mal gesagt: ›Meine Stadt, oder mein Stadtteil wo ich gewohnt hab, hat 30 000 Einwohner, was wollt ihr da mit eurem Kuhdorf?‹, so quasi. Aber eigentlich nur dann, wenn die Hundlinge mich aufgeregt haben.«
Wie ich es bereits für Immigrant_innen aus Skandinavien und Spanien beschrieben habe, können aus Deutschland Zugewanderte auf ihre Stereotypisierung ebenso in humorvoller Weise reagieren. Aber selbst dann ist nicht zu übersehen, dass das ›humorvolle Geplänkel‹ auch eine Art Probekampf sein kann, in dem beide Seiten herausfinden wollen, wie weit sie gehen können, ohne einen ernsten Konflikt zu riskieren. Lisa erzählt: »Und das meiste, also es gab ernste Situationen, aber meistens is es halt einfach ein Spaß. Is halt so ein Geplänkel, was man hat. Das ist immer da, also das schwimmt auch immer mit. Und ich glaub auch nicht, dass sich das irgendwann mal ändern wird. Ja, das is halt was, das so mitläuft, immer so zwischen den Zeilen, aber mit dem Zwinkern und nem kleinen Lächeln halt.«
Anfeindungen werden auch in Situationen beschrieben, in denen die Aggressivität des Gegenübers zunächst andere Ursachen hat und das Herkunftsland lediglich eine naheliegende Angriffsfläche bietet. Der in den 1990er Jahren zugewanderte Michael weiß als Vater zweier Kinder aus seiner Wohngegend, dass spielende oder lärmende Kinder für Nachbarn häufig ein Anlass sind, eine latente Ausländerfeindlichkeit kundzutun:
224 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Mein Sohn spielt gerne Fußball, da gibt=s einen Platz in der Nähe. Und da fliegt der Ball mal in den Garten oder in die Ecke, ja und dann kommt dann der Besitzer und schimpft die Kinder aus. Und wenn er merkt, der hat so nen deutschen Dialekt, dann verfällt man gleich in irgendwelche dummen Schemata. Das liegt aber wahrscheinlich auch am Bildungsgrad der Leute, mit denen man da zu tun hat. Die schimpfen einen dann aus, ja ›Du hier, als Zugezogener‹. Und dann noch ›Piefke, schleich dich!«
Vergleichbares erzählt auch die, in den 2000er Jahren aus München nach Wien zugezogene, Lisa von ihrer beruflichen Tätigkeit in der Tourismus-Branche: »Und dann verliert man sich schnell im Ton und reduziert das dann auf eine Nationalität. Aber da muss man auch wieder vorsichtig sein, weil meine Güte, das is halt einfach die Branche. Ganz ehrlich, da wird man angefeindet und da kriegt man halt viel zu hören. Nicht nur als Deutsche, sondern wahrscheinlich auch als Tirolerin, die in Wien ist, oder irgendwas. ›Depperter Tiroler, geh wieder zurück in die Berge‹ oder was weiß ich, was man da so alles sagt.«
Durch Konfrontationen von ›nationalisierten‹ Gruppen gekennzeichnete Situationen erzeugen aber auch internationale Fußballspiele. So wurde Lisa beispielsweise im Zuge eines Weltmeisterschaftsspiels von einem österreichischen Bekannten als »blöder Piefke« beschimpft. Auch Katharina beschreibt ähnliche Erlebnisse. Für die beiden Frauen, die selbst keine Fußballfans sind, sondern Freunde bzw. Ehemänner zu Fußballspielen begleiten, ist die aggressive Haltung und Stimmung in Fußballstadien oder Public Viewing-Geländen nicht nachvollziehbar. Sie reagieren mit Unverständnis, Erschrecken, aber auch Verärgerung darauf, aufgrund ihrer Herkunft mit einem Mal zum ›Feind‹ gemacht zu werden. Einem weiteren Stereotyp begegnet die als Studentin nach Wien gezogene Katharina im Kontext ihres Universitätsstudiums. Sie verspüre immer wieder das Bedürfnis klarzustellen, nicht aufgrund eines Studienplatzes nach Österreich gekommen zu sein. Offenbar weiß sie, dass diese Interpretation bei österreichischen Kolleg_innen zuweilen Neid, Missgunst oder gar Ablehnung erregt: »Weil ich mich irgendwie in so eine Schublade gesteckt gefühlt habe; ach ja, noch eine von denen, die halt keinen Studienplatz in Deutschland bekommen haben und deswegen hier gelandet sind, irgendwie.«
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Dieser auch medial transportierte Diskurs152 um deutsche Student_innen, die österreichischen Studierenden ›Studienplätze wegnehmen‹, wird in mehreren Erzählungen angesprochen. In Verbindung damit wird deutschen Student_innen an österreichischen Universitäten offenbar unhinterfragt unterstellt, »Studienplatz- oder Numerus Clausus-Flüchtlinge« zu sein. Trotz all der immer wieder thematisierten und beschriebenen ›Deutschenfeindlichkeit‹ werden (ähnlich wie von Migrant_innen aus Spanien) innerdeutsche, regionale ›Feindbilder‹ von einigen Gesprächspartner_innen als zum Teil ausgeprägter oder auch als störender beschrieben.153 Isabella, 2006 nach Österreich gekommen, fühlte sich als Schwäbin in Deutschland sogar deutlicher ausgegrenzt denn als Deutsche in Österreich: »Dazu kommt, ich bin Schwäbin, also ich bin ne eigene Randgruppe in Deutschland wiederum. Da wurde ich eher mit Ressentiments oder Vorurteilen behaftet, verurteilt, innerhalb Deutschlands als jetzt hier in Österreich. Das is recht witzig, also die Schwaben sind in Deutschland mehr verschrien, als dass man sie hier kennen würde.«
Auch das Verhältnis und die gegenseitige Wahrnehmung zwischen Ost- und Westdeutschen ist von negativen Stereotypen und Vorurteilen geprägt. Im Unterschied zu anderen Formen der Typisierung, über die meist reflektierend gesprochen wird, sind dies Stereotype, an welche die betreffenden Interviewpartner_innen ›aus eigener Erfahrung‹ glauben. Sie folgen damit einer Art von Alltagsempirismus, gegen den kaum ein Argument etwas ausrichten kann.154 Wie könnte man bezweifeln, was man selbst mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hat? Dass die eigene Wahrnehmung stets von dominanten Diskursen geprägt wird, bleibt dabei unerkannt. Sven aus Dresden bezeichnet sich beispielsweise »als Ostdeutscher«, übernimmt also eine im innerdeutschen Diskurs vorgefertigte Typisierung. Noch interessanter ist, dass er diesen innerdeutschen Diskurs als Zuwanderer nach Österreich importiert, wenn er argumentiert:
152 Bemerkenswerterweise gibt es dazu sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag unter dem Begriff »Deutschenschwemme«: www.de.wikipedia.org/wiki/Deutschenschwemme (8. 10.2018). 153 Zu diesen historisch gewachsenen regionalen Stereotypen vgl. Bausinger 2009, 31 ff. 154 Im vorliegenden Sample an Interviews wurden derartige Stereotype nur von Migrant_innen aus Ostdeutschland expliziert. Ich weiß jedoch aus eigener Erfahrung außerhalb dieser Studie, dass auch Westdeutsche Ostdeutschen mit massiven Vorurteilen und Vorbehalten begegnen.
226 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Ich als Ostdeutscher empfinde, dass Westdeutsche manchmal ein bisschen selbstgefälliger sind und ich diese selbstgefällige Art von Deutschen hier in Österreich halt manchmal sehr peinlich finde.«
Dieser Einschätzung stimmt auch Michael zu. Die wirtschaftliche Differenz zwischen den ›alten‹ und den ›neuen‹ Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland schlägt sich seit der ›Wiedervereinigung‹ und bis heute in den Stereotypen der ›Wessis‹ und der ›Ossis‹ zu Buche. Darin wird auch ein Rest von politischideologischer Differenz weiter tradiert, etwa, wenn Michael »den Westdeutschen« als »überdiszipliniert« bezeichnet und dies mit dem Motiv der beruflichen bzw. wirtschaftlichen »Karriere« erklärt: »Ja, der Westdeutsche ist eher ein bisschen überdiszipliniert, der möchte gerne Karriere machen. Das merkt man.«
An positiven Stereotypen der Österreicher_innen gegenüber Migrant_innen aus Deutschland, die es durchaus auch gibt, werden immer wieder Eigenschaften wie Verlässlichkeit, Pünktlichkeit und Korrektheit beschrieben155. Eigenschaften also, die vor allem im beruflichen Umfeld oft sehr geschätzt werden. 4.5.5 Die Differenzierung des Fremden: ›Ausländer Erster Klasse‹ Dieser Studie ging, wie gesagt, die Vorannahme bzw. die Arbeitshypothese voraus, dass sich die hier untersuchten Migrant_innengruppen aus Skandinavien, Spanien und Deutschland hinsichtlich ihres Ansehens in Österreich von anderen Migrant_innengruppen, insbesondere von Einwander_innen aus dem globalen Süden unterscheiden156. Diese Annahme hat sich im Zuge der Analyse sogar noch deutlicher bestätigt als erwartet.
155 Vgl. z.B. Bausinger 2009, 78 ff. 156 Vgl. dazu z.B. Institut für Konfliktforschung (IFK) (Hrsg.), Forschungsdokumentation »Fremdenfeindlichkeit« in Österreich. (Wien 2001). Online unter: www.ikf.ac.at/a_proj 01/a_pro06.htm (4.10.2018); Gustav Lebhart/Rainer Münz, Migration und Fremdenfeindlichkeit in Österreich – Perzeption und Perspektiven. In: Heinz Faßmann/Irene Stacher (Hrsg.) Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2003. Demographische Entwicklungen – Sozioökonomische Strukturen – Rechtliche Rahmenbedingungen. (Wien 2003), 343-335; Heinz Faßmann, Abgrenzen, ausgrenzen, aufnehmen. Empirische Befunde zu Fremdenfeindlichkeit und Integration. (Klagenfurt 2001).
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Dazu soll die, aus Norwegen zugewanderte Mia an dieser Stelle nochmals zu Wort kommen: »Und ich erleb immer wieder: Da sitzt man und wartet, zum Beispiel für einen Termin bei einem Arzt, und dann redet jemand einen an. Und ›Ah aus Norwegen‹, und dann kommt ›Ja, Sie sind ja kein Ausländer, sind ja /‹. Das hab ich erlebt! Das is so wo man denkt, ›Gosh, was sag ich jetzt dazu?‹ Ja, irgendwie bin ich ein Softi-Ausländer sozusagen. [...] Und, wie gesagt, diese Erlebnisse im Wartezimmer, mit ›Ja ihr seid doch eh eine von uns. Davon red ich ja gar nicht, ich red ja von den anderen.‹ Und ich so, ›Na, ich bin genauso‹.«
Vergleichbares kann auch die aus Finnland zugewanderte Sara berichten. Während sie wohl aufgrund ihres Aussehens, ihrer Umgangsformen, und ihrer sehr guten Beherrschung der Landessprache gern zur ›Inländerin‹ gemacht und dem ›WirKollektiv‹ zuordnet wird, verortet sie sich selbst offenbar aus einer politischen und moralischen Haltung gegenüber der Ausländerfeindlichkeit im Kollektiv der ›Anderen‹, der ›Ausländer_innen‹. Das wiederum ist freilich ebenfalls eine verallgemeinernde Selbsttypisierung: »Ich merk dann aber oft, dass ich mich sehr solidarisiere mit den anderen Ausländern, weil ich mir irgendwie denk, na ich komm ja auch nicht von da. Und trotzdem merk ich da einen deutlichen Unterschied in der Begegnung. Dass das irgendwie, also, wenn ich jetzt von Finnland komm und das auch sag, dann is es immer positiv und es is immer irgendwie auch schön. ((Lachen)) Ich bringe natürlich was mit, also Finnland mit dem Schulsystem und so. Also wir haben einen guten Ruf hier. ((Lachen)) Aber, aber dann wenn ich jetzt von Osten kommen würd, dann schaut=s gleich ganz anders aus. Und da denk ich mir immer, das find ich immer so ungerecht. Weil wie komm ich dazu, ich komm ja genauso wie die her. Ich komm halt nicht als Flüchtling, sondern ich komm aus anderen Gründen, ja. Aber trotzdem is da jetzt der Unterschied nicht so groß, find ich.«
Sara ordnet sich damit dem Kollektiv der ›Ausländer_innen‹ zu und empfindet die ›bevorzugte Behandlung‹, die ihr als Finnin zuteil wird, als »ungerecht« bzw. sie empfindet die abwertende Behandlung, die anderen Immigrant_innen zuteil wird, als ungerecht. Zugleich versucht sie dieses Phänomen zu erklären, indem sie auf mitgebrachte Kapitalressourcen und Assoziationen mit ihrem Herkunftsland verweist157 (s.o.).
157 Vgl. auch Ruokonen-Engler 2012, 226 f. zur privilegierten Situation finnischer Migrant_innen in Deutschland aufgrund der Assoziation ihres Herkunftslandes mit Wohlstand und mitgebrachtem Bildungskapital.
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Auch die Spanierin Eva bewertet das mit anderen ›Ausländern‹ Geteilte als essentiell und fühlt sich aufgrund geteilter Erfahrungen als eine von ihnen. Von Seiten der Aufnahmegesellschaft jedoch werden diese Gemeinsamkeiten nicht wahrgenommen, vielmehr zeigen sich sehr unterschiedliche Assoziationen der Österreicher_innen mit den jeweiligen Herkunftsländern und deren Bewohner_innen. Diese Assoziationen wiederum bestimmen den differenzierenden Umgang mit Zuwander_innen. Eva argumentiert dazu: »Als Spanierin bist du für die meisten Leute sympathisch oder sie sehen: Ah spanisch, heißt es Sonne, heißt es Freundlichkeit, was auch immer. Du bist nicht Türkin oder Serbin. Also du gehörst nicht zu dieser / Wobei du auch mit ihnen teilst dieses, dass es anders läuft.«
Auch der ebenfalls aus Spanien zugewanderte Álvaro beschreibt die Differenz in der Wahrnehmung und Behandlung von Migrant_innen in Abhängigkeit von ihrem Herkunftsland: »Ich hab auch das Gefühl, dass die Österreicher im Allgemeinen keine enormen Vorurteile gegen die Spanier haben. [...] Nicht wie bei anderen Volksgruppen wie beispielsweise Leute aus dem Balkan oder aus Osteuropa, wo meines Empfindens nach die Anfeindungen ein bisschen größer sind.«
An dieser Passage fällt allerdings auf, dass Álvaro im Unterschied zu anderen Immigrant_innen aus Spanien nicht behauptet, es gebe keinerlei Anfeindungen von Spanier_innen. Er spricht lediglich davon, dass Anfeindungen gegenüber Migrant_innen aus anderen Ländern »größer« seien. In der folgenden, längeren Sequenz finden wir die ausführliche Argumentation von Theresa, die aus Deutschland nach Wien zugewandert ist. Schon, dass sie sich ausführlich mit dem Vergleich der eigenen Gruppe mit anderen Zuwander_innengruppen befasst, zeigt, dass sie sich keineswegs selbstverständlich zu den ›NichtAusländerinnen‹ zählt. Sie gelangt zu der bemerkenswerten Formulierung vom »Ausländer erster Klasse«, um ihren ›Status‹ in Österreich zu beschreiben: »Dass Türken zum Beispiel mit Stereotypen konfrontiert werden, das is schon bekannt und in aller Köpfe. Oder, ich weiß ich nicht, die ganzen Afrikaner, schwarzhäutige Menschen, die sind ja auch mit Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert, die haben sich gewaschen, ja. Jetzt is es aber so, dass ich Deutsch spreche, ich bin weiß, ich bin hier einigermaßen angepasst, sag ich jetzt mal, von meinen Verhaltensregeln, Kodexen. Man erwartet ja gar nicht, sozusagen, dass eine Person wie ich mit so was konfrontiert is. Aber Fakt is, dass ich sehr wohl damit konfrontiert bin, ja. Ich bin halt Ausländer erster Klasse. Ja, also mit mir wird noch ein bisschen zivilisierter umgegangen, weil ich auch die Sprache
Alltagswelten | 229 beherrsche und dann auch verbal kontern kann. Dagegen wenn jemand aus Nigeria kommt, ja, oder aus Turkmenistan, die können sich ja gar nicht wehren. Gut, da hab ich jetzt noch einen Bonus, weil ich mich verbal auch noch dazu äußern kann. Aber Fakt is halt trotzdem, wenn das wegfallen würde, wenn ich mich nicht verbalisieren könnte, dann würd ich wahrscheinlich auch blöd aus der Wäsche schaun.«
Theresa sieht sich als ›Deutsche‹ in Österreich mit massiven Vorurteilen konfrontiert und fühlt sich hier sehr ›unwillkommen‹. Zugleich erkennt sie aber dennoch wesentliche Unterschiede zu anderen Migrant_innen, beispielsweise zu solchen aus afrikanischen Ländern. Ihre Erklärung ist der Phänotyp und die Verhaltensmuster, die jenen in Österreich zumindest sehr ähnlich sind – was sie, wie sie sagt, zu einer »Ausländerin erster Klasse macht«. Freilich steckt in dieser eleganten Formulierung der Vorwurf der Diskriminierung der Fremden: Diese Art von Erstklassigkeit kann nur erlangen, wer sich (fast) genauso benimmt, wie »die Einheimischen«. Auch bei der, in den frühen 1960er Jahren aus Spanien zugewanderten Lucía finden wir ähnliche Argumente: »Es gibt doch einen Unterschied, von welchem Land man kommt. Dann habe ich eben bemerkt, dass die Migranten werden ein bisschen behandelt, je nachdem was für eine Stellung in der Gemeinschaft sie haben, nicht. Und als was sie hier sind, oder gekommen sind. Und manchmal tut mir wirklich leid, dass diese / Weil ich bin genauso eine Ausländerin, nicht. Und mir tut leid, wenn oft diese einfache Frauen, die herkommen um zu bedienen oder zu putzen, dass die ein bissal anders behandelt werden. Und das is ein bissal traurig, nicht?«
Die divergierende Wahrnehmung und ›Bewertung‹ von ›Ausländern‹ je nach Herkunftsland, Sprache, Phänotyp und Verhaltensmuster spiegelt sich auch in Carolines Erfahrungen bzw. Erzählung wider. Die aus Dänemark zugewanderte Caroline lebt mit ihrem aus Mexiko stammenden Ehemann in Österreich (s.o.), wobei er ironisch als der »Ausländer« in der Beziehung bezeichnet wird (siehe auch Kap. 4.5): »Er ist Ausländer! Als wir in unsere jetzige Wohnung eingezogen sind, 1990, hat=s ja auch geheißen, ›Uh, Ausländer‹. Aber sie wissen jetzt, dass wir ganz angenehm und unschuldig und still sind. ((Lachen)) Also es geht.«
Geändert hat sich seit den 1980er Jahren nicht, dass ihrem aus Mexiko zugewanderten Ehemann mit Vorurteilen begegnet wird. Doch haben die Vorurteile offenbar durch die gute Integration des Paares in der Gemeinschaft der Hausbewohner_innen an Schärfe verloren. Die Ängste der Nachbarn haben sich für diese als unbegründet herausgestellt. Der Abbau der Ängste erfolgt aus demselben Prinzip, aus dem Menschen in ihrem Alltag Typisierungen treffen und Vorurteile bilden: Sie vertrauen
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vor allem anderen dem Prinzip des empirischen Realismus. Richtig und wahr ist für sie, was sie mit eigenen Augen zu sehen, zu hören oder zu fühlen meinen. Mit diesem Prinzip – so die relativ tröstliche Botschaft – sind offenbar auch Ausländerfeinde lernfähig, allerdings eben nur dort, wo das Realitätsprinzip wirksam werden kann: Innerhalb der engeren eigenen Lebenswelt. Stereotype und Vorurteile gegenüber nationalisierten oder rassistischen Gruppen, die man eher phantasiert als aus eigener Erfahrung kennt, bleiben hingegen bestehen. Zu ähnlichen Ergebnissen wie den eben dargestellten kam auch Minna-Kristiina Ruokonen-Engler in ihrer Studie zu finnischen Migrantinnen in Deutschland sowie Silvia Dürmeier in ihrer Untersuchung über Zuwander_innen aus Schweden in Süddeutschland.158 In beiden Studien beschreiben sich die Interviewpartner_innen als »erste Klasse Ausländer_in«. »Katri fühlt sich als eine ›erste Klasse Ausländerin‹. [...] Dabei vergleicht Katri ihre Position mit der von Ausländer_innen aus der Türkei, Südeuropa oder von schwarzen Ausländer_innen. [...] Jedoch ist die Positionierung als eine besser behandelte Ausländerin aus dem exotischen Norden, die ihr durch ihre finnische Staatsbürgerschaft garantiert wird, eine Subjektposition, die ihr durch den hierarchischen Ausländerdiskurs zugeschrieben wird.«159
Auch wenn es offenbar Migrant_innen je nach Herkunftsregion unterschiedlich trifft: Das Phänomen der differentiellen Ablehnung und negativen Stereotypisierung kann mit dem Terminus ›Fremdenfeindlichkeit‹ gut bezeichnet werden. Christian Friesl, Katharina Renner und Renate Wieser ziehen diesen Begriff dem Begriff »Ausländerfeindlichkeit« vor, denn es seien »weniger die Staatsangehörigkeit im Zuwanderungsland als vielmehr Hautfarbe, Religion und Kulturkreis als Differenzierungskriterien [wirksam]. Auch verweist die Verwendung des Wortes ›Fremdenfeindlichkeit‹ darauf, dass sich diese nicht allein gegen die Fremden, sondern immer auch gegen das Fremde richtet und mit generellen Abgrenzungstendenzen einhergeht«160. 158 Vgl. z.B. Ruokonen-Engler 2012, 226 ff.; 264 f.; 274 ff.; Silvia Dürmeier, Wer hat Angst vor dem blonden Mann? Schwedische Migranten in Süddeutschland. (Pfaffenweiler 1997). 159 Ruokonen-Engler 2012, 264. 160 Christian Friesl/Katharina Renner/Renate Wieser, »Wir« und »die Anderen« – Einstellungen zu »Fremden« und »Fremdenfeindlichkeit« in Österreich. In: SWS-Rundschau 50/1 (2010), 6-32; 9. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-321141. Zu einer Unterscheidung zwischen rassistischen (rassisch und genetisch bedingt), ethnozentristischen (Überlegenheit der eigenen Nation und Kultur), nativistischen (Konkurrenz zwischen ›Einheimischen‹ und Zuwanderern) und ausländerfeindlichen (definiert
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Dies trifft aber just auf die hier untersuchten Gruppen von Einwander_innen nicht zu: Sie sind weder von anderer Hautfarbe, noch zwangsläufig von anderer Religion, und was ein »Kulturkreis« ist, müsste allererst diskutiert werden. Schleicht sich mit dem Begriff »Kulturkreis« nicht der alte Kulturbegriff wieder ein, der schon eingangs zurückgewiesen wurde; nun ein Kreismodell anstelle des Kugelmodells? Hingegen ist der Hinweis von Friesl, Renner und Wieser, dass die Ablehnung nicht primär die fremde Person, sondern das von ihr repräsentierte Fremde betreffe, hilfreich und nützlich. Die stets subjektiv wahrgenommene ›kulturelle Nähe‹ und (unterstellte) Vertrautheit wie auch die ebenso stets subjektiv wahrgenommene ›kulturelle Ferne‹ haben auch bei den hier untersuchten Migrant_innengruppen hohe Bedeutung. Die Schweizer Migrationsforscherin Janine Dahinden macht uns außerdem darauf aufmerksam, dass es in der Alltagskommunikation vielfältige Möglichkeiten gibt, das Fremde in seiner subjektiven Bedrohlichkeit abzustufen und dementsprechend anzunehmen oder aber mehr oder minder aggressiv abzulehnen. Keineswegs müssen einer kulturellen Praktik des ›Fremdmachens‹ harte ethnologische, politische, ökonomische oder andere Fakten zu Grunde liegen; denn wie Dahinden argumentiert: »Für die Schließung der Gruppengrenzen kann jeglicher ›cultural stuff‹ Grundlage bieten: Sprache, Ritual, Verwandtschaft, Lebensführung, Religion, Kultur, usw. Grenzziehungsprozesse beziehen sich deshalb auf subjektiv sinnhafte Differenzierungsmerkmale, welche keine objektive Basis haben müssen.«161
Die vorgestellten Sequenzen aus den von mir geführten Interviews bestätigen diese Einschätzung: Die hier berichteten Prägungen der Typisierung, des Stereotyps und des Vorurteils werden in der Alltagskommunikation (am Arbeitsplatz, im Geschäft, im Fußballstadion etc.) situativ eingesetzt. Nicht nur müssen sie als Indikatoren des relativen Fremdseins der Anderen erst einmal herangezogen werden. Damit dies geschieht, muss es für diejenigen, die das Fremde ›diagnostizieren‹ und in der Folge mehr oder minder entschieden ablehnen, auch nützlich erscheinen. Dass ›Wir‹- und ›Sie‹-Gruppen gebildet werden, ist offenbar in allen Gesellschaften der Fall. Welche konkreten Rassismen aus dem diskursiven Angebot (etwa einer fremdenfeindlichen Partei, eines Stammtischmilieus etc.) aufgegriffen und reproduziert werden, hängt nicht zuletzt auch von den dominanten Diskursen in den Gesellschaften und über Staatsbürgerschaft) Diskursen vgl. Peter Zuser, Die Konstruktion der Ausländerfrage in Österreich. Eine Analyse des öffentlichen Diskurses 1990. IHS (Institut für Höhere Studien) Reihe Politikwissenschaft 35 (Juni 1996), 6 ff. Die hier thematisierte Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit kann alle vier dieser Diskurse umfassen. 161 Dahinden 2014, 11 f.
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in deren darin unterschiedlich aggressiv oder zurückhaltend vorgehenden sozialkulturellen Milieus ab.162 Die Differenz zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung der hier untersuchten Migrant_innengruppen ist überraschend deutlich. Einerseits betrachten sich die nach Österreich zugewanderten Frauen und Männer im Grunde als ›Fremde‹, wenn auch mit unterschiedlicher Exposition gegenüber fremdenfeindlichen Angriffen. Von der Aufnahmegesellschaft aber werden Zuwander_innen als unterschiedlich fremd wahrgenommen. Gilt für die skandinavischen, für die spanischen und für die deutschen Immigrant_innen, dass sie weitaus weniger ›fremd‹ erscheinen als Einwander_innen aus dem globalen Süden, zeigen sich bei näherem Hinsehen doch bemerkenswerte Differenzen je nach Herkunftsland. Die Stellung der Immigrant_innen aus Deutschland in der Wahrnehmung des Gastlandes und seiner ›Mehrheits‹-Bevölkerung ist dabei besonders differenziert. Einerseits werden ›die Deutschen‹ in Österreich als ›Fast-Österreicher_innen‹ wahrgenommen.163 Doch dies bedeutet eben nicht, dass sie keinerlei Diskriminierung erfahren würden, im Gegenteil: Die kulturell und sprachlich nächsten Fremden, die Zuwander_innen aus Deutschland, werden im Vergleich der Gruppen am häufigsten, (wenn auch als die wehrhafteste und eloquenteste Gruppe) diskriminiert. Vielfach geschieht dies unverblümt (»Du Piefke«) oder auch mit besonderer Vorsicht oder Raffinesse. Einige aus Deutschland Zugewanderte verstehen sich in Österreich, wohl aufgrund der Sprache und historisch-politischer Nachbarschaft, außerdem zunächst im Vergleich zu anderen Migrant_innen gar nicht als ›Fremde‹. Erst durch die ihnen begegnenden Formen der relativ subtilen Diskriminierung nahmen sie ihren Status als ›nahe Fremde‹ zumindest in gewissen Situationen und speziellen Umfeldern wahr. Fremdenfeindlichkeit wird von einigen Interviewpartner_innen außerdem auch im Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen und insbesondere mit dem verbreiteten und zuletzt stark wachsenden Rechtspopulismus in Europa angesprochen. Marta beispielsweise stellt klar, dass eine Wahl des FPÖ Politikers H. C. Straches164 zum Bundeskanzler für sie ein Anlass wäre, in ihr Herkunftsland zu162 Zu einer Diskursanalyse der wesentlichsten österreichschen Printmedien zur »Ausländerfrage« 1990 vgl. Zuser 1996 (Anm. 160). Auch er stellt fest, dass die in diesem Diskurs beschrieben Akteure überwiegend »Flüchtlinge, Asylbewerber, Gastarbeiter, Illegale, Schwarzarbeiter oder Osttouristen« sind. 163 Zum »boundry work« vgl. Dahinden 2014; Verena Stolcke, Talking culture: New boundaries, new rhetorics of exclusion in Europe. In: Current Anthropology 36/1 (1995), 124. 164 Bedingt durch die Ergebnisse der Nationalratswahl 2017, bei der die FPÖ mit einem massiven Zuwachs an Stimmen als drittstärkste Partei nach der ÖVP und SPÖ hervorging, ist Heinz Christian Strache mittlerweile österreichischer Vizekanzler. Vgl. z.B.
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rückzukehren. Auch Michael spricht dieses Thema an, kommt aber zu einer anderen Einschätzung der Macht dieses rechtsradikalen Politikers: »Auch wenn es einen Herrn Strache gibt, der kann das sicherlich nicht beeinflussen. Der kann höchsten die Wut irgendwohin fokussieren auf irgendwen anders, aber sicherlich nicht auf die EU-Bürger, die hierher kommen um zu arbeiten. Das glaub ich nicht. Das funktioniert nicht. Ich hoff=s zumindest!«
Die hier analysierten Erzählungen zeigen nicht zuletzt, dass die Zuwander_innen aus Skandinavien, Deutschland und Spanien im Zusammenhang mit politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in Österreich und in Europa auch gewisse Veränderungen im Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit wahrnehmen.165 Michael meint für die Jahrzehnte ab den 1990er Jahren, dass sich zwar die Anzahl der Migrant_innen deutlich erhöht habe, jedoch sei Österreich deshalb nicht fremdenfeindlicher geworden: »Also 1995 war Wien genauso aufgeschlossen wie=s heute is. Das Einzige, was sich verändert hat, weil die Prozentzahlen, sind noch mehr Migranten hier. Vor allem aus anderen EU-Staaten. Weil=s für sie natürlich leichter is sich niederzulassen, das is schon klar.«
Für Marta jedoch haben sich die »Grenzen des Rassismus« im Zuge dieser Entwicklung verschoben: »Diese Grenzen sind ein bisschen nach Süden gegangen. Aber die Einstellung ist die gleiche; ich will nichts davon wissen von diesen Leute. Und vor allem Angst, diese Angst, die viele Leute sagen, dass sie spüren, wenn sie Ausländer sehen und so, dass is wirklich / Das is ein Horror. Das ist ein Horror. Es gibt so was. Ich meine immer weniger, aber es gibt=s. Das is eine Katastrophe.«
Martas Beobachtungen beziehen sich auf ein Phänomen, das auch in der wissenschaftlichen Literatur diskutiert wird; eine durch die zunehmende europäische Integration und Globalisierungsprozesse bedingte Verschiebung hinsichtlich der Zielgruppen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus: Stephan Grigat (Hrsg.), AfD & FPÖ: Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder. Interdisziplinare Antisemitismusforschung Bd. 7 (Wien 2017). 165 Vgl. z.B. Friesl/Renner/Wieser 2010 (Amn. 160); Joe Berghold/Klaus Ottomeyer, Populismus und neuer Rechtsruck in Österreich im Vergleich mit Italien. In: Sieder/ Steinert/Tálos 1996, 314-330. Sie beschreiben seit Anfang der 1980er Jahre einen »verstärkten rechten Trend« in Österreich.
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»Gegenüber den Zuwanderergruppen selbst gab es einen Wandel von innereuropäischen zu außereuropäischen kulturalistischen Fremdheitszuschreibungen: Während in den 1960er Jahren in Mittel-, Nord- und Westeuropa auch Arbeitsmigranten aus Südeuropa noch vielfach als ›Fremde‹ beschrieben wurden, galt das dort schon in den 1970er Jahren immer weniger für Südeuropäer, aber z.B. immer mehr für Türken. In den 1980er Jahren wiederum rückten Aversionen gegenüber der wachsenden Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylsuchenden aus der ›Dritten Welt‹ in den Vordergrund.«166
4.5.6 Fazit Wie sich zeigte, wurden und werden Migrant_innen, die aus Skandinavien, Spanien und Deutschland nach Österreich gekommen sind, auf vielfältige und auch unterschiedliche Weise mit positiven und negativen Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert: Die interviewten Migrant_innen aus skandinavischen Ländern erfahren generell selten Konfrontationen mit Stereotypen, und wenn, dann durchwegs mit positiven. Anfeindungen gegen Personen aus Deutschland richten sich konkret gegen Angehörige dieses Nachbarlandes und sind nicht zuletzt zeithistorisch zu erklären.167 Der Großteil der negativen Stereotype gegenüber Immigrant_innen aus Spanien wiederum bezieht seine Motive aus einem breiteren Vorurteil gegenüber dem europäischen Süden. Die Erzählungen verweisen außerdem auf eine divergierende Wahrnehmung und ›Bewertung‹ von ›Ausländern‹ je nach Herkunftsland (und damit verbunden Sprache, Phänotyp, Verhaltensmuster usw.) durch die österreichische Aufnahmegesellschaft. Die hier interviewten Migrant_innen selbst bewerten allerdings das mit anderen ›Ausländern‹ Geteilte überwiegend als essentiell, sie fühlen sich mehrheitlich als ebenso ›Fremde‹. Wahrnehmung, Bewertung und Assoziationen durch die Aufnahmegesellschaft wiederum führen zu einem differenzierenden Umgang mit Zuwander_innen unterschiedlicher Herkunftsländer. Die hier untersuchten Migrant_innengruppen sind nicht oder weit weniger von einem »Stereotyp Threat« betroffen als etwa Gruppen aus dem globalen Süden. Der »Stereotype Threat« kann definiert werden »als die Empfindung bzw. Befürchtung, nach einem Stereotyp über die eigene Gruppe beurteilt oder behandelt zu werden oder durch sein eigenes Handeln zur Bestätigung des
166 Bade 2002a, 16 ff. 167 Vgl. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005. (Wien 2005), 35 ff. Er beschreibt die »Ablösung von allem Deutschen« als »Staatsdoktrin der Zweiten Republik« ebda. 36. Vgl. auch Peter Thaler, How to measure identity. Austrian national consciousness in the mirror of public opinion. In: Nationalism and Ethnic Politics 3/4 (1997), 69-93.
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Stereotyps beizutragen«168. Diese Definition impliziert, dass Stereotype die jeweils Betroffenen beeinflussen können, bevor sie tatsächlich abwertende Urteile oder diskriminierendes Verhalten erfahren. So geht aus den Erzählungen auch deutlich hervor, dass ein Gefühl des ›Willkommenseins‹ ein wesentlicher Motivationsfaktor im Hinblick auf Ausmaß und Bemühungen zur Integration darstellt. (Siehe Kap. 5.2) Umgekehrt sinkt mit fehlender Anerkennung auch die Bereitschaft, sich in die Gesellschaft des Gastlandes zu integrieren.169 Des Weiteren zeigt auch diese Untersuchung, dass Stereotype und Vorurteile einer zeitlichen Veränderung unterworfen sind, da sie in ursächlichem Zusammenhang mit den jeweiligen politischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen stehen. So sind die Stereotype zu Dänemark als einem Land mit »Schlagobers und Butter« oder von Österreich als nahe »bei den Kommunisten« nur aus dem jeweiligen zeithistorischen Kontext heraus zu verstehen und haben ein Ablaufdatum. Einige Interviews weisen auch auf einen Wandel im Bezug auf Stereotype gegenüber Migrant_innen aus Spanien hin. Bedingt durch die fortschreitende Globalisierung wird dieses Land nunmehr als ›vertrauter‹ wahrgenommen, als dies in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren der Fall war. Zugleich zeigt sich, dass die ›Krise‹ der 2000er Jahre offenbar zu einer ›Revitalisierung‹ des Stereotyps der faulen und arbeitsscheuen Spanier_innen geführt hat.
4.6 DIE FREMDHEIT UND DAS BEFREMDEN DER MIGRANT_INNEN Im Anschluss an die eben diskutierten Typisierungen, Stereotypisierungen und Vorurteile, die ein wesentliches Element hinsichtlich einer ›Konstruktion des Fremden‹ darstellen, soll nun das Thema Fremdheit weiter und umfassender untersucht werden. Wie so viele andere für diese Studie relevante Termini auch, ist ›Fremdheit‹ ein in den Sozialwissenschaften viel diskutiertes Konzept. Unzählige Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte befassen sich aus theoretischer und empirischer Perspektive mit der ›Soziologie des Fremden‹.170 Auch wenn ›der Migrant‹ häufig als Prototyp
168 Josef Strasser, Kulturelle Stereotype und ihre Bedeutung für das Verstehen in Schule und Unterricht. In: Werner Wiater/Doris Manschke (Hrsg.), Kultur und Verstehen. Mentale Modelle und kulturelle Prägungen. (Wiesbaden 20012), 191-215; 196. 169 Vgl. dazu z.B. Zuser 1996 (Anm. 160), 5. 170 Zur Forschungsgeschichte der ›Frage der Fremdheit‹ in der Migrationssoziologie vgl. Breckner 2009, 65 f. Vgl. auch Julia Reuter, Perspektiven in der Soziologie des Fremden. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 37/1 (2011), 151-171; 155; Ulrich
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des Fremden behandelt wird171, reicht diese Thematik aber natürlich weit über mit der Migrationsforschung verbundene Fragestellungen hinaus.172 Die Frage, was bzw. wer ein Fremder ist, und wie das Konzept Fremdheit verstanden, konstruiert und konzipiert werden kann, wird in dem umfangreichen wissenschaftlichen Diskurs aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beantwortet: »Einmal ist es der Mensch selbst, der die Erfahrung des Fremdseins verspürt (Park und Schütz), dann ist es die Gruppe, die seine Fremdheit problematisiert (Simmel). Bereits die unterschiedlichen Perspektiven, von denen aus Fremdheit in den Blick gerät, machen es schwierig, von einer einheitlichen Soziologie des Fremden zu sprechen.«173
Im Sinne der induktiven Herangehensweise der vorliegenden Studie ist an dieser Stelle daher zunächst die Frage relevant, was Fremdheit für die hier interviewten Migrant_innen selbst bedeutet, also ob, bzw. wann und warum, sie sich als Fremde fühlen und beschreiben, bzw. in welchem Kontext sie Fremdheitserfahrungen thematisieren. In Anlehnung an Hans-Jürgen Lüsebrink gilt es zu fragen »wie Menschen zu Fremden gemacht werden; d.h. welche Differenzen relevant gesetzt werden, um die Kategorie des Fremden zu konstruieren, und wie Grenzziehungen zischen dem Eigenen und Fremden artikuliert werden«174. Bielefeld, Gibt es eine Soziologie des Fremden? Soziologische Revue 27 (2004), 395406. 171 »Stimmt die Unterscheidung vertraut/fremd, so ergibt sich, dass als fremd diejenigen zu bezeichnen sind, die auf der Außenseite der Unterscheidung stehen – und das sind in der Moderne ausdrücklich und in erster Linie die Nicht-Bürger, also: der Ausländer, der mit der Befriedung der meisten Teile Europas nicht mehr automatisch der Feind ist, an dessen Fremdheit aber kaum gezweifelt wird.« Nassehi 1997, 150; Für Georg Simmel wiederum ist – um dieses ›obligatorische‹ Zitat auch in dieser Arbeit nicht außen vor zu lassen – ein Fremder »ein Wanderer der heute kommt und morgen bleibt« Georg Simmel, Exkurs über den Fremden. In: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. (Berlin 1908), 509-512; 509. 172 Boris Holzer beispielsweise beschreibt ›Fremdheit‹ als generelles Phänomen der Postmoderne. Boris Holzer, Fremde, Touristen, Transmigranten. Lokaler Status und globale Rollen in der Weltgesellschaft. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. (Frankfurt am Main 2006), 4443-4450. 173 Reuter 2011 (Anm. 170), 156. Vgl. auch Hahn 1997. Zu dem ›klassischen Theorien‹ vgl. Simmel 1908 (Anm. 171); Schütz 1972; Robert E. Park, The marginal man. In: American Journal of Sociology 33 (1928), 881-893. 174 Lüsebrink 2012, 141.
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Jene Erzählsequenzen die – explizit oder implizit – auf eine Fremdheitserfahrung verweisen, zeigen, dass Fremdheit von den jeweiligen Interviewpartner_innen auf sehr unterschiedliche und fallspezifische Weise gedeutet und in sehr verschiedenen Kontexten thematisiert wird. Die Kategorie des Fremden wird demnach von den Akteur_innen auf sehr vielfältige und individuelle Weise konstruiert. Das wiederum bedeutet, dass nicht ein theoretisches Fremdheitskonzept für diese Studie ›passend‹ und damit durchgehend von Relevanz sein kann. Vielmehr lassen sich die unterschiedlichen Deutungen der Gesprächspartner_innen mit unterschiedlichen theoretischen Zugängen erklären und erläutern. Dennoch haben diese etwas gemeinsam: Fremdheit kann und soll hier nicht als ein über längere Zeit gleichbleibender Zustand, sondern als eine veränderliche Relation des Akteurs/der Akteurin gegenüber bestimmten anderen Personen oder Verhältnissen verstanden werden. Gefühle der Fremdheit sind den Akteur_innen auch nicht ständig präsent, und sie erfassen nicht alle Lebensbereiche, sondern bestimmte Konstellationen und Begegnungen. Des Weiteren sind derartige Erfahrungen in engem Zusammenhang mit Lern- und Integrationsprozessen sowie der jeweiligen Migrationsphase zu sehen. Einer der wissenstheoretischen Zugänge zum Verständnis von Fremdheit ist es, Fremdheit anhand der Differenz von Unvertrautem und Vertrautem zu konzipieren.175 Armin Nassehi, der sich intensiv mit dem Thema Fremdheit auseinandergesetzt hat, beschreibt diesen Zugang folgendermaßen: »Indem soziale Prozesse Unterscheidungen generieren – und jede Form der Kommunikation, des Handelns und Verhaltens beginnt mit einer Unterscheidung –, erzeugen sie zugleich einen Bereich des Vertrauten, der sich von Unvertrautem unterscheidet. [...] Grundlegend ist die Unterscheidung also deshalb, weil notwendigerweise durch soziale Prozesse ›lebensweltliche‹ Vertrautheiten entstehen, von denen sich ein amorpher, unbekannter Raum des Unbestimmten abhebt. [...] Phänomenologisch formuliert: Welt als unbestimmter Letzthorizont muss mit Bestimmungen versorgt werden, um vertraute Lebenswelten entstehen zu lassen. Entscheidend ist aber, dass sowohl das Vertraute als auch das Unvertraute sozial erzeugt werden. Daraus resultiert: Wer das Fremde als Fremdes verstehen will, muss nach den Bedingungen fragen, unter denen gesellschaftliche Strukturen und Prozesse als vertraut gelten.«176
In diesem Kontext weist Alois Hahn auf den meines Erachtens wesentlichen Punkt hin, dass im Grunde jeder Mensch dem Anderen ›fremd‹ ist, da ein völliges Fremdverstehen schlicht nicht möglich ist.177 Fremdheit ist, derart verstanden, demnach keineswegs ein Phänomen, das ausschließlich, oder auch nur in erster Linie, 175 Vgl. Nassehi 1997; Breckner 2009, 98 ff. 176 Nassehi 1997, 142 f. 177 Hahn 1997, 135 ff.
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Migrant_innen betrifft. »Fremd erscheint uns im Alltag das Unvertraute, also das, was unseren bislang unbezweifelten Annahmen über die Welt, über das Normale und Richtige, das Schöne, das Wohlschmeckende Alternativen entgegenstellt.«178 Im Kontext der vorliegenden Untersuchung sind aber naturgemäß vorwiegend Fremdheitserfahrungen relevant, die durch den Prozess der Migration bedingt sind, bzw. von den Gesprächspartner_innen als derart bedingt gedeutet werden. In diesem Zusammenhang ist das Spannungsfeld ›fremd/anders vs. vertraut‹ für die hier interviewten Migrant_innen von großer Bedeutung, kann jedoch sehr unterschiedliche Bereiche des Alltagslebens umfassen. Im Detail wurde derartiges bereits in einzelnen Kapiteln diskutiert, bzw. wird im in Folge noch im Detail ausgeführt werden, weshalb an dieser Stelle lediglich eine zusammenfassende Übersicht unter dem Gesichtspunkt der Fremdheit gegeben werden soll. Zunächst ist die (noch) fremde Sprache ein elementarer Fall von Unvertrautem. Migrant_innen aus Skandinavien und Spanien werden, vor allem in der ersten Phase ihrer Migration, allein aufgrund der Notwendigkeit, Deutsch zu lernen und zu sprechen, immer wieder mit ihrer anfänglichen Fremdheit konfrontiert. Ähnliches gilt aber auch für Migrant_innen aus Deutschland, die sich durch ihr ›deutsches Deutsch‹ von jenen, die ›österreichisches Deutsch‹ sprechen, unterscheiden. Aber nicht allein die Sprache, sondern auch differenzierende Formen der non- und paraverbalen Kommunikation machen Migrant_innen ihr Anderssein immer wieder bewusst und resultieren vielfach in Gefühlen der Fremdheit. (Siehe Kap. 4.1) Außerdem sind oftmals Alternativen, die als ›kulturelle Unterschiede‹ beschrieben werden können, respeltive von den Gesprächspartner_innen als solche gedeutet werden, die zu einem Gefühl der Fremdheit in Sinne der Dichotomie ›fremd vs. vertraut‹ führen.179 Jörg Bergmann beschreibt dies treffend: »Implizites Wissen, Hintergrunderwartungen und geteilte Präsuppositionen sorgen dafür, dass die Mitglieder einer Kultur eine gemeinsame Weltsicht haben, – oder zumindest von der Fiktion einer gemeinsamen Weltsicht ausgehen, denn deren faktische Existenz wird von ihnen kaum überprüft, sie ist ihnen eben eine Selbstverständlichkeit.«180
178 Bergmann 2001, 36 f. 179 In Anlehnung an Karl Mannheim kann dies auch mit dem Konzept der ›konjunktiven Erfahrungsräume‹ beschrieben bzw. erklärt werden. Vgl. Kapitel 3.1; Karl Mannheim, Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit. (Konjunktives und kommunikatives Denken). In: David Kettler, David/Volker Meja/Nico Stehr (Hrsg.), Karl Mannheim. Strukturen des Denkens. (Frankfurt am Main 19802), 155-322; 271 ff.; Bohnsack/Nohl 2001, 16 f. 180 Bergmann 2001, 39.
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Konkret sind es Verhaltens- und Handlungsmuster, Umgangsformen, Denkmuster sowie Werte und Normen, welche sich von im Herkunftsland gebräuchlichen und daher den Migrant_innen vertrauten und selbstverständlichen unterscheiden, die das Gefühl des Fremdseins evozieren. Somit steht Fremdheit auch in unmittelbarem Zusammenhang mit Integration und den damit verbundenen Lernprozessen, wie etwa dem Erlangen von Verhaltenssicherheit, dem sich »Anpassen« und »Gewöhnen« oder auch dem »Akzeptieren von Dingen, die man nicht ändern kann«.181 (Siehe Kap. 5.2) Zu den als am stärksten belastenden Fremdheitserfahrungen zählen hier beispielsweise differenzierende Erwartungshaltungen, Deutungsmuster und Werte im Hinblick auf geschlechtsspezifische Rollenbilder, vor allem in Verbindung mit den Gefühl, diesbezüglich nicht verstanden oder akzeptiert zu werden. Alternativ zur Dichotomie ›fremd vs. vertraut‹ wird in der sozialwissenschaftlichen Theorie Fremdheit häufig auch im Kontext von Identität, d.h. als Negation von Zugehörigkeit, konzipiert. (Siehe auch das Kap. 7.1) Alois Hahn beispielsweise geht von historisch wandelbaren Formen »von sozial verbindlichen Selbstbeschreibungen«182 aus und versteht unter Fremdheit die Nichtzugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wie einer Familie, einem Dorf oder auch einer national-kulturellen Gemeinschaft. Für ihn sind »alle Definitionen von Fremdheit implizit oder explizit die Kehrseite von Identitätsbestimmungen. Fremdheit ist – so könnte man vielleicht formulieren – die andere Seite des Selbst«183. Aber auch für diesen Aspekt von Fremdheit gilt, dass Fremdheit nicht als statisch und dauerhaft betrachtet werden kann. »Fremdheit ist keine Eigenschaft, auch kein objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen, sondern die Definition einer Beziehung. Wenn man so will, handelt es sich bei der Entscheidung, Andere als Fremde einzustufen, stets um eine Zuschreibung, die oft auch anders hätte ausfallen können. Es gibt in diesem Zusammenhang keine Automatismen, sondern nur ›Bedeutungsinvestitionen‹«184, wie Hahn dazu bemerkt. 181 Natürlich ist in diesem Kontext auch das Konzept des Fremden nach Alfred Schütz von Interesse. Allerdings muss an dieser Stelle der Kritik an seiner Konzeption zugestimmt werden, die von dem Ziel bzw. der Möglichkeit einer vollständigen Assimilation ausgeht. Wie sich zeigt, trifft dieses Ziel auf keine/n der Gesprächspartner_innen zu. Auch die implizite Annahme von Schütz, Zivilisations- und Kulturmuster ließen sich klar voneinander abgrenzen, muss für diese Untersuchung zurückgewiesen werden. Schütz 1972. Vgl. auch Breckner 2009, 67 ff. 182 Hahn 1997, 115. 183 Hahn 1997, 115. Vgl. auch Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Bd. 1 (Frankfurt am Main 1997), 16-65; bes. 20. 184 Hahn 1997, 134.
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Eine solche Sichtweise stellt Fremdheit in einen engen Zusammenhang mit Exklusion. Diese kann durch die bereits angesprochenen Aspekte wie Fremdsprache, Kommunikationsformen, ›kulturelle Unterschiede‹ oder soziale Integration begründet sein. Auf gesellschaftlich-struktureller Ebene werden von den Interviewpartner_innen in diesem Zusammengang etwa das nicht gewährte Wahlrecht oder Probleme mit der Anerkennung von universitären Abschlüssen thematisiert. Aber auch das in den Erzählungen mehrfach beschriebene Gefühl der Isolation, also der mangelnden sozialen Integration, kann als Erlebnis von Fremdheit gedeutet werden. (Siehe Kap. 4.1 und 5.2) Des Weiteren kann ein Gefühl der Fremdheit auch durch die Deutung, nicht akzeptiert, nicht ›angenommen‹ zu werden, evoziert werden.185 Derartige Situationen werden jedoch von den hier untersuchten Migrant_innen nur in einigen wenigen Fällen geschildert. Wie eben im obigen Abschnitt beschrieben, haben sie als überwiegend ›willkommene Fremde‹ kaum mit negativen Stereotypen oder herkunftsbedingter Ablehnung zu kämpfen. Auch wenn die Konzeption dieser Studie natürlich keine quantitativen Rückschlüsse zulässt, so fällt doch auf, dass eine aus gefühlter Nicht-Zugehörigkeit resultierende Fremdheit in den vorliegenden Erzählungen weitaus weniger häufig thematisiert wird, als eine durch Konfrontation mit Unbekanntem und Unvertrautem bedingte Fremdheit. Es sind also mithin die Differenzen zwischen Vertrautem und Unvertrautem, die primär für die Konstruktion von Fremdheit relevant gesetzt werden. Hinsichtlich der Frage, wie die »Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und Fremden artikuliert«186 werden, kann in den vorliegenden Erzählungen zwischen expliziter und implizierter Artikulation unterschieden werden. Allerdings kann, auch wenn in den vorliegenden Interviewtexten ein ›Anderssein‹ beschrieben und thematisiert wird, in vielen Fällen nicht ›eindeutig‹ rekonstruiert werden, inwieweit und in welchem Ausmaß damit auch ein negativ konnotiertes Gefühl der Fremdheit verbunden ist. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Fremdheitsgefühle nicht dennoch, in welchem Ausmaß auch immer, empfunden wurden und werden. Aber eine derartige Interpretation würde eine valide Analyse im Sinne der qualitativen Sozialforschung in einigen Fällen überstrapazieren. Es zeigte sich aber, dass es vor allem ein Deutungsmuster und einen Kontext gibt, das/der häufig auch als latente Sinnstruktur rekonstruierbare Gefühle von Fremdheit für einen Teil der Gesprächspartner_innen evoziert. Bevor ich darauf im Detail eingehe, soll zunächst aber expliziert thematisierte Fremdheit diskutiert werden.
185 Vgl. dazu auch Bergmann 2001, 40. 186 Lüsebrink 2012, 141.
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4.6.1 Explizit thematisierte Fremdheit Nur sehr wenige Gesprächspartner_innen sprechen explizit von ›Fremdheit‹ oder davon, sich ›fremd‹ zu fühlen, und wenn sie es tun, dann in sehr unterschiedlichen Kontexten und Deutungen. Der aus Norwegen stammende Erik beispielsweise spricht im Zusammenhang seiner Schwierigkeiten, sich in den universitären Strukturen und Abläufen in Wien zurechtzufinden, davon, dass dies für ihn »eine fremde Welt« gewesen sei. »Hier war es eine vollkommen fremde Welt. Und da merkt man doch, dass es ein Hindernis ist, wenn man nicht vertraut ist mit dem Umgang.«
Was ihm fehlte, waren in erster Linie Informationen und Wissen. Seine Fremdheitserfahrung, die er auch explizit als solche benennt, kann in diesem Fall auf der Ebene der strukturellen Integration verortet werden. (Siehe Kap. 5) Tilde aus Dänemark wiederum deutet Fremdheit entlang der Dichotomie fremd/vertraut. Sie betont, dass ihr Österreich »nicht fremd«, sondern bereits »vertraut« gewesen sei, da sie hier Familie hatte und schon als Kind immer wieder ihren Urlaub in Österreich verbrachte. Ähnlich verwendet auch Tobias, der ebenfalls aus Dänemark stammt, diesen Terminus, indem er seine Erfahrungen in Wien mit seinem Leben in New York vergleicht. Ihm erscheint Österreich bzw. Wien, Dänemark sehr viel ähnlicher und damit vertrauter als New York. »Aber ich bin ja in Dänemark aufgewachsen, so war Wien mir nicht so fremd.«
Die Dänin Caroline wiederum spricht des Öfteren, und auch in unterschiedlichen Kontexten, explizit von »Fremdheit«. »Also ich war schon Fremde und es war sehr viel fremd damals. Also Wien war ja noch grau und nachkriegsähnlich damals. Es hat nur eine Autobahn gegeben, die Westautobahn, das erste Stück. Wir habe in Mödling gewohnt und das war ja damals keine Vorstadt, es war am Land.«
Hier erzählt sie über ihre Ankunft in Wien im Jahr 1971 und beschreibt ein Gefühl der Fremdheit, das auch aus dem Kontrast hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung (und deren Manifestationen) zwischen Dänemark und Österreich resultiert. Ein Thema, das wie sich gleich noch zeigen wird, immer wieder in den Erzählungen aufgeworfen wird.
242 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Naja, ich fühl mich heimisch aber doch ab und zu sehr fremd. Ein Problem ist natürlich, dass wir zum Beispiel nicht wählen dürfen.«
In der zitierten Passage deutet Caroline Fremdheit auch im Sinne von Exklusion, die mit dem nicht gegebenen Wahlrecht einhergeht. Ihre Fremdheit spürt sie aber auch in anderen Kontexten: »Aber im täglichen Leben fühle ich mich ganz gut in Österreich, ja. Es gibt halt Probleme mit Behörden. Also Probleme würde ich nicht sagen, aber da spüre ich, dass ich Fremde bin.«
Hier kann »Fremde« als Synonym für »Ausländerin« gelesen werden, wobei nicht deutlich wird, ob dies sich auf das Verhalten der Beamten ihr gegenüber bezieht, oder auf die Tatsache, dass sie mit hiesigen bürokratischen Abläufen nicht vertraut ist. Des Weiteren schildert Caroline eine konkrete Situation, in welcher sie sich ebenfalls »sehr fremd fühlte«. »Als wir eingezogen sind da in Mödling, im Reihenhaus, ist die Nachbarin gekommen. Ich war damals, ich hab damals drei kleine Kinder gehabt und ich war sehr schwanger. Und sie is reingekommen und hat gesagt, ›Ja, ich muss um eines bitten. Und das ist, dass sie nach acht Uhr Abends nicht die Toilette benutzen.‹ ((Lachen)) Ich habe gesagt, ›Naja, sie sehen ja, das wird schwierig.‹ ›Ja, mein Mann war in Kriegsgefangenschaft in Russland und er möchte nicht nach acht Uhr abends gestört werden.‹ Und da hab ich mich sehr fremd gefühlt. ((Lachen)) Also damals war Kinderfeindlichkeit wirklich schlimm.«
Das Thema Kinderfeindlichkeit, für Caroline als Mutter von vier Kindern ein sehr bedeutsames Thema, führt sie in ihrer Erzählung sehr detailliert aus. Dieser ›kulturelle Unterschied‹, bzw. dieser Unterschied in Verhaltens-, aber vor allem auch Deutungsmustern, Werten und Normen, evoziert in Caroline ein Gefühl der Fremdheit; Fremdheit, weil sie andere Werte vertritt, vor allem aber auch weil ihre Werte (verbunden mit ihrer Mutterschaft und mit ihren Kindern) hier nicht auf eine Art und Weise behandelt und respektiert werden, wie sie es sich erwartet und wünscht. Fremdheit ist an dieser Stelle also nicht allein durch eine ›Andersartigkeit‹ bedingt, sondern vor allem auch durch das (als solches empfundene) Erlebnis der Ablehnung, des Nicht-Willkommenseins und Nicht-Verstandenwerdens. Auch die Spanierin Olivia spricht konkret von Fremdheit: »Ich lebe ganz normal, ich glaube, als wäre ich eine ganz normale Österreicherin. Ich werde nicht anders behandelt. Ich reagiere auch nicht anders als / Ja, ganz normal. Also ich fühl mich zuhause hier, ich fühl mich nicht als wäre ich fremd. Ich fühl mich ganz gut, ja.«
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Olivia deutet Fremdheit demnach als Kontrast zu dem »sich zuhause fühlen« und »gut fühlen«. Sie thematisiert in dieser Sequenz außerdem zwei unterschiedliche Ebenen, auf welchen Fremdheit konstruiert werden kann: eine ›interne‹, die durch das eigene Verhalten bedingt ist, sowie eine ›externe‹, die aus dem Verhalten und der Reaktion anderer resultiert. Olivia wird weder von andern zu einer Fremden ›gemacht‹, noch fühlt sie sich durch ihre eigenen Handlungsmuster fremd. Sara wiederum beschreibt eine ›Fremdheitserfahrung‹ im Kontext ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland Finnland: »Aber ich hab mich eigentlich immer ganz gut anpassen können. ((Lachen)) Und es war in die andere Richtung eher dann schwierig. Mittlerweile, nach zwanzig Jahren, lernt man damit zu leben, aber es war damals halt dann als junges Mädchen schon schwer. Na, ja es war einfach dieses plötzlich wieder nur Finnisch zu hören. Und irgendwie dieses Vertraute, das aber trotzdem schon ein bissl fremd geworden is, dadurch, dass man dann doch neue Erfahrungen macht. Und dann plötzlich wieder zurück is in der Kindheit oder in der Jugend oder halt in der Umgebung. Ja ich kann gar nicht sagen warum, aber es war jedes Mal dieser Schock, wo man plötzlich dort war und dann plötzlich hat man überall wieder Finnisch gehört. Und dann irgendwie die finnischen Eigenarten, die dann irgendwie von der Distanz, man sieht dann vielleicht auch die Heimat auch kritisch oder anders einfach. Und das, das war halt damals, kann ich mich erinnern, also es war am Anfang schon schwierig.«
Was Sara hier beschreibt, ist ein zweifacher Lernprozess; zum einen der Lernprozess des ›Sich Anpassens‹ in Österreich, also ihrer Integration, die wiederum mit einer kritischen Reflexion der Herkunftskultur verbunden ist. Zu dieser ›Entfremdung‹ von dem Herkunftsland trägt zudem wohl auch bei, dass nunmehr der Alltag und tägliche Routinen von der Gesellschaft des Aufnahmelandes bestimmt werden, und sie sich daran zunehmend »gewöhnt«. (Siehe Kap. 3.4 und 5.2) Zum anderen spricht Sara den Lernprozess an, mit dem Gefühl der Fremdheit in der ›Heimat‹ leben und umgehen zu müssen. Vergleichbares wird auch in anderen Erzählungen thematisiert und verdeutlicht damit einen weiteren wesentlichen Aspekt der Thematik der Fremdheit im Kontext von Migration: Fremdheit kann nicht allein im Aufnahmeland zu einem Problem oder einer Herausforderung werden, sondern ebenso, diachron dazu, im Herkunftsland. (Siehe auch Kap. 7)
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4.6.2 Fremdheitserfahrungen im Zeitverlauf Zusätzlich zu dem eben Beschriebenen zeigt sich, dass für das Thema der Fremdheitserfahrungen auch die historische Tiefe dieser Studie relevant ist. Für den Untersuchungszeitraum werden auch für die migrierende Generation und für das Herkunftsland spezifische Erfahrungen beschrieben. Interviewpartner_innen aus Skandinavien, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Österreich migrierten, beschreiben Fremdheitserfahrungen, die aus dem Kontrast der ökonomischen und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland resultierten. Auch wenn derartige Erfahrungen in unterschiedlichen Situationen und Zusammenhängen geschildert werden, kann für sie ein und dasselbe Deutungsmuster rekonstruiert werden. Immer wieder wird Österreich in diesem Zusammenhang als ›altmodisch‹, ›rückständig‹ und gewissermaßen ›hinten nach‹ wahrgenommen und beschrieben. Tatsächlich war die ökonomische Situation der skandinavischen Länder und Österreich in den 1960er, aber auch noch in den 1970er Jahren sehr unterschiedlich.187 Zwar stand Skandinavien in den 1950er Jahren vor ähnlichen ökonomischen Problemen wie der Rest Europas,188 im Vergleich zu zahlreichen anderen (west-) europäischen Ländern waren diese jedoch weitaus weniger schwerwiegend. Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und Rohmaterialen war weitgehend gesichert und die Infrastruktur Großteiles intakt.189 Die aus Dänemark stammende Tilde erlebte als Kind in den 1940er und frühen 1950er Jahren das tatsächliche Nachkriegsösterreich190 (und Deutschland), als sie hier die Herkunftsfamilie ihrer Mutter besuchte.
187 Zur Wirtschaftsgeschichte Österreichs nach 1945 vgl. z.B. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005. (Wien 2005), 99 ff. 188 Grob lassen sich für die ökonomische Geschichte Westeuropas von 1945 bis in die 1970er Jahre drei Phasen unterscheiden: 1945-1950 Nachkriegszeit und Wiederaufbau; 1950-1970 Wirtschaftlicher Aufschwung, Vollbeschäftigung; 1973 Ölkrise, beginnende Rezession. Vgl. Hilson 2008, 59. 189 Vgl. z.B. Hilson 2008, 61 ff.; Hans Christian Johansen, The Danish economy in the twentieth century. (New York 1987); Ingrid Henriksen, An economic history of Denmark. (2006). Online unter: www.eh.net/encyclopedia/an-economic-history-of-denmark (9.10.2018); Torben M. Andersen, The Danish economy. An international perspective. (Kopenhagen 2001). 190 Zu Wien während der Nachkriegszeit vgl. auch Ela Hornung/Margit Sturm, Stadtleben. Alltag in Wien 1945 bis 1955. In: Sieder/Steinert/Tálos 1996, 54-68; bes. 57 ff.
Alltagswelten | 245 »Das was sehr anders war für mich als Kind, da muss man sich vorstellen. Wenn ich 42 geboren bin, wie ärmlich alles war. Wie ich da durch Deutschland gefahren bin, durch die Stadt Hamburg und so. Und diese Häuser waren ja total zertrümmert, diese Wände wo ein Klo in der Luft hängt und es steht alles so herum. Und arme Kinder, nach den Stationen sind bettelnde Kinder neben dem rollenden Zug gelaufen. Das hab ich ganz schrecklich gefunden. Dass man irgendwas ihnen rauswerfen soll, ein Brot oder ein Geld oder irgendwas. Das sind so Eindrücke, die viel stärker hängengeblieben sind.«
Aber nicht nur die offensichtlichen Kriegsschäden an Gebäuden und die Scharen bettelnder Kinder in Deutschland erschreckten die junge Tilde zutiefst. Auch der Kontakt mit Verwandten und Bekannten in Österreich hinterließ prägende Eindrücke. »Und auch die Dankbarkeit, weil mit dem einen Verdienst, den mein Vater in Dänemark hatte, haben wir ja immer wieder Pakete geschickt. Und wir haben auch, wenn wir nach Österreich fuhren, Käse mitgehabt. Solche Stücke, ((Gestik, groß)) und also solche Pakete. Und dass die Leute geweint haben, wenn sie einen Käse bekommen haben. Das vergisst ein Kind nicht. Man weint ja nicht, wenn man Käse bekommt und so. Da hab ich viel mehr gespürt, als ich=s eigentlich begriffen hab, was da los is. Hab ich gespürt, dass das für sie unglaublich is. Und dass wir alles haben, dass wir uns satt essen können. Ganz einfache Dinge, aber wir haben immer alles was wir brauchen. Milch, Käse, bisschen Fleisch viel Gemüse, viel Fisch. Also man denkt gar nicht dran, dass das was Besonders is. Und dann kommt man in ein Land wo die weinen, wenn sie Käse bekommen. Das war für mich schon sehr erschütternd.«
Während Tilde aus Dänemark bescheidenen Wohlstand gewohnt war, war sie in Österreich mit für sie bislang unbekannter Mangel, Armut und Not konfrontiert.191 Wie sie selbst reflektiert, konnte sie als Kind die Zusammenhänge und Gründe nicht begreifen, war aber auf einer empathisch-emotionalen Ebene zutiefst betroffen von der Dankbarkeit, die man hier für ihr selbstverständlich erscheinende Dinge empfand. Vor allem die Aussage »Also man denkt gar nicht dran, dass das was besonders is, und dann kommt man in ein Land wo die weinen, wenn sie Käse be191 Wien war von Juli 1946 bis Juni 1947 zu etwa 80 % auf Ernährungshilfe aus dem Ausland angewiesen. Vor allem Milchprodukte, Fleisch und Wurst waren Mangelware. Ab 1948 besserte sich die Versorgungslage, auch bedingt durch die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Marshallplanes. Erst ab dem Jahr 1953 kann aber von einer Stabilisierung der Nahrungsmittelversorgung in Österreich gesprochen werden. Aber, »obwohl nun die Phase der ärgsten Not überstanden war, wäre es gefehlt, von einer guten Ernährungslage, geschweige denn von allgemeinem Wohlstand zu sprechen« Eder 2003, 220; 212 ff.
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kommen«192 illustriert sehr eindrucksvoll sowohl den Kontrast zwischen Österreich und Dänemark als auch ihre Fremdheitserfahrung. »Und ich muss sagen, die ganz frühen Erinnerungen von Österreich sind stärker für mich, die mit sechs oder acht Jahren oder zehn Jahren sind stärker für mich, oder fremder. Als die Erinnerungen, die dann kamen als ich 19, 20, 21 war und hier geheiratet habe. Das war dann alles, ja, das war mir vertraut.«
Es scheint intersubjektiv verständlich und nachvollziehbar, dass für Tilde diese Kindheitserfahrungen eindrücklicher waren als jene, die sie später als junge Erwachsene machte, als sie schließlich Anfang der 1960er Jahre nach Österreich migrierte. Zu diesem Zeitpunkt war die schlimmste Not in Österreich überstanden, der Kontrast also nicht mehr derart groß. Zudem war ihr auch das Land selbst (Geographie, Sprache, ihre Verwandten) durch ihre Kindheitsbesuche bereits ›vertraut‹. Für die ebenfalls aus Dänemark stammende Maja hingegen war auch in den frühen 1960er Jahren die Armut in Österreich ein für sie großer und auffallender Kontrast zu ihrem Herkunftsland. »Es war so arm, weil die Österreicher auch arm waren, im Vergleich zu Dänemark damals. Die Leute haben in die Mistkübeln gestöbert und haben da Gemüse und Essensreste und so was gesammelt. Aber ich bin ein positiver Mensch und ich hab gesagt, das kann nur besser werden.«
In dieser Erzählsequenz, die sich auf das Jahr 1961 bezieht, wird zum einen Majas Gefühl der ›Fremdheit‹ deutlich. Sie erlebt hier Lebensumstände, die ihr aus ihrem Herkunftsland völlig unbekannt sind. Zum anderen verweist sie auf ihre persönliche Handlungs- und Lösungsstrategie, die ihre gesamte Erzählung durchzieht, nämlich »positiv sein und die Dinge gelassen annehmen«. Caroline wiederum kannte das Österreich der 1960er Jahre nicht, beschreibt jedoch den Kontrast zwischen Österreich und Dänemark auch in den frühen 1970er Jahren als immer noch enorm. 193 Auch sie nahm Österreich als arm und ›nachkriegszeitlich‹ wahr.
192 Zu einer Übersicht des Pro-Kopf-Nahrungsmittelverbrauches Wiener Arbeiterhaushalte 1950-1990 vgl. Eder 2003, 259; 262. 1950 waren dies etwa 3,7 kg Topfen (Quark) und Käse, 1965 bereits 7,4 kg und 1990 schließlich 8 kg. 193 Zur ökonomischen Situation in Skandinavien in dem »Golden Age« 1950 bis 1970 vgl. auch Hilson 2008, 65 ff. Zum Wiederaufbau in Wien vgl. auch Csendes/Opll 2006, 568 ff.
Alltagswelten | 247 »Also es war schon Nachkriegszeit in Österreich in die 70er Jahre. Also ich hab immer das Gefühl gehabt, dass ich so gerade nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien komme. Wir haben in USA gewohnt damals, und mein Mann hat von irgendeine Konferenz, wo er war, angerufen und gesagt ›Wie wäre es nach Wien zu gehen?‹. Und ich habe gesagt, Wienerwald, blaue Donau, was weiß ich. ((Lachen)) Ich hab mir da was sehr Romantisches, Schönes vorgestellt. Und dann sind wir hier gelandet am Muttertag. Und damals gab es nur eine Einfahrt vom Flughafen, via Zentralfriedhof. Und ich hab mir gedacht, das gibt=s nicht, so viele Leute gehen da auf den Friedhof. Und Wien war Grau in Grau in Grau. Teilweise noch zerstört, ganz besonders diese Route vom Flughafen hinein war sehr schlimm.«
Für Caroline war das nach ihrer Deutung, »nachkriegsähnliche« Österreich demnach eine Enttäuschung. Ihre Erwartungen und Vorstellungen speisten sich aus stereotypen nationalen Symbolen wie dem Wienerwald und der blauen Donau. Anstelle von Schönheit und Romantik fand sie sich jedoch in einer grauen, immer noch von Kriegsschäden und Verlusten gezeichneten Stadt wieder. Dieses wenig freundliche, unschöne und für sie enttäuschende Umfeld führte auch dazu, dass sie sich in den ersten Jahren immer wieder sehr fremd fühlte. Auf den ersten Blick scheint Carolines Beschreibung jedoch etwas im Widerspruch zu den wirtschaftsgeschichtlichen Fakten zu stehen. Da (auch) Österreich in Laufe der 1960er und 1970er Jahre einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erfuhr194, war man hier in Sachen Wiederaufbau, vor allem im Vergleich zur tatsächlichen Nachkriegszeit, bereits einen großen Schritt vorwärts gegangen. Ihre Aussage, dass es nur eine Autobahn gegeben habe, ist zudem nicht ganz korrekt. Bereits in den 1960er Jahren wurde das Straßennetz erheblich ausgebaut, darunter auch die West- und die Nordautobahn.195 Allerdings gilt es in diesem Kontext zu bedenken, dass Caroline Österreich in den 1950er und 1960er Jahren nicht erlebt hatte. Hinzu kommt, dass sie, bevor sie nach Österreich migrierte, einige Jahre in New York gelebt hatte, was diese Stadt wohl zu ihrem primären Vergleichshorizont machte. 194 Vgl. auch Csendes/Opll 2006, bes. 677; Stephan Schulmeister, Anmerkungen zu Wirtschaftspolitik und Wachstumsdynamik in Österreich seit 1955. In: Gerbert Frodl/Paul Kruntorad/Manfried Rauchensteiner, Physiognomie der 2. Republik. (Wien 2005), 333365; Wifo (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung), Die österreichische Wirtschaft nach Bundesländern im Jahre 1970. Online unter: www.wifo.ac.at/bib liothek/archiv/MOBE/1971Heft05_184_195.pdf (9.10.2018). 195 Der Ausbau der Westeinfahrt von der Westautobahn ins Stadtzentrum erfolgte in den 1960er Jahren, 1964 wurde eine Nordautobahneinfahrt fertig gestellt. Vgl. dazu Peter Eigner/Andreas Resch, Die wirtschaftliche Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert. In: Franz X. Eder/Peter Eigner/Andreas Resch/Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum. (Innsbruck/Wien/München/Bozen 2003), 8-140.
248 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Und von USA, gerade von USA gekommen. Also der Unterschied war ja enorm. - Wär ich von Dänemark gekommen, wär=s vielleicht nicht so anders gewesen.«
Daraus wiederum wird Carolines Wahrnehmung, Deutung und Beschreibung von Wien bzw. Österreich verständlich und erklärbar. Auch ihre in der Erzählung spürbare Enttäuschung darüber, dass Mödling damals »Land« war, ist vermutlich im Kontext ihres vorherigen Aufenthalts in New York zu verstehen. Ein Vergleich dieser drei geschilderten Erfahrungen zeigt, dass diese nicht allein und auch nicht immer die realen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Österreich widerspiegeln. Obwohl Österreich von allen drei Däninnen als »arm« und »rückständig« wahrgenommen wird, ist dieses Deutungsmuster in jedem Fall auch ein Resultat ganz individueller Erfahrungen und Vergleichshorizonte. Tilde, deren Vergleichshorizont nicht nur Dänemark, sondern auch das Österreich der tatsächlichen Nachkriegszeit ist, fühlt sich hier bereits in den frühen 1960er Jahren nicht mehr fremd. Caroline hingegen, der neben Dänemark auch New York als primärer Vergleichshorizont dient, empfindet Wien noch in den frühen 1970er Jahren als »nachkriegszeitlich«. Aber nicht allein Armut und (vergleichsweise) ökonomische Rückständigkeit standen in starkem Kontrast zu dem von diesen Frauen aus ihrem Herkunftsland Gewohnten. Auch die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen waren deutlich andere. In diesem Kontext wird Österreich von den ›Betroffenen‹ ebenfalls als ›altmodisch‹ und ›rückständig‹ gedeutet. Frida beschreibt beispielsweise sehr eindrucksvoll die Szene ihrer allerersten Ankunft in Österreich im Jahr 1957 (Anlass ist der Besuch einer Freundin, währenddessen sie ihren späteren Ehemann kennenlernt). »Als ich nach Österreich kam, ich weiß genau was ich angehabt hab. Da hab ich Blue Jeans angehabt und eine weiße Anorak. Und ich hab lange Haare gehabt, sehr viel gelockt und ich war wirklich was ganz Besonderes. Und meine Freundin, die ich gekannt hab, die stand da am Bahnhof, die war eine Dame mit 18. Die hat Hut angehabt und Handtasche hier und so. Österreich hat ja sehr gelitten unter den Krieg. Natürlich viele, viele Jahre Rückstand hier. Das hab ich allein bei der Kleidung gesehen. Und die Jungen waren nicht Jungen, die waren also bum und dann waren sie erwachsen. Nicht? Und so waren die Kleider auch. Aber das ist nicht mehr so. Hier ich sehe keine Unterschied.«
Frida führt ihre ›Andersartigkeit‹ in dieser Sequenz auf ihre Herkunft und die anderen zeitgeschichtlichen und sozio-kulturellen Bedingungen in ihrem Herkunftsland zurück. Explizit manifestiert wird ihre eigene ›Besonderheit‹ in dieser Szene durch ihr Äußeres, in erster Linie durch ihren Kleidungsstil, aber auch ihre langen, blonden Haare. Zugleich ist diese Erfahrung von ›Andersartigkeit‹ für Frida positiv konnotiert. Ihre Aussage »etwas ganz Besonderes« gewesen zu sein, lässt vermuten,
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dass ihr von Seiten der Österreicher_innen, zumindest mit einem gewissen Grad an Bewunderung, keinesfalls aber mit Ablehnung oder Unverständnis begegnet wurde. Implizit steht hinter der rein äußerlichen Manifestation ihrer ›Andersartigkeit‹ aber wohl auch eine andere Konsumpraxis junger Wiener Frauen, die sich an der Differenz zu einer »damenhaft« gekleideten Freundin exemplifiziert: Diese Freundin pflegt offenbar keinen jugendkulturellen Stil, sondern kleidet sich als junge, bürgerliche, erwachsene Frau. Die Ursachen dafür sind aus der Erzählung nicht zu erkennen; sie liegen möglicherweise auch in der wirtschaftlichen Schwäche des Nachkriegswien. Fridas Selbstbild ist das einer ›modernen‹, hübschen, unbeschwerten und selbstbewussten jungen Frau, die sich traut, im Alter von 18 Jahren alleine nach Österreich zu reisen, die hier bereits durch ihren Stil (Kleidung, Frisur, Haltung) als ›Fremde‹ zu erkennen ist – und sich in dieser Rolle auch gefällt. In ihrer Reflexion und Argumentation verweist Frida auf das Fehlen einer Jugendphase196 (und damit einer stilistisch differenten Jugendkultur) im Österreich der damaligen Zeit. Ihre österreichische Freundin ist mit 18 Jahren eine »Dame«, stilisiert sich also als Erwachsene, Frida hingegen stilisiert sich mit Blue Jeans und langen Haaren als eine ›zeitgemäße‹ Jugendliche. Sozialhistorisch kann die »sozio-kulturelle Geburt«197 des Teenagers in die späten 1950er Jahre datiert werden, spätestens ab den 1960er Jahren manifestiert sich dieses Phänomen auch hier in der Herausbildung einer eigenen JugendKonsumkultur:198 »Die Jugendlichen symbolisieren ständig ihre Zugehörigkeit durch ihre Sprechweise, durch für sie charakteristische Gesten, Körperhaltung, Kleidung, Frisur und andere Artefakte.«199
196 ›Jugend‹ wird heute verstanden und definiert als »Personengruppe zwischen 13 und 18 Jahren« oder auch als »spezifische Zeitspanne der Biographie«, die jedoch stets auch ein sozio-kulturelles Konstrukt ist. Vgl. dazu Rosa Reitsamer, Jugend und Jugendkulturen. In: Sieder/Langthaler 2010, 389-411; 389; Andreas Weigl, Zur Konsumgeschichte von Kindern und Jugendlichen im 20. Jahrhundert. In: Susanne Breuss/Franz X. Eder (Hrsg.), Konsumieren in Österreich, 19. und 20. Jahrhundert. Querschnitte 21 (Wien/Innsbruck/Bozen 2006), 166-189; bes. 179 ff. 197 Vor der Kultur der Teenager bestand in Wien und anderen Städten schon in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die Jugendkultur der Halbstarken. Das Phänomen der Teenager verbreitete sich ausgehend von den USA in den 1950er Jahren zunehmend auch in Europa. Reitsamer 2010 (Anm. 196), 387 ff. 198 Vgl. z.B. Csendes/Opll 2006, 750 ff.; Kurt Luger, Die konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur von 1945 bis 1995. In: Sieder/Steinert/Tálos 1996, 497-510. Vgl. z.B. auch: Axel Schildt, Between Marx and Coca-Cola. Youth cultures in changing European societies, 1960-1980. (New York 2005). 199 Vgl. z.B. Reitsamer 2010 (Anm. 196), 397.
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Wesentlich für die Entwicklung einer eigenen Jugendkultur ist die mit dem Konzept Teenager einhergehende neue Konsumkultur, auf die Frida, durch die Bedeutung, die sie der Kleidung beimisst, referenziert. Vor allem junge Leute richteten sich auch in Österreich in den 1950er und 1960er Jahren im Hinblick auf ihren Kleidungsstil immer mehr nach internationalen Modetrends aus. Blue Jeans, für Frida ein Symbol der Differenz zu ihrer mit Hut und Handtasche damenhaften Freundin, waren auch in Österreich in den frühen 1960er Jahren »revolutionär und topmodisch.«200 Somit steht Fridas Deutung und Wahrnehmung von Österreich als ›derart rückständig‹ in Widerspruch zu den in der sozial- und kulturhistorischen Literatur beschriebenen Umständen, die die Etablierung von Jugendkonsumkulturen der ›Halbstarken‹ und der ›Teenager‹ für die 1950er Jahre belegen. Schon vor der Kultur der ›Halbstarken‹ in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre waren auch die in Wien als ›Schlurfs‹ oder in Hamburg als ›Swingboys‹ bezeichneten Jugendlichen ausgesprochen konsumorientiert und überaus modebewusst, auch wenn die Wiener Schlurfs, die aus der Arbeiterschaft kamen, ihre Konsumziele mangels ausreichender Konsumkraft in den 1930er und 1940er Jahren oft nur durch Improvisationen realisieren konnten. Es ist insofern nur bedingt richtig, die Jugend-Konsumkultur der 1950er Jahre als die historisch früheste zu bezeichnen.201 Mit Sicherheit haben die Mode-, Konsum- und Lifestyletrends zunächst im urbanen Umfeld Anklang gefunden. Frida traf jedoch während ihres hier beschriebenen ersten Besuchs auf ein bürgerliches Milieu in einer ländlichen Region in der Steiermark; ein soziales Umfeld, in dem man wohl noch vermehrt an traditionalen Werten und Normen orientiert war. Im Kontext von Bekleidung in Verbindung mit dem Deutungsmuster ›Österreich als altmodisch‹ erzählt auch Caroline, dass sie und ihr Ehemann sich in den 1970er Jahren über in Österreich übliche Kleidungssitten amüsierten: »Naja, also in die 70er Jahren haben wir immer über diesen alten Damen mit der Feder im Hut und die Loden / Ich habe Lodenmäntel / Ich kann die nicht mehr sehen. ((Lachen))«
Für Caroline sind diese alten Damen mit Hut und Lodenmantel gewissermaßen ein Symbol und Sinnbild für das ›altmodische‹, traditionale und konservative Österreich, wie sie es in den 1970er Jahren empfand.
200 Eder 2003, 235; 234 f. 201 Vgl. z.B. Reinhard Sieder/Christian Gerbel/Alexander Mejstrik, Die »Schlurfs«. Verweigerung und Opposition von Wiener Arbeiterjugendlichen im »Dritten Reich«. In: Emmerich Tálos u.a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. (Wien 2000), 523-548.
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Frida wiederum erwähnt auch im Kontext ihrer ersten Jahre als Hausfrau in Österreich von ihr als Zeichen von ›Rückständigkeit‹ gedeutete Aspekte der Konsumkultur. Sie löst das Problem durch den ›Import‹ der von ihr erwünschten Produkte. »Die haben gelacht in Dänemark, wie ich da zwei, drei Koffer da hinein in den Zug. Wie hab ich das machen können, ich weiß es nicht. Ein Koffer war voll mit Küchenrollenpapier. ((Lachen)) Ich konnte nicht, ich konnte nicht arbeiten, ohne dass ich Küchenrollen hab. Das gab damals überhaupt nicht.«
Auch Tilde, die das Österreich der 1960er Jahre als überwiegend »vertraut« beschreibt, erzählt von sozio-kulturellen Aspekten, die sie als »rückständig« deutet. Allerdings bewertet sie diese Differenzen nicht durchwegs als negativ. »Und so sind viele Dinge, die ich aus Dänemark oder aus London gekannt hab, sind auch hierhergekommen, aber alles war verspätet. Auch die schlechten Sachen mit den Drogen und mit was weiß ich. [...] In Dänemark war der freie Sex und Porno / Wenn man über die Straße gegangen is in Kopenhagen, da is man fast drübergefalln über irgendwelche schwarz-weiß Fotos von nackerten Sachen. Des is jetzt nicht mehr so, aber das war damals diese Befreiung. In dieser Form kam es nie nach Wien. Ich bin nie hier in der Kästnerstraße über Plakate mit nackten Geschlechtsteilen gestolpert. ((Lachen)) Aber es war alles so ein bissl übertrieben und kam dann auch hier her, aber gemildert, was gar nicht so schlecht war.«
Worauf Tilde hier in ironisch-humorvoller Weise anspielt, ist wohl zum einen die Tatsache, dass Dänemark und Schweden zu den Vorreitern der sexuellen Revolution in den späten 1960er Jahren zählten.202 Zum anderen legalisierten die skandinavischen Länder, vor allem Dänemark und Schweden, in den 1970er Jahren als erste Pornographie.203 Eine weitere prägende Fremdheitserfahrung, die von Caroline und Maja sehr eindrucksvoll und ausführlich beschrieben wird, ist die Geburt eines Kindes in Ös202 Vgl. z.B. www.nytimes.com/1992/03/22/weekinreview/the-world-sweden-redefines-sex ual-revolution.html (9.10.2016). Zur sogenannten ›sexuellen Revolution‹ in Österreich vgl. Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. (München 2009), 224 ff. 203 In Dänemark konnten seit 1967 pornographische Schriften legal produziert und (an Personen im Alter von über 16 Jahren) verkauft werden. Im Oktober 1969 wurden der Verkauf erotischer Abbildungen und Objekte legalisiert. Ebenfalls im Jahr 1969 fand in Kopenhagen die erste Sexmesse der Welt statt. Vgl. Eder 2009 (Anm. 202), 227 f.; Kathrine Skretting, Filmsex und Filmzensur. Die »Bettkanten«-Filme in Skandinavien 1970-1976. In: Montage 9/1 (2000), 47-62.
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terreich in den 1960er bzw. 1970er Jahren.204 Auch diese Erlebnisse werden von beiden unter dem Deutungsmuster ›Österreich als rückständig‹ reflektiert. Diese Rückständigkeit resultiert sowohl aus ökonomischen als auch aus sozio-kulturellen Rahmenbedingungen. Maja brachte ihre älteste Tochter noch in Dänemark zur Welt. »Und da war ich natürlich anders gewohnt von Dänemark. Weil das erste Kind in Dänemark geboren wurde und in Privatklinik und alles pikobello also.«
Ihre Zwillinge wurden später unter ganz anderen Umständen in Österreich geboren. Erschwerend kam hinzu, dass es Frühgeburten waren. »Das muss man auch bedenken, weil für uns war Österreich sehr, sehr arm in ʼ63. Das war eine sehr, sehr schwere Zeit, die Leute waren wirklich arm. Und auch wo ich die Zwillinge dann in ʼ65 zur Welt gebracht habe. Na sage nicht. Erstes Kind in eine Privatklinik in Dänemark, dann im Krankenhaus Mödling. Ja, das war wie in eine Waschküche. Und die Kinder waren sehr klein, 1 kg 39, 1 kg 63. Und dann sind zwei Rettungsleute gekommen und haben die Kinder genommen. Das war wie ein Mikrowellenherd und da haben sie ein Kind unten und ein Kind oben. Und dann sind die weggegangen und haben sie nach Speising gebracht. Weil die haben keinen Brutkasten in Mödling gehabt. Und dann dort drinnen, also nur einmal in der Woche hinkommen und bei ein Fenster haben sie dann Beate hingehalten und dann haben sie wieder eins geholt. Das hätte auch ein anderes sein können. Und Thomas gezeigt. Und ich sag ihnen nur. Schreibtische hatten die, das war ein Untergestell von eine alte Singernähmaschine. Das war ganz, ganz schlimm.«
Maja führt die »schlimmen« Umstände der Geburt und der ersten Lebenswochen ihrer Zwillinge in erster Linie auf die ökonomische Situation, die Armut in Österreich zurück, die auch zu einer mangelhaften Ausstattung der Krankenhäuser führte. Es fällt nicht leicht sich vorzustellen, welche Ängste die junge Frau damals um das Leben ihrer Neugeborenen ausgestanden haben muss. Dennoch lastet sie die ›Schuld‹ daran (zumindest in der narrativen Retrospektive) allein den Umständen, nicht aber Ärzten oder Krankenschwestern an. Damit unterscheidet sich ihre Deutung dieser Erfahrung klar von Carolines Erzählung: Auch sie hatte bereits drei Kinder in Dänemark geboren, bevor ihr jüngstes Kind Mitte der 1970er Jahre in Österreich zur Welt kam. »Das war ein Erlebnis! Weil das war ja so primitiv, würde ich sagen. Das Spitalswesen damals. […] Und dann habe ich halt einen Arzt aufgesucht, weil ich war sieben Monate
204 Zum österreichischen Gesundheitswesen seit der Nachkriegszeit vgl. z.B. Csendes/Opll 2006, 572 ff.
Alltagswelten | 253 schwanger glaub ich. Und das Kind war verkehrt. Das heißt Kopf nach oben. Und ich hab gesagt, ›Na was kann man tun, was ist.‹ Und er hat gesagt ›Naja, das Kind überlebt oder es überlebt nicht.‹ - Und dann is ((Lachen)) der Moment gekommen und ich bin im Spital. Also es war / Mein Mann durfte nicht dabei sein, natürlich nicht. Also da haben Männer nichts zu tun. Es war alles sehr, sehr altmodisch. Geschrien hab ich nicht, weil das war das vierte Kind, ich mein schreien nützt sowieso nichts. Aber ich hab schon ›ahmahm‹ gesagt. Und er hat gesagt ›Na schauen Sie, die Frauen, die dort liegen‹ – wir waren drei im Kreissaal – ›die sagen überhaupt nichts‹. Es war sehr, sehr altmodisch. Sehr altmodisch.«
Im Gegensatz zu Maja bezieht Caroline ihre Deutung des österreichischen Spitalwesens als »primitiv« und »altmodisch« weniger auf die Ausstattung als vielmehr auf die Einstellung und Umgangsformen der Ärzte und des Pflegepersonals. Majas Fremdheitserfahrung resultiert demnach aus dem Kontrast der verfügbaren (medizinischen) Ausstattung, während Caroline sich aufgrund der Art und Weise wie sie als werdende Mutter vom Personal behandelt wird, hier fremd fühlt. Die Differenz zu Dänemark besteht für sie beispielsweise darin, dass Väter bei der Entbindung nicht anwesend sein durften und von Gebärenden erwartet wurde, ihr Kind, im Wortsinn, ›klaglos‹ auf die Welt zu bringen. Möglicherweise ist diese Differenz der beiden Deutungen auch durch die Zeit von etwa zehn Jahren, die zwischen diesen beiden Begebenheiten liegt, zu erklären. Mitte der 1970er Jahre war die Ausstattung der österreichischen Krankenhäuser mit Sicherheit weit besser als noch um 1965, weshalb Caroline möglicherweise andere Kontraste als bedeutsamer erlebte. Wie Caroline aber auch anmerkt, haben sich die Kontraste im Gesundheitswesen mittlerweile nivelliert, bzw. ziehen viele Migrant_innen das österreichische dem dänischen sogar vor. »Das hat sich Gott sei Dank geändert, also das Spitalswesen. Früher haben wir immer gesagt, die Dänen unter uns, also wenn ich krank werde, bitte schickt mich nach Dänemark. Jetzt sagen wir, wenn ich krank werde, möchte ich hier bleiben. ((Lachen)) Also es hat sich sehr viel geändert.«
Gewissermaßen thematisch anschließend an ihre Erfahrungen im Zuge der Geburt beschreibt Caroline eine im Österreich der 1970er Jahre weit verbreitete »Kinderfeindlichkeit«. Auch diese Umgangsformen (und damit die ihr zu Grunde liegenden Werte) deutet sie als ›rückständig‹, während dies zugleich dazu führt, dass sie sich hier zunächst (s.o.) fremd fühlt. »Ich bin damals manchmal auf der Kärntnerstraße spazieren gegangen mit der Orgelpfeife. ((Lachen)) Und die Leute haben mich angestarrt. Und die alten Damen mit ihren Hüten und Lodenmantel haben gesagt, ›Schau, so viele Kinder‹, bla, bla.«
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Offenbar wurde Caroline mit ihren vier Kindern als etwas Besonderes wahrgenommen. In diesem Fall empfindet sie diese Besonderheit jedoch als negativ konnotiert, was ihr Gefühl der Fremdheit verstärkt. »Also Kinder haben oft von die alten Damen so einen Schlag bekommen, in der Straßenbahn zum Beispiel oder im Bus. Sie sollten sich gefälligst / Sie sollten nicht sitzen. Sollen nur ältere Leute sitzen. Also es war sehr unangenehm. Watschen war gang und gebe. Es war unangenehm. Und als wir Wohnung gesucht haben, also vier Kinder, um Gottes Willen, das Haus wird zerstört. ((Lachen))«
Auch das österreichisches Schulsystem und seine Erziehungsweise empfand Caroline als ›rückständig‹, woraus sie wiederum für sich und ihre Familie Konsequenzen zieht. »Und wir haben auch deswegen gewählt die Kinder in eine internationale Schule zu schicken. Weil, also so wie die Schulen damals waren und teilweise noch sind, das ist Kindermissbrauch. Aber das hat sich auch geändert. Jetzt hab ich zwei Enkelinnen, die hier wohnen und die sind ganz zufrieden in der Schule.«
Auch Frida spricht das Schulwesen und die Differenz zwischen pädagogischen Herangehensweisen in Dänemark und Österreich an und bezeichnet die in Österreich übliche Pädagogik als »altmodische Erziehung«. Sie bezieht sich dabei zunächst auf die Schulzeit ihrer eigenen Kinder in den 1980er Jahren. »Sehr streng das Ganze. Ja. Als Strafe müssen sie mit Schultaschen, also erste Klasse, von unten bis hinauf in Dritten und das zehn Mal und so was. Fürchterliche Strafen! Also es ist nicht lustig, es war nicht lustig für die Kinder hier in die Schule zu gehen. Das glaub ich nicht. Da is es schon ganz anders. [...] Ich war wirklich glücklich wie die Kinder fertig waren mit der Schule, das war ich. – Nicht, dass ich Probleme mit ihr gehabt habe, aber ich habe das von einer anderen Seite gesehen und ich denke, dass kann doch nicht richtig sein, wie die Kinder hier unterrichtet werden. Und Gott sei Dank jetzt ist so viel Rede davon, und ich glaube auch, dass es besser wird.«
Zugleich beschreibt sie auch einen anderen Habitus, eine andere Geisteshaltung von Kindern und Jugendlichen (s.o.) in den 1960er Jahren, aber auch noch heute, eine Differenz, die sie ebenfalls als Resultat der in Österreich üblichen Pädagogik deutet. »Ich spüre das auch. Immer, auch als ich gekommen bin, dass die jungen Leute hier schon Hemmungen haben. Also die haben nicht diese Freiheit, auch nicht diese freie Denkensweise.«
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Interessanterweise beschreibt die Spanierin Lucía, die 1960 nach Österreich kam und damit derselben Migrationsgeneration angehört, im Gegensatz zu diesen Frauen aus Dänemark keine Fremdheitserfahrungen im Kontext unterschiedlicher ökonomischer und/oder sozio-kultureller Rahmenbedingungen. Ein vergleichbares Deutungsmuster von Österreich als ›rückständig‹ wäre im Vergleich zu Spanien unter Franco zwar erstaunlich, aber auch ein gegenteiliges Deutungsmuster im Sinne eines ›in Österreich war es besser‹ ist aus ihrer Erzählung nicht herauszulesen. An keiner Stelle stellt Lucía implizit oder explizit Vergleiche an. Zwar erzählt sie einige wenige kurze Episoden aus Spanien unter dem Regime Francos, aber ohne zu vergleichen oder (emotional) zu bewerten. Diese Distanziertheit wird beispielsweise dadurch deutlich, dass sie eine eigentlich erschreckende Episode mit den Worten »es war sehr lustig« einleitet. »Und es war sehr lustig, weil ich eine Karte an einen Freund geschrieben habe. Und er wurde von der Polizei verhört, von wo diese Karte aus Prag kommt. Also Sie können sich vorstellen / Also in Francos Zeiten habt man nur ruhig leben können, wenn man sich in der Politik nicht gemischt hat. Und alles nur: Ja, ja, ja. Aber in Wirklichkeit war furchtbar. Wie vor allem die Intellektuelle verfolgt worden sind, und natürlich die Republikaner. Aber das is / Dass man eine Karte schreibt und verhört wird, von wo und so weiter. Unglaublich.«
4.6.3 Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die hier rekonstruierten Fremdheitserfahrungen zu einem sehr großen Teil aus Differenzen resultieren, die von den interviewten Migrant_innen individuell als relevant beurteilt werden. Lediglich im Kontext des Deutungsmusters ›Österreich als rückständig‹ lassen sich aus unterschiedlichen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen resultierende Fremdheitserfahrungen für alle in den 1960er und 1970er Jahren aus Skandinavien nach Österreich zugewanderten Gesprächspartnerinnen rekonstruieren. Wie eingangs argumentiert, stellen sowohl Zugehörigkeit als auch Vertrautes und Unvertrautes soziale Konstrukte dar. In diesem Kontext scheint bemerkenswert, dass die in den Erzählungen ausgedrückte Fremdheit überwiegend von den Migrant_innen selbst konstruiert wird. Die Zuwander_innen aus Skandinavien, Deutschland und Spanien werden nur selten durch Andere zu Fremden ›gemacht‹. Vielmehr empfinden sie Fremdheit als durch ihre eigene Wahrnehmung und Deutung der jeweiligen Situation bedingt, in welcher sie von den Handlungs- und Deutungsmustern abweichen, die ihrer sozialen Umgebung als selbstverständlich erscheinen. Der soziale Referenzrahmen der hier thematisierten Fremdheitserfahrungen sind einerseits anonyme, d.h. nicht näher beschriebene Andere oder nicht-signifikante
256 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Andere aus dem weiteren sozialen Umfeld der Migrant_innen. Andererseits wird Fremdheit aber auch innerhalb des Freundeskreises, der Schwiegerfamilie oder gar der Kernfamilie konstruiert. (Siehe Kap. 4.3 und 6.3) Bis zu einem gewissen Grad kann für die Fremdheitserfahrungen der hier interviewten Migrant_innen durchaus von einem Moment der »Krisis« im Sinne von Alfred Schütz gesprochen werden.205 Er versteht darunter jenen Moment, in dem »der Fluss der Gewohnheiten unterbrochen wird« und sich »Bedingungen sowohl der Praxis als auch des Bewusstseins« ändern, das aktuelle Relevanzsystem also mit einem Mal umstürzt.206 Anstatt eines umfassenden und plötzlichen Zusammenbruchs dieser Relevanzsysteme kann eine solche Krisis aber vielmehr als Element der Lernprozesse im Zuge der (vornehmlich kulturellen) Integration beschrieben werden. (Siehe Kap. 5.2.1) Wie die vorliegenden Erzähltexte außerdem belegen, muss auch ein Status bzw. ein Gefühl der Vertrautheit (als Gegensatz zur Fremdheit) keineswegs automatisch und zwingend mit einem Gefühl der Identifikation oder Zugehörigkeit einhergehen. Die Gesprächspartner_innen beschreiben einen Prozess des Lernens, der zu einer zunehmenden Vertrautheit mit für das Aufnahmeland spezifischen intersubjektiven Orientierungshorizonten führt, der jedoch keineswegs mit einer Identifikation gleichzusetzen ist. (Siehe Kap. 5.2.1.3) Dennoch aber scheint dieser Lern- und Erfahrungsprozess durchaus das Gefühl der Fremdheit zu mindern. Das bedeutet, dass ›weniger Fremdheit‹ gewissermaßen als ein Ziel der (soziokulturellen) Integration beschrieben werden kann. Dies wiederum erscheint den Gesprächspartner_innen notwendig, um sich dem positiven Orientierungshorizont einer hohen Lebensqualität in Österreich anzunähern. (Siehe Kap. 5.2) Wiederkehrende Gefühle von Fremdheit werden also überwiegend als (zu überwindendes) Hindernis für eine zufriedenstellende Lebensqualität gedeutet. Um dieses Hindernis zu überwinden, werden eine gewisse Vertrautheit mit Aspekten der ›anderen Kultur‹ (Verhaltenssicherheit), sozialer Anschluss sowie ein Gefühl des Akzeptiert-werdens als erforderlich erachtet. (Siehe Kap. 5) Zum anderen stellt jedoch auch ein ›Lernen mit der Fremdheit umzugehen‹, einen essentiellen Lernprozess der Gesprächspartner_innen dar. Zugleich aber zeigt die Analyse, dass auch ein Gefühl der Fremdheit keineswegs immer im Widerspruch zu einem Gefühl der Zugehörigkeit stehen muss. Ganz im Gegenteil, wie die Erzählung der hier interviewten Migrant_innen zeigen, muss das Wissen, in einigen Aspekten ›fremd‹ oder ›anders‹ zu sein (etwa durch die persönliche Geschichte, durch andere Hand205 Wie Roswitha Breckner betont, wird »die Vorstellung einer grundlegenden Krisis beim Wechsel zwischen verschiedenen sozialen Ordnungen und Bezugssystemen vor allem in qualitativ orientierten Migrationsstudien kontrovers diskutiert«. Wobei auch sie in ihren Studien durchaus derartige Erfahrungen rekonstruieren konnte. Breckner 2009, 114. 206 Schütz 1972, 59.
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lungs- und Deutungsmuster usw.) als andere Mitglieder einer sozialen Gruppe, keineswegs ein Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Wir-Gruppe ausschließen. Eine dafür nötige Voraussetzung ist, dass die ›Andersartigkeit‹ von allen akzeptiert wird, und dass auch gemeinsame und verbindende Elemente vorhanden sind. (Siehe Kap. 5.2) Außerdem muss Fremdheit und Anderssein nicht zwingend als negativ empfunden werden.207 Sowohl der Däne August als auch die Spanierin Lucía beschreiben sogar einen ›Exoten-Bonus‹, d.h. wenn sie als etwas ›Besonderes‹ wahrgenommen werden, erleichtert ihnen dies beispielsweise ihre soziale Integration. »Da im Studium war ich zum Beispiel der einzige Ausländer, oder halt Nicht-Österreicher. Und das macht natürlich auch interessant. Vielleicht is dann auch einfacher wenn man sagt, ›Ja, ich bin Däne‹. Und ›Aha und oh, ok, du bist net von da, cool, cool.‹ Kriegst natürlich mehr Aufmerksamkeit, des is klar. Ah beim Fortgehen, wenn=st sagst, ›ja ich bin aus Dänemark‹, und ha und das is gleich interessant.« (August)
Überdies darf in diesem Kontext nicht vergessen werden, dass einige Migrant_innen mit der Entscheidung zur Migration genau dieses Gefühl ›suchten‹. All jene, für die es ein Motiv zur Migration war, ›eine andere Kultur (er-)leben zu wollen‹, entschieden sich bewusst und gewollt dafür, Fremdheitserfahrungen zu machen.
207 Vgl. z.B. Breckner 2009, 107.
5
Integration
Anschließend an die eben diskutierten Einzelaspekte transnationaler und transkultureller Alltagswelten, möchte ich mich nun dem komplexen Thema der Integration zuwenden. Dabei muss zunächst ein wissenschaftlicher von dem politisch-medialen Common Sense-Begriff von Integration unterschieden werden. In politischen Diskursen und in der Alltagskommunikation meint Integration die an Einwander_innen gerichtete Forderung, sich der Gesellschaft des Aufnahmelandes als Leistungs-, Werte- und Normengemeinschaft einzufügen. Daran werden die Erlangung der Staatbürgerschaft, des Wahlrechts sowie sozialer Leistungen des Staates und der Kommune gebunden.1 Auf die normative Konnotation des Begriffs Integration weißt beispielsweise Paul Mecheril hin: »Tatsächlich wird in der Regel von ›Integration‹ unter dem Vorzeichen der ›NichtIntegration‹, der ›Desintegration‹ gesprochen. Der Integrationsdiskurs basiert auf Negativnarrativen über die ›verweigerte‹, ›misslungene‹, die ›verpasste‹ oder gar die ›unmögliche‹ Integration. Gerade aus dieser Negation entfaltet der Integrationsimperativ seine normative Kraft. ›Integration‹ ist hier eine Anpassungsleistung, die als ›Migranten‹ geltende Personen zu erbringen haben. ›Integration‹ ist zugleich ein Sanktionssystem, da bei nicht erbrachter ›Integration‹ symbolische und ökonomische Strafen drohen.«2
1
Vgl. z.B. Dahinden 2014; Vertovec 2007; Reinprecht/Weiss 2012, 16 ff.; Han 2005; Esser 2003; Zick 2010, 57 f.; Karin Bischof/Brigitte Halbmayr/Kerstin Lercher/Barbara Liegl, Integration als kommunales Politikfeld. Entstehungsbedingungen, Problemlagen und Modelle. In: SWS-Rundschau 47/2 (2007), 164-185. https://nbn-resolving.org/urn: nbn:de:0168-ssoar-164549.
2
Paul Mecheril, Wirklichkeit schaffen. Integration als Dispositiv – Essay. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 61/43 (2011), 49-54; 50. Online unter: www.bpb.de/publikationen/3 IV45A,0,Wirklichkeit_schaffen%3A_Integration_als_Dispositiv_Essay.html#top. (16.11. 2018).
260 | »Auch wir sind Migrant_innen «
In den Wissenschaften wiederum wird der Terminus ›Integration‹ sehr unterschiedlich gebraucht und definiert. Daher sollen zunächst sozialwissenschaftliche Konzepte von ›Integration‹ kurz erörtert werden, ehe, im Sinne dieser empirischqualitativen Studie, die Frage diskutiert wird, was Integration für die Migrant_innen selbst bedeutet. Sollen (und können) sie in jedem Fall ›vollständig‹ integriert werden oder wird auch eine partielle Integration (Teilinklusion) in bestimmte Bereiche der Aufnahmegesellschaft akzeptiert? Streben die Zuwander_innen selbst eine vollständige Integration an? Oder ziehen sie eine partielle Integration einer vollständigen Integration vor, um beispielsweise weiterhin starke Beziehungen zu Angehörigen in der Herkunftsgesellschaft zu pflegen und/oder um an Gewohnheiten und kulturellen Mustern der Herkunftsgesellschaft festhalten zu können? Sodann ist zu fragen, welche Strategien die Migrant_innen anwenden, um ihre Ziele (Teil- oder Vollintegration) zu erreichen. An welchen Kriterien messen sie, ob sie dabei erfolgreich waren oder sind?
5.1 INTEGRATION ALS SOZIAL- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHES KONZEPT Eine umfassende Diskussion des im sozialwissenschaftlichen Diskurs unterschiedlich verwendeten und definierten Konzepts ›Integration‹ würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen.3 Dennoch erscheint es mir nötig, zumindest kurz unterschiedliche sozialwissenschaftliche Aspekte und Definitionen anzusprechen. Erschwerend ist in diesem Zusammenhang, dass Integration oft als Synonym von Assimilation oder auch von Akkulturation verstanden wird, während andere diese drei Begriffe als komplementär auffassen. Komplementär definiert meint Assimilation zumeist die komplette Verschmelzung der Migrant_innen mit der Aufnahmegesellschaft, also die »einseitige Ausrichtung von Neuankömmlingen an den dominanten Merkmalen (Normen, Werte, Bräuche, Sitten etc.) einer ansässigen Kultur«.4 Integration wird dazu gegensätzlich als die »die Eingliederung der Migranten, ohne die Aufgabe ihrer ethnischen Eigenständigkeiten« verstanden.5 Akkulturation wiederum bedeutet, wie bereits im Kapitel 1 ausführlich beschrieben, die sekundäre Aneignung einer Kultur, welche nicht die durch primäre Enkulturati-
3
Zu ausführlichen Diskussionen des Konzepts Integration vgl. z.B. Esser 2003; Bommes 2005; Grote 2011; Bloemraad/Korteweg/Yurdakul 2011, 31 f.; Dahinden 2010.
4
Zick 2010, 63.
5
Esser 2003, 7. Vgl. auch Esser 1980, 20 ff.
Integration | 261
on vertraute Herkunftskultur ist. In diesem Verständnis setzt Integration Akkulturation voraus. Von einigen Autor_innen wird Integration auch als Ausdruck oder Vollzug der Akkulturation verstanden.6 Da Akkulturation nicht bedeutet, dass die Enkulturation der Herkunftskultur vollends ›ausgelöscht‹ wird, ist das Konzept der Integration in diesem Verständnis mit dem Konzept der Assimilation nicht vereinbar. Aufgrund der ihm inhärenten Anforderung an Migrant_innen, ihre Repräsentationen der Herkunftskultur (Gewohnheiten, Lebensweisen, Lebensstile, Sitten, Werte und Normen) aufzulösen und sich in jeder Hinsicht der Aufnahmegesellschaft anzupassen, wurde das schon ältere Konzept der Assimilation vor allem in jüngerer Zeit immer wieder kritisiert. Die große Bedeutung, die im Rahmen dessen nationalstaatlichen Grenzen beigemessen wird, wurde unter anderem als »methodologischer Nationalismus« (siehe Kap. 1.1) kritisiert, was diesem Konzept den Vorwurf eines ›nationalstaatlichen Containerdenkens‹ einbrachte. Hier würde der Staat und die Kultur der Aufnahmegesellschaft wie ein Container gedacht, in dem sich die kulturellen Repräsentationen der Migrant_innen durch Assimilation auflösen müssen.7 Ideengeschichtlich ist das Konzept der Assimilation eine Folge des Kugelkonzepts von Kultur: Wenn Kultur als in sich geschlossene, monolithische Substantialität mit Außenrändern gedacht wird, an denen die Außenränder einer anderen Kugelkultur auftreffen, muss ein Migrant/eine Migrantin seine/ihre mitgebrachten kulturellen Repräsentationen vollends ›auflösen‹, wenn er/sie sich in das Aufnahmeland integrieren und Bürger_in der Gesellschaft und des Staates werden möchte. Doch wurde, wie an anderer Stelle bereits dargestellt, diese Vorstellung als unzutreffend erkannt. (Siehe Kap. 3) Die kulturellen Unterschiede bestehen und wirken vor allem innerhalb einer Gesellschaft, wo sich unterschiedliche kulturelle Elemente wechselseitig beeinflussen, sodass jede Kultur per se hybrid ist. Damit wird deutlich, dass das Konzept der Assimilation für die vorliegende Studie ungeeignet ist. Prozesse der Akkulturation wiederum verstehe ich als Voraussetzung für Integrationsprozesse.
6
Zick 2010, 55; 57. Von einigen Autor_innen wird das Konzept der Assimilation für Makroprozesse und jenes der Akkulturation »zur Beschreibung individueller oder psychologischer Prozesse« verwendet. Vgl. auch Esser 1980, 20 ff.; Reinprecht/Weiss 2012, 16; Esser 2003, 7 f.; Han 2005, 63 ff.; 343 ff.
7
In der rezenten Forschung wird daher Assimilation von jenen Autor_innen, die trotz der Kritik noch an diesem Begriff festhalten, zumeist nicht mehr als vollständige Assimilation gedacht, sondern als partielle Assimilation, »die in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich verläuft« Reinprecht/Weiss 2012, 25. Vgl. auch Esser 2003; Zick 2010, 56 ff.; Dahinden 2010; Grote 2011, 9 ff.; Jutta Aumüller, Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. (Bielefeld 2009).
262 | »Auch wir sind Migrant_innen «
›Integration‹ und ›Inklusion‹ Die Begriffe Integration und Inklusion korrelieren eng und erlauben es, die Schwierigkeiten und Möglichkeiten von Migrant_innen in den unterschiedlichen Teilbereichen einer Aufnahmegesellschaft zu diskutieren. Beide Begriffe können sowohl auf das Handeln der Migrant_innen als auch auf das Handeln ihrer Kommunikationspartner (Behörden, Nachbarn, Freunde etc.) in der Aufnahmegesellschaft bezogen werden. Beide ›Seiten‹ können inkludierend und exkludierend, integrierend und desintegrierend wahrnehmen, fühlen und handeln. Für das Doppel-Konzept Integration und Inklusion spricht auch, dass meine Gesprächspartner_innen in den von mir geführten Interviews immer wieder wörtlich oder sinngemäß von Integration und Inklusion bzw. von Desintegration und Exklusion sprechen. Es ist ihnen also bewusst, dass Integration (im Sinn von Einpassung) mit Inklusion (im Sinn von Aufnahme) verbunden ist, ob sie das ethisch-moralisch richtig finden oder nicht. Integration soll daher im Folgenden als aktive Teilnahme an, Inklusion als Einbindung in gesellschaftliche Teilsysteme verstanden werden. In meiner Untersuchung setze ich mich in handlungs-theoretischer Perspektive vorwiegend mit der Ebene der Sozialintegration auseinander, d.h. mit der Integration (Teilnahme) von personalen Akteur_innen an sozialen Systemen.8 Nach einer Erstinterpretation der hier analysierten Erzählungen erschien es mir zudem sinnvoll, die Sozialintegration in weitere Ebenen zu unterscheiden. In Anlehnung Friedrich Heckmann möchte ich, als analytische Hilfskonzepte, soziale, kulturelle, strukturelle und emotionale/identifikative Integration unterscheiden.9 Aber auch der systemtheoretische Ansatz nach Niklas Luhmann erwies sich als sinnvolle Orientierung meine Arbeit, da er dazu anregt, die Frage nach der Inklusion/Exklusion einzelner Migrant_innen oder Migrant_innengruppen in Teilsystemen der westlichen, funktional differenzierten Gesellschaft zu stellen und zu analysieren.10 Die Ergebnisse der Erzählungs-Interpretation sollen hier demnach anhand folgender Integrationsebenen dargestellt werden:
8
Vgl. z.B. Esser 1980, 20 ff.; Esser 2003; Esser 2009; Esser 2010, 3 ff.; 145 ff.; Han 2005, 63 ff.; 343 ff.
9
Heckmann 2015, 82 ff.; 193 ff.; Friedrich Heckmann, Integrationsforschung in europäischer Perspektive. In: Zeitschrift für Bevölkerungsforschung 26/3-4 (2001), 341-356.
10 Vgl. z.B. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. (Frankfurt am Main 1984); Bommes 2003, 45 ff.; Esser 2010, 150 ff.; Armin Nassehi, Inklusion oder Integration? Zeitdiagnostische Konsequenzen einer Theorie von Exklusions- und Desintegrationsphänomenen. In: KarlSiegbert Rehberg (Hrsg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. (Wiesbaden 1997), 619-623. Vgl. auch Bommes 2003, 45 ff.
Integration | 263
kulturelle Integration:11
Erwerb von Sprachkenntnissen, Übernahme gängiger Handlungsmuster und Verhaltensweisen, Kenntnis gängiger Verhaltensregeln und Normen, Aneignung von Verhaltenssicherheit
strukturelle Integration:12
Teilnahme am Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Sozialsystem, Schul- und Bildungssystem, Steuersystem usw.
soziale Integration:13
Teilnahme an der sozialen Umwelt, an Freundesund Bekanntenkreisen, Aufbau neuer sozialer Netzwerke
identifikative Integration:
Identifikation mit dem Aufnahmeland und seinen Normen und Werten, Übernahme von Werten und Normen.
Wie die folgende Analyse der Erzählungen aus den Interviews zeigen wird, ist Integration auf allen diesen Ebenen als ein dynamischer Prozess zu verstehen. Zugleich haben die unterschiedenen Ebenen der Integration analytische und heuristische Bedeutung, das heißt, sie nützen der empirischen Suche und dem Finden von Symptomen der Integration. In der Praxis des Alltagsdenkens, -wahrnehmens und handelns sind die analytisch unterschiedenen Ebenen freilich eng miteinander verbunden. Nachdem zunächst eine Reihe allgemeiner Beobachtungen diskutiert werden, sollen die Ergebnisse im Weiteren anhand der beschriebenen Ebenen vorgestellt werden.
11 Vgl. dazu Schütz 1972, bes. 59 ff. 12 Aus der Perspektive der Systemtheorie handelt es sich hierbei entweder um die Inklusion in Organisationen (beispielsweise ein Unternehmen, die Universität usw.) oder um Systemintegration. 13 In der Systemtheorie stellt die soziale Integration entweder die Ebene der Interaktion dar, oder – dauerhafter – die Inklusion in soziale Systeme wie Freundeskreise usw.
264 | »Auch wir sind Migrant_innen «
5.2 WIE MIGRANT_INNEN INTEGRATION VERSTEHEN UND PRAKTIZIEREN 14 In unterschiedlichen Ausmaßen und Auslegungen erscheint ›Integration‹ den von mir interviewten Migrant_innen erforderlich, um das für sie alle geltende Ziel einer hohen bzw. einer als zufriedenstellend empfundenen Lebensqualität in Österreich zu erreichen.15 Zu dieser Lebensqualität gehört, ›ungehindert‹ kommunizieren zu können, sich Verhaltenssicherheit anzueignen, Freunde zu finden, soziale Netzwerke aufzubauen, Berufe ausüben und sinnstiftenden Tätigkeiten nachgehen zu können. Eine als erfolgreich empfundene Integration wird daher von den Migrant_innen typischerweise alltagssprachlich mit »sich wohl fühlen«, »zuhause fühlen« oder »sich etwas aufgebaut haben« umschrieben. Eine Naturmetapher für ›Integration‹ benutzt die seit 1998 in Österreich lebende Norwegerin Mia, wenn sie davon spricht, hier bereits »Wurzeln geschlagen zu haben«. Im Bezug auf ihr schönes Haus, eine Umgebung, in der sie sich wohlfühlt, und auf gute Freunde, die sie gefunden hat, beschreibt auch die Dänin Maja den Prozess der Integration mit einer solchen Naturmetapher: »Und dann verbreitert sich ja alles so wie Ringe im Wasser, dass man sich dann plötzlich wohlfühlt. Und dann muss man ja nicht zurückgehen. Ich möchte nie zurückgehen.«
Manche Interviewpartner_innen verwenden auch explizit den Terminus ›sich integrieren‹. Die Durchsicht der Erzählungen auf Bezüge auf die vorhin unterschiedenen Ebenen der Integration zeigt, dass die Formulierung »sich integrieren« von den Migrant_innen vornehmlich mit Bezug auf soziale und kulturelle Integration benützt wird, oft aber auch auf beide Ebenen zugleich. Die Ebene der sozialen Integration sprechen die Gesprächspartner_innen ausdrücklich dann an, wenn sie von als zufriedenstellend empfundenen sozialen Kontakten erzählen. Die Ebene der kulturellen Integration sprechen sie an, wenn sie über das Erlangen von Verhaltenssicherheit durch die Anpassung an in Österreich übliche Verhaltens- und Handlungsmuster, an übliche Lebensweisen, an die Organisation des Arbeitsalltags, an Festkultur etc. berichten. Aber auch strukturelle Integration wird etwa bei schulischen Fragen oder im Hinblick auf das Wahlrecht angesprochen. Die folgenden Sequenzen aus den Interviewtexten zeigen die enge Verbindung von sozialer, struktureller und kultureller Integration, die auch als »komplex« wahrgenommen wird:
14 Zu ähnlichen Fragestellungen vgl. Marina Richter, Integration, Identität, Differenz. Der Integrationsprozess aus Sicht spanischer Migrantinnen und Migranten. (Bern u.a. 2006); Bischof/Halbmayr/Lercher/Liegl 2007 (Anm. 1). 15 Einzig Diego unterscheidet sich darin von den übrigen Interviewpartner_innen.
Integration | 265 »Weil es ist nicht nur die Sprache, eine Wohnung finden, eine Arbeit finden. Es ist auch drinnen zu sein in eine Gesellschaft. Die Sitten, wie es gemacht wird, die Art und Weise zu denken, zu handeln, Freunde finden. Es ist eine komplexe, wie sagt, es ist etwas Komplexes.« (Inés) »Also ich bin hier einigermaßen angepasst, sag ich jetzt mal, von meinen Verhaltensregeln, Kodexen her.« (Theresa)
Wenn meine Gesprächspartner_innen die Termini ›Integration‹ oder ›integrieren‹ verwenden, greifen sie in ihren Erzählungen und Argumentationen den umfassenden massenmedialen oder sozio-politischen Diskurs zu diesem Thema höchstens am Rande auf. Einzig die aus Spanien zugewanderte Marta stellt den Begriff Integration zunächst in Frage, offenbar weil sie den normativen Aspekt störend findet. Sie zeigt sich irritiert von der Vorstellung, erst Integration verschaffe ihr den Status einer »zivilisierten« Teilhaberin an der österreichischen Gesellschaft. (Sie versteht den Begriff also zunächst nach dem Assimilationskonzept, s.o.) Dann aber interpretiert sie Integration im Sinne der aktiven Teilnahme eines Migranten/einer Migrantin an Kommunikation. In dieser Bedeutung kann sie den Begriff und das Konzept Integration dann doch akzeptieren: »Ich mein, ich fühl mich wohl. Ich fühl mich integriert. Wobei, ich weiß nicht wo ich mich integrieren soll. Sondern wir sind alle zivilisiert und man braucht sich nicht zu integrieren, sondern einfach mit den Leuten kommunizieren. Ja, schon integrieren vielleicht kann man=s so nennen. Ich glaub das trifft zu.«
Der in den Interviews häufig benutzte Terminus »anpassen« wird zumeist auf eine kulturelle oder auch auf die damit in Verbindung stehende strukturelle Integration bezogen. So formuliert der aus Spanien nach Österreich migrierte Álvaro, ohne einen Zweifel daran zu lassen, dass er sich trotz seiner Anpassung weiterhin als »Ausländer« fühlt: »Ich kann nur sagen, was Österreich angeht, wenn man sich an den Rahmen anpasst, ist es ein sehr gutes Land für Ausländer.«16
Sich »anpassen« meint: Dinge und Verhältnisse akzeptieren, wie sie eben »hier« (in der Aufnahmegesellschaft) sind und die man als Immigrant_in ohnehin nicht ändern kann. Dies zu akzeptieren erfordert einen Lernprozess. Die Gesprächspartner_innen sehen sich im Zuge dessen herausgefordert und erleben schwierige Momente. Diese 16 Als »Rahmen« versteht Álvaro hier Verhaltensregeln und -muster, August benutzt im selben Zusammenhang das Wort »System«.
266 | »Auch wir sind Migrant_innen «
Schwierigkeiten wiederum sind auf den unterscheidbaren Ebenen der Integration spezifisch: Auf der strukturellen Ebene werden beispielsweise bürokratische Abläufe, das österreichische Schulsystem oder eine mangelnde gesellschaftliche sowie politische Unterstützung berufstätiger Mütter als etwas beschrieben, an das man sich »halt anpassen muss«. Auf der kulturellen Ebene werden zwischenmenschliche Umgangsformen, die sich deutlich von jenen im Herkunftsland unterscheiden, als befremdlich und daher ›anpassungsbedürftig‹ beschrieben. In welchem Ausmaß ›kulturelle Anpassungsleistungen‹ den einzelnen Interviewpartner_innen als notwendig oder unumgänglich erscheinen, steht auch in Zusammenhang damit, inwieweit ›kulturelle Unterschiede‹ als ein (wesentliches) Deutungsmuster angesehen werden. Eine kulturelle Integration stellt, wie auch meine Interviewpartner_innen bemerken, die Voraussetzung für strukturelle Integration dar: Dazu zählen alle praktischen und kommunikativen Fertigkeiten, um die strukturelle Integration aktiv zu betreiben, wie etwa erforderliche Wege zu Ämtern und Behörden, Kontakte zu Schulleitungen, Lehrern, Ärzten, Berufskollegen und Vorgesetzten. In patriarchalen Verhältnissen wird außerdem weitaus mehr von der Hausfrau und Ehefrau als vom Ehemann erwartet, dass sie die Kontakte zu Verwandten, Freund_innen oder Arbeitskolleg_innen herstellt und pflegt. Auch dafür benötigt sie sprachliche, kommunikative und praktische Fähigkeiten. Die bereits zitierte Inés zählt beinahe systematisch eine Reihe solcher praktischer Fähigkeiten auf, welche die Zuwanderin in der für sie zunächst fremden Kultur nach und nach erst erwerben muss, wenn sie die Erwartungen ihrer nächsten Umgebung, nicht zuletzt die Erwartungen ihres Ehemannes erfüllen will: »Dann kommt die Ballsaison, muss man Walzer tanzen lernen. ((Lachen)) Kommt die Skisaison, muss man Skifahren lernen. Kommt die schöne Zeit, muss man wandern gehen, Bergsteigen. Dann kommt die süße Saison, muss man auch gut backen können, weil in Österreich backt man sehr gut, macht man gute Torten, Kuchen. So ja irgendwie musste ich mich integrieren in die österreichische Gesellschaft.«
Auch für die aus Spanien nach Österreich zugewanderte Eva sind viele Differenzen zwischen der Lebensweise in Österreich und in Spanien überaus gewichtig. Demgemäß bedeutet für sie Integration auch ihre zumindest teilweise Adaption an Handlungs- und Verhaltensweisen in Österreich. Doch ist leicht zu erkennen, dass die alltagssprachliche Konstruktion von Kultur in der Perspektive Evas etwas vom alten Kugelkulturkonzept an sich hat. In der folgenden Sequenz wird die Verschiedenheit zwischen ›der spanischen‹ und der ›österreichischen Kultur‹ (schon diese Formulierungen sind Generalisierungen hohen Grades) sowohl homogenisiert (alle Österreicher haben dieselbe österreichische Kultur, alle Spanier haben dieselbe spa-
Integration | 267
nische Kultur) als auch naturalisiert bzw. ontologisiert (beide Kulturen waren immer schon so, wie sie sind, und sie werden immer gleich bleiben). Damit fordert Eva als Migrantin von sich selbst, etwas Unveränderliches und Einheitliches anzuerkennen, was sich in Wahrheit nicht zuletzt durch Migrationsprozesse verändert. Evas pragmatische Anerkennung einer quasi natürlichen Differenz wird in der die folgende Sequenz abschließenden Coda explizit: »Ich kann mich prinzipiell anpassen. Ich bin der Meinung, dass jedes Land, jede Kultur ihre Stärken und ihre Schwächen hat, sie sind weder besser noch schlechter. Es ist einfach anders!«
Trotz der hier vorgestellten Anpassungsbereitschaft steht Eva jedoch mit einigen Aspekten der ›österreichischen Kultur‹ ›auf Kriegsfuß‹: Die in Österreich geläufigen zwischenmenschlichen Umgangsformen und Kommunikationsstile empfindet sie häufig als verletzend, aber auch die Forderung, sich als Frau spezifisch anders zu verhalten als ein Mann, erscheint ihr in Österreich als unnötig stark. Dennoch sei Anpassung notwendig, um akzeptiert und nicht immer wieder kritisiert oder gar angefeindet zu werden. »Das ist wirklich eine harte Kultur, entweder passt du dich an oder passt du dich an.«
Zugleich sieht Eva Integration als eine Anforderung, die zu erfüllen sie sich selbst ›verpflichtet‹ habe, als sie sich für die (dauerhafte) Übersiedlung nach Wien entschied: »Ich sage, naja wenn wir entschieden haben in Wien zu wohnen, es läuft anders. Also entweder kehren wir zurück oder wir passen uns an. So gut wie es geht.«
Insgesamt lassen sich, über die Herkunftsländer hinweg, zwei unterschiedliche Deutungsmuster von Integration aus den Interviewtexten rekonstruieren: Zum einen ›Integration als explizites und vorrangiges Ziel‹, zum anderen ›Integration als Mittel zum Zweck‹. Diese beiden Sinntypen können zum Großteil aus Soziotypen erklärt werden. Dabei spielen sowohl die Lebensentwürfe als auch Gründe und Motive der Migration eine Rolle. Jene Migrant_innen, für die Neugierde und das Erlebenwollen einer ›anderen Kultur‹ ein wichtiges, oder gar das wichtigste Motiv zur Migration war (oder ist), betrachten ihre Integration als ein von ihnen anerkanntes und völlig legitimes Ziel. So argumentiert August aus Dänemark: »Ich komm hierher weil=s mich interessiert und weil=s mir hier gefällt. Und des is halt eine ganz andere Motivation find ich.«
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Auch für Migrant_innen, die aufgrund einer Liebesbeziehung bzw. einer Familiengründung in Österreich eingewandert sind, kann die Integration ein explizites und legitimes Ziel sein, doch weniger aus Neugierde denn aus ›pragmatischen‹ Gründen, um mit und in der Beziehung bzw. in der Familie hohe bzw. zufriedenstellende Lebensqualität zu erlangen. Für jene, die aufgrund von intimen bzw. ehelichen Beziehungen mit Österreicher_innen, oder aus beruflichen Gründen des Partners oder der Partnerin,17 oder zu Gunsten der eigenen beruflichen Karriere nach Österreich eingewandert sind, sind die angeführten Zwecksetzungen (Intimbeziehung bzw. Ehe, Beruf, Karriere) vorrangiger als die Selbstverpflichtung zur Integration. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Migrant_innen nicht ebenfalls ›integrationsbereit‹ wären, sondern lediglich, dass sie die Notwendigkeit der Anpassung entsprechend anders begründen, die Integration also mehr ein Mittel zum Zweck darstellt. Schwierigkeiten und Hürden der Integration, aber auch die subjektiv wahrgenommenen Integrationsanforderungen unterscheiden sich auch je nach den sehr unterschiedlichen kulturellen, sozialen und materiellen Ressourcen der Migrant_innen in Österreich.18 Maja und ihrem Ehemann wurde beispielsweise vom Arbeitgeber des Mannes gleich bei ihrer Ankunft ein Wohnhaus zur Verfügung gestellt. Tilde und Erik wiederum konnten auf bedeutende soziale Ressourcen zurückgreifen, da Familienangehörige bereits in Österreich lebten. Kenntnisse der deutschen Sprache wiederum zählen zu den wichtigsten kulturellen Ressourcen. Einige Migrant_innen aus Skandinavien und aus Spanien sprachen bereits etwas Deutsch, als sie nach Österreich kamen. Andere konnten auf den hilfreichen Freundeskreis eines sozial integrierten Partners/einer sozial integrierten Partnerin zurückgreifen. Manche Gesprächspartner_innen hatten zudem bereits vor ihrer Migration nach Österreich im Ausland gelebt und verfügten daher über wertvolle ›Auslandserfahrungen‹. Die Bereitschaft der Migrant_innen, sich zu integrieren, hängt offenbar auch davon ab, wie man ›empfangen‹ wird, d.h. welche Haltung die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft gegenüber ›Ausländern‹ im Allgemeinen und gegenüber bestimmten Gruppen von Migrant_innen im Besondern einnehmen. Ein Element davon ist gewiss die in den 1960er Jahren noch hohe Exotik, die Einwander_innen aus südlichen Ländern für sehr viele Österreicher_innen hatten. Oder genauer: Stereotype vom südeuropäischen Mann und von der südeuropäischen Frau – möglicherweise in Verbindung mit der nach dem Zweiten Weltkrieg stark anwachsenden Sehnsucht nach dem ›Süden‹ im Kontext von Urlaubswünschen, Unterhaltungsfilmen, Schlagern und dergleichen – bestimmten den Umgang mit den noch relativ seltenen Immigrant_innen aus den südlichen Teilen Spaniens. Diese Exotik scheint aber zuletzt mit der Häufigkeit der Migrant_innen aus dem globalen
17 Im vorliegenden Sample sind es nur Frauen, die ihre Ehemänner begleiteten. 18 Vgl. z.B. Grote 2011, 13 ff.
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Süden abgenommen zu haben. Lucía, in den 1960er Jahren aus Spanien nach Österreich gekommen, erinnert sich: »Also als ich gekommen bin, war ich eine exotische Mädchen. Alle sind zu mir gekommen, ›Ah eine Spanierin!‹, ›Oh eine Spanierin!‹. Überall wurde ich eingeladen. Die Leute haben sich gerissen irgendwie mit mir zu sein. Und es war für mich ganz überraschend. Erstens einmal, weil ich mich nicht als Exotin gefühlt habe, und außerdem habe ich auch nicht verstanden, warum es so ein Interesse an mir geben kann. Und eigentlich es war sehr nett. Alle Leute waren wahnsinnig lieb zu mir. Sie haben mich aufgenommen als ob ich eine alte Bekannte wäre. Und ich habe mich sehr, sehr wohl gefühlt von Anfang an.«
Migrant_innen aus Deutschland hingegen thematisieren eine gewisse ›Deutschenfeindlichkeit‹, mit der ihnen in Österreich begegnet wird. Während einige ›ein Problem‹ damit haben, das sie oft beschäftigt, nehmen es andere zur Kenntnis, fühlen sich aber dennoch oder möglicherweise umso mehr verpflichtet, sich bestmöglich anzupassen. Im Gegensatz erleichtert den aus skandinavischen Ländern zugewanderte Gesprächspartner_innen die Tatsache, in Österreich ›gerne gesehen‹ zu sein, die Integration maßgeblich. (Siehe Kap. 4.5) Das für erforderlich gehaltene Maß an eigenen Anstrengungen sich zu integrieren steht außerdem in einem Zusammenhang mit den jeweiligen Zukunftsentwürfen, Lebenskonzepten und auch der jeweiligen Migrationsphase des Migranten/der Migrantin.19 Der aus Spanien zugewanderte Diego beispielsweise, für den die von ihm ersehnte Remigration nach Andalusien einen sehr wichtigen Orientierungsrahmen darstellt, hat vergleichsweise geringe Integrationsziele. Ihm ist es auch kein Anliegen, sein Deutsch, das zwar fließend aber fehlerhaft ist, zu verbessern, oder sich in Wien um vermehrten sozialen Anschluss zu bemühen. Die Anpassung an einige Besonderheiten des Berufs- und Freizeitlebens in Wien und in Österreich scheint ihm weniger dringlich als jenen Migrant_innen, die sich in Österreich wohlfühlen und die bleiben wollen. »Ja ich kann schon sagen etabliert. Sagt man des? Ja, ich hab schon hier so eine Gewohnheit und mein Leben läuft hier so gesehen.«
Häufig wird eine im Lauf der Monate und Jahre sich vollziehende Veränderung der selbstgesetzten Integrationsziele sowie der (gefühlten bzw. wahrgenommenen) Integrationsanforderungen beschrieben. Bei jenen Migrant_innen, die einen sukzessiven (d.h. experimentierenden, mehrmals auch korrigierend veränderten) Migrationsprozess durchliefen, verschoben sich auch die Orientierungshorizonte der Individuen, der Paare oder der Familien mehrmals. So war für Álvaro anfangs das Er19 Vgl. z.B. Grote 2011, 13 ff.
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lernen der deutschen Sprache das wichtigste Ziel und der erste Grund für seine studentische Migration, ehe andere private und berufliche Ziele in den Vordergrund traten: »Natürlich kam ich nach Graz als Student, also mit einer ganz anderen Einstellung und mit der Erwartung nach den zwei Semestern, nicht einmal nach der Diplomarbeit, zurück nach Spanien zu kehren. Denn mein Ziel war Deutsch zu lernen in erster Linie.«
Frida aus Dänemark und Inés aus Spanien wiederum beschreiben, dass sich die an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen an ihre Integration mit der Dauer des Aufenthalts in Österreich verändert haben. Frida erzählt, dass im Laufe der Zeit ihre Exotik als dänische Frau im Freundeskreis des Paares nach einer »schönen Weile« allmählich schwand und damit auch die Toleranz der Freunde für sprachliche oder andere »Fehler« Fridas gesunken sei: »Ja, also es ist so. Also im Anfang, sag=ma das erste und das zweite Jahr, da is man was ganz besonderes. ›Er hat eine dänische Frau, hast du gehört?‹ und so. [...] Ja, da wird man ein ganze schöne Weile bewundert und so. Aber dann kommt die Zeit, wo man faktisch dazugehört. Und dann muss man sehr aufpassen, wenn man so redet, dass man nicht allzu viele Fehler macht. Am Anfang ist das entzückend und später ist es gar nicht mehr entzückend. Da muss man sehr aufpassen. Und das war meine Schwierigkeit. Ob die Anderen das auch so empfunden haben, das weiß ich nicht.«
Inés, die 1999 aus Spanien nach Wien zugewandert ist, führt eine ähnliche Veränderung der an sie und an sich selbst gerichteten Ansprüche auf den multiplen Rollenwechsel von der jungen ledigen »Spanierin« zur verheirateten Hausfrau und Mutter »österreichischer« Kinder zurück. Wird der ledigen jungen ›spanischen‹ Frau noch vornehmlich mit Neugierde und Interesse an ihrer Exotik begegnet, die nicht zuletzt durch ihre ›spanischen‹ Merkmale (möglicherweise fänden wir darunter auch das eine oder andere Stereotyp) begründet sind, steigen mit der Heirat und den Geburten von zwei Kindern ihre Verpflichtungen als Ehefrau, Hausfrau und Mutter, nicht ›spanische‹ oder ›kosmopolitische‹, sondern ›österreichische Kinder‹ aufzuziehen. Mit dieser familien-biographischen Zäsur wird zwar nicht die Person renationalisiert (Inés darf ›die Spanierin‹ bleiben), doch ihre neuen Rollen als Ehefrau, Hausfrau und Mutter werden ›nationalisiert‹, womit der soziale Druck zur Integration erheblich steigt. »Am Anfang es war so, ich war die Spanierin, okay. Alle haben es gewusst und ich habe einfach nur gewartet, wie es in Österreich ist, was anders als in Spanien ist. Dann mit der Zeit, als ich eine Familie hier gegründet habe, okay ich war die Spanierin, aber durfte ich nicht immer wie eine Spanierin sein, ich musste mich mehr in das Leben integrieren. Weil
Integration | 271 dann habe ich eine österreichische Familie auch und die Leute in der Umgebung wissen, dass ich Spanierin bin, aber haben irgendwie gewartet oder erwartet, dass ich mich verhalte so wie eine Österreicherin. Und da musste ich viele Sachen in meinem Leben ändern. [...] Und jetzt es ist, ich muss es so machen wie ich es am Anfang gesehen habe, dass wird so gemacht. Und irgendwie muss ich meine Kultur mehr auf die Seite lassen. Weil je mehr ich da bin, desto mehr von mir erwartet wird, dass ich mich wie eine Österreicherin verhalte.«
Inés wünscht sich etwas mehr Toleranz und würde gerne deutlich stärker an Elementen ihrer Herkunftskultur festhalten (dürfen). Sie erstellt eine Hierarchie her zwischen der ›Grundkultur‹ (der Herkunftskultur, die sie qua Enkulturation seit ihrer frühesten Kindheit erworben hat) und der zweiten Kultur des Aufnahmelandes. Und um sich dies vorstellen zu können, erfindet sie die kleine Utopie von einer abwechselnd abrufbaren Doppel-Identität: in Spanien würde sie sich gern als Spanierin fühlen und benehmen, in Österreich als Österreicherin. Doch genau dies wird ihr weder in Österreich noch in Spanien erlaubt. Inés bedauert, dass sie in diesem Punkt an Grenzen der Toleranz stößt. Gegen Ende der folgenden Sequenz wird deutlich, dass auch eine neue soziale Instanz und Institution entstanden ist, die die Macht hat, der Frau ein hohes Maß an Integration in Österreich abzuverlangen: ›die Familie‹. Inés ist mit einem Österreicher verheiratet. Dessen Macht und die Macht der Institution Familie (womit nicht nur die Kleinfamilie gemeint ist, sondern auch die Angehörigen des Mannes in Wien) gründeten in einem kollektiven Unbewussten, das Inés als der Ehefrau, Mutter und Schwiegertochter zuschreibt, wenn schon nicht für die Erzeugung, so doch für die Zulassung einer sprachlich und kulturell ›österreichischen‹ Identität ihres ›Nachwuchses‹ verantwortlich zu sein. »Manchmal geht=s, weil es ist okay, es war meine Entscheidung hier zu bleiben. Aber manchmal würde ich ein bisschen mehr Toleranz irgendwie von den anderen erwarten. Weil ein Mensch kann sich nicht total verändern, die Grundkultur bleibt da. Und entweder man schafft irgendwie diese zwei Welten, in Österreich mache ich es so, in Spanien mache ich es so. Wenn man das wirklich schafft, ist es das Beste. Aber trotzdem viele Sachen würde ich gerne machen auf andere Art und ich darf nicht, weil es in der Familie, wo ich wohne, anders gemacht wird.«
Als konkrete Interaktionsfelder, in denen sich Inés anpassen muss, nennt sie die Erziehung der Kinder und die Strukturierung des Tagesablaufs, also jene Abläufe, die nicht nur irgendwie pragmatisch vollzogen, sondern in besonders hohem Maße auch nach normativen (kulturellen) Vorstellungen getaktet und koordiniert werden sollen.
272 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Zum Beispiel nicht so sein genau mit den Zeiten. Okay, es ist klar, die Kinder brauchen eine Regelmäßigkeit und einen Tagesablauf. Aber wenn man die Kinder nicht genau um zwölf Uhr das Essen gibt, sondern um zwölf Uhr zehn, weil dazwischen ein Telefonat gekommen ist, das nicht die Ende der Welt ist. Ein bisschen mehr Flexibilität. Und nicht dieses Telefonat auf die Seite lassen, weil die Kinder müssen genau um zwölf Uhr essen. Solche Sachen kommen. Sind Kleinigkeiten, aber machen das Leben nicht leichter. Ein bisschen mehr flexibler mit der Zeit und ja, irgendwie nicht alles so genau strukturiert.«
Maja, 1963 aus Dänemark zugewandert, thematisiert die besonderen Anforderungen für sogenannte »trailing spouses«, d.h. Frauen bzw. Männer, die ihren Partner_innen ins Ausland folgen, da diese aus Gründen der beruflichen Karriere migrieren wollen oder müssen. Für Maja ist ihre kulturelle und soziale Integration, vor allem das Lernen der Landessprache und der Aufbau eigener sozialer Kontakte am neuen Wohnort, auch im Hinblick auf den Erhalt der Ehe eine Anforderung von allerhöchstem Rang. Doch so sehr sie sich dabei bemüht, bleibt sie doch in der sozialkulturell und ökonomisch schwächeren Position. In der folgenden Sequenz wird deutlich, dass sich Maja darüber im Klaren war und weiß, dass der karrieretüchtige Ehemann aufmerksam beobachtet bzw. beobachtete, ob sie die, aus der Sicht des karriereorientierten Mannes erforderlichen, Fähigkeiten und Kompetenzen als Ehefrau, Hausfrau und Partnerin erwerben wird. Einmal mehr zeigt sich, dass Migration aus den Motiven von Liebe, Ehe und Familie für den mitwandernden Partner bzw. die mitwandernde Partnerin einem besonderen Stressfaktor ausgesetzt ist, wenn zwischen den Partnern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Das Risiko des »trailing spouse« würde sich verringern, wenn er/sie nach den Motiven der Liebe und der Gründung einer Familie auch zu eigenständigen Motiven für ein Leben im Land seines/ihres Partners und zu sozialökonomischer Selbstständigkeit finden würde. Hören wir Majas Ausführungen dazu: »Und Frauen, die ihren Männer überall folgen müssen, das müssen besondere Frauen sein. Meistens sind die ja gut untergebracht, weil ich spreche von den Männer, die in höher Positionen sind, und werden irgendwohin geschickt und da steht eine Villa und eine Limousine und Dienstmädchen und so weiter. Aber man darf nicht vergessen, dass die Frau dann sehr allein ist. Dass sie ihren eigenen Kreis finden muss. Weil der Mann, umso viel Geld zu verdienen, muss er auch schuften. Ja, der kommt nicht schlafend dazu, und so muss die Frau dann mithalten und irgendwie ein eigenes Leben auch führen. Und da wird auch sehr viel verlangt. [...] Und das ist ja auch so, wenn die Frau nicht mithalten kann, der Mann, der ist ja da oben. Und dann fängt er an, mit eine hübsche Sekretärin und der kommt auf ein anderen Niveau als wie es war. Und dann ändert man sich vielleicht. Das ist nicht ungefährlich. Und dann, vor allem auch wenn die Frauen die Sprache nicht lernen. Weil der Mann muss ja, deshalb hat der den Job bekommen. Ja, und wenn die
Integration | 273 dann auch nicht mithalten. / Aber das muss man wissen, wenn man mitgeht ins Ausland. Sonst ist man verloren.«
5.2.1 Kulturelle Integration und Integration qua Identifikation Bereits in den bisher zitierten Erzählsequenzen wurde immer wieder auch auf einen mit Integration verbundenen Lernprozess verwiesen: Aus den Erzählungen wird deutlich, dass sowohl Integration qua Identifikation als auch das Erlangen von Verhaltenssicherheit (ein Aspekt der kulturellen Integration), einen längeren Lernprozess darstellt. Die aus Norwegen nach Österreich übersiedelte Mia beispielsweise erzählt ausführlich darüber, sodass schon allein darin ein Beleg für die große Bedeutung, die sie kultureller ›Anpassung‹ beimisst, gesehen werden kann. Mia verwendet in der folgenden Sequenz aber auch Worte wie »Anspannung«, »hohe Aufmerksamkeit« oder »Taktik«, und macht damit deutlich, dass »ständiges Lernen« nicht einfach passiert, sondern ein bewusster, planvoller und reflektierter Einsatz von persönlichen Ressourcen ist. »Und es ist ein ständiges Lernen, ein tägliches Lernen, wie ich mit den Situationen umgehe, ja? Das ist für mich hier nicht selbstverständlich. Also es ist oft eine große Anspannung einfach, weil ich weiß, in jeder neuen Situation muss ich das mit voller Aufmerksamkeit und, und irgendwie das schon analytisch angehen. Weil sonst verfall ich in Emotionen und das ist dann nicht gut. Also wenn man nur sagt ›Niemand versteht mich‹, oder so.« »Es war die Umstellungsphase, und die war schwierig, die war wirklich schwierig. Also wo die Realität einen einholt. Und man muss bestehen in einer Gesellschaft, die man prinzipiell überhaupt nicht versteht. Und das fangt bei sie und du an, ja.« »Man findet immer Taktiken. Und dann kommt jemand, ein Buschauffeur oder so der, wie sagt man, grantelt einem an, so irgendwas und dann tut man nur weiter mit einem Lächeln und es löst sich alles auf. Und man lernt damit umzugehen und findet Wege.«
Sprechen als Praxis kultureller Integration Ein wesentliches Element kultureller Integration und eine entsprechend hohe Lernanforderung ist die Sprache. (Siehe auch Kap. 4.1.1) Im Hinblick auf alle weiteren Formen der Integration ist das Erlernen der deutschen Sprache für Migrant_innen in Österreich von allergrößter Bedeutung. Sie versuchen dieses Ziel zum Teil durch Sprachkurse, vor allem aber durch tägliche Kommunikation in Gesprächen zu erreichen. Während manche kein Problem damit haben, gelegentlich Fehler zu machen, stören sich andere daran, dass an ihrem gesprochenen oder geschriebenen Deutsch
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mitunter sogar noch vielen Jahren in Österreich immer noch bemerkbar ist, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Eine immer wieder beschriebene Strategie, die deutsche Sprache schneller zu erlernen, ist es, sich nicht auf den Umgang mit ›Landsleuten‹ zu beschränken (s.u.). (Siehe auch Kap. 4.1) Der Wunsch Alicias, die aus Spanien nach Österreich gezogen ist, die deutsche Sprache möglichst rasch durch sprachliche Kommunikation im Alltagsleben und nicht nur aus Büchern oder in Sprachkursen zu erlernen, zeigt einmal mehr, dass die erwünschte Anpassung in erster Linie durch Praxis im Alltag außerhalb von ›ghettoisierten‹ Immigrant_innengruppen vollzogen wird. Alicia weist in der folgenden Sequenz auch darauf hin, dass es unter den zugewanderten Frauen und Männern aus Spanien viele gibt, die sich hauptsächlich innerhalb ihrer ethnisch-sprachlichen Minorität bewegen. Sie hingegen entschloss sich gleich zu Beginn ihres Aufenthalts in Österreich, dieses für die Integration nachteilige Muster ihrer ›Landsleute‹ nicht zu übernehmen: »Aber ich hab mich von Anfang an entschlossen, ich werde mich mit keine Spanier treffen. Weil ich hab so viele Spanier kennengelernt, die seit Jahren in Wien wohnten und überhaupt kein Deutsch konnten, dass ich hab mir gedacht, ich werd sicherlich nicht so sein.«
Alicia fand sogar ausgesprochen kreative Strategien, um ihr Deutsch zu verbessern, indem sie von sich aus und offensiv soziale Kontakte zu Österreicher_innen suchte und herstellte, womit sie nicht nur rascher Deutsch lernte, sondern auch ihre soziale Integration erheblich beschleunigte: »Ich habe nicht wirklich Geld, dass ich einen privaten Lehrer nehme, dass er mir private Stunden gibt. So ich hab einfach so riesen Plakate selbstgemacht und geschrieben: ›Hallo, ich bin eine spanische Studentin in Wien. Magst du jetzt Spanisch lernen oder verbessern, ich suche Leute zum Dolmetsch!‹ Halt kostenlos. Ruf mich an. Und ich hab innerhalb von einem Monat dreißig Anrufe gehabt. Das war a Wahnsinn!«
Entgegen der voreiligen Annahme, deutsche Migrant_innen hätten gar kein Sprachproblem in Österreich, zeigen die Interviews, wie bereits beschrieben, ein anderes Bild. Auch für deutsche Migrant_innen kann Sprache ein wesentlicher und sogar kritischer Faktor im Prozess der kulturellen Integration sein. Zum einen müssen sie die am Ort übliche Umgangssprache lernen und spezifische Ausdrücke des österreichischen bzw. des ›Wiener‹ Deutsch und anderer Dialekte verstehen. Zum anderen erzählen Migrant_innen aus Deutschland aber auch, dass sie an bestimmten Elementen der deutschen Umgangssprache aus ihrem Herkunftsland bewusst festhalten und die Übernahme äquivalenter Ausdrücke aus der österreichischen Umgangssprache bewusst verweigern. (Sieh auch Kap. 4.1.1) Auch hier zeigt sich also eine heikle Balance zwischen der Bewahrung des Eigenen und der Aneignung des Fremden.
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Dass die eben erst erworbenen Sprachkenntnisse auch in die Erziehung der eigenen Kinder hineinwirken, soll ebenfalls noch erwähnt werden. So bestimmen die Sprachkenntnisse zugewanderter Mütter unter anderem auch die Auswahl von Kinderbüchern oder die Kenntnis von Kinderreimen. Die aus Dänemark nach Österreich gezogene Frida beschreibt Kinderbücher und Kinderlieder in deutscher Sprache bzw. österreichischer Herkunft als die ihr fehlenden und von ihr vermissten Wissenselemente; dieser Mangel habe für die Integration ihrer Kinder Nachteile gehabt. Sie verdeutlicht damit, wie weitreichend, umfassend und vielfältig die Anforderungen an zugewanderte Frauen sind, die eine Ehe mit einem österreichischen Mann eingehen und mit ihm Kinder aufziehen, die zumindest nach der Vorstellung des Mannes und der Schwiegereltern als ›österreichische‹ Kinder aufwachsen sollen. Dass es hier nicht ›nur‹ um die Integration der zugewanderten Ehefrau geht, sondern auch um die Konstruktion eines sozialen Systems Familie, welches bestimmten Ordnungsvorstellungen entsprechen soll, die zum einen eine Ordnung der Geschlechter vorsehen und zum anderen eine ›Nationalisierung‹ des Nachwuchses, wird uns gleich noch beschäftigen. Fridas fast schüchtern vorgetragene Erinnerung an ihre fehlende Kompetenz, österreichische Kinderbücher und Kinderlieder einzusetzen, deutet bereits darauf hin: »Aber vielleicht kann ich etwas sagen, das man nicht denkt, wenn man ins Ausland heiratet, und das eben ist wenn man Kinder kriegt. Dann fehlt eine ganz, ganz große Lücke. Also zum Beispiel Kindergeburtstagsfeier. Ich hab hier gar keine Kinderlieder gekannt von hier. Oder Kinderspiele, die man hier macht. Aber in Dänemark kenn ich alle Lieder. Also das hat mich auch ziemlich gestört.«
Das Eigene und das Fremde: Grenzen der Integration und Identifikation Die Aufforderung und Selbstaufforderung zur Integration auf den Ebenen der Identifikation und des Kulturellen kennt Grenzen. Eine vollständige Identifizierung mit dem Aufnahmeland, aber auch eine vollständige Übernahme von in der Kultur der Aufnahmegesellschaft gängigen Handlungsmustern und Verhaltensweisen, wird von den interviewten Migrant_innen keineswegs als erforderlich erachtet. Dies würde ja auch bedeuten, Identifikationen mit der Kultur des Herkunftslandes gänzlich abzubauen oder sämtliche kultur-soziale Praktiken der Herkunftskultur aufzugeben. Es sind vielmehr stets bestimmte Aspekte, die für ein sozialkulturelles Milieu, für eine Berufsgruppe oder für die Bewohner_innen eines Gemeinwesens hervorgehoben werden und an denen das Gelingen der – immer nur partiellen – Identifikation bemessen wird. Über die Nicht-Erforderlichkeit einer vollständigen kulturellen und identifikativen Integration herrscht Konsens unter den hier interviewten Migrant_innen. Darüber hinaus werden die je für erforderlich erachteten Grenzen der Identifikation und
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kulturellen Integration seitens der Immigrant_innen selbst im Lauf des Lernprojekts Integration dort gezogen, wo die Anpassung als wertvoll erachtete Elemente der jeweiligen Herkunftsgesellschaft zu gefährden scheint. Der Aneignung des Fremden tritt ein Projekt gegenüber, das wir vorläufig noch ganz allgemein die Bewahrung des Eigenen nennen können. Beide Projekte koexistieren, können sich aber zuweilen auch in die Quere kommen, wie nun gezeigt werden soll. Der 2003 aus dem Süden Spaniens nach Österreich übersiedelte Diego hält an Werten, Normen, Handlungs- und Deutungsmustern seiner Herkunftskultur entschieden fest, wie er offenbar angesichts des auch von ihm verspürten Anpassungsdrucks nicht ohne argumentativen Aufwand erklärt. Obwohl er viele Aspekte der österreichischen Kultur positiv beurteilt und sein Verhalten in einigen Bereichen entsprechend adaptiert hat, fühlt es sich immer noch überwiegend ›fremd‹ und ›anders‹ an. Für ihn ist es vor allem die als übermäßig empfundene »Strenge« und »Genauigkeit« der Österreicher_innen, die ihm, gemäß seiner Deutung, als Andalusier Probleme bereitet. Eine weitergehende Anpassungsleistung scheint ihm nicht nur unnötig, sie wäre in seiner Perspektive auch unzweckmäßig, da er ohnehin nach Andalusien zurückkehren möchte. »Also manche Sachen von hier, wie alles funktioniert, wie so eine große Stadt super funktionieren kann, weil es ist wirklich so strukturiert. Weil es so und Punkt, Punkt, Punkt, alles so super. Des gefällt mir, aber manchmal ich denke auch, es muss nicht alles so super streng sein. Man kann auch so ein bisschen flexibler sein, oder? Naja. Und solche Sachen, schön langsam des reicht mir, weil ich passe schon hier her, aber nicht ganz!«
Vor allem Sätze wie »Ich verstehe es, aber das ist nicht meine Art zu leben« oder »[...] ich passe schon hier her, aber nicht ganz« bringen die Deutung und Wahrnehmung einer bewusst nur partiell vollzogenen kulturellen oder gar identifikativen Integration auf den Punkt: Der ›totalen Anpassung‹ widerspricht der legitime Wunsch, auch in der Herkunftsgesellschaft weiterhin ›heimisch‹ zu bleiben. Ein bewusstes Bewahren des Eigenen praktizieren auch einige der interviewten Frauen indem sie es entschieden ablehnen, im Herkunftsland erworbene geschlechtsspezifische Rollenbilder (die ganz wesentlich durch Identifikation entstehen) aufzugeben. (Siehe Kap. 4.2.3) Sie sehen dafür keinen Verhandlungsspielraum und zeigen sich entschlossen, an dem in der Herkunftskultur diesbezüglich Erlernten festzuhalten, insbesondere auch dann, wenn mit einer Änderung grundlegende Ansprüche auf gleiche Rechte betroffen wären.20 Vor allem Frauen, die aus skandinavischen Ländern zugewandert sind, wollen vom Modell einer fairen, partnerschaftlichen Arbeitsteilung und von dem Anspruch auf Gleichberechtigung von Mann und Frau keinesfalls abgehen. Zwar bleibt in manchen Fällen undeutlich, ob 20 Vgl. dazu z.B. Bergman 2008.
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eine solche Forderung seitens des Partners im konkreten Fall wirklich besteht, oder ob diese nur imaginiert wird. Häufig wird eine solche Forderung zudem nicht nur vom Ehemann, sondern auch von den Schwiegereltern erhoben. Die folgende, kurze und scheinbar lapidare Sequenz aus der Erzählung Tildes gibt uns den Hinweis auf eine kritische Grenze der kulturellen und identifikativen Integration, sei es in einer Ehe oder in einem lokalen Milieu, die zu überschreiten höherrangige ethischmoralisch und politische Werte verletzen würde; Werte, die in einem skandinavischen Land auch schon in den 1960er Jahren weit fester (durch Identifikation mit emanzipatorischen Ideen) verankert sind als zur selben Zeit in Österreich. »Weil ich kann das nicht ändern. Also ich kann nicht so eine ›Ja, ich mache alles was du möchtest‹-Ehefrau sein. Also auf die Idee komm ich gar nicht!« (Tilde)
Skandinavische Frauen, die in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren nach Österreich kamen, erlebten, dass Frauen in Österreich noch sehr stark auf dienende Rollen in patriarchalen Strukturen des Hauses, der Kleinfamilie und des weiteren Familienzusammenhangs (einschließlich der Schwiegereltern bzw. der Großeltern der Kinder) festgelegt waren. Die österreichische Gesellschaft begann zwar ab Mitte der 1970er Jahre nachzuziehen, doch die diesbezügliche kulturelle Differenz bestand weiterhin und ist auch noch in den 2010er Jahren zu bemerken. Der Entwicklungsvorsprung skandinavischer Länder wird daher von Frauen, die aus diesen Ländern nach Österreich zugewandert sind, subjektiv mit gewissem Stolz ausgedrückt, beispielsweise in der Coda der folgenden Sequenz. »Der [Ehemann, M.N.] sollte ja bedient werden, seine Hemden gebügelt werden und das Mittagessen auf dem Tisch stehen, am liebsten mit Knödle und Schweinsbraten. ((Lachen)) Und das ist für eine Dänin, auch damals, sehr schwierig. Weil in Dänemark machen die Männer genauso viel wie die Frauen, oder ab und zu ein bissl mehr sogar!«
So beschreibt Caroline, die in den 1970er Jahren von Dänemark nach Österreich gekommen ist, nicht ohne Ironie die hier vorgefundene Situation. Auch Sara, die in den 1990er Jahren aus Finnland nach Österreich zugewandert ist und hier einen Österreicher geheiratet hat, argumentiert ähnlich. Auch sie erkennt einen Entwicklungsvorsprung der »skandinavischen Länder«, ohne diesen näher erklären zu wollen. In ihrem ersten Satz ist eine Entwicklungsrichtung zur Gleichrangigkeit von Frau und Mann in der Arbeitswelt unterstellt, der sich kein europäisches Land entziehen könne. Mit der Metapher von »möglichen Kriegen« (zwischen Männern und Frauen) wird auch hier ausgesprochen, dass Migrantinnen aus skandinavischen Ländern nicht im Entferntesten daran dachten, sich dem diesbezüglich ›niedrigeren‹ Entwicklungsstand Österreichs bzw. den patriarchalen Strukturen in den Familien ihrer österreichischer Lebens- und Ehepartner anzupassen. Insbesondere ist es aus
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skandinavischen Ländern zugewanderten Frauen undenkbar, sich auf die besondere Unselbständigkeit und sozialökonomische Abhängigkeit einer Hausfrau einzulassen: »Und ich denk mir, die skandinavischen Länder sind einfach weiter diesbezüglich, ja. Und da denk ich, also da hätte es schon zu Kriegen kommen können. ((Lachen)) Also, weil für mich vollkommen klar von Anfang an, also ich werd sicher keine Hausfrau. Und das ist für mich sozusagen, also bei uns Skandinavierinnen wahrscheinlich eindeutiger von vornherein schon als hier.«
War es zunächst ›nur‹ die Aufgabenverteilung zwischen den Ehepartnern im Haushalt und in der Elternarbeit, die zu einem Kriterium für eine moderne und demokratische Gesellschaft erklärt wurde, werden in den letzten Jahrzehnten auch die erst schwach ausgebildete Väterkarenz und die fehlende politische und institutionelle Unterstützung für jene Frauen, die Mutterschaft und berufliche Karriere verbinden wollen, von aus Skandinavien Zugewanderten als sehr nachteilig beschrieben. »Und auch ich glaube, die Frauen hier haben nicht andere Erfahrungen gemacht. Dass sie das schaffen können, mit ruhigem Gewissen arbeiten und Kind und gute Mutter sein. Diese Erfahrung gibt es hier noch nicht.« (Mia)
Kochen zugewanderte Frauen für das österreichische Patriarchat? Die Fähigkeit, in der Aufnahmegesellschaft übliche Speisen zuzubereiten, kann ohne Zweifel der kulturellen Integration zugeordnet werden. Einige Migrantinnen sprechen dieses Thema an, deuten es aber, wie sich gleich zeigen wird, auf sehr unterschiedliche Weise. Für Lucía, die in den 1960er Jahren aus Spanien nach Österreich kam, war es bald selbstverständlich, als in Österreich lebende Ehefrau eines Österreichers typisch österreichische Mahlzeiten zubereiten zu können. Wie sie am Ende der folgenden Sequenz andeutet, schien es ihr selbstverständlich und notwendig, ihrem österreichischen Partner und ihren Kindern ›österreichische‹ (also gewissermaßen von ihr selbst als ›nationalisiert‹ wahrgenommene) Speisen vorzusetzen. »Ich habe am Anfang natürlich sofort gelernt Schnitzel zu machen. Damals die österreichische Küche war ganz anders als jetzt. Es war nur bodenständig, nicht, also Schnitzel, Schweinsbraten, Gulasch, alle diese Sachen. Fisch haben die Österreicher kaum gegessen. Und ich habe natürlich sofort gelernt. Sofort gelernt einen Gugelhupf zu machen und so weiter.«
Die wesentlich jüngere Olivia, die zum Zeitpunkt des Interviews Mitte Dreißig ist, geht deutlich anders mit ihrer Anpassung in Fragen der Mahlzeiten und des Kochens um. Sie verweigert sich dem Anpassungsdruck konsequent und offenbar
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erfolgreich. Das Argument, dass sie »die österreichische Küche« nicht »könne«, ist allerdings wenig überzeugend, denn viele Frauen und Männer lernen heute alle möglichen ›fremden‹ Mahlzeiten über Rezepte zuzubereiten. Olivia zieht sich offenbar auf das Argument des »Nichtkönnens« zurück, um ihre partielle Verweigerung der Anpassung mit einem vermeintlich nicht widerlegbaren Sachargument zu begründen. Offensichtlich treffen wir hier aber auf eine weitere subjektive Grenze, sich dem kulturell Fremden anzupassen. Hier schwingt auch der Widerstand dagegen mit, sich einem patriarchalen Familienmodell zu unterwerfen, das vorsieht, dass die Ehefrau und Mutter, auch was das Kochen begrifft, den Ehemann und die Kinder nach deren Geschmack zu bedienen hat: »Ich koche nicht österreichische Küche, weil ich es nicht kann. Also wenn meine Tochter oder mein Mann Schnitzel essen möchten, dann müssen sie ins Lokal oder zu meiner Schwiegermutter gehen. Weil ich kann=s nicht!«
Es ist nicht allein der große Altersunterschied, der die geradezu entgegengesetzten Haltungen der beiden Zuwanderinnen Lucía und Olivia erklärt. Auch die ab den 1970er Jahren stark veränderten geschlechtsspezifischen Rollenbilder wirken sich hierbei aus. In dem Maße, als es Frauen gelingt, sich der selbstverständlichen Zumutung, für das Kochen und Servieren von Mahlzeiten nach dem Geschmack und Willen der Ehemänner verpflichtet zu sein, zu entziehen, können auch mit Österreichern verheiratete Frauen aus Skandinavien, Deutschland oder Spanien dem Druck eher widerstehen, umgehend ›wienerisch‹ oder ›österreichisch‹ kochen zu lernen. Wir sehen hier aber auch, dass in diesem Kampf um die Eigenständigkeit als Frau Argumente benützt werden, die Grenzen der Erlernbarkeit vorschieben, um sich dem Vorwurf, anpassungsunwillig zu sein, nicht auszusetzen. Respekt und Autorität – ›Du‹ oder ›Sie‹? Andere, aus den Interviewtexten rekonstruierbare Exempel für das Fremdbleibende und das Bewahren des Eigenen, scheinen auf den ersten Blick oft wenig dramatische Kleinigkeiten des Alltagslebens zu sein. Erst bei näherem Hinsehen wird auch hier erkennbar, dass sich damit Identifikationen mit primären Ordnungen des Sozialen verbinden. So wird vor allem von Migrant_innen aus Skandinavien, aber auch aus Spanien immer wieder zur Sprache gebracht, dass ihnen die Unterscheidung von Personen, die in der dritten Person (›Sie‹) angesprochen werden, um Respekt und/oder Distanz auszudrücken, von Personen, die in der zweiten Person (›Du‹) angesprochen werden, um Verwandtschaft, Freundschaft oder vertraute Nähe auszudrücken, Schwierigkeiten bereitet. (Siehe Kap. 4.1.2) Da die Anrede in der dritten
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Person in allen skandinavischen Ländern21 sowie in vielen Regionen Spaniens nur selten verwendet wird, fällt es den Migrant_innen aus diesen Ländern in Österreich zumeist schwer, immer die richtige Entscheidung zu treffen, was unter Umständen auffällig und sozial unpassend wirken kann. Einige Interviewpartner_innen haben aber zudem auch Probleme damit, die formalen Ausdrücke von Respekt vor Autorität etwa in der Anrede ›Sie‹ oder mit akademischen und anderen Titeln nicht als übermäßig formell und künstlich zu empfinden. Hören wir dazu hintereinander den aus Dänemark zugewanderten August, den aus Spanien zugewanderten Álvaro und die aus Madrid zugewanderte Marta. Die Übereinstimmung der Argumentationen ist frappierend: »Weil ich war halt Dänemark gewohnt und in Dänemark ist alles ganz locker. Dieser ganze Umgang miteinander, man verwendet eigentlich nie das ›Sie‹. Es is immer alles per ›Du‹. Und das war ich halt gewohnt. Also zum Beispiel auf der Uni hab ich angefangen, und da war alles auf einmal ›Herr Professor‹ und so ein Blödsinn. Und ich hab mir gleich gedacht he, was ist, sind die alle verrückt? Wer redet denn so? So redet man ja gar net miteinander. Also damit bin ich ganz, ganz schwer klargekommen.« (August) »Ja, ich glaub, dass die Gesellschaft ein bisschen hierarchischer ist im Allgemeinen. In Spanien ist man sehr schnell per ›Du‹ und man verwendet nicht die akademischen Titel. Die akademischen oder beruflichen Titel. Ja, überhaupt nicht. Also ein Doktor in Spanien ist nur ein Arzt. Und da ist es ein bisschen anders. Manchmal ist es gut, dass man, wie soll ich sagen, Respekt hat vor einer Person, die eine akademische Ausbildung erlangt hat. Aber es muss nicht alles sein. Es muss auch nicht bedeuten, dass diese Person ausgezeichnet ist oder mehr wert ist als andere.« (Álvaro) »Oder mit dem verdammten Titel. Dreimal Doktor, Professor und emeritierten weiß Gott. Das ist ein Wahnsinn. Diese Leute / - In dem Moment, wo sie das benutzen, die sagen ›Okay, ich bin besser als du. Ich hab drei Doktoren oder zwei Magister‹. Aus, tut mir leid, ich kann damit nicht umgehen. Ich respektiere das zwar und wenn ich jemand vorstellen muss, dann weiß ich was ich zu tun habe.« (Marta)
Während die formellen Anreden für Migrant_innen aus Deutschland, wohl auch bedingt durch die gemeinsame Sprache, kein Problem darstellen, behaupten einige von ihnen, ›die Österreicher‹ legten im allgemeinen noch deutlich höheren Wert auf 21 Vgl. z.B. Thomas Ekman Jørgensen, The Scandinavien 1986 in a European perspective. In: Scandinavian Journal of History 33/4 (2008), 326-338; bes. 327. Zum Unterschied zwischen leistungsorientierten Gesellschaften wie den skandinavischen, in denen soziale Herkunft und Titel eine untergeordnete Rolle spielen, und herkunftsorientierten Gesellschaften wie Österreich vgl. Lüsebrink 2012, 29 ff.
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akademische Titel als ›die Deutschen‹, und erzählen, dass sie als Immigrant_innen dies in Situationen des Alltags erst lernen mussten. So erzählt Lisa nicht ohne Humor: »Aber es sind halt so witzige Sachen, wenn man dann im Wartezimmer sitzt und so ›Frau Doktor bitte in die Ordination Eins‹. Und du denkst dir, so wer steht jetzt alles auf? Und bei uns in Deutschland ist Frau Doktor halt die Ärztin, die sollte eigentlich schon in der Ordi Eins sitzen. ((Lachen)) Und ja solche Sachen, wo man dann einfach, sagt ›Hey, das ist so. Das ist einfach so.‹ Wo man sich am Anfang wahrscheinlich noch irgendwo aufgeregt hat, weil du gedacht hast, das is einfach Diskriminierung Nummer Hundertfünfzig, bitte was soll das? Und jetzt sitzt du halt irgendwo drinnen und schaust dir das Spielchen an und denkst dir, wer steht da jetzt auf? Und das ist das, was ich meine, also dass man halt einfach nicht alles so ernst nehmen sollte.«
Die wie Lisa aus Deutschland zugewanderte Isabella entschloss sich genau aus diesem Grund, ihr Studium in Österreich doch zu beenden, sich also ›anzupassen‹. Sie zieht aus ihren Beobachtungen den Schluss, dass man in Österreich einige Vorteile hat, wenn ein akademischer Titel vor dem Eigennamen steht: »Weil ich gemerkt hab, hier kommt man ohne Abschluss und ohne Titel nicht weiter. ((Lachen)) Deswegen hab ich mich jetzt dazu entschlossen.«
Identifikation oder Adaption? Zwischen einer kulturellen Integration und einer Integration qua Identifikation lassen sich also feine, aber wichtige Unterschiede ausmachen. Kriterium der Unterscheidung ist die Frage: Wo werden von Migrant_innen lediglich in Österreich übliche symbolische Praktiken und Handlungsmuster übernommen, und wo verinnerlichen sie auch die mit ihnen verbundenen Werte und Normen? Dabei lassen sich drei ›Formen‹ rekonstruieren: Erstens die Adaption von Handlungsmustern und damit verbundenen Werten; zweitens die Adaption an Handlungsmuster und Verhaltensweisen, ohne die dazugehörigen Werte ebenfalls zu übernehmen; drittens die Zurückweisung sowohl von Verhaltensweisen als auch von Werten oder Wertesystemen. Ein Beispiel hierfür stellt die eben beschriebene Problematik des Duzens und Siezens dar. Der zitierte junge Däne August hat zwar mittlerweile gelernt, die symbolische Praxis des Siezens einzusetzen und sich nicht mehr darüber »zu ärgern« (kulturelle Integration), aber er findet immer noch, das sei »ein Blödsinn« (er identifiziert sich also nicht damit, ja er verspürt einen inneren Widerstand dagegen). Die Spanierin Marta ärgert sich zwar auch über die »verdammten Titel«, stellt mittlerweile aber Leute einander ebenfalls auf diese Weise vor. Auch die Deutsche Theresa beschreibt eine bewusste, sozusagen pragmatische Übernahme bestimmter Ver-
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haltensmuster, ohne sich mit diesen emotional zu identifizieren. Für sie stellen diese Muster lediglich kalkuliert angewandte Strategien dar, um ein Ziel zu erreichen, oder wie sie treffend sagt: Sie betrachtet den Gebrauch der kulturellen Muster als »ein Spiel«, das sie erlernen musste: »Also natürlich hab ich mit den Jahren immer mehr verstanden, wie diese österreichische Seele funktioniert, und natürlich kann ich das Spiel auch ganz gut schon spielen, ja. Und manche Dinge, die mach ich dann auch schon so.«
Während also einige Interviewpartner_innen, mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger intentional, ihre Adaption an gewisse Verhaltens- und Denkmuster ablehnen, oder aber sich bewusst ›anpassen‹, indem sie das kulturelle Spiel erlernen, praktizieren andere eine eher widerwillige Übernahme von gängigen Handlungsmustern. Theresa erzählt, dass sie die höflich-formellen Anrede im Laufe der Zeit eher widerwillig übernommen habe. Hier kann nicht also von einer Integration qua Identifikation gesprochen werden. Theresa hat lediglich angesichts der Zweckmäßigkeit eine Strategie entwickelt, das symbolische Spiel mitzuspielen, ohne damit identifiziert zu sein. Allerdings denke sie nach einigen Jahren des diesbezüglichen Verhaltenstrainings gar nicht mehr darüber nach. »Weil ich weiß, dass ich sozusagen mit meiner sogenannten deutschen Direktheit hier nie was erreichen werd. Das heißt, ich muss halt anfangen auch irgendeinen Schmäh zu führen, obwohl ich=s nicht lustig finde und mich das anödet. Es ist halt eine Strategie. Es ist nicht meine Strategie, es ist halt die Strategie, wie in Österreich halt sehr vieles funktioniert. Und wenn du sozusagen überleben willst, bleibt dir nichts anderes übrig als halt Teile davon anzunehmen oder zu übernehmen. Und früher hab ich das widerwillig gemacht und jetzt denk ich mir, jetzt ist es auch schon ein Teil von mir geworden und es geht ganz gut, ich denk schon nicht mehr drüber nach.«
Das neue Eigene und das fremde Alte: Zurück im Herkunftsland Was geschieht aber, wenn mehr oder minder angepasste Zuwander_innen auf Urlaub oder für eine gewisse Zeit in ihr Herkunftsland zurückkehren? Die aus Spanien nach Österreich zugewanderte Alicia erzählt, dass vor allem ihren Eltern ein verändertes Verhalten ihrer Tochter während ihrer Besuche in Spanien auffällt. »Meine Eltern haben immer gesagt, wenn ich in Spanien bin, die ersten vier Tage bin ich ein Arsch. Die sagen ›Du bist so unhöflich und du bist trocken, weißt du, du bist ungeduldig. Und du bist einfach anders und dann nach drei Tage irgendwann du lässt los und dann bist du wieder normal.‹ Das haben sie immer gesagt.«
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Derart mit ihren anderen und in Spanien ›fremden‹ Verhaltensmustern konfrontiert, deutet Alicia diese Veränderungen als etwas, das sie »an sich nicht besonders mag«. Sie versucht ihre ursprüngliche Gelassenheit wiederzuerlangen und sich diese auch in Österreich zu erhalten. Auch die aus Spanien zugewanderte Inés beschreibt das Phänomen der teils unbewussten Übernahme von Verhaltensweisen. Sie spricht sehr ausführlich über die von ihr empfundenen Unterschiede zwischen Spanien und Österreich im Hinblick auf egoistisches bzw. altruistisches Denken.22 Während ihr ein ›Mitdenken an die Anderen‹ als ›normal‹ erscheint, machte sie die Erfahrung, dass sie sich durch diese Denk- und Handlungsmuster von vielen Österreicher_innen unterscheidet. »Irgendwie ich verhalte mich so wie ich es machen würde, wie ich bin. Und oft bin ich angesprochen und gesagt ›Pfau, du bist so lieb, du denkst immer an den Anderen, du bist aufmerksam, du denkst immer das oder jenes‹. Am Anfang hab ich mir gedacht ›Warum wird=s so gesehen, es ist normal, wir sind so‹.«
In diesem Kontext erzählt sie auch von Veränderungen, die sie in den letzten Jahren an ihren eigenen Verhaltensweisen bemerkt. »Umgekehrt ich beginne ein bisschen lockerer zu werden und mehr Österreicherin. Weil irgendwie man wird wie das Land, in dem man wohnt, weil ich bin integriert in die Gesellschaft. Und wenn ich in Spanien bin, muss ich aufpassen. Nicht dass ich das Gegenteil mache, dass die Anderen dann denken, ›Uff, sie ist egoistisch oder Individualistin‹ oder so.«23 »Weil muss man es leben und wenn man nicht ständig da ist, dann natürlich die österreichische Kultur wird stärker und jetzt bin ich in einer Zeit, wo beide Kulturen gleich stark sind. Und wo ich manchmal Schwierigkeiten habe zu unterscheiden wann oder wie und wo wird da was hier gemacht. Macht man das so oder so? Oder ich gehe nach Spanien und ich gehe davon aus, dass so gemacht wird, weil ich es täglich mache. Und ich bin in Spanien, aber dann denke ich mir, aha na doch nicht. Die Leute sagen zu mir, ›Inés, das ist österreichisch, das machen wir nicht hier so!‹ Und dann ist es wie, ›Stimmt, ich habe es vergessen.‹«
Auch für Inés ist kulturelle Integration demnach ein Lernprozess, der vornehmlich im Alltag durch wiederholte Interaktionen und die Interpretation des dabei Erlebten, also durch Erfahrung (d.h. interpretierte Erinnerung) erfolgt. Dieser Lernprozess führt auch zu Automatisierungen und neuen Gewohnheiten, durch welche die in der 22 Vgl. dazu z.B. auch Hofstede 2001, 209 ff.; Lüsebrink 2012, 24 f. 23 Vgl. auch Kapitel 7.
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Herkunftskultur üblichen Verhaltensmuster zumindest vorübergehend in den Hintergrund rücken können. 5.2.2 Soziale Integration Soziale Integration stellte die in den Interviews vielleicht am klarsten explizierte Ebene der Integration dar. Sie meint vor allem die Herstellung von relativ dauerhaft gepflegten und orientierungswirksamen, nützlichen Beziehungen. Migrant_innen, die dem Sinntyp ›Integration als explizites Ziel‹ (s.o.) zuzuordnen sind, setzten sich im Laufe ihrer Migrationsbiographie bewusst mit der Frage auseinander, wie und wo sie am besten Leute kennenlernen und Freunde finden können. Einige der Gesprächspartner_innen erwähnen in diesem Kontext keinerlei Schwierigkeiten oder Herausforderungen, andere beschreiben zwar gewisse Probleme oder Hürden, konnten diese jedoch großteils bewältigen. Vor allem der ›erste Schritt‹ stellt sich als der schwerste dar, wurden erste soziale Kontakte etabliert, ergeben sich auch weitere Bekanntschaften und Freundschaften. Ergänzend, und keineswegs im Widerspruch zu einer sozialen Integration in Österreich stehend, stellt für meine Interviewpartner_innen der Aufbau und das Erhalten von transnationalen sozialen Netzwerken und deren Integration in den Alltag einen bedeutenden Orientierungsrahmen dar. Regelmäßige, oft sogar tägliche Kommunikation via Handy, Skype oder Facebook mit Freunden und Familie sowie regelmäßige Besuche und Aufenthalte im Herkunftsland sind für die Migrant_innen ein essentieller Bestandteil ihres Lebens. Diese Praxis mindert jedoch in keiner Weise die Bedeutung der in Österreich für nötig befundenen Integration und die diesbezüglichen Bemühungen. Sie wird als Komplementierung und nicht als Substitution gedeutet und gelebt. (Siehe auch Kap. 6.4) Hürden und Hindernisse Die für Migrant_innen aus Spanien und Skandinavien größte und erste Hürde zur sozialen Integration stellt wenig überraschend die Sprache dar (s.o.). Eine (noch) mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache ist so für einigen Gesprächspartner_innen der/ein Grund für ein anfängliches Gefühl der Isolation. Eine weitere Schwierigkeit ist das Fehlen von Informationen über lokale Themen, Verhältnisse und Beziehungsnetzwerke, die für die alltägliche Konversation am Arbeitsplatz oder auch in der Freizeit von Relevanz sind. Erik aus Norwegen beispielsweise erinnert sich an die schwierige erste Zeit in Österreich: »Der Anschluss war schwierig, sozial auch. Weil man einen anderen Hintergrund hat. Eben, ich hab nicht gewusst worüber die Leute reden oft. Auch wenn ich sie sprachlich
Integration | 285 perfekt verstanden habe. Die Referenzen waren mir nicht gängig. Ja, dementsprechend hab ich nicht mitreden können.«
Aber auch den Migrant_innen unvertraute Formen der Kommunikation sowie ihnen fremde Verhaltensweisen stellen anfängliche Hürden einer sozialen Integration dar. Für die aus Spanien zugewanderte Eva war vor allem das von ihr als kalt und distanziert empfundene Verhalten vieler Österreicher_innen anfangs sehr hinderlich dabei, sich sozial zu integrieren: »Am Anfang einfach der Kontakt mit den Menschen, also ich komme aus einer Mittelmeerkultur. Und die ersten körperliche Kontakte, die Distanz der Menschen hier, muss man zuerst die Hand geben, nicht gleich küssen. Und ich bin unbewusst manchmal beleidigt. Und das für mich sehr peinlich irgendwie, weil es war nicht so gemeint. ((Lachen))«
Auch von anderen Migrant_innen aus Spanien wird die fehlende Spontaneität ›der Österreicher‹ in den ersten Kontaktnahmen erwähnt. Es sei, so erzählen sie, schwierig gewesen, überhaupt Leute zu treffen, da man in Spanien nicht gewöhnt sei, Termine weit im Voraus zu vereinbaren. Strategien und Erfolge Meine Interviewpartner_innen sind der Auffassung, dass es bei allen Hindernissen doch letztlich in ihrer eigenen Verantwortung liege, auf eine aktive Weise soziale Kontakte herzustellen, d.h. vor allem, aktiv auf Menschen zuzugehen, offen zu sein und Interesse zu zeigen. Sara, aus Finnland argumentiert beispielsweise so: »Wie man sich auch öffnet oder wie man selber auch bereit ist, da sozusagen Anschluss zu suchen. Weil es ist natürlich klar, es kommt jetzt niemand zu mir ((Lachen)), wenn man mich nicht kennt.«
Diesbezüglich grenzen sich einige der hier interviewten Immigrant_innen von ihnen bekannten Zuwander_innen ab, denen sie vorwerfen, zu wenig aktiv zu ihrer Integration beizutragen. Vor allem Gesprächspartner_innen aus Spanien thematisieren einen mangelnden Integrationswillen anderer aus Spanien oder Südamerika stammender Einwander_innen. Diese Argumente finden wir unter anderem bei Marta und Álvaro: »Es gibt Menschen, ich kenne viele, die seit vielen, vielen Jahren hier leben. Vor allem wie gesagt ein paar Spanier und Südamerikaner, die sich noch nicht adaptiert haben. Aber das ist eine persönliche Einstellung, wenn du nicht willst, dann geht=s nicht. Weil die haben damals zu mir gesagt: ›Ma ihr seid so zu beneiden, weil ihr habt so viele Freunde und ihr seid integriert‹. Ich sag, ›Tschuldigung, ich meine das bekommt man nicht im Super-
286 | »Auch wir sind Migrant_innen « markt. Das ist eine harte Arbeit. Wenn du auf die Leute nicht zugehst, dann wirst du nie im Leben einen Freund haben‹. Und vor allem wenn du nach dreißig Jahren kein Deutsch sprichst, dann hast du wirklich ein Problem. [...] Ich sage ›Entschuldige, die Sprache bekommst du nicht in die Vene, in eine Infusion, sondern du musst das lernen. Und du musst üben, du musst Fehler machen und du musst stolpern. Aber es ist deine Arbeit, nicht die von den andern‹.« (Marta) »Andere Leute, die ich hier in Wien aus Spanien gekannt habe oder aus Südamerika, die immer mit dem Kopf in ihrem eigenen Land gewesen sind. Ich hab immer nach vor geschaut. Ich hab nichts vermisst. Und ich musste auch durch die Arbeit ein paar Mal im Jahr nach Spanien. Ich war immer auch zu Weihnachten zuhause. Mein Gott, wenn du dort bist, dann genießt du das. So wie es dort ist und wenn ich da war, dann hab ich das so genossen wie es hier war. Das hat mir keine Probleme bedeutet.« (Álvaro)
Auch eine offene, kommunikative Persönlichkeit wird von den Gesprächspartner_innen im Hinblick auf eine soziale Integration als hilfreich erachtet. Da sich aber diesbezügliche Besonderheiten einer Person nicht einfach ändern lassen, sind Prozesse der Sozialisation in der Herkunftskultur, die lange vor der Migration abgelaufen sind, für die gelingende Integration mitverantwortlich. So argumentiert beispielsweise Isabella, die aus Deutschland nach Österreich gekommen ist: »Und ansonsten bin ich ein sehr kontaktfreudiger Mensch. Also ich lern schnell Leute kennen, ob=se wollen oder nicht. So rum möcht ich das mal sagen. Ich bin kommunikativ, ich kann auf Leute zugehen. Wenn ich in Ruhe gelassen werden will, dann werd ich in Ruhe gelassen. Ich kann nicht wirklich beurteilen, ob das leicht ist, hier Kontakte aufzubauen oder nicht. Weil ich hab=s halt einfach gemacht.«
Wie schon mehrfach erwähnt, praktizieren aus Spanien und Skandinavien Zugewanderte häufig eine spezielle ›Integrationsstrategie‹, durch die sie sich vermutlich von Migrant_innen aus anderen Regionen unterscheiden: Um sich leichter und schneller zu integrieren, d.h. vor allem um schneller Deutsch zu lernen und sozialen Anschluss zu finden, meiden sie den Kontakt mit ›Landsleuten‹. Erst wenn sie das Gefühl haben, sich ausreichend integriert zu haben, ›erlauben‹ sie sich auch Kontakte zu Migrant_innen aus ihrem Herkunftsland. »Ich bin nicht daher gefahren, um mit Dänen herumzurennen. Ich wollt wirklich Ausland, was erleben und halt diese Kultur erleben, das wollt ich.« (August) »Also ich wollt eigentlich möglichst wenig mit Finnen zu tun haben. Und hab mich dann gleich irgendwie reingeschmissen. Also das war ganz wichtig, also dann die Österreicher kennenzulernen.« (Sara)
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Andere Interviewpartner_innen halten sich zwar nicht bewusst von Migrant_innen aus ihrem Herkunftsland fern, suchen den Kontakt aber auch nicht offensiv. Nur eine einzige Interviewpartnerin suchte bewusst den Anschluss an Migrant_innen aus ihrem Herkunftsland. Ihr fester Freundinnenkreis aus Finninnen kann und soll aber auch für sie die Integration in die österreichische Gesellschaft nicht ersetzen, sondern ergänzen. Manche Interviewpartner_innen (interessanterweise nur in den 1960er und 1970er Jahren zugewanderte Skandinavier_innen) wiederum beschreiben eine Strategie des Austauschs unter ›Landsleuten‹ als für sie wesentlich. Auch, oder vielleicht gerade, nach Jahrzehnten in Österreich »brauchen« und pflegen viele von ihnen die Gespräche mit Migrant_innen aus ihrem Herkunftsland, wie Frida und Caroline hier beschreiben: »Und was auch sehr wichtig ist ((Lachen)) wo wir alle so glücklich sind hier zu wohnen, dann is es ganz gut, wenn wir hier sitzen und kritisieren zusammen. ((Lachen)) Weil das kann man nicht machen, wenn Österreicher dabei sind. Das wär auch schade. Das tun wir nie, dass wir irgendwas sagen. Aber wenn wir so allein sitzen, dann sagen wir, also findest du das nicht merkwürdig und so weiter. Das brauchen wir alle. Aber keine wollen zurück gehen. ((Lachen))« (Frida) »Weil wenn wir Dänen zusammenkommen müssen wir uns ja ein bisschen ((Gestik, mit den Ellbogen ausholen)) aussprechen.« (Caroline)
Um die erwünschten sozialen Kontakte mit ›Österreicher_innen‹ zu knüpfen24, werden von Einwander_innen aus Skandinavien und Spanien Jugendgruppen, Kindergruppen, kirchliche Gemeinschaften oder Sportvereine genutzt. So berichtet der aus Spanien zugewanderte Álvaro: »Ich spiele Land- und Hallenhockey, somit war ich in einem Verein drinnen und ich sag einmal recht gut integriert. Und ich glaub, dass das für mich nicht nur, wie soll ich sagen, dass das nicht nur meine Integration, sondern auch die sprachliche Entwicklung gefördert hat.«
Aber auch der bereits bestehende Freundeskreis eines österreichischen Partners/ einer österreichischen Partnerin wird als gute ›Quelle‹ für Freundschaften beschrieben. Allerdings ist es einigen der Interviewpartner_innen durchaus wichtig, auch unabhängig vom/von der Partner_in ein soziales Netzwerk aufzubauen. Interessan24 Vgl. z.B. auch Stefanie Föbker/Carmella Pfaffenbach/Daniela Temme/Günther Weiss, Hemmnis oder Hilfe. Die Rolle der Familie bei der Eingliederung ausländischer Hochqualifizierter in den lokalen Alltag. In: Geisen/Studer/Yildiz 2014, 257-278.
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terweise sind es vor allem die jüngeren Migrant_innen aus Skandinavien, die das für wesentlich halten und auch im Gespräch thematisieren. Migrant_innen, die vor den 1990er Jahren nach Österreich gekommen und älter sind, legen darauf weniger oder keinen Wert. 5.2.3 Strukturelle Integration Die strukturelle Integration wird für einen Teil der hier untersuchten Migrant_innengruppen durch ihren Status als Bürger_innen der Europäischen Union bzw. des EWR-Mitgliedlandes Norwegen im Vergleich zu anderen Einwander_innen aus Europa oder von anderen Kontinenten wesentlich erleichtert. Für nach 1995 gekommene Migrant_innen fallen bürokratische Anforderungen wie das Ansuchen um Aufenthaltserlaubnis, Arbeitserlaubnis usw. weg. Aber auch Migrant_innen, die bereits vor 1995 nach Österreich gekommen sind, thematisieren diese Hürden in ihren Erzählungen nicht. Einzig der Deutsche Leo schildert dazu eine amüsante Episode im Umgang mit den örtlichen Behörden (s.u.). Ein weiterer wesentlicher Vorteil für Migrant_innen aus Skandinavien, Spanien und Deutschland ist, dass sie sehr oft über die für eine gelingende Integration nötigen Kapitalressourcen verfügen.25 Die Ähnlichkeit des mitgebrachten und des für das aufnahmelandspezifischen26 Kapitals (Ausbildungen, Universitätsabschlüsse, Sprachkenntnisse usw.) erleichtert die strukturelle Integration maßgeblich. Eine Integration in den Arbeitsmarkt, also eine für die jeweilige Person als befriedigend empfundene Erwerbsarbeit, stellt für die Gesprächspartner_innen einen wesentlichen Aspekt eines ›guten Lebens‹ in Österreich dar. Dabei sind die der Berufstätigkeit jeweils beigemessenen Bedeutungen sehr unterschiedlich. Für manche Gesprächspartner_innen geht es primär um die Finanzierung des Lebensunterhalts, während für andere die berufliche Karriere ein wesentlicher Orientierungsrahmen und ein gewichtiger, manchmal sogar der gewichtigste Teil ihres Lebenskonzepts ist. Dies wiederum kann, wie bereits diskutiert, für Frauen im Spannungsfeld von Mutterschaft und beruflicher Karriere zu Problemen führen. Probleme ergeben sich auch aus nicht kongruenten Berufskonzepten und Ausbildungsgängen. Die Dänin Frida erzählt in diesem Kontext, dass es den Beruf, den sie in Dänemark erlernt hatte, in Österreich in den 1960er Jahren gar nicht gab.
25 Vgl. z.B. Statistik Austria/Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Migration & Integration. Zahlen, Daten, Fakten 2014. (Wien 2014), 48 ff. 26 Vgl. z.B. Esser 2010, 146 ff.
Integration | 289 »Also ich bin ausgebildete Ärztesekretärin. Diesen Job gab überhaupt nicht hier. Das ist eine tolle Job in Dänemark und ein Teil ist Medizin, das man studiert und sehr interessant. Das gab überhaupt nicht.«
Aber auch Frida fand schließlich eine für sie zufriedenstellende Arbeitsstelle, beschreibt allerdings die beträchtlichen Unterschiede des Gehalts in Dänemark und Österreich als Migrationskosten: »Ja und dann kommt natürlich das, ahm dass ich sehr viel Geld in Dänemark verdient hab, und hier aber ham=ma ganz ein niedriges Gehalt gehabt. Als ich 1963 angefangen habe, und ich weiß noch heute, dass ich 1.600 Schilling verdient hab im Monat. Das war ungefähr ein Fünftel von dem, was ich in Dänemark verdient hätte damals. Also da muss / Und damit zufrieden zu sein, das war auch schwierig, nicht. Und gearbeitet von halbacht bis spät.«
Eine zu bewältigende Schwierigkeit der strukturellen Integration ist auch das Fehlen von Informationen und die Notwendigkeit, sich diese zu beschaffen. Dies kann Informationen über das österreichische Schulsystem (für die Einschulung der Kinder bzw. die Frage, welche Schule sie besuchen sollen), oder auch die Aufnahme eines Studiums betreffen. In einigen Fällen resultiert dieses Fehlen von Wissen und Informationen in dem Deutungsmuster ›zuhause wäre es einfacher‹. Von ernsthaften Schwierigkeiten mit Behörden und einer also solche empfundenen »Diskriminierung« berichtet die aus Deutschland zugewanderte Sabine: »Und dann hatten wir auch mit dem Finanzamt Probleme, wo man dann schon so eine Benachteiligung oder so ein bisschen eine Diskriminierung erfahren hatte. Die halt versuchten uns die Familienbeihilfe zu verwehren. Weil sie haben versucht, das auf Deutschland abzuwälzen mit der Begründung, weil unsere Eltern, die in Deutschland leben, uns unterstützen finanziell, hätten wir unseren Lebensmittelpunkt in Deutschland und nicht in Österreich, deswegen wäre Deutschland zuständig. Und für Deutschland war das genau andersrum. Also keiner war zuständig, und es hat dann irgendwie drei Instanzen und ein Jahr gedauert, bis wir das dann zugesprochen bekommen haben. Und ja, das war auch nicht schön.«27
27 Eltern haben in Österreich Anspruch auf Familienbeihilfe, »wenn sich der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Österreich befindet (ständiger Aufenthalt) und das Kind mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebt, also sich ebenfalls ständig in Österreich aufhält«. Vgl. dazu www.bmfj.gv.at/familie/finanzielle-unterstuetzungen/familien-beihilfe0/anspru chsvoraussetzung.html (10.10.2018). Offenbar war im Falle von Sabine und ihrem Freund, die beide zu diesem Zeitpunkt in Wien studierten, der »Mittelpunkt der Lebensinteressen« ein Streitfall.
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Die aus Spanien zugewanderte Eva wiederum schildert massive Hindernisse bei der Nostrifizierung ihrer akademischen Abschlüsse. Letztlich ließ sie nur eines ihrer in Spanien absolvierten Studien nostrifizieren, da ihr, wie sie erzählt, für eine Anerkennung des zweiten Studiums die Kraft und Zeit fehlte, nachdem ihre Kinder auf der Welt waren. Sie beschreibt »unendliche bürokratische Hürden«, mangelnde Hilfsbereitschaft der Zuständigen und fehlende Transparenz in den Entscheidungen der zuständigen Professoren als Gründe dafür, warum dieser Prozess für sie zu einem kräfteraubenden Kampf geworden sei. Auch der aus Dänemark zugewanderte Tobias erwähnt die Mühseligkeit eines solchen Prozesses. Die Spanierin Alicia wiederum beschreibt, wie zeit- und auch kostenintensiv die Zulassung zu einem Studium an der Universität Wien und die damit verbundene Anrechnung ihrer bereits in Spanien absolvierten Lehrveranstaltungen für sie war. Die aus Dänemark zugewanderte Frida sah außerdem Anforderungen einer strukturellen (aber auch kulturellen) Integration in den 1960er Jahren konfrontiert, die sie bei der katholischen Kirchenverwaltung vorfand, und die sie heute nicht mehr bereit wäre zu erfüllen. »Mein Mann war sehr katholisch und ich war evangelisch. In Dänemark ist man aber wirklich nicht besonders religiös. Und ich hab ohne Bedenken bei der Vorbesprechung beim Priester / Das klingt sehr naiv jetzt, aber das war damals so, das war entweder so oder ich kann gehn. Musste ich auf die Knie legen und schwören, dass meine Kinder schwer katholisch erzogen werden. Also sonst kriegt man nicht die Erlaubnis zu heiraten. Ich weiß genau, dass das am Keplerplatz war im 10. Bezirk, und ich begreife heute nicht, dass ich=s gemacht hatte. Ich finde es wirklich eine Frechheit. Aber damals war=s so. Nicht nur ich hab=s gemacht, andere auch. Wir reden schon darüber, wir haben das machen müssen.«
Für Frida ist diese Integration erzwungen, da sie ohne diesen Schritt nicht hätte heiraten dürfen. Ein gemeinsames Leben ohne (katholisch-kirchliche) Ehe wäre aber vermutlich für ihren katholischen Ehemann nicht in Frage gekommen, was wiederum bedeutet hätte, dass Frida keinen Grund gehabt hätte, in Österreich zu bleiben. Auch wenn sie es heute als »Frechheit« empfindet, hatte sie damals keine Wahl, da sie die gemeinsame Zukunft mit dem Mann, den sie liebte, nicht aufgeben wollte. Offenbar ist dies für mehrere Migrantinnen aus Dänemark eine unschöne und keineswegs vergessene Erinnerung, über die diese Frauen auch heute, Jahrzehnte später, noch sehr emotional sprechen. Ein Aspekt, der für einige Interviewpartner_innen unbefriedigend geregelt war und noch immer ist, ist der fehlende Zugang zum Wahlrecht an jenem Ort, an dem die Migrant_innen ihrer Erwerbsarbeit nachgehen und an dem sie auch Steuern an den Staat bezahlen. Solange sie keine österreichischen Staatsbürger sind, können diese Migrant_innen lediglich an Kommunalwahlen teilnehmen. Dass sie hier le-
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ben, also von politischen Entscheidungen ebenso betroffen sind wie jeder Staatsbürger/jede Staatsbürgerin, an diesen Entscheidungen aber nicht partizipieren können, empfinden viele als mutwillige oder als überholte Exklusion.28 »Und dadurch fühlt man sich schon ein bisschen ausgegrenzt. Ich darf natürlich bei Kommunalwahlen als EU-Staatsbürger, aber sonst nicht. Also ich hab keinen Einfluss auf das, was hier geschieht. Obwohl wir wahrscheinlich hierbleiben bis wir hinausgetragen werden.« (Sara) »Also wie gesagt ich wollte irgendwann Österreicherin werden, damit ich auch wählen darf. Weil du kannst sagen, das gefällt mir, das gefällt mir nicht. Du hast nicht einmal das Recht zu wählen.« (Eva)
Die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes für ein umfassendes Wahlrecht in Österreich aufzugeben, dazu ist allerdings keiner der interviewten Gesprächspartner/keine der interviewten Gesprächspartnerinnen bereit. (Siehe auch Kap. 7.2) Abschließend möchte ich an dieser Stelle eine amüsante Episoden zum Thema EU-Bürgerschaft und Aufenthaltsgenehmigung wiedergegeben, da sie auch die zuweilen komische Seite vieler im Zuge einer Migration gemachten Erfahrungen illustrieren. Isabella, eine junge Migrantin aus Deutschland, erzählt folgende Begebenheit, die sich in den 2010er Jahren zutrug: »Ich war mal schwimmen in der Stadthalle. Und da war=n halt so ältere Damen. Und die mich dann gefragt haben, weil man ja sehr schnell hört, dass ich deutsch bin, ja ob ich denn ne Arbeitsgenehmigung hier hab. Und ich dann nur gefragt hab, ›Haben Sie schon mal was von Schengen gehört? ((Lachen)) Ich brauch gar keine‹.«
5.3 FAZIT Zunächst kann resümierend festgehalten werden, dass meine Interviewpartner_innen ihre Integration insgesamt als erfolgreich bewerten und zum Zeitpunkt des Interviews eine weitgehend positive Bilanz über ihr bisheriges Leben in Österreich ziehen. Auch wenn Aspekte und Themen gibt, welche die Migrant_innen als unbe-
28 Zu Staatsbürgerschaft und Integration vgl. z.B. Boris Holzer, Fremde, Touristen, Transmigranten. Lokaler Status und globale Rollen in der Weltgesellschaft. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. (Frankfurt am Main 2006), 4443-4450; 4447 ff.
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friedigend oder belastend empfinden und die ein bewusstes ›Akzeptieren‹ und ›Aushalten‹ erfordern, scheinen sie aus subjektiver und objektiver29 Perspektive (auf allen hier unterschiedenen Ebenen) überwiegend gut integriert. Lediglich im Bezug auf das Wahlrecht, das ihnen bei nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft verwehrt bleibt, empfinden einige sehr klar ein Gefühl der Exklusion. Es zeigt sich außerdem, dass das Thema Integration eng mit Fragen von Fremdheits- und Zugehörigkeitsgefühlen aber auch mit dem Diskurs um kultur-nationale Identität verwoben ist. (Siehe Kap. 4.6 und 7.2) Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für die Integrationsforschung im Allgemeinen gewinnen? Zum einen zeigt die vorliegende Untersuchung, dass Integration stets ein dynamischer Prozess ist, der auf Lern- und Erfahrungsprozessen basiert. Dieser Prozess verläuft auf der Ebene der Reflexion und der Kognition, aber auch unbewusst. Offenheit, Neugierde und Lernbereitschaft sind wesentliche Voraussetzungen für (erfolgreiche) Integration. Diese Voraussetzungen gelten jedoch nicht nur für Migrant_innen, sondern ebenso für die Aufnahmegesellschaft.30 Niemand wird seine Offenheit und Neugierde lange bewahren, wenn er/sie ständig mit Ablehnung und Diskriminierung konfrontiert wird. Zum anderen wurde aber auch deutlich, dass selbst Migrant_innen aus den hier untersuchten Herkunftsländern, die über viele kulturelle und ökonomische Startvorteile verfügen, mit ernsten Schwierigkeiten und Konflikten zu kämpfen haben. Die Herausforderungen, die der Wechsel zwischen Gesellschaften mit verschiedenen Handlungsmustern, Verhaltensweisen und Wertesystemen auch von global betrachtet sehr ähnlichen Gesellschaften mit sich bringen, dürfen nicht unterschätzt werden. Wesentlich erscheint mir nicht zuletzt, dass eine subjektiv wie objektiv erfolgreiche Integration nicht im Widerspruch zu transkulturellen und transnationalen Handlungs- und Orientierungsmustern stehen muss. Wie die Erzählungen der Migrant_innen zeigen, ist weder die Bewahrung von Elementen der Herkunftskultur noch die Partizipation an transnationalen sozialen Netzwerken ein Integrationshindernis. Mit dem Verweis auf diese Erkenntnis möchte ich zugleich zum nächsten Kapitel überleiten, in dem das Konzept der Transnationalität eingehend diskutiert und untersucht werden soll. 29 Zum ›objektiven Erfolg‹ vgl. auch Heinz Faßmann/Josef Kohlbach/Ursula Reeger, Integration durch berufliche Mobilität? Eine empirische Analyse der beruflichen Mobilität ausländischer Arbeitskräfte in Wien. IRS (Institut für Stadt- und Regionalforschung) Forschungsberichte 25 (Wien 2001). 30 So definiert beispielsweise Friedrich Heckmann kulturelle Integration auch als »als kulturelle Annäherung oder Akkulturation zwischen Mehrheitsbevölkerung und Migranten, die auf beiden Seiten – wenn auch nicht gleichgewichtig – Veränderungen von Werten, Normen und kulturell motivierten Verhaltensweisen impliziert« Heckmann 2015, 163.
6
Transnationalität
Hinter dem Begriff der ›Transnationalität‹ oder des ›Transnationalismus‹ verbirgt sich ein komplexes, in der Migrationsforschung viel diskutiertes Konzept, das ich nun einführen und im Detail vorstellen möchte. In Anbetracht des Forschungsinteresses, der Fragestellungen sowie der vorliegenden Erzählungen stellt dieses Konzept ein wesentliches theoretisches Fundament dieser Untersuchung dar. Dabei soll die generelle Bedeutung nationalstaatlicher und kultur-nationaler Bezugsrahmen jedoch keineswegs geleugnet werden.1 Im Gegenteil, am empirischen Material meiner Studie wird deutlich, dass auch nationalstaatliche und kultur-nationale Grenzen ein wesentlicher Referenzrahmen der interviewten Migrant_innen sind. (Siehe auch Kap. 1.1 und 7.2) Nichtsdestotrotz gilt das Forschungsinteresse dieser Arbeit vor allem auch jenen, sich in den Erzählungen immer wieder findenden, Praktiken und Deutungsmustern der Migrant_innen, die über räumlich-politische und nationalsoziale Grenzen hinaus verweisen.
6.1 TRANSNATIONALITÄT ALS SOZIAL- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHES KONZEPT In Reaktion auf Phänomene der Globalisierung mussten auch Perspektiven, Konzepte und Fragestellungen der Migrationsforschung überdacht und verändert werden.2 Im Zuge dieses Paradigmenwechsels (»Transnational Turn«)3 wurde im Kon-
1
Vgl. dazu Kapitel 1.1.2.1 und 2.1.4. Vgl. auch z.B. Bommes 2003, 43 ff.; Bommes 2005, 15; Dahinden 2009, 363 ff.
2
Vgl. z.B. Faßmann 2003, 429 ff.; Ruokonen-Engler 2012, 88 ff.
3
Vgl. Irini Siouti, Transnationale Biographien. Eine biographieanalytische Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten. (Bielefeld 2013), 19 ff.
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text des Globalisierungsdiskurses in den 1990er Jahren das Konzept des Transnationalismus entwickelt.4 Vor allem der nationalstaatliche Bezugsrahmen5 wurde an älteren Analysemodellen kritisiert, da die Migrationsprozesse inzwischen »anders strukturiert seien und sich im Bezugsrahmen von sog. transnationalen Sozialräumen abspielen«6. Daher liegt der Fokus der Transnationalisierungs-Forschung auf dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland, auf sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Verbindungen und Transfers zwischen diesen sowie auf Alltagspraktiken von Migrant_innen, die Verbindungen und Transfers zwischen dem Herkunftsland und dem Aufnahmeland sozial konstruieren und praktizieren: »Generally speaking, the idea of transnationalism emerged from the realisation that immigrants maintain ties with their countries of origin, making home and host society a single arena for social action by moving back and forth across international borders, as well as between different cultures and social systems, and by exploiting transnational relations as a form of social capital for their living strategies.«7 »Von Transnationalität ist also die Rede, wenn sich Handlungs- und Erlebnishorizonte von Migranten längerfristig an wenigstens zwei Nationalstaaten ausrichten.«8 »Die Transnationalismusperspektive ist durch den Versuch gekennzeichnet, jene gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene zu erklären, die nationalstaatliche Bewegungs- und Deutungsmuster überwinden und auf Beziehungen, Bindungen, Praktiken und Vernetzungen über geographische Grenzen hinweg verweisen.«9
4
Strasser 2009, 22. Vgl. auch Dahinden 2009, 260 ff.; Vertovec 2004. Zum Transnationalismus von Personen ohne Migrationserfahrung vgl. Dahinden 2010, 100 ff.; Pries 1996, 457 ff.; Pries 2008, 22 ff.
5
Vgl. z.B. Bommes 2005; Pries 2005; Vertovec 2004, 978; Levitt/Glick Schiller 2004. Zur Etablierung des Konnex zwischen Nationalstaat, Mobilität und Migration vgl. z.B. Dahinden 2009, 363 ff. Zu einer Diskussion des Konzepts der Staatsbürgerschaft vgl. z.B. Bloemraad/Korteweg/Yurdakul 2011. Zur Diskussion zwischen ›Assimilationisten‹, deren führender Vertreter Hartmut Esser ist, und ›Transnationalisten‹ vgl. Ruokonen-Engler 2012, 84 ff.; Goeke 2008; Michael Bommes, Ist die Assimilation von Migranten alternativlos? Zur Debatte zwischen Transnationalismus und Assimilationismus in der Migrationsforschung. In: Michael Bommes/Christine Noack/Doris Tophinke (Hrsg.), Sprache als Form. (Wiesbaden 2002), 225-242.
6
Bommes 2003, 43; 52 f.
7
Dahinden 2009, 306. Vgl. auch Dahinden 2010.
8
Goeke 2008, 2085. Vgl. auch Strasser 2009, 20.
9
Ruokonen-Engler 2012, 84.
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Darüber hinaus aber umgeben und begründen den Begriff Transnationalismus bzw. Transnationalität eine Reihe unterschiedlicher theoretischer Konzepte, 10 die zum Teil kontrovers diskutiert werden. Klaus J. Bade beschreibt Transnationalismus daher treffend als »Schirmbegriff«,11 währen Sabine Strasser darauf hinweist, dass »nach einem wahren Boom an empirischer Transnationalismus-Forschung die Gefahr besteht, dass der Begriff jegliche soziale Entsprechung verliert und für Alles und Nichts steht«12. Im Kontext dieses Diskurses scheint es mir daher wichtig zu betonen, dass Transnationalität, wie sie hier verstanden wird, nicht ausschließlich für Menschen mit ›nomadischen‹, hypermobilen Lebensformen und Migrationsbiographien 13 von Bedeutung ist. Wie das empirische Material zeigt, etablieren auch ›klassische‹ Migrant_innen, die migrieren und in der Folge dauerhaft im Zielland bleiben, durchaus derartige sozio-kulturelle Netzwerke bzw. partizipieren sie an solchen.14 So kann in meinem Verständnis nicht von einem speziellen Migrant_innentyp ›des Transmigranten/der Transmigrantin‹15 gesprochen werden, eine solche Dichotomie von Migrant_innen und Transmigrant_innen kann anhand des empirischen Materials nicht konstruiert werden. Jeder/jede der hier zur Sprache kommenden Migrant_innen pflegt auf unterschiedliche Weise und in verschiedener Intensität transnationale Praktiken und partizipiert an transnationalen sozialen Netzwerken. Auch ist anzumerken, dass das Konzept der Transnationalität keineswegs nur auf Migrant_innen passt. Unter den rezenten Bedingungen der beschleunigten Globalisierung lässt sich eine allgemeine, auch ›sesshafte‹ Menschen betreffende Transnationalisierung von Sozialräumen und Zugehörigkeiten feststellen.16
10 Vgl. z.B. Reinprecht/Weiss 2012, 21 f.; Nina Glick Schiller/Lisa Basch/Cristina Szanton Blanc, From Immigrant to Transmigrant. Theorizing Transnational Migration. In: Anthropological Quarterly 68/1 (1995), 48-63; Andreas Oskar Kempf, Biographien in Bewegung. Transnationale Migrationsverläufe aus dem ländlichen Raum von Ost- nach Westeuropa. (Wiesbaden 2013), 28 ff.; Steven Vertovec, Transnational Networks and Skilled Labour Migration. Transnational Communities Working Paper 2 (Oxford 2002), 4 f. 11 Bade 2002a, 8 f. Vgl. dazu auch Goeke 2008. 12 Strasser 2009, 60. Vgl. auch Kempf 2013 (Anm. 10), 28; Pries 2008, 168 ff. Zum Verständnis dieses Konzept in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen vgl. ebda. 170 ff. 13 Pries 2010a, 9 ff.; Faßmann 2003, 435 ff. 14 Vgl. z.B. Dahinden 2010. 15 Verwiebe 2006a, 301. Vgl. auch Ruokonen-Engler 2012, 87 f. 16 Dahinden 2010, 29 ff.; Janine Dahinden, Are we all transnationals now? Network transnationalism and transnational subjectivity. The differing impacts of globalization on the
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In der entsprechenden Forschung wird des Weiteren häufig zwischen »transnationalism from above« (durch globalen Kapitalismus) und »transnationalism from below« (durch Individuen und Gruppen) unterschieden.17 Politik, Ökonomie, Sozietät und Kultur (einschließlich Religion) werden dabei als die wichtigsten transnationalen Domänen differenziert.18 Mein Forschungsinteresse gilt allein der Mikroebene, also dem »transnationalism from below«, und betrifft vor allem die soziale und die kulturelle Domäne. Im Folgenden soll das Konzept Transnationalismus/Transnationalität außerdem in mehrere Ebenen differenziert und das Phänomen somit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Eine solche Unterscheidung erscheint, bedingt durch das vorliegende empirische Material, sinnvoll und erfolgt allein zu analytischen Zwecken. Um den oft unscharf benützten Terminus Transnationalismus präziser fassen zu können, möchte ich das Konzept der »transnationalen Sozialräume«19, das auf Ludger Pries zurückgeht, aufgreifen.20 Ihm zufolge liegt der Transnationalisierung »ein relationales Raumkonzept und ein netzwerkförmiges dezentrales Verteilungsgebilde von über verschiedene Nationalgesellschaften verteilten und gleichzeitig stark koordinierten sozialräumlichen Teileinheiten zugrunde«.21 Der Begriff Sozialraum bezieht sich bei Pries »auf die Lagerrelationen von sozialen Elementen als solchen, die allein durch menschliche Aktivität ihre entsprechende Bedeutung erlangen und strukturiert werden«22. inhabitants of a small Swiss city. In: Ethnic and Racial Studies 32/8 (2009), 1365-1386. https://doi.org/10.1080/01419870802506534. 17 Steffen Mau/Jan Mewes/Ann Zimmermann, Cosmopolitan attitudes through transnational social practices? In: Global Networks 8/1 (2008), 1-24; 3. https://doi.org/10.1111/j.14710374.2008.00183.x. 18 Vgl. z.B. Vertovec 1999; Pries 2008, 249 ff. 19 Bommes 2003, 43; 52 f.; Reinprecht/Weiss 2012, 19 f. Zu einer Typologie transnationaler Räume vgl. Faist 2000. Er unterscheidet transnationale Verwandtschaftsnetzwerke, transnationale Circuits (wie Netzwerke von Geschäftsleuten) und transnationale Gemeinschaften (wie beispielswiese die Gemeinschaften der Kurden). Vgl. auch Dahinden 2010. 20 Pries 1996, 467. Zur Kritik an diesem »entterritorialisierten Raumkonzept« vgl. z.B. Goeke 2008, 2084. Peggy Levitt und Nina Glick Schiller ziehen so etwa den Terminus »transnationale soziale Felder« vor. Levitt/Glick Schiller 2004, 1009 ff. Vgl. dazu wiederum Pries 2008, 169 ff.; 227 ff. 21 Pries 2008, 169. 22 Vgl. z.B. Pries 2008, 91; 77 ff.; Ludger Pries greift darin auf das Konzept der sozialen Räume nach Pierre Bourdieu zurück. Er versteht unter sozialen Räumen »Kombinationen sozialer Positionen und Lebensstile, welche wiederum durch Kapitalvolumen, Kapitalstruktur, aber auch durch zeitliche Entwicklung und Lebenslauf determiniert werden«. Zu einer umfassenden Diskussion von Raumkonzepten vgl. auch Pries 2005, 170 ff.
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Pries unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Idealtypen von transnationalen Sozialräumen: alltägliche Lebenswelten,23 Organisationen und Institutionen.24 Der Fokus der vorliegenden Studie liegt vornehmlich auf den Sozialräumen der alltäglichen Lebenswelten, die aber natürlich wiederum in direkter und indirekter Verbindung mit Organisationen und Institutionen stehen.25 Mein Forschungsinteresse gilt somit der »Analyse grenzüberschreitender alltagsweltlicher sozialer Praxis«26. Des Weiteren unterteilt Pries transnationale soziale Räume in vier Dimensionen, die sich auch als Analyseraster für die Interpretation der vorliegenden Interviewtexte bewährt haben.27 Die erste Dimension ist der politisch-legale Rahmen, den für die hier untersuchen Migrant_innen primär die supranationale Institution der Europäischen Union darstellt, die ihnen eine dem Anspruch nach ›unbeschwerte‹ Mobilität ermöglicht.28 Die zweite Dimension ist die materielle Infrastruktur, also die Gesamtheit der Kommunikations- und Transporttechnologien. Dazu zählt Pries auch die soziokulturelle Infrastruktur, wie etwa Musik, Sport oder Essen. Diese Infrastruktur sichert die »kulturelle Präsenz der Herkunftsregion in der Ankunftsgesellschaft« und »wirkt als Keimform einer neuen transnationalen und ›hybriden‹ Kultur [...] wiederum in die Herkunftsregion zurück«.29 Diesbezüglich werde ich im Folgenden jedoch von Pries’ Gliederung abweichen und für die letztgenannten Phänomene eine eigene, fünfte Ebene der Transkulturalität (s.u.) unterscheiden. Pries’ dritte Dimension bilden soziale Strukturen und Institutionen wie Familien und Freundeskreise.30 Die vierte Dimension schließlich umfasst Identitäten und Le-
23 Verstanden als »alle Bereiche des menschlichen Lebens, die uns fraglos gegeben scheinen« Pries 2008, 224. 24 Institutionen verstanden als »komplexe Normen- und Handlungsprogramme [...] die für eine sehr große Anzahl von Menschen Gültigkeit haben und die auch einen Großteil der alltäglichen Lebenswelt strukturieren« Pries 2008, 225. 25 Auch Pries selbst merkt an, dass es für konkrete Forschungen sinnvoll sei, sich auf einen dieser drei Raumtypen zu konzentrieren. Pries 2008, 248. 26 Pries 2008, 189. Vgl. dazu auch Faist 2004, 4. 27 Vgl. z.B. Pries 1996. 28 Vgl. dazu z.B. Bade 2002a, 8 f. 29 Ludger Pries, Internationale Migration und die Emergenz Transnationaler Sozialer Räume. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1996 in Dresden. (Opladen 1997), 313-318; 316. 30 Vgl. z.B. auch Richter/Nollert 2014; 460.
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bensprojekte,31 die ich allerdings in einem gesonderten Kapitel behandeln werde. (Siehe Kap. 7) Pries unterscheidet des Weiteren drei idealtypische Formen, aus denen transnationale Sozialräume konstruiert werden, die jedoch, wie er betont, »analytische Perspektiven« darstellen. Dabei handelt es sich um Artefakte (»alle vergegenständlichten Ergebnisse menschlichen Tuns, vor allem menschlicher Kreativität, Kultur und Arbeit«32), um soziale Praxis (»tätige Auseinandersetzung der Menschen mit anderen Menschen, mit der Natur und reflektierend mit sich selbst«33) und symbolische Repräsentationen (»komplexeres Zeichen für einen Sinnzusammenhang, [der] stellvertretend für eine Interpretationsweise von und Handlungsabsicht in der sozialen Praxis« steht34). Diese Symbolsysteme wiederum sind kulturabhängig, d.h. die Art der Symbolisierung wird durch den Vorrat an Symbolen einer Kultur determiniert.35 Zusammenfassend lassen sich die beschriebenen Differenzierungen schematisch folgendermaßen darstellen: Idealtypen transnationaler Sozialräume
alltägliche Lebenswelten Organisationen Institutionen
Ebenen
politisch-legale Rahmen materielle Infrastruktur soziale Strukturen und Institutionen Identitäten und Lebensprojekte Transkulturalität
analytische Perspektiven
Artefakte soziale Praxis symbolische Repräsentationen
Basierend auf diesen Überlegungen und Unterscheidungen können transnationale Sozialräume folgendermaßen definiert werden: »Transnationale Sozialräume sind relativ dauerhafte, auf mehrere Orte verteilte bzw. zwischen mehreren Flächenräumen sich aufspannende verdichtete Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken,
31 Vgl. z.B. auch Vertovec 2004, bes. 979. 32 Pries 2008, 92; 231 f. 33 Pries 2008, 230. 34 Pries 2008, 230. 35 Vgl. auch Faist 2004, 3 ff.
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Symbolsystemen und Artefakten.«36 Oder, in den Worten von Minna-Kristiina Ruokonen-Engler: »Sie können als eine Art ›transnationale Erfahrungshorizonte‹ bezeichnet werden, die geographisch delokalisiert, d.h. räumlich vielschichtig, sind und gleichzeitig die Lebensentwürfe, die alltägliche Lebenspraxis und die individuellen und kollektiven Identifikationsmomente von Menschen bestimmten.«37 Somit bilden transnationale soziale Räume eine Referenzstruktur, welche »die alltägliche Lebenswelt, (erwerbs-)biographische Projekte und die Identität der Menschen«38 bestimmt. Ergänzend zu den eben vorgestellten Dimensionen der Transnationalität erscheint ein konzeptueller Zugang nach Peggy Levitt und Nina Glick Schlick auch für die vorliegenden Erzähltexte geeignet, um eine noch schärfere Analyse von Phänomenen der Transnationalität zu ermöglichen. Sie unterscheiden im Kontext transnationaler sozialer Praktiken zwischen ways of being und ways of belonging. Dabei beschreiben ways of being tatsächliche soziale Netzwerke und Praktiken, während unter ways of belonging symbolische Praktiken, wie etwa das Kochen nationaler Speisen, das Aufhängen nationaler Flaggen oder Ähnliches, zu verstehen sind, die eine bewusste Verbindung und Zugehörigkeit ausdrücken sollen.39 Das wiederum bedeutet, dass jene Praktiken, die als ways of belonging bezeichnet werden können, ein bewusstes ›Doing National Identity‹ darstellen. (Siehe Kap. 7.1.2) Das Konzept der Transkulturalität wurde bereits im Rahmen der Diskussion des Begriffs Kultur ausführlich beschrieben. (Siehe Kap. 3.2) Allerdings: »Scholars often blur the distinction between transnationalism and transculturalism, selecting one or other term because of their disciplinary background and theoretical position rather than because of the conceptual utility of the wording. While the term transnationalism enters the debate via diaspora and migration studies, sociology, particularly social pedagogy, often in relation to migrant children, is what brings transculturalism to the literature.«40
Auch wenn die Termini Transnationalität und Transkulturalität also nur selten in direkter Verbindung miteinander diskutiert oder gemeinsam ›angewandt‹ werden, soll im Folgenden Transkulturalität, wie bereits angedeutet, auch als eine Dimension transnationaler Sozialräume gedacht werden.41 36 Pries 2008, 195. Vgl. auch Faist 2004, 13 ff. 37 Ruokonen-Engler 2012, 86. Vgl. auch Faist 2000, 190 ff. 38 Ruokonen-Engler 2012, 85. 39 Levitt/Glick Schiller 2004, 1010; Janine Dahinden definiert in Anlehnung daran »transnationale Netzwerke« und »transnationale Subjektaktivitäten«. Dahinden 2010. 40 Richter/Nollert 2014, 459. 41 Zu einem vergleichbaren Zugang vgl. Richter/Noll 2014. Vgl. auch Dahinden 2009, 269 ff.; Grillo 2008, 2.
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Transkulturalität soll dabei verstanden werden als die Performance transkultureller Praktiken und Deutungsmuster, verbunden mit »kulturellen Aspekten von Zugehörigkeit, Emotionen und Assoziationen«42, die aus der Vermischung und Verbindung von Elementen unterschiedlicher Kulturen hervorgehen. Aus dieser Bestimmung des Begriffs ergibt sich nicht zuletzt die Notwendigkeit, diese transkulturellen Praktiken empirisch zu rekonstruieren: »Die Konstitution und Konstruktion der Differenzen und der Transnationalität ist jedoch nicht nur eine theoretische und methodische Frage, sondern vor allem eine empirische, die bei weitem noch nicht ausreichend untersucht worden ist.«43
6.2 FORSCHUNGSINTERESSEN Welche konkreten Fragestellungen ergeben sich nun also für die Analyse der vorliegenden Erzähltexte? Grundsätzlich gilt mein Forschungsinteresse den individuellen transnationalen Lebenswirklichkeiten oder transnationalen Erfahrungsräumen, deren Praktiken, Deutungen und Bedeutungen. So soll danach gefragt werden, ob und mit welchen Mitteln die interviewten Migrant_innen Elemente ihrer jeweiligen Herkunftskultur in ihrem Denken und Handeln erhalten, und wenn ja, welche Bedeutung sie diesen Elementen beimessen. Weiters soll untersucht werden, wie sich transnationale soziale Räume darstellen, welche Akteur_innen in ihnen welche Funktionen und Rollen einnehmen, und welche Bedeutung den sozialen Netzwerken in der Wahrnehmung der Migrant_innen zukommt. Zugleich berührt diese »Einbindung in verschiedene gesellschaftliche Relevanzsysteme« und ein Leben in »plurilokalen sozialen Wirklichkeiten«44 auch Fragen der (geographischen, kulturellen und emotionalen) Selbstverortung und damit auch Fragen der Identitätskonstruktion. Denn: »Indem in diesen Konzeptionen kulturelle und nationale Räume durch die Betrachtung transnationaler Erfahrungshorizonte ergänzt werden, verändern sich dabei auch die Konzeptionen von Zugehörigkeitserfahrungen und Identitäten.«45 Da das Thema Identität jedoch, trotz der engen Verwobenheit der beiden Themen, über Aspekte der Transnationalität hinausgeht und zudem eine ausführliche theoretische Diskussion erfordert, soll die fortlaufenden Erzeugung von Zugehörig-
42 Richter/Nollert 2014, 459. 43 Ruokonen-Engler 2012, 91. 44 Ruokonen-Engler 2012, 87. 45 Ruokonen-Engler 2012, 90.
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keit und Konstruktion von Identität in einem gesonderten Kapitel erörtert werden. (Siehe Kap. 7)
6.3 DIMENSIONEN TRANSNATIONALER SOZIALRÄUME IN DEN ERZÄHLUNGEN 6.3.1 Politisch-legaler Rahmen Für die in dieser Untersuchung interviewten Migrant_innen stellt die Europäische Union einen wesentlichen transnationalen politisch-legalen Rahmen dar. (Siehe Kap. 2) Aber auch der politisch-legale Rahmen des Nationalstaates, sei es des Herkunfts- oder des Aufnahmelandes, ist für nach den 1990er Jahren Migrierte in Zusammenhang mit der Frage nach Staatsbürgerschaft(-en), für Fragen des Steuerund Pensionsrechts und für Fragen der Gesundheitsversorgung von hoher Bedeutung. Wie sich an den Interviewtexten zeigt, hat die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes für Interviewpartner_innen aller Migrationsgenerationen nicht nur rechtliche Bedeutung; sie stellt auch eine symbolische Verbindung zur ›Heimat‹ dar. Da die Staatszugehörigkeit offenbar auch als identitätsstiftender Bezugshorizont fungiert, soll sie im Kapitel zur Identität näher diskutiert werden. (Siehe Kap. 7) An dieser Stelle sei aber dennoch exemplarisch die aus Finnland stammende Sara erwähnt, für die nicht nur der Erhalt ihrer eigenen finnischen Staatsbürgerschaft ein wesentlicher Orientierungsrahmen ist. Wie sie berichtet, haben auch ihre beiden Söhne, aus der Ehe mit ihrem in Österreich geborenen Mann, eine doppelte Staatsbürgerschaft, was ihr sehr wichtig ist. Auf diese Weise bindet sie ihre Kinder auch in politisch-legaler Weise in die Herkunftskultur und in ihre Herkunftsnation ein und erzeugt eine politisch-legale Transnationalität der Familie. »Also bei den Kindern is es für mich wichtig, dass die beides haben. Und da bin ich sehr dankbar, dass es bei ihnen möglich ist und hoff, dass es vielleicht dann, wenn sie erwachsen sind, dass es dann möglich is, dass sie beides behalten.«
302 | »Auch wir sind Migrant_innen «
6.3.2 Materielle Infrastruktur Die rasante technische Entwicklung der Kommunikationsmittel und Verkehrstechnologien während der vergangenen Jahrzehnte beeinflusst und prägt unser aller Leben.46 Indem sie durch schnellere und vereinfachte physische sowie virtuelle Mobilität den Aufbau und Erhalt von transregionalen und transnationalen sozialen Netzwerken im Privatleben und in der Arbeitswelt ermöglichen, werden diese immer mehr zu einem selbstverständlichen Teil der Lebenswelt. 47 Der Frage nach den damit verbundenen transnationalen und transkulturellen Praktiken sowie dem in der Literatur häufig postulierten »death of distance«48 (siehe Kap. 1.1) kommt aber auch in Bezug auf Migration hohe Bedeutung zu. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, wie die interviewten Migrant_innen Kommunikations- und Verkehrstechnologien zum Aufbau und Erhalt transnationaler sozialer Räume nützen und deuten. In Anbetracht der weitreichenden technologischen Veränderungen während des Untersuchungszeitraums dieser Studie, die dazu führten, dass sich transnationale soziale Räume unter rezenten Bedingungen völlig anders gestalten lassen, stellt sich zudem die Frage nach Adaptionen und Veränderungen dieser Praktiken und Orientierungsfiguren. Es soll also sowohl nach Veränderungen im Verlauf individueller (Migrations-)Biographien wie auch nach Unterschieden gefragt werden, die sich im Vergleich zwischen Migrant_innen, die in den und nach den 1990er Jahren und jenen, die bereits in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren migrierten, feststellen lassen. Wie das empirische Datenmaterial zeigt, werden vor allem das Internet und damit verbundene Angebote (z.B. soziale Onlinenetzwerke wie Facebook, die Möglichkeit kostenloser Videotelefonate via Skype usw.), europaweite billige Handytarife sowie die umfangreichen Funktionen von Smartphones (z.B. Apps wie WhatsApp) von den interviewten Migrant_innen intensiv genutzt, und können damit als wesentliche Artefakte im Sinne von Pries verstanden werden.
46 ›Unser aller‹ ist hier natürlich auf die wohlhabenden Staaten der ›Westlichen-Welt‹ bezogen zu verstehen. Global betrachtet ist es ein geringer Teil der Weltbevölkerung, das direkten Zugang zu diesen Technologien hat. Vgl. z.B. Pries 2005, 167 f. 47 Vgl. z.B. Gergen 1996, bes. 140 ff.; Giddens 2001, 21 ff.; Keupp 2004, 6 ff.; Manual Castells, The Rise of the Network Society. (Oxford 2010); Rianne Dekker/Godfried Engbersen, How social media transforms migrant networks and facilitate migration. In: Global Networks 14/4 (2014), 401-418. https://doi.org/10.1111/glob.12040. Zu einer Studie, die sich nicht allein auf Migrant_innen beschränkt vgl. Mau/Mewes/Zimmermann 2008 (Anm. 17), 1-24. 48 Dekker/Engersen 2014 (Anm. 47), 402.
Transnationalität | 303 »Weil ich hab so ein Vertrag von Orange, das heißt Europa-irgendwas. Und da hab ich tausend Minuten europaweit. Und das heißt ich muss einfach anrufen und dann is das ganz / Und jetzt mit Skype, Facebook is das ja ganz einfach in Kontakt zu bleiben. Da sieht man gleich Fotos, also des is net so weit, da sieht man ja glei alles. [...] Da hab ich immer noch viel Kontakt. Mindestens ein paar Mal die Woche. Des is schon fast wie daheim. ((Lachen))«
Der 1987 geborene, aus Dänemark stammende August spricht hier nicht nur die vielfältigen Medientechnologien an, die er nützt, er nimmt auch Bezug auf das im wissenschaftlichen Diskurs diskutierte ›gefühlte Schrumpfen‹ geographischer Distanzen (s.u.), wenn er sagt: »des is net so weit«. Bedingt durch diese Technologien fühlt er sich, was seine auch über die geographische Distanz hinweg bestehende soziale Einbettung in Freundeskreis und Familie in Dänemark betrifft, »schon fast wie daheim«. Während Skype oder WhatsApp von Migrant_innen aller Altersgruppen genutzt werden, fällt auf, dass Facebook primär von Migrant_innen, die unter oder um die dreißig Jahre alt sind, in Anspruch genommen wird. Damit wird Facebook für diese Generation seinem Slogan auf der deutschsprachigen Seite durchaus gerecht, wo es heißt: »Facebook ermöglicht es dir, mit den Menschen in deinem Leben in Verbindung zu treten und Inhalte mit diesen zu teilen.«49 Facebook bietet zudem nicht nur die Möglichkeit, aktiv zu kommunizieren, sondern auch passiv gepostete Informationen und Bilder zu konsumieren und auf diese Weise über das Leben anderer, auch geographisch entfernter »Freunde« ›auf dem Laufenden‹ zu bleiben. Die vorliegenden Interviews belegen außerdem, dass neue Kommunikationstechnologien keineswegs nur von jenen Menschen, die in den letzten Jahren migrierten, genutzt werden. Im Gegenteil, auch Migrant_innen, die über lange Jahre durch Briefe, teure und daher seltene Telefonate sowie seltene, weil kostspielige, Reisen ins Herkunftsland, transnationale Verbindungen pflegten, nützen heute diese Möglichkeiten. Das wiederum bedeutet, dass transnationale soziale Räume auch unter den (eingeschränkten) kommunikationstechnologischen Bedingungen der 1960er und 1970er Jahre bestanden. Mit einer sukzessiven Adaption an neue technische Möglichkeiten veränderten sich lediglich die Formen, die Intensität und die Häufigkeit transnationaler Praktiken. Die mittlerweile über 60-jährige Spanierin Marta kommuniziert so beispielsweise heute täglich mit der Großfamilie in Spanien via KakaoTalk, eine koreanische Messenger-App für Smartphones.50 Vergleichbar mit WhatsApp ermöglicht es die schriftliche Kommunikation mit mehreren Leuten zugleich:
49 www.facebook.at (2.10.2018). 50 www.kakao.com/services/8 (10.10.2018).
304 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Und wir kommunizieren jeden Tag. Wenn man aufsteht sagt man ›guten Morgen‹ und tagsüber wenn etwas Wichtiges zu berichten ist, dann wird berichtet. Am Abend jeder sagt ›Gute Nacht, schlaf gut‹. Und eigentlich gibt=s diese Kontakt täglich. Früher ohne die Smartphones haben wir telefoniert. Nicht jeden Tag, aber einmal die Woche sicher. Und jetzt nachdem wir Smartphones haben, telefonieren wir nicht mehr. Oder weniger, sag= ma so. Sicher telefonieren wir, aber es ist nicht mehr so notwenig, weil wir alles was aktuell ist und News und alles, was kommen wird, täglich berichtet in dem Moment und alle sprechen mit.«
Diese Sequenz aus der Erzählung Martas verdeutlicht eindrucksvoll die Veränderung der Kommunikationsformen. Es wird weniger telefoniert, zugleich wird die Kommunikation mehrdimensional, da nun mit mehreren Personen gleichzeitig und gemeinsam eine (in diesem Fall schriftliche) Konversation geführt werden kann. Ob sich infolge der technischen Innovationen die Bedeutung, die Marta der regelmäßigen Kommunikation mit mehreren Mitgliedern ihrer Familie im Herkunftsland beimisst, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändert hat, lässt sich an der zitierten Sequenz ihrer mündlichen Erzählung nicht entscheiden. Gehen wir hypothetisch davon aus, dass sich Dichte und Häufigkeit der Kommunikation auf die Stärke der Bindung (in einem mehrfachen Sinn: als Information an die Migrantin, aber auch als Information an die Familie im Herkunftsland, wobei auch Aspekte der sozialen Kontrolle durch »die Familie« nicht auszublenden wären) auswirken könnten, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine verbesserte Kommunikationstechnologie, die häufigere, längere und sogar simultane Kommunikation mehrerer Familienmitglieder ermöglicht, auch zu einer stärkeren Bindung bzw. zu einer effizienteren (wirksameren und folgereicheren) Reproduktion der Bindungen im familialen Netzwerk führt. An diese Möglichkeit zu denken, drängt sich auch angesichts der folgenden Textsequenz aus einem anderen Interview auf. Frida, die 1963 aus Dänemark nach Österreich kam, also der ältesten der hier untersuchten Migrant_innengeneration zuzurechnen ist, für die das Maß des kommunikationstechnischen Wandels wohl am stärksten war, erzählt in diesem Zusammenhang: »Und telefonieren war wahnsinnig teuer, habe ich höchstens zum Geburtstag meine Eltern angerufen, nicht. Die musste man vorbestellen, die Anrufe. Man glaubt, das war Steinzeit, aber es war so. Gab keine SMS und kein Mobiltelefon und gar nichts. ((Lachen)) Allein ein Foto zu schicken, ein Foto war ja auch wahnsinnig teuer. Da haben wir ja nur sieben Stück in so eine Fotoapparat gehabt, da musste man aussuchen, welche von die sieben schicken wir. Und so finde ich die Zeiten sind wirklich wesentlich besser jetzt. Das finde ich ganz sicher.«
Transnationalität | 305
Zwar erwähnt Frida nicht, ob auch sie Kommunikations-Apps verwendet, aber heute benützt sie täglich SMS, um mit ihrer über 80-jährigen Tante in Dänemark zu kommunizieren. Auch die 1975 geborene, aus Spanien zugewanderte Inés beschreibt die Situation unter rezenten Bedingungen: »Ich habe eine Telefonpaket, wo ich zahle das Gleiche, wenn ich meinen Mann anrufe, oder meine Familie in Spanien. So das ist auch genial.«
Diese Passage verdeutlicht ebenfalls die Bedeutung, die diesen Technologien für das Erhalten transnationaler sozialer Verbindungen von den Migrant_innen beigemessen wird. Auch Sara aus Finnland beschreibt eine Veränderung seit den 1990er Jahren. Am Ende der folgenden Sequenz findet sich nun auch eine Interpretation der kommunikationstechnisch ermöglichten Beziehungsqualität: »Über Skype tut ma sich jetzt leichter. Also am Anfang war=s halt so dass man / Telefonieren war teuer und es hat keine Handys und nix geben und kein Internet ((Lachen)), damals noch in den Neunzigerjahren. Also da ham=ma halt alle zwei Wochen mal telefoniert, ((Lachen)) und das war=s. Also es war natürlich viel loser.«
Auch wenn Saras Kontakt zu ihrer Familie in Finnland in den 1990er Jahren »loser« war, so hat auch sie eine transnationale Bindung erhalten. Im Lauf der Jahre hat sie die Art und Weise, diese Bindung zu reproduzieren, an die jeweils neuen kommunikationstechnischen Möglichkeiten adaptiert. Heute skypt Sara regelmäßig mit ihren Eltern und Geschwistern. Auch hier ist keineswegs auszuschließen, dass sich die neue Kommunikationsqualität und Kommunikationshäufigkeit verändernd auf die Qualität der transnationalen Beziehungen auswirkt. Hinsichtlich der Nutzung rezenter Kommunikationsmittel lassen sich außerdem zwei Typen sozialer Praktiken und mit ihnen korrespondierende Orientierungsfiguren in den vorliegenden Erzählungen unterscheiden. Einige Interviewpartner_innen aus Spanien und Skandinavien nützt diese Möglichkeiten zur täglichen Kommunikation und auf diese Weise zur Integration von im Herkunftsland lebenden Freunden und Familienangehörigen in ihren Alltag. Sie partizipieren am alltäglichen Leben von signifikanten Anderen, auch über weite Distanzen und nationale Grenzen hinweg: »Also Gott sei Dank für die Telefone und die Handys, die hat man ja immer mit. Und ich rufe sehr oft zuhause an. Also das is wirklich, wenn ich Gusto habe, ruf ich an. Das kann auch mehrmals am Tag sein. Ich hab eine Schwester, meine Eltern und dann die eine Freundin.« (Mia)
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Inés beschreibt sogar eine intensivere Kommunikation und soziale Einbettung in ihren Kreis von Freundinnen in Spanien, als mit Freundinnen, die in derselben Stadt leben: »Jetzt zur Zeit is genial weil natürlich haben wir per Mail, schreiben wir täglich, jeden Tag. Wir haben so ein Forum, wo wir alle schreiben. Oder mit WhatsApp mit Handy. Und ich bin mehr in Kontakt mit meine Freundinnen in Spanien durch diese Medien als mit manche Freundinnen hier in Österreich. Weil ich habe diese Gruppe und wir können sehr gut miteinander kommunizieren.«
Andere Gesprächspartner_innen hingegen verwenden diese Kommunikationsmedien zwar auch regelmäßig, jedoch mehr um »in Kontakt zu bleiben«, und nicht im Orientierungsrahmen der Partizipation am Alltag. »Skype hab ich mit den Eltern. Wir telefonieren jetzt momentan nicht so oft. Ich glaub so einmal in zwei Wochen skypen. Das ist super, das ist gratis, man sieht sich auch.«
Ella spricht hier auch noch einen weiteren Vorteil von Skype an, der auch von anderen Migrant_innen thematisiert wird. Es ist nicht nur kostenlos, man kann den Anderen im Rahmen dieser Videotelefonate auch sehen, was eine virtuelle Form der Face-to-Face Kommunikation ermöglicht. Interessanterweise thematisieren Migrant_innen aus Deutschland die Nutzung dieser Medientechnologien kaum, auch wenn zu vermuten ist, dass sie diese ebenfalls verwenden. Lediglich zwei Interviewpartner erwähnen derartige Praktiken; Sven skypt und mailt viel mit Freunden in Deutschland, und Leo skypt hin und wieder mit einem Freund in München. Das Internet als Informationsquelle vereinfacht aber auch eine weitere, von einigen Gesprächspartner_innen als wesentlich gedeutete transnationale Praxis: das Sich-Informieren über Geschehnisse im Herkunftsland (s.o.). Um über gesellschaftliche, politische oder andere Ereignisse und Entwicklungen im Herkunftsland ›auf dem Laufenden zu bleiben‹, nützen die Gesprächspartner_innen das World Wide Web, etwa in Form von Onlinezeitungen und Radiosendern. Auf diese Weise schaffen und erhalten sie eine symbolische Verbindung zum Herkunftsland, ebenfalls eine Form der transnationalen Praxis. Im Gegensatz zu veränderten Kommunikationstechnologien werden Verkehrstechnologien weniger häufig thematisiert. Allerdings wird deren Bedeutung bereits durch die von allen als wesentlich beschriebenen Besuche im Herkunftsland ersichtlich (s.u.). Lediglich August aus Dänemark und Ella aus Finnland sprechen über Verkehrsverbindungen ›nachhause‹. Für beide ist es wichtig, sich mehrmals pro Jahr Reisen ›nachhause‹ leisten zu können. Deshalb ist auch die Qualität der Verkehrsverbin-
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dung, vor allem im Hinblick auf die Reisedauer, für sie relevant. August benötigt sieben Stunden von Haustür zu Haustür, Ella kann in fünf Stunden bei ihrer Familie in Finnland sein.51 Eine – gefühlte – geringe Distanz stellt demnach einen wesentlichen Aspekt zur Herstellung der erwünschten Transnationalität dar, die den Migrant_innen ein von ihnen als zufriedenstellend empfundenes Leben ermöglicht. Für Migrant_innen, die während der 1960er und 1970er Jahre nach Österreich kamen, stellte sich die Situation, bedingt durch die hohen Reise- und Flugkosten, noch ganz anders dar. Dennoch waren die gezwungenermaßen relativ seltenen Besuche ein wesentliches Element im Leben der Migrant_innen. Die aus Dänemark zugewanderte Frida erzählt dazu: »Die ersten Jahre bevor wir alles geschafft und so weiter, war es ja nur Geld einmal im Jahr, dass ich nachhause gefahren bin, nicht. Und fliegen, das konnte man gar nicht denken. Also ein Hin- und Her-Flug hat damals 10.000 Schilling gekostet, nicht. Weit über 12.000 Euro muss das glaub ich so ungefähr sein jetzt. Und das kann man gar nicht vergleichen, wir haben ja so weniger verdient damals. Einmal im Jahr musste ich halt mit dem Zug nach Dänemark bummeln. Vierundzwanzig Stunden hin und vierundzwanzig Stunden zurück. Und ja, aber natürlich das war wichtig.«
Die in den 1960er Jahren aus Spanien nach Wien übersiedelte Lucía berichtet Ähnliches: »Naja, so oft sind wir nicht gefahren. Weil damals waren die Zeiten nicht so, dass man sich das leisten konnte. Aber, so jedes zweite Jahre oder so sind wir nach Spanien / Zweite oder manchmal dritte Jahr, nach Spanien gefahren. Weil wir sind damals nicht geflogen, sondern mit Auto gefahren, net.«
Diese Sequenzen zeigen, wie sehr die jeweilige Generation der Kommunikationsmedien und Verkehrstechnologien die alltägliche Lebenspraxis und die transnationalen Lebenswelten von Migrant_innen mit bestimmten.52 Sie belegen außerdem das auch im wissenschaftlichen Diskurs zur Globalisierung viel diskutierte Phänomen der sich verändernden Raumwahrnehmung.53 Denn auch wenn naturräumliche 51 Zu Deutung und Bedeutung geographischer Distanz vgl. Kapitel 2.2. 52 Vgl. dazu z.B. Rianne Dekker/Godfried Engbersen, How social media transforms migrant networks and facilitate migration. In: Global Networks 14/4 (2014), 401-418; 402. Vgl. ebda. zu Studien, die nahelegen, dass diese spätmodernen Bedingungen auch die Bereitschaft zur Migration erhöhen. Für die hier untersuchten Migrant_innen kann diesbezüglich allerdings keine Aussage aus den Erzählungen rekonstruiert werden. 53 Vgl. z.B. Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. (Bielefeld 2008), bes. 13 ff.
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Gegebenheiten objektiv gegeben sind, stellt ihre Deutung und ihr Fühlen (als global, lokal, getrennt, zu weit usw.) ein sozial-kulturelles Konstrukt dar.54 Die technologischen Entwicklungen führten dazu, dass sich »die geographisch räumlichen Bezüge der sozialräumlichen Lebenswelt, die die Menschen wahrnehmen und in der sie sich bewegen, enorm ausgeweitet und ausdifferenziert haben«55. Die vorliegenden Erzählungen veranschaulichen sehr eindrücklich den Bedeutungswandel der geographischen Distanzen, die bis in die frühen 1990er Jahre erhebliche Hindernisse darstellten. Zugleich zeigt sich aber auch, dass zwar ein (Be-)Deutungswandel geographischer Distanzen konstatiert werden kann, nicht aber ein völliger Bedeutungsverlust von Flächenräumen und geographischen Entfernungen, oder gar eine »Entterritorialisierung« bzw. »Enträumlichung alles Sozialen«.56 Wie die Erzählungen deutlich machen, sind jene Migrationskosten, die sich aus der räumlichen Distanz ergeben, wie etwa weniger persönlicher Kontakt zu Freunden und Familie oder das Vermissen des Meeres, durchaus auch in der jüngsten Vergangenheit und in der Gegenwart von Bedeutung. Ja, es sind gerade diese Faktoren, die als größter ›Kostenpunkt‹ der Migration gewertet werden. 6.3.3 Soziale Strukturen und Institutionen Die sozialen Kontakte in das Herkunftsland waren bereits in der Erhebungsphase dieser Studie als zu behandelndes Thema angedacht. Im Hinblick auf das Forschungsinteresse wurde daher im Nachfrageteil der Interviews explizit nach bestehenden sozialen Kontakten in das Herkunftsland gefragt, wenn das Thema nicht vorher angesprochen und ausgeführt wurde.57
54 Vgl. dazu z.B. Pries 2008, 249 ff. 55 Pries 2008, 77. Vgl. auch Karen Körber, Nähe auf Distanz. Transnationale Familien der Gegenwart. In: Gertraud Marinelli-König/Alexander Preisinger (Hrsg.), Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten. (Bielefeld 2011), 91112. 56 Vgl. dazu z.B. Pries 2008, 77 ff. 57 Hinsichtlich der Frage nach transnationalen sozialen Netzwerken hätte mit Sicherheit auch ein netzwerkanalytischer Zugang spannende Ergebnisse erbracht. Da diese Frage im Falle der vorliegenden Studie jedoch lediglich ein Element des Forschungsinteresses darstellt, wurde zwar in den Interviews nach sozialen Kontakten gefragt, jedoch nicht in einem Detailgrad, der einen derartigen methodisch-analytischen Zugang ermöglicht hätte. Vgl. dazu z.B. Janine Dahinden, La circulation des personnes. Cabaret dancers’s transnationality. Working Papaers Maison d’analyse des processus sociaux 3 (2010). Online unter: www2.unine.ch/maps/workingpapersmaps-cid141543 (9.10.2018).
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Im Hinblick auf die Frage nach Bedeutung und Praxis von sozialen Strukturen und Institutionen als Elemente transnationaler sozialer Räume, der im Folgenden nachgegangen werden soll, muss auch die Dauer des Aufenthalts im Zielland der Migration als Faktor, der Unterschiede erzeugt, in Betracht gezogen werden. In den Erzähltexten zeigen sich dann auch feine, aber deutliche Unterschiede zwischen den Orientierungsrahmen und Orientierungsfiguren von Migrant_innen, die erst wenige Jahre von Eltern, Geschwistern und Freunden ›getrennt‹ leben, und solchen, die bereits vor vielen Jahren oder gar Jahrzehnten das Herkunftsland und die Herkunftsfamilie verlassen haben. Während letztere bereits ein Set an bewährten sozialen Praktiken etabliert haben, auch wenn diese dennoch dynamisch sind und sich durchaus weiter verändern, ist für die Migrant_innen mit der kürzesten Dauer des Aufenthalts im Zielland ihrer Migration eine gewisse Unsicherheit und ›Ungefestigtheit‹ ihrer Praktiken zu bemerken. In diesen Fällen sind die transnationalen sozialen Räume noch im Entstehungs- und Etablierungsprozess, während sie für andere zwar immer noch prozesshaft und dynamisch, aber doch bereits etabliert sind. Soziale Kontakte zum Herkunftsland sind in unterschiedlichen Ausmaßen und Formen für alle Gesprächspartner_innen von Bedeutung, alle pflegen multiple soziale Verbindungen zum Herkunftsland. Dabei sind zunächst zwei in ihrem subjektiven und objektiven Gewicht herausragende Institutionen58 zu identifizieren, nämlich die Herkunftsfamilie sowie die Freunde bzw. Freundeskreise im Herkunftsland. Der Herkunftsfamilie wird stets sehr hohe Bedeutung zugesprochen. Der Kontakt zu Großeltern, Eltern und Geschwistern wird von meinen Gesprächspartner_innen bewusst gepflegt und stellt ein wesentliches Element des (transnationalen) Lebens in der Migration dar. In diesem Kontext lässt sich allerdings eine klare Differenz zwischen Migrant_innen aus Spanien und jenen aus Skandinavien ausmachen. (Siehe Kap. 4.3) Dieser Unterschied liegt jedoch nicht in der Bedeutung, welche der Familie beigemessen wird, sondern vielmehr darin, wer zur ›Familie‹ gezählt wird und welchen ›signifikanten Anderen‹59 in der Familie die höchste Bedeutung zugesprochen wird. Für Gesprächspartner_innen aus Skandinavien umfasst die ›Familie‹ zumeist Eltern und Geschwister sowie in einigen Fällen auch Großeltern. »Also natürlich mit Familie habe ich immer Kontakt gehabt, ganz innige Kontrakt. Meine Oma is erst gestorben wo sie 97 war, also wir haben immer Kontakt gehabt und geschrieben. Und mit meine Eltern.« (Frida)
58 Zum Terminus ›Institution‹ vgl. z.B. Pries 2008, 271 ff. Vgl. auch Kapitel 6.3. 59 Mead 1973, 177 ff.
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Für Migrant_innen aus Spanien hingegen gehören häufig auch Tanten, Cousins und Cousinen und Nichten und Neffen zum Kern des transnationalen sozialen Netzwerks. »Und mit meine Familie, meine Eltern sind schon verstorben, aber mit meine Geschwister, ich hab zwei Schwestern, mit meinen Neffen und Nichten und Schwagern haben wir täglich Kontakt.« (Marta)
Im Hinblick auf die mit der der Herkunftsfamilie beigemessenen hohen Bedeutung verbundene Praxis, lassen sich drei unterschiedliche Orientierungsrahmen bzw. Orientierungsfiguren rekonstruieren: Erstens jene, mit der Familie möglichst täglich Kontakt zu pflegen, um auf diese Weise auch über die Distanz hinweg am Alltag der Anderen zu partizipieren (s.o.). Zweitens jene, dass Familienangehörige zwar einen zentralen Stellenwert haben und regelmäßig Kontakt zu halten ist, dies aber nicht täglich stattfinden muss. Die dritte Orientierungsfigur besteht darin, dass der Kontakt mit Familienangehörigen im Herkunftsland gehalten wird, dennoch misst man diesem Kontakt vergleichsweise weniger Bedeutung für die Orientierung des eigenen Lebens bei. Die Integration der Herkunftsfamilie in die alltägliche Lebenswelt wird sowohl von aus Spanien, als auch aus Skandinavien stammenden Migrant_innen, über alle Migrationsgenerationen hinweg, praktiziert. Im Unterschied dazu beschreibt nur eine einzige aus Deutschland zugewanderte Migrantin derartige Praktiken: »Das is total verrückt. Ich mein, jetzt bin ich schon über 50 und ich telefoniere, weiß ich nicht, alle zwei, drei Tage mit meiner Mutter. Das tun Leute in meinem Alter nicht mehr, außer man wohnt nebenan, dann sieht man sich sowieso jeden Tag. Aber wenn man halt mal beschlossen hat, ein bisschen mehr Distanz dazwischen zu bringen, dann sind das ganz andere Dimensionen. Es bewegt sich alles in anderen Dimensionen.«
Theresa deutet die Orientierungsfigur des intensiven und permanenten Kontakts zu Eltern als ›nicht normal‹ für eine Frau ihres Alters. Bemerkenswert erscheint, dass die meisten Spanier_innen der Deutung, ein solches Verhalten wäre »nicht normal für eine über 50-jährige Frau«, mit Sicherheit nicht zustimmen würden. Es lassen sich also offenbar Unterschiede darin finden, welche Bindung an die Herkunftsfamilie als normal bzw. als sozial erwünscht gilt. Die Vermutung ist naheliegend, dass dieser Unterschied mit der Art der Familienkulturen in Skandinavien, Spanien und Deutschland zusammenhänge könnte. Es ist aber auch denkbar, dass eine ähnlich starke Orientierung am Modell enger und permanenter Kontakte bei Migrant_innen aus Spanien und aus Skandinavien auf unterschiedliche Ursachen, Motive und Erfahrungen zurückgehen könnte. So wird das Familienleben in Spanien oft als besonders mutterzentriert oder sogar ›matriarchal‹ wahrgenommen, dies erzeuge
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sehr starke und dauerhafte Mutter-Kinder-Bindungen. Für moderne skandinavische Länder wird eher eine egalitär geprägte Familienkultur beschrieben, in der die Neigung, die Bindung auch nach der Migration aufrecht zu erhalten, auf eine reziproke Sorge um Eltern bzw. um Kinder zurückgehen könnte. Dieser schwierigen Frage differenter Familienkulturen und Familienstile kann hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Eine ›Sonderform‹ des transnationalen Familienkontaktes stellen Kontakte zu bereits erwachsenen Kindern dar, die nicht in Österreich leben. In drei Fällen sind Töchter dänischer Migrantinnen wieder nach Dänemark zurückgekehrt, während zwei Kinder von der ebenfalls aus Dänemark stammenden Caroline mittlerweile in die USA ausgewandert sind. Die Intensität dieser Verbindungen wird jedoch in keinem dieser Fälle näher beschrieben. Lediglich Caroline erwähnt kurz regelmäßige Familientreffen in Dänemark: »Ja, und wir treffen uns alle in Dänemark. Nicht jedes Jahr aber / Heuer kommen nur die zwei aus Wien. Aber es gibt ja zwei in Dänemark auch.«
In Bezug auf die Institution der Freundschaften gestalten sich die transnationalen Netzwerke der interviewten Migrant_innen sehr unterschiedlich. Einige beschreiben Freundschaften, die sich auch über Jahre der geographischen Distanz in ihrer emotionalen Intensität und ›Verbundenheit‹ kaum verändert haben. Für Frida beispielsweise, die in den frühen 1960er Jahren nach Österreich kam, stellen ihre Freundinnen in Dänemark auch nach all den Jahren wichtige Beziehungspartnerinnen dar. »Aber das beste / Nicht das Beste, aber ja, es bedeutet viel für mich; ich habe alle meine Freundinnen oben bewahrt. Also wenn ich / Jetzt wissen sie, ich komme Ende Mai. Es ist schon alles arrangiert, wo wir uns treffen, wo ein Fest ist, wo wir hinfahren. Und wenn ich hinkomme, dann ist es so als, ja als ob wir uns täglich treffen. Also es ist nichts Fremdes dazwischen.«
Als wesentlich deutet und schildert Frida hier nicht allein die Treffen, sondern vielmehr das Gefühl der Nähe und Vertrautheit. Ihr ist wichtig, dass das Leben in unterschiedlichen Ländern, die große geographische Distanz und der daraus resultierende seltenere (persönliche) Kontakt nicht zu Entfremdung geführt haben. Als eine Strategie, um einer solchen Entfremdung entgegenzuwirken, beschreibt Frida das Sich-Informieren und ›am Laufenden bleiben‹ über Ereignisse im Herkunftsland (s.o.), um sicherzustellen, dass eine gemeinsame Gesprächsbasis mit ihren Freundinnen bewahrt werden kann. Auch hier spielt die Information über die laufenden Geschehnisse im Herkunftsland via Medien eine wichtige Rolle:
312 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Außerdem habe ich eine dänische Illustrierte. Einmal im Monat kommt die. Das heißt Danes Wordwide und das ist ganz praktisch, weil da steht kurz gefasst, was in Dänemark alles passiert ist. Wer gestorben ist von Schauspieler, was mit König wo die Reise war, politische Verhältnisse und die Häuser sind teuer und die Häuser stehen leer und alles. So dass ich absolut sofort einen normalen Gespräch mit meinen Freundinnen führen kann. Das ist unheimlich wichtig, dass man nicht fremd sieht. Und die sagt, ›Weißt du, dass die Dings gestorben ist?‹. Sag ich ›Ja das war doch schrecklich, dass die da im März gestorben ist‹. So kommen ganz andere Gespräche als wenn man immer sagt, ›das weiß ich nicht‹.«
Fridas Erzählung zeigt zwar, dass die Erhaltung sozialer, aber vor allem auch emotionaler transnationaler Bindungen unter den Bedingungen der 1960er und 1970er Jahre möglich war, die technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte erleichterten dies allerdings beträchtlich. Auch die folgende Sequenz aus den Erzählungen von Marta verdeutlicht die Bedeutung, die der Kommunikation mit Freund_innen im Herkunftsland zugesprochen wird: »Ich habe einige Freunde, mit denen ich immer in Kontakt bin. Sind meine beste Freunde. Und man hat im Leben nicht sehr viele beste Freunde, sondern eine Handvoll. Und die habe ich noch immer. Sicher wir sehen uns selten. Aber wir kommunizieren oft.«
Kontakt, also Kommunikation, kommt die Funktion zu, eine Partizipation am Leben der Anderen zu ermöglichen. Diese Partizipation muss, wie bereits beschrieben, nicht zwingend den Alltag umfassen. Aber zumindest (mehr oder weniger) wesentliche Ereignisse im Leben der Anderen sowie persönliche Entwicklungen usw. sollten in der Wahrnehmung der Gesprächspartner_innen geteilt werden, um auf diese Weise Kontinuität zu gewährleisten und das Gefühl ›sich fremd‹ und ›unbekannt‹ geworden zu sein, zu verhindern. Für einige der Interviewten scheint in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen ›Freunden‹ und ›Bekannten‹ wesentlich. Während sich Bekanntschaften früher oder später verlieren, da sie der geographischen Distanz also nicht standhalten, bleiben Freundschaften (eher) bestehen. »Die Bekanntschaften, das man vorher gehabt hat, die verliert man dann irgendwie natürlich. Aber das is dann auch net so wichtig. Aber die richtigen Freundschaften, die hab ich no alle, des is überhaupt kein Problem.« (August)
Marta argumentiert, dass Freundschaften der aktiven und verantwortlichen Pflege bedürfen. Um sie im transnationalen Raum zu erhalten, sei die aktive Kontaktnahme, also soziale ›Arbeit‹ erforderlich.
Transnationalität | 313 »Aber Freunde hat man wenig, ich meine Bekannte hat man viele aber ja, das kann recht lustig ab und zu die Leute zu treffen, aber es bringt dich auch nicht weiter. Ich meine, eine Freundschaft ist eine ganz besondere Sache. Und eine Bekanntschaft ist nett, aber da kann man verzichten auch. Auf Freunde sollte man nicht verzichten, man muss auch sich bemühen die Freundschaften zu pflegen, und nicht immer erwarten, dass der Andere anruft, sondern weil / Ja, ich meine, wie gesagt / Ja, es is einfach ok, es is einfach gut, diese Leute zu haben.«
Nachlässigkeit und ›Faulheit‹ oder mangelnde Bereitschaft zu Aktivität bedeuten, so argumentiert auch die aus Deutschland stammende Katharina, früher oder später das Ende einer Freundschaft im transnationalen Raum: »Aber ich pflege es nicht und man ruft mir auch nicht hinterher, also na. Das is halt, in der ersten Zeit war=s natürlich noch intensiver. Da hab ich noch mit vielen Leuten immer telefoniert regelmäßig. Da haben mich auch einige Leute besucht in Wien und so. Aber es is eingeschlafen mit der Zeit. - Ja. Am Anfang war ich sehr stark noch hinterher, zumindest bei einigen Leuten, und irgendwann setzt dann auch so ein bisschen so=n Missmut darüber ein, dass immer nur ich diejenige bin, die aktiv wird. Und dadurch ja.«
Aber auch wenn unter den rezenten Bedingungen der transnationale Kontakt intensiv und auf unterschiedliche kommunikationstechnische Weise erfolgen kann (solange er aktiv gepflegt wird), wird doch immer wieder der Mangel an »gemeinsamen Erlebnissen« und »gemeinsam Erlebten« in diesen Freundschaften beklagt, so u.a. von Clara und Álvaro, die beide aus Spanien zugewandert sind: »Wir telefonieren, aber das Beste ist dort ein paar Wochen zu verbringen und wieder mit ihnen was zu erleben.« »Ja, natürlich sehe ich sie nicht so oft wie früher, weil manchmal ist es so, dass sie wann anders auf Urlaub sind als wir, und es klappt net. Aber zumindest schriftlich oder so, ja. Das ist natürlich nicht optimal, aber man kann nicht alles haben.«
Diese beiden Sequenzen zeigen sehr schön die Bedeutung, die ›unpersönlichem‹ Kontakt zukommt, aber auch, dass diese persönlichen Treffen, gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen meist nicht ersetzen kann. Dennoch akzeptieren Cara und Álvaro diese Umstände in dem Wissen, dass ein gewisses Ausmaß an Migrationskosten unumgänglich ist. Eines der Deutungsmuster für die sich im Laufe der Zeit verdünnenden Kontakte mit Freund_innen im Herkunftsland ist die Schwierigkeit persönliche Treffen (im Herkunftsland) zu arrangieren. Der Stress, den es bedeutet, bei zumeist nur wenige Tage dauernden Besuchen im Herkunftsland möglichst viele Freunde und Bekannte
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treffen zu wollen, ist ein Phänomen, das von einer Reihe von Gesprächspartner_innen beschrieben wird. »Dann bin ich vierzehn Tage oder drei Wochen gewesen, aber nach vier Tage sind wir nach Schweden gefahren. Und dann ging es darum, alle da einzupacken und da einen strikten Plan zu machen. Und das war irgendwann zu mühsam und das Leben geht weiter.« (Mia)
Andere wieder deuten und erleben im Gegensatz dazu die speziellen Umstände und Herausforderungen, die transnationale Freundschaften mit sich bringen, durchaus auch positiv und konstruktiv für diese Freundschaften. »Aber wenn ich fahr, dann fahr ich halt. Und dann tu ich die Leute besuchen. Und das is dann halt eine ganz andere Motivation. Und deswegen hab ich schon eigentlich sehr viel Kontakt mit den Leuten. Weil wenn ich fahr, dann mach ich immer mir einen Termin aus mit den Leuten und sag, ›Jetzt treff man uns‹. Und dann wird das net so wischiwaschi, so na nächste Woche, nächste Woche. Dann is immer so, ›Passt, du kommst ham, passt, neh=ma uns Zeit‹. Und des is eigentlich gar net so schlecht. Also, es gibt Leute, die seh ich jetzt öfter als wenn ich in Dänemark war. Das is scho eigentlich ganz witzig.« (August)
Mehrfach wird außerdem eine Veränderung der Gestalt der transnationalen Netzwerke im Lauf der Zeit beschrieben. Auch Nahestehende sind von den Mobilitätsanforderungen und -möglichkeiten betroffen, häufig leben die erhaltenen Freund_innen oder Familienmitglieder selbst nicht mehr in der Herkunftsregion oder dem Herkunftsland. Dennoch wird der Kontakt von vielen weiterhin gepflegt. Auf diese Weise spannen sich soziale Netzwerke nunmehr über mehrere Länder oder sogar Kontinente hinweg. Auch Freundschaften, die während verschiedener Stationen der Migration in anderen Ländern geschlossen wurden, stellen wesentliche Knotenpunkte in diesen sozialen Netzwerken dar.
Im Hinblick auf Strategien, welche die von mir interviewten Migrant_innen anwenden, um transnationale soziale Strukturen auf eine als zufriedenstellend gedeutete Art und Weise etablieren, erhalten und leben zu können, kann festgehalten werden: Ein ganz wesentliches Element hierfür ist transnationale Kommunikation (s.o.) sowie auch ein Sich-Informieren über Ereignisse im Herkunftsland. Aber auch Besuche im Herkunftsland bzw. Besuche von Familie und Freund_innen stellen eine wichtige Möglichkeit hierfür dar. Allein Häufigkeit, Dauer und Intensität der Besuche unterscheiden sich beträchtlich. Vor allem traditionelle Familienfeste wie Weihnachten oder Ostern werden mit der Familie im Herkunftsland verbracht und sind Anlässe für gegenseitige Besuche. Derartiger Feste können daher auch als symbolische Repräsentation im Sinne von Pries beschrieben werden.
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Für jene Migrant_innen, die selbst (noch nicht erwachsene) Kinder haben, sind diese Reisen ins eigene Herkunftsland außerdem von großer Bedeutung, um den Kontakt der Kinder zur Herkunftsfamilie des migrantischen Elternteils zu ermöglich und zu gewährleisten. Was Besuche der Herkunftsfamilie betrifft, so lassen sich zwei unterschiedliche Orientierungsrahmen aus den vorliegenden Erzähltexten rekonstruieren. Für einige Gesprächspartner_innen steht klar das Treffen mit bestimmten signifikanten Anderen im Vordergrund, egal wo diese sich befinden. Die Institution Familie (und bis zu einem gewissen Grad auch die der Freundschaften) ist somit, losgelöst von einem bestimmten örtlichen Bezug, der entscheidende Orientierungsrahmen. Erik beispielsweise antwortet Folgendes auf die Frage, wie oft er denn nach Norwegen fliegt: »Zu wenig könnte man sagen. Alle paar Jahre würde ich sagen im Schnitt. Für mich gibt=s dort nichts Spannendes mehr wirklich, außer meiner Familie. Das is dann wirklich nur, irgendwann einmal bekomm ich dann so ein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Mutter, dass ich mal wieder auftauch. Und witzigerweise is es meistens so, dass ich zwei, drei Tage Spaß hab, und dann spätestens nach einer Woche denk ich mir, ›Oh Gott. Ich weiß, warum ich weggefahren bin‹.«
Für zahlreiche Gesprächspartner_innen sind die beiden Orientierungsfiguren ›Besuch der Familie (und von Freunden)‹ und ›Besuche im Herkunftsland oder der Herkunftsregion‹, jedoch derart eng miteinander verwoben, dass sich keine klare ›Trennlinie‹ zwischen ihnen und den ihnen beigemessenen Bedeutungen aus den Erzählungen rekonstruieren lässt. »Also wenn, dann würde ich zu meiner Heimatstadt zurückkehren. Oder eventuell Madrid, wo ich auch Verwandte und meinen Bruder und so hab. Aber ja, nach Spanien zurückzukehren, nur um in Spanien zu sein, aber vielleicht genauso weit von der Reisezeit her wie von Wien, von meinem Zuhause, von meinem echten Zuhause, wäre nicht die richtige Entscheidung.«
Diese Aussage von Álvaro exemplifiziert sehr klar die Verwobenheit von Herkunftsfamilie und regionalem Zugehörigkeitsgefühl. Für Álvaro ist ›zuhause‹ nicht nur das Land Spanien an sich, sondern ein Ort, an dem signifikante Andere leben und an den er emotionale Bindungen hat, weil er dort seine Kindheit und Jugend verbrachte. Diese beiden Orientierungsfiguren können im Rahmen einer einzigen Migrationsbiographie auch diachron und in Abhängigkeit von der jeweiligen Migrationsphase und Lebenssituation auftreten. Lisas Erzählung illustriert sehr anschaulich einen solchen Prozess der Verschiebung von Orientierungsrahmen:
316 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Dadurch, dass meine Eltern jetzt auch nicht mehr die jüngsten sind, versuch ich halt so oft es geht quasi zu fahren. Aber das is jetzt nicht dieses, ›ah, will jetzt wieder nachhause‹. Dass ich jetzt alle zwei Monate fahr, dass kann man jetzt nicht sagen. Wann es sich halt ergibt, und mein Leben ist hier. Und das war, also die ersten fünf Jahre war=s so, dass ich viel mehr nach Deutschland gefahren bin, weil=s mich einfach hingezogen hat, ja. Wenn man sich nicht so wohl fühlt am Anfang, sucht man halt da, wo man sich wohl fühlt, da will man wieder zurück in diese Situation. Deswegen bin ich viel öfter auch nach Deutschland gefahren. Aber mein Lebensmittelpunkt ist jetzt hier. Ich lebe hier aus Überzeugung. Es ist wunderschön, es ist toll. Und ja, in Deutschland bin ich mittlerweile auch eher der Besucher, also mein Leben dort ist nach neun Jahren ja nicht mehr in dem Sinne existent. Was es halt vor fünf Jahren vielleicht noch ein bisschen mehr war. Aber mein Lebensmittelpunkt ist hier.«
Aber auch Häufigkeit und Dauer der Besuche verändern sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebensphase. Viele verbringen als Student_innen im Sommer mehrere Monate im Herkunftsland, was später, sobald die Migrant_innen berufstätig sind und vielleicht selbst Familie und Kinder haben, nicht mehr möglich ist. »Aber ich war eigentlich immer im Sommer, in den Sommerferien, also den ganzen Sommer eigentlich, also während des ganzen Studiums, zwei, drei Monate war ich in Finnland. Also da bin ich meistens im Juni raufgefahren, geflogen. Und dann bin ich irgendwann einmal im September wieder zurückgekommen. Also das war dadurch dann auch leichter. Weil ich war zwar seltener zuhause, aber dafür dann länger. Und es is jetzt auch so, dass wir einmal im Jahr dann drei Wochen / Also im Sommer sim=ma immer drei Wochen oben. Das is auch wegen den Kindern ganz wichtig, also wegen Finnisch.« (Sara)
Die Analyse transnationaler sozialer Strukturen zusammenfassend, erscheint auch die Beobachtung wesentlich, dass gerade im Kontext der Bedeutung und des Erhaltens von transnationalen sozialen Strukturen auffallend häufig Migrationskosten thematisiert werden. Dass der Kontakt zu Familie und Freunden nicht häufiger persönlich stattfinden kann, dass Freundschaften loser werden und sich vielfach auch ganz verlaufen sowie das Vermissen dieser signifikanten Anderen wird von vielen als großer – in einigen Fällen auch als der größte – Kostenpunkt eines Lebens im Ausland gedeutet. Hinsichtlich der Deutungsmuster dieser ›sozialen Migrationskosten‹ spielen, wie sich zeigt, auch Motive und Gründe der Migration eine Rolle. Der Spanier Diego beispielsweise sehnt sich geradezu nach einer Remigration, bleibt aber in Österreich, da er aufgrund der Arbeitsmarktsituation in Spanien kaum Chancen hat, Arbeit zu finden. Bedingt durch diese Umstände und sein damit verbundenes Deutungsmuster der Unfreiwilligkeit fällt es ihm auch entsprechend schwerer, die Kosten seiner Migration zu akzeptieren.
Transnationalität | 317 »Also ich versuche immer einmal jede eineinhalb Monate nachhause zu fliegen. So ein verlängertes Wochenende, oder ich fliege am Donnerstag und komme zurück am Sonntag oder so. Ja, ja ich brauche so was. Am Anfang bin ich wirklich sehr selten nach Spanien geflogen, aber jetzt mittlerweile pfu. Ich will auch diese Kontakt nicht verlieren, überhaupt nicht, von meine Freunden die, die dieselben sind seit, ja seit ich im Kindergarten war. Und meine Eltern, sie sind nicht super alt, aber mittlerweile die werden schon älter. Und das is auch ein Gefühl, wo du denkst, irgendwie verpass ich schon viel, gell. Weil, ja mein Vater is schon fünfundsiebzig, meine Mutter is siebzig. - Ja und die Zeit vergeht und vergeht und dann schaust du, Mann ich verliere so viel Zeit mit ihnen.«
Da Diego, im Gegensatz zu anderen, hier in Österreich »kein Leben« hat (bzw. sich kein befriedigend dichtes Beziehungsnetz aufgebaut hat), das die Verluste und Kosten aufwiegt, empfindet er die Migrationskosten als sehr hoch. Er vermisst Eltern und Freunde, und hat Angst, den Kontakt zu verlieren und wichtige Zeit mit den Eltern zu verpassen. 6.3.4 Transkulturalität Transkulturalität manifestiert sich, wie die vorliegenden Erzähltexte zeigen, in einer Vielfalt an individuellen Praktiken und Deutungsmustern. Für die hier interviewten Migrant_innen ist das Erhalten und Praktizieren von Elementen der Herkunftskultur ein wesentlicher und überaus bedeutsamer Orientierungsrahmen. Somit stellen transkulturelle Praktiken zumeist nicht allein ways of being, sondern auch ways of belonging im schon beschriebenen Sinn dar, und können so auch als ›Doing National Identitiy‹ verstanden werden. (Siehe Kap. 7) Hinsichtlich der Frage nach Formen, Intensität und Deutungen transkultureller Praktiken sind auch die jeweiligen Lebensumstände zu berücksichtigen. So stellt sich beispielsweise die Transkulturalität eines dänischen Ehepaars, das in Österreich lebt, gänzlich anders dar als jene von Migrant_innen, die österreichische Lebenspartner_innen haben. Mit differenzierten Grundvoraussetzungen verbunden unterscheiden sich auch als erforderlich wahrgenommene Strategien. Generell können transkulturelle Praktiken und Deutungsmuster differenziert werden in solche, die im Alltag praktiziert und angewandt werden, und in solche, die nur bestimmte Anlässe betreffen. Für jene Gesprächspartner_innen, für die eine wie auch immer gestaltete und gedeutete Transkulturalität einen wesentlichen Orientierungsrahmen darstellt, sind allerdings beide Formen von Bedeutung. Es wird also nicht nur eine dieser beiden Varianten praktiziert und gelebt. Ein Beispiel für transkulturelle Praktiken (im Sinne eines way of belonging und ›Doing National Identity‹) im Rahmen spezieller Rituale und Anlässe stellt eine Erzählung zur dänischen Tradition des Osterbrunches dar. Die in den frühen 1960er
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Jahren zugewanderte Frida beschreibt zunächst sehr ausführlich und mit offensichtlicher Begeisterung, wie ein solcher Brunch zu verlaufen hat. Zu ihrem Leidwesen ist es ihr aber nie gelungen, diese Tradition auch bei ihrer Familie in Österreich (Ehemann, Kinder, Schwiegersöhne) in der ›richtigen‹, d.h. der in Dänemark üblicherweise praktizierten Form, einzuführen. Ihre Familie isst sich schon an den ersten Gängen satt und verlässt den Tisch außerdem zu früh. »Ja aber in Dänemark sitzt man mindestens vier Stunden auf diesem Tisch. Und man hat es sehr nett miteinander, gemütlich und lustig, mal richtig Zeit miteinander zu reden. Das ist mir nicht möglich, obwohl ich vierzig Jahre hier bin, ist es mir nicht möglich das hineinzuführen in die Familie. Und ich hab auch mit anderen darüber gesprochen, aber andere haben mehr Glück gehabt. Ja das weiß ich nicht warum, was da falsch war. Weil man muss lang sitzen auf diesen Tisch, das geht nicht um das Essen allein.«
Frida hält also seit über vierzig Jahren an dieser dänischen Tradition fest, auch wenn es sie schmerzt, dass ihre Familie kein Verständnis für die Details der Rituale aufbringen kann, und der Osterbrunch somit in Fridas Deutung damit nicht wirklich authentisch dänisch gelingt. Eine vergleichbare transkulturelle Praxis beschreibt die ebenfalls aus Dänemark stammende Maja, wenn sie erzählt, sie habe für ihre ersten Weihnachten im Jahr 1963 in Österreich den Christbaum in dänischer Tradition mit dänischen Flaggen geschmückt (s.u.). Mehrere dänische Interviewpartner_innen betonen außerdem, dass sie sich alljährlich die Neujahrsansprache der dänischen Königin (im Fernsehen) ansehen. Álvaro wiederum, der ansonsten kaum bewusst Traditionen aus seinem Herkunftsland Spanien pflegt, feiert jedes Jahr an der spanischen Botschaft den Nationalfeiertag. »Am 12. Oktober feiert man in der spanischen Botschaft den, in Amerika sagt man Kolumbustag, wir sagen Amerika-Entdeckungstag. Die Botschaft lädt da zu einer Feier ein, ich bin immer dabei und so. Aber viel mehr mach ich nicht.«
Eine andere, eindrucksvolle Form, multiple Zugehörigkeiten durch transkulturelle Praktiken zu leben, beschreibt Clara aus ihrer Zeit auf Mallorca. »Und es war komisch, da auf Mallorca wollte ich mir den Opernball anschaun. Und hier [in Wien, M.N.] nicht. Oder zum Silvester als wir dort auf Mallorca gelebt haben, haben wir uns das Konzert angehört. Und hier nicht.«
Dieses Beispiel veranschaulicht auch den situativen Charakter multipler Zugehörigkeiten (siehe Kap. 7) und damit verbundener Praktiken. Gerade in einer Phase, in
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welcher sie nicht in Österreich lebte, hatte Clara das Bedürfnis, Kontakt zur ›österreichischen Kultur‹ zu suchen, während sie im alltäglichen Leben in Österreich diesen Traditionen eher geringe Bedeutung beimisst oder jedenfalls an hochkulturellen Ereignissen wie dem Neujahrskonzert der Philharmoniker oder dem Opernball nicht teilnimmt (und sei es nur in Form einer TV-Übertragung). Besuche im Herkunftsland wurden bereits im Kontext der Ebene der sozialen Institutionen diskutiert, können aber sowohl auf der Ebene der sozialen Netzwerke wie auch auf jener der Transkulturalität von Bedeutung sein. Wie zuvor festgestellt, sind diese beiden Bedeutungsebenen der Orientierungsfigur ›Besuche im Herkunftsland‹ zumeist nicht scharf von einander zu trennen. Für meine Gesprächspartner_innen stellen diese Praktiken einen wichtigen Aspekt ihres transkulturellen Lebens dar, da sie kontinuierlichen Kontakt oder wenigstens immer aufs Neue hergestellte Interaktionen mit der Herkunftskultur (Kunst, Sprache, Verhaltensmuster aber auch Klima und Landschaft umfassend), gewährleisten. Somit kann auch diese Orientierungsfigur als Form eines way of belonging und ›Doing Identity‹ gelesen werden. Frequenz und Dauer dieser Besuche im Herkunftsland wiederum unterscheiden sich wie gesagt. Vielfach sind es jedoch auch rein praktische Gründe, wie verfügbare Urlaubstage oder Bedürfnisse der Kinder etc., die die Möglichkeit zu solchen Besuchen in ihrer Häufigkeit und Dauer einschränken. Für die Spanierin Olivia beispielsweise ist die Orientierungsfigur ›möglichst viel Zeit in Spanien verbringen‹ derart bedeutsam, dass sie sogar ihre berufliche Laufbahn daran orientiert. »Und deswegen ist die Selbstständigkeit für mich sehr wichtig, weil ich eben diesen Kontakt mit Spanien besser pflegen kann. Ich kann fahren, wann ich möchte. Weil ich von dort aus arbeiten kann.«
Im Alltag stellt für viele Migrant_innen der Gebrauch und die Pflege der Muttersprache, wie beispielsweise das Lesen von Büchern in der Muttersprache, eine bewusste und wichtige transkulturelle Praxis dar.60 Aber auch die zweisprachige Erziehung der Kinder geht über rein rationale Beweggründe hinaus und kann ebenfalls als way of belonging beschrieben werden. (Siehe Kap. 4.4) Eine weitere, bereits beschriebene, wesentliche transkulturelle Praxis ist der Konsum von Nachrichten aus dem Herkunftsland. Durch das ›Auf-dem-Laufendenbleiben‹ über politische, ökonomisch sowie gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen wird das Gefühl der Zugehörigkeit bzw. die ›Verbindung‹ zum Herkunftsland beständig reproduziert. Wesentlich ist hierbei sicherlich auch, dass diese Nachrichten stets in der Muttersprache konsumiert werden. Damit manifestiert sich
60 Vgl. dazu z.B. Faist 2004, 4.
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in dieser Orientierungsfigur ebenfalls über die sprachliche Ebene ein way of belonging. »Also da halt ich mich schon auf dem Laufenden. Ist mir schon auch wichtig.« (Sara)
Aber auch die Zubereitung der Mahlzeiten mit Bezug auf Materialien und Gewohnheiten des Herkunftslandes sowie alle Praktiken materiellen Konsums (wie die Wahl von Automarken, von Kleidern u.v.m.), also mithin die Wahl der bewährten und konsumierten Artefakte (nach Pries), sind für einige Migrant_innen außerdem eine symbolisch bedeutsame Dimension ihrer Transkulturalität. Zugleich bilden sie wesentliche identitätsstiftende Bezugsobjekte einer kultur-nationalen Identität. (Siehe Kap. 7.2) Während manche Interviewpartner_innen die Frage, wo die Konsumgegenstände gekauft werden, rein pragmatisch entscheiden, stellt die gezielte Suche nach Konsumgegenständen, die einen deutlichen Bezug zum Herkunftsland haben, für andere eine wichtige symbolische, transkulturelle Praxis dar. Erstere kaufen aus praktischen Gründen im Herkunftsland ein, etwa, weil Kleidung dort eventuell billiger ist, oder die Qualität besser. Für letztere hat der ›nationalisierte‹ Konsum auch emotionale Bedeutung. Ein Beispiel hierfür gibt die Norwegerin Mia: »Ja was Mode betrifft, da liebe ich die skandinavische Mode, und da kaufe ich auch immer ein, wenn ich in Norwegen oder Schweden oder Dänemark bin. Das mag ich. Hat auch mit Nostalgie und Heimat zu tun. Die Heimat mitnehmen und sich damit umgeben und einkleiden darin, ja klar. Also das ist schon wichtig für mich.«
Mit der Metapher des ›Sichumgebens mit Heimat‹ durch Kleidung aus der Herkunftskultur beschreibt Mia sehr eindrucksvoll, wie und warum Konsum für sie einen way of belonging darstellt. ›Heimat‹, Herkunft und ihre Kultur (die in diesem Fall nur zum Teil national, zum Teil skandinavisch ist) bilden in Kombination ein für sie wesentliches Deutungsmuster. Modische, typisch skandinavische Kleidung aus ihrer ›Heimat‹ zu kaufen und vor allem auch zu tragen (also die Performance der Skandinavierin in Wien mittels Selbststilisierung) vergegenwärtigen das Gefühl von Zugehörigkeit und kultur-nationaler Identität in der Migration. Nicht zuletzt trägt Mia auf diese Weise ihre Identität auch für andere wahrnehmbar ›zur Schau‹. Für Tobias wiederum hat ›Dänisches Design‹61 einen hohen emotionalen Stellenwert. Für ihn sind Möbel im ›Dänischen Design‹ ein Mittel, für sich selbst und andere wieder erkennbar ›dänisch‹ zu leben.
61 Vgl. dazu Kapitel 3.
Transnationalität | 321 »Ein Beispiel sollte ich vielleicht erwähnen, das sind Möbel. Ahm, ich habe schon als Student ein paar teure Möbelstücke gekauft, die ich auch überall mitgeschleppt habe. Und als ich mich dann in Baden eingerichtet habe, habe ich das Esszimmer aus Dänemark beschafft über Geschäfte in Wien. Also das ist vielleicht ein Beispiel.«
Aber auch Ernährung und Kochgewohnheiten werden mit Bedeutungen im Sinne transkultureller Praktiken und Deutungsmuster aufgeladen, und können somit auch als Performance kultur-nationaler Identität gelesen werden. Im Alltag kochen meine Gesprächspartner_innen allerdings mehr oder weniger ›international‹ und bereiten nur gelegentlich Gerichte aus dem Herkunftsland zu. Einige verweisen in diesem Kontext auf das Phänomen der ›Globalisierung des Speiseangebots‹: Viele Gerichte, wie beispielsweise Spaghetti, sind heute eine internationale Speise geworden, während zugleich in ganz Europa asiatisches, türkisches, indisches oder thailändisches Essen von einem Teil der Bevölkerung selbstverständlich konsumiert wird. Wenn sich die Gelegenheit bietet, schätzen die von mir interviewten Migrant_innen jedoch durchaus Speisen oder Lebensmittel aus dem Herkunftsland, deren Konsum sie ebenfalls als way of belonging praktizieren: »Also das ist eher Nostalgie, Sehnsucht nachhause. Das heißt, bin ich bei Ikea, kauf ich ein paar Dinge mit ein. Aber im Alltag nicht. Ich bin Vegetarier und insofern ist die norwegische Küche überhaupt auch nicht so geeignet dafür.« (Mia)
Für den Deutschen Sven stellt der Kauf und Import von typischen Süßspeisen aus seiner ostdeutschen Herkunftsregion einen symbolischen Akt dar. »So=n schönes Gefühl von alter Heimat. Vielleicht auch noch von Ostnostalgie.«
Daniela wiederum beschreibt eine transkulturelle Praxis in gänzlich anderer Form. Für sie ist das Festhalten an der ›nationalen Zeit‹62, d.h. dem Lebensrhythmus, der in ihrem Herkunftsland Spanien üblich ist, eine wichtige Orientierungsfigur. Dieses Festhalten erfolgt in ihrem Fall jedoch Großteiles auf einer unterbewussten Ebene. Sie deutet es nicht als bewusste Entscheidung, sondern argumentiert, dass ihr Körper nicht in der Lage sei, sich an die in Österreich üblichen Essenszeiten zu gewöhnen. »Also als ich gearbeitet habe, dann war es zu Mittag um zwölf und dann haben wir alle gemeinsam gegessen. Aber sonst, wenn ich alleine bin, dann mache ich die normalen spanischen Zeiten.«
62 Vgl. z.B. Edensor 2002, 96 ff.
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Wie diese Ausführungen verdeutlicht, kann Transkulturalität respektive multiple kultur-nationale Zugehörigkeit auf vielfältige Weise gelebt und praktiziert werden. Für Migrant_innen aus Skandinavien und Spanien stellt ein solches Erhalten von Elementen ihrer Herkunftskultur eine wesentliche Orientierungsfigur dar. Nur Maja (s.u.) und Erik, der seine Sozialisation in Norwegen nur wenig als mit einer kollektiven oder kulturellen Zugehörigkeit in Verbindung stehend deutet (siehe Kap. 7.2), bilden hier eine Ausnahme. Im Gegensatz dazu pflegen auch andere, ansonsten kosmopolitisch orientierte Migrant_innen (s.u.) zahlreiche transkulturelle Praktiken und messen ihnen große Bedeutung bei. Etwas anders stellen sich derartige Orientierungsfiguren allerdings bei Migrant_innen aus Deutschland dar. Von ihnen werden ways of belonging vergleichsweise selten auf diese Weise konstruiert und praktiziert. Es erscheint jedoch logisch, dass die möglichen und praktizierten Formen sowie das Ausmaß transkultureller Praktiken, Handlungsmuster und Orientierungsfiguren in einer gewissen Abhängigkeit von subjektiv wahrgenommen ›kulturellen Unterschieden‹ stehen. (Siehe Kap. 3.4) Exkurs – Die Frage der letzten Ruhestätte Eine in zwei Interviews aufgeworfene Frage, die mehrere der eben diskutierten Dimensionen transnationaler Sozialräume umfasst, ist die Frage des Bestattungsortes. Diese ›Problematik‹ soll im Folgenden in Form eines kurzes Exkurses diskutiert werden, zum einen aufgrund der großen Bedeutung, die diesem Thema in den beiden Erzählungen beigemessen wird, zum anderen aber auch als weiteres Beispiel für die vielfältigen Probleme, die transnationale Lebenswelten mit sich bringen können. Die in den 1960er Jahren aus Dänemark zugewanderte Frida spricht sehr ausführlich über das Thema, da sie »ganz gerne in Dänemark begraben werden würde«.
Dieser Wunsch ist zum einen darin begründet, dass ihr das in Dänemark übliche Konzept von Friedhof sowie die dänischen Bestattungssitten mehr zusagen als die in Österreich praktizierten; die findet sie »furchtbar«. »In Dänemark hat man eine ganz andere Einstellung zu Friedhöfen als hier. Das ist eher ein Park mit Seen und Bäume, und das ist oft auch ohne Stein und so. Und die Familie weiß schon ungefähr wo es ist und so. Aber das finde ich richtig und gut so. Sehr, sehr schöne Park, da stehen auch Statuen und alles möglich drinnen. Moderne Statuen und so, und das finde ich toll. Da liegt meine ganze Familie so ohne Name. Und hier finde ich das furchtbar. ((Lachen)) Finden sie alle furchtbar.«
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Aber auch die Sehnsucht nach einer ›Heimkehr‹, einer ›Rückkehr zu ihren Wurzeln‹ ist mit ein Grund für diesen Wunsch. »Und das finde ich gut, und irgendwie finde ich das wäre schön, wenn man einmal zurückkehren könnte, von da wo man gekommen ist.«
Letztlich wird Frida aus Rücksicht auf ihre Kinder, diesen Wunsch aber nicht umsetzen und sich in Österreich bestatten lassen. »Aber, natürlich das habe ich mit meine Kinder gesprochen und das finden sie natürlich nicht so gut. Ja, und das muss ich dann verstehen. Ich sehe ja, wie viel das Grab von meinem Mann bedeutet für meine Kinder, und wenn das so ist, dann soll das so bleiben. Aber das gibt es nicht in Dänemark, dass man mit Kerze kommt und auf dem Grab. Man hat eigentlich die Erinnerung zuhause. Das ist vielleicht auch ein bissl eine andere Philosophie.«
Frida verzichtet also auf eine Bestattung in Dänemark, um es ihren Kindern zu ermöglichen, die in Österreich gebräuchlichen Bestattungs- und Gedenkrituale zu praktizieren. Wie sehr Frida selbst die ›dänische Philosophie‹ aber bevorzugt, zeigt sich auch daran, dass sie, ginge es allein nach ihren Wünschen, lieber in Dänemark bestattet werden möchte als in Österreich an der Seite ihres bereits verstorbenen Mannes. Eine ›Heim- bzw. Rückkehr‹ und eine Totenruhe nach dänischen Bräuchen erscheint ihr wünschenswerter als eine ›physische Nähe‹ zu ihrem verstorbenen Ehemann. Auch Maja spricht das Thema Bestattung bzw. das Problem des Bestattungsortes an. »Ich möchte nie zurück gehen. Mein Mann sagt manchmal, er möchte in Dänemark sterben, aber was soll=s. Der ist sechsundsiebzig und wir gehen nicht nach Dänemark.«
Eine Remigration zu Lebzeiten kommt für Maja also nicht in Frage. Zwar wird hier nicht deutlich, wie ernsthaft dieser Gedanke, oder dieser Wunsch ihres Mannes ist, sehr klar wird aber, dass er diesen nicht wird durchsetzen können. Was allerdings den Ort ihrer Bestattung betrifft, ist Maja ratlos. »Aber ein Problem ist zum Beispiel, wenn man so alt ist, wo wollen wir begraben werden? Ein Kind in Dänemark, zwei Kinder hier. Familie, Geschwister und so weiter in Dänemark.«
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In Frage kommen dafür sowohl Dänemark als auch Österreich, wobei sie in Österreich in mehreren Orten gelebt hat und auch hier wieder nicht weiß, wo genau der Begräbnisort dann sein soll. »Ich muss sagen, ein Bein da und ein Bein dort. Und eben das, wo willst du begraben werden? Das muss man ja auch den Kindern gegenüber klarstellen. In Mödling haben wir gewohnt, aber will ich in Mödling begraben werden? Will ich in Kottingbrunn? Ich weiß es nicht. Die Geschwister sind ja alle in unserem Alter, mehr oder weniger. Aber in Dänemark / Ich weiß es nicht. Das is so, ich glaube für Ausländer, ein Problem muss es nicht sein, aber man kann sich Gedanken machen.«
Auch für die 1963 nach Österreich gekommene Maja ist diese Frage also ein Phänomen bzw. ein Resultat ihrer Migration bzw. ihres transnationalen Lebens. Diese Frage beschäftigt sie offenbar tatsächlich sehr. Sie fragt sogar während des Interviews nach, ob sich andere meiner Interviewpartner_innen dazu geäußert haben, und wie diese dazu stehen. Primär ist Majas ›Sorge‹ aber auch darin begründet, dass sie diese Entscheidung ihren Kindern nicht aufbürden möchte. »Weil mir ist egal wo ich lande, irgendwie doch. Aber der Familie gegenüber, die müssen das wissen, nicht. Weil wenn ich das denen nicht gesagt habe, dann stehen sie vielleicht vor ein Problem.«
Diese von Frida und Maja thematisierte Problematik zeigt erneut sehr eindrucksvoll, wie komplex und facettenreich transnationale Lebenswelten sind, und welche unterschiedlichen Probleme sich daraus ergeben können.
6.4 TRANSNATIONALE SOZIALRÄUME UND LEBENSWELTEN IN DEN ERZÄHLUNGEN Nachdem nun einzelne Dimensionen von Transnationalität bzw. transnationalen Sozialräumen diskutiert und beispielhaft veranschaulicht wurden, soll im Folgenden der Frage nach den individuellen transnationalen (alltäglichen) Lebenswelten der hier interviewten Migrant_innen in ihrer Gesamtheit nachgegangen werden. Dazu lässt sich zunächst Folgendes feststellen: In vergleichbaren Studien wird, um eine detailliertere Analyse transnationaler Praktiken zu ermöglichen, häufig eine Unterscheidung zwischen dauerhaften, etablierten bzw. Institutionalisierten und temporären, sporadischen und selektiven transnationalen- und transkulturellen Prak-
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tiken63 vorgenommen. Wie sich zeigt, ist dies jedoch in der vorliegenden Studie wenig sinnvoll. Bei den hier beschriebenen Praktiken handelt es sich um dauerhafte und/oder institutionalisierte Praktiken. Selbst Praktiken wie das Tragen dänischer Mode, können als dauerhaft beschrieben werden, auch wenn sich die Person nicht ausschließlich auf diese Weise kleidet. Aus den vorliegenden Erzähltexten lassen sich drei Typen transnationaler Sozialräume rekonstruieren. Erstens transnationale soziale Räume, die sich primär zwischen Herkunftsland und Aufnahmeland aufspannen und die ich als ›binationalkulturelle transnationale Sozialräume‹ bezeichne. Hierbei handelt es sich um transnationale Sozialräume, in welchen Elementen der Herkunftskultur des Migranten/ der Migrantin große Bedeutung beigemessen wird und im Rahmen derer eine Vielzahl sozialer Praktiken als ways of belonging, und/oder als Performance kulturnationaler Identität beschrieben werden kann. Innerhalb dieses Typs wiederum sind verschiedene Ausprägungen zu unterscheiden. So gestalten sich, wie bereits erwähnt, für Migrant_innen, deren Eheoder Intimpartner_in aus demselben Herkunftsland stammt, ihre transnationalen Lebenswelten anders, als für jene, die eine binational-kulturelle Ehe oder Partnerschaft führen. Eine ebenfalls bereits angesprochene Sonderform entwickeln jene Gesprächspartner_innen, die, ihrer eigenen Deutung nach, nicht ›freiwillig‹ in Österreich sind. Dieses Deutungsmuster wirkt, wie sich zeigt, maßgeblich handlungsleitend und führt zu einer deutlich differenzierten Konzeption und Orientierung der transnationalen Sozialräume. Schließlich muss, wie bereits im Kontext der Frage nach transnationalen sozialen Netzwerken angedeutet, auch die bisherige Dauer der Migration zum Zeitpunkt des Interviews in Betracht gezogen werden. Vor allem für Migrant_innen, die erst seit wenigen Jahren in Österreich leben, wird, kontrastiv zu den Erzählungen anderer, die bereits vor vielen Jahren ihr Herkunftsland verließen, eine gewisse ›Ungefestigtheit‹ dieser transnationalen Sozialräume deutlich. Damit ist anhand der vorliegenden Erzählungen noch nicht klar zu bestimmten, in welche Richtung sich diese entwickeln werden. Die Vermutung, dass auch aus diesen Sozialräumen Formen werden, die sich dem eben beschrieben Typus zuordnen lassen, erscheint mir jedoch auf Basis der betreffenden Erzähltexte durchaus gerechtfertigt. Ergänzend sind in diesem Kontext außerdem die beiden unterschiedlichen Orientierungsrahmen, welche sich auf Ebene der sozialen Netzwerke rekonstruieren lassen, zu erwähnen. Unabhängig von den individuellen Ausprägungen des eben beschriebenen Typs transnationaler Räume ist einigen die Integration von Freunden und Familienangehörigen im Herkunftsland in ihren Alltag wesentlich, während es für andere lediglich essentiell erscheint, ›in Kontakt zu bleiben‹ (s.o.). Als ein weiterer Subtyp der ›binational-kulturellen transnationalen Sozialräume‹ können die Fälle von Álvaro und Maja beschrieben werden. Beide leben zwar in 63 Vgl. z.B. Dahinden 2010.
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sehr transnational geprägten Lebenswelten, pflegen oder suchen den Kontakt zur Herkunftskultur jedoch weniger bewusst als andere, und deuten das Miteinbeziehen von Elementen dieser Kultur in ihre alltägliche lebensweltliche Praxis als vergleichsweise weniger wichtig. Das ›Transkulturelle‹ ergibt sich für sie zum einen aus der Bedeutung, die sie der Herkunftsfamilie beimessen (die im Herkunftsland lebt), sowie aus der Tatsache, dass ihre kulturellen Wurzeln einen wesentlichen Faktor hinsichtlich ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer kultur-nationalen Identität ausmachen. (Siehe Kap. 7.2) Sie nehmen sich selbst als Spanier bzw. als Dänin war, was die alltägliche Lebenswelt naturgemäß massiv prägt, messen aber dem bewussten Praktizieren von transkulturellen Praktiken weniger Bedeutung bei. Ihr Fokus liegt vielmehr auf den räumlich in Österreich situierten Dimensionen ihrer Lebenswelt. Mit Ausnahme von Sven und Theresa sind auch die Migrant_innen aus Deutschland von jenen aus Spanien und Skandinavien zu unterscheiden, woraus sich der Typ der ›deutsch-österreichischen transnationalen Sozialräume‹ ergibt. Während sich für Migrant_innen aus Spanien und Skandinavien keine Differenzierung, die im Zusammenhang mit den Herkunftsländern steht, ausmachen lässt, sind transnationale Sozialräume von Migrant_innen aus Deutschland auf eine subtile, aber dennoch deutliche Weise anders strukturiert und unterliegen anderen Deutungsmustern. Zwar messen auch sie sozialen Kontakten zu Familienangehörigen und Freunden im Herkunftsland große Bedeutung bei und pflegen regelmäßige Besuche, in ihren Erzählungen finden sich jedoch vergleichsweise weniger kultursoziale Praktiken, die als ways of belonging gedeutet werden können. Eine mögliche, und in meinen Augen plausible Erklärung hierfür mag der Umstand sein, dass für diese Migrant_innen die – gefühlte – kulturelle und geographische Distanz bedeutend geringer ist, sie die Distanz zum Herkunftsland und zur Herkunftskultur also als wesentlich weniger bedeutsam wahrnehmen. Diese unterschiedlichen Deutungsmuster wirken direkt auf die Formen und Gestalten der etablierten und für wünschenswert erachteten transnationalen Lebenswelten ein. Als dritter Typ kann schließlich eine Gruppe ›kosmopolitisch orientierter transnationaler Sozialräume‹ beschrieben werden. Zwar sind transnationale Sozialräume grundsätzlich plurilokal konzipiert64, basierend auf dem empirischen Material, scheint diese Differenzierung zwischen ›binational-kulturellen transnationalen sozialen Räumen‹ und ›kosmopolitisch orientierten transnationalen Räumen‹ jedoch sinnvoll, um die Unterschiede zwischen den rekonstruierbaren Typen analytisch schärfer fassen zu können. An dieser Stelle erscheint es außerdem nötig, den Terminus ›Kosmopolit‹ näher zu erläutern und darzulegen, wie er im Folgenden verstanden werden soll. Zunächst kann Kosmoplitismus definiert werden als 64 Pries 2008, 288.
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»a particular worldview characterized by the capacity to mediate between different cultures, the recognition of increasing interconnectedness of political communities and the approval of political responsibility at the supranational and global level«65.
Wie auch Steffen Mau u.a. vorgeschlagen haben, muss außerdem zwischen Kosmopolitismus als »normative Vision oder normatives Ideal« und Kosmopolitismus als »empirisch messbarem Aspekt eines sozialen Phänomens« unterschieden werden:66 »Empirical ›cosmopolitanization‹ occurs as unintended and unseen sideeffects of actions that are not intended as ›cosmopolitan‹ in the normative sense.«67 Transnationale Sozialräume wiederum lassen sich, wie bereits beschrieben, als »relativ dauerhafte, auf mehrere Orte verteilte bzw. zwischen mehreren Flächenräumen sich aufspannende verdichtete Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten«68 definieren. Darauf basierend werden für die vorliegende Untersuchung ›binational-kulturelle transnationale soziale Räume‹ als jene Sozialräume bezeichnet, die sich primär zwischen dem Herkunftsland und dem Aufnahmeland Österreich aufspannen. ›Kosmopolitisch orientierte transnationale Räume‹ hingegen beschreiben Sozialräume, die sich über mehrere unterschiedliche geographische und kulturelle Regionen hinweg erstrecken. Im vorliegenden Sample finden sich derartige soziale Räume und ›internationale Orientierungshorizonte‹ bei Migrant_innen, deren Migrationsbiographie sie in unterschiedliche Länder führte, und die daher über mehrere (geographische, kulturelle und soziale) Bezugspunkte sowie über einen über Herkunfts- und Aufnahmeland hinausgehenden Erfahrungshorizont verfügen. Auch für diesen Typ lassen sich wiederum zwei unterschiedliche Subformen rekonstruieren; zum einen jene für die auch in einem multi-lokalen transnationalen Sozialraum dem Herkunftsland und der Herkunftskultur große Bedeutung zukommt, sowie jene, die den Anteilen der Herkunftskultur an ihren transnationalen Lebenswelten weniger Bedeutung beimessen. Exemplarisch für ›binational-kulturelle transnationale Sozialräume‹, also den ersten beschreiben Typ, in welchen der Herkunftskultur eine bedeutende Rolle zukommt, können die Fälle von August und Sara beschrieben werden.
65 Mau/Mewes/Zimmermann 2008 (Anm. 17), 2. Vgl. dazu auch Claudia Vorheyer, Transnational mobiles. Erkenntnisse zu einer (fast) übersehenen Migrationsgruppe. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41 (2016), 55-79; 61 f. 66 Mau/Mewes/Zimmermann 2008 (Anm. 17), 4. Vgl. auch Delanty 2011, 634 f.; Eagleton 2009, 89; Ulrich Beck, Cosmopolitanism as Imagined Communities of Global Risk. In: American Behavioral Scientist 55/10 (2001), 1346-1361. 67 Mau/Mewes/Zimmermann 2008 (Anm. 17), 4. 68 Pries 2008, 195. Vgl. auch Kapitel 6.1.
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Für den 2009 aus Dänemark nach Österreich zugewanderten August spielen soziale Kontakte zu Freunden und Familie in Dänemark auch im Alltag eine wesentliche Rolle. Besuche in Dänemark sind für ihn auf einer sozialen, sowie symbolischen (trans-)kulturellen Ebene bedeutende Orientierungsfiguren. Hinsichtlich der materiellen (Konsum-)Kultur, ist es ihm ebenfalls wichtig, Elemente der Herkunftskultur zu erhalten, indem er ›Dänisches Design‹ für Möbel und Mode bevorzugt. Aber auch sein Festhalten an den in Dänemark erlernten und verinnerlichten Werten und Normen stellen wesentliche Elemente dieses transnationalen Sozialraumes dar. Andererseits ist für ihn auch die Integration in die österreichische Gesellschaft und das dafür von ihm als nötig erachtete »Anpassen« ein wichtiger Orientierungsrahmen. Zwar beschreibt auch er einen für ihn nicht einfachen Lernprozess in der ersten Phase der Migration, heute aber ist er mit seinem Leben weitgehend zufrieden. Die Tatsache, dass er, zumindest zum Zeitpunkt des Interviews, keine Remigration anstrebt und nach wie vor ein sehr weltoffenes und räumlich sowie kulturell flexibles Lebenskonzept hat, mindert jedoch keineswegs die Bedeutung, welcher er seiner Herkunftskultur auch in der alltäglichen Praxis beimisst. Auch der 1994 aus Finnland nach Österreich gekommenen Sara ist es gelungen, sich eine für sie weitgehend zufriedenstellende transnationale Lebenswelt aufzubauen. Soziale Kontakte zu Familie und Freunden, regelmäßige Besuche, das Lesen finnischsprachiger Bücher und finnischer Online-Zeitungen stellen für sie wesentliche Praktiken im Sinne eines way of belonging dar. Aber auch ihre Selbstwahrnehmung als ›Finnin‹, und damit verbunden ihre Weigerung, die finnische Staatsbürgerschaft aufzugeben, sind für sie essentielle Orientierungsmuster. Im Gegensatz zum Fall von Eva (s.u.) umfasst diese transnationale Lebenswelt jedoch die gesamte Familie. Saras Söhne werden zweisprachig erzogen und besitzen eine doppele Staatsbürgerschaft. Wesentlich in diesem Kontext war auch das eine Jahr, während dem sie mit ihrem Mann und ihrem älteren Sohn (der jüngere war noch nicht geboren) in Finnland lebte. Während Sara dort arbeitete war ihr Mann zu dieser Zeit in Karenz. Sowohl das Leben mit der Familie im Herkunftsland, als auch die Tatsache, dass sie dort auch beruflich tätig war, deutet sie als wesentliche Elemente ihres transnationalen Sozialraumes. Ihre binationale berufliche Orientierung kann somit auch als symbolische Repräsentation im Sinne von Pries gelesen werden. Zum Zeitpunkt des Interviews kann der Fall der Norwegerin Mia, die 1998 nach Wien kam, ebenfalls dem Typ der ›binational-kulturellen transnationalen Sozialräume‹ zugeordnet werden. Ihr Fall illustriert jedoch sehr eindrücklich, dass Orientierungsrahmen und Deutungsmuster, welche transnationalen Sozialräumen zugrunde liegen, auch im Zuge einer einzigen Migrationsbiographie Veränderungen und ›Verschiebungen‹ unterworfen sein können. Diesbezüglich spielen etwa das Alter, die Lebensumstände und die Lebensphase des Migranten/der Migrantin eine entscheidende Rolle.
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Über viele Jahre hinweg legte Mia wenig(-er) Wert auf den Erhalt und das Einbeziehen von Elementen ihrer Herkunftskultur in ihre alltägliche Lebenspraxis. Wenngleich der Kontakt zur Familie in Norwegen stets eine wichtige Orientierungsfigur darstellte, war ihr Leben, auch bedingt durch ihre Arbeit als Künstlerin, sehr ›international‹ geprägt und ausgerichtet. Mittlerweile, im Alter von Mitte Dreißig, in einer Lebensphase, in der die Gründung einer eigenen Familie für sie zunehmend Thema wird, verspürt sie jedoch vermehrt das Bedürfnis, der Herkunftskultur mehr Raum in ihrem Leben zukommen zu lassen. »Und dass es mit dem Alter wichtiger wird: Kontakt mit dem Heimatland wird wichtiger. Ich hatte das überhaupt nicht am Anfang. Überhaupt nicht. Das war ganz normal für mich.«
Zum Zeitpunkt des Interviews warf die Umsetzung dieses Wunsches jedoch eine Reihe von Problemen auf, die vor allem durch ihre Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen in ihrem nunmehrigen Beruf als Turnusärztin bedingt waren. »Ich denke für die Zukunft, es ist halt schwierig durch meinen Beruf. Ich würde viel mehr nach oben fahren. Also ich würde so, dass ich hier lebe, weiter lebe, als Hauptsitz, aber dass ich mindestens jeden dritten Monat zum Beispiel rauffahren könnte. Für vier Tage, das müsste doch keine Unmöglichkeit sein. Momentan ist es das. Weil ich am Wochenende auch viel arbeiten muss. Ich hab meist nur ein Wochenende frei, also zwei Tage nacheinander frei im Monat. Und es ist eine Phase des Turnus, nicht. Und dann muss ich halt das anders richten. Besonders in meinem Fall. Also ich denke da, ich brauche was anderes. Also ich würde auch jeden Fall schaun, dass ich mehr Kontakte mit Norwegen dann halte.«
In Mias Fall wird also eine sehr klare Verschiebung eines Orientierungsrahmens deutlich. Sie nimmt diese Veränderung in ihrer sehr selbstreflexiven Denk- und Erzählweise auch selbst wahr und deutet ihr Alter bzw. das Älterwerden sowie ihren jetzigen Beruf als Grund für diese Veränderungen ihrer Wünsche und Bedürfnisse. Am Fall Frida, die ebenfalls diesem ersten Typ transnationaler sozialer Räume zugeordnet werden kann, wird zwar keine derartige Veränderung der Orientierungsrahmen, sehr wohl aber eine Veränderung der lebensweltlichen Praxis erkennbar. Seit Frida in den 1960er Jahren nach Österreich migrierte, war der Kontakt zu ihrem Herkunftsland und das Erhalten von Elementen ihrer Herkunftskultur ein für sie bedeutender Orientierungsrahmen. Soziale Praktiken wie der Kontakt zu Familie und zu Freunden, aber auch symbolische Repräsentationen wie die bewusste Pflege der Muttersprache und das jährliche Inszenieren eines dänischen Osterbrunches stellten für sie bedeutende ways of belonging dar. Zugleich war dieser Orientierungsrahmen lange Zeit gewissermaßen ›überschattet‹ durch den Orientierungsrahmen der Familie. Auf Wunsch ihres Mannes wurden so beispielsweise die Töchter
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nicht zweisprachig erzogen. Das (gemeinsame) Erziehungsziel war es, dass die Kinder »ganz normale Österreicher sein sollten.« (Siehe Kap. 4.4) Erst nach dem Tod ihres Mannes und mit dem Erwachsenwerden der Töchter verfügte Frida über den nötigen Handlungsspielraum, um auch ihre transnationale Lebenswelt weiter auszubauen und neue Praktiken und Orientierungsfiguren zu etablieren. Zusätzlich spielten hierbei die bereits diskutierten Veränderungen auf der Ebene der materiellen Infrastruktur ebenfalls eine wesentliche Rolle. »Und ich bin mehr und mehr mit dänische Kultur verbunden die letzten fünfzehn Jahre.«
Heute ist Frida sehr aktiv im dänischen Kulturverein tätig, fliegt häufig nach Dänemark und spielte sogar für kurze Zeit mit dem Gedanken zu remigrieren. Als ihr Enkelkind in Österreich geboren wurde, verwarf sie diese Idee aber wieder. Im deutlichen Gegensatz dazu steht der Fall Maja, die ebenfalls aus Dänemark stammt und derselben Migrationsgeneration angehört. Sie kann dem Typus des ›binational-kulturellen transnationalen Sozialraum‹, in welchem der Herkunftskultur vergleichsweise wenig Bedeutung zukommt, zugeordnet werden kann. Hierbei muss jedoch in Betracht gezogen werden, dass ihr Ehemann ebenfalls Däne ist. Somit sind die dänische Sprache, aber auch durch die Sozialisation in Dänemark erlernte Handlungs- und Orientierungsmuster ein selbstverständlicher Teil von Majas alltäglicher Lebenspraxis. Möglicherweise ist die weniger bewusste Praxis von ways of belonging also damit zu erklären, dass ihr dies, zumindest auf einer latenten Ebene, nicht nötig erscheint. Transnationale Verbindungen nach Dänemark ergeben sich außerdem aus der Tatsache, dass eine ihrer Töchter heute dort lebt. Aber auch regelmäßige Reisen nach Dänemark waren stets ein Anliegen des Ehepaares. »Weil seit 1963 unser Leben hat ja hier stattgefunden die meiste Zeit. Und wir können ja nicht sagen, dass wir Dänemark nicht mögen, weil wir haben in den letzten Jahren im Sommer ein Sommerhaus [in Dänemark, M.N.] gemietet. Irgendwo in ganz verschiedenen Plätze, und haben unser Land dann eigentlich auch besser kennengelernt als damals.«
Zugleich verbrachte die Familie über Jahre hinweg mehrere Wochen in einer Wohnung in Spanien, eine Praxis, der Maja in ihrer Erzählung sehr viel mehr Raum einräumt als den nur kurz erwähnten Besuchen in Dänemark. Es scheint, als läge auch im Fall von Maja ein Wandel des Orientierungsrahmens vor. Sie beschreibt sehr detailliert ihre ersten Weihnachten in Österreich, für die sie eigens Christbaumschmuck aus Dänemark mitbrachte, und wie sie den Baum in dänischer Tradition mit Nationalflaggen schmückte (s.o.). Zu Beginn ihrer Zeit in Österreich maß sie demnach auch der Komponente der Herkunftskultur große Bedeutung bei.
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Die Spanierin Eva wiederum kann, ebenso wie Sara, Mia und Frida dem Typus der in ›binational-kulturellen transnationalen sozialen Räumen‹ Lebenden zugerechnet werden, in dem der Herkunftskultur eine bedeutende Rolle zukommt. Allerdings liegen ihrer transnationalen Lebenswelt deutlich andere Deutungsmuster zugrunde. Ihre gesamte Erzählung ist geprägt von Unzufriedenheit und einem Unglücklichsein mit ihrem Leben als Migrantin in Wien. Sie berichtet von Konflikten in der Familie, von einem Gefühl der Exklusion sogar in der Kernfamilie und einer Reihe von gesellschaftspolitischen Umständen, in die sich einzufügen ihr schwerfällt. (Siehe auch Kap. 4.3; 4.4; 5.2) Zugleich dienen Eva ›kulturelle Unterschiede‹ als primäres Deutungsmuster zur Erklärung all ihrer Probleme. Diese Deutung, aber auch das durch Konflikte vermutlich zusätzlich forcierte Beharren auf gewissen Handlungsmustern sowie Werten und Normen der Herkunftskultur, kann selbst als eine Orientierungsfigur im Sinne eines way of belonging gelesen werden. Es scheint als würde gerade der (von ihr als solcher empfundene) ›Angriff‹ auf gewisse Elemente ihrer Herkunftskultur zu einem umso intensiveren ›Festhalten‹ an diesen führen. Während andere Migrant_innen einen weitgehend entspannten Zugang zu der Frage nach ihren Möglichkeiten, Wünschen und Bedürfnissen hinsichtlich des angestrebten transnationalen Sozialraumes haben, ist aus Evas Erzählung das klare Gefühl des ›Darum-kämpfen-müssens‹ herauszulesen. Unter den beschriebenen Umständen speist sich Evas transnationale Lebenswelt somit aus anderen Deutungsmustern als jene der bereits beschriebenen Fälle, was wiederum zur Etablierung einer konfliktreicheren und als weniger unbeschwert wahrgenommen transnationalen Lebenswelt führt. Noch schärfer stellt sich die Situation im Fall von Diego dar. Er ist der einzige Interviewpartner, der seiner Herkunftskultur mehr Bedeutung beimisst als den österreichischen Elementen seiner transnationalen Lebenswelt. Wie bereits beschrieben, ist der Grund hierfür offenbar in seinem Deutungsmuster der ›unfreiwilligen Migration‹ zu sehen. Sein Freundeskreis in Österreich besteht zum Großteil aus Spanier_innen, er besucht Freunde und Familie so oft wie möglich, er hat keine Ambitionen, sein Deutsch weiter zu verbessern und hält an Werten und Normen seiner Herkunftskultur fest. Damit ist seine transnationale Lebenswelt gewissermaßen als Provisorium angelegt, in dem der Herkunftskultur und dem Herkunftsland vor allem vor dem Hintergrund der erhofften Remigration als positivem Orientierungshorizont eine ungewöhnlich hohe Bedeutung zukommt. Die ›deutsch-österreichischen transnationalen Sozialräume‹ wiederum unterschieden sich, wie gesagt, von allen anderen aus den vorliegenden Erzählungen rekonstruierbaren. Praktiken, die als ways of belonging gedeutet werden können, finden sich in den Erzähltexten deutscher Interviewpartner_innen weitaus seltener. Lediglich das Festhalten an gewissen sprachlichen Ausdrucksformen oder ›korrekten deutschen‹ Verhaltensweisen, wie etwa bei Rot an der Ampel stehen zu bleiben, können als solche Praktiken interpretiert werden.
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Als eindrucksvolles Beispiel eines ›kosmopolitischen transnationalen Sozialraums‹, in dem der Herkunftskultur eine bedeutende Rolle zukommt, lässt sich der Fall von Caroline beschreiben. Bedingt durch ihre Ehe mit einem Mexikaner, der als UN-Angestellter in mehreren Ländern tätig war, ist ihr Leben kosmopolitisch orientiert. Sie hat nach wie vor soziale Verbindungen in viele der Länder, in welchen sie schon gelebt hat, pflegt in Wien einen sehr internationalen Freundeskreis, und ihre eigenen Kinder leben heute in Österreich, Dänemark und den USA. Auch die Vielfalt an Sprachen, die sie in ihrem Alltag praktiziert, ist das Ergebnis und zugleich eine wichtige Ressource in dieser pluri- und transkulturellen Lebenswelt. »Zuhause wird Englisch gesprochen. Aber ich hab immer gesagt, wenn ich das Telefon nehme und sage ›Hallo‹, weiß ich nicht, welche Sprache ich jetzt sprechen werde. Weil es kann Englisch, kann Deutsch, kann Spanisch, es kann Französisch, es kann Dänisch sein. Ich mein, ich weiß es nicht. Weil wir uns halt in sehr vielen Sprachen bewegen.«
Doch auch ihre Herkunftskultur ist ein wesentliches Element ihrer transnationalen Lebenswelt. Sie ist die Gründerin des dänischen Kulturvereines in Wien, verbringt jedes Jahr mehre Monate in Dänemark, erkennt intuitiv Dänisches Design und fühlt sich selbst als ›Dänin‹. (Siehe Kap. 7) Abschließend sollten noch jene beiden Fälle angeführt werden, für die Elemente der Herkunftskultur kaum von Bedeutung sind, die aber ebenfalls kosmopolitisch orientiert sind. Da ist zunächst der Norweger Erik, aber auch die in Deutschland geborene und aufgewachsene Theresa. (S.o.; siehe Kap. 7.2) Da für Theresa die Suche nach Heimat und Zugehörigkeit den wesentlichen Orientierungsrahmen darstellt und sie sich in Deutschland kulturell ›nicht verwurzelt‹ fühlt, kommt dem bewussten Erhalten von Elementen dieser ›Herkunftskultur‹ auch kaum Bedeutung in Theresas transnationaler Lebenswelt zu. Sie deutet vielmehr die griechische und die ungarische Kultur (aus welcher Vater und Mutter stammen) als ihre kulturellen Herkünfte. Da ihr aber auch Griechenland keine Heimat bieten konnte – eine Heimat, die sie weiterhin sucht – geht es ihr vielmehr um an die konkrete Figur des Vaters geknüpfte Orientierungsmuster. Theresas Kosmopolitismus kann somit primär durch ihr Gefühl der Heimatlosigkeit erklärt werden. Die Diskussion der unterschiedlichen Typen transnationaler sozialer Räume resümierend kann festgestellt werden, dass die hier interviewten Migrant_innen (zum Zeitpunkt des Interviews) mit Ausnahme einiger weniger Fälle mit ihren je individuell gestalteten transnationalen Sozialräumen weitgehend zufrieden sind und dieses transnationale Leben überwiegend positiv deuten. Dennoch werden, vor allem was soziale Kontakte betrifft, auch die Kosten der Migration häufig thematisiert. Meine Gesprächspartner_innen sind jedoch bereit, diesen Preis zu bezahlen. Sie deuten die Beschwernisse als unvermeidbare Kosten, die eben in Kauf genommen
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werden müssen und nicht notwendigerweise zu Unglück oder permanenter Unzufriedenheit führen müssen. Die Kehrseite des Phänomens des ›Doppelten-zuhauses‹, also das beständige Vermissen von Menschen, Orten und Handlungsmustern beschreibt etwa Olivia mit einer eindrucksvollen Metapher der Nachteile ihres transnationalen Lebens: »Mein Herz is irgendwie geteilt. Wenn ich in Spanien bin, vermiss ich Österreich, wenn ich in Österreich bin vermiss ich Spanien. Also eigentlich - immer vermisse ich irgendwas.«
6.5 FAZIT Welche verallgemeinerbaren und für die Migrationsforschung allgemein bedeutsamen Aussagen ergeben sich nun aus den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung? Generell kann ich, auch in Anbetracht der Ergebnisse meiner Untersuchung, der Erkenntnis Minna-Kristiina Ruokonen-Englers zustimmen, dass transnationale soziale Räume »als Verbindung und Verflechtung unterschiedlicher Relevanzsysteme und Erfahrungsstrukturen zu fassen [...] sind«69. Meine Studie zeigt des Weiteren, dass die von mir interviewten Migrant_innen transnationale Sozialräume etablieren und fortlaufend reproduzieren, wenn auch in sehr unterschiedlichen Formen und Ausmaßen. Außerdem zeigt sich, dass Transnationalität bzw. transnationale Sozialräume stets einen dynamischen, prozesshaften Charakter haben, was bislang in keiner anderen Studie meines Erachtens nach ausreichend betont wurde. In Abhängigkeit von den jeweiligen Lebensumständen und der jeweiligen Lebens- und Migrationsphase wandeln und verändern sie sich. In manchen Fällen sind dies zwar nur ›kleinere‹ Veränderungen innerhalb eines individuellen Orientierungsrahmens, in einigen Fällen sind es aber auch signifikante Umgestaltungen und Umstrukturierungen, die durch die Veränderung der Orientierungsrahmen bedingt sind. Aber auch für Migrant_innen mit einer ausgeprägten kosmopolitischen und transnationalen Orientierung wird mit dem Verlassen des Herkunftslandes keineswegs die Aufgabe von Elementen der Herkunftskultur nötig oder wünschenswert. Die Frage, warum Migrant_innen ihre je individuelle Form der Transnationalität erstrebenswert erscheint, und woraus sich die Motivation speist, diese auch in der Praxis zu etablieren, kann für alle Interviewten auf die gleiche Weise beantwortet werden: Der angestrebte, positive Orientierungshorizont ist in jedem Fall eine als
69 Ruokonen-Engler 2012, 353. Wie quantitative Studien zu diesem Thema zeigen, entwickeln keineswegs alle Migrant_innen vergleichbare transnationale Praktiken.
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zufriedenstellend empfundene Lebensweise und Lebensqualität. Ökonomische oder politische Gründe, sozialer Aufstieg oder dergleichen spielen in der Motivation der hier untersuchten Migrant_innengruppen kaum eine Rolle. Damit wird hier vermutlich eine weitere Besonderheit dieser speziellen Migrant_innen deutlich, die sie von weniger privilegierten Migrant_innentypen erheblich unterscheidet. Die historische Tiefe der vorliegenden Untersuchung von etwa fünfzig Jahren wiederum macht sichtbar, dass transnationale Praktiken und Lebenswelten bereits ›existierten‹, bevor das Konzept des Transnationalismus Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs hielt und die Förderung innereuropäischer Mobilität zu einem offiziellen Ziel der Europäischen Union wurde. Transnationale soziale Netzwerke, aber auch symbolische Praktiken erfuhren seit den 1960er Jahren in ihrer lebensweltlichen Bedeutung keine wesentliche Veränderung. Verändert haben sich lediglich die Praktiken selbst, bedingt durch neue kommunikationstechnische Möglichkeiten zu deren Gestaltung, nicht aber die grundsätzlichen Orientierungsrahmen und Bedeutungszuschreibungen. Damit stützen die Ergebnisse dieser Studie die Aussage von Pries, es sei »unstrittig, dass Transnationalismus eine neue Forschungsperspektive, aber nicht unbedingt ein neues Phänomen darstellt«70. Ein weiteres, meines Erachtens wesentliches Ergebnis dieser Untersuchung ist der hier erneut erbrachte Beleg, dass Transnationalität und (erfolgreiche) Integration nicht zwingend in Widerspruch zueinander stehen.71 »Diese alltagsweltliche Lebenspraxis, dieses Zusammenhalten und Anteilnehmen über Ländergrenzen hinweg stirbt nicht einfach ab, sobald die Migranten in dem Ankunftsland ›integriert‹ oder ›assimiliert‹ sind. Sie bilden vielmehr einen genuinen Bestandteil durchaus kontinuierlicher Lebensläufe und Alltagswelten, deren sozialräumliche Konfiguration pluri-lokal [...] ist.«72
Wie sich zeigte, stellen für die hier interviewten Migrant_innen eine erfolgreiche Integration und der Aufbau und Erhalt von transnationalen Sozialräumen gleichermaßen wichtige Orientierungsrahmen dar. Sie halten beides für wesentlich, um eine als zufriedenstellend empfundene Lebensqualität in Österreich zu erreichen. Die hohe Bedeutung, die transnationalen Praktiken und Sozialräumen beigemessen wird, mindert jedoch in keiner Weise das Bedürfnis oder die Bereitschaft, sich in Österreich zu integrieren und die dafür als erforderlich empfundenen Leistungen zu 70 Pries 2008, 199. 71 Zur Diskussion zwischen ›Assimilisten‹ und ›Transnationalisten‹ vgl. Bommes 2005; Thomas Faist, Transnational social spaces out of international migration: Evolution, significance and future prospects. In: European Journal of Sociology 39/2 (1998), 213-247. 72 Pries 2008, 190.
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erbringen. Ganz im Gegenteil zeigen die vorliegenden Erzählungen eindrucksvoll, dass Integration und Transnationalität gleichermaßen bedeutsame Orientierungsrahmen sein und in der Alltagspraxis synchron gelebt werden können, ohne einander zu beeinträchtigen.73 Dies gilt auch für die Ebene der sozialen und der kulturellen Integration. In allen vorliegenden Fällen mindert eine als zufriedenstellend empfundene Integration keineswegs Zugehörigkeitsgefühle zur Herkunftskultur oder die Bedeutung transnationaler Praktiken, während umgekehrt umfassende transnationale Sozialräume die Integration in Österreich in keiner Weise behindern. Allerdings können transnationale Praktiken und der subjektive ›Integrationsstatus‹ durchaus in einem Zusammenhang stehen. Vor allem in der ersten Phase der Migration, die vom Ankommen und Zurechtfinden geprägt ist, sind transnationale Praktiken in einigen Fällen intensiver und für die Betroffenen von größerer Bedeutung. Aber auch dies muss nicht zwingend der Fall sein und bedeutet keineswegs die Verminderung der ›Integrationswilligkeit‹ und der dafür erbrachten Leistungen. Es zeigte sich außerdem, dass Transnationalismus als dominierender Orientierungsrahmen nicht die Folge von einer als unzureichend und wenig zufriedenstellenden Integration in die Aufnahmegesellschaft sein muss. Einige Studien legen außerdem nahe, dass die dauerhafte Etablierung transnationaler Praktiken bestimmten ›Migrant_innentypen‹, wie etwa hochqualifizierten Migrant_innen, erheblich leichter fällt.74 Janine Dahinden vermutet, dies könnte damit zu erklären sein, dass diese Migrant_innen über die dafür nötigen Ressourcen in Form von kulturellem und ökonomischem Kapital verfügen. Sie folgert daraus, dass »die fortschreitende Transnationalisierung der sozialen Räume eng an Ungleichheitsstrukturen und den ungleichen Zugang zu Ressourcen gekoppelt« ist.75 Zwar können nicht alle hier interviewten Migrant_innen als hochqualifiziert bezeichnet werden, doch ist zu vermuten, dass die Besonderheiten und ›Privilegien‹, welche diese Migrant_innengruppe auszeichnen, in diesem Kontext von maßgeblicher Bedeutung sind. Meine Gesprächspartner_innen verfügen über hinreichend kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital, um sich dauerhaft im transnationalen sozialen Raum zu etablieren. Sie beziehen ihre Ressourcen aus dem Herkunftsund aus dem Aufnahmeland. Somit wird deutlich, dass die spezifischen, durch das Aufnahmeland determinierten Umstände, aber auch die den Migrant_innen zur Ver-
73 Zu ähnlichen Erkenntnissen vgl. z.B. Levitt/Glick Schiller 2004, 1003; Dahinden 2010; Richter/Nollert 2014, 458-476; Erik Snel/Godfried Engbersen/Arjen Leerkes, Transnational Involvement and Social Integration. In: Global Networks 6/3 (2006), 285-308. https://doi.org/10.1111/j.1471-0374.2006.00145.x. 74 Vgl. z.B. Dahinden 2010, 89; 93 ff.; bes. 96; Luis Eduardo Guarnizo, The Economics of Transnational Living. In: The International Migration Review 37/3 (2003), 666-699. 75 Dahinden 2010, 87.
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fügung stehenden Ressourcen wesentliche Faktoren in der Etablierung und Gestaltung der jeweiligen transnationalen Sozialräume darstellen.
7
Identität – Wer bin ich? Wer bin ich wo?
Zwar sind Fragen wie »Wer bin ich?«, »Wer möchte ich sein?«, »Wer kann ich sein?« für alle Menschen von lebenslanger Relevanz, im Kontext dieser Untersuchung erscheint jedoch vor allem die Frage wesentlich, wie derartige Fragestellungen im Verlauf einer Migration wahrgenommen, bewertet und in der Praxis beantwortet werden. Ausgehend von der Hypothese, dass Identitätsfragen vornehmlich in biographischen Umbruchserfahrungen, wie die Migration sie mit sich bringt, für die betroffenen Subjekte besondere Relevanz erlangen können und damit einen wesentlichen Teil der Migrationserfahrung ausmachen, stellt das Thema Identität einen wichtigen Aspekt dieser Studie dar. Zugleich schließt diese Diskussion an den vorigen Abschnitt außerdem insofern an, als »Identitäten und Lebensprojekte«, nach Ludger Pries die vierte Dimension transnationaler Sozialräume darstellen.
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7.1 IDENTITÄT: DIE THEORETISCHE DISKUSSION Eine einheitliche wissenschaftliche Definition des Begriffs Identität zu finden und zu formulieren ist, bedingt durch eine Vielfalt an Konzepten und Perspektiven,1 schlicht unmöglich.2 Zumeist wird Identität zudem in unterschiedlichen ›Formen‹ behandelt und betrachtet: ›Personale Identität‹ wird differenziert von verschiedenen Arten kollektiver Identität, wie beispielsweise von ›sozialer Identität‹, von ›nationaler Identität‹, oder auch von ›europäischer Identität‹. Kritik erfuhr diese »kanonische Unterscheidung«, weil »ein solches Vorgehen das Problem widerspiegelt, dass damit die subjektive Konstruktion von Identität auf relativ unverbundene Spezialdiskurse verteilt wird«3. Tim Edensor argumentiert, dass »the dichotomie between social and individual identities is not helpful, and rather than being unterstood as distinctive entities should be conceived as utterly entangled«4. Eine Kritik, die auch anhand des vorliegenden emprischen Materials berechtigt erscheint (s.u.), daher sollen in dieser Arbeit personale und nationale Identität nicht als voneinander getrennte Phänomene betrachtet werden. Vielmehr werden diverse ›Identitätsformen‹ als unterschiedliche Facetten oder Aspekte eines Prozesses verstanden (s.u.). Darüber hinaus werden im wissenschaftlichen Identitätsdiskurs mit Identität unterschiedliche Konzeptionen und Fragestellungen verbunden, je nach wissenschaft-
1
Wie Alexandra Kofler präzise darlegt, kann Identität grundsätzlich in drei unterschiedlichen Kontexten betrachtet werden: 1. Im verwaltungstechnischen Sinn, wenn es um die Identifizierung einer bestimmten Person geht. (»Wer ist diese Person?«, »Wer ist der Täter?«). 2. In einem qualitativen Kontext, wenn nach den charakteristischen Eigenschaften und Merkmalen einer Person gefragt wird. (»Was für ein Mensch ist diese Person?«) 3. Im Kontext eines Vergleichs. »Hier wird dann vor allem die Frage virulent, inwiefern etwas als Dasselbe angesehen werden kann. Im Falle von Personen betrifft dies dann vor allem auch die Frage, inwiefern jemand als dieselbe Person anzusehen ist, wenn sie sich doch im Laufe ihres Lebens verändert.« Kofler 2011, 18. Vgl. auch Jörg Zirfas, Identität in der Moderne. Eine Einleitung. In: Benjamin Jörissen/Jörg Zirfas, Schlüsselwerke der Identitätsforschung. (Wiesbaden 2010), 7-19; 8: »Identität kann dabei sehr unterschiedlich verstanden werden: als (kognitives) Selbstbild, als habituelle Prägung, als soziale Rolle oder Zuschreibung, als performative Leistung, als konstruierte Erzählung usw.«.
2
Vgl. dazu z.B. Kofler 2011, 15 ff.; Keupp 2008, 16 ff.; Katherina Hametner, Flucht und Identität. Reflexive und habituelle Identitätsprozesse bei Flüchtlingen im Spannungsfeld sozio-kultureller Zuschreibungen. Diplomarbeit Universität Wien (Wien 2006), 29 ff.
3
Keupp 2008, 63. Vgl. auch Jürgen Straub, Personale Identität. Anachronistisches Selbstverständnis im Zeichen von Zwang und Gewalt? In: Renn/Straub 2002, 85-114.
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Edensor 2002, 24; 24 ff.
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licher Disziplin. Philosophie, Psychologie, Sozialpsychologie und Soziologie etwa befassen sich aufgrund unterschiedlicher Erkenntnisinteressen mit Fragen der Identität.5 Aber selbst innerhalb dieser Disziplinen herrscht kein Konsens darüber, wie Identität zu definieren wäre. Ganz im Gegenteil finden sich differierende Diskursstränge, Perspektiven und Problemstellungen. Für die vorliegende Studie sind, bedingt durch Herangehensweise und Forschungsinteresse, vor allem Theoriemodelle aus der Sozialpsychologie und Soziologie von Interesse. Innerhalb ihres Identitätsdiskurses lassen sich zwei grundlegende Modelle unterscheiden: das klassische humanistische Modell der bürgerlichen Moderne zum einen und das poststrukturalistische bzw. postmoderne Theoriemodell zum anderen.6 Für meine Untersuchung scheint mir dabei letzteres am besten geeignet zu sein. Klassische humanistische Identitätstheorien betonen die »stabilisierenden Momente der Identitätsbildung«7. Sie betrachten Identitätsbildung als den Erwerb einer sozialen Rolle (oder eines Bündels von sozialen Rollen). Der Vorgang der Identitätsbildung vollzieht sich ihnen zufolge etwa ab der Pubertät in der Adoleszenz und scheint beim jungen Erwachsenen abgeschlossen.8 Damit gehen diese Theorien von der Prämisse aus, dass Identität etwas zu Erlangendes sei und Identitätsfindungsprozesse einen ›Abschluss‹ hätten.9 Im Gegensatz dazu betonen poststrukturalistische und postmoderne Theoretiker_innen, dass »individuelle Identität abhängig ist von sozialen Kontexten und keine vorsoziale, substantielle Einheit«10 darstellt. Sie betrachten Identität als nicht 5
Vgl. z.B. Kofler 2011, 17 ff.; 24 ff.; Krappmann 2010, 17 ff.; Jörg Zirfas, Identität in der Moderne. Eine Einleitung. In: Benjamin Jörissen/Jörg Zirfas, Schlüsselwerke der Identitätsforschung. (Wiesbaden 2010), 7-19. Zu einer detaillierten Ausführung zum Diskurs in der Psychologie vgl. Kraus 2000, 5 ff.; 33 ff.
6
Vgl. z.B. Kofler 2011, 14 ff.; Keupp 2008, 16 ff.; 65 ff.; Kraus 2000, 20 ff.; Gergen 1996, 6. f.; Gertrud Nummer-Winkler, Identität und Moral. In: Renn/Straub 2002, 56-85; 59 ff.; Heiner Keupp, Diskursarena Identität. Lernprozesse in der Identitätsforschung. In: Keupp/ Höfer 1997, 11-40.
7
Vgl. z.B. Kofler 2011, 27; 26 ff.; Krappmann 2010, 84 ff.
8
Einer der bedeutendsten Vertreter eines derartigen Modells ist Erik H. Erikson. Er definiert acht Stufen der Identitätsbildung und betrachtet das ›Finden‹ einer Identität als Hauptaufgabe der Adoleszenz. Vgl. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. (Frankfurt am Main 1973), bes. 106 ff. Zu Kritik an diesem Modell vgl. z.B. Keupp 2008, 29 ff.; Lothar Kappmann, Die Identitätsproblematik nach Erikson in einer interaktionistischen Sicht. In: Keupp/Höfer 1997, 66-93; bes. 67 f.; 89 ff.
9
Vgl. z.B. Keupp 2008, 22 ff.; Hartmut Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. (Berlin 20132), 237 f.
10 Renn 2002, 238.
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endgültig festlegbar und abschließbar, sondern als offen, prozesshaft und dynamisch. Sie fokussieren auf die »Unfestlegbarkeit von Identität und prinzipielle Offenheit des Identitätsbegriffs«11 und postulieren, dass »die moderne Entwicklung zur Individualisierung sozialer und personaler Identitätssemantiken auf eine Fragmentierung der individuellen, personalen Identität hinausläuft.«12 Geprägt wird dieser Diskurs von Termini wie »Patchwork-Identität« oder »Bastler-Identität«.13 Diesen poststrukturalistischen und postmodernen Konzeptionen liegt ein Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Diskurs der 1980er Jahre zu Grunde,14 der eine Reaktion auf Veränderungen der sozio-kulturellen Rahmenbedingungen und mithin der alltäglichen Lebenswelt der Menschen darstellte. Vertreter_innen dieser Konzepte kritisieren klassische Identitätsmodelle als essentialistisch und bezweifeln, dass diese Konzepte von Identität (noch) geeignet sind, die Wirklichkeit der postmodernen Welt zu erfassen. Sie postulieren vielmehr »einen radikalen Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität.«15 Anstatt stabiler Selbsterfahrung und gesellschaftlicher Biographienormierung (»Auf die Frage, wer man ›ist‹, erhält man keine Antwort mehr – zumindest von der Gesellschaft nicht mehr –, man muss sie sich selbst geben«16) stellen sich für postmoderne Subjekte Fragen wie die folgende: »Wer bin ich in einer sozialen Welt, deren Grundriss sich unter Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung verändert?«17 Basierend auf diesen Prämissen wird aber auch innerhalb des postmodernen Identitätsdiskurses eine kaum noch überschaubare Vielfalt an Definitionen, Konzepten und Modellen von Identität diskutiert.18 Überdies können zwei konträre Diagnosen unterschieden werden:
11 Kofler 2011, 27; 28 ff. Zur Dekonstruktion und dem dezentrierten Subjekt vgl. auch Ruokonen-Engler 2012, 76 f.; Hein 2006, 29 ff. Vgl. auch Anthias 2002, 494 f. zu kritischen Überlegungen. Sie wirft die Frage auf, ob Identität, derart verstanden, nicht letztlich redundant wird. 12 Renn 2002, 238. Vgl. auch Renn/Straub 2002, 13 ff. 13 Einen Überblick hierzu geben Rolf Eickelpasch/Claudia Rademacher, Identität. (Bielefeld 20103), bes. 21 ff. 14 Zum Poststrukturalismus vgl. z.B. Hein 2006, 29 ff. 15 Keup 2008, 30. Vgl. auch Renn/Straub 2002, 20 ff. Zur funktionalen Differenzierung vgl. Renn 2002, bes. 242 ff. 16 Norbert Meuter, Müssen Individuen individuell sein? In: Renn/Straub 2002, 187-210; 193. 17 Keupp 2008, 7. Vgl. auch Kraus 2000, 8 f. 18 Vgl. z.B. Renn/Straub 2002, 10 f.
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»In einer positiv formulierten Version wird die Offenheit als Chance gesehen und mündet in eine kreative Ästhetik des Selbst. In der negativ konnotierten Version wird darin die Auflösung des Selbst gesehen, das sprachlich zerfalle und nicht mehr repräsentierbar oder darstellbar sei.«19
Spätmoderne Modelle von Identität Eine umfassende Darstellung des postmodernen Identitätsdiskurses ist an dieser Stelle schlicht nicht möglich. Dennoch möchte ich kurz auf einige grundlegende Identitätsmodelle bzw. Verständnisse von (personaler) Identität20 verweisen, die sich für meine Studie als besonders fruchtbar erwiesen haben und die meine Untersuchung orientieren. Ziel und Zweck des folgenden Exkurses ist es, zu verdeutlichen, wie Identität in der vorliegenden Arbeit verstanden und gedacht wird. Ein solches Identitätsmodell geht auf den Sozialpsychologen Heiner Keupp zurück. Keupp versteht »den Herstellungsmodus von Identität als einen offenen Prozess [...], der einer alltäglichen und zugleich lebenslangen Bearbeitung zugänglich ist«21. Für ihn ist Identität als »selbstreferentielle Struktur« demnach ein permanenter und lebenslanger Prozess, den Individuen durch Handeln und Interaktion, d.h. durch »alltägliche Identitätsarbeit« beständig neu konstruieren.22 Noch etwas genauer gesagt, bestimmt Keupp Identität als »relationale Verknüpfungsarbeit,23 als Konfliktaushandlung24 sowie als Ressourcen-25 und Narrationsarbeit.«26 Zugleich ist 19 Kofler 2011, 27. Vgl. auch Keupp 2008, 16 ff.; Renn/Straub 2002, 24 ff.; Krappmann 2010, 65 ff. 20 Zur Diskussion der Termini Identität und Individualität vgl. z.B. Kofler 2011, 22 ff. Zur Diskussion des Begriffs ›Selbst‹ in Abgrenzung zu ›Identität‹ vgl. z.B. Kraus 2000, bes. 122 ff.; Wolfgang Kraus, Wer sagt »ich« in uns? Narrative Identität und die Frage der Selbstpositionierung. Erweiterte Fassung eines Vortrags auf der Tagung »Rethinking Narrative Identity: A Question of Perspective«. November 2009 an der HumboldtUniversität Berlin. (München 2009). 21 Keupp 2008, 302 ff. Zu den Fragen, die dieses Modell zu beantworten in der Lage sein soll vgl. ebda., 60 f. 22 Keupp 2008, bes. 215 ff. 23 Darunter ist Identitätsarbeit als »permanente Verknüpfungsarbeit« zu verstehen, »die dem Subjekt hilft, sich im Strom der eigenen Erfahrungen selbst zu begreifen« Keupp 2008, 190. 24 Die Notwendigkeit der Konfliktaushandlung ergibt sich aus dem Spannungsfeld, dass sich aus nicht übereinstimmender Selbst- und Fremdwahrnehmung ergibt, aber auch dem aktuell erlebten und (in der Zukunft) erwünschten Selbstbild. Keupp 2008, 196 ff. 25 Er beschreibt dazu folgende Ressourcen: 1. Optionsraum 2. Soziale Relevanzstruktur 3. Bewältigungsressourcen. Keupp 2008, 198 ff.; 276 ff. 26 Keupp 2008, 189.
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Identität auch immer »Passungsarbeit«, ein Aspekt, den beispielsweise Lothar Krappmann als Suche nach der ›Balance‹ zwischen den Erwartungen der Anderen und den eigenen Erwartungen ebenfalls hervorhebt (s.u.). Ein wichtiges Element in der Identitätstheorie Keupps ist auch das Konzept der »Teilidentitäten«.27 Darunter versteht er »das Ergebnis der Integration selbstbezogener situationaler Erfahrungen«. Diese Integration ergebe »ein Bild des Subjekts von sich selbst, in dem viele Facetten des Tuns übersituative Konturen erhalten«28. So ›haben‹ die meisten Menschen beispielsweise eine berufliche Teilidentität, in der sie sich selbst als ›Berufstätige‹ der jeweiligen Berufsart typisieren (»Ich bin Tischler«, »Ich bin Friseur«). Neben die oft besonders akzentuierte Teilidentität aus dem Beruf treten weitere Teilidentitäten (»Ich bin Anhänger des FC Barcelona«, »Ich bin ein Hobbykoch«). Alle derartigen Selbsttypisierungen »enthalten ein Mosaik aus Erfahrungsbausteinen«, die durch die Interpretation vergangener Erlebnisse zustande kommen, aber auch zukunftsorientierte Projekte und Entwürfe.29 Dieses Konzept der Teilidentitäten, die sowohl aus früheren als auch aus jüngeren und aus gegenwartsnahen Interaktionen stammen, scheint (auch) für migrierende Akteur_innen sehr gut zu passen. Für sie trifft in besonderem Maße zu, dass das Frühere mit dem Gegenwärtigen verbunden, verglichen und bewertet wird, und umgekehrt. Die Kunst des Migranten/der Migrantin besteht darin, früher und später entstandene Teilidentitäten zu integrieren. Allerdings ist zu betonen, dass auch Teilidentitäten nicht essentialistisch gedacht werden dürfen:30 Auch die Teilidentität ist niemals eine festgestellte Substanz, sondern ein kommunizierendes und interpretierendes Verhältnis des Akteurs/der Akteurin, das interaktiv mit Anderen hergestellt und im Gang gehalten wird. Eine interaktionstheoretische Perspektive auf Identität zeichnet auch die Theorien des Soziologen Lothar Krappmann aus. (Sein Modell wiederum baut auf dem Gründer der Sozialpsychologie George H. Mead31 auf.) Mit der »Kategorie Identität« beschreibt Krappmann »die vom Individuum für die Beteiligung an Kommuni-
27 Keupp 2008, 217 ff. Vgl. auch Kaufmann 2010, 63 ff. Zu einem ähnlichen Konzept der »Teilbeziehungen« vgl. Gergen 1996, 288 ff. 28 Keupp 2008, 218. 29 Keupp 2008, 218. 30 Vgl. dazu auch Krappmann 2010, 88 ff. 31 Ein zwar nicht spätmodernes, sondern klassisch modernes, aber immer noch grundlegendes Konzept von Identität, auf dem zahlreiche spätmoderne Identitätsmodelle aufbauen, stammt von dem US-amerikanischen Begründer der Sozialpsychologie, George H. Mead. Vgl. Mead 1973, bes. 177 ff. Vgl. dazu auch z.B. Keupp 2008, 95 ff.; Benjamin Jörissen, George Herbert Mead. Geist, Identität und Gesellschaft aus der Perspektive des Sozialbehaviorismus. In: Benjamin Jörissen/Jörg Zirfas, Schlüsselwerke der Identitätsforschung. (Wiesbaden 2010), 87-109.
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kation und gemeinsamem Handeln zu erbringende Leistung«32. Das sich daraus ergebende »Dilemma, in dem das Individuum steckt«, beschreibt Krappmann folgendermaßen: »Wie soll es sich den anderen präsentieren, wenn es einerseits auf seine verschiedenartigen Partner eingehen muss, um mit ihnen kommunizieren und handeln zu können, andererseits sich in seiner Besonderheit darzustellen hat, um als dasselbe auch in verschiedenen Situationen erkennbar zu sein?«33
Aus der deshalb notwendigen Suche nach Balance entsteht nach Krappmann eine nie festgefügte, sich stets in Arbeit befindliche Identität.34 Das Individuum stattet sich mit einer eigenen Biographie (als seiner vorläufig gültigen Geschichte) aus, weil es seine Erfahrungen in die jeweilige Interaktion einbringen muss.35 Daraus ergibt sich der »offene, hypothetische Charakter von Identität«,36 wie Krappmann argumentiert.37 Der Psychologe Kenneth Gergen wiederum konzipiert ein Identitätsmodell, das aus seiner Auseinandersetzung mit Veränderungen am Übergang zur Spätmoderne bestimmt wird. Im Zentrum seiner Theorie stehen spätmoderne soziale Verknüpfungen durch Transportmedien, Kommunikationsmedien, soziale Netzwerke usw., die er als »Technologien der sozialen Sättigung« bezeichnet. Diese konfrontieren spätmoderne Subjekte mit einem »Überangebot« an Inhalten und Bedeutungen und damit an »Wirklichkeiten«, sowie mit einer Vervielfachung (zunehmend temporärer) sozialer Beziehungen und Beziehungsformen, was zu einem »übersättigten Selbst« führe.38 Als Resultat diagnostiziert Gergen die »Spaltung des Individuums auf eine Vielzahl von Selbstinvestitionen«39, die er als »Multiphrenie« bezeichnet. Auch Hartmut Rosa, ein Soziologe, teilt »den Befund der gleichsam ›strukturellen Kopplung‹ von sozialem Wandel und Veränderung der Selbstverhältnisse oder Identitätsmuster«40. Bedingt durch Phänomene der Beschleunigung in der Spätmoderne postuliert er, dass »sich in der sich entfaltenden Spätmoderne substanzielle 32 Krappman 2010, 8. 33 Krappman 2010, 9. 34 Krappmann 2010, 44 ff. Zur Bedeutung sozialer Rollen im Kontext von Prozessen der Identitätskonstruktion vgl. z.B. Krappmann 2010, 98. Vgl. dazu auch Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. (München 201110). 35 Krappmann 2010, 47 f.; 51 ff. 36 Krappmann 2010, 44. 37 Krappmann 2010, 145. 38 Gergen 1996, 22 ff.; 43 ff. 39 Gergen 1996, 131. 40 Rosa 2002, 267.
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Identitäten nicht als dauerhafte angelegt sind, sondern zunehmend situativen Charakter erhalten«41. Mit dem Begriff »situative Identität« beschreibt Rosa, dass »keine Identitätsbestimmung mehr per se zeitstabil ist und dass die Gewichtung, Relationierung und Ausdeutung von Identitätsmerkmalen (z.B. das Frau- oder Mannsein) sich von Situation zu Situation ändern«42. Wie diese einander sehr ähnlichen, knapp umrissenen Identitätskonzepte zeigen, steht im Zentrum der postmodernen, systemtheoretischen und differenzierungstheoretisch begründeten Identitätsmodelle das Postulat der Fragmentierung von Identität bis »an den Punkt ihrer Zersplitterung«43. Eine These, die Joachim Renn durchaus kritisch betrachtet: »Die vollständige Fragmentierung der Person scheint schon begrifflich zweifelhaft, als sie konsequenterweise auch noch die Bezeichnung der Einheit dessen, was da fragmentiert werde, unmöglich machte.«44 Renn argumentiert, dass »die Komplexität moderner kommunikativer Arenen« nicht zur »Auflösung der individuellen Einheit der Identität« führt. Vielmehr würde diese Komplexität »der Identität eine andere Funktion« verleihen und sie »an die Person delegieren«.45 »Die Identitätsaspekte der Staatsanwältin und Mutter mögen stark divergieren, das situationsangemessene Wechseln zwischen den Kontexten verlangt gleichwohl danach, dass irgendeine intentionale Instanz, letzten Endes eben das ›Selbst‹, das Verhältnis, die Reihenfolge und momentane Gewichtungen zwischen diesen Aspekten in Balance hält. Und das ist nicht allein ein Erfordernis der Reibungslosigkeit der individuellen Lebensführung, sondern vor allem eine funktionale Voraussetzung für die Integration innersystemischer Kommunikationsabläufe.«46
Renn geht somit von einem situations- und interaktionsübergreifenden ›Selbst‹ aus, das durch Selbstbehauptung – definiert als »kommunikative Aussage über ein Selbst und praktische Durchhaltung dieses Selbst«47 –, keine völlige Fragmentierung zu erleiden hat. In postmodernen differenzierten Gesellschaften besteht daher nach Renn der sozial auferlegte Zwang zur »individuellen Selbstsynthese, da nur sie 41 Rosa 2002, 278. 42 Rosa 2002, 293. 43 Renn 2002, 238. 44 Renn 2002, 247. 45 Renn 2002, 245 ff. Er nennt als Vertreter derartiger »Fragmentierungsthesen« Wolfgang Welsch und Zygmunt Bauman. Wolfgang Welsch, Subjektsein heute. Überlegungen zur Transformation des Subjekts. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4 (1991), 347-365; Zygmunt Bauman, Unbehagen in der Postmoderne. (Hamburg 1999); Bauman 2003. 46 Renn 2002, 250. 47 Renn 2002, 238.
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die Flexibilität der Situationsanpassung und Angemessenheit des Handelns in den jeweils wechselnden Kontexten ermöglicht«48. Die skizzierten Theorien zusammenfassend, lassen sich nun einige theoretische Ausgangspunkte hinsichtlich eines für diese Studie geeigneten Verständnisses der Identität von migrierenden Akteur_innen formulieren. Erstens wird Identität nicht als eine zu erlangende essentielle Entität gedacht, sondern als dynamischer, fortlaufender Prozess und damit als ein lebenslanges Projekt.49 Zweitens ist Identität ein soziales und interaktives Konstrukt,50 das »im dialogischen Prozess der Anerkennung« entworfen wird. Erst durch andere wird »Identität wirklich im Sinne von real und im Sinne von wirkend«.51 Daraus ergibt sich, drittens, der situative Charakter von Identität. Spezifische Situation und Kontexte sind wesentliche Identitätsdeterminanten, während das Individuum zugleich seine eigene Biographie und biographischen Erfahrungen in die jeweilige Situation mit einbringt. Damit muss Identität, vor allem unter spätmodernen Bedingungen, als facettenreich und unterschiedliche »Identitätsaspekte«52 (oder Teilidentitäten) integrierend verstanden werden. Diese wiederum werden in unterschiedlichen Situationen, unterschiedlichen sozialen Kontexten, sozialen Feldern und im Zusammenhang mit unterschiedlichen Rollen und Identitätsmerkmalen53 entworfen und gelebt.54 Eben dies beschreibt Krappman als eines der ›Kernprobleme‹ von Identität: »Wie vermag der einzelne sich als besonderes, von anderen zu unterscheidendes Individuum mit einer einmaligen Biographie und ihm eigenen Bedürfnissen darzustellen, wenn er sich den angesonnenen Erwartungen, die ihn von vornherein typisierend festzulegen suchen, nicht ungestraft entziehen kann?«55
48 Renn 2002, 258. 49 Vgl. z.B. auch Kaufmann 2010, 11 ff. Zu Identität als Projekt vgl. z.B. Keupp 2008, 194 ff.; Kraus 2000, 164 ff. 50 Zum wissenschaftlichen Diskurs um Identität als soziale Konstruktion und einem interaktions-theoretischen Zugang vgl. Keupp 2008, 95 ff. Auch Gergen geht daher von Identität als einem interaktiven, sozialen Konstrukt aus, und beschreibt das »sozial konstruierte Individuum« als die Handlungsmuster der Menschen prägend. Gergen 1996, 239 ff. 51 Keupp 2008, 201. 52 Diesen Terminus verwendet beispielsweise Joachim Renn. Vgl. Renn 2002, 250. 53 Z.B. Mann, Frau usw. vgl. dazu Rosa 2002, 293. 54 Zur Identität als ›etwas Gelebtem‹ vgl. Rosa 2002, 276. 55 Krappmann 2010, 8; Keupp bezeichnet diese »Passungsleistung« als eine der »Handlungsaufgaben« Keupp 2008, 223.
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Die Bedeutung von Identität in der vorliegenden Studie liegt in ihrer handlungsleitenden Funktion und in der Gewährleistung von Handlungsfähigkeit, auch und gerade in Prozessen der Migration, mit denen Wechsel zwischen Lebenswelten einhergehen. Wesentlich für die vorliegende Untersuchung ist, dass die Anforderungen der ersten und der zweiten oder dritten (usf.) Lebenswelt (oder Kultur) divergieren, dass sie möglicherweise in gewissen Hinsichten sogar widersprüchlich zueinander sind. Was in einer Lebenswelt eine legitime Kompetenz oder eine legitime Ressource ist, kann in einer anderen ein fragwürdiges oder sogar ein verbotenes und kriminalisiertes Verhalten sein. Als das Ergebnis von Fremd- und Selbstpositionierungen kann Identität so auch als ein »unabschließbarer kulturellen Prozess der Herstellung durch Positionierung im Spiel von Identifikation des ›Eigenen‹ und der Abgrenzung von ›Anderen‹« angesehen werden.56 Aus all diesen Aspekten ergibt sich, dass Identität kontinuierliche, wenn auch häufig latente und vorreflexive »Identitätsarbeit« erfordert.57 Aufgabe und Herausforderung des Akteurs/der Akteurin muss es daher sein, eine Balance oder Passung zwischen divergierenden Anforderungen und Erwartungen, aber auch situationsübergreifend zwischen divergierenden Identitätsaspekten (Teilidentitäten) zu erlangen. In diesem ›inneren‹ Sinn sind im Übrigen alle Menschen, auch jene, die ihre Stadt oder ihr Dorf niemals verlassen, in der Spätmoderne Migrant_innen. 7.1.1 Kultur-nationale Identität: Theorie und Forschungsinteresse Ebenso wie für ›personale Identität‹ existieren im wissenschaftlichen Diskurs auch für den Begriff der kollektiven Identität,58 der sich auf ein nationalstaatliches (bzw. plurinationalstaatliches, wie jenes ›der Spanier‹) oder auf ein kultur-nationales Kollektiv bezieht, eine Vielzahl an Definitionen und Auffassungen.59 Zunächst wird
56 Allolio-Näcke/Kalscheuer 2003, 153. 57 Vgl. z.B. Keupp 2008, 215 ff. Ein ähnliches Konzept ist das des ›Doing Identity‹. Vgl. z.B. Allolio-Näcke/Kalscheuer 2003. Vgl. dazu auch Krappmann, der Identität als »Leistung« beschreibt, die »vom Individuum für die Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamen Handeln zu erbringen ist« Krappmann 2010, 8. 58 Zum Konzept der kollektiven Identität vgl. auch Eder 2009. Zu verschiedenen Definitionen vgl. z.B. Carolin Emcke, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen. (Frankfurt am Main 2000), 202 ff. Vgl. auch Bernhard Giesen, Voraussetzungen und Konstruktion. Überlegungen zum Begriff der kollektiven Identität. In: Cornelia Bohn/ Herbert Willems (Hrsg.), Sinngeneratoren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive. (Konstanz 2001), 91-110. 59 Vgl. z.B. Piwoni 2012, 45 ff.
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häufig zwischen nationaler Identität, kultureller Identität oder auch kulturnationaler Identität unterschieden,60 wobei jeder dieser Termini auf sehr unterschiedliche Art verstanden, definiert und eingesetzt werden kann. Vor allem das Konzept einer ›nationalen Identität‹ mit dem Nationalstaat als Referenzrahmen61 ist umstritten: Es verkennt oder negiert, dass Staat und Nation nicht in jedem Fall flächenkongruent sind (siehe in Westeuropa Spanien, Großbritannien oder Belgien), und dass sich plurinationale Staaten in einzelne Nationalstaaten auflösen oder aus dem Zusammenschluss von Nationalstaaten entstehen können.62 Kurz: Nation und Staat stehen zueinander in einem historisch kontingenten Verhältnis. Definiert wird nationale Identität meist als »eine besondere Form kollektiver Identität im Sinne eines von einer Gruppe von Menschen geteilten Zusammengehörigkeitsgefühls, das sich auf die Vorstellung einer Nation bezieht, und die dieses Gefühl teilende Menschen verstehen sich als Nationsangehörige«63. Im Kontext von postmodernen und poststrukturalistischen Theoriemodellen ist für Tim Edensor nationale Identität (als teilweise unbewusstes, vorreflexives Konstrukt) »not a once and for all thing but is dynamic and dialogic, found in the constellations
60 Dem ist beispielsweise noch das Konzept der »ethnischen Identität«, welches sich auf gemeinsame Abstammung beruft, hinzuzufügen. »Eine Ethnie ist eine Gemeinschaft, die auf der Grundlage einer gemeinsamen Abstammung und Geschichte ein Selbstbewusstsein ihrer Besonderheit und ihrer Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften herausgebildet hat.« Broszinsky-Schwabe 2011, 52; 51 ff. In der vorliegenden Arbeit möchte ich diesen Terminus jedoch nicht verwenden, da die anderen Begriffe den aus den Erzählungen rekonstruierbaren Phänomenen sehr viel eher entsprechen und daher passendere Analyserahmen und -werkzeuge darstellen. 61 Vgl. z.B. Wodak u.a. 1998, bes. 32 ff.; Billig 1995; Delanty 1996; Anderson 2006. Zu regionalen und lokalen Identitäten vgl. Broszinsky-Schwabe 2011, 54 ff.; Hakan Gürses, »Ich bin Niemand.« Identität – von Odysseus zu Minderheiten. In: Helmut Kletzander/ Karl Rudolf Wernhart (Hrsg.), Minderheiten in Österreich. Kulturelle Identitäten und die politische Verantwortung der Ethnologie. (Wien 2001), 167-179; 171 ff. Zu Konzepten einer raumbezogenen Identität vgl. Richter 2013. Vgl. auch Kapitel 3.4. 62 Vgl. z.B. Keupp 2008, 87 f.; Jonas Frykman, Zur Informalisierung nationaler Identitäten. In: Beate Binder/Wolfgang Kaschuba/Peter Niedermüller (Hrsg.), Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. (Köln/Weimar/Wien 2001), 86-107; Michael Klein, Die nationale Identität der Deutschen. Commitment, Grenzkonstruktionen und Werte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. (Wiesbaden 2014), 21. 63 Piwoni 2012, 46.
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of a huge cultural matrix of images, ideas, spaces, things, discourses and practis«64. Ganz ähnlich argumentiert auch Michael Billig: »An ›identity‹ is not a thing; it is a short-hand description for ways of talking about the self and community. Ways of talking, or ideological discourses, do not develop in social vacuums, but they are related to forms of life. In this respect, ›identity‹, if it is to be understood as a form of talking, is also to be understood as a form of life. The saluted and unsaluted flags are not stimuli that evoke ›identity-reaction‹; they belong to the forms of life which constitute what could be called national identities.«65
An dieser Argumentation ist allerdings zu bemängeln, dass längst nicht alle »forms of life« konstituieren, was unter nationaler Identität gemeinhin verstanden wird. Außerdem ist es eine nicht zu vernachlässigende Frage, welche »forms of life« für die Bildung einer nationalen Identität relevant sind. Dies wird offensichtlich, wenn wir uns im Zeitalter der Globalisierung u.a. die ästhetische Angleichung in den Stadtzentren der Metropolen durch die internationalen Konzerne, Modeketten etc. vor Augen führen: die Lebensweise, eine bestimmte Modemarke zu bevorzugen oder eine bestimmte Fastfoodkette zu frequentieren, hat kaum Relevanz für die nationale Identität. Nationale Identität im herkömmliche Sinn, wie sie auch meine Interviewpartner_innen verstehen, entsteht vielmehr aus spezifischen Aspekten; so vor allem in Hinsicht auf den Staat und seine Politik (in plurinationalen Staaten wie Spanien auch im Hinblick auf einige autonome Provinzen) oder im Hinblick auf eine für diese politische Einheit (Staat oder Provinz) privilegierte Sprache (»Staatssprache«) und sämtliche Behörden und Ämter, in denen diese privilegierte Sprache »Amtssprache« ist, auf das Steuer- und Sozialsystem dieser Einheit oder auch im Hinblick auf innere und äußere Feinde und die Bereitschaft, diesen Staat oder diese Provinz zu verteidigen. Jedenfalls aber können nationale Identitäten auch als Produkte von Diskursen beschrieben werden.66 Sie werden durch Diskurse konstruiert und reproduziert, und erhalten auf diese Weise ihre Wirkungsmacht.67
64 Edensor 2002, 17; 69 ff. Auf diesem Verständnis von nationaler Identität basiert sein Modell des »Performing National Identity«. Durch das Konzept der Performance möchte er den dynamischen und prozesshaften Charakter von nationaler Identität betonen. 65 Billig 1995, 60 ff. Vgl. auch Wodak u.a. 1998, 482 ff. 66 Vgl. dazu Anderson 2006. Benedict Anderson versteht in seinem Standardwerk Nationen als »Imgagined Communities«. Vgl. auch De Cillia/Reisigl/Wodak 1999, 153; Wodak u.a. 1998, 61 ff.; 482 ff.
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»[…] there is no such thing as the one and only national identity in an essentializing sense, but rather that different identities are discursively constructed according to context, that is according to the social field, the situational setting of the discursive act and the topic being discussed. In other words, national identities are not completely consistent, stable and immutable«68.
Im Gegensatz zum Konzept der nationalen Identität ist der Referenzrahmen für »kulturelle Identität«69 die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur. (Siehe Kap. 3) Geht man von dem bereits ausführlich diskutierten Verständnis von Kultur in dieser Arbeit aus, so folgt daraus, dass »Kultur somit der Ausgangspunkt unserer Existenz als soziale Wesen« ist. »Von hier aus können wir sprechen. Kulturelle Identität ist also kein Ding, sondern eine Position.«70 Und »wenn sich also Kultur auf die Lebensweise, die Orientierungsmuster usw. einer sozialen Gruppe bezieht, bedeutet kulturelle Identität die Teilnahme, Zugehörigkeit und Identifikation mit dieser Gruppe.«71 In all diesen Facetten ist kulturelle Identität ein dynamischer und flexibler Prozess, der Lernprozesse in allen Phasen des Lebens impliziert, wie u.a. auch Jürgen Straub argumentiert: »Die Tatsache, dass wir unsere kulturelle Zugehörigkeit nicht nur im Lauf der Zeit – in lebensgeschichtlicher und historischer Perspektiv –, sondern auch synchron in Abhängigkeit von den praktischen Kontexten, in denen wir uns gerade bewegen, und den Zielen, die wir verfolgen, variabel definieren und interaktiv präsentieren können, zeigen mittlerweile zahlreiche empirische Studien.«72
Auf Migrant_innen bezogen, argumentiert Yannik Porsché:
67 De Cillia/Reisigl/Wodak 1999, 153 f. Vgl. dazu auch Gergen 1996, 31 ff.; 41: »Annahmen darüber ›wie wir wirklich sind‹, sind Produkte einer bestimmten Kultur und eines bestimmten Zeitpunkts in der jeweiligen Geschichte.« 68 De Cillia/Reisigl/Wodak 1999, 154. 69 Zu einem Abriss des Begriffs vgl. auch: Young Yun Kim, Intercultural personhood. Globalization and a way of being. In: International Journal of Intercultural Relations 32 (2008), 359-368; 361 f. https://doi.org/10.1016/j.ijintrel.2008.04.005 Vgl. auch Welsch 2002. 70 Hein 2006, 69. 71 Hein 2006, 69; Zu einer ähnlichen Definition vgl. Broszinsky-Schwabe 2011, 46. 72 Jürgen Straub, Psychologie und die Kulturen in einer globalisierten Welt. In: Thomas 2003, 543-566; 551.
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»Von einem kritischen Potential des Phänomens kultureller Identitäten von Migrant_innen kann die Rede sein, wenn kulturelle Identität als ein Prozess verschränkter Konstitutionsaushandlung in einem interdependenten Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Fremden konzipiert wird. Die Bedeutung identitärer Aushandlung wird ersichtlich, wenn sich vor Augen geführt wird, dass Identität uns erstens normative Orientierung, zweitens ein positives Selbstbild anhand von multiplen Gruppenzugehörigkeiten und drittens (politische) Solidarität und Anerkennung ermöglichen kann. Wird Identität – und mit ihr Normen, Gruppenzugehörigkeiten und politische Solidarität – als Transformation und Aushandlung verstanden, impliziert sie aufgrund andauernder De- und Rekonstruktion Flexibilität, Innovation und Kreativität.«73
Basierend auf dem vorliegenden empirischen Material sowie auf diesen Definitionen und Überlegungen soll im Folgenden für diese Untersuchung das Konzept bzw. der Terminus ›kultur-nationale Identität‹ verwendet werden. Wie sich anhand der Erzählungen meiner Interviewpartner_innen zeigt, spielt für Migrant_innen Kultur (und Sprache) als Bezugsrahmen eine wesentliche Rolle (siehe Kap. 3.4), während zugleich aber auch der Nationalstaat als Referenz dient. Darüber hinaus erscheint mir die Differenzierung zwischen kultureller und nationaler Identität bis zu einem gewissen Grad artifiziell, da sie lediglich unterschiedliche Fokussierungen in Hinsicht auf die vorherrschenden Referenzrahmen Staat/Politik bzw. Sprache/Kultur ausdrückt. Mithin scheint der Begriff ›kultur-nationale Identität‹ am besten für meine Untersuchung geeignet. Ein wesentliches Element in der Konstruktion derartiger ›kultur-nationaler Identitäten‹ stellt der Aspekt der Erwartung dar: In den Interviewtexten werden die an eine Mehrzahl von unterschiedlichen Identitäten geknüpften Erwartungen immer wieder ausdrücklich hervorgehoben oder implizit formuliert und zwar sowohl als Erwartungen des Erzählers/der Erzählerin als Akteur_in an sich selbst, als auch in Form von Erwartungen oder Forderungen an andere Akteur_innen. Auch damit verbunden wird kultur-nationale Identität in den vorliegenden Erzählungen immer wieder adressiert. Die Vielfalt der Verhaltenserwartungen geht allerdings über eine nationalstaatliche Identifikation (und Identität) weit hinaus. Mario R. Lepsius erklärt diese Vielfalt aus der Erfordernis, in einer großen Zahl von Situationen und in verschiedenen Kontexten identisch handeln zu müssen oder zu wollen: »Da mit jedem Identifikationsmuster eine Verhaltensorientierung verbunden ist, vervielfältigen sich auch die Verhaltenserwartungen. Die mit den verschiedenen Identitäten verbundenen Verhaltensweisen werden jedoch nicht gleichzeitig ausgeübt, sie bestehen nebeneinander und 73 Yannik Porsché, Kulturelle Identitäten in Zwischenräumen. Migration als Chance für Fremdverstehen und kritische Identitätsaushandlung? Centre on Migration, Citizenship and Development Working Paper 52 (Bielefeld 2008), 14 f.
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werden in spezifischen Situationen ungleichmäßig aktiviert. Man verhält sich nicht in jeder Situation als Mann oder Frau, jung oder alt, obgleich die Differenzierungen nach Geschlecht und Alter die Basisstrukturierungen der eigenen Selbstwahrnehmung sind. Welche Identitätsvorstellung verhaltensorientierend wirkt, ergibt sich aus der Verhaltenssituation. Die Vorstellung von der Identität als einer einheitlichen und kontinuierlichen Orientierungsprägung ist sicher zu einfach. Das gilt auch für kulturelle und nationale Identitäten. Sie werden durch Institutionalisierungsprozesse gestiftet, verändern ihren Charakter, vermischen sich in den Sinnbezügen untereinander.«74
Ein weiteres konstitutives Element kultur-nationaler Identität (wie auch jeder anderen Art von kollektiver Identität75) ist, wie die Erzählungen meiner Gesprächspartner_innen eindrucksvoll zeigen, das Gefühl der Zugehörigkeit, also der Identifikation mit einer sozialen Gruppe.76 Aber auch Zugehörigkeiten sollen nicht als statisches Ziel oder als ein endlich erreichter, unveränderlicher Zustand aufgefasst werden, sondern als kontingenter Prozess: »Zugehörigkeit meint nicht formale Mitgliedschaften oder Eintrittskarten und die damit verbunden Rechte und Pflichten. Es meint viel mehr eine flexible, wenn auch nicht beliebige Form von subjektiv erwünschten und anerkannten, individuellen und kollektiven Formen des Fühlens und Handelns.«77
Wichtige Faktoren im Prozess der Herstellung von Zugehörigkeit sind Anerkennung und Akzeptanz durch andere Akteure oder ein Kollektiv.78 Zugehörigkeiten
74 Mario Rainer Lepsius, Prozesse der europäischen Identitätsstiftung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 38 (2004), 3-15; 3. 75 Kollektive Identitäten können so auch verstanden werden als »social constructions which use psychological needs and motives to provide an answer to the questions ›who do I belong to?‹ or ›who do we belong to?‹« Eder 2009, 431. 76 Vgl. auch Paul Mecheril, Politik der Unreinheit. Ein Essay über Hybridität. (Wien 20092), 18: »Die primären Modi nationalen Einbezugs und nationalen Ausschlusses sind somit nicht allein auf das Moment der formellen Mitgliedschaft und nicht einmal allein auf symbolische Mitgliedschaft überhaupt beschränkt, sondern verwirklichen sich über zugebilligte und kultivierte Handlungsfähigkeit, über kulturelle Vertrautheit sowie über die Ausbildung von biographischen Bezügen zu dem sozialen Zugehörigkeitskontext. Vor diesem Hintergrund ist es unter der Perspektive Zugehörigkeit sinnvoll, nationale Kontexte als natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsräume zu verstehen.« 77 Strasser 2009, 31. 78 Vgl. z.B. Keupp 2008, 243 ff.; 261 ff.; 268 f.
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können des Weiteren stets nur aus dem Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung entstehen.79 »Eine Person kann nicht individuell entscheiden, ob sie dazugehört, sie kann aber zugeschriebene oder selbst gewählte Prozesse der Identitäten wie Nationalität, Ethnizität und Geschlecht an Intensität auch zeitlich variabel gestalten.«80
Jegliche Form der Identität ist außerdem, auch das belegen die vorliegenden Erzählungen eindrucksvoll, nur im Kontrast zu und in der Konfrontation mit Alterität möglich. Im Kontext der Diskussion kultur-nationaler Identität ist daher auch die Frage nach Alterität in Gestalt von ›Fremdheit‹ und ›Befremdung‹ eng mit Identitätsprozessen verbunden, wie auch Alois Hahn hervorhebt: »Es bleibt unvermeidlich, daß Identität durch Fremdheit konstituiert wird. Jede Selbstbeschreibung muß Alterität in Anspruch nehmen. Wenn man sagt, was man ist, muß man dies in Abgrenzung von dem tun, was man nicht ist.«81
Wie ich auch bereits im Kapitel Fremdheit argumentiert habe, darf die Unterscheidung zwischen Vertrautem und Fremden, zwischen Identität und Alterität jedoch nicht als naturgegeben verstanden werden, auch sie stellt immer ein soziales Konstrukt dar.82 Das Zusammenspiel von Zugehörigkeit und Fremdheit als konstitutiv für Identität beschreibt Hahn folgendermaßen: »Zugleich aber aktiviert man eine Unterscheidung: Man identifiziert sich durch ein Merkmal oder eine ganze Klasse von Merkmalen, die andere – so wird jedenfalls unterstellt – nicht haben: Ich bin Mann und keine Frau, Katholik und nicht Protestant, Deutscher und nicht Franzose. Die Identifikation, die hier vorgenommen wird, macht also einerseits den Anspruch auf eine Zugehörigkeit geltend und schließt gleichzeitig andere von dieser Zugehörigkeit aus.«83
79 Michael Klein, Die nationale Identität der Deutschen. Commitment, Grenzkonstruktionen und Werte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. (Wiesbaden 2014), 22 ff. 80 Strasser 2009, 32. Vgl. auch Billig 1995, 66 ff. zur »Social Identitiy Theorie« im Kontext nationaler Zugehörigkeiten. 81 Hahn 1997, 119. 82 Pries 2010b, 70 f. Vgl. auch Ralf Bohnsack, Differenzerfahrungen der Identität und des Habitus. Eine empirische Untersuchung auf Basis der dokumentarischen Methode. In: Burkhard Liebsch/Jürgen Straub (Hrsg.), Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften. (Frankfurt am Main/New York 2003), 136160. 83 Hahn 1997, 117.
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An dieser Stelle möchte ich erneut betonen, dass kultur-nationale Identität für meine Untersuchung nicht als unabhängig von personaler Identität (im bereits dargelegten Verständnis) entstehend verstanden werden kann. Kultur-nationale Identität ist vielmehr ein Aspekt der personalen Identität. So formulierte der deutsche Volkskundler Hermann Bausinger schon in den 1980er Jahren: »Der Begriff der kulturellen Identität kann also auf das Individuum bezogen werden. Der einzelne erfährt sich selbst ja nicht nur in der Auseinandersetzung mit anderen, sondern auch in seiner kulturellen Ausstattung mit einer bestimmten Sprache, mit bestimmten Überlieferungen, bestimmten Eigenheiten der materiellen Kultur, mit Normen und Werten. Diese kulturelle Dimension trägt zu meiner Identität bei; sie liefert Werkzeuge zur ständigen Herstellung oder Stabilisierung von Identität.«84
7.1.2 Personale und kultur-nationale Identität im Stress der Migration Wie auch die Erzählungen meiner Gesprächspartner_innen zeigen, erzeugt Migration, sowohl was die personale Identität als auch die kultur-nationale Identität betrifft, spezielle Herausforderungen.85 »Migration bedeutet für den einzelnen den Wechsel von privaten, gesellschaftlichen und kulturellen Bezügen und Orientierungen und damit einen ›Angriff‹ [...] auf seine individuelle und kollektive Identität.«86 »Mit dem Umzug wechselt nicht nur die sozialräumliche Kategorie. Ob wir es wollen oder nicht, ändern sich mit diesem auch Zugehörigkeiten und Zuschreibungen. Umzüge sortieren
84 Hermann Bausinger, Kulturelle Identität – Schlagwort und Wirklichkeit. In: Hermann Bausinger (Hrsg.), Ausländer – Inländer. Arbeitsmigration und kulturelle Identität. (Tübingen 1986), 141-159; 143. 85 Vgl. dazu z.B. Scheibler 1992; Ruokonen-Engler 2012; Michal Kryzanowski/Ruth Wodak, Multiple identities, migration and belonging. ›Voices of Migrants‹. In: Carmen Rosa Caldas-Coulthard/Rick Iedema (Hrsg.), Identitiy Trouble. Critical discourse and contested identities. (New York 2008), 95-112; bes. 97 ff. 86 Scheibler 1992, 107. Zitiert nach Hartmut Esser, Die Entwicklung kultureller Identität von Ausländern und die interkulturelle Chance für das Gastland. In: Deutsche UNESCOKommission (Hrsg.), Die Multikulturellen. (München 1985), 35. Vgl. auch Roswitha Breckner, Ambivalente Wir-Bezüge in ost-west-europäischen Migrationsbiographien. Konstruktionen kollektiver Zugehörigkeit in gesellschaftlichen Polarisierungsprozessen. In: Sozialer Sinn 1 (2005), 71-92.
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Nähe und Ferne neu und verändern Optionen und Restriktionen der Lebensführung in einem Maß, das oft unterschätzt wird.«87
Im Zuge dieser Umbruchserfahrungen und der Konfrontation mit ›Anderem‹ und ›Fremdem‹ wird dem Akteur/der Akteurin die personale Identität und als Teil davon, auch die kultur-nationale Identität bewusst und reflexiv zugänglich. Alexandra Kofler bemerkt dazu treffend: »Das Problem der Identität entsteht [...] nicht im luftleeren Raum, sondern ist stets als eine Reaktion auf Umbrüche zu sehen: ›Identität‹ wird also erst dann zu einem ausdrücklichen Thema, wenn sie im Rahmen von Umbruchsprozessen problematisch wird.«88
Auch wenn ›Umbruchsprozesse‹ vielfältiger Art sein können (private Krisen, Abbrüche von Beziehungen, Berufswechsel, Arbeitslosigkeit u.a.m.) ist offensichtlich, dass die Migration einen überaus facettenreichen Umbruchprozess darstellt, sind doch Intimbeziehungen und ehelichen Beziehungen, berufliche Kontakte oder Freundeskreise, Steuersysteme und sozialstaatliche Systeme, die Umgangssprache und die Amtssprache, die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht und vieles mehr vom Umbruch betroffen. Dies erfordert und evoziert ein hohes Maß an ›Identitätsarbeit‹ und spezielle Strategien zur Identitätssicherung, die immer auch die autobiographische Anstrengung erfordern, das neue Leben mit dem alten zu verbinden: »Diese Dynamik entsteht aus der Tatsache, dass Menschen durch die Fähigkeit der Biographisierung des eigenen Lebens neue Erfahrungshorizonte an alte Sinnressourcen anschließen können und dadurch in der Lage sind, im Rahmen ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und Beschränkungen Biographien und Zugehörigkeiten neu zu behaupten.«89
Aus den vorgetragenen Begriffserklärungen und konzeptuellen Überlegungen ergibt sich das für diese Studie am besten geeignet scheinende Verständnis von kulturnationale Identität: Zunächst soll kultur-nationale Identität hier als situations- und kontextabhängige Position verstanden werden. Was Immigrant_innen aus Deutschland, aus Skandinavien oder aus Spanien in Österreich bzw. in Wien ›sind‹, bestimmt sich über deren Identifikation mit, Zugehörigkeit zu und Anerkennung als Mitglieder einer kultur-nationalen Gruppe. Der spezifische Status dieser (wie aller anderen) Migrant_innen wird sozial konstruiert und reproduziert, d.h. er bleibt durch Wiederholung von Typisierungen und Stereotypen annähernd gleich, oder er verändert sich mehr oder weniger, etwa durch massenmedial berichtete Ereignisse. 87 Richter 2013, 11. 88 Kofler 2011, 31 f. Vgl. auch Breckner 2005 (Anm. 86), 71 f. 89 Ruokonen-Engler 2012, 336.
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In Folge unterschiedlicher Verhaltenserwartungen an die Migrant_innen seitens der Aufnahmegesellschaft und infolge individueller und sich verändernder Anforderungen der Zuwander_innen an sich selbst ist dieser Status nie festgelegt, er steht immer zur Diskussion. Unentschiedene und schwankende Einstellungen sind auf beiden Seiten möglich. Sowohl die Praxis der Migration als auch die Aufnahme der Zugewanderten durch ›Einheimische‹ (Nachbarn, Freunde, Vorgesetzte, sowie durch die Beamten an der Grenze und in den Behörden, in Kindergärten, Schulen und Gesundheitsdiensten) ist kontingent (gestaltungsabhängig) und tentativ. Infolgedessen ist aber auch jede Form von Identität (die personale wie die kulturnationale) prozesshaft, dynamisch, veränderlich. In der empirischen Untersuchung ist es daher einerseits geboten, »die Identitäts- und Zugehörigkeitskonstruktionen nicht als essentialistisch, sondern als Resultat biographischer Aushandlungsprozesse zwischen strukturellem Identitätszwang und subjektiver Handlungsfähigkeit zu betrachten«90. Andererseits muss zugleich die ebenso unstete diskursive Praxis der aufnehmenden Gesellschaft in den Blick genommen werden. »Wenn die Analyse nicht danach fragt, was Identitäten sind, sondern durch welche Prozesse und Praktiken Identitäten hergestellt werden, dann können sowohl die Brüche und Inkonsistenzen von Identitäten als auch die kontingenten Konstruktionsweisen und unvollständigen Grenzziehungspraktiken sichtbar gemacht werden. Dies eröffnet zudem den Blick für die zahlreichen Möglichkeiten multipler, verschränkter und wandelbarer Identitätskonstellationen.«91
Diese theoretischen Überlegungen abschließend, soll nun noch kurz erläutert werden, wie die Form der (mündlich gegebenen) Erzählung den Inhalt von Identität ›präformiert‹. 7.1.3 Identität als narratives Konstrukt Im Hinblick auf die Tatsache, dass Erzählungen das empirische Material dieser Untersuchung darstellen, stellt sich auch die Frage nach dem Zusammenhang von Narration und Identitätskonstruktion. Der Ausgangspunkt der sozialkonstruktivistischen These, dass in der täglichen kommunikativen Praxis konstruiert wird, welche Personen Migrant_innen für sich selbst und für andere sind, wurde bereits ausführlich argumentiert. Diese kommunikative Praxis wiederum ist zu einem erheblichen Teil eine Praxis der Narration. Das gilt keineswegs nur für das sozialwissenschaftli-
90 Ruokonen-Engler 2012, 361. 91 Porsché 2008 (Anm. 73), 14.
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che, methodisch geführte Narrativinterview, sondern für alle Kommunikationen im Alltagsleben. Ausgehend von der Prämisse, dass »auch Wahrheit und Objektivität narrativ konstruiert«92 werden, kann die Narration bzw. das Narrativ als »symbolisches Konstruktionsmedium«93 oder auch als »wirkungskonstruktives und sinnstiftendes sprachliches Handeln«94 angesehen werden. Identität wird erzählend konstruiert,95 indem das »Subjekt sich und seinen Erfahrungsstrom in Geschichten organisiert«96 und das Sprechen über sich selbst in der autobiographischen Darstellung zum Ort der Selbstkonstruktion wird.97 Die Frage »Wer bin ich?« steht also in engem Zusammenhang mit der Lebensgeschichte98 und der Art und Weise, wie wir diese Geschichte erzählen und interpretieren.99 »Auf die Frage ›Wer bin ich?‹ zu antworten heißt ›die Geschichte eines Lebens zu erzählen‹. Die Einheit des menschlichen Lebens muss als die Einheit einer Geschichte verstanden werden.«100 ›Narrative Identität‹ kann demnach mit Alexandra Kofler definiert werden als »die Einheit des Lebens einer Person, so wie sie erfahren und artikuliert wird und in den Geschichten, die diese Erfahrung ausdrücken.«101 Aber auch identitätsstiftende Narrative sind kontingent, prozesshaft, situativ und müssen laufend neu konstruiert werden.102 Zugleich sind Selbstnarrationen stets auch als soziale Konstrukte zu verstehen, die sozial ausgehandelt, reflektiert und adaptiert sowie im sozialen Handeln partiell realisiert werden. In Abhängigkeit vom sozialen Kontext eröffnen sich unterschiedliche narrative Rahmen wie etwa Fami92
Kraus 2000, 168.
93
Kofler 2011, 40.
94
Gabriele Lucuis-Hoene/Arnulf Deppermann, Narrative Identität und Positionierung. In: Gesprächsforschung – Onlinezeitschrift zur verbalen Interaktion 5 (2004), 166-183; 167. Online unter: www.gesspraechs-forschung-ozs.de (20.10.2018).
95
Zum Konzept der ›narrativen Identität‹ vgl. z.B. auch Kofler 2011, 40 ff.; 57 ff.; Kraus 2000; Keupp 2008, 101 ff.; 207 ff.; 289 ff.
96
Michael Bamberg, Identität in Erzählung und im Erzählen. Versuch einer Bestimmung der Besonderheit des narrativen Diskurses für die sprachliche Verfassung von Identität. In: Journal für Psychologie 7/1 (1999), 43-55; bes. 45 ff.
97
Kofler 2011, 62.
98
Zu Narration und Biographieforschung vgl. auch Kofler 2011, 37 ff.
99
Lucuis-Hoene/Deppermann (Anm. 94), 167 f.
100 Kofler 2011, 57. Sie zitiert hier Paul Ricœur, Zeit und Erzählung III: Die erzählte Zeit. (München 1991), 395. Vgl. auch Brockmeier/Harré 2001, 54. 101 Kraus 2000, 159. Vgl. Michael Bamberg, Identität in Erzählung und im Erzählen. Versuch einer Bestimmung der Besonderheit des narrativen Diskurses für die sprachliche Verfassung von Identität. In: Journal für Psychologie 7/1 (1999), 43-55; bes. 52. 102 Kraus 2000, 168 ff.
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lie, Beruf, Sport usw. mit vielfältigen Bedeutungen und ebenso vielfältigen narrativen Perspektiven.103 Der Akteur/die Akteurin referenziert beständig auf gesellschaftlich vermittelte und ihnen insofern vorgegebene Narrationsformen respektive narrativen Strukturen;104 auch von kulturell vorgegebenen Scripts oder »Ready-mades« wird gesprochen, mit denen sich die Akteur_innen auseinandersetzen, wenn sie ihre eigenen identitätsstiftenden biographischen Narrative interpretieren und bewerten.105 In diesem Sinne können ihre Narrative auch als »Form der Mediation zwischen dem Individuum (und seiner Realität) und dem generalisierten kulturellen Kanon«106 verstanden werden. Das lebensgeschichtliche Narrativ kann daher als eine Handlungsserie gelten: »To recapitulate, what has usually been thought about as a question of identity (collective identity) can be understood as relating to narratives of location and positionality. The narrative enables the researcher to understand the ways in which the narrator, at a specific point in time and space, is able to make sense of and articulate their placement in the social order of things. This, however, also means the recognition of the narrative as an action, as a performance.« 107
Zu beachten ist, dass die Identität einer Person ausschließlich von ihr selbst – in welcher Form auch immer – erzählend beantwortet werden kann. Es ist unmöglich bzw. ergebnislos, eine Person direkt nach ihrer Identität zu fragen. Vielmehr liegt es in der Natur des komplexen Themas Identität, dass die wenigsten Menschen darauf ad hoc eine (sinnvolle) Antwort geben können.108 Hingegen können alle Menschen Geschichten erzählen, aus denen für Forscher_innen Rückschlüsse auf die Identität der Erzähler_innen möglich sind. Angeleitet durch diese Überlegungen, soll nun die kultur-nationale Identität der Interviewpartner_innen aus ihren Erzählungen rekonstruiert werden. Welche identitätsstiftenden Bezugshorizonte und -objekte lassen sich aus den Erzählungen rekonstruieren? Welche Praktiken können als ein ›Doing Identity‹ angesehen werden? Welche Schwierigkeiten und Konflikte ergeben sich dabei insbesondere für Migrant_innen und welche strategischen Lösungen (er-)finden sie dafür? 103 Kraus 2000, 178 ff. 104 Vgl. z.B. Wolfgang Kraus, Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität. In: Renn/Straub 2002, 159-187. 105 Kraus 2000, 176 ff.; Keupp 2008, 290 ff.; Gergen 1996, 262 ff.; Brockmeier/Harré 2001, 52 ff. 106 Brockmeier/Harré 2001, 54. 107 Anthias 2002, 501. 108 Anthias 2002, 492.
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Hier treten nun allerdings wissenschaftliche Konzepte und alltagsweltliche Konzepte von Identität deutlich auseinander. Während im rezenten wissenschaftlichen Diskurs weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass Identität nicht als essentialistisch verstanden werden kann, stellen sich im Common Sense Identität und identitäre Praktiken deutlich anders dar. Dies gilt für personale und vielmehr noch für kultur-nationale Identitäten. Krappmann führt dazu aus: »Die – sicherlich durch Fachausdrücke verfremdete – Alltagsprache, auf die die Darstellung angewiesen ist, neigt zudem dazu, statische Vorstellungen zu suggerieren, selbst wo dynamische Strukturen gemeint sind. Sie legt ein personifiziertes Verständnis nahe, wo sie auf ein komplexes Geflecht von Interdependenzen hinweisen sollte.«109
Sind also die Erzählungen der Migrant_innen ohnehin nur naturalisierende und allegorisierende Erzählungen, die man als zwangsläufig ideologisch abhaken kann? Warum sollen wir uns für ideologische, naturalisierende und essentialisierende Erzählungen interessieren? Floya Anthias formuliert eine Antwort so: »Subjects, for example, often use essentialized versions of identity of which their researchers are sceptical. We must ask what does the actual concept, for analytical purposes, enable or alternatively what does it disable?«110 In der hier bevorzugten praxeologischen bzw. sozialkonstruktivistischen Perspektive ist die Antwort noch konkreter, sie lautet schlicht: Die ideologischen, weil naturalisierenden, essentialisierenden Erzählungen interessieren uns deshalb, weil sie – genauso ideologisch, wie sie sind – das Handeln der Akteur_innen anleiten, weil sie handlungsleitend sind und somit die soziale Welt miterzeugen.
7.2 IDENTITÄT(-EN) IN DEN ERZÄHLUNGEN 7.2.1 Kultur-nationale Identität in bewusster Reflexion Kultur-nationale Identität, Zugehörigkeit und Anerkennung ist für die interviewten Migrant_innen immer wieder auch Gegenstand ihrer bewussten Reflexion und Argumentation. Zahlreiche Geschichten, Berichte und Beschreibungen werden im autobiographischen Erzählprozess ausgewählt, weil sie dem Erzähler/der Erzählerin eine Antwort auf diese Fragen zu geben scheinen. Während einige wenige sogar wissenschaftlich oder philosophisch argumentieren, thematisieren andere Gesprächs-
109 Krappmann 2010, 10. Vgl. auch Keupp 2008, 201 f., der ebenfalls feststellt, dass Identität in unserer Kultur monologisch gedeutet wird. 110 Anthias 2002, 493.
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partner_innen die Frage der Identität auf Basis der Beobachtung und Interpretation eigener Erlebnisse und Empfindungen in Situationen, die ihnen für die Frage der Identität relevant (weil problematisch, schwierig, oder erhellend) erscheinen. Der aus Norwegen zugewanderte Erik beispielsweise ›philosophiert‹ über das Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit und die damit verbundene Frage nach Identität. Er kennt offenbar sogar die Werke Benedikt Andersons, eines der bekanntesten Theoretiker zum Thema nationale Zugehörigkeit: »Zugehörigkeit hängt ja eng mit der Identität zusammen. Das ist ja auch was Anderson schon damals erkannt hat, unter dem Identität schaffen durch Zugehörigkeit zu einer Nation. Das ist eigentlich Bestandteil des Menschseins, dass man den Hang dazu hat. Wäre ja verständlich, evolutionstechnisch gesehen, wenn wir davon ausgehen, dass wir in Stämmen gelebt haben und dass es uns einen Überlebensvorteil gebracht hat, die Gruppenzugehörigkeit. Ich mag=s gar nicht. Ich bin nur ungern zugehörig, sei es in einer lokalen Partei oder im Fußballverein, oder das Land, was aber natürlich Identitätsschwierigkeiten mit sich bringt. Man definiert sich leichter als Mensch, wenn man sagt, ›ich bin Österreicher‹ oder ›ich bin Wiener‹ oder ›ich bin Rapidfan‹ oder meinetwegen ›ich bin Musiker‹ oder so, oder wie auch immer. Oder Subkulturen sind ja heutzutage sehr beliebt, wenn es darum geht, sich irgendwie zu definieren. Wenn man ohne dem lebt, das tut man vielleicht eh nie ganz, dann wird=s schwer. Oder vielleicht doch nicht schwer, weil man oft Länder wechselt und so.«
An dieser Passage wird zunächst deutlich, dass Erik sich theoretisch mit dem Thema kultur-nationaler Identität auseinandergesetzt und offenbar das Standardwerk von Anderson gelesen hat. Ob er das im Zuge seines Studiums oder aus privatem Interesse getan hat, bleibt offen. Während er einerseits das Bedürfnis nach Zugehörigkeit als menschliches Grundbedürfnis rational anerkennt, distanziert er sich zugleich emotional davon. Dass das nur bedingt möglich ist und er, wie jeder andere auch, einem kollektiven Unbewussten unterworfen ist, ist ihm klar, er hätte es aber gerne anders. Das von ihm gewünschte Selbstbild (sein imaginäres Ich-Ideal) ist inkongruent mit der vorfindbaren Realität. So weiß er, dass ein ›Leben ohne Gruppenzugehörigkeit‹ kaum möglich ist, fügt aber hinzu, dass er lieber ohne eine solche Gruppenzugehörigkeit auskäme. Welche alternativen Strategien wählt oder findet er, um angesichts dieser Differenz von gefühltem Wunsch und vernünftig begriffener Realität dennoch eine personale Identität und vielleicht sogar einen kultur-nationalen Anteil an seiner Identität zu bestimmen? Offenbar stellt für ihn die erwünschte Nicht-Zugehörigkeit zu einem sozialen Kollektiv den identitätsstiftenden Bezugshorizont bzw. eine seiner Orientierungsfiguren dar. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist aber ein Leben, das ohne Zugehörigkeiten auskommt, praktisch undenkbar, da es einem sol-
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chen Leben an Anerkennung durch Andere fehlt. Der Versuch, sich im autobiographischen Narrativ als ganz unabhängig von der Zugehörigkeit zu Gruppen darzustellen, könnte also ein ideologisches Konstrukt sein, das die sehr wohl im Alltag konsumierte Anerkennung von Angehörigen, Freunden oder Anderen leugnet. Der Nachsatz »Oder vielleicht doch nicht schwer, weil man oft Länder wechselt und so« weist uns auf eine mögliche (freilich hypothetische) Erklärung hin: Der durch Migration und seine spezielle Biographie (sein Vater ist Österreicher, seine Mutter Norwegerin, siehe Kap. 2.2.1) verursachte Mangel an Zugehörigkeit soll klein gehalten werden, um diese nicht als einen subjektiv zu hohen Preis verrechnen zu müssen. Eriks Identitätsstrategie könnte also ein intelligenter, aber nicht unbedingt glückender, rationalisierender Schutzmechanismus sein, der ihn in dem sich selbst abverlangten Maß disponibel und mobil macht, ihn vielleicht auch davor bewahren soll, Einsamkeit zu spüren oder eine geringe Zugehörigkeit zu Menschen am jeweiligen Lebensort beklagen zu müssen. Ähnlich rational und intellektuell und zugleich doch in einer Naturmetapher für das, was im wissenschaftlichen Diskurs Akkulturation genannt wird (s.o.), spricht der aus Dänemark stammende Tobias, ein heute pensionierter Angestellter der UNO, über Identität. Schon in den ersten beiden Sätzen der folgenden Sequenz widerspricht er sich. Er habe noch nie über Identität nachgedacht, erzählt aber von seinen Überlegungen dazu. Und er will nicht ›philosophieren‹ (was hier meint, über Möglichkeiten der Erkenntnis nachzudenken) und philosophiert doch. Möglicherweise fühlt oder ahnt er Widersprüche zwischen seinem Denken und seinem Fühlen und formuliert deshalb paradox: »Ja, ahm ((räuspert sich)), ich habe nie Identitätsprobleme oder -überlegungen gehabt. Schauen Sie, ich möchte nicht philosophisch werden, aber ich denke, man sagt immer / Man vergleicht immer ein Menschenleben mit einem Baum, mit der Baumrinde. Aber der Baum wächst ja von außen. Ich glaube, man ist vielleicht eher eine Zwiebel, die Zwiebel wächst von innen. - Und ich weiß nicht, man kann vielleicht beide Sinnbilder verwenden, aber es gibt immer einen Kern. Es gibt ja einen Anfang und es ist für mich undenkbar, dass man das rauslöst, wegschmeißt, entfernt. Wozu? Aber man muss das akzeptieren, was hinzugefügt wird. Und das formt dann die jetzige Persönlichkeit oder Person, das ist das Alte mit dem Neuen, mit der Veränderung.«
Diese Zwiebel- und die Baummetaphern kommen nicht von ungefähr. Sie bestätigen die Neigung zur Naturalisierung des Lebens und betreffen auch genau jene Identitätsprozesse, die in den wissenschaftlichen Theorien und Definitionen als lebenslang, kontingent, interaktiv und dynamisch bezeichnet werden. Die manifeste Aussage des Sprechers ist es angesichts dessen, dass ihm das ›Wachstum‹ (von innen nach außen) im Prozess der Migration nie eine Schwierigkeit (»ein Problem«) gewesen sei.
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Interessant ist auch die in der folgenden Sequenz argumentierte Einsicht, dass vom Menschen im Alltagsleben erwartet oder gar verlangt wird, für andere erkennbar und berechenbar zu sein. (In diesem Punkt stimmt die Alltagstheorie von Tobias mit der sozialpsychologischen Grundidee George H. Meads überein.) Damit, dass seine kultur-nationale Identität nicht ›feststehe‹, habe er selbst kein Problem. Eher sei es ein Problem für die Anderen, dass sie nicht wissen, mit welcher Person sie es (unter der Annahme einer unbezweifelbaren, weil natürlichen Identität der Person) zu tun haben: »Und damit hab ich eigentlich nie ein Problem gehabt. Eher sind es die Anderen, die einen nicht so leicht einstufen können. Weil ich bin ja nicht nur Däne. Ich bin ja auch kein Österreicher, hören Sie schon. Amerikaner, nun ja, die Amerikaner haben immer gesagt, ich spreche sehr gut amerikanisches Englisch. Das denke ich auch, aber sie sagen, ›Du hast einen dänischen Akzent‹. Als ich dann nach Dänemark kam auf Besuch, haben sie gesagt, ›Wir glauben, du hast einen amerikanischen Akzent erworben‹. Ja und so geht das.«
Tobias’ Empfinden, »nie ein Problem« mit multiplen Zugehörigkeiten und seinen »Identitätsschichten«, wie er es nennt, gehabt zu haben, scheint zu seinem international orientierten Berufsleben zu passen. Als Angestellter der UNO bewegt er sich stets in einem plurikulturellen Umfeld von Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind. Transkulturalität ist in diesem sozialkulturellen Milieu der Normalzustand. Zudem ist die berufliche Karriere der primäre Orientierungsrahmen seines Lebens, was anscheinend dazu führt, dass Tobias ein mögliches Bedürfnis nach einer ›einfachen‹ kultur-nationalen Identität und Zugehörigkeit wenigstens bis zu einem gewissen Grad durch eine multiple Identität substituiert. Interessant an dieser Passage ist außerdem, dass Tobias den Aspekt der Fremdwahrnehmung anspricht, also die Frage, wie er von Anderen gesehen wird und was ihm diese Anderen zurückmelden. (Diese zurückgemeldeten »Me«, in der Terminologie Meads, muss er zu seinem »Self« integrieren.) Die enorme Bedeutung der Sprache als Indikator für Zugehörigkeit und Identität im Kontext der Wahrnehmung und Verortung durch Andere wird hier von Tobias sehr schön veranschaulicht. Seine Migrationsbiographie und die in ihr ›aufgeschichteten‹ multiplen Zugehörigkeiten manifestieren sich zu allererst in seiner Sprache. Durch seinen für andere nicht klar zuordenbaren Akzent im Dänischen, Englischen und im Deutschen ist es für andere schwer ihn hinsichtlich seiner Herkunft ›zu verorten‹. Im Unterschied zu den wissenschaftlichen und philosophischen Argumentationen von Erik und Tobias bezieht sich die aus Norwegen nach Österreich übersiedelte Mia, die ebenfalls explizit über Identität spricht, weniger auf wissenschaftliche Konzepte als vielmehr auf die Interpretation ihrer eigenen Erfahrungen und Empfindungen:
362 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Also das mit Identität und / Und es ist so, ich bin Norweger. Es hilft einem ja auch im Alltag, manchmal da ein bisschen festzuhalten daran. Und ich habe es sicher früher oft gedacht, also wenn diese Erinnerungen kommen, das war sicher eine große Komponente, dass ich ganz einfach komisch bin. Ja, sicher bin ich anders in viele Dinge. Und das ist kein gutes Gefühl. Ja, es ist kein gutes Gefühl. Das muss man halt lernen als Ausländer, das zu / Damit umzugehen, das zu akzeptieren. Und da für sich dann zu definieren, dass man Norwegerin ist und anders sein darf. Und das es nicht unbedingt daran liegt, dass man selbst verrückt ist oder blöd ist, oder was auch immer man von negativen Stichworten man dazu finden kann.«
Wie die Sequenz zeigt, hat sich auch Mia im Zuge ihrer Migration bewusst mit ihrer Identität auseinandergesetzt und letztlich eine für sie ›passende‹ Identitätsstrategie gefunden. Die Passage verdeutlicht auch, dass kultur-nationale und personale Identität im Selbsterleben und Selbstempfinden der Migrantin nicht voneinander zu trennen sind. Jede Kommunikation und jede Interpretation, die sich im Bezugsrahmen der ›nationalen‹ Kultur ereignet, ist nicht nur situativ, sondern auch nur von einem bestimmten Stand- und Sehepunkt aus möglich, der wieder der (allerdings nie unveränderlichen) personalen Identität zu verdanken ist. Mia beschreibt hier einen Identitäts(-findungs-)prozess, in dessen Verlauf sich ihre Gefühle, und in der Folge auch ihre Deutungsmuster verändert haben. Empfand sie zunächst (in einer ersten Migrationsphase) ihre ›Andersartigkeit‹ (d.h. andere Verhaltensmuster, andere Erwartungshaltungen, andere Wahrnehmungsschemata und Interaktionsmuster als jene der ›ortsansässigen‹ Bevölkerung) als negativ und als ihr persönliches ›Manko‹, deutet sie dies heute als durch ihre kultur-nationale Identität bedingt. Diese so erklärte ›Andersartigkeit‹ anzunehmen und sich zu gestatten, ist eine von ihr in Folge der ersten unangenehmen Erfahrungen entwickelte Identitätsstrategie. Diese hilft ihr, ein positives Selbstbild zu konstruieren und mehr (Handlungs-)Sicherheit im Alltag zu erlangen. Damit beschreibt Mia eindrücklich eine mögliche ›Funktion‹ kultur-nationaler Identität, die sich ähnlich auch aus Erzählungen anderer Migrant_innen rekonstruieren lässt: Kultur-nationale Identität wird zu einer Stütze, einem Hilfsmittel in der Bewältigung des (alltäglichen) Lebens der Migrant_innen, die allerlei Brucherfahrungen verarbeiten müssen. Allerdings befreit diese Strategie Mia nicht davon, sich weder in Norwegen noch in Österreich ›ganz‹ zuhause zu fühlen: »Vielleicht bezeichnet es mich am meisten, dass ich halt doch dazwischen bin. Bin ja auch nicht mehr Norweger. Ich erleb ja nicht, was die Norweger erleben und werde geformt dadurch. Wenn ich dorthin komme, hab ich eine andere Perspektive auf Norweger. Und hierher nehme ich das Norwegische mit, was ich von meiner Erziehung und von zuhause mitbekommen habe. Ja, dazwischen eigentlich. Und ich versuch halt, alles zu integrieren oder halt kombinieren zu können.«
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Das sich »dazwischen« Fühlen oder »einen Zwischenraum bewohnen« wurde u.a. von Homi K. Bhabha für Migrant_innen aus dem globalen Süden auf den Begriff gebracht.111 Dieser Aspekt derart multipler Zugehörigkeiten und Identitäten kann auch in den vorliegenden Erzählungen beobachtet werden. Der Fall von Mia ist eines von mehreren Beispielen dafür. Obgleich unterschiedlich lange schon mit der österreichischen bzw. Wiener Gesellschaft und Kultur vertraut, nehmen sich die Immigrant_innen in ähnlich starker Ausprägung, manchmal sogar noch stärker, als Norweger bzw. Norwegerin, als Däne und Dänin, als Deutsche oder Spanier und Spanierinnen (bzw. als Andalusier, Katalanen oder Madrilenen etc.) wahr, definieren sich also über die kultur-nationalen Identitäten, die sie bis zur Emigration aufgebaut haben. Im Zuge von Besuchen im Herkunftsland erleben und interpretieren sie jedoch, dass sie durch die Migration nicht mehr auf eine ›selbstverständliche‹ Weise der Gesellschaft und Kultur ihres Herkunftslandes angehören. Sie empfinden das als eine Art ›Fremdgewordensein‹ des ehedem Vertrauten. Begründet ist dies wohl darin, dass die Enkulturation in der Herkunftskultur noch weiter wirksam ist, gewissermaßen das kulturelle Gepäck ist, mit dem man auf die Reise geht. Doch ab dem Abschied und der ersten Migrationsphase werden neue und andere Erfahrungen gemacht, die die Selbstwahrnehmung und im Lauf der Zeit auch den Habitus112 der Person verändern. Zugleich findet eine weitere, kontinuierliche Formung und Entwicklung der kultur-nationalen Identität im Herkunftsland nicht mehr statt, da die kurzen ›Heimatbesuche‹ und ›Heimaturlaube‹ in der Regel dafür nicht ausreichen. Häufig werden auch in diesem Zusammenhang Metaphern im autobiographischen Narrativ eingesetzt, um dies besprechbar und verhandelbar zu machen. Der bereits zitierte Erik beschreibt diesen Identitätsprozess u.a. mit Metaphern wie »heimatlos« und »Fuß fassen«, die einem älteren nationalisierenden, teilweise auch patriotischen Diskurs des 19. Jahrhunderts angehören: »Irgendwann fühlt man sich dann schon ein bisschen heimatlos. Es gibt schon ne Phase, wo man vielleicht noch nicht im neuen Land Fuß gefasst hat, einem aber bereits bewusst wird, vielleicht anhand von einer Reise nachhause, dass man dort auch nicht mehr zuhause ist. Weil einfach zum Beispiel nach fünf, sechs Jahren, die Heimat verändert sich. Das ist dann nicht mehr / Die Leute, die man damals gekannt hat, sind nicht mehr dort, oder sind anders oder sind – noch schlimmer – noch immer die gleichen. ((Lachen)) Man hat nicht mehr die letzten Sendungen im Fernsehen gesehen oder weiß nicht, was an der Tagesordnung ist, wer gerade berühmt ist und welche Witze gerade in sind. Solche Sachen. Und gleichzeitig hat man eben noch nicht sich eingelebt im neuen Land.«
111 Vgl. dazu Bhabha 2000, 10 ff. 112 Vgl. z.B. Edensor 2002, 94 ff.
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Der Wunsch oder das identitätsstrategische Ziel des Migranten/der Migrantin ist in dieser Phase offenbar die Herstellung einer Kongruenz multipler Zugehörigkeiten und Identitäten oder Teilidentitäten.113 Zugleich zeigt sich in der eben zitierten Sequenz deutlich der situative und interaktive (kommunikative) Charakter der fortlaufenden Herstellung von personaler und kultur-nationaler Identität. Die folgende Aussage von Mia exemplifiziert eine Beobachtung, die ich an einer Reihe von Interviewtexten gemacht habe: Vor allem in emotionalen Situationen wird häufig auf die kultur-nationale Identität Bezug genommen, was vielleicht so verstanden werden kann, dass solche Situationen die Erinnerung an in der Kindheit Erlebtes oder an biographisch ältere Erfahrungen triggern: »Und vielleicht, wenn ich wütend bin, denke ich, ›ich als Norwegerin würde das nie tun. Entschuldige!‹«
Ein situativer Rückgriff auf kultur-nationale Identitäten wird aber auch in Form von Fremdpositionierungen beschrieben. Einige Einwander_innen aus Deutschland beschreiben so etwa Situationen, in denen ihre kultur-nationale Identität von anderen als ›Angriffsfläche‹ gewählt wird. So werden deutsche Einwander_innen in Österreich beispielsweise als »Piefke« beschimpft, dies geschieht zum einen in emotional stark aufgeputschten Szenen wie etwa während eines Fußballspiels, aber auch dann, wenn die Emotion des Aggressors in keiner erkennbaren Weise mit Deutschland zu tun hat. (Siehe Kap. 4.5.4) Auch die von Spanien nach Österreich ausgewanderte Marta spricht im Interview ausdrücklich von und über Identität: »Aber momentan, dass ich aus Spanien bin ist sogar ein Vorteil. Weil ich weiß nicht, du hast eine eigene Identität, dein eigenes Temperament. Ich sehe das als ein sehr schönes Gleichgewicht; mein spanisches Temperament, sag ma so, meinen Charakter von dort, von diese Lebendigkeit und diese auch Stärke, integriert in diese andere Welt was Wien ist.«
Diese Sequenz verdeutlicht zunächst erneut die enge Verwobenheit und gegenseitige Bedingtheit personaler und kultur-nationaler Identität. Marta deutet ihre Sozialisation in Spanien als prägend für ihren »Charakter«, und damit für ihre Identität. Dadurch unterscheidet sie sich, so ihre Wahrnehmung, von in Österreich sozialisier113 Vgl. Minna-Kristiina Ruokonen-Engler zum Konzept der »transnationalen Positionierung«: »Das Konzept der ›transnationalen Positionierung‹ überwindet die bipolare Zeichnung von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit und erkennt stattdessen die Ambivalenz, Zeitlichkeit und Vielfältigkeit der Zugehörigkeitskonstruktionen an.« Ruokonen-Engler 2012, 347.
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ten Interaktionspartner_innen. Im Gegensatz zu Mia empfindet sie diese Andersartigkeit, nicht als belastend, sondern als positiv. Sie ›spielt‹ sogar gerne mit dieser Differenz und dem Erstaunen, das sie bei manchen anderen auslöst: »In Kombination mit meinem spanischen Charakter bringt etwas heraus, dass es sehr lustig ist, immer. Ich bringe die Leute immer aus dem Konzept, was mich immer sehr lustig macht.«
Es macht ihr offenbar Spaß, andere Leute in der Frage zu verunsichern, wer sie ist. Wahrscheinlich macht dies deshalb Spaß, weil es auch bedeutet, dass dieselben Anderen Interesse an ihr (und an der Frage, ob sie kulturell einfach oder zweifach ›zugehörig ist‹) haben und sie dennoch als Immigrantin anerkannt (respektiert, willkommen geheißen) wird. Hier zeigt sich deutlich, dass die These Krappmanns, Identität sei antizipierte Erwartung der Anderen, wie auch die eigene Antwort des Individuums,114 sehr plausibel ist. Für Theresa, 1981 aus Deutschland nach Österreich gekommen, ist die Suche, ja die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und die Frage nach Identität ein zentrales Lebensthema, das sie in ihrer Erzählung auch explizit reflektiert. Ihr Fall stellt ein besonders anschauliches Beispiel für den Konnex zwischen Fremd- und Selbstpositionierung dar. Als in Deutschland geborene und aufgewachsene Tochter einer aus Ungarn stammenden Mutter und eines aus Griechenland stammenden Vaters, fühlte sich Theresa in ihrer Kindheit und Jugend nie als ›wirkliche Deutsche‹. Diese kulturnationale Zugehörigkeit wurde ihr, ihrem Empfinden nach, verwehrt: sie war stets ein »Ausländerkind«. Erst nach ihrer Einwanderung in Österreich wurde sie, aufgrund ihrer Sprache und ihrem Geburtsland zur »Deutschen«. »Weil meine beiden Eltern keine Deutschen sind, war ich in Deutschland immer ein Ausländerkind. Und ich bin eigentlich erst zur Deutschen in Anführungsstrichen mutiert, seit ich in Österreich bin.«
In diesem Kontext beschreibt Theresa aber auch erhebliche Schwierigkeiten der »Identitätsfindung«. Die identitäre Selbstbeschreibung stimmt in diesem Fall nicht mit der zugeschriebenen Identität überein. Einer Ausgrenzung durch »die Deutschen« als »Ausländerkind« folgt in Österreich die Ablehnung bedingt durch die Zuschreibung, »eine Deutsche« zu sein: »Was natürlich früher für mich ganz problematisch war, also mit Identitätsfindung und so. Also ich war halt Anfang zwanzig, als ich nach Österreich kam. Da war=s dann einiger-
114 Vgl. dazu Krappmann 2010, 32 ff.
366 | »Auch wir sind Migrant_innen « maßen stabil, also Ausländerkind, das war so meine Identität damals. Und als ich nach Österreich kam und dann auf einmal Deutsche war, das war ganz schwierig für mich, ja. Also weil, ich sag jetzt mal, Deutsche für mich damals auch so ein Feindbild gewesen sind, weil die mich ja nicht mochten. Also ich war ja sozusagen ein Ausländerkind. Also ich hab sozusagen unter den Deutschen auch gelitten, und das war halt so eine perverse Situation, in Österreich dann plötzlich Deutsche zu sein. Ja, ich hab mir diesen Schuh nie wirklich angezogen.«
Nicht nur wird Theresa mit einem Mal einem sozialen Kollektiv zugerechnet, unter dessen Ablehnung sie als Kind wohl sehr gelitten hat. Aufgrund der ihr zugeschriebenen Identität wird sie nun auch in Österreich mit Ablehnung konfrontiert: »Also du wirst sowieso immer des Platzes verwiesen, du gehörst sowieso nicht hierher.«
Theresa stellt diesen schwierigen, ja leidvollen Prozess der Identitätsfindung und der Suche nach einer eindeutigen kultur-nationalen Identität qua Zugehörigkeit und Anerkennung als mittlerweile weitgehend abgeschlossen dar. Abgeschlossen bedeutet aber nicht, dass sie das Thema von der Agenda ihres Lebens genommen hätte. Es heißt: eine hybride kultur-nationale Identität115 anzunehmen, in der ihre Biographie entsprechenden Ausdruck findet: »Und jetzt bin ich schon dreißig Jahre hier ((lacht kurz auf)) und bin mittlerweile halt eine Deutsche mit, ich sag jetzt mal mit slawischen und südeuropäischen Wurzeln.«
Explizite Verweise auf kultur-nationale Zugehörigkeiten finden sich in den vorliegenden Erzähltexten auch in Form von Selbstpositionierungen.116 Die aus Dänemark nach Österreich übersiedelte Caroline etwa bezeichnet sich wiederholt als »Dänin«: »Weil wenn wir Dänen zusammenkommen, müssen wir uns ja ein bisschen aussprechen. [...] Und das ist für eine Dänin, auch damals, sehr schwierig. [...] Ich bin Däne, wir reden offen. Wir tun nicht als ob, meistens.«
115 Zum Konzept der hybriden Identität vgl. besonders Bhabha 2000, 7 ff.; Homi K. Bhabha, Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. (Wien/Berlin 2012). 116 Vgl. z.B. Wolfgang Kraus, Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität. In: Renn/Straub 2002, 159-187; 180 ff. Zur Positionierungstheorie vgl. Roswitha Breckner, Ambivalente Wir-Bezüge in ost-west-europäischen Migrationsbiographien. Konstruktionen kollektiver Zugehörigkeit in gesellschaftlichen Polarisierungsprozessen. In: Sozialer Sinn 1 (2005), 71-92; bes. 71.
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Die aus Spanien nach Österreich eingewanderte Lucía hingegen spricht von ihren »beiden« kultur-nationalen Identitäten, von denen sie keine vorziehen oder der Anderen nachordnen will. Sie hat sich also in einer hybriden Identität eingerichtet. Das heißt aber nicht, dass beide Identitäten stets gleich präsent, bewusst und wirksam wären. Wenn eine der beiden Identitäten stärker hervortritt, hängt das wohl davon ab, wo sie mit wem kommuniziert, wem sie eben begegnet oder was ihr eben widerfährt. Wenn sie aber von jemandem gefragt wird, wer sie im Allgemeinen (und nicht in einer je speziellen Situation) sei, antwortet sie wahrheitsgemäß, sie habe »beide« Identitäten: »Ich habe mich so gut anpassen können und ich sage immer, ich habe nicht meine Nationalität verloren sondern ich habe eines noch dazu gewonnen, nicht. Und ich fühle mich als Spanierin und Österreicherin. Und wenn Sie mich fragen, sage ich beide.«
Allerdings ist zu bedenken, dass Lucía schon in den 1960er Jahren nach Österreich kam, sodass seither fast fünfzig Jahre vergangen sind. In der Erzählung bleibt offen, wie lange es dauerte, bis sie diese ›Balance‹ zwischen zwei kultur-nationalen Identitäten bzw. diese hybride Identität herstellen konnte. Olivia formuliert eine kultur-nationale Typisierung von sich selbst, in der nur der Gebrauch des Konjunktivs anzeigt, dass sie zwar einer »Österreicherin« zum Verwechseln ähnlich sei, was aber, wie sie am besten weiß, doch eine Verwechslung sei. Dennoch lebe sie unauffällig, was wohl meint, dass ihre Migrationsgeschichte von vielen anderen, die sie nicht näher kennen, gar nicht wahrgenommen wird. Das zweimal verwendete Wort »normal« weist auf die wahrscheinlich unbewusste Deutung hin, dass das Häufige auch das normativ Richtige ist: »Ich lebe ganz normal, ich glaube, als wäre ich eine ganz normale Österreicherin.«
Olivia lebt zwar so, als »wäre« sie eine »normale« Österreicherin (eine freundliche Stereotype), kann das aber aus biographischen Gründen (ihrer Herkunft, Geschichte und Migration zufolge) nicht sein. Die Identitätsstrategie, diesen Widerspruch aufzulösen, ist auch in diesem Fall die soziale Konstruktion einer hybriden kulturnationalen Identität. Jedoch können wir hinzufügen, dass immer dann, wenn ihre ›spanische Identität‹ ganz unbemerkt bleibt, ihre Selbstkonstruktion nicht funktioniert. Dann wird sie doch für eine Person mit nur einer (nämlich »österreichischen«) kultur-nationalen Identität gehalten. Es ist anzunehmen, dass dies in der Regel ohne aggressive Zurückweisung ihres Anspruchs auf eine österreichische Teilidentität vor sich geht, sodass sie diesen Anspruch aus solchen Verwechslungen auch nicht aufgeben muss. Denkbar ist aber auch, dass die ›Verwechslung‹ häufig weniger eine tatsächliche Fehlinterpretation als vielmehr ein freundliches Kompli-
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ment ist, das ihr mitteilen soll, wie sehr es ihr sehr gut gelungen ist, sich in Österreich zu integrieren. Anders als Migrant_innen aus Skandinavien und Spanien konstruieren aus Deutschland Zugewanderte selten derart explizit eine hybride Identität, der zufolge sie wechselweise und situativ einmal eher »Österreicher_in« und dann wieder eher »Deutscher/Deutsche« sind. Lisa konstruiert beispielsweise implizit zwar eine zweifache Zugehörigkeit. Doch für sie liegt der Schlüssel zu einem zufriedenen Leben als Migrantin in der Balance zwischen Adaption und Integration sowie dem Erhalt ihrer kulturnationalen Identität als »Deutsche« bei ausdrücklicher Bereitschaft, sich in Österreich zu integrieren, was allerdings je nach Situation unterschiedlich »schwer« sei. »Ich hab dann versucht, mich einfach auch zu integrieren. Manchmal ist es einfacher, manchmal ist es schwerer. Ich denke einfach, die Unterschiede werden immer bleiben. Und ich werd immer irgendwo Deutsche bleiben, das bin ich ja. Und werd immer meine, meine deutschen Merkmale auch haben. [...] Das muss man sich halt irgendwo auch bewahren und man muss sich halt irgendwo auch, sag ich mal, anpassen, das ist es. Man soll nicht seine Identität aufgeben, nicht seine Nationalität, das sag ich überhaupt nicht, aber man kann sich ein bissl anpassen. Man kann=s ja einfach mal versuchen.«
Wenn Lisa sagt, »Man soll nicht seine Identität aufgeben«, drückt sie unausgesprochen die Ansicht aus, dass man eine neue (kultur-nationale) Identität nicht annehmen könne, ohne die alte aufzugeben. Ihre Identitätsstrategie zielt folglich auf den Erhalt und die fortgesetzte, mit Arbeit verbundene Pflege der »deutschen« Identität und zugleich die bestmögliche Integration in Österreich, was jedoch von ihr nicht als der Erwerb einer vollwertigen »österreichischen« Identität angesehen wird. Bei jenen Migrant_innen, die, je nach dem Zeitpunkt der Zuwanderung, aus der ehemaligen DDR oder schon aus den ›neuen Bundesländern‹ nach Österreich eingewandert sind, fällt ein gemeinsames Identifikationsmuster auf, das auch bereits im Zuge der Diskussion zu Stereotypen und Vorurteilen angesprochen wurde: Sie positionieren sich sehr deutlich und klar als »Ostdeutsche« und distanzieren sich damit explizit von den »Westdeutschen«. »Ich als Ostdeutscher empfinde, dass Westdeutsche manchmal ein bisschen selbstgefälliger sind.« (Sven) »Also ich bin eher ein sehr sparsamer Mensch, das liegt aber nicht daran weil ich aus Deutschland komme, sondern weil ich aus Ostdeutschland komme.« (Michael)
Für »Ostdeutsche« ist demnach offenbar eine Enkulturation in Ostdeutschland sowohl in den Jahren des ›realsozialistischen‹ Regimes, als auch nach der ›Wende‹
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identitätsstiftend. Es ist den Erzähler_innen durchaus bewusst, dass sich diese Identitätsstiftung im Wechselspiel von Selbstpositionierung und Fremdzuschreibung vollzieht. Die Abgrenzung von den »Westdeutschen« ist gewissermaßen die Spiegelung der Abgrenzung von den »Ostdeutschen«. Oder noch einfacher gesagt: Wer einen ausgrenzt, von dem grenzt man sich ab. Dem kritischen Binnenverhältnis zwischen den Bürger_innen der ›alten‹ und der ›neuen‹ Bundesländer (um den Sprachgebrauch des politischen Integrationsdiskurses zu übernehmen) kommt in den Erzählungen weitaus größere Bedeutung zu als dem Verhältnis west- und ostdeutscher Einwanderer in Österreich gegenüber »Österreichern« und der Unterscheidung von ihnen. 7.2.2 Kultur-nationale Identität und Staatsbürgerschaft Explizite und implizite Referenzen auf kultur-nationale Identität(-en) finden sich in den Erzählungen aller untersuchten Migrant_innengruppen auch im Hinblick auf die Staatsbürgerschaft, die fast immer in Zusammenhang mit kultur-nationaler Identität gebracht wird. Einige Gesprächspartner_innen deuten Staatsbürgerschaft nicht nur als formalen und symbolhaften Ausdruck der strukturellen Integration (man arbeitet und zahlt Steuern und darf sich deshalb zu Recht als Bürger_in des Staates verstehen), sondern als emotional konnotierten Ausdruck einer bestimmten, erworbenen kultur-nationalen Identität. Die aus Finnland zugewanderte Sara argumentiert dies folgendermaßen: »Weil ich bin ja nach wie vor Finnin und hab jetzt eigentlich nicht wirklich vor, dass ich mich jetzt sozusagen um die österreichische Staatsbürgerschaft groß kümmern möchte. Also das ist schon immer wieder so ein Thema, das halt auch immer so kommt in Gesprächen, ja, ob ich jetzt Österreicherin bin, oder wie auch immer. Und da merk ich schon, es ist für mich auch ganz wichtig eigentlich, dass ich das nicht bin. ((Lachen)) Also das merk ich, also das ist schon / Schon der Gedanke dran, dass ich jetzt sozusagen die finnische Staatsbürgerschaft aufgebe. Also das kommt mir irgendwie so ein bissl so einem Verrat gleich. Also irgendwie das sind meine Wurzeln, das ist meine Geschichte und die hab ich mitgenommen. Und ich bin Finnin und das werd ich auch bleiben. Ich mein, da würd wahrscheinlich jetzt auch die Staatsbürgerschaft nicht groß was dran ändern. Aber es ist irgendwie so eine emotionale Geschichte, wo ich mir denk, das ist wichtig!«
Interessant ist, dass Sara ihre Argumentation mit der an sie häufig gestellten Frage beginnt, ob sie denn »jetzt Österreicherin« sei. In dem scheinbar unwichtigen Wort »jetzt« steckt die nicht ausformulierte Aussage, »jetzt, wo du dich so gut in Österreich integriert hast [...]«. Sowohl inhaltlich als auch sprachlich verweist die Sequenz auf die beinahe selbstverständliche Identifikation von kultur-nationaler Iden-
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tität und Staatsbürgerschaft. Doch für die Mitmenschen stellt sich (vermutlich bedingt durch Saras nahezu perfekte Deutsch, ihr ›unauffälliges‹ Aussehen und ihre Integration in die österreichische Gesellschaft) die Identitätsfrage: »Wer bist du nun?« Eine Frage, die unterstellt, dass man doch schließlich nur eine kulturnationale Identität haben könne. Ob die Verknüpfung der kultur-nationalen Identität mit der Staatsbürgerschaft eher durch fragende Andere nahegelegt wird, oder ob Sara ihre eigene Assoziationskette aufbaut, muss offenbleiben. Es scheint aber unwahrscheinlich, dass sie so argumentieren würde, wäre die Staatsbürgerschaft nicht typischerweise mit der normativen Vorstellung verbunden, ein Staatsbürger/eine Staatsbürgerin der Republik Österreich habe auch im kultur-nationalen Sinn ein Österreicher/eine Österreicherin ›zu sein‹. Wir sehen: Im Alltagsdiskurs wird der symbolische Ausdruck der strukturellen Integration (›Staatsbürgerschaft‹) und der emotionale und identifikatorische Ausdruck der kulturellen Integration zur Bedingung respektive Wirkung des anderen erklärt, was in analytischer Betrachtung keineswegs so normal (oder gar natürlich) ist wie es im Alltag scheinen mag. Weiters argumentiert Sara, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft117 für sie durchaus eine Option wäre. Eine ›österreichische Zugehörigkeit‹ würde sie gar nicht ablehnen. Doch darum geht es nicht, sondern um den Erhalt ihrer finnischen Zugehörigkeit und Identität. Überdies scheint sie keine Möglichkeit gesehen zu haben oder aktuell zu sehen, zu einer solchen sogar von ihr erwünschten Doppelstaatsbürgerschaft zu gelangen. Für die ebenfalls aus Dänemark nach Österreich übersiedelte Tilde hingegen symbolisieren ein dänischer und ein österreichischer Pass die öffentliche Anerkennung ihrer hybriden Identität: »Ich hab zwei gültige EU-Pässe, was manchmal ein bissl Verwirrung hervorruft, aber so fühl ich mich auch. Also ich fühl mich / Ich hätt mich nicht gut gefühlt, wenn ich den dänischen Pass hätt abgeben müssen. Das ist total sentimental, aber so ist es, ja!«
Ähnlich bewerten und begründen auch die aus Dänemark stammende Frida und die aus Spanien zugewanderte Lucía ihre doppelten Staatsbürgerschaften: »Du musst wissen, ich bin auch Österreicherin. Ich hab zwei Staatsbürgerschaften. Was vielleicht auch sehr gut ist für mich, weil da ich bin sowohl Österreicherin wie Dänin.« »Und ich habe damals, komischerweise habe ich ab sofort meine spanische Staatsbürgerschaft verloren und sofort die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Das war
117 Zur dualen Staatsbürgerschaft vgl. z.B. Vertovec 2004, 980 ff.
Identität | 371 damals so. - Und jetzt was ich habe, sage ich nicht weil ((sie deutet ›zwei‹ mit zwei ausgestreckten Fingern der hochgehobenen Hand)).«
Allein die Tatsache, dass sich Lucía entweder um die Wiedererlangung ihrer spanischen Staatsbürgerschaft bemühte oder, was wahrscheinlicher ist, ihren spanischen Pass einfach nicht abgab und ihn wahlweise weiter benutzen kann, zeugt von der hohen symbolischen Bedeutung, die sie den amtlichen Dokumenten beimisst. Auch für sie symbolisieren beide Pässe ihre mehr oder weniger ausbalancierte hybride kultur-nationale Identität. Für Lisa stellt sich die Staatsbürgerschaft ebenfalls als die gültige symbolische Manifestation ihrer kultur-nationalen Identität und der Zugehörigkeit zu ihrer »Heimat« dar. Dies sagt aber nichts über das Maß ihres Wohlbefindens in Österreich aus. Sie ist überaus zufrieden mit ihrem Leben in Österreich und kann sich eine Remigration derzeit nicht vorstellen.
»Wenn man dann wieder so mit seiner Nationalität in Kontakt kommt, ganz kurz nur, das muss nicht lang sein, aber es ist schön. Weil=s so ein bisschen Heimat is. Heimat nicht im negativ behafteten Sinne, sondern vom Herzen her. Weil ich würd auch meine Staatsbürgerschaft nicht aufgeben.«
Deutlich anders äußert sich die aus Spanien nach Österreich zugewanderte Eva zum Thema Staatsbürgerschaft.
»Ich glaube nach fünfzehn Jahren, hab ich gelesen, habe ich die Gelegenheit, Österreicherin zu werden. Sollte ich, da ich den Weg brav gemacht habe. ((Lachen)) Ich habe zwei Kinder, auch österreichische Kinder erzogen, damit sie auch irgendwann Pension zahlen können. ((Lachen)) Also ich bin sehr fleißig. Ich habe brav gearbeitet.«
Zwar setzt auch Eva die Annahme der österreichischen Staatsbürgerschaft mit einer prozessualen kultur-nationalen Identifikation (»Österreicherin zu werden«) gleich. Im Gegensatz zu Sara aber deutet sie dies eher als eine an sie gestellte Erwartung, oder als ein Anrecht, das aus ihren produktiven und reproduktiven Leistungen in Österreich resultiert. Nachdem sie Leistungen für die österreichische Gesellschaft erbracht hat, steht ihr auch der formale Ausweis ihrer Zugehörigkeit zu Gesellschaft und Staat zu. Und möglicherweise erwartet sie die Anerkennung ihrer Leistungen in dieser Form. Gegen eine österreichische Staatsbürgerschaft spricht nur die Möglichkeit einer Remigration nach Spanien, die für Eva aber in absehbarer Zeit aus familiären Gründen nicht realistisch scheint. Höchstens stellt sie eine Möglichkeit in ferner Zukunft dar. Für einige andere Interviewpartner_innen ist die Frage nach der Annahme der österreichischen Staatsbürgerschaft mit rein praktischen Aspekten und mit pragma-
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tischen Argumenten verbunden. Die aus Deutschland eingewanderte Katharina zum Beispiel argumentiert folgendermaßen: »Man kann ja die Staatsbürgerschaft auch beantragen. Und ab und an denk ich schon drüber nach, ob ich das nicht machen sollte. Einfach vor allem wegen des Wahlrechts, was ich dann hätte. Also wenn ich diese Partizipation wirklich nehmen könnte, würde ich mich noch ein Stück mehr integriert fühlen auf jeden Fall, ja. Von daher, also die Nationalität spielt für mich auch keine so große Rolle. Mir geht=s um die Möglichkeiten, die ich als Person habe.«
Wie aus Katharinas gesamter Erzählung hervorgeht, ist eine kultur-nationale Identität als Deutsche für sie kein vorrangiger Bezugshorizont, weswegen ihr auch der Verzicht auf ihre deutsche Staatsbürgerschaft keine (emotionalen) Probleme bereiten würde. Für sie überwiegen pragmatische Argumente und praktische Zwecke im Hinblick auf ihre strukturelle Integration. Auch die aus Dänemark eingewanderte Maja erwähnt ihre Staatsbürgerschaft nur am Rande, ohne sie mit der Frage der kultur-nationalen Identität(-en) in Verbindung zu bringen. Sie hebt die pragmatischen Vorteile der österreichischen Staatsbürgerschaft insbesonders im Umgang mit Ämtern und Behörden ebenfalls hervor: »Aber ich hab die österreichische Staatsbürgerschaft schon gehabt, weil das war mir wichtig, ich hab gewusst, sonst hab ich gegen Windmühlen zu kämpfen.«
7.2.3 ›Übernationale‹ identitätsstiftende Bezugshorizonte Was aber ist mit jenen Gesprächspartner_innen, die aufgrund ihrer Biographie oder aufgrund spezieller Erfahrungen nicht ihr Herkunftsland als identitätsstiftend betrachten? Sie verweisen zumeist entweder auf Europa oder gar auf die Welt als ihren identitätsstiftenden Bezugshorizont, identifizieren sich also mit dem nächstgrößeren Kollektiv. Erik bemerkt dazu, auf sein Gefühl der Heimatlosigkeit Bezug nehmend: »Ich hab jetzt / Konfrontiert mit diesem Gefühl hatte ich vielleicht immer so ein bisschen aus Arroganz heraus die Haltung, ich will ja gar nicht Österreicher oder Norweger sein, ich fühl mich als Europäer. Weltbürger wär natürlich noch cooler, aber das stimmt nicht, ich bin sehr europäisch. Das muss man sich gestehen, irgendwo. Das find ich, nach wie vor bin ich das gerne.«
Bedingt durch seine Biographie, empfindet Erik weder für Norwegen, noch für Österreich ein ausreichend tiefes Gefühl der Zugehörigkeit (s.o.). Um sich aber kultu-
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rell und über eine Sozietät verorten zu können, beschreibt er sich als überzeugten Europäer. Die ebenfalls plurinationale Herkunft der Eltern und eine ähnliche Identitätsstrategie wie bei Erik führen auch Theresa dazu, sich »eher« als Europäerin zu begreifen und zu fühlen: »Also die Tatsache, dass ich halt eine Europäerin bin, würd ich jetzt mal sagen. Ich bin eigentlich gar keine Deutsche so im herkömmlichen Sinn, ich betrachte mich eher als Europäerin.«
Eva, aus Spanien nach Österreich ausgewandert, wiederum wählt den geopolitisch weitesten Bezugsrahmen, der auf dem blauen Planeten zur Auswahl steht: »Und ich fühle mich weder als Spanierin noch Wienerin oder beides zusammen. Wenn ich wieder nach vierzehn Jahren in Spanien leben würde, dann / Ich merke wenn ich auch in Spanien bin auf Urlaub, ich bin auch nicht die Spanierin, die vor vierzehn Jahren das Land verlassen hat. Das ist irgendwie, Wien hat mir viel Positives, was auch immer ((Lachen)), gebracht. Ich würde sagen, Bürgerin der Welt. Also ich sage, ich bin eine Bürgerin der Welt!«
7.2.4 Fremdzuschreibung und Fremdwahrnehmung Explizite wie implizite Referenzen auf kultur-nationale Zugehörigkeit und Identität finden sich in den vorliegenden Erzähltexten auch in Form von Fremdzuschreibung und Fremdwahrnehmung. Wie bereits ausführlich dargestellt (s.o.), ist Identität immer das Resultat eines Zusammenspiels von Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie von Selbst- und Fremdzuschreibung. Der/die Wahrnehmende und Zuschreibende bedient sich zwangsläufig der Typisierung, d.h. er/sie schließt von beobachteten Merkmalen der Person auf einen ihm/ihr bereits bekannten Typus. Aber auch Stereotype und Vorurteile finden sich in den Fremdzuschreibungen und Fremdwahrnehmungen überaus häufig. Die Konstruktion der kultur-nationalen Identität einer Person durch einen Beobachter ist daher stets in hohem Maße ideologisch. (Siehe auch Kap. 3) Inés, aus Spanien nach Österreich zugewandert, berichtet beispielsweise, wie sie sich in Alltagssituationen von Beobachtern typisiert, stereotypisiert, mit Vorurteilen konfrontiert und in einem kultur-nationalen Sinn ›eindeutig‹ verortet findet. Dies hat zwar Einfluss auf Inés’ Selbstwahrnehmung, doch übernimmt sie das ›Fremdurteil‹ keineswegs. Zwischen den Zeilen ist die leicht ironische Distanzierung von den Fremdzuschreibungen zu spüren. Sie weiß, dass diese Fremdzuschreibungen Stereotypen und Vorurteile enthalten.
374 | »Auch wir sind Migrant_innen « »Und dann ich als Spanierin / Naja wenn ich mich vielleicht aus irgendeinem Grund verspätet habe, dann / Ja okay, ›Die Spanierin sieht es locker mit der Zeit!‹ Oder auch mit dem Temperament oder so, wenn man anders spricht oder anders diskutiert, naja ›Die Spanier, ihr seid ja so temperamentvoll‹ oder so.«
Als ein Beleg für den Zusammenhang zwischen einer Fremdzuschreibung und der Selbstbeschreibung kann auch eine Passage aus Saras Erzählung gelesen werden. Es ist eine Sequenz, in der sie erzählt, dass es sie ärgert, wenn sie von anderen für ihr weitgehend fehlerfreies Deutsch bewundert wird. Dieser Bewunderung liegt nämlich, gemäß ihrer Interpreation, die Annahme zugrunde, für sie als ›Ausländerin‹ sei es eine ungewöhnliche Leistung, derart gut Deutsch zu sprechen, womit sie zugleich als ›Fremde‹ und als Immigrantin verortet und positioniert wird. Sara ärgert sich über dieses Lob, weil sie es offenbar für eine verdeckte ›Fremdmachung‹ ihrer Person hält. Migrant_innen aus Deutschland berichten, wie bereits angedeutet, von ›Anfeindungen‹ in Österreich, die sich in relativ gleichförmigen Stereotypen artikulieren. Leo, der sich in einem steirischen Dorf sowohl behördlichen Schikanen als auch mitunter heftigen Auseinandersetzungen an Stammtischen ausgesetzt findet, kann zwar durchaus humorvoll darüber berichten, doch ist zwischen den Worten zu spüren, dass es ihn einige Anstrengung kostet, sich den Fremdzuschreibungen und Vorurteilen auch aktiv zu widersetzen. Mit dem Ausdruck einer Fremdwahrnehmung und Fremdpositionierung ist nicht nur ein Sachurteil gefällt (ein konstativer Sprechakt gesetzt), sondern auch eine Wertung, und nicht selten eine mehr oder minder drastische Abwertung: »Aber es waren schon irgendwo ab und zu so bissl unterschwellige, naja ›der Piefke‹. So dieses Piefke stört mich insofern ein bissl, weil ich sag ja auch nicht ahm / Ich mein zu den Italienern sagt man in Deutschland Spaghettis, net. Ich sag ja zu den Österreichern auch nicht ›ihr Semmeln, Knödlköpfe‹ oder was auch immer. Das war aber vielleicht auch gar nicht mal so bös gemeint von den Leuten, aber es hat mir nicht unbedingt gefallen.«
Mehr oder minder abwertende Stereotype in interaktionellen Prozessen der Fremdpositionierung haben für aus Deutschland kommende Immigrant_innen offenbar besonderes Gewicht. Nicht nur werden sie (für sie selbst oft völlig überraschend) aufgrund ihres Herkunftslandes angefeindet. Gerade diese Migrant_innen, die sich selbst häufig gar nicht oder nur in geringem Maße fremd fühlen, werden von Österreicher_innen als ›Fremde‹ und in beruflichen Zusammenhängen oft auch als lästige Konkurrenten positioniert. (Siehe Kap. 4.5.4)
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7.2.5 Was erzeugt kultur-nationale Identität? Die Perspektive der Migrant_innen Wie schon die bisher durchgeführte Analyse der Erzähltexte gezeigt hat, bestehen deutliche Differenzen zwischen den Auffassungen der Migrant_innen im Hinblick auf die Frage, was eine kultur-nationale Identität konstituiert. Damit soll natürlich keineswegs behauptet werden, dass es für die interviewten Migrant_innen jeweils nur ein konstitutives Element ihrer kultur-nationalen Identität gäbe. Doch lassen sich Unterschiede darin ausmachen, was als primäres Element und was als nachrangiges Element einer solchen Identität wahrgenommen wird. Einige Gesprächspartner_innen begründen ihre kultur-nationale Identität mit der gängigen Metapher der »Wurzeln«, die bereits auf das Bild vom Aufwachsen verweist. Sie betrachten sich also – analytisch gesprochen – in erster Linie als ›das Produkt‹ ihrer Enkulturation und Sozialisation im Herkunftsland, sofern sie dort Kindheit und Jugend oder auch einen Teil ihres Erwachsenenlebens verbracht haben. Beispielhaft dafür kann noch einmal Sara zitiert werden. Sie deutet sich aufgrund ihrer Biographie als Finnin, in deren Verlauf ihre kultur-nationale Identität nach ihrem eigenen Verständnis entstanden und auch künftig unveränderlich sein werde: »Also irgendwie das sind meine Wurzeln, das ist meine Geschichte, und die hab ich mitgenommen. Und ich bin Finnin und das werd ich auch bleiben!«
Auch die Norwegerin Mia deutet die Entstehung ihrer kultur-nationalen Identität als Sozialisations- und als Erziehungsprodukt; dabei hält sie es für kaum entscheidbar, wie stark daran »das Land« und wie stark ihre Erziehung durch die Mutter und die Lehrer_innen, oder wie sehr die Kommunikation mit ihren Freund_innen daran beteiligt waren. Sie vertritt also die mit sozialwissenschaftlichen Theorien durchaus vereinbare Alltagstheorie, dass viele verschiedene Personen in ihrer Lebenswelt mehr oder minder prägenden Einfluss auf sie hatten. Die Differenz zwischen ihrer Lebenswelt und »dem Land« wird in dieser Alltagstheorie freilich unscharf. Die einflussreichen Personen werden zwar »privat« genannt, dennoch stehen sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für »das Land«. Wir können auch sagen: in ihnen personifiziert sich »das Land« Norwegen: »Na es ist schwer zu trennen zwischen dem, was / Ich mein natürlich die Kindheit, die Vergangenheit macht einen aus. Ich bin ja auch ein Produkt, wie ich erzogen worden bin. Wie viel davon jetzt mit den Land Norwegen zusammenhängt und wie viel davon jetzt wirklich nur die privaten Einflüsse auf mich, in meinem gesonderten Fall, sozusagen was da alles auf mich eingewirkt hat, meine Mutter, meine Schule, meine Freunde, das ist schwer zu trennen.«
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Als konstitutives Element oder als Trigger kultur-nationaler Identität wird von mehreren Interviewpartner_innen auch das Gefühl der Zugehörigkeit empfunden. Für den in Norwegen aufgewachsenen und bereits mehrfach zitierten Erik drückt sich Zugehörigkeit vor allem auch in Vertrautheit mit den Routinen und Regeln des Alltagslebens aus. Daraus entstehe eine Bindung und emotional erlebte Zugehörigkeit, die er im Aufnahmeland seiner Auswanderung, in Österreich, wenigstens bisher, nicht beobachten kann: »Ich finde aber nicht, dass die österreichische Kultur mich jetzt irgendwie geprägt hat oder definiert, formt oder irgendwie sonst ausmacht. Weil ich nach wie vor nicht weiß, was in Österreich an der Tagesordnung ist. Ich lese nur internationale Zeitungen, ich verfolge hier überhaupt gar nichts. Auch nicht das österreichische Fernsehen. Und ich weiß auch nicht, wer prominent ist oder was es gerade spielt oder Winterolympiade, ob die Österreicher irgendwie groß gewinnen oder nicht, interessiert mich alles nicht. Vielleicht wo das mir irgendwann früher mal als Manko vorgekommen ist, als ein Nicht-ganz-dabei-sein, ist es mir jetzt einfach egal.«
In der Coda dieser Sequenz bemerkt Erik, dass sich seine eigene Bewertung dieser Nicht-Identifikation mit Österreich im Lauf der Jahre verändert hat. Er hat gelernt, sie nicht als Makel zu deuten, sondern zu akzeptieren. Mittlerweise ist es gerade seine Nicht-Zugehörigkeit, über die er sich, in Österreich lebend, definiert; oder paradox formuliert: seine Nichtzugehörigkeit ist die jetzt tragende Emotion. Zugleich verdeutlichen und plausibilisieren die bereits vorgeführten und noch vorzuführenden Sequenzen aus den Erzählungen von Einwander_innen, warum für diese Studie nicht ›nationale‹ Identität, sondern vielmehr kultur-nationale Identität der treffendere Terminus ist. In zahlreichen dieser Erzählpassagen werden Verhaltens- und Interaktionsmuster, Eigenschaften, Traditionen, ästhetische Vorlieben sowie die Sprache als primäre Bezugshorizonte ausgewiesen. Verhaltensweisen, persönliche Charaktereigenschaften und ästhetische Vorlieben wiederum werden ausdrücklich als kulturell angesehen. Erst sekundär erfolge auch eine Bindung an ›die Nation‹ (gedacht als politisch verfasste Sozietät), die allerdings, wie schon mehrfach gesagt, entgegen des gängigen Sprachgebrauchs nicht immer mit einem Nationalstaat kongruent ist. Zugleich finden sich auch in diesem Zusammenhang unterschiedliche Metaphern, um das Kulturelle sprachlich zu erfassen, oft hart an der Grenze zu seiner Ontologisierung. So empfindet und beschreibt Theresa, Tochter eines Griechen, »ihre griechische Seele«: »Ich bin auch gerne dort, weil ich dann auch ein bisschen Griechisch sprechen kann und ein bisschen praktizieren kann. So ein bisschen meine griechische Seele leben darf. Weil mit der Sprache kommt natürlich, kommt alles Mögliche noch dazu. Das ist nicht nur etwas, das aus deinem Mund raus kommt, sondern das ist etwas, was den ganzen Körper
Identität | 377 ausfüllt, so ne Sprache. Das ist irgendwie auch der Gestus und überhaupt wie du die Sprache benutzt. Ahm dass ja der ganze Körper vibriert damit, mit so ner anderen Sprache. Wo ich auch dann immer wieder, das hört sich jetzt komisch an, aber dann spür ich auch meinen Vater!«
In einer sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit steht die Metapher der »griechischen Seele« für eine Teilidentität, die von Theresa, der Tochter eines griechischen Vaters, die seit 1981 in Österreich lebt, mit anderen Teilidentitäten, beispielsweise der einer »Deutschen in Österreich« integriert werden muss. Einen Hinweis darauf, wie diese Integration erfolgen kann, gibt diese Sequenz aus der Erzählung der aus Spanien nach Österreich eingewanderten Lucía: »Und ich fühle mich als Spanierin und Österreicherin. [...] Ich liebe Österreich, ich liebe Spanien und umgekehrt.«
Die in diesen zwei Sätzen benutzten Verben »fühlen« und »lieben«, wie auch die auf den ersten Blick ungewöhnlich schließende Formulierung »und umgekehrt« können als Indizien dafür gelesen werden, dass Integration u.a. auf der Ebene der affektiven Identifikation mit den Sozietäten erfolgt, in denen man durchwegs oder abwechselnd lebt. Die Schließung mit »und umgekehrt« kann als Ausdruck der gefühlten Gleichwertigkeit der beiden Sozietäten gelesen werden. Unterschiede in der Selbstverortung treten auf, wo Unsicherheit besteht, ob eine persönliche Eigenart die Folge oder vielmehr der Ursprung einer kultur-nationalen Identität ist. Bestimmte Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster werden von einigen Interviewpartner_innen als ›Resultat‹ einer kultur-nationalen Identität gedeutet; andere Interviewpartner_innen führen dieselben oder ähnliche Muster hingegen eher auf individuelle Charakterzüge zurück und meinen, sie seien unabhängig von ihrer Herkunft und eigneten sich nicht, um mit ihnen eine kultur-nationale Identität zu begründen. Manchmal wirkt es auch so, als wollte man das Herkunftsland vor der falschen Zuschreibung einer ›persönlichen‹ Marotte in Schutz nehmen. So erzählt Clara, die aus Spanien nach Österreich gekommen ist: »Was ich hier [in Österreich, M.N.] merke zum Beispiel, was ich nicht mag, ›Naja treffen wir uns in drei Wochen!‹ Und das ist mir / Ich weiß nicht, ob ich in drei Wochen die Lust / Aber das ist nicht, weil ich Spanierin bin, das ist meine Charakter!«
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7.2.6 ›Doing Identity‹ Die Performance kultur-nationaler Idenitäten Aus den vorliegenden Erzähltexten lassen sich – zum Teil in Zusammenhang mit den jeweiligen Bezugshorizonten und dem jeweiligen Verständnis von Identität – divergierende Bezugsobjekte und Identifikationsmuster118 rekonstruieren und damit verschiedene Arten, in denen kultur-nationale Identität gelebt, praktiziert und ausgedrückt wird. Eine solche Performance kultur-nationaler Praktiken kann auch als ›Doing Identity‹119 und ›Performing National Identity‹120 umschrieben werden. Derartige Praktiken wurden auch bereits im Kapitel Transnationalität angesprochen, wo ich des Weiteren zwischen ways of being und ways of belonging unterschieden habe. (Siehe Kap. 6) Die gesprochene Sprache und die kultur-nationale Identität Sprache ist ein wesentliches Bezugsobjekt und zugleich Medium des Ausdrucks kultur-nationaler Identität. Die Sprache des Herkunftslandes zu sprechen, stellt im Kontext der Migration einen way of belonging, also eine Performance der ersten oder primären kultur-nationalen Identität dar. (Siehe auch Kap. 4.1.1) Die praktische Beherrschung und das geübte Sprechen mehrerer Sprachen, oder auch der ›fliegende‹ Wechsel zwischen Sprachen im Alltagsleben hingegen kann als Performance einer multiplen Zugehörigkeit, eines kompetenten Lebens ›im Dazwischen‹ und somit oft auch einer pluralen kultur-nationalen Identität oder auch einer europäischen oder weltbürgerlichen Identität gedeutet werden. Wie die vorliegenden Erzähltexte zeigen, wird die Performance der (gesprochenen) Sprache von den jeweiligen Interaktionspartner_innen wahrgenommen und gedeutet, um darauf zumindest eine erste Typisierung des Sprechers/der Sprecherin zu begründen: »Sie ist Ostdeutsche!«, »Er hat einen starken Akzent, woher kommt er?« usw. Die Beobachtung des Sprechers/der Sprecherin oder etwas genauer: das Hören, Sehen und Interpretieren eines/einer Sprechenden ist ein Akt im Vorgang
118 Vgl. dazu z.B. Mario Rainer Lepsius, Prozesse der europäischen Identitätsstiftung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 38 (2004), 3-15. 119 Zu ›Doing Identity‹ vgl. z.B. Allolio-Näcke/Kalscheuer 2003. Zum damit vergleichbaren Konzept der »Identitätsarbeit« vgl. Keupp 2008. Zum Konzept des ›Doing‹ (»Doing Gender«, »Doing Class« usw.) um »alltägliche Praktiken, Rituale, performative Gesten« usw. zu untersuchen, vgl. Michalis Kontopodis/Vincenzo Matera, Doing Memory, Doing Identity: Politics of the everyday in contemporary global communities. In: Outlines – Critical Practice Studies 2 (2010), 1-14; 2. 120 Vgl. Edensor 2002, 69 ff.; Durch das Konzept der Performance möchte Edensor den dynamischen und prozesshaften Charakter von nationaler Identität betonen.
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der kultur-nationalen Typisierung der Anderen und somit auch ein Indikator für die ›Fremdheit‹ oder ›Vertrautheit‹ des/der Anderen. Immer subjektiv als solche empfundene ›mangelnde‹ oder ›fehlerhafte‹ Sprachbeherrschung oder auch die Wahrnehmung von Akzenten weisen die Zuhörenden auf die Zugehörigkeit oder die Nicht-Zugehörigkeit der Sprechenden hin. Mangelnde Sprachbeherrschung führt in verschiedenen Graden zur sozio-kulturellen Marginalisierung des Sprechers/der Sprecherin: »Er /sie gehört (noch) nicht zu uns!« Das Gesagte trifft aber nicht allein auf die Sprecher_innen verschiedener Sprachen zu. Auch für die aus Deutschland nach Österreich Ausgewanderten haben wahrgenommene Differenzen im Gebrauch der deutschen Sprache eine ähnliche Wirkung. Aufgrund ihrer nicht-österreichischen Dialekte des Deutschen oder aufgrund der in Österreich selten als Umgangssprache gepflogenen Hochsprache werden Einwander_innen als ›Deutsche‹ erkannt. Für Migrant_innen aus Deutschland stellt sich daher die Frage, ob sie sich einer der in Österreich gesprochenen Varianten des Deutschen annähern sollen. (Siehe auch Kap. 4.1.1.) Eine Frage des Stils: Skandinavisches Design Wie bereits mehrfach angedeutet, sind für aus Skandinavien stammende Migrant_innen vor allem Möbel, Mode und Kleidung wesentliche Bezugsobjekte ihrer kultur-nationalen Identität. (Siehe auch Kap. 3.4 und 6.3.4) Schon der emotionale Beginn der folgenden (bereits einmal zitierten) Sequenz aus der Erzählung der Norwegerin Mia zeigt, dass diese profanen Themen emotional besetzt sind, eben weil sie Bezüge zur Herkunftskultur herstellen: »Ich liebe die skandinavische Mode, und da kaufe ich auch immer ein, wenn ich in Norwegen oder Schweden oder Dänemark bin. Das mag ich. Hat auch mit Nostalgie und Heimat zu tun. Die Heimat mitnehmen und sich damit umgeben und einkleiden darin, ja klar. Also das ist schon wichtig für mich!«
Auch das berühmte skandinavische Design von Möbeln, Stoffen, Geschirr, Schmuck und Häusern stellt für männliche und weibliche Zuwanderer aus skandinavischen Ländern eine markante, unverwechselbare Marke dar: Indem sie sich mit ihr identifizieren, beim Kauf von Waren bewusst danach suchen oder ihre Einkäufe aus dem Herkunftsland in das Auswanderungsland ›exportieren‹ (mit sich nehmen), bringen sie ihre kultur-nationale Identität zum Ausdruck. Interviewpartner_innen aus Skandinavien deuten ihren Geschmack, d.h. ihr ästhetisches Empfinden als ›skandinavisch‹ und sich damit als von ›den Österreichern‹ unterscheidend. Die aus Dänemark nach Österreich ausgewanderte Caroline deutet ihr ästhetisches Empfinden nicht nur als wesentliches Element ihres ›Dänisch-Seins‹, sondern sie verbindet damit in der folgenden Sequenz ein vielleicht spielerisch übertriebenes Entsetzen über den so anderen Geschmack »der Österreicher_innen«: Erst in dieser Differenz-
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setzung gewinnt das dänische Design seine Funktionalität als Trigger für kulturnationalen Eigensinn oder gar Stolz. »Ich merke es sehr viel beim Design, ja, meine Kultur! Ich mein, wenn ich einen österreichischen Möbelkatalog aufschlage ((spielt gestisch und mimisch Entsetzen)) / Da seh ich es, ja. [...] Ich weiß nicht, ob es nicht so wichtig ist, also für einen Dänen ist das sehr wichtig!«
Zugleich beschreibt Caroline ihr sicheres Erkennen von materiellen Ausdrücken dieser Kultur, sie vermag das Eigene treffsicher vom Fremden zu unterscheiden, auch ohne die am Objekt angebrachte Trademark prüfen zu müssen. Diese Alltagskompetenz, die auf oftmals wiederholtes Wahrnehmen und Interpretieren zurückgeht, verweist uns darauf, dass auch die Wahrnehmung von Form und Design (ähnlich wie die Wahrnehmung von anderen Menschen oder von Tieren) auf den Prozess der Habitualisierung hindeutet. In der folgenden Sequenz wird dies von Caroline ausführlich beschrieben: »Aber ich erkenne dänische Produkte ohne nachzuschauen, ob sie dänisch sind. Also ich gehe in die Albertina zum Beispiel und sehe dort ein Bild hängen. Und sag: ›Das hat ein Däne gemalt!‹ Und fast immer bin ich richtig dran. Und Design auch, also ich gehe in irgendein Geschäft und sag: ›Das muss dänisch sein.‹ Und ist es meistens auch. - Also obwohl ich nicht sehr viele Jahr in Dänemark eigentlich gewohnt hab, ich erkenne es sofort. Und ich weiß nicht, was mich dazu bringt, weil das ist instinktiv. - Für mich, nicht für alle. Aber für mich schon, ja.«
Man ist, was man isst: Lebensmittel und Mahlzeiten als ›Doing Identity‹ Um ihre These von der ›instinktiven‹ Wahrnehmung des Eigenen zu belegen, erzählt Caroline außerdem eine kleine Episode, in der sie ein vermeintlich dänisches Küchenrezept als »falsch« erkennt. »Es gab im Red Bull Magazin vor zwei Jahren einen sogenannten dänischen Schweinsbraten als Rezept. Und da hab ich einen Leserbrief geschrieben und gesagt, ›Also ein Däne würde nie Kümmel auf seinen Schweinsbraten geben, oder auf seine Kartoffeln! Bitte, das gibt=s nicht! Informieren Sie sich bitte!‹ ((Lachen)) Ah, das war völlig falsch. Die Schwarte war so, so wie man das hier macht, so in kleine Vierecken. In Dänemark tut man es nur ein schneiden so, damit man es ganz genau schneiden kann. Und kein Kümmel! ((Lachen))«
Dass Caroline dieses Rezept nicht nur liest und als »falsch« bewertet, sondern sogar mit einem Leserbrief darauf reagiert, kann als eine von vielen ›kleinen‹ Praktiken
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zur Stabilisierung und Bestätigung ihrer kultur-nationalen Identität als ›geborene Dänin‹, auch und wahrscheinlich gerade im Auswanderungsland, gelesen werden. Die zitierte Sequenz zeigt aber (als eine von vielen) ebenso, dass das Eigene sich nur am Fremden zu identifizieren vermag. Es gibt kein Eigenes ohne ein Fremdes. Möglicherweise ist dieses bei Caroline so ausgeprägte ›Doing (national-cultural) Identity‹ für sie deshalb so wichtig, weil sie den Großteil ihres Lebens nicht in Dänemark verbracht hat. Eine Selbstwahrnehmung als ›geborene Dänin‹, eine solche Essentialisierung ihrer kultur-nationalen Identität, scheint erforderlich, um trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Lebenszeit in Dänemark ein kohärentes und eindeutiges Selbstbild konstruieren zu können und dem offenbar von ihr nicht erwünschten Gefühl einer diffusen oder changierenden Identität entgegenzuwirken. Lebensmittel, Mahlzeiten und Ernährungsgewohnheiten werden immer wieder als Bezugsobjekte kultur-nationaler Identität herangezogen. Offenbar ist das, was man isst, eng mit dem verbunden, was man ist und sein möchte. Zum einen wird kultur-nationale Identität über Lebensmittel konstruiert, praktiziert und beständig neu etabliert. Zum anderen wird die kulturelle Zugehörigkeit als Erklärung für Vorlieben und Bedürfnisse bei den Mahlzeiten herangezogen. Die aus Spanien nach Österreich zugewanderten Frauen und Männer bemerken beispielsweise des Öfteren, dass sie frischen Fisch in Österreich vermissen. Eva wiederum »braucht« Zitrusfrüchte und erklärt dies ihrem Mann (und sich selbst) mit ihrer Identität als »Spanierin«: »Aber ich sage, ›Schau, ich bin erzogen mit Mandarinen und Orangen. Ich weiß, dass sie aus Spanien, Türkei, Italien kommen, aber ich brauche sie. Ich weiß es nicht, das ist so wie für dich das schwarze Brot oder die Würstel.‹ Ich brauche sie, ich weiß nicht, das kann ich nicht so leicht verändern. Da bin ich nicht so offen.«
Auch bestimmte festliche Anlässe und Rituale werden genützt, um eine kulturnationale Zugehörigkeit zu zelebrieren. Álvaro besucht jedes Jahr die Feier des sogenannten Columbus-Tages in der spanischen Botschaft. Frida zelebriert seit ihrer Ankunft in Österreich jedes Jahr einen traditionell dänischen Osterbrunch mit ihrer Familie. In diesem Sinne beschreibt auch Maja ihr erstes Weihnachten in Österreich als eine ›Manifestation‹ ihrer kultur-nationalen Identität: »Und ich habe auch Christbaumschmuck mitgehabt. Und die Dänen schmücken ihre Bäume mit dänischer Flagge und ein paar Kugeln. Das hab ich dann gehabt. Und der Heilige Abend war dann mit Baby und was ich gekauft hab weiß ich nicht mehr, aber das war sehr armselig, unter diesem kleinen Christbaum mit dänischen Flaggen drauf. ((Schlägt die Hände zusammen)) Und stille Nacht, heilige Nacht ist irgendwie.«
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7.2.7 Multiple oder hybride Identitäten Sowohl manifest als auch latent und den Sprecher_innen daher oft auch gar nicht bewusst, werden Identitätsfragen, Identitätskonflikte und Identitätsstrategien im Kontext der Integration in die Aufnahmegesellschaft berührt. Rainer Keupp beispielsweise versteht soziale und kulturelle Integration als ein mögliches (aber nicht in jedem Fall gegebenes) Ziel diverser Identitätsstrategien.121 Anhand der vorliegenden Erzählungen lassen sich vier Typen multipler122 Zugehörigkeiten und kultur-nationaler Identitäten rekonstruieren.123 Auffallend dabei ist, dass keiner/keine der von mir interviewten Immigrant_innen aus Skandinavien, Spanien oder Deutschland sich vorrangig als »Österreicher_in« definiert, und dass eine solche Identität auch in den latenten und unausgesprochenen Sinnstrukturen nicht zu finden ist. Diese vier Typen lassen sich folgendermaßen beschreiben: Erstens, Migrant_innen, die sich selbst explizit oder implizit eine multiple kultur-nationale Identität zuschreiben, die sich also als dem jeweiligen Herkunftsland und Österreich ›zugehörig fühlen‹. Zweitens gibt es einige Gesprächspartner_innen, für die der primäre identitätsstiftende Bezugshorizont das Herkunftsland ist. Hierzu zählen vor allem jene, die nach ihrer eigenen Deutung nicht freiwillig nach Österreich gekommen sind. Den dritten Typ bilden Migrant_innen, die aufgrund eines Lebens ›dazwischen‹ oder eines Lebens ›im Zwischenraum‹ keine kultur-nationale Identität behaupten, sondern sich stets »auf der Brücke« oder »im Treppenhaus« befinden (zwei von Homi K. Bhabha124 geprägte Metaphern für das Immer-auf-dem-Weg an
121 Keupp 2008, 261 f. 122 Zu multiplen Identitäten vgl. z.B. Wodak u.a. 1998, 59 ff.; Nina Glick-Schiller/Linda Barsch/Christina Szanton Blanc, Transnationalism. A new analytic framework for understanding migration. In: Nina Glick-Schiller/Linda Barsch/Christina Szanton Blanc (Hrsg.), Toward a Transnational Perspective on Migration. (New York 1991), 1-14; Diese Frage kann auch mit dem Konzept der Teilidentitäten behandelt werden. Keupp versteht unter Teilidentität »das Ergebnis der Integration selbstbezogener situationaler Erfahrungen«, welches »ein Bild des Subjekts von sich selbst« ergibt »in dem viele Facetten des Tuns übersituative Konturen erhalten« Keupp 2008, 218. Zum Konzept der »interkulturellen Identität« vgl. Young Yun Kim, Intercultural personhood. Globalization and a way of being. In: International Journal of Intercultural Relations 32 (2008), 359-368. https://doi.org/10.1016/j.ijintrel.2008.04.005. 123 In Anlehnung an Keupp kann die Frage nach multiplen Identitäten auch als die Frage nach dem »Spiel« respektive dem Spannungsfeld von »Dominanz und Latenz von Teilidentitäten« formuliert werden. Keupp 2008, 224. 124 Vgl. Bhabha 2000.
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das andere Ufer bzw. in das nächste Stockwerk sein). Einige dieser Migrant_innen beziehen sich infolgedessen auf den nächstgrößeren, supranationalen Bezugshorizont und positionieren sich als Europäer_innen125 oder als Weltbürger_innen. Nur selten wird, wie etwa im vierten Typ, der kultur-nationalen Identität geringe oder gar keine Bedeutung zugewiesen. Dies ist etwa für Tobias und Maja der Fall, die diese Form der Zugehörigkeit durch alternative Bezugshorizonte wie die internationale berufliche Karriere bzw. die Familie substituieren. Die Analyse der vorliegenden Erzählungen zeigt aber zugleich (unabhängig von den beschrieben Typen), was auch andere Studien als Ergebnis ausweisen: »Die Phase der Primärsozialisation (stellt) für die Ausbildung ortsbezogener Identität die prägungsstärkste Zeit«126 dar. Tobias nimmt in seiner Zwiebelmetapher darauf Bezug (s.o.), in der er die primäre Sozialisation bzw. Enkulturation in der Herkunftskultur als den Kern der Zwiebel beschreibt. Aber auch andere Interviewpartner_innen erklären ihre primäre kultur-nationale Identität wörtlich oder sinngemäß aus der Erziehung im Elternhaus und in der Schule bzw. aus anderen Prozessen der Sozialisation (s.o.). Multiple Zugehörigkeiten werden (auch) mit einem sich da wie dort »Zuhausefühlen« beschrieben.127 August beispielsweise positioniert sich zum einen sehr deutlich als »Däne«, eine Selbstwahrnehmung, die auch auf der Ebene latenter Sinnstrukturen aus seiner Erzählung sehr deutlich rekonstruiert werden kann. Doch stehen diese Wahrnehmung und Selbstverortung nicht im Widerspruch dazu, dass er sich seit einiger Zeit auch in Österreich ganz »zuhause fühlt«: »Vorher hab ich immer gesagt, ›zuhause ist in Dänemark‹, aber jetzt sag ich, ›zuhause ist in Wien‹.«
Vergleichbares lässt sich auch an Lisa beobachten. Auch sie hält, wie sie explizit sagt, an »ihrer deutschen Nationalität« fest (s.o.), beschreibt und empfindet aber Wien als ihr jetziges Zuhause.
125 Zur »europäischen Identität« vgl. z.B. Han 2005, 200 ff.; De Cillia/Reisigl/Wodak 1999; Thomas Meyer/Johanna Eisenberg (Hrsg.), Europäische Identität als Projekt. Innen- und Außensichten. (Wiesbaden 2009); Richard Münch, Europäische Identitätsbildung. Zwischen globaler Dynamik, nationaler und regionaler Gegenbewegung. In: Reinhold Viehoff/Rien T. Segers (Hrsg.), Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. (Frankfurt am Main 1999), 223-253. 126 Richter 2013. 127 Vgl. dazu z.B. Hein 2006, 72 ff.: »Heimat ist eine individuelle Leistung: Heimat muss gefunden, bestimmt und gestaltet werden.« Sie ist mithin also kein Zustand, sondern eine »biografische Konstruktion«.
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Bezüglich der genannten vier Typen lassen sich subtile Unterschiede zwischen den im Sample vertretenen Herkunftsländern finden. So zeichnen sich Einwander_innen aus Dänemark durch eine verhältnismäßig ›stark ausgeprägte‹ kulturnationale Identität aus. Darauf verweisen zahlreiche Referenzen in ihren Erzählungen. Aber auch in der alltäglichen Praxis widmen sie sich aufmerksam der Pflege dieser Identität. Sie praktizieren bei allen passenden Gelegenheiten ein ›Doing Identity‹ (vgl. den dänischen Schmuck für den Weihnachtsbaum, die Reklamation eines falschen dänischen Rezepts u.a.m.) und integrieren zugleich ihre ›Dänischheit‹ in ihre österreichische Lebenswelt. Das bedeutet aber nicht, dass sie Dänemark nicht auch zum Teil kritisch betrachten. Es bedeutet auch nicht, dass sie weniger bereit wären als andere Migrant_innen, sich in Österreich zu integrieren. Trotz ihrer ausgeprägten kulturellen Bezüge auf das dänische Herkunftsland sind sie offen für Kultur und Gesellschaft in Österreich. Wie multiple Zugehörigkeiten legitimiert und gedeutet werden Formen multipler Zugehörigkeit werden von den Migrant_innen auf zwei verschiedene Weisen gedeutet. Während die einen von »Heimatlosigkeit« und »Verlorenheit« sprechen und ihre Suchbewegungen zwischen den möglichen Identitäten als konfliktiv und belastend erleben, werten sie andere eindeutig als Zuwachs an wertvoller Erfahrung, die sie seither relativ sicher und gelassen in und zwischen den ihnen vertrauten Kulturen, Ländern und Sprachen hin- und herwechseln lässt. Mia beispielsweise beschreibt ihren Identitäts(-findungs-)prozess als Herausforderung und harten Lernprozess. Hingegen genießt Marta ihr Anderssein in Österreich und ›spielt‹ damit (s.o.). Auch die folgenden Sequenzen zeigen die positive Deutung multipler Zugehörigkeit und kultur-nationaler Identitäten: »Und ich muss auch sagen, abschließend, dass ein Horizont wird auch größer wenn man zwei Länder hat und zwei Traditionen und Denkweisen. Dann kann man ja aussuchen, was gefällt mir am besten von diesen.« (Frida) »Ich kann mich prinzipiell anpassen, ich bin der Meinung, dass jedes Land, jede Kultur ihre Stärken hat und ihre Schwächen, sie sind weder besser noch schlechter. Es ist einfach anders. Und irgendwo in diesem Bereich befinde ich mich.« (Eva) »Ich liebe Österreich, ich liebe Spanien und umgekehrt. - Also insofern finde ich einen Gewinn. Nicht wie manche, die sagen ›Ah, ach ich hab das verloren‹. Nein, nein, ich habe was dazu gewonnen! Und ich habe mich sehr wohl gefühlt und natürlich freue ich mich wahnsinnig, wenn ich nach Spanien fahre.« (Lucía) »Und ich sehe das als einen Vorteil für mich, diese Kombination, die ich, alles was ich hier eingesaugt habe, in diesen 28 Jahren, zusammengeschweißt mit meinem spanischen
Identität | 385 Temperament, Charakter und Kultur. Ja, es ist sehr / Es ist sehr positiv für mich jetzt. Und ich finde, die Leute schätzen das auch, ja.« (Marta)
Freilich können diese gleichsam auch erwünschten positiven Bewertungen auf der latenten Sinnebene mit nicht oder nur implizit angesprochenen Problemen einhergehen. Inés beschreibt explizit aus multiplen Identitäten resultierende Schwierigkeiten (s.u.). Auch Frida erzählt, dass Prozesse der Identitätsfindung für sie nicht immer einfach waren. Eine positive Deutung im Rahmen und zum Zeitpunkt des Interviews muss also keineswegs bedeuten, dass es im gesamten Prozess der Migration nie Schwierigkeiten gegeben hätte. 7.2.8 Situative, interaktive kultur-nationale Identitäten Wie dargestellt (s.o.), zeigen die Erzählungen auch, dass die Facetten einer kulturnationalen Identität respektive von zwei oder mehr kultur-nationalen Identitäten so gut wie immer in interaktiven und kommunikativen Situationen entstehen. Die Interviewpartner_innen sind sich sowohl ihres relativ stabilen Habitus wie auch ihrer eigenen relativen Plastizität, d.h. ihrer Adaptionsfähigkeit, auf der empirischen Wissensgrundlage ihrer Erinnerungen bewusst. So formuliert die aus Spanien nach Österreich zugewanderte Inés: »Weil ein Mensch kann sich nicht total verändern, die Grundkultur bleibt da, und entweder man schafft irgendwie diese zwei Welten. In Österreich mache ich es so, in Spanien mache ich es so. Wenn man das wirklich schafft, ist es das Beste.«
Das in dieser Sequenz von Inés angedeutete, von ihr großteils bewusst wahrgenommene und partiell sogar zweckmäßig gesteuerte situations- und kontextangepasste Verhalten ist offenbar eine Voraussetzung, um unter den Bedingungen der Migration eine multiple und elastische Identität zu erwerben. 7.2.9 Kultur-nationale Identität(-en) in den Phasen der Migration Konstruktion, Aushandlung und Integration multipler kultur-nationaler Identitäten erfolgen im Lauf und unter den Bedingungen einer Migration, die stets verschiedene Phasen kennt. Allerdings scheint die Gesamtdauer des bisherigen Lebens in Österreich keinen Einfluss darauf zu haben, ob die Migrant_innen entschlossen sind, an Elementen ihrer Herkunftskultur festzuhalten oder nicht. Für die Bedeutung, die der kultur-nationalen Identität beigemessen wird, wie auch für den Willen zur Integration in die österreichische Kultur und Gesellschaft lässt sich kein Zusammenhang mit der Dauer des Aufenthalts der Migrant_innen rekonstruieren. Sehr wohl
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spielt diese jedoch in der Erwartungshaltung Einheimischer hinsichtlich der Integration der Migrant_innen eine Rolle. Damit verändert sich auch die Bemühung der Migrant_innen um eine ›balancierte Ich-Identität‹ im Sinn Krappmanns. Wie beschrieben, besteht dieser ›Balanceakt‹ im situationsflexiblen Ausgleich zwischen den Erwartungen anderer sowie den eigenen Bedürfnissen.128 Dies erzählt Inés in ihren Worten: »Dann mit der Zeit, als ich eine Familie hier gegründet habe, okay ich war die Spanierin, aber durfte ich nicht immer wie eine Spanierin sein, ich musste mich mehr in das Leben integrieren. [...] Weil je mehr ich da bin, desto mehr von mir erwartet wird, dass ich wie eine Österreicherin mich verhalte. Weil wenn ich etwas auf spanische Art mache, dann wird nicht mehr so gesehen die Spanierin vom Anfang, sondern ich bin da schon seit langem.«
Ähnlich wie Inés beschreiben auch Frida und Lucía veränderte Erwartungen im Lauf ihrer Jahre in Österreich. (Siehe auch Kap. 4.6 und 5.2) Beiden wurde zunächst der Status der ›exotischen Ausländerin‹129 zugeschrieben. Im Lauf der Zeit aber wurden sie von der Aufnahmegesellschaft bzw. von sie umgebenden signifikanten Anderen (wie dem Ehemann oder den Schwiegereltern) als zugehörig gedeutet. Ihre Aufgabe bestand nun darin, die sich wandelnden Fremdbilder in das Selbstbild zu integrieren; Sie mussten eine entsprechende Passungsarbeit leisten.130 Dazu versuchten sie herauszufinden, welche Änderungen sie in ihrem Verhalten und in ihren Vorlieben und Stilen vornehmen könnten, um die Erwartung einer zumindest partiellen kulturellen Integration zu erfüllen. Während die einen (beispielsweise Frida und Lucía) keine diesbezüglichen Konflikte oder Spannungen beschreiben, wünschen sich andere (beispielsweise Inés) mehr Toleranz und Verständnis dafür, dass sie trotz aller Bereitschaft zur partiellen Integration an Elementen ihrer Herkunftskultur weiter festhalten. 7.2.10 Identitäten im Kontext von Globalisierung, Transnationalisierung und Spätmoderne Der wissenschaftliche Diskurs um nationale Identität wird im Kontext von Spätmoderne und Globalisierung durch zwei konträre Positionen geprägt.131 Zum einen wird immer wieder der Bedeutungsverlust von nationaler Identität, bzw. der Nation
128 Krappmann 2010, 32 ff. 129 Zu Identität und Rollentheorie vgl. z.B. Krappmann 2010, 97 ff. 130 Zu »Passungsarbeit« und »Handlungsaufgaben« vgl. Keupp 2008, 111; 215 f.; 223 f. 131 Zur Diskussion der Bedeutung des Nationalstaates vgl. Kapitel 1.1.
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als identitätsstiftendem Bezugshorizont, und in der Folge die Etablierung »postnationaler Identitäten« postuliert.132 Klaus Eder beispielsweise argumentiert, »wenn der Lebens- und Erfahrungsraum von Individuen nationalstaatliche Grenzen übersteigt«, werde »das nationalstaatliche Element der Identitätsbildung entsprechend geschwächt bzw. relativiert«133. Zum anderen aber vertritt eine Reihe von Forscher_innen die genau gegenteilige Meinung und postuliert eine Refokussierung auf nationale, regionale oder auch lokale Zugehörigkeiten als konstitutives Element spätmoderner Identitäten.134 So argumentiert beispielsweise Ralph Richter: »Die Anforderungen und Zumutungen der sich entgrenzenden Welt rufen als Gegenreaktion die Bedeutungszunahme von Orten und ortsbezogenen Bindungen hervor. […] Zunehmende Mobilität spricht nicht für die Erosion von Örtlichkeit im Selbstkonzept, sondern im Gegenteil für ihre stabilisierende Wirkung, sei es weil Mobilität die Identitätsarbeit durch Vergleichsmöglichkeiten zwischen Eigenem und Fremden intensiviert oder sei es weil sie die Rolle von Orten als Anker biografischer Narration stärkt.«135
Im Untersuchungszeitraum lassen sich aus dem vorliegenden empirischen Material keine Verschiebungen der nationalen, regionalen oder lokalen Identitätsbindung ausmachen. Weder ist ein Bedeutungsverlust noch ein Bedeutungsgewinn zu bemerken. Diesbezüglich besteht auch kein Unterschied zwischen Migrant_innen der organisierten Moderne und jenen der Spätmoderne. Lediglich im Hinblick auf damit verbundene Praktiken, also das ›Doing Identity‹, lassen sich Verschiebungen erkennen. Die diesbezüglichen Ergebnisse und Erkenntnisse wurden bereits unter dem Thema der Transnationalisierung ausführlich diskutiert und dargestellt: Be132 Beck 1997, 80 ff. Vgl. auch Angenendt 2009, 37 f.; Keupp 2004, 6 ff.; Delanty 2011, 634 f.; Mau 2007, 218 f.; Byung-Chul Han, Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung. (Berlin 2005); Craig Calhoun, Is it time to be postnatioal? In: Craig Calhoun (Hrsg.), Nations matter. Culture, history, and the cosmopolitan dream. (London/New York 2007), 231-256. 133 Mau 2007, 218; Klaus Eder, Kulturelle Identitäten zwischen Utopie und Tradition. Soziale Bewegungen als Ort gesellschaftlicher Lernprozesse. (Frankfurt am Main 2000), 77 ff. Vgl. auch Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? In: Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. (Frankfurt am Main 1976), 92-126; 109 ff. 134 Edensor 2002, 1 f. Vgl. auch Giddens 2001, 25 f. Zum Konzept der »Glokalisierung« – dem Lokalen als Aspekt des Globalen vgl. Beck 1997, 88 ff. 135 Richter 2013, 20. Zu einer Diskussion ›kultureller Identität‹ im Zusammenhang mit Globalisierung vgl. Robert Hauser, Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt. Online unter: www.itas.kit.edu/pub/v/2006/haus06b.pdf (28.10.2018).
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dingt durch spätmoderne Kommunikations- und Transporttechnologien bieten sich seit den späten 1990er Jahren deutlich veränderte und bessere Möglichkeiten, um multiple (kultur-nationale) Identitäten herzustellen, zu praktizieren und in den Alltag zu integrieren. Genau diese Praktiken verändern sich im Untersuchungszeitraum. Hingegen lässt sich für die Bedeutung der transnationalen Praktiken kein signifikanter Wandel feststellen. Die oben genannte These eines allgemeinen Bedeutungsverlustes des nationalstaatlichen Bezugshorizonts (im Kontext von Migration) kann demnach anhand des vorliegenden Materials nicht bestätigt werden. Zu diesem Schluss gelangten zuvor auch schon andere Studien. Janine Dahinden etwa resümiert ihre Forschungsarbeiten folgendermaßen: »Hier zeigt sich, dass auch in Zeiten der Globalisierung und der Transnationalisierung von sozialen Realitäten der Nationalstaat noch immer ein wichtiges Instrument ist, wie Zugehörigkeit und Ausschluss definiert werden. Nationalstaaten haben vielleicht einen Teil ihrer Durchsetzungskraft verloren was ökonomische Angelegenheiten betrifft: Noch immer aber hat die nationalstaatliche Logik ein starkes Gewicht bei Prozessen der Selbstfindung und der Konstruktion von Eigenem und Fremdem.«136
Wie groß die der Herkunftsregion im Kontext der Migration beigemessene Bedeutung jeweils ist, scheint primär durch individuelle biographische Faktoren determiniert. Dies legt u.a. der Vergleich der bereits beschriebenen Fälle von Tobias und Caroline nahe: Während Tobias’ Herkunft aus Dänemark für sein Identitätsgefühl nur geringe Bedeutung hat, zeigt sich bei Caroline, dass ein internationaler Lebensund Erfahrungsraum ebenso zum Gegenteil, zu einer vermehrten Fokussierung auf den kultur-nationalen Bezugshorizont der Herkunftsnation, führen kann.
7.3 KULTUR-NATIONALE IDENTITÄT ALS SOZIO-KULTURELLES UND DISKURSIVES POSTULAT: DIE FRAGE DER ESSENTIALISIERUNG Dass Identität und Identitätsfindung für die hier interviewten Migrant_innen derart wichtige Themen darstellen, ist, wie eingangs beschrieben, vermutlich damit zu erklären, dass derartige Fragen vornehmlich in Umbruchsphasen biographischer Veränderungen sowie im Kontakt mit Anderem, Ungewohntem und Fremdem relevant
136 Dahinden 2014, 118. Dazu muss hier allerdings ergänzend angemerkt werden, dass sich diese Diskussion nicht allein auf Migrant_innen, sondern auf spätmoderne Subjekte im Allgemeinen bezieht.
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werden (s.o.). Während Identität aber im wissenschaftlichen Verständnis prozesshaft, dynamisch und situativ zu denken ist, wird sie von den Gesprächspartner_innen essentialisiert. Michael Billig schreibt dazu lakonisch: »One might think that people today go about their daily lives, carrying with them a piece of psychological machinery called ›a national identity‹. Like a mobile telephone, this piece of psychological equipment lies quiet for most of the time. Then, the crisis occurs; the president calls; bells ring; the citizens answer; and the patriotic identity is connected.«137
Essentialisierende Redeweisen finden sich, wie meine bisherigen Ausführungen bereits zeigen, auch in meiner Studie in fast allen Interviewtexten. Dies mag zum Teil der mündlichen Erzählweise geschuldet sein. Um Essentialisierungen zu vermeiden, müssen relativ komplizierte Satzkonstruktionen gebildet werden. Mündlich Erzählende bedienen sich wohl auch deshalb wiederholt der Vereinfachung und Verkürzung, etwa wenn von »den Österreichern«, »den Spaniern« usw. gesprochen wird. Diese teilweise pragmatisch bedingte Form der Essentialisierung durchzieht die Erzählungen, dürfte aber auch ein essentialisierendes Denken begünstigen. Eine solche Essentialisierung ist aber wohl zugleich ein Produkt der Emotionen, die hier im Spiel sind. Wenn es um das eigene Leben und insbesondere um die Frage der Zugehörigkeit geht, neigen sehr viele Menschen offenbar dazu, das, was sich nur über die Zeit in sozialen Interaktionen und Lernprozessen an Identifikationen herstellt, für soziale Natur zu halten. Man könnte argumentieren, dass diese Essentialisierung Funktion hat: Die für soziale Natur gehaltene Identität erscheint beruhigend, sicher und stabil. Unabhängig von der notorischen Essentialisierung und Naturalisierung des Sozialen, dort, wo es besonders lebenswichtig erscheint, zeigt, wie eben beschrieben, auch die vorgelegte Untersuchung, dass Nationalstaaten und Nationalgesellschaften trotz der in den Sozialwissenschaften beschriebenen spätmodernen Schübe an Globalisierung weiterhin für »Prozesse der Selbst- und Fremdwahrnehmung, für das praktische alltagsweltliche Leben, für Organisationen und für soziale Institutionen eine wichtige Bezugseinheit«138 darstellen. Sie erlauben – eben gerade auch über alltagspraktische Essentialisierungen – die Konstruktion von kollektiven Identitäten, die die personale Identität gewissermaßen rahmen und stützen. Zwecke der Essentialisierung kultur-nationaler Identität Es stellt sich nun also die Frage nach einer alltagspraktischen Zweckmäßigkeit der festgestellten notorischen Essentialisierung kultur-nationaler Identität(-en) im Alltagsdiskurs. Ein solcher Zweck ist aus Perspektive der Akteur_innen erfüllt, wenn 137 Billig 1995, 7. 138 Pries 2008, 37.
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sich ›kultur-nationale Unterschiede‹ vermeintlich plausibel aus einer quasi wesenhaft verankerten, an Landschaft und Leute quasi organisch gebundenen Identität erklären lassen. Eigene und fremde Verhaltens- und Denkweisen, die auch Konflikte und Schwierigkeiten erzeugen können, werden damit erklärt und moralisch-ethisch gerechtfertigt. Essentialisierte kultur-nationale Identitäten haben damit eine wichtige alltagspraktische Funktion: Sie erklären (für den spezifisch pragmatischen Erklärungsanspruch des Alltagsdenkens hinreichend), warum es diese oder jene Unterschiede zwischen ›Dänen‹ und ›Norwegern‹ oder ›Deutschen‹ oder ›Spaniern‹ gibt. Die Unterschiede mögen in konkreten Fällen auch tatsächlich vorliegen, sie werden aber über den Vorgang der Essentialisierung verallgemeinert. Dass sie Vorstellungen von kollektiven Subjekten mit spezifischen Eigenschaften schaffen, ist darin bereits angelegt. Die Essentialisierung schafft ein virtuelles Kollektivsubjekt (›die Dänen‹ usw.). Und wo immer Konflikte und Schwierigkeiten im Alltagsleben von Migrant_innen auftauchen, schafft die Essentialisierung der kultur-nationalen Identität(-en) eine gewiss scheinende Erklärung, die die Fremden belasten und das Selbst oder das Eigene entlasten kann. Im Alltagsleben immer wieder essentialisert und in diesem Sinn eingesetzt, entsteht daraus ein diskursives Postulat: Der Akteur/die Akteurin erwartet von sich selbst und von anderen Akteur_innen, eine kultur-nationale Identität ›zu haben‹. Allerdings scheint es mit einigem argumentativen Aufwand möglich, sich dieser Erwartung entweder bewusst zu entziehen oder an ihre Stelle die Konstruktion der europäischen oder der weltbürgerlichen Identität zu setzen. Damit kann im konkreten Fall sogar der höhere moralisch-sittliche Wert beansprucht werden. In dieser Sicht kann Identität auch als normativer Anspruch der Person an sich selbst und an Andere beschrieben werden. Kultur-nationale Identität erfüllt somit gerade in ihrer essentitalisierten Form einen »sozialen Anspruch«.139 Ernst Gellner hat diese alltagstheoretische Perspektive (die Perspektive der Akteur_innen in ihrem Alltagsleben) folgendermaßen umrissen: »Ein Mensch braucht eine Nationalität, so wie er eine Nase und zwei Ohren haben muß; das Fehlen einer dieser beiden Attribute ist zwar nicht unvorstellbar und mag von Zeit zur Zeit vorkommen, aber nur als Ergebnis eines Unglücks: Es ist selbst eine Art Unglück. All dies erscheint offensichtlich, obwohl es leider falsch ist. Daß es jedoch so offensichtlich als wahr erscheint, ist tatsächlich ein Aspekt oder vielleicht auch der Kern des Problems des Nationalismus. Der Tatbestand, eine Nation(-alität) zu besitzen, ist kein inhärentes Attribut der Menschlichkeit, aber er hat diesen Anschein erworben.«140
139 Renn/Straub 2002, 11. 140 Ernst Gellner, Nationalismus und Moderne. (Berlin 1991), 15 f.
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Norbert Elias erklärt die Naturalisierung der nationalen Identität ebenfalls aus einem Bedürfnis der Handlungsorientierung im Alltagsleben: »Der Zwang eines auf den Einzelstaat abgestimmten sozialen Habitus [...] [erscheint] heute für viele Menschen als so überwältigend stark und unabwandelbar, dass sie ihn wie etwas Naturgegebenes, wie Geburt und Tod als etwas Selbstverständliches hinnehmen.«141
Das von Gellner und Elias unterstellte und sich auch in den Erzählungen meiner Gesprächspartner_innen widerspiegelnde menschliche Bedürfnis nach einer essentialisierten Identität bedarf seinerseits aber noch einer weiterführenden Begründung. Als Erklärung können, basierend auf den empirischen Beobachtungen der vorliegenden Studie, einige psychologische und sozio-kulturelle Faktoren, bzw. das Zusammenspiel von einigen sozialpsychologischen und sozialkulturellen Momenten dienen. Erstens scheint das unterstellte Bedürfnis zu einem Teil durch das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit bedingt. Ludger Pries argumentiert dies so: »Die Menschen brauchen und suchen Einheiten, denen sie sich zugehörig fühlen können, die es ihnen erlauben, zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen ›Wir‹ und ›Ihr‹ zu unterscheiden.«142 Wie die vorgestellten Erzählungen zeigen, bergen multiple Zugehörigkeiten und Identitäten die Gefahr, sich nirgends ›wirklich zugehörig‹ zu fühlen. Wird hingegen eine essentialisierte kultur-nationale Identität vorgestellt und behauptet, können gerade auch im Kontext der Auswanderung und der partiellen Integration im Aufnahmeland vermeintlich klare Zugehörigkeiten konstruiert und daraus Selbstsicherheit bezogen werden. Wie bereits angedeutet dienen, zweites, essentialisierte kultur-nationale Identitäten außerdem dem Zweck der Typisierung und Kategorisierung, die sie mit dem Beigeschmack einer nicht bezweifelbaren Feststellung von ›natürlichen‹ Unterschieden versehen: »Personen sind darüber hinaus in einer komplexen Gesellschaft mit Formen der Zuschreibungen (und Zumutung) ihrer Identität konfrontiert, die typisierende Vereinfachungen und Abkürzungen erzwingen.«143 Typisierung144 und
141 Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen. (Frankfurt am Main 1987), 303. Zitiert nach Keupp 2008, 87. 142 Pries 2008, 37. 143 Renn/Straub 2002, 18. Vgl. auch Gergen 1996, 239 f. 144 »Typisierung ist die Herstellung eines Sinnzusammenhangs. Der Typus reduziert die Fülle der Bedeutungen, die die Dinge haben können, auf die Bedeutung, die in meinem aktuellen Handeln Sinn macht.« Heinz Abels/Werner Fuchs-Heinritz/Wieland Jäger/ Uwe Schimank, Wirklichkeit. Über Wissen und andere Definitionen der Wirklichkeit. Über uns und Andere, Fremde und Vorurteile. (Wiesbaden 2009), 65.
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Kategorisierung145 stellen, wie eingangs gezeigt, wesentliche kognitive Mechanismen dar, die vor allem der Entlastung kognitiver Ressourcen dienen und damit die Funktions- und Handlungsfähigkeit des Menschen im Alltagsleben gewährleisten.146 Im Kontext der Fremdzuschreibung erfüllt die essentialisierende Konstruktion von Identität auch das soziale Bedürfnis, den jeweiligen Interaktionspartner rasch und sicher ›einordnen‹ zu können. Damit werden Kommunikation und Interaktion erleichtert oder erst ermöglicht.147 »Auch der Andere wird nicht in seiner Individualität gesehen, sondern auf einen Typus reduziert. Je seltener und lockerer soziale Beziehungen sind, desto diffuser die Typisierungen, mit denen ich die Anderen erfasse. Von meinem besten Freund weiß ich, dass er mit nichts und niemandem zu vergleichen ist, der Rest der Deutschen, mit denen ich alle vier Jahre um den Einzug ›unserer Mannschaft‹ ins Finale bange, und die Schweizer, die jeden Samstag zu uns nach Deutschland kommen, um hier billig einzukaufen, sind nur noch Zeitgenossen, die ich nach einem pauschalen Typus betrachte.«148
Konstruiert, etabliert und perpetuiert wird die fragwürdige Gewissheit einer kulturnationalen Identität wiederum im Feld der immer noch zu einem erheblichen Teil national strukturierten Politik, der Medien und der Literatur. »Nationalität ist eine Narration, eine Story, die sich Menschen über sich selbst erzählen, um ihrer sozialen Welt Sinn zu verleihen.«149 145 Kategorisierung kann verstanden werden als »die Tendenz, Objekte (einschließlich Menschen) aufgrund gemeinsamer charakteristischer Merkmale in diskrete Gruppen einzuteilen« Louise Pendry, Soziale Kognition. In: Klaus Jonas/Wolfgang Stroebe/ Miles Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie. (Heidelberg 2014 6), 111-145; 111. Vgl. dazu auch Lüsebrink 2012, 110 f.; Karl Christoph Klauer, Soziale Kategorisierung und Stereotypisierung. In: Petersen/Six 2008, 23-33; 23 f.; Thorsten Meiser, Illusorische Korrelationen. In: Ebda., 53-62. 146 Vgl. z.B. Dirk Wentura/Christian Frings, Kognitive Psychologie. (Wiesbaden 2013), 99 ff; 139 ff; Ingo Wegener, Soziale Kategorien im situativen Kontext. Kognitive Flexibilität bei der Personenwahrnehmung. Dissertation Universität Bonn. (Bonn 2000), 2 ff.; 16 ff. Zur identitätsstiftenden Funktion von sozialen Kategorien vgl. ebda. 20 ff. 147 Vgl. z.B. Krappmann 2010, 97 ff.; Mario Rainer Lepsius, Prozesse der europäischen Identitätsstiftung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 38 (2004), 3-15; 3 f. 148 Heinz Abels/Werner Fuchs-Heinritz/Wieland Jäger/Uwe Schimank, Wirklichkeit. Über Wissen und andere Definitionen der Wirklichkeit. Über uns und Andere, Fremde und Vorurteile. (Wiesbaden 2009), 178. 149 Uri Ram, Narration, Erziehung und die Erfindung des jüdischen Nationalismus. BenZion Dinur und seine Zeit. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichte 5/2 (1994),
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Das im Common Sense des Alltagslebens und im Diskurs der Politik, der Massenmedien und der Literatur konstruierte, tendenziell essentialisierende Verständnis von kultur-nationaler Identität wirkt als hegemoniales Deutungsmuster, als politisches und ethisches Postulat und als soziale Anforderung auf das Individuum und auf dessen Kommunikation ein.
7.4 FAZIT: KULTUR-NATIONALE IDENTITÄTEN IN DER LEBENSWELT DER MIGRANT_INNEN Ohne Zweifel gewinnen Identitätsfragen im Zuge von Migrationsprozessen sowohl für die Migrant_innen als auch für die aufnehmende Gesellschaft an Relevanz. An den hier untersuchten Erzähltexten wurde deutlich, dass personale und kulturnationale Identitäten empirisch nicht voneinander zu trennen sind. Die analytisch denkbare Trennung entfernt sich allzu weit vom praktischen Umgang mit Identität als Common Sense-Kategorie im Alltagsdiskurs. Der Vergleich der Fälle hat auch gezeigt, dass die aus den mündlichen Erzählungen der Migrant_innen rekonstruierten Formen kultur-nationaler Identitäten stets vom Geschlecht, vom Lebensalter der Migrant_innen und von ihrer Familienbiographie, von ihren spezifischen Motiven auszuwandern, ihren wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Ressourcen, dem auch durch politische und ökonomische Faktoren mit erzeugten Migrationsverlauf, vom sozio-kulturellen Milieu und dessen relevanten Orientierungshorizonten, aber ebenso von persönlichen Eigenschaften (Habitus) und psychosozialen Prädispositionen mitbestimmt werden. Zwischen Migrant_innen der Organisierten Moderne und jenen der Spätmoderne lassen sich allerdings keine generalisierbaren Unterschiede feststellen. Die Frage, wie und ob es den Migrant_innen gelingt, Identitäten im Zuge von Migration zu verändern und neu erworbene Zugehörigkeiten und Identitäten (oder Teilidentitäten) in eine multiple oder hybride Identität zu integrieren150 und in der
151-177; 153. Vgl. z.B. auch Dirk Richter, der Nationen als »sozial konstruierte Deutungsmuster« beschreibt. Dirk Richter, Der Mythos der »guten« Nation: Zum theoriegeschichtlichen Hintergrund eines folgenschweren Missverständnisses. In: Soziale Welt 45/3 (1994), 304-321. 150 In diesen Fällen kann von einer »bikulturellen Identitätsintegration« gesprochen werden. »Bikulturelle Identitätsintegration (bicultural identity integration) liegt vor, wenn eine Person ihre unterschiedlichen Identitäten als miteinander vereinbar ansieht.« Peter B. Smith, Sozialpsychologie und kulturelle Unterschiede. In: Klaus Jonas/Wolfgang Stroebe/Miles Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie. (Heidelberg 20146), 565-605; 603.
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Praxis zu leben, stellte sich in der empirischen Studie als komplexe und facettenreiche Aufgabe heraus. Die wohl wichtigsten Ergebnisse meiner qualitativen Studie sind, dass das mitunter durchaus entschlossene Festhalten an der kultur-nationalen Identität der Herkunftskultur nicht im Widerspruch zur gelingenden Integration der Migrant_innen in die Aufnahmegesellschaft steht. Auch multiple oder hybride Identitäten und Zugehörigkeiten müssen die Integration nicht behindern. Damit bestätigt sich, was u.a. Stefan Mau in seiner Untersuchung feststellen konnte: Der Aufbau neuer, transnationaler Bezüge muss keineswegs ein Aufgeben der nationalen Identität des Herkunftslandes bedeuten, »unterschiedliche Identifikationsebenen [können] miteinander kombiniert werden«151. Die vorgestellten Sequenzen aus den mündlichen Erzählungen der Migrant_innen zeigen, dass die Integration unterschiedlicher ›Identitätselemente‹ in ein kohärentes, facettenreiches und multiples Selbstbild möglich ist. Dafür aber sind Identitätsstrategien, Identitätsarbeit und Integrationsbereitschaft notwendig, in deren Verlauf auch Spannungen und Konflikte ausgehalten bzw. ausgehandelt werden müssen. Identitätsarbeit verstehe ich mit Keupp als »permanente Verknüpfungsarbeit«, »die dem Subjekt hilft, sich im Strom der eigenen Erfahrungen selbst zu begreifen«152. Für den Großteil der interviewten Migrant_innen konnten »gelungene Identitäten« konstatiert werden. Ein solches Gelingen kann mit Keupp folgendermaßen bestimmt werden: »Gelungene Identität [ist M.N.] in den seltensten Fällen ein Zustand der Spannungsfreiheit. [...] Gelungene Identität [ist M.N.] ein temporärer Zustand einer gelungenen Passung. Sie ermöglicht dem Subjekt das ihm eigene Maß an Kohärenzen, Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit.«153
Die hier untersuchten Erzähltexte exemplifizieren und belegen immer wieder die situative Anpassung und damit auch die mehrfache Veränderung oder Rekomposition von (Teil-)Identität(-en). Die interviewten Migrant_innen haben die Integration ihrer ›Teilidentitäten‹ zu einem kongruenten Selbstbild explizit oder implizit als das Ziel ihrer jeweiligen Identitätsstrategien formuliert. Die Anpassung an die durch Migration mehr oder weniger veränderte Lebenslage, das Erlangen von Verhaltenssicherheit und von einem kohärenten Selbstbild wiederum erfordern Lernprozesse und Identitätsarbeit. Verstehen wir transnationale Räume nicht als »Ersatznationen«, sondern als Netzwerke multipler oder hybrider Identitäten, stellt sich die Frage nach der Verbindung von Transnationalität respektive Transnationalisierung und Identitätspro151 Mau 2007, 222. 152 Keupp 2008, 190. 153 Keupp 2008, 273 ff. Vgl. auch ebda. 281 ff. zu den dafür nötigen Kompetenzen.
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jekten und Identitätsprozessen.154 Zu liefert diese Untersuchung zwei interessante Erkenntnisse: Zum einen zeigt die Analyse der Erzählungen, dass multiplen oder hybriden kultur-nationaler Identitäten bereits während der Organisierten Moderne eine hohe Bedeutung zukam. Zum anderen belegt diese Untersuchung, dass auch unter spätmodernen Bedingungen Herkunftsnation und Herkunftskultur als identitätsstiftende Bezugshorizonte von großer Relevanz sind. Die These der zunehmenden Transnationalisierung und transnationalen Mobilität in der Spätmoderne mit dem Idealbild des stets mobilen und identitär vollends dezentrierten Weltbürgers/der Weltbürgerin erfährt durch diese qualitativen Ergebnisse einige Einschränkungen. Transnationale identitäre Mobilität ist weder ein ausschließliches Phänomen der Spätmoderne, sie existiert auch davor, noch führt sie zu einem völligen Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Bezugshorizonte, diese sind auch in der Spätmoderne relevant. Verändert haben sich im Untersuchungszeitraum, auch in Abhängigkeit von technischen Möglichkeiten, lediglich die damit verbunden Praktiken. Zuletzt soll meine These, dass die kultur-nationale Identität im Alltagsdenken, in der Alltagsrede und in der lebensweltlichen Kommunikation durchwegs essentialisiert wird, als Ergebnis der Studie hervorgehoben werden. Üblicherweise wird diese Essentialisierung im sozialwissenschaftlichen Diskurs als ideologisch, als ein unvermeidlicher ›Denkfehler‹ im Alltagsleben kritisiert. Dem möchte ich jedoch entgegenhalten, dass eine solche Essentialisierung im Alltagsdiskurs und in der Alltagspraxis aber auch sozial stabilisierende Funktionen erfüllt. Als Erklärung und Rechtfertigung, aber auch als ›Hilfskonstrukt‹ in der Selbst- und Fremdpositionierung sowie der Selbstwahrnehmung hat sie lebensweltliche praktische Bedeutung. Damit in Zusammenhang steht auch das diskursiv verbreitete Postulat, Identität ›haben‹ zu müssen, um sich als physisch und psychisch gesunder und kompetenter Mensch einstufen zu können. Sie ist also eine Art Normalitätsgebot, und es liegt weder in der Macht noch im Interesse der meisten Menschen, sich diesem Normalitätsgebot vollends zu entziehen.
154 Vgl. Ruokonen-Engler 2012, 90.
8
Zusammenfassung und abschließende Reflexion
8.1 MIGRATIONSBIOGRAPHIEN VON ›AFFLUENT MIGRANTS‹ Im Hinblick auf Motive und Gründe der Migration von ›affluent migrants‹ aus ausgewählten Ländern Europas nach Österreich ergibt sich ein heterogenes Bild. Arbeits-, Liebes-, Lifestyle- und Studienmotive erzeugen eine Vielfalt an Perspektiven und Erfahrungen. Meistens sind sogar mehrere Motive und Gründe im Lauf einer einzelnen Migrationsbiographie relevant. Die Analyse der Migrationsverläufe ergab, dass die sukzessive und iterative Migration die dominierende Verlaufsform darstellt. In diesen Fällen verlief das Leben der Migrant_innen nicht wie ursprünglich geplant oder erwartet. Ihre Migrationsbiographien sind daher nicht durch eine einzige, als besonders schwerwiegend empfundene Entscheidung sowie von deren zielstrebiger Umsetzung bestimmt, sondern durch eine Serie von Migrationsentscheidungen, die jeweils eine neue Etappe der Migration begründeten und für einen zeitlich offenen oder einen begrenzten Zeitraum getroffen wurden. Dabei wurde eine Revision der jeweiligen Entscheidung meist als möglich vorausgesehen. Neben Motiv und Planung spielte hierbei aber auch der Zufall eine Rolle. Ein solcher Zufall trat für einige meiner Gesprächspartner_innen beispielsweise in Form einer neuen Liebesbeziehung ein. Auch wenn klar ist, dass dies nicht ›zufällig‹ im Sinn einer gar nicht aktiv herbeigeführten Bindung geschah, so waren biographische Ereignisse dieser Art doch weder vorhergeplant noch vorhersehbar. Für den Untersuchungszeitraum von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart kann zwar eine Tendenz zu vermehrter räumlicher, aber auch psychischer Mobilität festgestellt werden, der Befund vorwiegend sukzessiver und iterativer Migrationsverläufe gilt aber für alle hier untersuchten Migrationsgenerationen seit den 1960er Jahren. Damit widersprechen die Ergebnisse meiner Untersuchung ›traditionellen‹
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Migrationsmodellen, die von geradlinigen und teleologischen Migrationsverläufen ausgehen, deren Endziel von vornherein feststeht.1
8.2 AUCH ›AFFLUENT MIGRANTS‹ HABEN SCHWIERIGKEITEN Durch die Beschränkung auf ›affluent migrants‹ aus Spanien, Deutschland und Skandinavien wurde vorausgesetzt, dass die Proband_innen hinsichtlich des politischen Regimes, des Lebensstandards sowie der ›sozio-kulturellen‹ Rahmenbedingungen den Verhältnissen in Österreich weitgehend nahe sind. Als EU-Bürger_innen bzw. als Bürger_innen des EWR-Mitgliedstaates Norwegen verfügen sie zudem als innereuropäische Migrant_innen im Großteil des Untersuchungszeitraums über eine ganze Reihe sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Vorteile.2 Zudem handelt es sich bei meinen Gesprächspartner_innen, so meine Vermutung, um mehrheitlich ›gerngesehene‹ Zuwander_innen. Als Ausgangshypothese hatte ich jedoch die Annahme formuliert, dass auch solche ›affluent migrants‹ mit beträchtlichen Migrationskosten, vielfältigen Herausforderungen und Schwierigkeiten sozialer, psychischer oder struktureller Art konfrontiert sein dürften. Diese Annahme hat sich rasch bestätigt. Aufgrund dessen habe ich also die autobiographisch erzählten und alltagstheoretisch erklärten Probleme, Schwierigkeiten, Herausforderungen und Erfolge der ›affluent migrants‹ näher untersucht.
8.3 DIE KONFRONTATION MIT STEREOTYPEN UND VORURTEILEN IN DER AUFNAHMEGESELLSCHAFT Die Analyse der in den Erzählungen beschriebenen Erfahrungen der Migrant_innen mit Stereotypen und Vorurteilen in Österreich erbrachte, dass Migrant_innen, die aus Skandinavien, Spanien und Deutschland zugewandert sind, auf vielfältige und vor allem im Hinblick auf das Herkunftsland differenzierte Weise mit Typisierungen, mit positiven und negativen Stereotypen aber auch mit Vorurteilen konfrontiert wurden und werden. Migrant_innen aus dem skandinavischen Raum berichten über
1
Vgl. z.B. Mau 2007, 130 ff.; Faßmann 2003, 430 ff.; Katrin Lehnert/Barbara Lemberger, Mit Mobilität aus der Sackgasse der Migrationsforschung? Mobilitätskonzepte und ihr Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftsforschung. In: Vom Rand ins Zentrum Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung. (Berlin 2014), 45-62.
2
Vgl. dazu z.B. Recchi 2005, 1 f.; 6 ff.; Mau 2007, 127 f.
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positive Stereotype von der besonderen Fortschrittlichkeit ihrer Länder und ihrer Kulturen. Negative Erfahrungen mit derartigen Typisierungen haben sie nicht gemacht. Im Gegensatz dazu sehen sich Migrant_innen aus Spanien neben positiven auch mit negativen Stereotypen konfrontiert. Diese beziehen ihre Motive aus seit langem flottierenden Vorurteilen gegenüber dem europäischen und dem globalen Süden. Deutschland ist unter den hier untersuchten Herkunftsländern das einzige, dessen Einwander_innen nicht nur mit positiven und negativen Stereotypen und Vorurteilen, sondern auch mit Anfeindungen konfrontiert sind. Diese sind aus der bewegten Geschichte des Verhältnisses von Deutschland und Österreich insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und aus der latenten Konkurrenzen in Wirtschaft, Kultur und Sport zu erklären. Auffallend an den dazu vorliegenden Erzählungen ist, dass Migrant_innen aus Deutschland von solchen negativen Erfahrungen überrascht werden. Derartiges hatten sie nicht antizipiert. Allerdings fällt ihre Kritik an solchen Erlebnissen eher verhalten aus. Offenbar haben sie kein Interesse daran, die oft halb versteckten Feindseligkeiten in ihren Erzählungen, möglicherweise aber auch in ihrem Migrationsnarrativ sich selbst gegenüber, groß herauszustellen. Die Vorannahme hingegen, dass sich die untersuchten Migrant_innengruppen aus Skandinavien, Spanien und Deutschland hinsichtlich ihres Ansehens (genauer: ihrer Wahrnehmung, Bewertung und Assoziationen) in Österreich von anderen Migrant_innengruppen, insbesondere von Einwander_innen aus dem globalen Süden unterscheiden, hat sich vollends bestätigt. Eine meiner Interviewpartner_innen brachte dies mit der Formulierung »Ausländerin erster Klasse« auf den Punkt. Bemerkenswert scheint aber, dass die interviewten Zuwander_innen das von ihnen mit weniger privilegierten ›Ausländern‹ Geteilte hervorheben und sich auf Grund von (vermeintlich) ähnlichen Erfahrungen mit ihnen verbunden fühlen, zumindest auf der Ebene des moralisch-ethischen Grundsatzes. Angesichts dessen, dass sich die hier untersuchten Migrant_innengruppen deutlich von als vielfältig ›benachteiligt‹ wahrgenommenen Migrant_innen des globalen Südens unterscheiden, stellt diese ethisch-moralische Solidarität der Immigrant_innen aus den drei ausgewählten Herkunftsgesellschaften in meinen Augen ein überaus interessantes Ergebnis dar.
8.4 DIE ALLTÄGLICHE THEORIE VON ›KULTUR‹ ALS ZENTRALES EXPLANANS DER MIGRANT_INNEN Diese Untersuchung hat aber ebenso gezeigt, dass die Herausforderungen, die vor allem ›fremde‹, unvertraute Handlungsmuster, Verhaltensweisen und Wertesysteme, die Migrationen zwischen, global betrachtet, kulturell und sozio-ökonomisch relativ ähnlichen Gesellschaften mit sich bringen, keineswegs unterschätzt werden
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sollten. Angesichts und bedingt durch ihnen Unvertrautes fühlen sich die Einwander_innen in Österreich auch als Fremde. Wie erklären sie sich diesen Umstand? Dazu erbrachte meine Studie ein signifikantes Ergebnis: Das zentrale Explanans der Migrant_innen für die Erfahrung des Fremdseins ist ein alltagstheoretisches (oder proto-soziologisches) Konzept von Kultur bzw. von ›kulturellen Unterschieden‹. Diese werden als Erklärung für eigene Erfahrungen des Fremdseins und für Schwierigkeiten mit ›eingesessenen‹ Österreicher_innen herangezogen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie der kulturelle Unterschied genauer hin von den Migrant_innen gedacht und konstruiert wird. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive liegt dieser historisch-sozialwissenschaftlichen Arbeit, wie ich ausführlich dargelegt habe, ein anti-essentialistisches Kulturkonzept zugrunde. Kultur wird hier im Konsens mit den rezenten Sozial- und Kulturwissenschaften nicht als Entität, sondern als dynamische und prozesshafte Praxis verstanden; als ›Doing Culture‹. Im Common Sense der interviewten Migrant_innen hingegen begegnet uns ein überwiegend essentialistisches Kulturverständnis. Im Sinne der Herangehensweise qualitativer Sozialforschung, d.h. in Hinblick auf die Frage, wie von den Zuwander_innen sozio-kulturelle Tatsachen interaktiv, kommunikativ und symbolisch hergestellt werden, habe ich dies jedoch nicht kurzerhand als falsches Bewusstsein (Ideologie) abgetan, sondern vielmehr nach Nutzen und Brauchbarkeit, mit anderen Worten, nach dem praktischen Sinn oder der Nützlichkeit eines solchen Verständnisses von Kultur im Alltagsleben gefragt. Wenn die interviewten Migrant_innen Kultur essentialisierend konstruieren und argumentieren, erkläre ich dies aus ihren eigenen Erkenntnisinteressen und aus den Praktiken des Alltagslebens. Das Ergebnis lautet, knapp resümiert: Die interviewten Migrant_innen verstehen sich als Träger_innen einer, oder zweier, als klar umrissen gedachter Kulturen. Sie gehen von der für das Alltagsleben typischen Gewissheit aus, dass jeder Mensch relativ dauerhaft einer bestimmten Kultur angehört und diese insofern ›hat‹, als er von ihr leibhaftig durch und durch geprägt ist. Die wahrgenommenen Unterschiede werden auf dauerhafte Wesenheiten zurückgeführt, die als sprachliche, regionale, physiognomische und phänotypische (auch ›ethische‹) Gegebenheiten wie eine unveränderliche Natur der Kultur interpretiert, also naturalisiert werden, die sich über die Fortpflanzung und wie auch immer vorgestellte Vorgänge der Vererbung und Erziehung (Sozialisation) fortlaufend reproduzieren. Kultur rückt damit ganz nahe an Natur, wenn beide in dieser Vorstellung nicht sogar ineinander aufgehen. Daher scheint es sogar noch zu kurz gegriffen, von kultur-nationalen Differenzen zu sprechen. Was hier im Alltagsdenken, alltäglichen aber auch literarischen Erzählungen konstruiert wird, sind natur-kultur-nationale Differenzen. Eine solch essentialistische Auffassung von Kultur ist möglicherweise in allen Gesellschaften hegemonial. Offenbar aber ist sie (auch) für Migrant_innen besonders naheliegend und nützlich; ohne deshalb natürlich im Sinn der Sozialwissenschaft auch richtig zu sein. Wahrscheinlich ist diese Auffassung für Migrant_innen
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deshalb besonders nützlich, weil sie es ihnen erlaubt, das Eigene (die Herkunftskultur) und das Fremde (die Kultur des Gastlandes) wie zwei kulturelle Container aufzufassen. Transkulturalität etwa heißt aus der Alltagsperspektive der zugewanderten Akteur_innen und ihrer Partner_innen ein ›Trans‹ zwischen essentialisierten Kulturen. Transnationalität bedeutet in ihrer Perspektive ein ›Trans‹ zwischen naturalisierten Nationen. Über diese Common Sense-Konzepte wiederum erklären die Migrant_innen ihre eigenen Lern- und Adaptionsprozesse und auch ihre eigenen Fremdheitserfahrungen im Zuge der Migration. Derartige natur-kultur-nationale Differenzen werden von meinen Interviewpartner_innen beispielsweise auch als Erklärung für geschlechtsspezifische Rollenbilder angeführt, die sich vor allem in skandinavischen Ländern, aber auch in Regionen Spaniens von den in Österreicher dominierenden unterscheiden. Die in Österreich vorherrschende Geschlechterkultur halten die weiblichen Zuwanderer aus allen drei Herkunftsregionen, insbesondere aber aus Skandinavien zugewanderten Frauen, für rückständig: Schon in einer sehr frühen Phase der Untersuchung zeichnete sich ab, dass deutlich unterschiedliche geschlechtsspezifische Rollenbilder im Herkunfts- und im Aufnahmeland für Migrant_innen (zuvorderst für Frauen) zu Konflikten und Spannungen führen. In den Erzählungen werden diese zum einen auf der Ebene der direkten Interaktion mit signifikanten Anderen wie dem (Ehe-) Partner, oder den Schwiegereltern beschrieben, zum anderen aber auch auf der Ebene der Gesellschafts- und Sozialpolitik. Manifestiert sich dieses Konfliktfeld bei den in den 1960er und 1970er Jahren Zugewanderten noch vornehmlich im Bereich der Haus- und Elternarbeit, so kommt für später zugewanderte (und damit jüngere) Frauen noch das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinzu. Wie die Untersuchung eindrücklich veranschaulicht, stellen diesbezügliche Kontroversen vor allem für Frauen hohe Migrationskosten dar. Gleichgültig, ob die Konflikte auf der interaktionellen oder auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene verortet werden: Die Betroffenen deuten sie als Ausdruck unterschiedlicher kultureller Prägungen, wobei das Kulturelle oft bereits als ein zur Natur gewordener und deshalb kaum veränderlicher Habitus erscheint.
8.5 AKKULTURATION Der Vorgang des kulturellen Lernens (der Akkulturation) wird von den Erzähler_innen als eine ihnen durchaus bewusste, von ihnen steuerbare und gesteuerte, reflexive Aktivität verstanden, deren Ziel es ist, die zunächst fremde kulturelle Gemeinschaft nach und nach kennen und bestenfalls sogar verstehen zu lernen und sich in ihr möglichst selbstsicher zu bewegen. Ein solcher Lernprozess ist, wie das unter-
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suchte narrative Material zeigt, kontinuierlich und dynamisch, aber nicht ohne Brüche, nicht abschließbar und in seinem Verlauf nicht präzise vorhersehbar. Einen bedeutenden Aspekt der Akkulturation der aus Spanien und Skandinavien stammenden Migrant_innen stellt beispielsweise das Erlernen zunächst gänzlich fremder Kommunikationsmuster und die Erlangung diesbezüglicher Verhaltenssicherheit dar. Interessanterweise wird dies von den Gesprächspartner_innen als schwieriger beschrieben, als etwa das Erlernen der deutschen Sprache. Neben zahlreichen Beispielen für ›critical incidents‹, d.h. für »typische, sich wiederholende interkulturelle Schlüsselerlebnisse und Konfliktsituationen«,3 wird der ›rauere‹ Umgangston, oder aber eine ›unehrliche‹ oder ›nicht offene‹ Kommunikation in Österreich bzw. in Wien als problematisch beschrieben. Einige Erzähler_innen schildern diesbezüglich einen langen und fordernden Lernprozess. An seinem Ende erst gelang es ihnen, diesen Stil der Kommunikation nicht persönlich zu nehmen, d.h. die ›Schuld‹ für ›Unfreundlichkeiten‹ oder Unehrlichkeiten nicht bei sich selbst zu suchen. Solche Erfahrungen werden von den Migrant_innen auf ein spezifisch österreichisches Wertesystem oder einen spezifisch österreichischen ›Kulturcharakter‹ zurückgeführt. Das empirische Material zeigt außerdem, dass Akkulturation zwei Dimensionen umfasst: Erstens die Auseinandersetzung mit und die sukzessive Aneignung der neuen (zunächst fremden) Kultur und zweitens die Orientierung an der vertrauten Herkunftskultur, die sich im Zuge der Migration allerdings verändert, sich entweder abschwächt oder aber auch stärkt. Wobei letzteres eine mögliche Reaktion auf Fremdheitserfahrungen zu sein scheint. Aufgrund der hohen sozialen Kontingenz und individueller Unterschiede ließen sich aus den vorliegenden Erzählungen keine generalisierbaren Verlaufsphasen der Migration abstrahieren. Vor allem die sukzessive und iterative Migration der ›affluent migrants‹ erzeugt höchst variantenreiche Migrationsbiographien von Migrant_innen aller Herkunftsländer und Migrationsgenerationen. Hingegen waren auf der kognitiven und psychischen Ebene unabhängig von Herkunftsland und Zeitpunkt der Migration charakteristische Akkulturationsphasen rekonstruierbar. Sie sollen hier noch einmal abstrahiert und kurz referiert werden. Nach ihrer Ankunft in Österreich erlebten die Proband_innen eine Phase der Neugierde, des interessierten ›Eintauchens‹ in die neue Sozietät und Kultur, und in einigen Fällen auch eine regelrechte Euphorie. Einige beschreiben diese Phase als »Urlaubs-Feeling«.4 Das Fremde und Andere erscheint spannend und interessant, Probleme werden als wenig belastend wahrgenommen. In einer zweiten Phase werden zahlreiche Routinen des Berufs- und des Alltagslebens etabliert. (Erinnert sei daran, dass ›affluent migrants‹ zumeist keine langen Wartezeiten auf Ausbildungs3
Broszinsky-Schwabe 2011, 220.
4
Vgl. dazu auch Hall 1981, 34 f.
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plätze oder berufliche Anstellungen haben, ein wohl wichtiger und folgenreicher Unterschied zu weniger ›privilegierten‹ Migrant_innen). Dennoch wird auch für ›affluent migrants‹ das Neue und Fremde in der zweiten Phase anstrengend. Denn nun sehen sie sich mit dem Selbst- und Fremdanspruch konfrontiert, sich in beruflichen und privaten Kontexten Verhaltenssicherheit anzueignen und ihre Deutschkenntnisse zu perfektionieren. Ein in dieser Phase wiederkehrendes Deutungsmuster lautet: »Zuhause wäre es einfacher!«. In Anlehnung an Alfred Schütz kann hier ein Moment der »Krisis« konstatiert werden. »Der Fluss der Gewohnheiten wird unterbrochen. Bedingungen sowohl der Praxis als auch des Bewusstseins verändern sich und aktuelle Relevanzsysteme verlieren ihre Gültigkeit«.5 In einer dritten Phase müssen die nunmehr deutlich gewordenen Herausforderungen bewältigt werden. Trotz deutlicher Gemeinsamkeiten sind diese Lern- und Bewältigungsprozesse sowie die dazu eingesetzten Strategien unterschiedlich. Auch in ihren (subjektiven und objektiven) Erfolgen bzw. darin, was als erfolgreiche Akkulturation bewertet wird, unterscheiden sich die Gesprächspartner_innen. Das allen gemeinsame Ziel von Akkulturation und Integration ist nur sehr vage und allgemein zu formulieren: Es besteht in einer als zufriedenstellend erlebten Lebensqualität. Ob und wie dieses Ziel erreicht wird, hängt von einer Reihe unterschiedlicher Faktoren ab: dem sozialen Umfeld, der individuellen Motivation und diversen Kompetenzen, sowie nicht zuletzt von dem Gefühl, in Österreich willkommen zu sein. Als eine vierte Phase kann die gelegentlich erwogene Remigration bezeichnet werden. Aus den vorliegenden Erzählungen kann eine solche Phase nicht rekonstruiert werden, da alle interviewten Migrant_innen zum Zeitpunkt des Interviews immer noch im Raum Wien lebten. Für einige stellt eine mögliche Remigration allerdings einen vagen positiven Orientierungshorizont dar, während andere dies sogar konkret planen. Ergänzend zu den beschriebenen vier Phasen und mit ihnen vermutlich auch kausal in Zusammenhang stehend, lassen sich auch auf der Seite der Aufnahmegesellschaft zwei Phasen unterscheiden: In der ersten Phase wird den hier untersuchten Migrant_innen vorwiegend mit Interesse, Neugierde und Wohlwollen begegnet. In einer zweiten Phase (die zeitlich etwa den Phasen zwei und drei auf Seiten der Migrant_innen entspricht), steigert die Aufnahmegesellschaft bzw. steigern die je konkreten sozialen Umwelten ihre Erwartungen und Forderungen an die Migrant_innen. Schienen sie zuvor in ihrer relativen Fremdheit oder gar Exotik interessant, wird nun von ihnen erwartet, sich anzupassen, sich in die kulturelle Gemeinschaft einzufügen, sich im alltäglichen Sinn also möglichst weitgehend zu integrieren. Das private und das berufliche Umfeld beginnen ungeduldig zu werden, wenn etwa die
5
Schütz 1972, 59. Vgl. auch Breckner 2009, 114.
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sprachliche Lernleistung unter den Erwartungen bleibt oder gewisse Verhaltensweisen nicht angenommen werden.
8.6 INTEGRATION Aufs Engste mit dem Prozess der Akkulturation verbunden – und je nach Definition sogar zum Teil damit ident – ist der Prozess der Integration. Wie im entsprechenden Kapitel ausführlich dargestellt, umfasst Integration im Verständnis der vorliegenden Studie eine Reihe unterschiedlicher Bereiche und Dimensionen. Im Detail habe ich dieses Phänomen in folgende Dimensionen gegliedert untersucht: strukturelle Integration; kulturelle Integration; soziale Integration und schließlich identifikative Integration. Im Hinblick auf die Frage nach Gruppenunterschieden, sei es nach Herkunftsregion, oder Zeitpunkt der Migration, ist die Erkenntnis bedeutsam, dass die im Folgenden noch einmal kurz zusammengefassten Ergebnisse für alle hier untersuchten Migrant_innengruppen gleichermaßen gelten. Auf der strukturell-politischen Ebene haben die hier untersuchten Migrant_innengruppen, besonders seit den 1990er Jahren, bedingt durch ihren Status als EUBürger_innen respektive als Bürger_innen des EWR-Mitgliedstaates Norwegen, eine Reihe von Vorteilen gegenüber anderen Migrant_innengruppen. In zwei Aspekten aber werden dennoch Exklusionen beschrieben: Erstens bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen in Österreich, obwohl diese von jedem EU-Land anerkannt werden sollten (eine Hürde, auf die sowohl aus rechtlicher Perspektive als auch in sozialwissenschaftlichen Studien immer wieder als grobes strukturelles Hindernis für innereuropäische Migrant_innen verwiesen wird6). Zweitens wird das fehlende Wahlrecht bei nationalen Wahlen, also die Unmöglichkeit der politischen Mitsprache und Mitbestimmung in jenem Staat, in welchem die Migrant_innen ihrer Erwerbsarbeit nachgehen und Steuern bezahlen, als exkludierend wahrgenommen und beschrieben. Das übergeordnetes Integrationsziel der hier untersuchten Migrant_innen ist es, ein ›gutes Leben‹ in Österreich zu führen, also eine als zufriedenstellend empfundene Lebensqualität zu erlangen. Als dafür nötig erachten sie, wenn auch in individuell unterschiedlichen Ausmaßen, das Erlernen der deutschen Sprache (so Deutsch nicht ihre Muttersprache ist), das Erlangen von Verhaltenssicherheit, die Inklusion
6
Vgl. dazu z.B. Baldoni 2003, 13 ff.; Verwiebe/Mau/Seidel/Kathmann 2010, 276 f.; Steffen Mau/Roland Verwiebe/Till Kathmann/Nana Seidel, Die Arbeitsmigration von Deutschen in Europa. Erste Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung. Die Natur der Gesellschaft, Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. (Kassel 2008), 4471 ff.
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in soziale Netzwerke und die Möglichkeit, einer als zufriedenstellend empfundenen beruflichen Tätigkeit nachgehen zu können. Vor allem auf Ebene der sozialen und kulturellen Integration kann das Ziel der (partiellen) Integration auch als ›sich weniger fremd‹ bzw. ›sich nicht mehr fremd fühlen‹ umschrieben werden. Im Zusammenhang mit dem Wunsch nach einem ›gelungenen Leben‹ postuliert der Soziologe Harmut Rosa, »dass menschliche Subjekte in ihren Handlungen und Entscheidungen stets auf eine – bewusste und reflexive oder implizite und unartikulierte – Vorstellung des gelingenden Lebens zurückgreifen, von der her sie Orientierung gewinnen«7. Welche Orientierungsrahmen dafür von den interviewten Migrant_innen als relevant gesetzt werden, ist sehr unterschiedlich. Für einen Teil der Interviewpartner_innen ist die Familie der wichtigste Orientierungsrahmen, für Andere ist es ihre berufliche Karriere, für wieder Andere ist es die Vereinbarkeit von beidem. Die Analyse der Frage, wie die interviewten Migrant_innen das beschriebene Ziel zu erreichen suchen, also welche »typischen Bewältigungsstrategien zur je individuellen Bewältigung«8 von als schwierig oder problematisch empfundenen Situationen angewandt werden, hat gezeigt, dass sich in der Vielzahl unterschiedlicher Strategien und Herangehensweisen auch Gemeinsamkeiten ausmachen lassen. Allen Interviewpartner_innen ist gemeinsam, dass sie ihre partielle Integration als gerechtfertigte und zumutbare Anforderung und auch als Verpflichtung gegenüber der Aufnahmegesellschaft empfinden. Sie betrachten ihre (partielle) Integration als etwas, das vor allem auf den Ebenen der sozialen und der kulturellen Integration in ihrer eigenen Verantwortung liegt und nur durch eine proaktive Herangehensweise zu erreichen ist. Im Hinblick auf soziale Integration versuchen sie offen zu sein und aktiv auf Menschen zuzugehen, während sie im Hinblick auf kulturelle Integration Sprachkurse besuchen oder andere Möglichkeiten suchen, ihr Deutsch zu ›praktizieren‹ und zu verbessern. Viele meiden zumindest in der ersten Zeit in Österreich ganz bewusst den Kontakt zu Migrant_innen aus demselben Herkunftsland. Auf diese Weise erhoffen sie sich, schneller Deutsch zu lernen und sozialen Anschluss zu finden. Andererseits beschreiben interessanterweise nur in den 1960er und 1970er Jahren zugewanderte Skandinavier_innen die Strategie des Austauschs unter ›Landsleuten‹. Auch nach Jahrzehnten in Österreich ›brauchen‹ und pflegen sie die Gespräche mit Migrant_innen aus ihrem Herkunftsland. All diese Gesprächspartner_innen sind sowohl in ihrer eigenen subjektiven Wahrnehmung als auch nach meiner Interpretation gut integriert und mehr oder weniger zufrieden mit ihrem Leben in Österreich. Der Austausch mit ›Landsleuten‹ stellt dennoch eine wichtige 7
Hartmut Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. (Berlin 20132), 271.
8
Ruokonen-Engler 2012, 108.
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Strategie dar. Zudem kann diese Praxis als eine Form des ›Doing Identity‹ interpretiert werden. Immer wieder wird in den vorliegenden Erzählungen die mit dem auch selbst gesteckten Ziel der (partiellen) Integration verbundene Anforderung und Notwendigkeit ›sich anzupassen‹ angesprochen. Ein solches ›Anpassen‹ bedeutet meist Umstände oder Aspekte zu akzeptieren, die man ohnehin nicht ändern kann. Dieses Akzeptieren stellt stets das Ergebnis eines mehr oder weniger bewussten und beschwerlichen Lernprozesses dar. Manche Interviewpartner_innen erlebten dieses ›Anpassen‹ als wenig problematisch, während es andere als herausfordernd und häufig auch als schwierig beschreiben. Langwierige und zähe bürokratische Abläufe, wahrgenommene Schwächen des österreichischen Schulsystems oder mangelnde gesellschaftspolitische Unterstützung berufstätiger Mütter werden häufig als Umstände beschrieben, an die man sich ›halt anpassen muss‹. Auf kultureller Ebene werden häufig zwischenmenschliche Umgangsformen, die sich deutlich von den im Herkunftsland gebräuchlichen unterscheiden, als anpassungsbedürftig beschrieben. Als die Integration erleichternd, wird immer wieder das Gefühl ›willkommen zu sein‹ und ›positiv aufgenommen zu werden‹, geschildert. Während also Offenheit, Neugierde und Lernbereitschaft den Immigrant_innen als eine wesentliche Voraussetzung für eine (partielle) Integration erscheinen, erhalten sie die Motivation und das dazu nötige Vertrauen in Interaktion mit Angehörigen der Aufnahmegesellschaft.
8.7 TRANSNATIONALE ALLTAGSWELTEN Auch die Frage nach transnationalen Alltagswelten sowie nach transnationalen und transkulturellen Praktiken war für die vorliegende Untersuchung von hoher Bedeutung. In Anlehnung an Ludger Pries habe ich vier Dimensionen transnationaler Sozialräume definiert, die sich als Analyseraster zur Interpretation der in den Interviews generierten ›Narrativen der Transkulturalität und Transnationalität‹ als geeignet erwiesen. Diese Dimensionen sind der politisch-legale Rahmen, die materielle Infrastruktur, soziale Strukturen und Institutionen, Identitäten und Lebensprojekte sowie die von mir hinzugefügte Dimension der Transkulturalität der Alltagswelt und der alltäglichen Praktiken. Damit stellt meine Studie auch einen konstruktiven Beitrag zu dem – wie Kritiker bemerken – bislang noch nicht ausreichend empirisch erforschten Konzept der Transkulturalität dar.9
9
Katrin Hauenschild/Meike Wulfmeyer, Transkulturelle Identitätsbildung – ein Forschungsprojekt. In: Asit Datta (Hrsg.) Transkulturalität und Identität. Bildungsprozesse zwischen Exklusion und Inklusion. (Frankfurt am Main 2005), 183-201; 183.
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Als konstituierendes Element transnationaler Lebenswelten habe ich versucht, alltägliche Praktiken aus den Erzählungen zu rekonstruieren. Sie bestehen für alle untersuchten Migrant_innengruppen vor allem in regelmäßigen Kommunikationen mit Freunden und Familienangehörigen im Herkunftsland, aber auch in regelmäßigen Besuchen des Herkunftslandes, die einen wiederholten Wiedereintritt in die Herkunftsgesellschaft bedeuten: physisch, sozial, psychisch, kulturell und bis zu einem gewissen Grad auch politisch. Vor allem traditionelle Familienfeste wie Weihnachten oder Ostern sind Anlässe für gegenseitige Besuche. Das damit verbundene Zelebrieren spezieller Rituale in der Tradition des Herkunftslandes stellt eine transkulturelle Praktik dar, die von einigen Gesprächspartner_innen aufmerksam gepflegt wird. Ein als unzureichend empfundener Kontakt mit Familie und Freunden im Herkunftsland wird als großer – für manche sogar als der größte – Kostenpunkt eines Lebens im ›Ausland‹ wahrgenommen. Zwar erleichtern es ab den 1980er und 1990er Jahren neue Kommunikationsmedien die Bindungen an Angehörige im Herkunftsland zu bewahren und prägen so die Formen transnationaler Netzwerke von sozialen Kontakten und Bindungen. Den face-to-face Kontakt mit Familienangehörigen und Freunden können aber auch diese Technologien offenbar nicht ersetzen. Wenn Freundschaften darüber loser werden oder sich ganz auflösen, empfinden und beschreiben dies die Migrant_innen als schmerzhaft. Drei Haupttypen transnationaler Sozialräume konnten aus den vorliegenden Erzähltexten rekonstruiert werden, die sich in Form und Ausmaß unterscheiden. 10 Außerdem zeigt das empirische Material, dass Transnationalität respektive transnationale Lebenswelten stets, für alle hier untersuchten Gruppen von Migrant_innen, einen dynamischen, prozesshaften Charakter haben; eine Erkenntnis, die bislang meines Erachtens nicht ausreichend betont wurde. In Abhängigkeit von den jeweiligen Lebensumständen und der jeweiligen Lebens- und Migrationsphase wandeln und verändern sich die transnationalen Lebenswelten und die in ihnen möglichen Praktiken und zwar unabhängig von der Dauer der Migration.
10 Zur Erinnerung, diese sind ›binational-kulturelle transnationale Sozialräume, ›deutschösterreichischen transnationale Sozialräume‹ sowie ›kosmopolitisch orientierte transnationale Sozialräume‹.
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8.8 PROZESSE DER KULTUR-NATIONALEN IDENTITÄTSSTIFTUNG Auch diese Untersuchung zeigt, dass mit Prozessen der Migration, der Akkulturation und der Integration, immer verbunden mit der »Einbindung in verschiedene gesellschaftliche Relevanzsysteme«11, unweigerlich auch spezielle Identitätsstiftungsprozesse einhergehen. Auf einer bewussten oder latenten Ebene geht es hierbei immer auch um die Frage »Wer bin ich?«. Identitätsfragen gewinnen auch im Zuge der hier untersuchten Migrationen an Bedeutung und Relevanz. Daher galt mein Interesse auch der Frage, ob und wie solche speziellen Identitätskonstruktionen empirisch gefasst werden können.12 Während in einigen Fällen Reflexionen und Auseinandersetzung mit Fragen der Identität und Selbstverortung vornehmlich auf der latenten, unbewussten Ebene ablaufen, setzen sich andere Gesprächspartner_innen auch bewusst und explizit damit auseinander. Aus den sehr unterschiedlichen Fällen konnte ich über die Abstrahierung von Merkmalen aus allen untersuchen Migrant_innengruppen vier Typen rekonstruieren: Erstens Migrant_innen, die sich selbst explizit oder implizit eine ›verdoppelte‹ respektive multiple kultur-nationale Identität zuschreiben, die sich also als dem jeweiligen Herkunftsland wie auch dem Aufnahmeland (Österreich) in vergleichbarer Weise zugehörig fühlen. Zweitens Gesprächspartner_innen, für die der primäre Bezugshorizont ihrer kultur-nationalen Identität (wenigstens bis zum Zeitpunkt des Interviews) weiterhin das Herkunftslandes bleibt. Einen dritten Typ bilden Migrant_innen ›im Zwischenraum‹, die keine finite kultur-nationale Identität behaupten, sondern einen entgrenzten geographischen und kulturellen Bezugshorizont. Sie positionieren sich beispielsweise als Europäer_innen oder als Weltbürger_innen. Viertens kann auf die Möglichkeit der vergleichsweisen Bedeutungslosigkeit kultur-nationaler Identität und Zugehörigkeit geschlossen werden. Für diese Migrant_innen sind andere Bezugshorizonte wie berufliche Karriere und Familie primär identitätsstiftend. In den Erzähltexten manifestieren sich kultur-nationale Identitäten häufig durch eine deutliche Selbstpositionierung, etwa wenn eine Gesprächspartnerin konstatiert: »Ich bin Dänin!« In der Alltagswelt werden derart ostentativ vorgebrachte Identitätsbehauptungen durch kultur-soziale Praktiken und Verhaltensweisen konstruiert,
11 Ruokonen-Engler 2012, 87. 12 Identitätskonstrukte stellen nach Ludger Pries eine Dimension transnationaler Sozialräume dar, wurden von mir aber gesondert untersucht. Mit ein Grund dafür war, dass mir eine fundierte theoretische Diskussion von kultur- und sozialwissenschaftlichen Identitätskonzepten für meine empirische Untersuchung als erforderlich erschien.
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etabliert und perpetuiert. Dies wurde als ein, mehr oder weniger bewusst exerziertes, ›Doing National Identity‹ beschrieben. Die Erzähltexte zeigen außerdem, dass auch Identität und vor allem nationale Identität – im Gegensatz zu einem als offen, dynamisch und prozesshaft gedachten postmodernen wissenschaftlichen Identitätsbegriff – im alltäglichen Common Sense überwiegend essentialistisch verstanden wird. Die Einwander_innen verstehen ihre Identität als auf eine quasi naturhafte Weise an Erfahrungen und Praktiken ihrer Lebensgeschichte, an ihre Lebensorte und an ›die Kultur‹ ihres Herkunftslandes gebunden. Sie gehen davon aus, eine oder mehrere (kultur-nationale) Identität(-en) zu ›haben‹, bzw. haben zu können oder auch haben zu müssen. In Bezug auf den lebenspraktischen Nutzen einer solchen Essentialisierung, aber auch für das offenbar weithin übernommene Postulat, eine (oder mehrere) kultur-nationale Identität(-en) besitzen zu müssen, habe ich die Kombination mehrerer Erklärungen vorgeschlagen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei ein vermutlich primordiales (gleichwohl stets kulturell gestaltetes) Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Zugleich fungiert die bezeichnete kultur-nationale Identität (»Ich bin Dänin!« usw.) im Rahmen des Alltagslebens als vereinfachende Typisierung und als nützliche, orientierende Kategorisierung, die über ihren praktischen Nutzen hinaus auch als ein diskursives Konstrukt sozial wirksam ist. Das heißt: Wie man sich unter Bezugnahme auf eine kulturelle Sozietät bezeichnet, bleibt nicht ohne Wirkung darauf, wie man sich fühlt und mit welchen kultur-nationalen Konstrukten man sich bereitwillig und für andere überzeugend identifiziert.
8.9 DIE BEDEUTUNG DER KULTUR-NATIONALEN HERKUNFT UND ZUGEHÖRIGKEIT IM ALLTAGSLEBEN An den bisherigen Erkenntnissen anschließend bin ich der Frage, welche Bedeutung die interviewten Migrant_innen ihrem Herkunftsland (ihrem Herkunftsstaat und ihrer Herkunftskultur) beimessen, wie sie diese Bedeutungszuschreibungen im Rahmen von Migrationsprozessen verändern, und welche sozio-kulturellen Praktiken im Alltagsleben daraus resultieren, weiter nachgegangen.13 Die meisten Gesprächspartner_innen aller Herkunftsregionen und Migrationsgenerationen verbinden ihre Vorstellung von einer (essentialisierten) Kultur und einer daran gebundenen und gar nicht abwählbaren kultur-nationalen Identität sehr klar mit ihrem Herkunftsland. In Europa sind die meisten Herkunftsländer national-
13 Damit ist auch die Frage nach der zweiten Dimension von Akkulturationsprozessen behandelt.
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staatlich verfasst, multiple Nationalstaaten wie Spanien verfügen über identifizierbare nationale Regionen oder politisch (teil-)autonome Provinzen, sodass sich das kulturelle mit dem nationalen Identifikat im Alltagsdenken und Alltagsfühlen nahezu unauflösbar vermischen. Wenn Kultur als sozial- und kulturwissenschaftliches Konzept keineswegs kongruent mit einem Nationalstaat sein kann, erfolgt eine solche Gleichsetzung im Common Sense der interviewten Migrant_innen dennoch unbeirrt und zu praktischen Zwecken. Aus diesem Grund habe ich für diese Studie den Terminus ›kultur-nationale Identität‹ gewählt. Der Terminus verweist auf ein empirisches Phänomen, das auch die Migrationsforscherin Janine Dahinden feststellen konnte: »Culture is not only seen as being linked to a certain territory, but if one leaves the territory of one’s culture, it is as if this culture necessarily accompanies you, as a piece of luggage one cannot abandon and which determines what one is able to do in other places.«14
Wie meine Studie zeigt, wird der (essentialisierten) nationalen Herkunftskultur als Bezugshorizont, aber auch als Deutungsmuster, von den Proband_innen hohe Bedeutung beigemessen. Zum einen wird die Herkunftskultur – über Typisierungen und Stereotype – als Erklärung für spezifische Verhaltensweisen, aber auch für personale Wesens- und Charaktermerkmale herangezogen. Dies gilt sowohl für die Selbstwahrnehmung der Migrant_innen (»Ich bin Dänin, wir reden offen«), als auch für die Wahrnehmung von Immigrant_innen durch die Österreicher_innen (»Du bist Spanierin und deshalb unpünktlich!«). Damit wird das Postulat von Ludger Pries, dass »Prozesse der Selbst- und Fremdwahrnehmung für das praktische alltagsweltliche Leben [...] eine wichtige Bezugseinheit«15 sind, erneut bestätigt. Der Erhalt von Aspekten der Herkunftskultur ist für alle interviewten Migrant_innen ein positiver Orientierungshorizont. In unterschiedlichen Bereichen und in unterschiedlichem Ausmaß ist es meinen Gesprächspartner_innen wichtig und selbstverständlich, gewisse Elemente der Herkunftskultur in ihrem Denken und Handeln, in ihrem Alltagsleben und in ihren Festen zu bewahren. Auch wenn dies auf Migrant_innen aller Migrationsgenerationen zutrifft, so ist die Vorstellung, es sei selbstverständlich legitim an der Herkunftskultur festzuhalten, ab den 1990er Jahren noch deutlich ausgeprägt. Eine völlige Aufgabe der Herkunftskultur oder einer entsprechenden kulturnationalen Identität wird aber auch nicht als nötig erachtet, um eine befriedigende (partielle) Integration und Akkulturation im Aufenthaltsland zu vollziehen. Im Gegenteil: partielle Integration, Akkulturation und Transnationalität erzeugen allererst jenen positiven Orientierungsrahmen, in dem sich eine gute Alltagspraxis einrichten 14 Dahinden 2009, 270. 15 Pries 2008, 37.
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lässt. Gut ist sie dann, wenn sie sich in einem transkulturellen Raum vollzieht, ohne dass sich die Alltagspraxen im einen wie im anderen Kulturraum wechselseitig beeinträchtigen oder gar zerstören würden.16 Im Ergebnis konnte ich also empirisch belegen und theoretisch argumentieren, dass sinnfällige, oft auch stark symbolische Elemente der Herkunftskultur und die Partizipation an transnationalen Lebenswelten keineswegs im Widerspruch zu einer gelungenen (partiellen) Integration in die Aufnahmekultur und -gesellschaft stehen. Ich halte dies für eines der wichtigsten Ergebnisse meiner Untersuchung. In allen Fällen besteht zugleich auch eine gewisse, in einigen Fällen auch sehr starke Identifikation mit Österreich als dem aktuellen Aufenthaltsland. Die interviewten Migrant_innen beschreiben Österreich durchaus auch emotional als »zweite Heimat« oder als ihr »Zuhause«. Dies bedeutet jedoch eben nicht, dass Österreich für sie damit an die Stelle des Herkunftslandes getreten wäre. Vielmehr wird das »Zuhausesein in zwei Ländern« als eine Form der quasi verdoppelten kultur-nationalen Identität interpretiert. Diese Erkenntnisse sind, wie ich meine, nicht zuletzt für die historisch-sozialwissenschaftliche Diskussion der Bedeutung des Nationalstaates bzw. der Kulturnation von Bedeutung. Vor allem in Bezug auf die »sozialpsychologische Funktion«17 von (national- und kulturstaatlichen) Grenzen sind sie relevant.18 Wenn belegt werden konnte, welch bedeutende Rolle der Herkunftsnation bzw. der in ihm bestehenden Kulturnation in den Deutungen und Relevanzsystemen der interviewten Migrant_innen zukommt, dann wird daran deutlich, dass das Konzept des Nationalstaates durch die Migrationsprozesse der letzten Jahrzehnte keineswegs obsolet geworden ist.19
16 Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangten Levitt/Glick Schiller 2004, 1003. Vgl. Auch Richter/Nollert 2014, 458-476; Dahinden 2010; Erik Snel/Godfried Engbersen/Arjen Leerkes, Transnational involvement and social integration. In: Global Networks 6/3 (2006), 285308. https://doi.org/10.1111/j.1471-0374.2006.00145.x; Jose Itzigsohn/Silvia Giorguli Saucedo, Immigrant Incorporation and Sociocultural Transnationalism. In: International Migration Review 36/3 (2002), 766-798. 17 Herbert Dittgen, Globalisierung und die Grenzen des Nationalstaats. In: Johannes Kessler/Christian Steiner (Hrsg.), Facetten der Globalisierung. Zwischen Ökonomie, Politik und Kultur. (Wiesbaden 2009), 161-172; 166. 18 Zum sogenannten »methodologischen Nationalismus« vgl. Kapitel 1.1. 19 Zu dieser Diskussion vgl. z.B. auch Pries 2008, 27 f.; Eisenstadt 2012; Giddens 2001, 14 ff.; 30 ff.; Bade 2002a, 8; Angenendt 2009, 39 ff.; Jenny Andersson/Mary Hilson, Images of Sweden and the Nordic countries. In: Scandinavian Journal of History 43/3 (2009), 219-228; 219; Stephen Castles/Mark J. Miller, The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World. (London 19982), 1 f.
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8.10 DER HABITUS IN TRANSNATIONALEN ALLTAGSWELTEN Der Fokus auf die drei ausgewählten Herkunftsregionen Spanien, Skandinavien und Deutschland sollte es ermöglichen, innerhalb des süd-, west- und nordeuropäischen Raumes nicht allein offensichtliche grobe, sondern vor allem eher feine Unterschiede migrationsbedingter Phänomene und migrantischer Alltagswelten empirisch zu erfassen und auf ihre Ursachen und Auswirkungen hin zu untersuchen. Ein Vergleich der drei national- und kulturstaatlichen Gruppen von Migrant_innen zeigt zunächst, dass die bislang zusammengefassten Erkenntnisse meiner Studie für alle drei untersuchten Gruppen gleichermaßen Gültigkeit haben. Erst im Rahmen dieser Ergebnisse lassen sich dann aber feine Unterschiede ausmachen. Nicht nur in Abhängigkeit von individuellen, sondern auch von durch die jeweilige Herkunft bedingten Voraussetzungen und Prädispositionen sowie durch Sozialisation erworbene Verhaltensmuster, Werte und Normen ergeben sich differenzierte Prozesse der Akkulturation in differenzierten transnationalen Alltagswelten. Eine solche Differenz zeigt sich beispielsweise im Hinblick auf das ›migrantische Selbstbild‹: Während Zuwander_innen aus Spanien und Skandinavien sich selbst durchaus als ›Migrant_innen‹ wahrnehmen, sich also diese ›soziale Rolle‹ und diesen ›Status‹ (auch) selbst zuschreiben, trifft dies auf aus Deutschland Eingewanderte kaum zu. Einige aus Deutschland Eingewanderte verstehen sich schlicht nicht als ›Migrant_innen‹. Andere aus Deutschland zugewanderte Interviewpartner_innen empfinden diesen Terminus (und diese Rollenzuschreibung) zwar aus einer reflexiven Perspektive als zutreffend, sind sich dessen im Alltag aber kaum bis gar nicht bewusst. Damit in Zusammenhang steht vermutlich eine weitere Differenz, die sich aus den rekonstruierten Typen transnationaler Alltagswelten ergibt: Es lässt sich ein eigener Typ einer ›transnationalen deutsch-österreichischen Lebenswelt‹ rekonstruieren. Charakteristisch für ihn ist, dass im Vergleich mit Migrant_innen aus Spanien und Skandinavien Migrant_innen aus Deutschland deutlich weniger kultur-soziale Praktiken beschreiben, die als ›ways of belonging‹ interpretiert werden können. Das heißt aber nicht, dass dem Konstrukt einer kultur-nationalen Identität als ›Deutsche‹ bzw. ›Deutscher‹ dadurch zwangsläufig weniger Bedeutung zukäme. Erklärt werden kann dieses Phänomen möglicherweise damit, dass für die aus Deutschland stammenden Migrant_innen die subjektiv empfundene kulturelle (und geographische) Distanz deutlich geringer ist als für Migrant_innen aus Spanien oder aus Skandinavien.20
20 Diese Wahrnehmung ist sicherlich multifaktoriell bedingt, eine wesentliche Rolle spielt hierbei allerdings wohl auch die Tatsache, dass im Herkunfts- und im Aufnahmeland die-
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Aber auch in Bezug auf Konstrukte kultur-nationaler Identität(-en) sind Differenzen zwischen den untersuchten Herkunftsländern festzustellen. Allerdings sind diese sehr subtil; alle in der Untersuchung beschriebenen Typen treten in allen regionalen Gruppen auf. Gleichwohl fällt auf, dass sich aus Skandinavien – und hier speziell aus Dänemark – stammende Migrant_innen durch eine, im Vergleich der drei Gruppen, überaus ›starke‹ ›skandinavische‹ bzw. ›dänische‹ Identität auszeichnen. Ihre Erzählungen sind durchzogen von Referenzen auf diese kultur-nationale Identität (»Ich bin Dänin!« usw.). Wie sich aus den Erzählungen rekonstruieren lässt, kommt aber auch in der sozialen und alltäglichen Praxis der Selbstpositionierung und Selbstwahrnehmung eine wesentliche Rolle im Sinne eines ›Doing Identity‹ zu. Diese Praktiken wiederum werden bewusst in die ›österreichische Alltagswelt‹ integriert. Zugleich aber bedeutet dies keineswegs, dass die aus Dänemark stammenden Gesprächspartner_innen einer Integration in die Aufnahmegesellschaft weniger Bedeutung beimessen würden. Damit zeigt sich auch an den Migrant_innen aus Dänemark, dass der Erhalt einer kultur-nationalen Identität keineswegs im Widerspruch zur partieller Integration in Österreich steht. Wie bereits angesprochen, bewerten alle Migrant_innengruppen ihre Integration als sehr gut, gut oder zumindest ausreichend. Die Mehrheit der in den Erzählungen beschriebenen Schwierigkeiten und Hürden divergieren vornehmlich individuell, einige Gemeinsamkeiten im Hinblick auf einen Vergleich der untersuchten Herkunftsregionen lassen sich aber dennoch feststellen. Als besonders markant hervorgetretenes Beispiel hierfür können die bereits angesprochenen Konflikte im Kontext differenzierter geschlechtsspezifischer Rollenbilder angeführt werden, die vor allem von Migrantinnen aus Skandinavien beschrieben werden. Auf einer zwischenmenschlichen Ebene verortete Genderkonflikte werden sogar ausschließlich von ihnen thematisiert. Stets geht es dabei um die Frage der Aufgabenverteilung von Haus- und Elternarbeit zwischen den Ehe- bzw. Lebenspartnern. Abgesehen von einer Ausnahme sind alle interviewten Frauen aus skandinavischen Ländern in keiner Weise bereit, hierbei Kompromisse einzugehen, sich also diesbezüglich ›anzupassen‹ und zu integrieren. Sie beharren auf ihren Vorstellungen und halten an einem weiblichen Selbstverständnis fest, welchem der Orientierungsrahmen von gleichen Rechten und Pflichten beider Geschlechter bzw. Partner zugrunde liegt. selbe Sprache gesprochen wird, dass diese Migrant_innen also keine Fremdsprache erlernen müssen. Zwar können, wie in Kapitel 4 beschrieben, auch sprachliche Differenzen zwischen Deutschland und Österreich ein Gefühl der Fremdheit bzw. der Ablehnung von Seiten der Österreicher_innen evozieren, ihnen kommt aber eine andere (sowohl praktische als auch subjektiv empfundene) Bedeutung zu als der sprachlichen Differenz zwischen Muttersprache und Fremdsprache. Regionale und dialektale Unterschiede im Deutschen gibt es zudem auch innerhalb Deutschlands (und Österreichs), sie sind als also nicht zwingend an eine transnationale Migration gebunden.
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Auch im Hinblick auf soziale Verbindungen zum Herkunftsland sind feine Unterschiede zwischen Migrant_innen aus den untersuchten Herkunftsländern auszumachen. Für alle Migrant_innen lassen sich zunächst zwei, in ihrem subjektiven und objektiven Gewicht herausragende Institutionen an sozialen Kontakten zum Herkunftsland identifizieren. Das ist zum einen die Herkunftsfamilie, zum anderen sind es Freunde bzw. Freundeskreise. Beide sind für meine Gesprächspartner_innen von großer Bedeutung, sie alle pflegen multiple soziale Verbindungen zum Herkunftsland. Für die Institution der Freundschaft können zwar individuelle, aber keine herkunftsspezifischen Differenzen in den Erzählungen festgestellt werden. Die Institution der Familie betreffend ist hingegen ein deutlicher Unterschied zwischen Migrant_innen aus Spanien und jenen aus Skandinavien und Deutschland erkennbar. Dieser Unterschied liegt jedoch nicht in der Bedeutung, welche der Familie beigemessen wird (der Herkunftsfamilie messen alle hohe Bedeutung bei), sondern vielmehr darin, wer zur Familie gezählt wird. Für Gesprächspartner_innen aus Skandinavien und Deutschland umfasst ›Familie‹ zumeist Eltern und Geschwister sowie in einigen Fällen auch Großeltern. Für Migrant_innen aus Spanien hingegen zählen auch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen zur Familie. Dementsprechend werden auch diese Verwandten in transnationale Alltagswelten und Praktiken integriert. Zusammenfassend sind einige charakteristische Grundzüge des Habitus vielleicht am deutlichsten in der Gruppe der aus Skandinavien stammenden Migrant_innen zu erkennen. Sie zeichnen sich durch ein spezielles kultur-nationales Selbstbewusstsein aus. Mit auffallend starker Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit praktizieren und vertreten sie das Festhalten an Elementen der Herkunftskultur und einer, im Vergleich zu den anderen Migrant_innengruppen stark ausgeprägten kultur-nationalen Identität. So konnte unter anderem das überaus selbstbewusstes weibliches Selbstbild konstatiert werden, sodass sich – wie ich nicht ohne Zögern meine – doch ein typisch skandinavischer Habitus der Selbstsicherheit, Kompromisslosigkeit und der ›Bereitschaft zu kämpfen‹ für diese Frauen behaupten lässt. Im Zusammenhang mit kultur-nationalen Praktiken, die ich als ways of belonging bezeichnet habe, fällt außerdem auf, dass Migrant_innen aus Skandinavien der ›Pflege‹ (d.h. der regelmäßigen Praxis und dem Erhalt der sprachlichen Fähigkeiten) ihrer Muttersprache die größte Bedeutung beimessen. Wie ich schon mehrmals betont habe, bedeutet das aber nicht, dass skandinavische Migrant_innen weniger integrationsbereit wären oder weniger offen für hybride kultur-nationale Identitäten. Für die Gruppe der aus Spanien zugewanderten Migrant_innen können vergleichbare habituelle Gemeinsamkeiten nicht in dieser Deutlichkeit ausgemacht werden. Allerdings haben auch sie gewisse Schwierigkeiten und Herausforderungen gemeinsam. Vor allem die hohe Bedeutung, die sie der Herkunftsfamilie und den Verwandten auch und besonders in transnationalen Lebenswelten beimessen,
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scheint eine Gemeinsamkeit zu sein. Eine mögliche Erklärung für den ansonsten vergleichsweise schwach ausgeprägten ›spanischen Habitus‹ (im Kontrast vor allem zu den ›skandinavischen‹, also ›dänischen‹, ›finnischen‹ usw.) sind die unterschiedlichen Herkunftsregionen innerhalb des plurinationalen spanischen Staates. Eher ist von einem galizischen, baskischen, katalonischen oder andalusischen AuswandererHabitus zu sprechen denn von einem spanischen. Für aus Deutschland zugewanderte Migrant_innen kann neben den bereits beschriebenen generalisierbaren Charakteristika kein ›gemeinsamer‹ Habitus rekonstruiert werden. Die divergierenden Habitus der aus Deutschland zugewanderten Gesprächspartner_innen können zum Teil mit den bekannten zeit- und politikgeschichtlich erzeugten Differenzen zwischen Bewohner_innen der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen Demokratischen Deutschen Republik (DDR) erklärt werden. Schließlich bestand die heutige Kultur- und Staatsnation Deutschland während eines erheblichen Teils des Untersuchungszeitraums (1960er Jahre bis 1989) aus zwei miteinander verfeindeten Staaten, deren Bewohner_innen in deutlich verschieden organisierten Gesellschaften sehr unterschiedlich sozialisiert wurden.21 Interessanterweise wird diese Thematik in den Interviews nur von aus der ehemaligen DDR stammenden Einwander_innen angesprochen und nimmt auch dann nur wenig Raum in den Erzählungen ein. Allerdings verweisen aus Deutschland stammende Gesprächspartner_innen immer wieder auf bis heute bestehende innerstaatliche Differenzen. Vor allem ›Ostdeutsche‹ bringen häufig klare Vorurteile gegenüber ›Westdeutschen‹ zum Ausdruck, auch wenn sie selbst die ›Wende‹ nur noch im Kleinkindalter oder gar nicht erlebt haben. Zusammenfassend können also drei Typen eines herkunftsspezfischen Habitus von Migrant_innen rekonstruiert werden: Der vergleichsweise deutlich ausgeprägte und ›stolze‹ ›skandinavische Habitus‹, ein stark regionalisierter Habitus der Zuwander_innen aus Spanien, und schließlich ein vergleichsweise weniger ausgeprägter ›westdeutscher‹ und ein ›ostdeutscher‹ Habitus, die selbst in der Migration konkurrieren.
21 Vgl. z.B. King 2002, 95; Bade 2002a, 16 ff.
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8.11 DIE SOZIAL- UND KULTURHISTORISCHE PERSPEKTIVE: VERÄNDERUNGEN IM UNTERSUCHUNGSZEITRAUM Das Forschungsinteresse dieser historisch-sozialwissenschaftlichen Studie galt außerdem Veränderungen der Ausbildung transnationaler Alltagswelten im Kontext differenzierender Rahmenbedingungen für Migrationsbiographien im Untersuchungszeitraum. Diesbezüglich kann zunächst festgestellt werden, dass, auch wenn die Gesprächspartner_innen einer alltagstheoretischen Vorstellung von sozialökonomischer Entwicklung unterliegen, die österreichische und die Wiener Gesellschaft ihnen in eine Reihe von Aspekten vor allem kulturell rückständig erscheint. In den 1960er bis 1980er Jahren erleben Einwander_innen (ganz besonders jene aus Skandinavien) diesen ›Rückstand‹ allerdings sehr viel deutlicher als etwa in den 2000er und 2010er Jahren Zugewanderte. Ausgehend von den in den Diskursen zur Globalisierung diskutierten Phänomenen (siehe Kap. 1.1.2.), lag schon im Vorfeld der Untersuchung die Vermutung einer zunehmenden Transnationalität und wachsender Mobilität nahe. Nach Abschluss der Forschungsarbeit kann diese These nun in vielen Aspekten bestätigt, allerdings nicht uneingeschränkt verifiziert werden. Mobilität – in ihren Möglichkeiten und Anforderungen – wird in der Fachliteratur gemeinhin als Element der globalen Vernetzung beschrieben. Auch das hier analysierte empirische, narrative Material spiegelt die Tendenz zu einer vermehrten geographischen, aber auch biographischen und virtuellen Mobilität. Unter den aus den Erzählungen rekonstruierten Migrationsverläufen überwiegt zwar, über alle Migrationsgenerationen hinweg, der Typus der sukzessiven und iterativen Migration, es kann dabei aber eine Zäsur in den 1980er Jahren ausgemacht werden.22 So ist beispielsweise auffällig, dass seither ein Teil der Migrant_innen nicht nur im jeweiligen Herkunftsland und in Österreich, sondern für einige Zeit zumindest in einem weiteren Land gelebt hat.23 Im Vergleich zu Migrant_innen früherer Generationen
22 Eine Zäsur Mitte der 1990er Jahre, also in Zusammenhang mit dem EU-Beitritt Österreichs 1995, kann in den vorliegenden Erzählungen allerdings nicht festgestellt werden. Auch wenn sich, wie statistische Daten nahelegen, die Wanderungsbewegungen nach Österreich im Zuge dessen maßgeblich veränderten, können im vorliegenden Material keine diesbezüglichen Auswirkungen festgestellt werden. 23 Hier spiegelt sich offenbar auch eine zunehmende studentische Migration wider. Viele Gesprächspartner_innen verbrachten im Rahmen ihres Studiums ein Semester oder Jahr im Ausland. Das 1987 vom Rat der europäischen Union gegründete Erasmusprogramm spielt für die Förderung diese Mobilität eine wesentliche Rolle. Vgl. z.B. Benjamin
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(vor den 1980er Jahren) scheinen spätmoderne Migrant_innen über ein umfassenderes Mobilitätskapital »im Sinne von inkorporierten Fähigkeiten und Wissensbeständen, die zu einem bestimmten Mobilitätsverhalten befähigen«24, zu verfügen. Dies hat offenbar auch Auswirkungen auf den Verlauf der Biographien. Aus einer einzigen Migration als Normalfall wird eine Migrationsbiographie, die mehrere Etappen kennt, wobei jede folgende Etappe eine vorherige zur qualitativen Voraussetzung hat. Beispielsweise: Wer einige Jahre in New York gelebt hat, empfindet Wien nicht unbedingt als ›Weltstadt‹, wer zuvor in Wuppertal und dann in Bielefeld gelebt hat, ehe er nach Wien übersiedelte, aber schon. Mit der Varianz der Etappen steigt auch die Mobilitätskompetenz. Dies gilt vor allem für die relativ gut qualifizierten, wirtschaftlich, beruflich und familiär motivierten Wanderungen der ›affluent migrants‹. Im wissenschaftlichen Diskurs wird zudem häufig eine ›Enträumlichung‹ ›mobiler Akteure‹ im Zuge der zunehmenden Globalisierung postuliert. Und damit, so wird immer wieder behauptet, auch ein ›death of distance‹. Obwohl naturräumliche Gegebenheiten objektiv gegeben sind, stellt ihre Deutung und ihr Fühlen als nahe, getrennt, zu weit, als überwindbar und bewältigbar usw. stets ein sozio-kulturelles Konstrukt der Akteur_innen in ihren Diskursen dar.25 Auch in den vorliegenden Erzählungen findet sich ein narrativer und empirischer Ausdruck dessen. Bedingt durch immer besser ausgebaute Transportinfrastruktur, kostengünstigere Transportmöglichkeiten sowie die vielfältigen Angebote junger und jüngster Kommunikationsmedien ›schrumpfen‹ geographische Distanzen in der Wahrnehmung und Deutung der Akteur_innen. Die These von Ludger Pries, die genannten Entwicklungen würden dazu führen, dass sich »die geographisch räumlichen Bezüge der sozialräumlichen Lebenswelt, die die Menschen wahrnehmen und in der sie sich bewegen, enorm ausgeweitet und ausdifferenziert haben«26 bestätigen auch die hier untersuchten Erzählungen. Doch zugleich muss der These eines ›death of distance‹ in dieser Absolutheit widersprochen werden. Denn wie die untersuchten Erzählungen zeigen, wird die relative geographische Nähe zum Herkunftsland auch von Migrant_innen der Spätmoderne als ein Grund für eine Migration innerhalb Europas genannt. Zurückgelassene Freunde und Familienangehörige, insbesondere der fehlende persönliche Kontakt zu ihnen, werden beklagt und als Migrationskosten verbucht. Angesichts dessen kann von einem völligen Bedeutungsverlust von Flä-
Feyen/Ewa Krzaklewska (Hrsg.), The ERASMUS Phenomenon – Symbol of a new European generation? (Frankfurt am Main/Berlin u.a. 2013). 24 Mau 2007, 123. 25 Vgl. dazu auch Pries 2008, 249 ff. 26 Pries 2008, 77.
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chenräumen und geographischen Entfernungen oder gar einer »Enträumlichung alles Sozialen«,27 nicht die Rede sein. Die hier analysierten Erzählungen zeigen außerdem, wie sich die jeweiligen Migrant_innengenerationen der ihnen seit den 1960er Jahren zugänglichen und sich ungeheuer rasch entwickelten Kommunikationsmedien und Verkehrstechnologien bedienen. Doch ist dem hinzuzufügen, dass Transnationalität – als Wunsch und Orientierungshorizont aber auch als Praxis – bereits unter den Bedingungen der Organisierten Moderne (also vor den 1980er Jahren) bestand. Transnationalität und transnationale Sozialräume sind also keine spezifischen Phänomene der (europäischen) Spätmoderne. Sie bestanden bereits unter den kommunikations- und verkehrstechnologischen Bedingungen der 1960er und 1970er Jahre. (Aus Kenntnis sozial- und kulturhistorischer Literatur kann hier ergänzent werden, dass sie auch schon davor, etwa im Zusammenhang mit Wanderungsbewegungen in der Weltwirtschaftskrise oder in den beiden Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts in Europa bestanden.) Verändert haben sich lediglich die Möglichkeiten und Formen der Praxis: Die Reisen waren deutlich länger und die Möglichkeiten, einen transnationalen Kommunikationsraum ›zu bewohnen‹, waren weitaus weniger günstig, etwa wenn Migrant_innen über lange Jahre durch Briefe, teure und daher seltene Telefonate sowie langwierige und kostspielige Reisen ›in die Heimat‹ die Verbindungen zu den Herkunftsgesellschaften pflegten. Auch im Hinblick auf Identitätsprozesse und Identitätsprojekte muss die These einer zunehmenden Transnationalisierung und transnationalen Mobilität in der Spätmoderne etwas eingeschränkt werden. Wie meine Studie belegt, wurden kulturnationale Identitäten keineswegs durch postnationale Identitäten abgelöst. Unter den Bedingungen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre aber auch bis herauf in die Gegenwart halten die Migrant_innen an ihrer Herkunftskultur als ihrem ersten und insofern primär identitätsstiftenden Bezugshorizont fest. Dies freilich schließt eine Veränderung der identitätsstiftenden und identitätssichernden affektiven und kognitiven Kommunikationen, Interaktionen und Identifikationen unter den spätmodernen Bedingungen nicht aus. Gleichwohl gilt: Auch die Migrant_innen der späten europäischen Moderne erwerben ihre (je nach Theorie und Autor_in) »dezentrierte«, »multiple« oder »hybride« Identität auf der autobiographisch ›verzeichneten‹ Grundlage ihrer Enkulturation in der Herkunftskultur. Während unter den Bedingungen der Organisierten Moderne Transnationalität primär nur für die Migrant_innen selbst, also für tatsächlich wandernde Akteur_innen kennzeichnend war, wurde sie spätestens seit den 1980er Jahren zunehmend zu einem Phänomen, das die gesamte Gesellschaft erfasste.28 Unter spätmodernen Bedingungen wurde Transnationalität nicht nur durch technologische Inno27 Pries 2008, 77 ff. 28 Vgl. z.B. Mau 2007, 124 ff.; Büttner/Mau 2010, 310 ff.; Verwiebe 2006a, 320 ff.
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vationen immer leichter praktizierbar, sondern auch in der Interaktion mit selbst nicht wandernden Akteur_innen leichter umsetzbar. Im Zusammenhang damit ist auch eine Veränderung der Anforderungen der Migrant_innen an sich selbst sowie der Aufnahmegesellschaft an die Zuwander_innen festzustellen. Die Forderung der Aufnahmegesellschaften an Einwander_innen aller Art, sich zu integrieren, ist wohl so alt wie die Migration, also die Menschheit. Doch hat sich mehrfach deutlich verändert, was genau unter Integration verstanden wird. Das betrifft sowohl die Deutung der Migrant_innen selbst, also auch die Deutung der Aufnahmegesellschaft. Im Verlauf der europäischen (insbesondere der west- und zentraleuropäischen, weniger der osteuropäischen) Spätmoderne wurde die Integration nicht mehr mit einer völligen Auflösung der ersten kultur-sozialen Identität und der Aufhebung aller sozio-kulturellen Differenzen zwischen Migrant_innen und ›Einheimischen‹ gleichgesetzt. Die Vorstellung einer ›Assimilation‹ im Wortsinn (die gänzliche Auflösung, das Verschwinden des Fremden) erwies sich als rassistisch und illusionär. Es wurde zunehmend als legitim anerkannt, dass Migrant_innen nur transkulturelle Deutungsmuster und Praktiken entwickeln können und damit auch die personalen Identitäten in der Aufnahmegesellschaft verändern. Belege für die sukzessive Enttotalisierung des alten und überholten Integrationsgebots ließen sich beispielsweise im Zusammenhang mit der Thematisierung von Familie bzw. Familienleben in den Erzählungen finden. In den 1990er, 2000er und 2010er Jahren wird eine transnationale und transkulturelle bzw. bikulturelle Orientierung der Erziehung und Ausbildung der Kinder in Migrantenfamilien zunehmend als normal und wünschenswert erachtet: Die Kinder in zwei Kulturen aufzuziehen, wird ein legitimer und auch erfüllbarer Anspruch. Eine bilinguale und bikulturelle Erziehung gilt heute wohl eben deshalb als vorteilhaft und wünschenswert, weil sie in einer Mobilität und transkulturelle Kommunikation erfordernden Arbeitswelt kostbare Ressourcen zu schaffen verspricht. Hingegen galt eine solche bilinguale und bikulturelle Erziehung in der Organisierten europäischen Moderne der 1960er und 1970er Jahre häufig als praktisch unmöglich oder gar als Nachteil für die sprachliche und kognitive Entwicklung des Kindes. Für die These einer zunehmenden Transnationalität und Transkulturalität in der europäischen Spätmoderne spricht auch, dass vollends trans- oder bikulturell orientierte Familien in meinem Sample nur bei jenen Einwander_innen zu finden sind, die in den 1990er Jahren oder später in Österreich eine Familie gründeten. Dass bikulturell und transnational orientierte Familien heute nicht mehr außergewöhnlich sind, belegen auch statistische Daten.29 Meine Studie zeigt aber auch, dass der Nationalstaat in Europa und auch innerhalb der Europäischen Union im Zuge der rezenten Globalisierungsschübe zwar durch transnationale Praktiken und Beziehungen aller seiner Akteur_innen (!) 29 Vgl. dazu das entsprechende Kapitel 4.3.
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gleichsam deutlich ›porösere‹ Grenzen erhielt, jedoch ausgerechnet seine kulturelle und identitätsstiftende Bedeutung darüber keineswegs verlor. Dies zeigt sich (nebenbei angemerkt) nicht zuletzt an der derzeit heftig geführten Debatte um den Schutz der ›europäischen‹ Außengrenze und der nationalstaatlichen Grenzen, über die Flüchtlingsströme aus dem ›Mittleren Osten‹ und aus afrikanischen Ländern verlaufen. Die Frage der Bedrohung nationalstaatlicher Souveränität und sozialpolitischer Organisation durch unkontrollierte Migrationsströme wird im öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs sehr kontrovers diskutiert und soll hier nicht aufgegriffen werden. Nur auf einen Aspekt dieser Debatte sei hingewiesen: Einerseits wird in diesem Zusammenhang ein Bedeutungsverlust von nationaler Identität und somit die Erosion der Nation als Erfindung des 19. Jahrhunderts, mithin auch die Etablierung ›postnationaler Identitäten‹ behauptet.30 Andererseits vertreten einige Autor_innen die gegenteilige Meinung und postulieren eine Refokussierung auf nationale (oder auch kleinere, regionale und lokale) Zugehörigkeiten.31 Meine Studie deutet auf eine zwischen diesen konträren Annahmen liegende Entwicklung hin. Hinsichtlich der hohen Bedeutung kultur-nationaler Identität(-en) lassen sich im Untersuchungszeitraum aus dem empirischen, narrativen Material keine signifikanten Veränderungen rekonstruieren. Hingegen ist eine deutliche Zunahme der damit verbundenen transnationalen Praktiken im Sinne des ›Doing Identity‹ zu erkennen. Es scheint außerdem, als würde die subjektive Bedeutung der Herkunftsgesellschaft und ihrer kulturellen Charakteristika bei den Migrant_innen zu einem nicht unerheblichen Teil auch durch individuelle biographische Faktoren bestimmt. Die These eines allgemeinen Bedeutungsverlusts des kulturell-nationalen oder auch des nationalstaatlichen Bezugshorizonts kann somit anhand des untersuchten Erzählmaterials nicht bestätigt werden. Meine Conclusio stimmt daher größtenteils mit jener der Migrationsforscherin Janine Dahinden überein, die da lautet: »Hier zeigt sich, dass auch in Zeiten der Globalisierung und der Transnationalisierung von sozialen Realitäten der Nationalstaat noch immer ein wichtiges Instrument ist, wie Zugehörigkeit und Ausschluss definiert werden. Nationalstaaten haben vielleicht ein Teil ihrer Durchsetzungskraft verloren was ökonomische Angelegenheiten betrifft: Noch immer aber hat die nationalstaatliche Logik ein starkes Gewicht bei Prozessen der Selbstfindung und der Konstruktion von Eigenem und Fremdem.«32
30 Vgl. z.B. Angenendt 2009, 37 f.; Keupp 2004, 6 ff. 31 Vgl. z.B. Edensor 2002, 1 f.; Giddens 2001, 25 f. 32 Dahinden 2014, 118.
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8.12 SCHLUSSWORT Der in Italien geborene und aufgewachsene, in den USA und Australien lehrende und weltweit engagierte Psychologe Luciano L’Abate ist selbst ein in hohem Maße ›globalisierter‹ ›affluent migrant‹. Er beschreibt das Phänomen der Migration sehr umfassend als Transition von Menschen zwischen kulturellen Gemeinschaften und mit Blick auf die Geschichte der gesamten Menschheit: »People’s transitions between different cultural communities have been recorded in myths, legends and chronicles since the early ages of human civilizations. [...] Military crusades and occupation of foreign territories, enslavery and cross-tribal marriages, explorations and fortune seeking, trading and missionary work, education and professional work are the instances of such transitions. Encounters with strangers and following the diverse reciprocal influences of the involved parties have fascinated and attracted the interest of travellers, writers, and scientists. As a result, these cross-cultural transitions and encounters together with the processes that accompanied them on the levels of cultures, societies, groups, and individuals have become a focus of several social sciences [...].« 33
Was ist dann aber das Spezifische oder Neue an den Wanderungen der hier untersuchten ›affluent migrants‹ in der europäischen Spätmoderne? Ich hoffe, mit meiner Studie die Antworten darauf zumindest umrissen zu haben. Nicht die Migration als krudes Faktum, sondern die Motive, Ressourcen, Wahrnehmungen und Interpretationen der Migration seitens der Migrant_innen und seitens der Aufnahmegesellschaften haben sich in den hier untersuchten Aspekten gründlich verändert. Die Veränderungen scheinen insgesamt erheblich, aber sie gehen offenbar nicht so weit, wie manche Theoretiker_innen unterstellen. Von einem grenzenlos mobilisierten Subjekt oder einer von Herkünften gänzlich abgelösten ›multiplen‹ Identität etwa sind wir weit entfernt und ich bezweifle, dass sie jemals möglich und erstrebenswert wären. Die ›affluent migrants‹ der europäischen Spätmoderne sind sukzessive, suchende und prüfende (iterative) Wanderer zwischen möglichen Lebenswelten und zwischen Ländern, Städten und Regionen. Im Wortsinn haben sie keine ›Heimat‹ mehr, wenn man darunter jenen mythischen Ort verstehen will, an dem man geboren wird, sein Leben verbringt und zum Sterben gebettet wird. Sie haben aber auch keine ›Heimat‹ mehr im Sinn der modernen Kulturwissenschaften, die ›Heimat‹ noch bis in die 1970er Jahre als einen vertrauten Ort in Distanz zu allem Fremden beschrieben haben. So definierten die Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger
33 Luciano L’Abate, Anthropology. In: Luciano L’Abate (Hrsg.), Paradigms in Theory Construction. (New York 2012), 69-89; 73.
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und Konrad Köstlin noch am 22. Deutschen Volkskunde-Kongress in Kiel im Juni 1979 ›Heimat‹ folgendermaßen: »Heimat als Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist, als Rahmen, in dem sich Verhaltenserwartungen stabilisieren, in dem sinnvolles, abschätzbares Handeln möglich ist – Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der aktiven Durchdringung, der Verlässlichkeit.«34
Ganz im Gegenteil dazu nimmt die personale Identität der Migrant_innen (nicht nur, aber besonders auch der ›affluent migrants‹) Elemente aus verschiedenen kulturellen Gemeinschaften und damit stets auch ihr Fremdes auf. Das ist es, was ich mit dem Begriff der hybriden und multiplen Identität bezeichne. Die Migrant_innen wiederum verändern ihrerseits jede Gesellschaft, in der sie als Zuwander_innen leben, oft geduldet, oft freundlich akzeptiert, und doch immer ein wenig fremd. Um im Bild Bausingers und Köstlins zu bleiben: Alle europäischen Heimaten sind inzwischen längst – oder waren immer – vom Fremden durchsetzt. Neben der Wanderung der hier näher untersuchten ›affluent migrants‹ waren und sind daran ebenso Kriege, Vertreibungen, Flüchtlingsströme, aber auch der Bildungs- und der Massentourismus ursächlich beteiligt. Entgegen einer älteren Vorstellung der Migrationsforschung ist die Entscheidung der ›affluent migrants‹ im spätmodernen Europa keine einmalige tragische Entscheidung entwurzelter Individuen, der eine lineare Wanderung mit einem feststehenden Endziel folgt, sondern eine Abfolge von revidierbaren Versuchen, sich geographisch, beruflich und familiär zu verändern, dabei ältere Beziehungen auch über Distanzen zu pflegen und neue Beziehungen am jeweiligen Wohn- und Arbeitsort einzugehen. Ob und inwieweit sich von diesem Muster der ›affluent migrants‹ jene Frauen, Kinder und Männer unterscheiden, die sich aus verschiedenen politischen, kriegsbedingten, wirtschaftlichen oder ökologischen Gründen zu einer Fluchtmigration gezwungen sehen, wäre durch eine vergleichende empirische Studie zu erforschen. In dieser qualitativen Studie war es Ziel und Absicht, die gesellschaftspolitisch hoch relevanten Aspekte der ›affluent migrants‹ in der (west-)europäischen Spätmoderne aus der emischen (›subjektiven‹) Perspektive der wandernden Akteur_innen zu betrachten und die Ergebnisse den Thesen und Theorien methodisch anders verfahrender Studien entgegenzusetzen. Es ging mir dabei wesentlich darum, mit dem von mir bevorzugten qualitativen, historisch-rekonstruktiven Forschungsansatz auf blinde Flecken einer oft zu wenig empirischen oder akteursfernen Migrations-
34 Hermann Bausinger/Konrad Köstlin (Hrsg.), Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. (Neumünster 1980), 20.
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forschung hinzuweisen. Ich hoffe, damit Denkanstöße und Inspirationen für künftige Forschungen zu liefern.
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Dank
Zuallererst gilt mein herzlicher Dank all jenen Menschen, die mir so freimütig von ihrem Leben und ihren Erfahrungen erzählt haben. Erst durch ihre Bereitschaft, ihre Offenheit und ihr Vertrauen wurde diese Arbeit möglich. Diese Gespräche waren nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive wertvoll, jedes einzelne von ihnen war für mich auch eine persönlich bereichernde Erfahrung. Ebenso bin ich dem Betreuer meiner Dissertation Prof. Dr. Reinhard Sieder zu Dank verpflichtet, der mich während dieser Forschungsarbeit angeleitet hat, mich unterstützt hat und von dem ich im Zuge dessen so viel Wertvolles lernen durfte. Darüber hinaus gilt mein Dank den beiden Gutachter_innen der Dissertation, Prof. Dr. Silvia Hahn und Prof. Dr. Christoph Reinprecht, von deren konstruktiver Kritik die Qualität dieser Arbeit ebenfalls wesentlich profitiert hat. Aber auch all meinen Lieben und meinem Liebsten, die mich in so vielfältiger Weise bei diesem Forschungs- und Buchprojekt unterstützt haben, möchte ich hier noch einmal von ganzem Herzen danken.
Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
Sabine Hark, Paula-Irene Villa
Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)
Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4
Andreas Reckwitz
Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4
Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9
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