Ars – Visus – Affectus: Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit 9783110474411, 9783110474046

The discourses that shaped knowledge of affects in premodern times included the philosophers’ doctrine of the soul, Chri

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German Pages 292 Year 2016

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Aby Warburgs Nymphen und Schmetterlinge als Affekte
Rembrandts Denkräume
Tristia Cum Gemitu Cristi Spectacula. Zu einem Monumentalrelief des Francesco Laurana
Heilige in »Nahdistanz«. Die Figuren der lateinischen Kirchenväter Anton Sturms in der Wieskirche
Stillstellung – Verinnerlichung – Kontemplation. Visuelle Strategien der Affektreduzierung in Giovanni Bellinis Pietà Donà dalle Rose
Affekt als Raum. Mediale Figurationen der Verehrung bei Francesco Vanni
Rhetoriken der Empfindsamkeit
Affekt, Devotion, Prestige. Daniele da Volterras San Giovanni Decollato
Imago et Figura Mortis. Visuelle Reflexionsfiguren in Pieter Bruegels d. Ä. Triumph des Todes
Mit Herz und ohne Vernunft. Frans Snyders’ Hundeblicke
Formen pathognomischen Experimentierens in Leonardo da Vincis Zeichnungen. Medialität, Materialität und Ästhetik eines Wissens um das Affektive
Keine Miene zum bösen Spiel?. Zum Paradoxon von Affektvisualisierungen in den frühneuzeitlichen Darstellungen von Totenschädeln
Affectus Exprimit. Die Rolle der Affekte im Schaffen von Pietro Testa
Charles Le Bruns Expression des passions und die Têtes d’expression im Kontext physiologischer Betrachtungen
Abbildungsnachweis
Farbtafeln
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Ars – Visus – Affectus: Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit
 9783110474411, 9783110474046

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Anna Pawlak, Lars Zieke und Isabella Augart (Hrsg.) Ars – Visus – Affectus

ARS – VISUS – AFFEC TUS Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit Anna Pawlak, Lars Zieke und Isabella Augart (Hrsg.)

Work of the authors is supported by the Institutional Strategy of the University of Tübingen (Deutsche Forschungsgemeinschaft, ZUK 63)

ISBN 978-3-11-047404-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047441-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047411-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Pedro Roldán, Mater Dolorosa, um 1670–1675, gefasstes Pappelholz und Glas, Höhe 37 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung, Inventar-Nr. 353, Foto: Fabian Fröhlich, Berlin. Satz: hawemannundmosch, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier

Printed in Germany

www.degruyter.com

INHALTSVER ZEICHNIS

Isabella Augart, Anna Pawlak, Lars Zieke Vorwort  7 Barbara Baert Aby Warburgs Nymphen und Schmetterlinge als Affekte  18 Stefan Grohé Rembrandts Denkräume  38 Iris Wenderholm Tristia Cum Gemitu Cristi Spectacula Zu einem Monumentalrelief des Francesco Laurana  55 Dörte Wetzler Heilige in »Nahdistanz« Die Figuren der lateinischen Kirchenväter Anton Sturms in der Wieskirche  72 Lars Zieke Stillstellung – Verinnerlichung – Kontemplation Visuelle Strategien der Affektreduzierung in Giovanni Bellinis Pietà Donà dalle Rose  85 Isabella Augart Affekt als Raum Mediale Figurationen der Verehrung bei Francesco Vanni  104 Joseph Imorde Rhetoriken der Empfindsamkeit  125

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Inhaltsverzeichnis

Andreas Plackinger Affekt, Devotion, Prestige Daniele da Volterras San Giovanni Decollato  143 Anna Pawlak Imago et Figura Mortis Visuelle Reflexionsfiguren in Pieter Bruegels d. Ä. Triumph des Todes  160 Maurice Saß Mit Herz und ohne Vernunft Frans Snyders’ Hundeblicke  182 Fabiana Cazzola-Senkpiel Formen pathognomischen Experimentierens in Leonardo da Vincis Zeichnungen Medialität, Materialität und Ästhetik eines Wissens um das Affektive  203 Marius A. T. Wittke Keine Miene zum bösen Spiel? Zum Paradoxon von Affektvisualisierungen in den frühneuzeitlichen Darstellungen von Totenschädeln  215 Stefan Albl Affectus Exprimit Die Rolle der Affekte im Schaffen von Pietro Testa  233 Caecilie Weissert Charles Le Bruns Expression des passions und die Têtes d’expression im Kontext physiologischer Betrachtungen  251

Abbildungsnachweis  273 Farbtafeln  275

Vorwort

VORWORT

Einzelne Tränen bahnen sich ihren Weg über das von ohnmächtiger Trauer schwer gezeichnete Gesicht und hinterlassen unregelmäßige blasse Spuren, unter denen sich die von der Zeit stark angegriffene polychrome Oberfläche aufzulösen scheint. Die leicht zusammengezogenen Augenbrauen über den grünen leuchtenden Augen, die gleichermaßen hilflos wie abwesend nach oben blicken, und der geöffnete Mund, dem anscheinend kein Laut mehr zu entweichen vermag, evozieren mit ihrem naturalistischen Darstellungsmodus eine reale körperliche Präsenz. Pedro Roldáns um 1670–1675 entstandene Mater Dolorosa­1 aus gefasstem Pappelholz und Glas, deren äußere Erscheinungsform bewusst an Reliquienbüsten erinnert, visualisiert keinen konkreten Moment der Passion, sondern fungiert als eine gleichsam überzeitliche Konfiguration der seelischen Schmerzen Mariens. Als Objekt kontemplativer Betrachtung und kultischer Verehrung lässt die von Trauer überwältigte Figur des spanischen Künstlers den Rezipienten nicht nur modellhaft die für die Erlösung unabdingbaren Leiden der Muttergottes nachempfinden, sondern stellt ihm im Sinne der compassio imaginativ auch den Leidensweg und Kreuzestod Christi selbst vor Augen. In der exzeptionell illusionistischen Erfassung des emotionalen Ausnahmezustands der Mater Dolorosa manifestiert sich damit sowohl die erkenntnisstiftende Funktion der künstlerischen Affektdarstellung und Affektstimulanz im Kontext der religiösen Praxis der Zeit als auch das selbstreflexive Potenzial des Mediums Skulptur. Die hier fassbare historische Valenz des Affektiven als Träger und Gegenstand theologischer, (natur-)philosophischer und allen voran ästhetischer Diskurse in der visuellen Kultur der Frühen Neuzeit steht im Zentrum des vorliegenden Bandes. Als Grundphänomen des menschlichen Erlebens lassen sich Emotionen als »Einwirkungen äußerer Gegebenheiten auf die menschliche Psyche« sowie als deren physiologisch beschreibbare »Auswirkungen auf den menschlichen Körper« benennen.2 In der heutigen 1 2

Pedro Roldán, Mater Dolorosa, um 1670–1675, gefasstes Pappelholz und Glas, Höhe 37 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Skulpturensammlung, Inventar-Nr. 353, Abb. Umschlag. »Affektenlehre«, in: Enzyklopädie der Neuzeit (EdN), Bd. I, Sp. 88–90, hierzu Sp. 88.

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Vorwort

Alltagssprache werden die Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl häufig synonym gebraucht und umfassen Vorstellungen von innerer beziehungsweise äußerer Empfindung, Stimmung, Leidenschaft und Sensibilität.3 Ihre Bedeutungen und Verwendungen überschneiden sich oftmals, verweisen jedoch auf differente historische Diskurse und Praktiken.4 In der Vormoderne erfolgte die Verhandlung von Affektwissen, wie von der Forschung wiederholt dargelegt, insbesondere anhand der Termini pathos, affectus und passio.5 Deren rezeptiver Charakter im Sinne des Erleidens und Betroffenseins sowie die damit verbundene mora­ lisierende Funktionalisierung hat mit dem ›modernen‹ Begriffspaar »Gefühl« und »Emotion« wenig gemeinsam.6 In diesem Kontext lenkt eine historisch-kulturwissenschaftlich argumentierende Emotionsforschung verstärkt den Blick auf zeitgenössische Aushandlungsprozesse der Modellierung und Deutung von Affekten. Wichtige Beiträge für die Untersuchung der Semantik, Rhetorik und Praxis von Affektkontrolle und -funktionalisierung in der Frühen Neuzeit wurden in der Geschichtswissenschaft geleistet. Diese beschäftigte sich u.a. mit Aushandlungen individuellen Erlebens und kollektiven Affektdiskursen des fühlenden Subjekts im kulturellen und zeitlichen Wandel. 7 Untersucht wurden etwa Personenkonzepte in Relation zu gesellschafts-, konfessions- oder geschlechtsspezifischen Verhaltensnormierungen, die Rolle von Affekten für die symbolische Kommunikation in rituellen und zeremoniellen Akten sowie die Ausprägung einer

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Franke, Ursula: Spielarten der Emotionen. Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf Diskurse der Ästhetik, in: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Hrsg. von Klaus Herding u. Bernhard Stumpfhaus. Berlin [u.a.] 2004, S. 165–188, hierzu S. 166. Zur Verwendung der Begriffe »Gefühl« und »Affekt« siehe Hoff, Michael: Die Kultur der Affekte: Ein historischer Abriss, in: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Hrsg. von Antje Kraus-Wahl [u.a.]. Bielefeld 2006, S. 20–35. Der Neurophysiologe Antonio Damasio unterscheidet evolutionstheoretisch zwischen Emotionen (emotions) als körperlich-neuronale Aktionsimpulse und Gefühlen (feelings) als Vollendung der Schöpfung, vgl. Damasio, Antonio R.: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin 2005. Im Allgemeinen definieren Neurophysiologen das »Gefühl« eher als verinnerlicht, die »Emotion« eher als veräußerlicht und sozial verortet. Siehe hierzu und als Überblick über die Emotionsforschung Herding, Klaus: Emotionsforschung heute – eine produktive Paradoxie, in: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Hrsg. von dems. u. Bernhard Stumpfhaus. Berlin [u.a.] 2004, S. 3–46, hierzu S. 7. »Affekt«, in: Ästhetische Grundbegriffe (ÄG), Bd. I, S. 16–48, hierzu S. 21; »Gefühl 1. Allgemein«, in: EdN, Bd. IV, Sp. 247–252; »Gefühl und Einfühlung«, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, S. 138–140. »Gefühl«, in: ÄG, Bd. II, S. 629–660, hierzu S. 629. Das Wort »Gefühl« tritt erst im 17. Jahrhundert als Bezeichnung für eine Sinnesleistung und seit der Mitte des 18. Jahrhunderts für eine innere Empfindung auf, vgl. »Gefühl«, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. IV/I, 2, Leipzig 1897, Sp. 2167f. Vgl. Stearns, Peter u. Carol Stearns: Emotionology. Clarifying the History of Emotions and Standards, in: American Historical Review 90 (1985), 4, S. 813–816; Rosenwein, Barbara: Worrying about Emotions in History, in: American Historical Review 107 (2002), 3, S. 821–845; Frevert, Ute: Geschichte der Gefühle, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 35 (2009), 2, S. 183–352; Kasten, Ingrid [u.a.]: Lucien Febvre und die Folgen. Zu einer Geschichte der Gefühle und ihrer Erforschung, in: Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von ders. [u.a.]. Stuttgart / Weimar 2002 (Querelles 7), S. 9–26. Schnell, Rüdiger: Historische Emotionalitätsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173–276.

Vorwort

emotionalen Bindung in der Religionsausübung.8 Ein daran anknüpfendes, aber anders ausgerichtetes Erkenntnisinteresse verfolgt die Emotionsforschung in den Literatur- und Kunstwissenschaften. Jüngere Studien haben vor allem im Bereich der Literaturwissenschaften systematisch die Frage der dichterischen Affektdarstellung in ihren komplexen Konstitutionsbedingungen und deren Grundlagen in textuellen Verfahren respektive Struk­ turen sowie in theoretischen Reflexionen über Imaginationsprozesse erörtert.9 Innerhalb der Kunstgeschichte/Bildwissenschaft haben derartige Untersuchungen mit einiger Verzögerung eingesetzt und werden nach wie vor verhältnismäßig selten verfolgt. 10 Als Leitlinien innerhalb der kunstwissenschaftlichen Forschung lassen sich die Rückbindung von Emotionsdarstellungen an Körpersprache und Kunsttheorie und die Rekonstruk­ tion bildlicher Affektgenerierung skizzieren, die durch einen spezifisch historisch-kulturwissenschaftlichen Analysezugang mit verstärktem Blick auf die Medialität der Bilder begünstigt werden. Anfänglich konzentrierte sich die Forschung auf eine semantisch eindeutige ›Lesbarkeit‹ der Affektdarstellung in den Künsten. Grundlage dieses Deutungs­ ansatzes ist die Annahme, dass vor allem Mimik und Gestik als zentrale Veranschaulichungsformen des Affektiven in Bildern fungieren. Die dabei angestrebte Entschlüsselung von Affekten als lesbare Zeichensysteme bezog sich zumeist auf den traditionellen Kanon der zeitgenössischen Kunsttheorie von Alberti bis Le Brun, deren Schriften durch eine nor­ mativ-moralisierende, seit der antiken Seelenlehre und Rhetorik fortgeschriebene Affektauffassung geprägt sind.11 Indem jedoch derartige Forschungsansätze, welche Affektdarstel-

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Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012; Benthien, Claudia [u.a.] (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln [u.a.] 2000; Flick, Sabine (Hrsg.): Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel. Bielefeld 2009; Jarzebowski, Claudia: Kindheit und Emotion. Kinder und ihre Lebenswelten in der europäischen Frühen Neuzeit. Habilitation. Berlin 2014; Jarzebowski, Claudia u. Anne Kwaschik (Hrsg.): Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emo­tion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne. Göttingen 2013; Rosenwein, Barbara H.: Emotional communities in the early Middle Ages. Ithaca (NY) [u.a.] 2006. Verwiesen sei auch auf die Tätigkeiten des Center of Excellence for the History of Emotions (1100–1800) in Australien. 9 Zumbusch, Cornelia u. Martin von Koppenfels (Hrsg.): Literatur & Emotionen. Berlin/New York 2015; Enenkel, Karl A. E. u. Anita Traninger (Hrsg.): Discourses of Anger in the Early Modern Period. Leiden 2015; Kann, Christoph (Hrsg.): Emotionen in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 2014; Freudenberg, Bele (Hrsg.): Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen. Berlin 2009. 10 Vgl. dazu Werner, Elke A.: Visualität und Ambiguität der Emotionen. Perspektiven der kunst- und bildwissenschaftlichen Forschung, in: Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne. Hrsg. von Claudia Jarzebowski u. Anne Kwaschik. Göttingen 2013, S. 147–166. 11 Weise, Georg u. Gertrud Otto: Die religiösen Ausdrucksgebärden des Barock und ihre Vorbereitung durch die italienische Kunst der Renaissance. Stuttgart 1938; Barasch, Moshe: Der Ausdruck in der italie­ nischen Kunsttheorie, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 12 (1967), S. 33–69; Demisch, Heinz: Erhobene Hände. Geschichte einer Gebärde in der bildenden Kunst. Stuttgart 1984; Michels, Norbert: Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheori­e des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster 1988; Rehm, Ulrich: Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung. München / Berlin 2002.

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Vorwort

lungen als konventionalisierte Ausdrucksformen verstehen, die affektive Dimension der Werke fast ausschließlich auf Körperzeichen reduzieren, bleiben andere zentrale Aspekte wie etwa Komposition, stilistische Eigenheiten, Materialität oder die Frage nach einem übergeordneten Bildkonzept meist unberücksichtigt. Dass gerade jene formalen und inhaltlichen Gestaltungsprinzipien des Werkes be­deutsam für die Konstituierung von künstlerischen Affektpraktiken sind, wurde in Forschungsarbeiten der letzten drei Jahrzehnte immer deutlicher herausgestellt. Als zentrales Themenfeld wurden Emotionen vermehrt seit etwa 1990 in den Vordergrund von kunstwissenschaftlichen Untersuchungen gerückt. Im Rahmen der zur selben Zeit ausgerufenen bildwissenschaftlichen Wende (iconic/pictorial turn) wurde das Bild zunehmend nicht mehr als ›Ort‹ der Darstellung von Emotionen, sondern vielmehr als visueller Speicher künstlerischer Emotionen und als Auslöser von Affekten beim Rezipienten verstanden.12 Im Kontext der Erweiterung des Bildbegriffes ist in jüngeren Forschungsarbeiten ebenfalls eine zunehmende Fokussierung auf ›Emotionsgeschichten‹ in Bezug auf Skulptur, Architektur, Räume und zeitgebundene Medien zu beobachten, welche die medienspezifische Bestimmung konkreter Bedingungen und Modi der Affektdarstellung und Affekterzeugun­g beim Betrachter erlaubt.13

12 Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. Chicago / London 1989. Eine Verbindung von Kunstwissenschaft und Emotionsforschung unternahm das Graduiertenkolleg Psychische Energien bildender Kunst an der Universität Frankfurt am Main (1996–2004), vgl. dazu u.a. Herding, Klaus u. Bernhard Stumpfhaus (Hrsg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin [u.a.] 2004; Herding, Klaus u. Antje Krause-Wahl (Hrsg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht. Taunusstein 2007. Wissenschaftsgeschichtliche Aspekte der Barockforschung des 19. Jahrhunderts verbindet Joseph Imorde in einer Publikation, die aus einer Vorlesungsreihe hervorgegangen ist, mit einer (kunst-)historischen Emotionsforschung und belegt deren ›Nachleben‹ für die Beschäftigung mit den Emotionen in der heutigen Kunstgeschichte, vgl. Imorde, Joseph: Affektübertragung. Berlin 2004. Der von Gottfried Boehm geleitete Nationale Forschungsschwerpunkt Bildkritik in Basel belegte 2006 mit einer Tagung das Interesse der Bildwissenschaft am Thema des Verhältnisses von Bild und Emotion, vgl. Boehm, Gottfried [u.a.] (Hrsg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. Paderborn 2008. Das von Martin Büchsel an der Universität Frankfurt am Main geleitete DFG-Forschungsprojekt Fühlen und Erkennen. Kognitive Funktionen der Darstellung von Emotionen in der mittelalterlichen Kunst (2006–2009) hat hierzu im Bereich der mittelalterlichen Kunst wesentliche Forschungsergebnisse vorgelegt. Ein Zugang zu emotionswissenschaftlichen Bilddiskursen wurde zudem in Klaus Krügers Forschungsprojekt Die Wirklichkeit bildlicher Affektdarstellung. Mediale und diskursive Konstruktionen in der Frühen Neuzeit (2008–2011) im Rahmen des transdisziplinär angelegten Exzellenzclusters Languages of Emotion der Freien Universität Berlin entwickelt. Die Kombination von historischer Emotionsforschung mit ästhetischen und kunstwissenschaftlichen Fragestellungen strebte auch die von Kerstin Thomas geleitete und an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angesiedelte Emmy Noether-Nachwuchsgruppe Form und Emotion. Affektive Strukturen in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts und ihre soziale Geltung (2010–2015) an. Das mit der Affektforschung verwandte Feld der Gewalt wurde für die frühneuzeitliche und moderne Kunst mit dem von Anna Pawlak und Kerstin Schankweiler herausgegebenen Tagungsband erschlossen, vgl. Pawlak, Anna u. Kerstin Schankweiler (Hrsg.): Ästhetik der Gewalt – Gewalt der Ästhetik. Weimar 2013. 13 Aurenhammer, Hans u. Daniela Bohde (Hrsg.): Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit. Bern [u.a.] 2015; Heß, Regine: Emotionen am Werk. Peter Zumthor, Daniel Libeskind, Lars Spuybroek und die historische Architekturpsy-

Vorwort

In den Geisteswissenschaften ist darüber hinaus seit einigen Jahren das verstärkte I­ nteresse zu beobachten, sich den neuro- und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen der Naturwissenschaften zuzuwenden.14 Erscheint eine Aneignung von empirischen Methoden der Neuro- und Kognitionswissenschaften für die Analyse von Perzeptions- und Rezeptionsmechanismen auf den ersten Blick gewinnbringend,15 weil sie eine »wahrheitsgemäße« Aufschlüsselung der komplexen Wahrnehmungsprozesse im Sinne einer »kognitivistische n ­ 16 17 Rezeptionsästhetik« erwarten lässt, ist die Anwendung dieser Erkenntnisse für die Früh­

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chologie. Berlin 2013 (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst 12); Meulen, Nicolaj van der: Ikonische Hypertrophien. Zum Bild- und Affekthaushalt im spätbarocken Sakralraum, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. Hrsg. von Gottfried Boehm [u.a.]. Paderborn 2008, S. 275–299; Poeschke, Joachim: »Quod animum excitat«. Zur Wahrnehmung und Wirkung von Architektur in der Frührenaissance, in: Leon Battista Alberti. Humanist – Architekt – Kunsttheoretiker. Hrsg. von dems. u. Candida Syndikus. Münster 2008, S. 197–208; Pernau, M.: Space and emotion. Building to feel, in: History Compass 12 (2014), S. 541–549; Schlie, Heike: Exzentrische Kreuzigungen um 1500 – Zur Erfindung eines bildlichen Affektraums, in: Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Johann A. Steiger u. Ulrich Heinen. Berlin / New York 2010, S. 63–92; Koch, Elke u. Heike Schlie (Hrsg.): Orte der Imagination – Räume des Affekts. Die mediale Formierung des Sakralen. Paderborn 2016. Vgl. Hammer-Tugendhat, Daniela u. Christina Lutter: Emotionen im Kontext. Eine Einleitung, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4 (2010), 2, S. 7–14, hierzu S. 8; Scherer, Klaus R.: Gefrorene Gefühle. Zur Emotionsdarstellung in der bildenden Kunst, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. Hrsg. von Gottfried Boehm [u.a.]. Paderborn 2008, S. 249–273. Den Versuch einer Erklärung frühneuzeitlichen Bild-Erlebens durch den Rückgriff auf kognitionspsychologische und neurophysiologische Modelle und Methoden versucht auch Heinen, Ulrich: Emotionales Bild-Erleben in der Frühen Neuzeit, in: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Hrsg. von Rüdiger Zymner u. Manfred Engel. Paderborn 2004, S. 356–383. Kemp, Wolfgang: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Hrsg. von dems. Berlin 21992, S. 7–27; »Rezeptionsästhetik«, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, S. 314–316; Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter. Der Rezeptions­ ästhetische Ansatz, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung. Hrsg. von Hans Belting [u.a.]. Berlin 72008, S. 247–265. Hamker, Anne: Dimensionen der Reflexion. Skizze einer kognitivistischen Rezeptionsästhetik, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45 (2000), 1, S. 25–47. Vgl. Weigel, Sigrid: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004, S. 147–172 [Kap. IV. Von der Spur der Affekte in der Geschichte, 8. Pathos – Passion – Gefühl. Schauplätze affekttheoretischer Verhandlungen in Kultur- und Wissenschaftsgeschichte], hierzu S. 148–153. Eine Verbindung zwischen Neuro- und Kunstwissenschaft versuchte etwa bereits Karl Clausberg in den 1990er Jahren, vgl. Clausberg, Karl: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip. Wien 1999. Raphael Rosenberg führt ähnliche Bemühungen in einem Labor für empirische Bildwissenschaft an der Universität Wien durch die Messung von Blickbewegung (eye tracking) fort, auch am Beispiel frühneuzeitlicher Kunstwerke, vgl. Rosenberg, Raphael: Dem Auge auf der Spur. Blickbewegungen beim Betrachten von Gemälden − historisch und empirisch, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2010 (2011), S. 76−89; Rosenberg, Raphael: Blicke Messen. Vorschläge für eine empirische Bildwissenschaft, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künst­e 27 (2013), S. 71–86; Rosenberg, Raphael u. Christoph Klein: The Moving Eye of the Beholder. Eye-Tracking and the Perception of Paintings, in: Art, Aesthetics and the Brain. Hrsg. von Joseph P. Huston [u.a.]. Oxford 2015, S. 79–108. Auch David Freedbergs neuere Forschungen streben eine kunstwissenschaftliche Verbindung zur Neuroästhetik (neuroesthetics) an, vgl. Gallese, Vittorio u. David Freedberg: Mirror and canonical neurons are crucial elements in esthetic response, in: Trends Cognitive Sciences 30 (2007). doi:10.1016/j.tics.2007.07.006 (19.05.2016); Freedberg, David: Feelings on Faces. From Physiognomics to

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Vorwort

neuzeitforschung innerhalb der Kunstgeschichte dennoch nicht unproblematisch. Denn zeitgenössische naturwissenschaftliche Erkenntnisse dienen dabei der Erfassung und Definition von Emotionen, die in der Folge epochenübergreifend als anthropologische Konstanten begriffen und keiner historischen Differenzierung unterzogen werden, mit der Gefahr, die Emotionsforschung zu dekontextualisieren und die zeitgebundene Dimension von Affekten zu nivellieren oder gar zu negieren. Im Horizont dieser wissenschaftlichen Debatten bewegt sich der vorliegende Tagungsband und setzt sich zum Ziel, verstärkt kunsthistorische Fragen nach Status, Funktion und Bedeutung von Visualisierungen des Affektiven in der Frühen Neuzeit zu stellen und zugleich ihre medialen Bedingungen und kulturellen Voraussetzungen herauszuarbeiten. Ausgangspunkt der Publikation sind drei Workshops, die im Zeitraum von 2012 bis 2015 in Berlin und Tübingen stattfanden. Im Rahmen des Exzellenzclusters »Languages of Emotion« der Freien Universität Berlin wurden zunächst 2012 zwei interdisziplinäre Workshops zum Thema der Affekte in der Frühen Neuzeit im Fragehorizont der Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaften sowie der Theologie und Philosophie veranstaltet. Unter dem Titel »Kulturen des Affektiven. Die Künste im Spannungsfeld von religiösem Erleben und ästhetischer Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit« wurde im April 2012 diskutiert, welche Bedeutung den Affekten bei der »ästhetischen Wahrnehmung« von Kunst zukommt und wie sich diese affektive Dimension zum »religiösen Erleben« verhält.18 In diesem Zusammenhang wurde gefragt, inwieweit Bilder, Texte, Musik und Aufführungen, aber auch Räume, Rituale und Praktiken eingesetzt wurden, um in der Verknüpfung und Wechselwirkung von religiöser und ästhetischer Erfahrung affektive Zustände zu vermitteln und zu evozieren. Der zweite Workshop mit dem Titel »Zwischen Ethik und Empirie. Zum Gebrauch des Emotionswissens im 17. und 18. Jahrhundert« im November 2012 beschäftigte sich anschließend mit verschiedenen Diskursen, die den mensch­lichen Gefühlen eine neue theoretische Aufmerksamkeit entgegenbrachten.19 Diese Phä­nomene wurden ins Verhältnis zum tradierten Gefühlswissen der antiken Philosophie gesetzt, wodurch sys-

Neuroscience, in: Rethinking Emotion. Interiority and Exteriority in Premodern, Modern, and Contemporary Thought. Hrsg. von Rüdiger Campe u. Julia Weber. Berlin / Boston 2014, S. 289–324. Freedbeerg selbst hatte mit seinem Buch The Power of Images. A Theory of Response (1989) einen Grundstein für die Erforschung affektiver und körperlicher Dimensionen der Wirkmacht von Bildern aus kunsthistorischer Perspektive geliefert, vgl. zur Spezifik und Entwicklung dieser »Theory of Response« in Freedberg, David: Empathy, Motion, Emotion, in: Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht. Hrsg. von Klaus Herding u. Antje Krause-Wahl. Berlin 2008, S. 17–51, hierzu S. 19f. 18 Der Workshop »Kulturen des Affektiven. Die Künste im Spannungsfeld von religiösem Erleben und ästhetischer Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit« am 13. April 2012 an der Freien Universität Berlin, Exzellenzcluster Languages of Emotion, wurde von Isabella Augart, Christoph Groß, Dörte Wetzler und Lars Zieke konzipiert. 19 Der Workshop »Zwischen Ethik und Empirie. Zum Gebrauch des Emotionswissens im 17. und 18. Jahrhundert« am 09. November 2012 an der Freien Universität Berlin, Exzellenzcluster Languages of Emotion, wurde von Isabella Augart, Sabine Donauer und Bastian Ronge konzipiert.

Vorwort

tematisch dargelegt werden sollte, wie sich das Erkenntnisinteresse zwischen Antike und Vormoderne signifikant verschoben hatte.20 Die konzeptuelle Grundlage des Bandes bildet schließlich der im Oktober 2015 am Kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen veranstaltete Workshop »Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit«. 21 Der für den Titel ver­ wendete Begriff »Visuelle Kulturen« ermöglicht es, den Fokus verstärkt auf die ästhetischen Prozesse der Sichtbarmachung des Affektiven im konkreten historischen Kontext zu richten.22 Vor dem Hintergrund des komplexen Beziehungsfeldes von Kultur und Visualität in der Frühen Neuzeit, soll das ›Visuelle‹ nicht allein auf die Manifestation des Affektiven im Bild bezogen werden, sondern auch die performativen Akte des Darstellens und des Sehens miteinschließen. Dies betrifft auch Formen des Inszenierens und Handelns – etwa in rituellen Kontexten – sowie den Umgang mit Artefakten, Objekten und Dingen. Der Terminus des ›Visuellen‹ erscheint uns gerade deshalb treffend, da er auch mentale, imaginative und kreative Wahrnehmungsprozesse zu erfassen vermag. Die zeitgenössische ›Prägung des Auges‹ und das dadurch bedingte Wahrnehmen des Affektiven im jeweiligen historischen Kontext werden hierbei in erster Linie als kulturelle Konstruktionen aufgefasst.23 Wahrnehmung und Körper stellen daher wesentliche Bezugsgrößen innerhalb der vorliegenden Beiträge dar, da gerade an ihren Schnittstellen affektive Codierungen besonders fassbar werden. Dies betrifft insbesondere die vielfältigen Modi der Verkörperlichung und die damit gleichzeitig veräußerlichten Ausdrucksformen der eigentlich nicht sichtbaren inneren Emotionen. In diesem Sinne besitzt die Semantisierung des Affektausdrucks stets auch eine produktionsästhetische Seite, insofern sie dem Bild einen ›Ausdruck‹, jenen nämlich des Künstlers und seiner kreativen, dynamisch-unmittelbaren respektive durch zeitgebundene Diskurse geformten Emotionalität, verleiht.24 In einer kritischen Revision älterer Forschungsansätze mit ihrem Verständnis des Bildes als Medium einer eindimen­ sional verstandenen ›Affektdarstellung‹ sollen hier die spezifischen Dispositionen von

20 Zu diesem Themenfeld vgl. u.a. Perler, Dominik: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emo­ tionstheorien 1270–1670. Frankfurt 2011; Landweer, Hilge u. Ursula Renz (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien. Berlin / New York 2008. Newmark, Catherine: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008. 21 Der Workshop »Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit« am 09. und 10. Oktober 2015 am Kunsthistorischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen wurde von Anna Pawlak, Lars Zieke und Isabella Augart konzipiert. 22 Zum Begriff der »Visuellen Kultur« vgl. Mirzoeff, Nicholas: An Introduction to Visual Culture. London 1999; Mörtenböck, Peter u. Helge Mooshammer: Einleitung, in: Visuelle Kultur. Körper – Räume – Medien. Hrsg. von dens. Wien [u.a.] 2003, S. 5–16; Mitchell, William J. T.: Was will das Bild?, in: ders.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur. München 2008, S. 46–77, hierzu S. 67; Rimmele, Marius u. Bernd Stiegler (Hrsg.): Visuelle Kulturen. Visual Culture zur Einführung. Hamburg 2012. 23 Rimmele/Stiegler 2012 (wie Anm. 22), S. 9f. 24 Graul, Jana: »Tanto lontano da ogni virtù«. Zu Konkurrenz, Neid und falscher Freundschaft in Vasaris Vita des Andrea del Castagno und Domenico Veneziano, in: Kunsttexte.de 1 (2012). http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2012-1/graul-jana-1/PDF/graul.pdf (17.08.2016); Graul, Jana: »Particolare vizio de’ professori di queste nostre arti«. On the concept of envy in Vasari’s ›Vite‹, in: I Tatti 18 (2015), 1, S. 113–146.

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Mimik, Gestik und Körpersprache hinterfragt werden, um die vielschichtigen Relationen von ›innerer‹ Verfasstheit und ›äußerem‹ Ausdruck des Körpers im Bild in Anbetracht komplexer religiöser, politischer sowie gesellschaftlicher Codierungen und Prozesse der Identitätskonstruktionen in den Blick zu nehmen. 25 Sie alle stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit vormodernen Affekt- und Körperdiskursen, die das Interesse an wissenschaftlicher Anatomisierung sowie pathognomischen und humoralpathologischen Erklärungsmodellen oder auch an normativen Kanonvorstellungen von Proportion und Schönheit bündelten. Daraus resultiert als weiterer Schwerpunkt des Bandes die Auseinandersetzung mit frühneuzeitlichen Konzepten einer ›Naturalisierung‹ der Affekte durch das Bild und seiner möglichen Darstellungsweisen sowie die damit verbundenen medientheoretischen respektive mediengeschichtlichen Fragen. Die Sichtbarmachung im körperlichen Ausdruck, so der Ausgangs­punkt der Überlegungen, verleiht nicht nur dem Körper eine besondere Valenz als Mediu­m der Affekte, sondern auch dem Bild selbst als entsprechende Darstellungs- und Anschauungsform. Dies fordert einen Darstellungsmodus, der den mensch­ lichen Körper und sein­e Affekte in seiner vermeintlich ›natürlichen‹ Verfasstheit vermittelt. In Anbetracht der frühneuzeitlichen Reflexion des Bildes als mimetische Repräsentation und des damit einher­gehenden Darstellungsrealismus muss der vormoderne Anspruch an eine naturnahe und damit überzeugende Affektdarstellung im reziproken Verhältnis zwischen ästhetischer Illusion und materieller Morphologie des Bildes als mediale Konfiguration verhandelt werden. In Hinblick auf die in der Frühen Neuzeit verstärkt aufkommenden (inner-)bildlichen Metadiskurse stellt sich daher nicht allein die Frage nach der Rolle einer an der Antike orientierten Affektrhetorik, sondern vielmehr nach der Entstehung einer performativen Affektmodellierung, die für die Wirklichkeitsauffassung des Bildes prägend war.26 Der Band setzt sich deshalb zum Ziel, den elementaren Zusammenhang zwischen den künstlerischen Verfahren der Emotionsdarstellung und dem autoreflexiven Status des Bildes zu fokussieren. Aus den oben genannten thematischen Schwerpunkten ergeben sich schließlich Fragen nach den Parametern für die ›Wirkung‹ von Affektdarstellungen im Sinne einer Affekt­ stimulanz beim Rezipienten. Auch diese unterliegen wiederum vielfältigen Codierungsund Institutionalisierungsbedingungen sowie den jeweiligen Spezifika unterschiedlicher sozialer und kultureller Kontexte. Daher versucht der Band im Spannungsfeld zwischen Produktion, Perzeption und Rezeption von Kunst die vormodernen Affektmodellierungen

25 Trepp, Anne-Charlotte: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Ingrid Kasten [u.a.]. Stuttgart / Weimar 2002 (Querelles 7), S. 86–103. 26 Vgl. als theoretische Grundlage hierzu Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001; Rosen, Valeska von: »Der stumme Diskurs der Bilder«. Einleitende Überlegungen, in: Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit. Hrsg. von ders. [u.a.], München 2003, S. 9–16, hierzu S. 12f.; Stoichita, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München 1998.

Vorwort

dezidiert hinsichtlich ihrer epistemischen Funktion und visuellen Formen der Evidenz­ erzeugung zu analysieren. Im Sinne der Rezeptionsästhetik sollen dabei die Praktiken der Affizierung des Betrachters, die auf ihn bezogene ästhetische Konstitution der Emotionen für die Sinnproduktion des Bildes untersucht und der Unterschied zwischen der Affektdarstellung und ihren außermedialen Bedingungen herausgearbeitet werden. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Problemstellung verankert sich der vorliegende Band in jüngeren bildwissenschaftlichen sowie medientheoretischen Debatten und legt den Fokus auf die vielfältigen Visualisierungsstrategien des Affektiven in Bildern sowie die Evokation von Affekten durch Bilder, die in den versammelten Beiträgen gattungsübergreifend an Kunstwerken des 15. bis 18. Jahrhunderts analysiert werden. Mit der Unter­ suchung der differenzierten ästhetischen Konzepte, ihrer historischen Wirkungsmacht und ihres medialen Reflexionspotenzials möchte die Publikation einen kunsthistorischen Beitrag zur aktuellen interdisziplinären Erforschung frühneuzeitlicher Kulturen des Affektiven leisten.27 Isabella Augart, Anna Pawlak und Lars Zieke

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27 Siehe hierzu Anm. 8 und 9.

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ABY WARBURGS NYMPHEN UND SCHMET TERLINGE ALS AFFEK TE *

Im Universitätsarchiv Tübingen, das die medizinischen Berichte und Briefe zwischen dem Psychiater Ludwig Binswanger (1881–1966) und Aby Warburg (1866–1929) aufbewahrt, befindet sich ein Brief Warburgs an den Vorstand des Sanatoriums Bellevue in Kreuzlinge­n vom 16. Juli 1921, nur kurze Zeit nach seiner Aufnahme am 15. April desselben Jahres. In diesem Brief drückt er neben verschiedenen anderen paranoiden Gedanken seine Angst aus, Informationen und Korrespondenz könnten ihm vorenthalten werden. Dann beschwert er sich über eine Aubergine mit einer unangenehm unbestimmbaren Füllung, die ihm gereicht wurde. In den Berichten der Krankenschwestern und Ärzte der darauffolgenden Jahre finden sich wiederholte Erwähnungen über Aby Warburgs Wutanfälle, Beschimpfungen und Beschwerden. Wenn es um sein Essen ginge, sei er vollkommen paranoid. So gehe er permanent davon aus, Leute wollten ihn vergiften oder Sperma befände sich im Essen. Dennoch enthält der Brief eine prägnantes Postskriptum: »Meine Krankheit besteht darin, dass ich die Fähigkeit, die Dinge in ihren einfachen Kausalitätsverhältnissen zu verknüpfen, verliere, was sich im Geistigen wie im Realen widerspiegelt, so z. B. mag ich deswegen nur einfache und übersehbare Gerichte essen.«1 *

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Dieser Aufsatz ist eine Ergänzung mit neuem nichtpublizierten Material zu meinen bisherigen Studien: Baert, Barbara: Nymphe (Wind). Der Raum zwischen Motiv und Affekt in der frühen Neuzeit (Zugleich ein Beitrag zur Aby Warburg-Forschung), in: Ars 46 (2013), 1, S. 16–42; Baert, Barbara: Nymph. Motif, Phantom, Affect. A contribution to the Study of Aby Warburg (1866–1929). Leuven 2014 (Studies in Iconology 1); Baert, Barbara: Aby Warburgs (1866–1929) »Nymphe«. Ein Forschungsbericht zu Motiv, Phantom und Paradigma, in: Imago. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik 4 (2016) (im Druck). Die Anfertigung des Textes wurde dank eines Senior Fellowship von April bis September 2015 am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der BauhausUniversität in Weimar ermöglicht. Ich danke dem Kolleg in der Villa Dürckheim für die idealen Arbeitsbedingungen. Mein besonderer Dank gilt Dr. Han Lamers (Humboldt-Universität zu Berlin), Tom Ullrich (IKKM Weimar) und Diana Stoilova (KU Leuven). Binswanger, Ludwig: Krankengeschichte Aby Warburg 1921–1924, Ludwig-Binswanger-Archiv, Universitätsarchive Tübingen, I. Die Archivalien aus Tübingen (UAT) 441/3782, II. 5, S. 37–40, veröffentlicht in: Binswanger, Ludwig: Aby Warburg. Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte. Hrsg. von Chantal Marazia u. Davide Stimilli. Zürich [u.a.] 2007, S. 98.

Aby Warburgs Nymphen und Schmetterlinge als Affekte

In diesem Beitrag werde ich Aby Warburgs Affekte und seinen individuellen Denkraum im Kontext von Nymphen als Schmetterlingen oder, anders gesprochen, Kunstgeschichte als Schmetterlingskunde behandeln.

I. Elle m’émouvait. Elle me ramenait très loin en arrière. Avant. Avant que tout commence. Avant la vie. Paul in Philippe Claudels Film Avant L’Hiver

1918 erleidet Aby Warburg einen psychotischen Anfall, bei dem er seine Familie mit einer Pistole bedroht. 1921 gelangt er in das psychiatrische Krankenhaus Bellevue in Kreuzlinge­n am Bodensee. Warburg verbleibt in diesem Sanatorium bis 1924. Behandelt wird er von dem berühmten Psychoanalytiker Dr. Ludwig Binswanger.2 Dieser beschäftigt sich häufig mit der Polarität in Warburgs emotionalen Reaktionen auf seine Umwelt. Er würde sehr zärtlich mit Pflanzen, Tieren und kleinen Dingen umgehen (etwa Schokoladenverpackungen aus Papier, die er niemals fortwerfen würde). Jedoch würde er Freunde und Mitarbeiter anschreien und eine intellektuelle Rohheit während seiner psychotischen Phasen an den Tag legen. Fritz Saxl (1890–1948), sein Mitarbeiter und Freund, der gemeinsam mit ­Gertrude Bing am Aufbau der Grundlagen für den Bilderatlas mithalf, nannte ihn: »ein harter Saturn-Vater« mit »kolossale[n] Kräfte[n]«.3 Am 8. November 1921 antwortet Ludwig Binswanger in einem Brief auf Sigmund Freuds (1856–1939) Anfrage nach Informationen über den Zustand seines Freundes Aby

2 Königseder, Karl: Aby Warburg im Bellevue, in: Aby M. Warburg. Ekstatische Nymphe ... trauernder Flussgott – Portrait eines Gelehrten. Hrsg. von Robert Galitz u. Brita Reimers. Hamburg 1995, S. 74–98; Binswanger, Ludwig: Le problème de l’espace en psychopathologie [1933]. Übers. von Caroline GrosAzorin. Toulouse 1988; Chernow, Ron: The Warburgs. The Twentieth-Century Odyssey of a Remarkable Jewish Family. New York 1993; Fédida, Pierre: Binswanger et l’impossibilité de conclure. Preface à L. Binswanger. Analyse existentielle, psychiatrie clinique et psychanalyse. Discours, parcours, et Freud. Paris 1970, S. 7–37; Gockel, Bettina: Krieg – Krankheit – Kulturwissenschaft. Warburgs Schizophrenie als Forschungsinstrument und das Ideal moderner Primitivität, in: Kasten 117. Aby Warburg und der Aberglaub­e im Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Gottfried Korff, Tübingen 2008, S.  117–134; Severi, Carlo: Warburg ­anthropologue, ou le déchiffrement d’une utopie. De la biologie des images à l’anthropologie de la mémoire, in: L’Homme 165 (2003), S. 77–138; Severi, Carlo: Il percorso e la voce. Un’ antropologia della memoria. Turin 2004; Didi-Huberman, Georges: Science avec patience, in: Images Re-vues, Hors-série 4 (2013). http://imagesrevues.revues.org/3024 (10.05.2016), über den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf Warburgs Depression. Warburg wurde mit Opium behandelt. 3 Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 2), S. 11, nach Binswanger, Ludwig: Histoire clinique [d’Aby Warburg] 1921–1924. Übers. von Maël Renouard u. Martin Rueff: La Guérison infinie. Histoire clinique d’Aby ­War­burg. Hrsg. von Davide Stimilli. Paris 2007, S. 53–180, S. 77.

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Warburg.4 Binswanger schreibt, dass Warburg 1918 tatsächlich an heftigen psychotischen Anfällen litt und seit seiner Kindheit Angstzustände und Zwangsneurosen ertragen habe. Zur Zeit würde er laut dem Psychiater auch an Angstzuständen und Fieberwahn leiden. Trotzdem bestehe sein Interesse an Kultur weiterhin und er stelle kritische Fragen, obwohl er Probleme bei der Konzentration auf bestimmte Themen für längere Zeit hätte. Binswanger zeigt sich pessimistisch und denkt, obwohl der Patient in der Lage sei, die Psychose zu bewältigen, könne er sein vorheriges intellektuelles Leistungsvermögen nicht wiedererlangen und verweist nebenbei mit hoher Wertschätzung auf seine Luther-Publikation.5 Die offizielle Diagnose Binswangers in den Archiven lautete: »Schizophrenie. Manisch-depressiver Mischzustand«.6 Laut einiger Forscher hilft sich Aby Warburg selbst bei der Genesun­g von den Manien in seinem Denkraum durch die Anwendung der science sans nom. Davide Stimili vertieft sich in einem jüngst erschienen Artikel in der Revue Française de Psychanalyse in die sogenannte mysteriöse Selbstheilung Aby Warburgs. Schlagwort für den Autor ist der deutsche Begriff Besonnenheit.7 Tatsächlich erscheint das Wort »Beson­ nen­heit« (vgl. Sophrosyne (Platon), Klarheit) auf Tafel 74 des Atlas in Zusammenhang mit der Heilung ohne Berührung.8 Die erste bedeutende Einführung des Begriffs in therapeutischem Zusammenhang erfolgte durch den Psychiater Dr. Johann Christian Reil (1759– 1813).9 Stimili schreibt zu dieser Einführung: Pour sa part, la Besonnenheit est »le compas [der Compass] qui dirige l’action de l’âme [Thatkraft der Seele] vers la fin de sa félicité [den Zweck ihrer Glückseligkeit]«, sans »adhérer à un seul objet« ou errer »sans Étoile polaire pour la guider«; de façon encore plus éloquente, Reil appelle cela »l’oreille de l’esprit [das Ohr des Geistes], une oreille que nous pouvons intentionnellement diriger«, avant d’être saisie par un objet et transformée en attention [Aufmerksamkeit].10

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Binswanger, Ludwig: Lettre à Sigmund Freud du 8 novembre. Übers. von Ruth Menahem u. Marianne Strauss. Paris 1995, S. 231–232. 5 »In one of his longest and most complex published essays, ›Pagan-Antique Prophecy in Words and Images in the Age of Luther‹ (originally given as a lecture in 1918, but published with supplementary material in 1920, largely due to the efforts of Saxl and Boll), Warburg not only paints a vivid picture of sixteenth-century Germany as ›the age of Faust, in which the modern scientist—caught between magic practice and cosmic mathematics—was trying to insert the conceptual space of rationality between himself and the object,‹ but he also prepares the way, now boldly, now with disarming modesty, for the work of future Kulturwissenschaftlern: ›May the history of art and the study of religion—between which lies nothing at present but wasteland overgrown with verbiage—meet together one day in learned and lucid minds (minds destined, let us hope, to achieve more than the present writer); and may they share a workbench in the laboratory of the iconological science of civilization‹«, siehe Christopher D. Johnson: Aby Warburg. A Biographical Fragment. http://warburg.library.cornell.edu/about/aby-warburg (27.05.2016). 6 Binswanger 2007 (wie Anm. 1), S. 252: Anamnese en Pathologie: Tübingen UAT 441/3782, II.3., S. 1. 7 Stimilli, Davide: L’énigme de Warburg, in: Revue française de psychanalyse 79 (2015), 4, S. 1100–1114. 8 Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne. Hrsg. von Martin Warnke. Berlin [u.a.] 2000 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften II.1). 9 Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803, S. 98, 101. 10 Stimilli 2015 (wie Anm. 7), S. 1105.

Aby Warburgs Nymphen und Schmetterlinge als Affekte

Auch Hannah Arendt reflektierte über therapeutische Besonnenheit.11 Sie betrachtet die archetypische Aristotelische Unterscheidung zwischen vita activa und vita contemplativa als verantwortlich für die Schlussfolgerung »théorie ou ›contemplatio‹ [qui] désigne l’expérience de l’éternel, distinctes des autres […]12 ne peut durer, qu’elle ne peut être qu’une réalisation momentanée de l’éternel«.13 Auch Aby Warburg interessiert sich für den Ort zwischen vita activa und passiva: für den Zwischenraum. In seiner »illustrierte[n] psychologische[n] Geschichte des Zwischenraums zwischen Antrieb und Handlung«14 beschreibt er das Bedürfnis, die dualistische Hermeneutik (»Contrasto-Spiel«) zwischen vita activa und vita contemplativa übertreffen zu wollen.15 Stimili erkennt diesen Drang nach dem Dazwischen in seinem Vortrag über Rem­brandt von 1926 wieder, den er mit der Empfehlung beendet, man möge der »Athempause« zuhören (dem Intervall zwischen Antrieb und Aktion, zwischen Ein- und Aus­ atmen).

II. How, after all, can such a turmoil of hope and fear and lust be inaudible? How do our skulls hold it in? Andrew says, »I don’t want to interrupt« Michael Cunningham, The Snow Queen, S. 134

Es existiert eine Notiz von Dr. Ludwig Binswanger, die uns hier in besonderer Weise interessieren soll. Am 2. Juli 1921 notiert er: »Regt sich auf, wenn abends angelockt durch das Licht Nachtfalter in sein Zimmer fliegen. Hat Angst, die würden vom Wärter getötet, kann deswegen stundenlang nicht schlafen, klagt den Faltern sein Leid.«16 Tatsächlich gibt es auch ein stenographisches Dokument, in dem eine Krankenschwester Aby Warburgs Monolog mit den Faltern festhält. Er erzählt den nächtlichen Besuchern und zugleich auch unabsichtlich der Nachtschwester: »Am 18. November 1918 fürchtete ich so um meine Familie, sodass ich einen Revolver zog und versuchte, sie zu töten, denn der Bolschewismus nahte.«17 11 12 13 14 15

Arendt, Hannah: The Human Condition. Chicago 1958, S. 15. Arendt 1958 (wie Anm. 11), S. 20. Arendt 1958 (wie Anm. 11), S. 75. Warburg 2000 (wie Anm. 8), S. 3. Warburg, Aby: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Hrsg. von Karen Michels u. Charlotte Schoell-Glass. Berlin [u.a.] 2001 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften VII.), S. 429. 16 Binswanger 2007 (wie Anm. 1), S. 47. Auf diese Notiz folgt: »Heute Haarschneiden, das ruhiger vor sich geht als sonst. Schwester muss ihm versichern, dass der Friseur kein Scharfrichter, dass es nicht um seine­n Kopf gehe. Sah beim Kegeln zu, zerquält sich nachts darüber, dass die Kegelkugeln Köpfe seiner Angehörigen gewesen sein.« 17 Die folgenden Zitate nach Michaud, Philippe-Alain: Aby Warburg et l’image en mouvement. Paris 1998, S. 189; Königseder 1995 (wie Anm. 2), S. 84.

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Aby Warburg besaß eine besondere Begeisterung für Schmetterlinge und Falter. Es gibt ein bekanntes Fragment eines Briefentwurfs an seinen Freund André Jolles, der von Ernst Gombrich veröffentlicht wurde. In diesem Brief von 1900 berichtet er über seine eigene Sammlung an Schmetterlingsschaukästen und wie ihm ein Schmetterling beim Versuch des Feststeckens entschwand. Dies ließ ihn über Folgendes nachdenken: [...] mein schönster aufgespannter Falter [Seelentierchen] zerschlägt die Glasdecke und gaukelt spöttisch hinauf in die blaue Luft [...] nun soll ich ihn wieder einfangen; auf diese Gangart bin ich nicht eingerichtet. Oder eigentlich, ich möchte wohl, aber meine wissenschaftliche Erziehung erlaubt es nicht. Auch bin ich in Platonien geboren und möchte mit Dir auf einer hohen Bergspitze dem kreisenden Flug der Ideen zuschauen, und wenn unsere laufende Frau kommt, freudig mit ihr wirbelnd fortschweben. Aber zu solchem Aufschwung [...] mir ist es nur gegeben, nach rückwärts zu schauen und in den Raupen die Entwicklung des Schmetterlings zu geniessen [...]18

Obwohl dieses Fragment eher persönlicher Natur ist, verweist er wiederholt auf Schmetterlinge in wissenschaftlichem Zusammenhang. 1905 veröffentlicht Warburg eine Schrift über die Florentiner Holzschnitte von Baccio Baldini (1436–um 1487).19 Er greift dieses Thema während seines Vortrags in Rom 1912 über die Fresken des Palazzo Schifanoia in Ferrara wieder auf.20 »Aus der engumsponnene­n burgundischen Raupe entpuppt sich der florentinische Schmetterling, die ›Nynfa‹ mit dem Flügelkopfputz und der flatternden Gewandung der griechischen Mänade oder römischen Victoria.«21 (Abb. 1) In diesen Fragmenten wird ersichtlich, dass Aby Warburg den Schmetterling als kulturellen Träger der Pathosformeln der Renaissance begriff.

18 Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. An intellectual biography. London 1970, S. 110; Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 2), S. 10. 19 Warburg, Aby: Delle Imprese amorose nelle più antiche incisioni fiorentine [1905], in: ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hrsg. von Horst Bredekamp u. Michael Diers. Berlin [u.a.] 1998 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften I.1), S. 77–88; Warburg, Aby: Austausch künstlerischer Kultur zwischen Norden und Süden im 15. Jahrhundert [1905], in: ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hrsg. von Horst Bredekamp u. Michael Diers. Berlin [u.a.] 1998 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften I.1), S. 177–184, S. 177f. 20 Siehe vorangehende Anmerkungen; Warburg, Aby: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara [1912], in: ders.: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Hrsg. von Horst Bredekamp u. Michae­l Diers. Berlin [u.a.] 1998 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften I.2), S. 459–482; Warburg, Aby: Essais florentins. Übers. von Sibylle Muller. Paris 1990, S. 214. 21 Warburg 1998 (wie Anm. 20), S. 477. Vgl. Michaud 1998 (wie Anm. 17), S. 189. Der Schmetterling manifestiert sich auch in der Heuristik des Bilderatlas. Mnemosyne Atlas 39.11 platziert ein Detail des Amor aus Botticellis Primavera neben Baccio Baldinis Holzschnitt der Punizione di Amore (Aufbewahrungsort unbekannt); Bordignon, Giulia: L’espressione antitetica in Aby Warburg, in: Engramma. http://www. engramma.it/eOS2/index.php?id_articolo=1545 (31.05.2016); Rappl, Werner: La clef des songes. Il materiale per mnemosyne di Aby Warburg e il linguaggio della memoria, in: Quaderni Warburg Italia 1 (2003), S. 39–94, Abb. 3–4. Siehe auch Tafel 48.12 mit Baccio Baldini: http://warburg.library.cornell.edu/panelimage/panel-48-image-12.

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1  Baccio Baldini, Punizione di Amore, um 1465–1480, Holzschnitt, Maße unbekannt, Aufbewahrungsort unbekannt.

Er sah den Schmetterling als ein Bild der stilistischen Emergenz und folglich der Emanzipation im italienischen Humanismus. Deshalb verband er den Schmetterling mit dem Ninfa fiorentina-Ordner, basierend auf Ghirlandaios Fresken. Aby Warburg erfuhr seine Begegnung mit der Nymphe in Florenz als persönliche Erschütterung. Sein niederländischer Freund André Jolles (1874–1946) beschreibt Warburgs Begegnung mit der Nymphe in Santa Maria Novella wie folgt: »Hinter diesen, gerade bei der geöffneten Tür läuft, nein fliegt, nein schwebt der Gegenstand meiner Träume [...]. Wer ist sie, woher kommt sie, hab ich sie schon früher [...] getroffen, ist sie von altgriechischem Adel und hatte ihre Urgroßmutter ein Verhältnis mit Leuten aus Kleinasien, Ägypten oder Mesopotamien?«22 Obwohl Aby Warburgs erhaltenes Werk über Nymphen nur aus diesem Brief,23 der von Gombrich als Paradigma par excellence seiner Pathosformeln24 fortgeführt wurde, und den 22 Gombrich 1970 (wie Anm. 18), S. 107f. Vollversion in Thys, Walter (Hrsg.): André Jolles (1874–1946). »Gebildeter Vagant«. Amsterdam/Leipzig 2000, Nr. 0251, S. 218f. 23 Zur Nymphe als paradoxes »nicht-existierendes« Forschungsthema und die fortführende Verantwortung Ernst Gombrichs siehe Weigel, Sigrid: Aby Warburgs »Göttin im Exil«, in: Vorträge aus dem WarburgHaus 4 (2000), S. 68–103, S. 72: »Eine wissenschaftsgeschichtliche und - theoretische Fallstudie […] die an der Schwelle von Religion und Kunst operiert, die sich also mit religions- und geschichtstheoretischen Implikationen in der Geschichte der Künste und Medien beschäftigt – oder aber, um es mit Heinrich Hein­e zu sagen, mit den Göttern in Exil.« Die Autorin führt überzeugend den Kontrast zwischen dem kurzen und experimentellen Charakter von Warburgs Ordner und der gewaltigen Auswirkung in den Geisteswissenschaften an. 24 Zu diesen Fragmenten siehe Gombrich 1970 (wie Anm. 18), S. 65f., 106–127. Warburg beschränkt die Nymphe auf ihre paganen Ursprünge: die Mänaden des altertümlichen Mysterienkultes, den Schlangenträger des Dionysos, beweglich und erotisch, ein Konflikt in der Harmonie. Gombrich 1970 (wie Anm. 18),

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Fragmenten in dem berühmten Ninfa Fiorentina-Ordner (um 1900) besteht, zeigt April Oettinger, wie intensiv Aby Warburg damit beschäftigt war, die verschiedenen Formen der Falten weiblicher antiker Pathosformeln in der Hypnerotomachia Poliphili zu entziffern.25 In seinen Beschreibungen der Kleidung unterscheidet Warburg drei Typen des Pathos: »Doppelgürtung«, »Gürtung« und »Rundbausch«. Teilweise notiert er »fl. G.« für »flatternde Gewänder« oder »fl. H.« für »fliegendes Haar«. »Où est la nymphe? La nymphe est un être en qui l’orginaire et la répétition, la forme et la matière se font indiscernables.«26 Der Aufruhr durch die Nymphe als Engramm, das zugleich innen und außen vorherrscht, deutet auch einen Bruch in der Zeit an, eine fremde Störung, eine Unterbrechung im Strom der Geschichte, den die Nymphe in stürmischer Energie als Kanalisierung von Verlangen und Verzweiflung zum Erliegen bringt. Dies führt mich zurück zum Schmetterling als Affekt. Warburg idealisiert seine Nymphe, seine »Göttin im Exil«, sein persönliches »Seelentierchen...«, seinen Schmetterling. Die Ninfa kann wertgeschätzt werden, aber sie wird stets wieder davonfliegen. Die Assoziation von Schmetterling und Ninfa partizipiert wesentlich an der energetischen Bipolarität von Warburgs Denkraum und schlägt ihn tragischer Weis­e nachts nieder, wenn er allein in seinem Zimmer in Kreuzlingen verweilt. Ich zitiere nach Carlo Maggini: »Warburg understood that the Nympha was not just a part of him – but that he was part of her.«27 Eduardo Mahieu schreibt passend dazu: »Dans l’excès de pathos qu’il traverse à la clinique de Binswanger, il cherche à détruire Ninfa, une pièce maîtresse de sa science sans nom«.28 Und abschließend zitiere ich Francesca Cernia Slovin:

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S. 71: »The deeper power in contradictions and in the subtle challenge that images could pose to the viewer’s own detachment. You live yet you do me no harm.« Zu Inhalt und Entstehung des Ordners siehe Oettinger, April: Aby Warburg’s Nymph and the Hypneroto­ machia Poliphili: An Episode in the Afterlife of a Romance, in: Explorations in Renaissance Culture 32 (2006), 2, S. 225–247, S. 229: »Its Venetian author was another who considered that a sense of surface mobility (Beweglichkeit) in the figures was essential to any successful revival of the most telling achievements of antique art.« Agamben, Giorgio: Image et mémoire. Paris 1998, S. 46. Maggini, Carlo: Bad little girls, in: Acta Biomed 79 (2008), S. 42–51, S. 47; Zur Nympholepsie in der Antik­e siehe Swinburne, Algernon Charles: The Heptalogia. s.l. 2006; Pache, Corinne Ondine: A Moment’s Ornament. Odysseus Nympholeptos. s.l. 2010; Über Nympholepsie als kreatives Prinzip im Verhältnis zu Inspiration, Verblüffung und den Musen siehe: Lokash, Jennifer: Byron and the Pathology of Creativity, in: Journal of Literature and Science 1 (2007), S. 24–39, S. 35, bezüglich der Trennung zwischen poetischer Kontemplation über Geschlechtsverkehr und den realen körperlichen Akt (bei Byron): »With the jarring image of the spirit ›panting‹ – panting is an unambiguously physical act – the mind-body split collapses utterly, and the stanza settles into the world of corporeal things, like cushiony bosoms and audible heartbeats. Even if such poetic posturing and nympholeptic fantasy can temporarily elide the need for or take the place of physical satisfaction, the reality of the body simply cannot be ignored and will ultimately assert itself.« Nymphomanie war im 19. Jahrhundert ein Begriff zur Benennung einer Pathologie. Er wird 1841 in einem Fall erwähnt, bei dem für Miss T., die Tochter eines Bauern aus Massachusetts, dieser Zustand diagnostiziert wird. Miss T. war ruhelos, wies hysterische Krämpfe auf, hatte unkontrollierte triebhafte Gefühle und ihre Genitalien waren vergrößert, siehe dazu: Groneman, Carol: Nymphomania. A History. 2001. http://www.nytimes.com/books/first/g/groneman-nymphomania.html (19.05.2016). Mahieu, Eduardo: Warburg et Binswanger: le savoir dans la fuite, in: Images Re-vues 4 (2013), 1. http:// imagesrevues.revies.org/3024 (19.05.2016).

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Why did the image have such power over him? There was certainly a strong erotic appeal in it, something secret and profound. Perhaps it tempted him to seize what could not be seized, to stop what could not be stopped, to possess the impossible [...] amorous intoxication would have to give way to intellectual pleasure. The butterfly, after all, had first been a caterpillar: she had been created by history, and if as a sedentary scholar he was incapable of leaping forth to snatch her from the air, his philological abilities might enable him to recapture her past. [...] From that moment on, he would pursue her in all her various aspects: as Nymph, handmaid, pagan goddess in exile. [...] He would study and analyse her until she became a model of figuration, a symbol of classicism and beauty.29

III. Once upon a time, Zhuang Zhou dreamed he was a butterfly, a butterfly flitting about happily enjoying himself. He did not know that he was Zhou. Suddenly he awoke, and was palpably Zhou. He did not know whether he was Zhou, who had dreamed of being a butterfly, or a butterfly dreaming that he was Zhou. Now, there must be a difference between Zhou and the butterfly. This is called the transformation of things. Zhuangzi, China, 3. Jh. v. Chr., Kapitel 2

Von alters her üben Schmetterlinge eine Faszination auf die Menschen aus.30 Die Schönheit des Schmetterlings ist unheimlich,31 denn als Insekten stören sie die Menschen zugleic­h. In den meisten indoeuropäischen Sprachen ist das Wort für Schmetterling eine Onomatopöi­e (Lautmalerei), die sich auf das raschelnde Schlagen seiner Flügel bezieht.32 Schmetterlinge erscheinen unerwartet und verschwinden genauso plötzlich. Sie führen in die Irre.33 Sie haben einen grundsätzlich polarisierenden Charakter, denn ihre Spezies ist unterteilt in tagesaktive und nachtaktive Schmetterlinge. Zuweilen sind sie flüchtig und possierlich, aber zugleich auch beängstigend medusenhaft mit ihrem Flattern und den auffälligen ›Augen‹ auf ihren Flügeln.34 In diesem Kontext schreibt der Soziologe, Philosoph und Literaturkritiker Roger Caillois (1913–1978), über den Schmetterling: »la démesure mimétique propre à certains insectes, lorsque la symétrie de l’imitateur et de l’imité excède son propre processus jusqu’à l’absorption de la réalité (le milieu imité) dans son calque (l’insecte imitant) […]. Mimétisme est entre l’hystérie et le masochisme«.35 Diese Mimikry ist ein gefähr­ ­licher Luxus. Sie kann so gut vollzogen werden, dass sich das Wesen mit einem anderen Stoff vermischt, oder sie kann in eine Form der Selbstverstümmelung übergehen: zum Beispiel wenn sich der Schmetterling mit einem Blatt verbindet und dann mit diesem verschnitten wird. 29 30 31 32 33 34 35

Slovin, Francesca Cernia: Obsessed with Art. Aby Warburg. His Life and His Legacy. s.l. 2006, S. 23. »Schmetterling«, in: Wörterbuch der Symbolik, S. 651. Didi-Huberman, Georges: Phalènes. Essais sur l’apparition, II. Paris 2013, S. 14. »Schmetterling«, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. VII, Sp. 1237–1254. Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 31), S. 16. Caillois, Roger: Méduse et Cie, in: ders.: Œuvres. Paris 2008, S. 479–558. Caillois, Roger: Œuvres. Paris 2008, S. 106.

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Außerdem durchlaufen Schmetterlinge einen besonderen biologisch-genetischen Prozess: von der Larve über die Puppe (auch Chrysalis oder Nymphe genannt) zum Schmetterling selbst (auch Imago genannt). Dieser Zyklus unterscheidet sich vollkommen von unserer eigenen Vorstellung und Erfahrung von Leben und Tod.36 Man könnte auch sagen, dass der Zyklus des Schmetterlings das genaue Gegenteil zum menschlichen Lebenszyklus darstellt – Menschen sterben, werden zu einer in Stoff gewickelten Mumie und werden dann eins mit den Würmern in der Erde – während der Schmetterling als Wurm in der Erde seinen Anfang hat, dann zur Mumie (Verpuppung) wird und schließlich zu einer üppigen Imago erblüht. Schmetterlinge nehmen ihren Anfang fleischartig, winzig und formlos im Element der Erde, nur um dann als einzigartige Schönheit in das Element der Luft auszubrechen. Die Symbolik, die allgemein mit dem Schmetterling verbunden bleibt, ist diejenige der Seele.37 Im Finnischen glaubt man, die Seele einer verstorbenen Person werde zu einem Schmetterling. Im Rumänischen geht man davon aus, dass jene, die einen Schmetterling töten, ihr eigenes Herz töten. Otto Immisch diskutiert die etymologische Vielschichtigkeit des Schmetterlings in der Kultur des antiken Griechenlands, dessen Gedankenwelt von dieser erstaunlichen Transformation geprägt wird.38 Die ältesten Vorstellungen der Homerischen Zeit beschreiben die Psyche als Rauch, Träume, Bienen, Fledermäuse, Fliegen und – selbstverständlich – als Schmetterlinge. Für Platon (um 427–347 v. Chr.) war die Schmetterlingspuppe Symbol für den menschlichen Körper – σκῆνος –, verbunden mit dem Ei, dem Haus und sogar den mit Bienenlarven gefüllten Honigwaben.39 Die Raupe, der Wurm und die Made mit ihren siechenden, leicht eingerollten Formen waren für die Griechen Symbole des Embryos und in Erweiterung auch für die Seele im gekrümmten Greisenleib. 40 Der sich aus der Puppe befreiende Schmetterling ist die befreite Seele: der höchstmögliche platonische Zustand des Seins. Gemäß einer anderen antiken griechischen Tradition ist die verstorbene Seele eine Motte, ein Nachtfalter. Psyche wirkt in den Metaphern, Konzepten und Personifikationen, die mit der Volatilität zu tun haben, als vitales Prinzip des Lebens. Die geflügelte Sirene und der Vogel sind auch Teil dieser uralten Ikonographie. Aristoteles (385–322 v. Chr.) und später Hesychios von Alexandrien (spätes 6. Jh.) in seinem Lexikon des Altgriechischen beginnen damit, die Motte und auch den Schmetterling einfach Psyche zu nennen. Später wurden Schmetterlingsflügel Attribute für Psyche, die Geliebte Amors. Eine weitere alte Verzweigung des Schmetterlings ist Kairos, auch bekannt als Gott des günstigen Zeitpunkts. In den Gedichten und Liedern von Pindar erscheint Kairos in

36 Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 31), S. 15. 37 Leone, Massimo: Signs of the Soul. Toward a Semiotics of Religious Subjectivity, in: Signs and Society 1 (2013), 1, S. 115–159, besonders S. 125–135. 38 Immisch, Otto: Sprachliches zum Seelenschmetterling, in: Glotta 6 (1915), 3, S. 193–206, S. 198f. 39 Immisch 1915 (wie Anm. 38), S. 200. 40 Immisch 1915 (wie Anm. 38), S. 202f.

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Gestalt eines Schmetterlings.41 Für die Griechen verweist Kairos auf ein komplexes System, das Zeit und Raum mit qualitativen und quantitativen Elementen an einem hermeneutischen Schnittpunkt verbindet. Dieser Knotenpunkt ist derart perfekt, dass er die einzig mögliche Gelegenheit bietet.42 Da Kairos auf Einschnitte und kurzlebige Möglichkeiten verweist, liefert dies ein besseres Verständnis des lateinischen Wortes opportunus, opportunitas, in dem der Ursprung für porta, portus, angiportus (Eingang, Durchgang) erkannt werden kann.43 Kairos betritt den Raum durch eine Öffnung, so wie die opportunitas und der Schmetterling oder die Motte, die das plötzlich eröffnende Zeichen dafür nutzen: die Launenhaftigkeit eines Luftzugs, der durch ein offenes Fenster strömt.44 Paul Vandenbroeck verwendet den germanischen Volksglauben an die Verbindung des Schmetterlings mit Geisteskrankheit für einen Vergleich des Genies mit diesem Tier. Insekten und insbesondere Schmetterlinge sind Symbole der Launen, des Flüchtigen, des Verrückten.45 Im Mittelalter kam der Glaube auf, fliegende Insekten seien Offenbarungen des Teufels oder böser Geister. Diese gril lebt in Wäldern mit Insekten, Schmetterlingen und Elfen. Das niederländische Wort gril ist eine Lautmalerei, so wie auch das Wort Schmetterling in vielen Sprachen. Darin hört man das Wort grillich, einen scharfen und schrillen Klang; der Plural grillen klingt wie Fauchen (im Sinne von übergeschnapptem, heraus­ sprühendem Unsinn). Das Wort hört sich an wie eine Ableitung des lateinischen grylli, das viele verschiedene Unterbedeutungen herausbildete: ein fantastisches Wesen (einen Narren), einen unerwarteten Gedanken oder eine Epiphanie.46 Die Assoziation zwischen Laune, Insekt und Genie ist am stärksten bei Insekten mit Fühlern: die Grille, die Gottesanbeterin47 41 Ezio Pellizer verbindet dies mit den Lebensweisheiten der Sophisten, vgl. Pellizer, Ezio: ... ›E il bello, e il turpe distingue‹. Simonide, fr. 36 P.M.G. 541, in: Quaderni Urbinati di Cultura Classica 28 (1978), S. 87–91; Snell, Bruno: Leben und Meinungen der Sieben Weisen, München 1952, S. 102; Untersteiner, Mario: I sofisti. Mailand 1967, Bd. I, S. 190–194; Untersteiner, Mario: La formazione poetica di Pindaro, Messina / Florenz 1951. S. 87–102; Leurini, Luigi: A proposito di Kairos, in: Parola di Passato 28 (1973), S. 207–209. 42 Levi, Dora: Il kairos attraverso la letteratura Greca, in: Rendiconti della real Accademia Nazionale dei Lincei. Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche 5. Ser. 32 (1923), S. 260–280. 43 Onians, Richard Broxton: The Origins of European thought, about the body, the mind, the soul, the world, time, and fate. New interpretations of Greek, Roman and kindred evidence also of some basic Jewish and Christian beliefs. Cambridge 21954, S. 348. 44 Baert, Barbara: Kairos or Occasion as Paradigm in the Visual Medium. Nachleben, Iconography, Hermeneutics. Leuven 2016 (Studies in Iconology 5). 45 Vandenbroeck, Paul: Zur Herkunft und Verwurzelung der »Grillen«, in: De zeventiende eeuw 3 (1987), S. 52–84. 46 Vandenbroeck 1987 (wie Anm. 45), S. 69–70. 47 Der französische Insektenforscher Jean-Henri Fabre (1823–1915) beschreibt die Gottesanbeterin in Fabre, Jean-Henri: Souvenirs entomologiques. 10 Bde. Paris 1914–1925, Bd. V, Kap. 18–21, als in Frömmigkeit verborgenen Teufel; Roger Caillois (1913–1978) schildert in seinem Essay die sexuelle Grausamkeit des Insekts. Während des Koitus enthauptet das Weibchen das Männchen und isst dessen Kopf, siehe Caillots, Roger: La mante religieuse, in: Minotaure 5 (1934), S. 23–26. In der Provence wird die Gottesanbeterin immer noch mit Zähnen assoziiert. Das Verhältnis zwischen Sexualität, Tod und oralem Verzehr (vagina dentata) in Verbindung mit einer gewissermaßen menschenähnlichen Gestalt macht die Gottesanbeterin zu einem der faszinierendsten Insekten. Siehe auch Pressly, William L.: The Praying Mantis in Surrealist Art, in: The Art Bulletin 55 (1973), 4, S. 600–615.

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und schließlich der Schmetterling.48 Die Fühler oder Antennen reflektieren die wilden Impulse, das Wunder der Schöpfung und das Genie. Deshalb ist der Schmetterling auch das Symbol der unerwarteten künstlerischen Idee, des Genies und der göttlichen Inspiration.49 Wer kann sich von dem Gedanken freimachen, dass auch Aby Warburg dieser Bedeutung der Einbildung entsprach? Er in seinem Wesen als Grille, als Verrückter, als Genie, ja, er selbst als Schmetterling.

IV. C’est mort, et ce n’est pas mort; c’est, si l’on veut, mort partielle. Jean-Henri Fabre (1823–1915)

Mit seinem Interesse für das Kategorisieren und seinem Wissen um die neusten wis­ senschaftlichen Entwicklungen in der Biologie fühlte sich Aby Warburg fraglos von der Taxonomie des Schmetterlings angezogen.50 Schließlich wurde die Kategorisierung der Schmetterlinge in einer strengen formalen Methode durchgeführt. Deshalb wurde der Schmetterling mit seinen 17.000 Unterarten eine Art Symbol für die Methode der Klassifizierung als unvergleichliches Modell. Für das 19. Jahrhundert war es typisch, die Buch­ deckel von Enzyklopädien und Bilderatlanten mit Schmetterlingen zu dekorieren.51 Und selbstverständlich ist auch Warburgs Bilderatlas dieser pädagogischen Tradition zuzu­ ordnen.52 Wie allgemein bekannt ist, liebte er Systematisierung, Lexikographie und Sammeln. So schenkte er den Söhnen von Ludwig Binswanger die erste Ausgabe von Alexander Bungerz’ (1874–1931) Grosses Lexikon der Philatelie (München 1923).53 Ferner setzte im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Psychologisierung des Schmetterlings ein. Der Rorschach-Test (eigentlich »Rorschach-Formdeuteversuch«) gilt als psychologischer Versuch, der von Hermann Rorschach (1884–1922) im Jahre 1921 eingeführt wurde. Der Test basiert auf der menschlichen Neigung zur Projizierung von Deutungen und Gefühlen auf – in diesem Fall – Tintenflecke, die häufig die Gestalt von Insekten und Schmetterlingen suggerieren. In der zu der Zeit aktuellen pathologischen Literatur wurden daran anknüpfende Studien über die Bedeutung des symmetrischen Schmetterlings veröf48 Caillois 2008 (wie Anm. 34), S. 73. 49 Bjerregaard, Carl Hendrik Andreas: A Philosopher and a Butterfly, in: The Monthly Illustrator 3 (1895), 11, S. 380–384, S. 384: »No better type of the artists’ mind, than the butterfly whose flight is but from one near object to another.« 50 Siehe oben zu Warburgs Engramm und die Arbeiten von Richard Semon (1859–1918). 51 Heck, Johann Georg: Systematischer Bilder-Atlas zum Konversation-Lexikon. Ikonographische Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste [1844]. Paris 2001, Abb. 98–99. 52 Das ist die Hauptthese in der Studie von Sprung, Joacim: Aby Warburg. Bildatlas, åskådning och reproduktion [Aby Warburg. Picture atlas, visual education and reproduction], in: Hæfter for Gæstfrihed 8/9 (2014), S. 1–14. 53 18. Dezember 1926, in: UAT 443/31, S. 44r–v; Binswanger 2007 (wie Anm. 3), S. 169.

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fentlicht.54 Ludwig Binswanger beschreibt Symmetrie folgendermaßen: »La symétrie engage un mouvement, celui de l’ être-emporté-vers«.55 Symmetrie ist ein Stoß so wie das Öffnen und Schließen von Flügeln: »psyché animant notre corps«. Aber Symmetrie ist mehr als nur etwas Ausbalanciertes und Gefälliges für die Augen.56 Symmetrie führt in die Irre (so wie der Schmetterling), denn sogar die Symmetrie benötigt das tertium quid: das was das Dazwischen vermittelt und die Interaktion zwischen zwei Teilen unterstützt. Deshalb ist Symmetrie mehr als zwei identische Teile, sondern die Metaphorik für die Verwandlung innerhalb zweier Pole, etwa zwischen Leben und Tod, so wie der Schmetterling einen dreifachen Verwandlungsprozess als »Nymphe« durchläuft: die Chrysalis als Vermittlung und tertium quid. Ein anderer Zeitgenosse Warburgs, der berühmte französische Entomologe Jean-Henr­i Fabre (1823–1915) schrieb Folgendes über den Zyklus des Schmetterlings von der Larve über Nymphe zur Imago: »Au sortir de l’oeuf, ils ont une forme provisoire qu’ils doivent remplacer plus tard par une autre. Ils naissent en quelque sorte deux fois: d’abord imparfaits, lourds, voraces, laids; puis parfaits, agiles, sobres, et souvent d’une richesse, d’une élégance admirables.«57 Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) schrieb eine Studie über den Wandlungsprozess des Schmetterlings.58 Zur gleichen Zeit arbeitete er an einem Essay über den Laokoon, in dem er das Paradigma des entscheidenden Übergangsmoments in den bildenden Künsten herausarbeitet.59 Und schließlich konzentrierte sich der Historiker und Romantiker Jules Michelet (1798–1874) auf den vielleicht geheimnisvollsten Teil des Schmetterlings: den Kokon.60 »Ouvrez la nymphe peu après qu’elle a filé; dans son linceul vous ne trouverez qu’une sorte de fluide laiteux, où rien n’apparaît, à peine de douteux linéaments qu’on voit ou que l’on croit voir. [...] Elle sent une force en elle, et une raison d’être, une cause de vivre encore, causa vivendi«, so Fabre und fügt weiter hinzu »C’est mort, et ce n’est pas mort; c’est, si l’on veut, mort partielle.«61 54 Orr, Myriam: Quelques observations inédites sur le test de Rorschach, in : Bulletin du Groupement français du Rorschach 11 (1959), S. 15–19. 55 Binswanger, Ludwig: À propos de deux pensées de Pascal trop peu connues sur la symétrie, in: ders.: Introduction à l’analyse existentielle. Übers. von Jacqueline Verdeaux u. Roland Kuhn. Paris 1971, S. 227– 236, S. 228. 56 Jenseits der Psychologie beschäftigt sich auch die kunsthistorische Pädagogik mit der Symmetrie. Der mit den Arbeiten von Rohrschach und Binswanger vertraute Heinrich Wölfflin (1864–1945) sah vielerlei didaktische Vorzüge in der Doppelprojektion von Bildern, siehe Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 31), S. 56. Die Figur in Franz Boas (1858–1942) L’art primitif beansprucht die Idee der Symmetrie für die ethnische Kunst: »La symétrie constitue l’un des traits caractéristiques [qui] s’observent dans l’art de tous les temps et de tous les peuples.«, siehe Boas, Franz: L’art primitif [Primitive Art. 1927]. Paris 2003, S. 62. 57 Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 31), S. 22. 58 Goethe, Johann Wolfgang: Entomologische Studien [1798]. Hrsg. von Dorothea Kuhn. Frankfurt am Main 1987, S. 314–340. 59 Goethe, Johann Wolfgang: Über Laokoon, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter. Bd. IV.2. München 1986, S. 73–88. 60 Michelet, Jules: L’insecte [1857]. Tours 2004, Bd. I: La métamorphose, S. 109–122. 61 Fabre, Jean-Henri: Récits sur les insectes, les animaux et les choses de l’agriculture [1862–1879]. Hrsg. von Yves Delange. Arles 2002, S. 48–49.

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Nochmals zurück zu Warburgs Passage des prototypischen Briefs von 1900: »[...] ich möchte wohl, aber meine wissenschaftliche Erziehung erlaubt es nicht.« Es ist einleuchtend, dass diese Melancholie von antikem Wissen über die Symbolik des Schmetterlings und auch von dem subtilen Empfinden des Schmetterlings als flüchtigem, vieldeutigem und sinnlichem, kleinen Insekt überlagert wird. Das Insekt ist bereit, Warburgs hermeneutischer Schlüssel zu werden. Im Übrigen nutzt auch der deutsch-jüdische, marxistische Kulturphilosoph Walter Benjamin (1892–1940) den Schmetterling als Symbol der Melancholie. In seiner Schrift über die Erinnerungen an seine Jugend in Berlin nutzt er das Fangen von Schmetterlingen als nostalgisches Bild. Für Benjamin ist der Schmetterling ein »anamnestisches« Mittel, eine Erinnerung an etwas Verlorenes. Der Schmetterling schwingt wie ein Wort durch die Erinnerung, der Schmetterling ist das plötzlich auftauchende Wort.62 Als Gelehrtem sollte Warburg bekannt gewesen sein, dass der Schmetterling im Griechischen als Symbol der Psyche oder der Seele galt.63 Sein Neologismus »Seelentierchen« zeigt seine Kenntnis des Themas. Die wissenschaftlichen Stellen, in denen er Schmetterlinge erwähnt, zeigen auch sein verfeinertes intellektuelles Verständnis des zyklischen Hirngespinstes.64 Die Nymphe – ein biologischer Fachbegriff, der semantisch nicht besser hätt­e gewählt werden können – ist der Zwischenraum seiner Hermeneutik. Die Schmetterlingspuppe ist der locus, der mit der kinetischen Energie der Pathosformel mitschwingt. Aby Warburg kann nicht anders, als über das visuelle Medium als Spiegel von Transformation nachzudenken und es in Fortsetzung einer kulturellen Unterströmung zu sehen, das neue »Larven« hervorbringt und sprießen lässt. Kunstgeschichte ist eine Art Schmetterlingskunde.

V. Qui voit quoi, dans une telle expérience? Qui regarde. Qui est regardé? Qui ›expecte‹? Qui est attendu? Nous sommes sans doute devant l’image - pour autant qu’elle soit souveraine - comme le phalène devant sa flamme. Georges Didi-Huberman, Phalènes

In einem Brief an seinen Bruder schreibt Vincent Van Gogh (1853–1890), dass am 22. Mai 1889 eine große Motte in seinen Raum geflogen sei, er sich selbst jedoch nicht dazu überwinden konnte, diese zu malen, da er sie dafür hätte töten müssen.65 Van Gogh beschreibt

62 Jornitz, Sieglinde: Walter Benjamin und das Erleben in der Kindheit, in: Pädagogische Korrespondenz 24, (1999), S. 32–42; Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert [1933–1938]. Frankfurt am Main 1950, S. 244–245 [Schmetterlings-Jagd]; Siehe auch: Symons, Stéphane: Walter Benjamin. Presence of Mind, Failure to Comprehend. Leiden [u.a.] 2013. 63 Montani, Pietro u. Claudia Cieri Via: Lo sguardo di Giano. Aby Warburg fra tempo e memoria, s.l. 2004, S. 417. 64 Fimiani, Filippo: Forme informi. Studi di poetiche del visuale, s.l. 2006, S. 24. 65 Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 31), S. 28f.

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ein Paradox, eine Melancholie, die auch Warburgs Aufzeichnung nahesteht, aber auch eine neue Dimension einbringt: die Vorstellung vom paragone des Schmetterlings oder der Motte als Metabild des visuellen Mediums. Auf die experimentelle Photographie des 19. Jahrhunderts wirken visuelle Qualitäten (Formen, Oberflächen, etc.) eine bemerkenswerte Anziehungskraft aus. William Henry Fox Talbot (1800–1877) nutzt seine Negativ­ entwicklungstechnik, um faszinierende Bilder von Schmetterlingen aufzunehmen, die erstaunlicherweise den außergewöhnlich graphischen Charakter sowohl ästhetisch als auch technisch hervorheben (Abb. 2). Der Schmetterling mit seinen schnellen Flügelschlägen und die Motte in ihrem ambivalenten Verhältnis zum Licht schaffen einen metabildlichen Bezug zur Kinematographie. Für seinen Film Mothlight (1963) sammelte Stan Brakhage (1933–2003) Mottenteile, die von einem Insektenlicht zerschossen wurden, zusammen mit Gras und anderen Gartenteilen (Abb. 3). Dabei wurde keine Kamera benutzt, sondern die Teile durch Klebestreifen mit der ungefähren Breite eines 16mm-Films zusammengefügt. Das Projizieren des Lichts durch die Insektenteile und Grasstreifen vermittelt ein Gefühl dafür, wie der Film durch die Kamera strömt. Dieser Film läuft mit seiner Bündelung aus Flügeln und anderen Dingen für nur über drei Minuten, in kinematischer Begrifflichkeit: in circa 4.500 Bildern.66 In Dosso Dossis (1490–1542) Jupiter, Merkur und Rhetorik (1523–1524) (Abb. 4) sitzt Jupiter vor einer Leinwand.67 Seine Blitzpfeile liegen ungenutzt zu seinen Füßen, denn Jupiter hat gerade etwas anderes zu tun: er malt Schmetterlinge. Im Zentrum der Komposition dreht sich Merkur in die Richtung einer mit Blumen bedeckten Frauengestalt – Frau Rhetorik – und fordert sie gestisch dazu auf still zu sein. Die Szene bezieht sich auf eine Fabel, der nachgesagt wurde, sie stamme von dem römischen Satiriker Lukian von Samosata (125–180 n. Chr.), die jedoch von Leon Battista Alberti (1404–1472) im Stil des von ihm bewunderten und gerne kopierten antiken Autors geschrieben worden war. Die Handlung berichtet vom Streit der Tugenden. Die Tugend (Personifikation der Rhetorik im Gemälde) möchte ihren Fall bei Jupiter vortragen, Merkur hält sie jedoch auf, denn Jupiter

66 http://experimental-film-review.blogspot.com/2008/02/stan-brakhage-mothlight.html. Sein Film Sirius Remembered von 1959 beinhaltet die Kinematographie der Vergesslichkeit oder Vergessenheit (Mein Dank gilt Jacques Aumont und seinem Vortrag Forgetfulness at Work. Film as Site of Oblivion, Prag, 27. Mai 2015 (IKKM Weimar, Dis/Appearing)). Gleichermaßen nutzt Brakhage sein Experiment mit Motten, um zu untersuchen, was Platon in Phaedrus (275a) ein Elixier nicht der Erinnerung selbst, sondern des Zurückziehens von Erinnerungen nennt. Ich möchte insbesondere den Experimentalfilm Decasia. The State of Decay (2002) von Bill Morrison erwähnen, der ursprünglich als Performance mit von Michael Gordon dirigierter Musik aufgeführt wurde. Der Film übermittelt alte, zerfallende Stummfilme. Er beginnt und endet mit Szenen eines Derwischs und wird unterlegt mit altem Filmmaterial, das die Bearbeitung von Film zeigt. In dieser Montage als Erinnerung erscheint auch der Schmetterling auf dem verglühenden Filmmaterial als Verbildlichung des sich auflösenden Mediums (Ich danke Bill Morrison und Bernard Siegert, Prag, 29. Mai 2015 (IKKM Weimar, Dis/Appearing)). In einem Essay über Kairos komme ich zurück auf das hermeneutische Verhältnis zwischen Schmetterling, Träger, Medium und Auf­ lösung. 67 Ein besonderer Dank an Prof. Dr. Pietro Roccasecca (Rom / Berlin), der mich auf dieses Gemälde aufmerksam machte.

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2  William Fox Talbot, ­Butterfly, 1839–1841, Kalotypie-Negativ, Maße unbekannt, Bradford, National Museum of Photography.

3  Stan Brakhage, Mothlight, 1963, Film still, 16 mm, 3 Minuten, Farbe, stumm.

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4  Dosso Dossi, Jupiter, Merkur und Tugend, 1523–1524, Öl auf Leinwand, 111,3 × 150 cm, Krakau, Wawel.

hat begonnen eine Tätigkeit aufzunehmen, die sehr viel Aufmerksamkeit fordert: Gurkenblüten herstellen und Schmetterlingsflügel malen. In dem Gemälde malt Jupiter nicht die Flügel der Schmetterlinge, er malt Schmetterlinge als Motiv auf die Leinwand, so wie Dosso Dossi es tat (es zu einem Gemälde im Gemälde sowie zu einem Gemälde als Gemälde machend). Trotzdem erscheint es, als kämen die Schmetterlinge aus der Leinwand heraus. Einmal gemalt werden sie lebendig und drohen davon zu fliegen. Dieses illusionistische Motiv kombiniert verschiedene Paradigmen der Bildenden Künste der Renaissance.68 Der Hyperrealismus ist eine Variante des Zeuxis-Motivs. Mimesis solle die Künste über die äußersten Grenzen der Realität hinaustragen, sodass die Grenze des wahrhaft Realen überquert wird.69 Außerdem verfügt der Künstler selbst über die Fähigkeit, im Akt des Malens 68 Gibbons, Felton: Dosso and Battista Dossi. Court painters at Ferrara. Princeton 1968; Smyth, Francis P. u. John P. O’Neill (Hrsg.): The Age of Correggio and the Carracci: Emilian Painting of the 16th and 17th Centuries. Washington 1986, S. 111–128; Freedberg, Sydney J.: Painting in Italy, 1500–1600. London 1993, S. 315–322; Ciammitti, Luisa, Steven F. Ostrow u. Salvatore Settis: Dosso’s fate. Painting and court culture in Renaissance Italy. Los Angeles 1998. 69 Mimesis erzeugt similitudo und simulatio; Plinius Secundus, Gaius: Naturalis Historiae. Bd. IX: Libri XXXIII–XXXV. Hrsg. von Harris Rackham. Cambridge (Mass.)/London 1968, S. 79–100 [Libro XXXV],

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Leben zu erschaffen. Merkur ermahnt die Redekunst ruhig zu sein, um der Malkunst Raum zu geben, die keine Rede braucht (und damit dominiert). Echo hat keine Chance gegen Narziss bei diesem scheinbar beständigen Paradigma der skopischen Kunstgeschichte.70

VI. Aby Warburgs Zwischenraum – das Problem liegt in der Mitte – ist ein Ort einzigartiger kultureller Energie. Dieser mittlere Bereich hat Gemeinsamkeiten mit der Schmetterlingspuppe. Jede Montage und Remontage, jede De-Polarisierung und Re-Polarisierung des Bildspektrums findet im Kokon statt: im verborgenen und unsichtbaren Gallert des tertiu­m quid. Die Schmetterlingspuppe ist das Paradigma der Formwerdung. Sie ist das Paradigma des Oszillierens selbst: Potenzial und Schwelle zwischen Lebensformen, die ihr Dasein verändern. Aber all dies geschieht unsichtbar im Verborgen. Wir kennen den tatsächlichen Vorgang und dessen Wesenheit nicht. Das Geheimnis wird im Inneren behalten: das Rätsel, das Mysterium. Etwas, das John Keats (1795–1821) »tedious agony« nennt, diese notwendige Zeit der Erneuerung, des Brachliegens, des Reifeprozesses im natürlichen Kreislauf der Schöpfung.71 Vielleicht ist es Bestandteil der Metamorphose, dass der eigentliche Wandel, seine Dauer und seine Wahrnehmbarkeit unsichtbar (und still) bleiben.72 Der locus der Metamorphose selbst ist kein Bild, aber bildlich: verborgen in einer Zeitfalte in der dunkelsten Ecke. Diese Momentaufnahme der Möglichkeit und der Ruhe, die vor dem sichtbaren Ergebnis stattfindet, lässt, wie wir gesehen haben, die Dominanz einer Hermeneutik der Mimesis für die Bandbreite von Bildern kritisch hinterfragen. So wie die Schmetterlingspuppe ist die Warburgsche Nymphe ein Zwischenwesen. Die Ninfa hat sich aus der Dunkelheit befreit. Sie hat sich von ihrem unterirdischen Larvenstadium erholt. Aber sie hat sich noch nicht enthäutet und ist menschlich geworden. Die Ninfa bleibt ein Bild im Übergang: durchsichtig, papillante.73 Sie besitzt noch keine Seele. Siehe: sie errötet, denn sie fühlt, wer sie werden kann. Und sie denkt: »Ich möchte verstehen«.

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erzählt die Geschichte über Apelles. Als Apelles den Maler Protogenes auf der Insel Rhodes besuchen kommt und bemerkt, dass dieser nicht zu Hause ist, zeichnet er eine feine Linie auf eine Tafel, die er dort fand. Als Protogenes nach Hause kam, entdeckte er Appelles’ Werk und nutzte eine andere Farbe, um eine noch feinere Linie als die Linie des Apelles zu ziehen. Als Apelles Protogenes wieder besuchte und dieser erneut nicht dort war, nutzte er eine dritte Farbe, um eine so feine Linie zu ziehen, sodass es unmöglich gewesen wäre, diese an Feinheit zu übertreffen. Baert, Barbara: Locus amoenus and the sleeping nymph. Ekphrasis, Silence and Genius Loci. Leuven 2016 (Studies in iconology 3) behandelt die tief verwurzelte skopische Dimension der westlichen europäischen Kunstgeschichte und verteidigt ein hermeneutisches Argument für die Eingliederung anderer Sinne in die Bildanalyse. Siehe auch: Goldhill, Simon: The erotic eye. Visual stimulation and cultural conflict, in: ders.: Being Greek under Rome. Cultural identity, the Second Sophistic and the Development of Empire. Cambridge 2001, S. 154–194. Olsen, Tillie: Silences. New York 1978, S. 6, spricht von »harmful silences that are not natural silences.« Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 31), S. 14. Ich entleihe diesen Begriff von Didi-Huberman 2013 (wie Anm. 31).

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Aby Warburgs Nymphen und Schmetterlinge als Affekte

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REMBR ANDTS DENKR ÄUME

Eines der meistdiskutierten Probleme in der Geschichte der Rembrandt-Forschung ist die markante Veränderung, der das Werk des niederländischen Malers nach 1640 unterliegt. Diese ganz offensichtliche Veränderung betrifft sowohl seinen Stil im engeren Sinne, ebenso sehr aber auch seine Sujetwahl, im weiteren Sinne also das, was Kurt Bauch den ikonographischen Stil genannt hat.1 Wo Rembrandts frühes Werk noch von einer Fülle exaltierter Gestik und dramatischer Komposition geprägt ist, dominieren in seinen späteren Arbeiten nahezu lebensgroße Figuren, die versunken erscheinen in Gedanken, ohne dabei Kontakt zum Betrachter aufzunehmen – weder durch Gesten noch durch Blicke. Sofern überhaupt in diesen Werken Handlung dargestellt ist, ist diese als »aktive Zurückhaltung« modelliert – um eine beinahe paradoxe Formulierung zu gebrauchen.2 Rembrandt scheint die Erzählzeit über den Moment hinaus zu verlängern und er tut dies auf der Grundlage eines besonderen Konzeptes der Leidenschaften und der Darstellung der Affekte. Um zu illustrieren, was damit gemeint ist, wollen wir die Darstellung von starken Affek­ ten auf zwei Gemälden aus den 1630er Jahren betrachten. In der Entführung der Europa (Abb. 1)3 zeigen die am Ufer zurückbleibenden Gefährtinnen der entführten Prinzessin ein Standardrepertoire gestischer Aufregung, das einem Katalog der europäischen Affektdarstellung der Zeit entnommen sein könnte. Dazu gehören in die Höhe geworfene sowie vor der Brust gerungene Hände und aufgerissene Augen. Aus dem gleichen Zeithorizont stammt das Kardinalbeispiel für Rembrandts Überwältigungsrhetorik: In der Blendung

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Bauch, Kurt: Ikonographischer Stil. Zur Frage der Inhalte in Rembrandts Kunst, in: ders.: Studien zur Kunstgeschichte, Berlin 1967, S. 123–151. 2 In den über die Tagebücher der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek zu Rembrandt ausgetauschten Gedanken zwischen Aby Warburg und Fritz Saxl taucht der Begriff der ›aktiven Verhaltenheit‹ auf. Vgl. Michels, Karen u. Charlotte Schoell-Glass (Hrsg.): Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Berlin 2001 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften 7). 3 Rembrandt, Die Entführung der Europa, 1632, Öl auf Holz, 62,2 × 77 cm, The J. Paul Getty Museum, Los Angeles.

Rembrandts Denkräume

1  Rembrandt, Die Entführung der ­Europa, 1632, Öl auf Holz, 62,2 × 77 cm, Los Angeles, The J. Paul G ­ etty Museum.

Simsons von 1635 (Abb. 2)4 zwingen die Philisterschergen den biblischen Helden mit aller Gewalt zu Boden, um ihm dort auf drastischste Weise die Augen auszustechen. Trotz des unübersichtlichen Getümmels wird bei näherem Hinsehen klar, dass Rembrandt auch hier eine Formel verwendet, um den Widerstand und den Schmerz des Protagonisten anschaulich greifbar werden zu lassen. Die Pose des zu Boden gerissenen Simson entspricht, leicht gedreht, derjenigen der Hauptfigur aus der antiken Laokoongruppe, der seit ihrer Auffindung prototypischen Pathosformel des Schmerzes schlechthin. Dessen Autorität, als antikes Vorbild vielfach kommentiert und eingesetzt in der frühneuzeitlichen Kunst, verbürgt eine nachgerade semiotische Lektüre. Laokoons Haltung ist vereinbarungsgemäßes Zeiche­n für unermesslichen, superlativischen Schmerz und als solches rational distanziert lesbar. Im Frankfurter Bild bemüht Rembrandt sich aber offensichtlich darum, diese Distanzierungsmöglichkeit zu konterkarieren, indem er zum einen die Pose nur verschleiert verwendet und indem er zum anderen die Drastik in einer Weise erhöht, die es dem Betrachter schwer macht, sich dem Dargestellten zu entziehen. In den meisten Werken der fünfziger und sechziger Jahre verzichtet Rembrandt auf derart exaltierte Körperrhetorik. Wenn er antike (oder pseudo-antike) Vorbilder imitiert, 4 Rembrandt, Die Blendung Simsons, 1635, Öl auf Leinwand, 206 × 276 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main.

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2  Rembrandt, Die Blendung Simsons, 1635, Öl auf Leinwand, 206 × 276 cm, Frankfurt am Main, Städel Museum.

dann sind es solche, die Ruhe und Verhaltenheit markieren. Die Gestalt der Bathseba, die den Brief Davids liest (Abb. 3, Taf. I), geht bekanntlich auf eine pseudo-antike Reliefdarstellung von François Perrier zurück, die als Trauergestus eher Stille als Drama assoziieren lässt.5 Der Wandel ist zu eklatant, als dass er in der Rembrandtforschung jemals ernsthaft bestritten worden wäre. Die bisherigen Erklärungen sind jedoch unbefriedigend. Zumeist griff man auf persönliche Schicksalsschläge, biographische Wendepunkte in Rembrandts Leben zurück, die aus einem lebensfrohen, extrovertierten jungen Künstler einen weltabgewandten, grüblerischen Melancholiker gemacht hätten. 1642, das Jahr des Todes seiner Frau Saskia und des scheinbaren Misserfolgs der Nachtwache, markiere als annus horribilis den Anfang des Weges Rembrandts in die Innerlichkeit. Hieraus bezieht auch die kunsthistorische Legende des nur für sich und die Nachwelt schaffenden Genies ihr Material.6 An dieser Stelle soll nun Aby Warburgs Rembrandt-Vortrag aus dem Jahr 1926 für einen Lösungsansatz herangezogen werden, der es erlaubt, den beschriebenen Wandel vielleicht nicht zu erklären, ihn aber angemessener zu beschreiben und jenseits künstlerpsychologischer Projektionen einer Analyse zugänglich zu machen. 5 6

Vgl. Sluijter, Eric Jan: Rembrandt’s Bathsheba and the Conventions of a Seductive Theme, in: Rembrandt’s Bathsheba Reading King David’s Letter. Hrsg. von Ann Jensen Adams. Cambridge [u.a.] 1998, S. 48–99. Vgl. Hellmold, Martin: Rembrandts Einsamkeit. Diskursanalytische Studien zur Konzeption des Künstlersubjekts in der Moderne. Dissertation. Bochum 2001, S. 116–132.

Rembrandts Denkräume

3  Rembrandt, Bathseba im Bade, 1654, Öl auf Leinwand, 142 × 142 cm, Paris, ­Louvre.

Warburgs Rolle für eine an der Historischen Anthropologie orientierte Kunstwissenschaft kann nicht überschätzt werden. Viele Zweige der inzwischen ausdifferenzierten bildwissenschaftlichen Fortentwicklungen der Kunstgeschichte berufen sich vielfältig auf seine Schriften und das Projekt der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, die der Gelehrte in Hamburg anlegte.7 Seine Stellung als Begründer der Ikonologie ist unumstritten und wird mittlerweile in der Forschung auch ausreichend unterschieden von den späteren Anwendungen der Ikonologie unter seinen Nachfolgern und Bewunderern. Hier soll Warburgs Bestreben interessieren, das Bemühen der Menschheit zu analysieren, mit Hilfe von Bildern der chaotischen und oft als feindselig empfundenen Welt der Phänomene machtvolle Instrumente entgegenzusetzen, die ein rationales Verhältnis zu den Dingen und ihren Erscheinungen erst möglich machen. Nach wie vor ist das Konzept der »Pathosformel« grundlegend für die Beschreibung dieser Prozesse. In seinem Dürer-Vortrag von 1905 beschrieb Warburg den Nürnberger Maler als einen prototypisch »nordischen« Maler, der die superlativischen Gesten zurückweise, die aus der Antike überliefert und von der italienischen Kunst übernommen worden 7

Vgl. Pfisterer, Ulrich: ›Die Bilderwissenschaft ist mühelos‹. Topos, Typus und Pathosformel als methodische Herausforderung der Kunstgeschichte, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Hrsg. von dems. u. Max Seidel. München 2003 (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, Max Planck-Institut, 4. Folge, 3), S. 21–47.

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seien.8 Die Haltung, die ein Künstler gegenüber der Pathosformel einnimmt, die Art, wie er sie in seine künstlerische Sprache integriert oder sich ihr verweigert, ist demnach ein Indikator für seine Fähigkeit, mit dem leidenschaftlichen Urgrund umzugehen, der das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt bestimmt.9 Es soll aber hier noch ein weiteres Konzept von Warburg berücksichtigt werden, das weit weniger prominent ist als das der Pathosformel, dessen zuletzt sehr ausgeweitete Rezeption zuweilen Kurioses hervorbringt. Die Vorstellung vom »Denkraum«, so wie ­Warburg ihn im 1920 publizierten Text Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten konzipiert und schließlich für die Idee des Bilderatlas Mnemosyne weiter entwickelt, beschreibt die notwendig herzustellende Distanz des Subjekts zur Phänomenalität, um diese überhaupt in Reflexion überführen zu können. Der Denkraum ist die Voraussetzung für die Produktion von Bedeutung, da sich diese aus der rationalen Differenz nur herleiten lässt.10 Für Mnemosyne spielt die Erzeugung des Denkraums eine – so scheint es – wichtigere Rolle als das Konzept der Pathosformel, das darüber hinaus immer weniger als Figur begriffen wurde, die superlativische Ausdrucksgebärden repräsentiert. Die energetische Aufladung der Pathosformel mit dem ›Leidschatz der Menschheit‹, dem Archiv der Affekt­e des Kulturellen, und ihr Charakter als Symptom des ewigen Kampfes rational-apollinischer und irrational-dionysischer Momente in der Geschichte der Leidenschaften, akzentuierte Warburg in den Recherchen zum »Bilderatlas« dann anders. Für dessen philologische Wurzeln ist es bedeutsam, dass der Begriff Bilderatlas in Warburgs Arbeit m.W. erstmals in den Notizen zum Rembrandt-Vortrag auftaucht, die der Rekonvaleszent nach der Rückkehr aus Binswangers Sanatorium ab 1925 anlegt.11 In seinen Ideen zum Amsterdamer Künstler geht es Warburg nicht in erster Linie um die Persistenz antiker Ikonographie oder antiker Motive in Rembrandts Werk. Dessen sehr spezifische Auseinandersetzung mit aus der Antike überlieferten Bildwelten und -konzepte­n ist bis heute nicht erschöpfend behandelt worden.12 Da Warburg die besonderen Wege der Überlieferung antiker Denkbilder und Formen nördlich der Alpen aber regelmäßig beschäftigten, führte kein Weg daran vorbei, nach dem Antikenverständnis der in seinem Zeithori­

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Warburg, Aby: Dürer und die italienische Antike, in: Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905. Leipzig 1906, S. 55–60. 9 Zur Pathosformel und zum Dürer-Vortrag bzw. seiner Publikation als Dürer und die Antike vgl. Hurttig, Marcus Andrew (in Zusammenarbeit mit Thomas Ketelsen) (Hrsg.): Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel. Köln 2012. 10 Vgl. Treml, Martin [u.a.] (Hrsg.): Warburgs Denkraum. Formen, Motive, Materialien. München 2014. 11 Vgl. Wedepohl, Claudia: Von der ›Pathosformel‹ zum ›Gebärdensprachenatlas‹: Dürers Tod des Orpheus und Warburgs Arbeit an einer ausdruckstheoretisch begründeten Kulturgeschichte, in: Hurttig 2012 (wie Anm. 9), S. 33–50. 12 Vgl. Kieser, Emil: Über Rembrandts Verhältnis zur Antike, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 10 (1941/42), S. 129–162; Gantner, Joseph: Rembrandt und die Verwandlung klassischer Formen. Bern [u.a.] 1964; Clark, Kenneth: Rembrandt and the Italian Renaissance. London 1966; Grohé, Stefan: Rembrandts mythologische Historien. Köln [u.a.] 1996.

Rembrandts Denkräume

zont idealtypischen Gestalt eines nordischen Künstlers zu fragen. Rembrandts Stilisierung als ›anti-klassischer‹ Künstler und seine vermeintlich Volksnähe ausstrahlende intuitive Arbeitsweise (als Gegenbild zu klassischen pictores docti) hatten das lange verhindert.13 Rembrandts Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe erfolgt bereits im Frühwerk sowohl formal wie ikonographisch. Eine Bezugnahme zum Beispiel seiner Darstellung der Andromeda auf aus der Antike überliefertes astrologisches Gedankengut vermutete bereits Gary Schwartz mit einem Hinweis auf die mögliche Vorbildlichkeit der Aratos-Handschrift in der Universitätsbibliothek von Rembrandts Heimatstadt Leiden.14 Zwar gelangte sie in deren Bestand erst mit dem Erwerb des Nachlasses von Gerhard Isaak Vossius 1690. Die neuzeitliche Besitzgeschichte der Leidener Aratea ist jedoch schon vorher eng an die Niederlande gebunden. Aus dem Dunkel mittelalterlicher Überlieferung taucht sie im Januar 1573 in Gent auf, als der Humanist Jacob Suys sie von einem Maler (sic!) erwirbt, wie er auf dem Manuskript selber als Besitznachweis vermerkt. Von Suys wird Hugo de Groot sie erworben haben, der im Jahr 1600 eine Edition besorgte, deren Illustrationen Jacques de Gheyn II. beisteuerte.15 Angesichts der kurzen Verweildauer Rembrandts an der Leidener Universität ist nicht davon auszugehen, dass er das Exemplar wirklich jemals in Augenschein genommen hat. Auch weicht Rembrandts Darstellung durchaus signifikant von der Vorlage ab. Schon in seiner ersten Darstellung, deren Sujet der antiken Mythologi­e entnommen ist, bemüht sich Rembrandt in erster Linie darum, die Leidenschaften der Pro­ tagonistin angemessen zu modellieren.16 Die Dynamik des Pathos und ihre Verknüpfungen mit überliefertem Gedankengut stehen auch im Zentrum der Überlegungen Warburgs. Erst seit kurzem liegt das Vortragsmanuskript17 des Referates vom Mai 1926, mit dem Aby Warburg erstmals im Erweiterungsbau seiner Bibliothek vor die Öffentlichkeit trat, in einer Druckfassung vor.18 Das Erscheinen dieser neuen Edition wird hoffentlich den bedauernswerten Umstand beenden, dass Warburgs Gedanken in der Rembrandt-Forschung bisher nahezu vollständig übersehen wurden – obwohl er sie in Auseinandersetzung mit wichtigen Positionen der Rembrandt-Forschung seiner Zeit artikulierte. Nicht einmal Warburgs enger Mitarbeiter Fritz Saxl verspürte die Notwendigkeit, auf Warburgs Forschungen zu verweisen, als er 1941 einen Vortrag mit dem Thema Rembrandt and Classical Antiquity hielt19 – und dabei zahlreiche Beispiele aufnahm, die auch Warburg verwen13 Zum Topos des anti-klassischen Rembrandt vgl. Slive, Seymour: Rembrandt and his critics: 1630–1730. Den Haag 1953 (Utrechtse bijdragen tot de kunstgeschiedenis 2); Emmens, Jan A.: Rembrandt en de regels van de kunst. Utrecht 1968. 14 Vgl. Schwartz, Gary: Rembrandt. Stuttgart 1987, S. 119f. 15 Vgl. Von Euw, Anton: Der Leidener Aratus. Antike Sternbilder in einer karolingischen Handschrift. München 1989. 16 Rembrandt, Andromeda, ca. 1630, Öl auf Holz, 34 × 24,5 cm, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Het Mauritshuis, Den Haag. 17 lm Warburg Institute Archive in London WIAIII. 101.2.1, 121 fol., maschinenschriftlich, nummeriert. 18 Warburg, Aby: Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts (1926), in: ders.: Nachhall der Antike. Zwei Untersuchungen. Hrsg. von Pablo Schneider. Zürich 2012, S. 69–102. 19 Posthum veröffentlicht als: Saxl, Fritz: Rembrandt and Classical Antiquity, in: ders.: Lectures I. London 1957, S. 298–310.

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det hatte. Saxl unterlässt es genauso, auf Frederik Schmidt-Degeners Buch Rembrandt und der holländische Barock hinzuweisen, das 1928 als Band 9 der Studien der Bibliothek ­Warburg erschienen war.20 Saxls Verschweigen von Warburgs Beitrag zur Erforschung des Verhältnisses von Rembrandt zur Antike ist umso bemerkenswerter, als seine Rolle für die Entstehung des Vortrags eine ganz wesentliche gewesen ist. Aus dem lebhaften Briefwechsel, den Warburg und Saxl im Laufe des Jahres 1925 führten, geht hervor, dass Letzterer scheinbar ein anderes Interesse an der Kunst Rembrandts hatte, als Warburg es in seinem Vortrag verfolgte.21 Saxl suchte eine evolutionäre, überwiegend stilhistorische Linie, die von der italienischen Renaissance zu der niederländischen Kunst Rembrandts führte. Bei den Künstlern der Generation um Otto van Veen, den Utrechter Caravaggisten und den Haarlemer Manieristen – das heißt im Umkreis Honthorsts und Cornelis Cornelisz.’ – machte er Transformationsprozesse aus, die ›Südländisches‹ zu ›Nordischem‹ aufbereiten. Karel van Manders Schilder-Boeck erfülle auf theoretischem Gebiet diese Funktion, indem es das Schema von Vasaris Historiographie in niederländisches Idiom übersetze.22 Im Austausch mit Warburg über diese Fragen wird aber auch deutlich, dass Saxl über die von der ihm bekannten Forschung bereits aufgezeigten Dichotomien, insbesondere derjenigen zwischen ›nordisch‹ und ›südländisch‹, kaum hinausgeht. Er entdeckt immer neue Phänomene in den Sammlungen der Niederlande, wird ihrer aber Kompositionen und Beleuchtung beschreibend nicht wirklich Herr. Analytisches muss Warburg ihm soufflieren.23 Im Umkreis der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (KBW) hat Rembrandt aber auch sonst selten besondere Aufmerksamkeit erfahren: Das Interesse dort galt dem Nachleben der Antike, das man bei dem exemplarischen nordischen Genie, als das ihn die Zeit wahrnahm, kaum vermutete – trotz der Erkenntnisse Warburgs und Saxls. Auch aus der kunsthistorischen Nachfolge Warburgs und der Ikonologie der Nachkriegszeit fallen nur zwei größere Studien zu Rembrandt ins Gewicht: Erwin Panofskys Aufsatz über die Petersburger Danaë und William Heckschers kapitale Studie zur Anatomie des Dr. Tulp.24

20 Vgl. Schmidt-Degener, Frederik: Rembrandt und der holländische Barock. Leipzig 1925 (Studien der Bibliothek Warburg 9). Warburgs Vortrag war lange in Teubners Verlagsanzeigen als baldige Publikation angekündigt worden. Da Schmidt-Degener vielfach das gleiche Material behandelt hatte, ist davon auszugehen, dass die Veröffentlichung der Studie des niederländischen Kunsthistorikers als Ersatz für ein unvollendetes Werk Warburgs dienen musste. Bei der Publikation in den Studien der Bibliothek Warburg handelt es sich um die Übersetzung eines Textes, der erstmals auf Niederländisch unter dem Titel ­Rem­brandt en Vondel 1919 erschienen war. Vgl. Schmidt-Degener, Frederik: Rembrandt en Vondel, in: De Gids 83 (1919), S. 222–275. 21 Vgl. McEwan, Dorothea [u.a.] (Hrsg): ›Wanderstrassen der Kultur‹. Die Aby Warburg-Fritz Saxl-Kor­ respondenz 1920 bis 1929. München 2004 (Kleine Schriften des Warburg Institute London und des ­Warburg-Archivs im Warburg-Haus Hamburg 2). 22 McEwan 2004 (wie Anm. 21), S. 145f., 153f. 23 Vgl. den Brief von Aby Warburg an Fritz Saxl vom 29. Mai 1925, in: McEwan 2004 (wie Anm. 21), S. 149– 151. 24 Panofsky, Erwin: Der gefesselte Eros. Zur Genealogie von Rembrandts Danaë, in: Oud Holland 50 (1933), S. 193–217. Heckscher, William S.: Rembrandt’s Anatomy of Dr. Nicolaes Tulp. An Iconological Study. New York 1958.

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4  Rembrandt, Der Raub der ­Proserpina, ca. 1631, Öl auf Holz, 84 × 79,7 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie.

Andererseits hat Erwin Panofsky noch in Hamburg mehrere Abschlussarbeiten zu Rembrandt und der niederländischen Kunst vergeben, die auch in der Lehre regelmäßig von den Wissenschaftlern um die KBW behandelt wurde.25 Und es bleibt bemerkenswert, dass der erste öffentliche Auftritt Aby Warburgs in seiner erweiterten Bibliothek ­Rem­brandt gewidmet war. »Die italienische Antike im Zeitalter Rembrandts« schlägt damit die ­eingangs erwähnte Brücke zwischen den Forschungen Warburgs vor seinem mentalen Zusammenbruch im Jahr 1917 und dem beherrschenden Thema ab 1925, dem Bilderatlas Mnemosyne. Warburgs Ausgangsfrage lautet: »Welche Elemente des antiken Erbes interessierte das Zeitalter Rembrandts insoweit, dass es als stilbildende Macht in die künstlerische Gestaltung eintrat?«26 Seine Untersuchungsbeispiele entnahm er drei verschiedenen Themenbereichen, in denen eine Rezeption der heidnischen Antike vorstellbar war: dem Mythos, der antiken Geschichte und dem antiken Drama. Obwohl keiner dieser Themenbereiche in den Niederlanden im 17. Jahrhundert besonders populär war, behandelte Rembrandt zu gegebener Zeit alle drei. So konnte Warburg den Raub der Proserpina (Abb. 4), den Schwur der 25 An dieser Stelle sei dem freundlichen Hinweis von Prof. Dr. Martin Warnke, Hamburg, gedankt. 26 Warburg 2012 (wie Anm. 18), S. 70.

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5  Rembrandt, Die Verschwörung der Bataver unter Claudius Civilis, 1662, Öl auf Leinwand, 196 × 309 cm, Stockholm, Nationalmuseum.

6  Rembrandt, Medea oder die Hochzeit von Iason und Creusa, 1648, Radierung, 232 × 176 mm, New York, The Metropolitan Museum of Art.

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7  Aby Warburg, Bildtafeln zur Rembrandt-Ausstellung (Claudius Civilis), 1926.

Bataver (Abb. 5, Taf. II) und das Titelblatt zu Jan Six’ Drama Medea (Abb. 6) als Beispiele auswählen. Auf Versionen der Bildertafeln, die Warburg zur Demonstration des Atlas verwendete, figurieren die drei genannten Werke prominent (Abb. 7 und 8).27 Rembrandts Version der Entführung der Proserpina (Abb. 4) zeige ihn – so Warburg – »auf dem Weg [...] aus der öden sarkophagisch affektierten Gebärdensprachlichkeit in die höhere Sphäre herauszukommen, ohne dass dabei, wenn man genauer zusieht, der mythische Inhalt an poetischer Kraft einbüsst.« 28 Seine Entscheidung, einen Moment aus der Erzählung von Medea zu wählen, der im Drama seines Auftraggebers Jan Six gar nicht in dieser Form erwähnt wird (Abb. 6), unterstreicht das Zögern und die Unentschlossenheit Medeas im Angesicht der Hochzeit Iasons mit Creusa; es betont also den inneren Konflikt der Protagonistin.29 Und das Schwurbild des batavischen Aufstandes gegen die Römer 27 Das Präsentationsverfahren der Bildertafeln, auf denen mehrere Reproduktionen gemeinsam arrangiert und in einen visuellen Sinnzusammenhang gebracht wurden, welches schließlich konstitutiv für den Bilderatlas werden sollte, scheint überhaupt im Zusammenhang mit den Rembrandtstudien Warburgs entstanden zu sein. Da für den Vortrag vom Mai 1926 eine Dialiste erhalten ist (WIA III.101.3.2.2), ist davon auszugehen, dass der Vortrag selber nicht vor derartigen Tafeln, sondern als Lichtbildervortrag gehalten wurde. 28 Warburg 2012 (wie Anm. 18), S. 77. Zu Rembrandts Raub der Proserpina vgl. Golahny, Amy: Rembrandt’s Abduction of Proserpina, in: The Age of Rembrandt. Studies in Seventeenth Century Dutch Painting Studies of Art History from The Pennsylvania State University 3 (1988), S.  28–46; Grohé 1996 (wie Anm. 12), S. 43–73; Sluijter, Eric Jan: De ›heydensche fabulen‹ in de noordnederlandse schilderkunst circ­a 1590–1670. Een proeve van beschrijving en interpretatie van schilderijen met verhalende onderwerpen uit de klassieke mythologie. Dissertation. Leiden 1986, S. 94f. 29 Zu Jan Six’ Medea und zu Rembrandts Titelblatt vgl. die kritische Ausgabe des Dramas unter http://www. dbnl.org/tekst/six_001mede01_01 (22.06.2016).

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8  Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 70.

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unter Claudius Civilis (Abb. 7 und 8) ist Warburg ein mächtiges und dunkles Dokument der Revolte, das nicht mit dem Bedürfnis der Amsterdamer Regenten kompatibel gewesen sei – die ihrerseits eloquente Rhetorik und theatralische Pose gefordert hätten.30 Ursprünglich als Teil der Dekoration des neu erbauten Amsterdamer Rathauses vorgesehen, widersprach es offenbar den Erwartungen der Auftraggeber. In diesem Widerspruch sei die Ursache für die Zurückweisung des Gemäldes zu sehen, das in der Folgezeit verstümmelt wurde und nur als Fragment erhalten geblieben ist, meint Warburg. Noch das Fragment im Stockholmer Nationalmuseum aber beeindruckte Warburg so nachhaltig, dass er eine Kopie anfertigen ließ, die ab dem Januar 1927 seine Bibliothek schmückte und heute im Warburg Institute in London erhalten ist.31 In seinem Vortrag berührt Warburg eine Reihe interessanter Punkte: Er hebt Rembrandts narrative Strategie in der Medea-Radierung hervor und er arbeitet den intelligenten Zugriff des Künstlers auf die Geschichte von Claudiu­s Civilis heraus. Rembrandt nämlich habe Tacitus’ Text, der den Aufstand der niederländischen Urbevölkerung gegen das Besatzungsregime der Römer überliefert, genau gelesen und eine höchst originelle Inventio für den Eid »de barbari ritu« gefunden, von dem der römische Historiograph berichtet.32 Dieser sollte in seiner Fassung die rhetorisch überhöhten Formeln, die Rembrandts Vorgänger – und seine Nachfolger – für die Schwurhandlung wählten, ersetzen. Aber wie sollen wir Warburgs Beobachtung verstehen, dass die tretende und kratzende Proserpina die Überwindung einer hohlen Pathosformel darstelle? Sie so darzustellen mag eher naturalistisch anmuten als antikisierend – ihre Theatralik ist im Vergleich mit den von Warburg herangezogenen weiteren Beispielen jedenfalls offensichtlich. 33 Auch wenn wir Warburgs Einschätzung in dieser Hinsicht also widersprechen müssen, so gibt es doch eine Möglichkeit, das Konzept der Pathosformel an dieser Stelle in einem weiteren Sinn zu verstehen, wenn wir ein anderes zentrales Argument seines Textes hinzuziehen, das dazu dienen sollte, die Zeitlosigkeit der Bilderfindung Rembrandts aus der Perspektive des Vortragenden zu unterstreichen. Gegen Ende seiner Ausführungen summiert er noch einmal die Quintessenz der Komposition des Claudius Civilis:

30 Zum Bild der Verschwörung der Bataver unter Claudius Civilis vgl. die Sondernummer der Konsthistorisk Tidskrift 25 (1956) und zuletzt Van der Coelen, Pieter: Rembrandt’s Civilis, Iconography, Meaning and Impact, in: Rembrandt 2006. Hrsg. von Michiel Roscam Abbing. 2 Bde. Leiden 2006, Bd. I, S. 31–56. 31 Vgl. Sprung, Joachim: Bildatlas, åskådning och reproduktion. Aby Warburgs Mnemosyneatlas och visualiseringen av Konsthistoria kring 1800/1900, Dissertation. Kopenhagen 2011, S. 165–175, hier S. 167f., da­rin auch ein Überblick über die Fassungen des Bilderatlas, in deren Zusammenhang das Schwurbild auftaucht. 32 Tacitus, Historiae, Liber 4. XIVf. http://data.perseus.org/citations/urn:cts:latinLit:phi1351.phi004.­ perseus-lat1: 4.14. (22.06.2016). 33 Sowohl auf einem Gemälde des Claes Cornelisz. Moeyaert wie auch auf dem antiken Sarkophag, der bereits Rubens die Inspiration für seine Formulierung des Proserpina-Themas verschaffte, wirft das ­Entführungsopfer seine Arme exaltiert in die Luft. Beide Beispiele finden ihren Weg auf die Bildertafeln ­Warburgs.

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Wer verzweifelte innere Zusammenfassung, die sich auf ungewisse gefahrvolle Zukunft vorbereitet, innerlich von den Kunstfreunden verlangt, Mitleiden mit dem ewigen Hamletproblem der Gewissensqual zwischen Reflexbewegung und reflexivem Verhalten – es mag nun in der Medea oder im Claudius Civilis als sittlich forderndes Kultbild aufgerichtet werden –, der wird immer Gefahr laufen, von den Lieferanten triumphaler Gegenwartsbejahung aus dem Felde geschlagen zu werden.34

Warburgs Anliegen ist bekanntlich das Ausmessen der Schwingung zwischen zwei Polen, die in seinen Worten zueinander gehören wie einatmen und ausatmen, einschwingen und ausschwingen. In der Einleitung zum Bilderatlas Mnemosyne beschreibt er Kunst als Symbol des flüchtigen Moments zwischen Antrieb und Handlung und unsere Aufgabe, diesen Zwischenraum als Raum der Atembewegung mit Hilfe der Mnemosyne zu erweitern. Als polare Dynamiken dienen dazu Annahme bzw. Einverseelung oder Ablehnung der Pathosformel einerseits und Einrichtung oder Überwindung des Denkraums andererseits. Die Pathosformel ist demnach nicht nur eine dauerhafte Ausdrucksgebärde, geprägt in superlativischer Sprache, sondern sie hat eine entscheidende Funktion für die Summe affektiver Energien: das Lagerhaus/den Leidschatz der kulturellen Psychologie einer Epoche. Sie einzuverleiben oder zurückzuweisen – wie es Dürer und Rembrandt getan haben – wird wichtig im Sinne einer symptomatischen Verschiebung. Es bleibt dennoch erstaunlich, dass Warburg ausgerechnet das Proserpina-Bild als Beleg für Rembrandts Ablehnung und Überbietung der enthöhlten antiken Pathosformel gewählt hat. Die dramatische Mise-en-scène soll der affektiven Stimulation des Betrachters dienen, dessen Gefühle durch heftige äußere Bewegung auch im Inneren angeregt werden, wie es die Regeln der Rhetorik und des antiken Dramas vorsahen. In seinen späteren Werken scheint Rembrandt sich aber auf diese Formeln nicht mehr verlassen zu wollen. Eine Formel als solche zu identifizieren, depotenziert sie sogleich. Die Formel als zeichenhafte Repräsentation eines Gemütszustandes oder einer katalogisierten Leidenschaft zu lesen, bedeutet unmittelbar Distanzierung von der dargestellten Handlung. Ein derart rationalisierter Zugang verhindert die unmittelbare Einwirkung des Dargestellten auf die Seele. Den Betrachter jedoch in empathische Auseinandersetzung mit dem instabilen Status der Seele der Protagonisten zu zwingen, erschwert die Einrichtung des Denkraums – oder anders herum: es überbrückt ihn. Dies ist der Fall beim Civilis-Bild (Abb. 5, Taf. II), der Medea-Radierung (Abb. 6) und einigen weiteren Gemälden der fünfziger und sechziger Jahre.35 Bathseba, die den Brief Davids liest, Moses beim Vorzeigen der Zehn Gebote und die Rückkehr des Verlorenen Sohnes sind allemal entschieden weniger dramatische Begebenheiten als diejenigen, die

34 Warburg 2012 (wie Anm. 18), S. 99. 35 Gregor Weber hat zuletzt überzeugend dargelegt, dass wesentliche Merkmale des Spätwerks von Rem­ brandt seinen Bemühungen um angemessenen Ausdruck der Leidenschaften zu verdanken sind. Stilkritische Erwägungen, die die Spätwerkdebatten gemeinhin dominieren, treten dagegen in den Hintergrund. Vgl. Weber, Gregor J. M.: Innerer Konflikt, Versöhnung, in: Der späte Rembrandt. Hrsg. von Jonathan Bikker. München 2014, S. 234–269.

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9  Rembrandt, Moses zerschmettert die Gesetzestafeln, 1659, Öl auf ­Leinwand, 168,5 × 136,5 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Gemälde­galerie.

Rembrandt im Frühwerk bevorzugt behandelt. Es ist aber nicht nur die Themenwahl, die hier von Bedeutung ist. Alle genannten Gemälde fordern den Betrachter schon durch die Bildanlage in ganz anderer Weise dazu heraus, sich mit den dargestellten Figuren auseinanderzusetzen – sich in sie einzufühlen. Meistens sind es lebensgroße Halb- oder Dreiviertelfiguren, die keinerlei Kontakt zum Betrachter aufnehmen, weder gestisch noch mimisch. Bathseba (Abb. 3) erscheint in einem quadratischen Rahmen eingespannt. Ihre aus rechtwinkligen Linien komponierte Haltung spricht von der inneren Spannung, die das Ansinne­n des Königs in ihr verursacht. Das gestische und mimische Repertoire ist quasi neutralisiert, stärkere äußere Bewegung wäre nicht in der Lage, die Ambiguität der Entscheidungssituation zu vermitteln. Moses mit den Gesetzestafeln (Abb. 9) hält die Erzählung gezielt in der Schwebe: Es bleibt offen, welche der beiden Rückkehren vorn Berg Sinai, von denen die Bibel spricht, gemeint ist. Eine plausible Entscheidung ist für den Betrachter nicht möglich – was die Forschung übrigens bis heute irritiert. Der Verlorene Sohn (Abb. 10) lädt ganz offen zur ldentifikation und Empathie ein, stellt zugleich aber alle Leidenschaft sonderbar still in einem Raum, den ich gerne als den ›Denkraum der Besonnenheit‹ identifizieren möchte, auf den Warburgs Analyse hinausläuft.

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10  Rembrandt, Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, 1666–69, Öl auf Leinwand, 260 × 203 cm, Sankt Petersburg, Eremitage.

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Um diese Bilder zu verstehen und ihre ethischen Signale akzeptieren zu können, muss der Abstand zwischen Betrachter und Darstellung überbrückt werden, den eine formalisierte Zeichensprache der Gesten und Affekte herzustellen erlaubt. Nach Warburg trennt das »unverbundene Dynamogramm« der Pathosformel Bedeutung und Erfahrung voneinander. Da aber die letztgültige Begründung der Historienmalerei die Vermittlung einer sittlichen Botschaft war, riskierte die Ermöglichung einer distanzierten Lektüre des Bildes, den Betrachter nicht zu erreichen. Es scheint, dass Rembrandts späte Historien diesem Problem begegnen wollen. Sie fordern vom Betrachter eine Entscheidung ein: durch narra­ tive Ambivalenz ebenso wie durch Mittel der Komposition oder des Ausdrucks. Der vorge­ stellte Schwebezustand zwingt ihn in einen Entscheidungsprozess, der demjenigen ähnelt, den die Figuren durchlaufen. In diesem Prozess der Anverwandlung und des Verstehens wird der Denkraum überbrückt, der dem Betrachter erlauben würde, sich von den dargestellten Handlungen und Trieben zu entkoppeln. Rembrandt installiert aufs Neue eine Verbindung zwischen Leidenschaft auf der Leinwand und reflexiver Reaktion, um so die erfolg­ reiche Kommunikation des sittlichen Gehalts verbürgen zu können. Seine Bildstrategien und -konzepte garantieren die Unmöglichkeit einer distanzierten Betrachtungsweise. Ursprünglich hatte die Pathosformel für Warburg die Funktion eines Zeichens oder Indikators für empathische Identifikation. Bei Rembrandt folgt diese anderen Regeln: die leere superlativische Gebärdensprache ist durch den Prozess der Aneignung selber ersetzt. Man könnte an dieser Stelle die Frage anschließen, welche Zeitumstände für eine derart innovative Bildsprache Rembrandts verantwortlich gewesen sein mögen. Es wäre dies eine gute ikonologische Frage, denn auch wenn Warburgs Ausführungen in vielerlei Hinsicht der Rembrandt-Philologie nicht unbedingt neu und zudem sehr den Deutungsmustern der Zeit verhaftet waren, so ist seine treffende Identifikation des niederländischen Malers als einem Vorläufer moderner Bildkonzepte integraler Bestandteil des Aufkommens einer spezifisch modernen kulturellen Sensibilität. Ohne seine Begriffe und Konzepte wäre eine Analyse wie die hier vorgestellte nicht möglich.

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Tristia Cum Gemitu Cristi Spectacula

Iris Wenderholm

TRISTIA CUM GEMITU CRISTI SPEC TACUL A Zu einem Monumentalrelief des Francesco Laurana

Unweit des Papstpalastes in Avignon befindet sich ein monumentales Marmorrelief von der Hand des Francesco Laurana (Abb. 1, Taf. III).1 Bei dem Relief handelt es sich zwar auf der einen Seite um eine höchst konventionalisierte Darstellung der Passion Christi, wie sie dem Betrachter des 15. Jahrhunderts vielerorts vor Augen geführt wurde. Nicht zuletzt in der entstehenden Druckgraphik hatte die Darstellung der Leiden Christi als Passions­ imagination und Affektstimulation ihren Ort. Interessant und über das konkrete Objekt hinausweisend sind an dem Relief auf der anderen Seite jedoch der kolossale Maßstab, die Übergängigkeit in den Betrachterraum, die ursprünglich die Ausdruckskraft stark potenzierende Farbigkeit sowie die frappierende Kontrastästhetik der dargestellten Affekte. Das Kolossalrelief wirft Fragen auf, die auf das Verständnis quantitativer Gleichheit mit dem Betrachter abzielen und seinen sicheren Standpunkt außerhalb des Bildes in Frage stellen. Durch die Wahl des Materials Marmor und seine imposante Größe ist das Relief ästhetisch distanzierend und vereinnahmend zugleich. Hieran lassen sich in ganz besonderem Maße Fragen der visuellen Kulturen des Affektiven entwickeln.2 Es wird an dem Relief zu zeigen sein, auf welchen unterschiedlichen Ebenen Affektdarstellungen medialisiert werden können. In dieser Perspektive wird besonders das Wechselverhältnis von Marmorbild und anspruchsvoller Inschrift berücksichtigt und überprüft werden. 1

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Zu dem Relief vgl. Ferré-Vallancien, Rose-Marie: De la théâtralité des images. L’exemple du retable du Portement de croix de Francesco Laurana pour le roi René (1478), in: Les arts et les lettres en Provence au temps du roi René. Hrsg. von Chantal Connochie-Bourgne. Aix-en-Provence 2013 (Senefiance 59), S. 197–208; Mognetti, Elisabeth: Retour sur l’oeuvre de Francesco Laurana en Provence, in: Scultura meridionale in età moderna nei suoi rapporti con la circolazione mediterranea. Hrsg. von Letizia Gaeta. Galatina 2007 (Saggi e testi 34), Bd. I, S. 41–68; Hagmajer, Matylda: Le retable du Portement de Croix de Francesco Laurana et ses vicissitudes, in: Histoire de l’art 54 (2004), S. 139–146; Kruft, Hanno-Walter: Francesco Laurana. Ein Bildhauer der Frührenaissance. München 1995, S. 176–186 mit Abdruck der Primärquellen auf S. 401f. Grundsätzlich zum Thema der Affekte in der Kunst vgl. »Affektenlehre, 2. Kunst«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. I, Sp. 88–90, hier Sp. 88; »Affekt«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. I, S. 16–48; »Gefühl und Einfühlung«, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, S. 138–140 sowie zusammenfassend Rehm, Ulrich: Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung. München / Berlin 2002, S. 65–68.

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1  Francesco Laurana, Kreuz­tragung, 1478, Marmor, 248 × 289 cm, Avignon, St-Didier.

Eine politische Stiftung Francesco Lauranas Relief misst 248 × 289 cm und weist an seiner größten Erhebung eine Tiefe von 45 cm auf. Mit einer Gesamtfläche von 7 qm dürfte es eines der größten Altar­ reliefs der Frührenaissance sein. Es war ursprünglich farbig gefasst3 und ist heute in der Kirche St-Didier in Avignon aufgestellt, in einer Seitenkapelle, die es zu sprengen scheint. Material, Größe, künstlerische Qualität und eine ausführliche Inschrift zeugen von einem illustren Auftragshintergrund. René von Anjou, der neben vielen Titeln die des Herzog von Lothringen, Graf von Anjou und der Provence sowie des Königs von Neapel führte, hatte das Relief 1478 bei Francesco Laurana für den Hochaltar der Zölestinen in Avignon in

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Hagmajer 2004 (wie Anm. 1), S. 144 mit Nachweisen.

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Auftrag gegeben, wo es einst aufgestellt war, bevor es nach St-Didier gelangte.4 Das Relief bildete das Zentrum eines größeren Altaraufbaus, der über Schreinflügel, einen Vorhang sowie ein Tabernakel mit der Eucharistie verfügte.5 Die Église des Céléstins in Avignon war seit ihrer Erbauung ein politischer Ort: Zum einen waren die Zölestinen unmittelbar mit dem Papsttum verknüpft, da sie von Petrus von Murrone, dem späteren Papst Coelestin V., gegründet wurden. Zugehörig der Benediktinerregel, war das Leben der eremitischen Gemeinschaft der Zölestinen durch vollkommene individuelle Armut, strikte Fastenregeln und strenge Bußübungen sowie Gottesdienste und Andachten zu Tages- und Nachtzeiten gekennzeichnet.6 Das Kirchengebäude in Avignon wurde auf Initiative des französischen Königs Karl VI. und des letzten avi­ gnonesischen Papstes Clemens VII. seit 1394/1395 über dem städtischen Armenfriedhof errichtet.7 Der Standort war symbolisch stark besetzt, da sich dort im Jahre 1387 der jung verstorbene Pierre de Luxembourg als Geste der humilitas hatte bestatten lassen. Pierre de Luxembourg war mit dem französischen Königshaus verwandt, wurde von Gegenpapst Clemens VII. sehr gefördert und hatte zuletzt Kardinalswürden inne. Bereits zu Lebzeiten war er für seine asketische Lebensform verehrt worden, nach seinem Tod hatte sich an seinem Grab eine Vielzahl von Wundern ereignet. Als letzter Gründung des exilierten Papsttums und einziger des französischen Königshauses in Avignon kommt der Zölestinenkirche in Avignon ein besonderer Stellenwert zu, welcher sie schon bald zu einem wichtigen Ort der aristokratischen Repräsentation werden ließ.8 Nicht nur wurde das Grab des Pierre de Luxembourg nach Fertigstellung in die Kirche transloziert, auch das Grab des Gegenpapstes Clemens VII. wurde hier errichtet. René von Anjou engagierte sich ganz besonders in der Kirche der Zölestinen: Bereits 1476 schenkten er und seine Gattin dem Konvent ein Reliquiar mit einem Fragment des Hei­ ligen Kreuzes, das sie aus der Kathedrale von Marseille erhalten hatten, welches der Tra­ dition nach durch den Heiligen Lazarus dorthin gelangt war und mithin über eine einwandfreie Provenienz verfügte.9 Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, 4

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Zu René d’Anjou vgl. Ferré, Rose-Marie: René d’Anjou et les arts. Le jeu des mots et des images. Turnhout 2012 (Culture et société médiévales 23); Bouchet, Florence (Hrsg.): René d’Anjou, écrivain et mécène (1409–1480). Akten des internationalen Kolloquiums an der Université de Toulouse 2 Le Mirail 22.–24. Januar 2009. Turnhout 2011 (Texte, codex & contexte 13), dort auch zum Verhältnis von Francesco ­Laurana und René d’Anjou: Bock, Nicolas: Médailles et humanisme. René d’Anjou et la diplomatie artistique en Italie, S. 159–177; Le roi René en son temps. Francesco Laurana, sculpteur du roi René en Provence (Ausst.-Kat. Avignon, Musée du Petit Palais). Avignon 1981. Ferré-Vallencien 2013 (wie Anm. 1), S. 206 mit Nachweisen. »Coelestiner, 1. C. (Damianisten)«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. III, Sp. 9–11. Zu den Zölestinen in Avignon und der Kirche vgl. Ferré 2012 (wie in Anm. 4), S. 269f. mit neuerer Literatur sowie grundlegend Comte, Sonia: Une implantation tardive en milieu urbain: les Célestins à Avignon à la fin du Moyen Âge, in: Histoire médiévale et archéologie 7 (1996), S. 157–170; Comte, Sonia: Les célestins, le roi et le pape: les monastères d’Avignon et de Gentilly et le pouvoir, in: Provence Historique 46 (1996), 184, S. 229–251 und Borchardt, Karl: Die Cölestiner: Eine Mönchsgemeinschaft des späteren Mittelalters. Husum 2006 (Historische Studien 488). Ferré-Vallencien 2013 (wie Anm. 1), S. 197. Nachweis bei Ferré 2012 (wie Anm. 4), S. 265f. sowie Ferré-Vallencien 2013 (wie Anm. 1), S. 198, Anm. 5.

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dass der lokal hochverehrte Pierre de Luxembourg vor allem für seine Christusvision in Châteauneuf-du-Pape berühmt war und eine große Devotion für die Passion gehegt hatte,10 so dass die Reliquienstiftung Renés auf fruchtbaren Boden fiel. Beide, René und Pierre de Luxembourg, verehrten in ganz besonderem Maße das Kreuz Christi. Die kostbare Reliqui­e dürfte auch den Grund für die nur zwei Jahre später erfolgte Stiftung des Marmorreliefs und die Wahl des Themas geliefert haben, erhielt das Kreuzfragment doch durch das marmorne Relief eine narrative Einbettung und wirkungsmächtige Aktualisierung, da das Relie­f in großem Maßstab das Kreuz Christi zeigte, welches das Bildgeschehen weitgehend dominierte. Das monumentale Relief war von Renés Enkel Charles du Maine mit einer anspruchsvollen Inschrift versehen worden, die äußerst aufschlussreich hinsichtlich Auftrags­ geschichte, Funktionszuweisung und Rezeptionsvorgabe ist: Siciludum regis hec sunt monimenta renati iusserat hec condam fieri que karolus heres. rex pius absolvi voluit que marmora cernis. / tristia cum gemitu cristi spectacula euntis ad mortem liceat vobis spectare fideles. cogitur ecce piis humeris cesusque cruentus ferre cru/cem lassus qua crimina nostra ferantur sacrilegasque manus iudee gentis inique. discite dura pati cunctosque subire labores discite ­cristicole / memores que estote dolorum quos deus ecce tulit sic vos licet esse ­beatos. anno dni nri ihv xri. m. cccc. l. xxx. i (Dies ist ein Monument von René, des Königs der Sizilier; er befahl einst, dass es errichtet werde; es war der Wille von Charles, seinem Erben, dem frommen König, dass es vollendet werde; Du siehst es hier als Werk von Marmor. Das traurige Schau­spiel von Christus, wie er mit Stöhnen dem Tode entgegengeht, sei euch hier zu beschauen vergönnt, ihr Gläubigen. Seht, geschlagen, blutend, ist er gezwungen, in Ermattung das Kreuz auf seinen frommen Schultern zu tragen, womit unsere Sünden getilgt werden sollen, und die frevlerischen Gewalttaten des ruchlosen Volkes der Juden zu erleiden. Lernt, oh ihr Christen, Pein zu erdulden und alle Mühsal auf sich zu nehmen, und behaltet im Gedächtnis die Schmerzen, die – seht! – Gott e­ rlitten hat. So ist (es) euch vergönnt, selig zu sein. Im Jahre unseres Herrn Jesus Christus 1481.)11

Bisher wurde in die Deutung des Reliefs zwar die Stiftung der Kreuzreliquie, jedoch nicht die Tatsache einbezogen, dass René von Anjou auch Titularkönig von Jerusalem war.12 Auch nach dem Verlust des Königreichs Jerusalem gehörte er der neapolitanischen Linie der Thronprätendenten an, was in unserem Zusammenhang nicht ganz unwichtig erscheint: Immerhin verweist das erste Wort der Inschrift »Siciludum Regis«, König der Sizilier, unmittelbar auf die Ansprüche der Anjou auf das Königreich Sizilien und damit gleichzeitig auf Jerusalem. Damit wird jedoch nicht allein politische Führung artikuliert, sondern zugleich, wie ich denke, die Authentizität der von René und seiner Gattin kurz zuvor für dieselbe Kirche gestifteten Reliquie thematisiert.

10 Dazu Hagmajer 2004 (wie Anm. 1), S. 140. 11 Die Übersetzung der Inschrift verdanke ich Alexander Estis. 12 Zu René als politischer Person und König von Neapel, Sizilien und Jerusalem vgl. Ferré 2012 (wie Anm. 4), v. a. S. 81f.

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Eine Reliquie dieser Prominenz und Exklusivität erforderte eine angemessene Präsentation, aber auch eine geeignete Kontextualisierung: Mit der Stiftung des marmornen Hochaltarbildes für die Église des Céléstins wird der kostbaren Kreuzreliquie ein geeigneter inhaltlicher wie formaler Referenzpunkt gegeben. Der Künstler bediente sich bei der Gestaltung des Reliefs nicht nur zeitgemäßer Bildstrategien, sondern berücksichtigte auch die Exklusivität der Aufstellung und den Status des Auftraggebers. Es ist das Argument der auctoritas in doppelter Hinsicht, das hier den Erwartungshorizont an die Qualitäten und die Funktion des marmornen Retabels definiert, denn es betrifft Reliquie und Auftrag­geber zu gleichen Teilen. Autorität tritt nicht nur als Frage von decorum auf, Autorität wird durch das Medium Bild erst erzeugt.13 In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass Francesco Laurana über Wappen und Referenzen an die Antike als Propagator königlicher Bild­politik auftritt: Rechts und links des Hauptbildes waren ursprünglich Skulpturen aufgestellt, die den Begründer des Zölestinerordens, den späteren Papst Coelestin V., sowie Pierre de Luxembourg zeigen. Diese Figuren, die verloren sind und im 19. Jahrhundert ersetzt wurden, belegen durch die Heiligenauswahl sehr konkrete dynastische und politische Ansprüche und Überschreibungen, die mit dem Hochaltarretabel artikuliert werden sollten, wofür auch die rechts und links angebrachten Wappen des René von Anjou und seiner Gemahlin Jeanne de Laval zeugen.

Theatralität und Medium Das monumentale Marmorrelief hat in der Forschung vor allem hinsichtlich seiner unklaren Ikonographie, die eine Überblendung zweier Sujets darzustellen scheint, Beachtung gefunden: die Verschränkung der Kreuztragung Christi und der Ohnmacht Mariens, von denen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten im biblischen Passionsgeschehen berichtet wird.14 Es ist vor allem den Forschungen von Rose-Marie Ferré zu verdanken, dass neben dem im 15. Jahrhundert verbreiteten Pseudo-Evangelium des Nikodemus eine weitere literarische Quelle für die ikonographische Auffälligkeit gefunden wurde: Sie konnte zeigen, dass es im Bereich der französischen Mysterienspiele eine wichtige Vorlage für die Konzeption des Reliefs gibt, das berühmte Passionsspiel Mystère de la Passion von Arnould Gréban, welches 1450/1455 uraufgeführt wurde und in vielen illuminierten Manuskripten verbreitet war. Das Mysterienspiel umfasst knapp 35.000 Verse, sieht 224 Personen vor und ist auf 13 Es ist festzustellen, dass Autorität wechselseitig entsteht: Gabriele Wimböck hat herausgearbeitet, dass in der Frühen Neuzeit Autorität zunehmend medial vermittelt wurde, Wimböck, Gabriele: Die Autorität des Bildes. Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit, in: Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes. Hrsg. von Frank Büttner u. dies. Münster 2004, S. 9–41, hier S. 16–18; Heinen, Ulrich: Argument – Kunst – Affekt. Bildverständnisse einer Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Die Frühe Neuzeit als Epoche. Hrsg. von Helmut Neuhaus. München 2009 (Historische Zeitschrift, Beiheft, 49), S. 165–234, hier S. 217. 14 Damit setzt sich v. a. Ferré 2012 (wie Anm. 4), S. 273f. sowie Ferré-Vallancien 2013 (wie Anm. 1), S. 198f. auseinander.

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eine Dauer von vier Tagen konzipiert. Es ist überliefert, dass König René einer Aufführung des Spiels im Jahre 1473 beiwohnte. 15 Bereits hier sei jedoch angedeutet, dass die sogenannte unklare Ikonographie vielmehr darauf hinweist, dass es sich nicht so sehr um die bildliche Repräsentation einer stringenten Erzählung, als vielmehr um eine gattungsmäßig differente Bildlösung handeln dürfte, die nicht allein unter dem Aspekt der Ikonographie diskutiert werden kann. Das Relief macht einen wesentlich komplexeren Reflexionsrahmen auf, als mit der Benennung der literarischen Vorlage abgetan werden könnte. Nicht so sehr der Nachweis, dass Francesco Lauranas Relief das mehrstimmige, volkreiche Mysterienspiel zugrunde liegt oder die Entnahme und Übersetzung von literarischen Zitaten in das andere Medium sollen hier interessieren. Vielmehr dürfte das Mysterienspiel ein Schlüssel dafür sein, die spezifische Konzeption des Reliefs in Teilen zu erklären:16 Lebensgröße der Figuren, differenzierte Tiefenräumlichkeit und dialogische Interaktion sind dabei Mittel des skulptu­ ralen Mediums, die Form des Mysterienspiels zu reflektieren. Gerade die Tatsache, dass das Relief ursprünglich auf dem Hochaltar stand, über eine Schreinarchitektur mit verschließbaren Flügeln verfügte sowie mit einem Vorhang versehen war, deutet auf die besondere »Theatralität«, die mit dem Altarretabel medialisiert wird. Es gelingt dem Relief, das Geschehen für den Betrachter im Medium des Steins zu aktualisieren und auf Dauer zu fixieren. Damit vermag das Relief – im Gegensatz zu dem theatralen Medium – die emotio­ nale Reaktion der Betrachter auf das Geschehen zu wiederholen und zu verstetigen. Dies ist besonders vor dem Hintergrund der langen Aufführungsdauer der Mysterienspiel-Vorlage von vier Tagen zu betonen. Was Francesco Laurana in seinem Relief aufzeigt, ist die Tatsache, dass er mit diesem Werk ein außergewöhnlich anspruchsvolles, vor allem aber raumgreifendes und mit lebens­ großen Figuren ausgestattetes marmornes Bild zu schaffen versteht. Damit ist vor allem der Umstand angesprochen, dass das verwendete Material in der Zeit für die Gattung keineswegs üblich ist, ebenso wenig wie der monumentale Größenmaßstab, der dem Bildhauer ganz besondere Fertigkeiten abverlangte. Francesco Laurana musste nicht nur das Materia­l beherrschen, die tiefenräumliche Staffelung und die bildgemäße Perspektive berücksichtigen, sondern auch die Anbindung an den Betrachterraum gewährleisten – und das alles in einem Marmorrelief in monumentalem Maßstab. Die strukturelle Nähe des plastischen Kastenraumes zu den zeitgenössisch diskutierten Bühnenprospekten und die damit ver15 Ferré-Vallancien 2013 (wie Anm. 1), S. 202f. Interessanterweise war Arnould Grébans Bruder Simon Sekretär bei Charles IV. von Maine, dem Vater von Charles V. von Maine, der die Inschrift des Retabels in Auftrag gab. 16 Zum Zusammenhang von Theaterpraxis, Theatralität und bildender Kunst vgl. Aurenhammer, Hans u. Daniela Bohde (Hrsg.): Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit. Bern 2015 (Vestigia bibliae 32/33); Fischer-Lichte, Erika [u.a.] (Hrsg.): Theater und Fest in Europa. Perspektiven von Identität und Gemeinschaft. Tübingen / Basel 2012 (Theatralität 11); Eck, Caroline van u. Stijn Bussels (Hrsg.): Theatricality in early modern art and architecture. Chichester 2011 (Art history special issues 7); Fischer-Lichte, Erika u. Matthias Warstat (Hrsg.): Staging festivity. Theater und Fest in Europa. Tübingen [u.a.] 2009.

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2  Francesco Laurana, Kreuz­tragung, Detail (wie Abb. 1): Hintergrund mit Ansicht Jerusalems.

bundene Aufladung des Reliefs als szenische Repräsentation seien hier nur angedeutet: Laurana nutzt das seit Donatello für eine skizzenhafte Andeutung von perspektivischer Räumlichkeit geläufige rilievo schiacciato, um im Hintergrund Jerusalem als historische und räumliche Referenz zu evozieren – nicht als mimetisch getreue Wiedergabe (Abb. 2).17 Gerade die ausgesprochene Flachheit des Hintergrundes und der Verzicht auf eine zwischen Hochrelieffiguren und rilievo schiacciato vermittelnde Ebene lassen den szenischen Charakter des Reliefs besonders hervortreten. Bedeutend sind in diesem Zusammenhang die expliziten Überschreitungen der Hochrelieffiguren, die den narrativen Raum in den Raum des Betrachters erweitern: Sowohl auf der Seite der Mariengruppe als auch auf derjenigen Christi übertreten die jeweils äußeren Figuren die begrenzenden Pilaster. Der Überschreitung der vorderen Bildebene kommt dabei zudem der Charakter einer Bewegung in den Betrachterraum hinein und einer ästhetischen Verlebendigung der Figuren zu. 17 Francesco Lauranas Hintergrundgestaltung ist nicht mimetisch an den bekannten Darstellungen Jerusalems orientiert, sondern muss als Referenz und wirkungsästhetische Folie gelesen werden: Kruft 1995 (wie in Anm. 1), S. 181, hat zu Recht auf die Abweichungen zu bestehenden Stadtveduten Jerusalems hingewiesen und setzt dies argumentativ in eine Spannung dazu, dass König René selbst – als König von Jerusalem – über topographisch exakte Prospekte der Stadt verfügte (London, British Museum, Cod. Edgerton 1070, fol. 5 r).

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3  Alfonso Lombardi, Beweinungsgruppe, um 1524, Terrakotta, Maße unbekannt, Bologna, San Pietro.

4  Gaudenzio Ferrari, Monte sacro, Detail: ­K reuztragung, frühes 16. Jh., Terrakotta, Maße unbekannt, San Vivaldo.

Im Hinblick auf Farbigkeit, Monumentalität und Unmittelbarkeit der Betrachter­ ansprache sind die italienischen Beweinungsgruppen und sacri monti wichtige Referenzgattungen für Lauranas Relief, auch wenn diese nicht aus Marmor, sondern aus dem gefügigeren Material Terrakotta gefertigt sind (Abb. 3 und 4).18 Ihnen ist gemein, dass in ihnen lebensgroße, den Gläubigen direkt ansehende und ansprechende Figuren eingesetzt sind. In dieser Hinsicht verfügt das Relief über wirkungsästhetische Strategien, die in den Beweinungsgruppen eine große Blüte hatten und rund 20 Jahre später in den begehbaren Jerusalemsevokationen der sacri monti von Varallo, San Vivaldo und vielen anderen konsequent weitergeführt werden. Hier teilen die Gläubigen den Raum mit plastischen Figuren, die ihnen das körperlich-emotionale Mitfühlen mit Christi Passion wie lebendig vor Augen stellen. Die Schwierigkeit, in dem anspruchsvollen Material Marmor Expressivität und Handlungsdichte zu erzeugen, ist der künstlerische Anspruch, mit dem sich Francesco Laurana in seinem Relief auseinandersetzt. Ein grundsätzlicher Unterschied zu den sacri monti ist dabei, dass sich der Gläubige nicht unmittelbar mit den Figuren der Passions­ geschichte den Raum teilt, sondern diese über dem Altar in einen Rahmen gebannt und dem direkten Zugriff und der haptischen Annäherung entzogen sind. Das Relief verwendet als zusätzliche Überzeugungstechnik gegenüber den lebensgroßen Heilsstationen eine prominent platzierte Inschrift, die den Betrachter direkt adressiert und auf unterschied­ lichen Ebenen involviert. 18 Grundlegend Longo, Pier Giorgio u. Danilo Zardin (Hrsg.): I Sacri Monti. Bibliografia italiana. Ponzano Monferrato 2010 (Bibliografia dei sacri monti, calvari e complessi devozionali 2); Quietzsch, Harald: Passion in der Landschaft. Deutschsprachige Bibliographie. Hrsg. von Johannes Andresen. Ponzano Mon­ ferrato 2007 (Bibliografia dei sacri monti, calvari e complessi devozionali 1); Zanzi, Luigi: Sacri monti e dintorni. Studi sulla cultura religiosa e artistica della Controriforma. Mailand 2005; Landgraf, Gabriele: Die Sacri Monti im Piemont und in der Lombardei. Zwischen Wirklichkeitsillusion und Einbeziehung der Primärrealität. Frankfurt am Main [u.a.] 2000.

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Affekte zwischen Relief und Inschrift Der mediale und materielle Rahmen, in dem Francesco Lauranas spezifische Auseinandersetzung mit dem Problem der Evokation und Übertragung von Affekten zu verorten ist, bietet sich ganz besonders für die Fragestellung nach den visuellen Kulturen des Affektiven an. Gerade aufgrund der Singularität seiner künstlerischen Lösung eines farbig gefassten monumentalen Marmorreliefs sowie der Prominenz seines Auftraggebers und Aufstellungsortes bietet das Relief einen paradigmatischen Zugriff auf den Komplex des frühneuzeitlichen Künstlerwissens, auf Kunsttheorie und Wirkungsästhetik, lässt aber auch Schlüsse auf das soziale Entstehungsumfeld und auf kulturelle Codierungen von Affekten zu. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass auch hier die wirkmächtige antike und – darauf auf­ bauend – scholastische Konzeption des bildhaften Denkens und Erinnerns eine zentrale Rolle spielt. So führt Thomas von Aquin in seinem Aristoteles-Kommentar die phantasmat­a an, die sogar teilweise als pictura bezeichnet werden. Bei Bonaventura wird explizit auf die affektive Wirkung von Bildern verwiesen: »Plus enim excitatur affectus noster per ea quae videt quam per ea quae audit« (Denn unser Affekt wird mehr durch das erregt, was wir sehen, als durch das, was wir hören).19 Zu klären wäre, ob es in Lauranas Konzeption über das materiell in Marmor vor Augen gestellte Bild weitere Bilder gibt: Es wäre hier an die Evokation innerer Bilder zu denken, die zum einen über die Inschrift aufgerufen, jedoch auch über ein anderes Medium, das des liturgischen Spiels, vermittelt werden. Dabei wäre die Frage zu klären, ob sich die in Francesco Lauranas Werk dargestellten Affekte von den Affekten unterscheiden, die die Inschrift evoziert. Es ist auffällig, dass auch innerbildlich die Gruppen hinter der Kreuztragung (Abb. 5) und hinter der ohnmächtigen Maria hinsichtlich der dargestellten Affekte stark differieren (Abb. 6). Francesco Laurana evoziert mit seinen künstlerischen Möglichkeiten Affekte auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Graden: So dürfte er das Hervorrufen heftiger Gemütsbewegungen und abstoßender Gefühle vor den verzerrten Groteskköpfen und eine intime, reflektierte Trauer vor der Mariengruppe intendiert haben. Die weiblichen Gesichter hinter Maria wirken idealisiert, fast unbewegt, ja maskenhaft. Es ist aufgrund von Konventionen in der zeitgenössischen Porträtpraxis anzunehmen, dass die Frauengesichter gerade durch ihre spezifische Negierung und Eindämmung der Affekte als Referenz auf individuelle Porträts gemeint sein könnten. Der Bereich der Affektdarstellung ist bei Francesco Laurana eng verknüpft mit der Frage nach Künstlerwissen und künstlerischer Praxis: Seine Kenntnis der spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten, aber auch mimischen Werte des weiblichen Gesichts lässt sich an den von ihm gefertigten Lebend- und Toten-

19 Bonaventura: Commentaria in quatuor libros Sententiarum Magistri Petri Lombardi. 4 Bde., in: ders.: Opera omnia. 10 Bde. Quaracchi 1882–1902, Bd. III, S. 203 [lib. III, dist. IX, art. I, quaest. I]. Dazu grundlegend Büttner, Frank: Vergegenwärtigung und Affekte in der Bildauffassung des späten 13. Jahrhundert, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg 04.–07.01.1996. Hrsg. von Wolfgang Frühwald [u.a.].Tübingen 1998, S. 195–214, v. a. S. 203f.

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5  Francesco Laurana, Kreuztragung, Detail (wie Abb. 1): Gruppe hinter Kreuztragung.

6  Francesco Laurana, Kreuztragung, Detail (wie Abb. 1): Gruppe hinter Mariä Ohnmacht.

masken nachvollziehen (Abb. 7).20 In den Masken reduziert Francesco Laurana den Ausdruck der individuellen Gesichtszüge zugunsten einer stark idealisierenden Darstellungsweise auf ein Minimum, gleicht sie einem Antikenideal an. Es kann vermutet werden, dass sowohl das Studium antiker Gesichtsmasken als auch die Praxis der Maskenanfertigung die Grundlagen für Francesco Lauranas Zugriff auf die Darstellung und Modellierung weiblicher Affektdarstellung bieten. Versuchsweise soll somit von einer reflexiven Darstellung von Trauer gesprochen werden, die das Gefühl der überbordenden Verzweiflung angesichts des leidenden Christus sublimiert und zähmt. Demgegenüber bedienen sich die stark verzerrten Gesichter hinter der Kreuztragung der Topik von Affekttypen und liefern ein weites Feld von codierten Emotionsdarstellungen. Insgesamt ist dabei von einem synthetisierenden Verhältnis der Affekte auszugehen, da durch das kontrapostische Gegenüberstellen die einen Gesichter umso verzerrter, die anderen umso idealisierter erscheinen. Zugrundeliegend ist ein rhetorisches Verständnis des Kunstwerkes, vor allem was die Kategorie der Angemessenheit des Affektes betrifft.21 Was das damit verknüpfte Problem 20 De Mérindol, Christian: Essai sur la signification des masques de femme attribués à Laurana, in: Bulletin de la Société Nationale des Antiquaires de France (1980/82), S. 317–334. 21 Der locus classicus ist hier Horaz’ Zitat aus De arte poetica, der den feinen Grat beschreibt, den es zwischen Mitgefühl, Langeweile und Lächerlichkeit zu beachten gibt: »si vis me flere, dolendum est/primum ipsi tibi: tum tua me infortunia laedent, / Telephe vel Peleu; male si mandata loqueris, / aut dormitabo aut ridebo.« (Willst du mich zu Tränen nötigen, so mußt du selbst zuvor das Leid empfinden; nur dann wird

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7  Francesco Laurana, Weibliche Gesichtsmaske, 4. Viertel 15. Jh., Marmor, 25 × 13 cm, Chambéry, Musée des Beaux-Arts.

des Künstlerwissens der Affektdarstellung anbetrifft, sei darauf verwiesen, dass physiognomische Traktate seit dem 13. Jahrhundert sehr verbreitet waren und stark rezipiert wurden. Genannt seien nur die Schriften des Michael Scotus, Albertus Magnus und Pietro d’Aba­no.22 Dabei wurde die Fähigkeit, Emotionen möglichst wirklichkeitsgetreu darzustellen, spä­ testens seit Filippo Villanis Chronik von Florenz (1381/1382) zu dem entscheidenden Kriterium für Naturähnlichkeit.23 In diesem Sinne sind die Affekte leicht dechiffrierbar dargestellt und vermitteln moralisches Handlungswissen an den Betrachter. Aus diesem Grund ist von einem kontrapostisch komponierten Affektbild auszugehen, in dem Maria die positive Rezeptionsvorgabe für den – literaten oder illiteraten – Betrachter bietet, verstärkt durch die Handlungsanweisungen der Inschrift. Eine Besonderheit ist dabei, dass die Inschrifttafel als wichtiges Transfermedium der Handlungs- und Sinnzuweisung fungiert, da sie Emotionen aufruft, steuert und bewertet, die sich auf visueller Ebene in den Affekten der marmornen Figuren wiederfinden. Damit kommt der Inschrift innerhalb des Werks ein besonderer Stellenwert zu und es stellt sich die mich dein Unglück rühren, mein Telephus, mein Peleus. Ward Ungeschicktes dir in den Mund gelegt, so fang’ ich an zu gähnen oder zu lachen.) (De arte poetica liber, Z. 102–105, zitiert nach Horaz: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch. Hrsg. von Hans Färber u. Wilhelm Schöne. München 1957, Teil II, S. 236 f.) 22 Reißer, Ulrich: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1997, S. 48f. 23 Reißer 1997 (wie Anm. 22), S. 100–101.

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Frage, inwiefern sie in einem spannungsvollen oder ergänzenden Verhältnis zu Lauranas plastischem Bild steht. Handelt es sich bei dem Gesamtkomplex um ein Werk, das allein über die Synthetisierung von Text und Bild Emotionen und Affekte vermittelt? Was sind die gemeinsamen, welche die gattungsgebundenen Strategien? Bietet das Werk durch den spezifischen Zugriff der differenten Medien Bild und Text einen neuen Ansatzpunkt für die Frage nach der Wirkungsweise der visuellen Kulturen des Affektiven, zumal ihm – wie zu zeigen sein wird – als ein weiteres Medium Strategien des liturgischen Spiels eingeschrieben sind? Als eine der wenigen komplexeren Inschriften der Frühen Neuzeit eröffnet die Inschrift den historischen Verständnishorizont des Reliefs. Dabei leistet sie viel: zum einen benennt sie René von Anjou als Auftraggeber und seinen Erben Charles von Maine als Vollender des Werkes, zudem gibt sie mit der Nennung des königlichen Titels und der Jahreszahl 1481 einen entscheidenden Hinweis auf eine politische Lesart des Reliefs. Das Werk steht an einer historischen Naht, es wird mit René von Anjou noch der einstige Machthaber benannt, der 1480 starb und dessen Familienzweig im Jahre 1481 mit dem überraschenden Tod des Charles von Maine erlosch.24 Die Inschrift benennt auch den Inhalt der Szene, die Kreuztragung Christi. Das, was sie nicht nennt, ist die Szene der Ohnmacht Mariens, die in zeitgenössischen Quellen, in denen es um die Auftragsvergabe und Abrechnung geht, fast ausschließlich Erwähnung findet: »l’ouvraige d’ymaigerie de notre dame de l’espasme«.25 Es kann vermutet werden, dass die Prominenz der Darstellung Mariens und ihrer Ohnmacht in Lauranas Relief auch den zeitgleichen Debatten um die compassio der Gottesmutter verpflichtet ist.26 24 In diesem Jahr fiel die Provence nach 200 Jahren qua Testament an die französische Krone unter ­Ludwig XI.; zuvor war sie dem süditalienischen Königreich und der Krone von Sizilien zugehörig. 25 Diese zweite Szene, die als »Bildwerk unserer lieben Frau der Qualen« bezeichnet wird, ist der Grund dafür, dass die Forschung hier das Problem der Uneindeutigkeit und Doppeldeutigkeit konstatierte, die bis hin zur Abwertung des gesamten Reliefs führte. Hanno-Walter Kruft etwa urteilte scharf über den zu großen Werkstattanteil: »Die Kreuztragung in Avignon lässt eine gewisse Ratlosigkeit zurück. […] Man sieht an dem Werk, wie Laurana […] künstlerische Konzepte in der Ausführung entgleiten konnten.« (Kruft 1995 (wie Anm. 1), S. 185). Die Tatsache, dass sich die Inschrift vor allem auf die Kreuztragung konzentriert, die historischen Dokumente, die den Auftrag dokumentieren, jedoch auf die Ohnmacht Mariens, könnte darauf schließen lassen, dass es aufgrund des Todes des Auftraggebers zu einem Konzeptionswechsel gekommen sein muss. Folgt man dieser Hypothese, dann hätte sich mit Renés Tod, der die Ohnmacht Mariens in den Mittelpunkt stellen wollte, was seiner spezifischen Devotion entsprochen haben dürfte, die ursprüngliche Wirkungsintention verschoben. Der Neffe, Charles von Maine, hätte das Medium der Schrift auf eine Weise eingesetzt, dass die Ausdeutung des Reliefs über die Inschrift vorgenommen würde und damit für eine Verschiebung des thematischen Fokus hin auf die Passion Christi gesorgt. Während in der Inschrift die durch Charles intendierte Funktion und Wirkung des Reliefs benannt wäre, würde die zunächst in den zeitgenössischen Quellen wiederzufindende Bezeichnung des Werkes als ­Ohnmacht Mariens hingegen René von Anjous Intention zeigen. Diese kaum zu beweisenden Annahmen einer solchen Verschiebung sollen hier jedoch vernachlässigt werden. 26 Das Monumentalrelief verfügt über eine ikonographische Nähe und strukturelle Analogie zu Raffaels rund 35 Jahre später entstandenem Werk des Spasimo di Sicilia für eine Kirche in Palermo, die dem glei­ chen, politisch bewegten Kulturkreis wie das Relief für René von Anjou angehört, dem nun unter der Herrschaft des Hauses Aragon stehenden Königreich Sizilien. Grundlegend zu Raffaels Gemälde Gardner von Teuffel, Christa: Raffaels römische Altarbilder: Aufstellung und Bestimmung, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 50 (1987), S. 1–45.

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Weniger ikonographische Uneindeutigkeiten oder Verschiebungen, sondern der Einsat­z der unterschiedlichen Medien machen Francesco Lauranas Relief zu einem für seine Zeit höchst unkonventionellen und formal wie gattungsmäßig progressiven Stück. Die Inschrift ist wie ein Lehrstück über die Funktion von sakralen Bildern konzipiert: 27 Ist es zunächst das Angebot des »Beschauens«, so folgen direkt die Anweisungen »seht«, »lernt«, »erinnert­« und wieder »seht«. Damit werden zentrale Inhalte und Probleme berührt, die im Rückgriff auf Horaz und die antike Rhetorik bekanntlich seit Gregor dem Großen, Bonaventura und anderen virulent waren. Die Inschrift bedient sich des rhetorischen Mittels der Steigerung. Explizit benennt sie die unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Reflexionsstufen, die über den edlen, kalten Marmor hervorgerufen werden: sehen, beschauen, erinnern, nachdenken, lernen. In der Summe bringt die dicht aufeinanderfolgende Reihung von Handlungsanweisungen und Betrachteransprachen nicht nur eine Steuerung des kollektiven (Nach-) Empfindens, sondern vor allem eine emotionale Verdichtung oder Aufladung, die sich bei der Betrachtung des Werkes einzustellen hat. Besonders die unterschiedlichen Arten, mit denen das Sehen umschrieben und umkreist wird – cernere, spectare bis zum zweimaligen deiktischen ecce – , dürfte im christlichen Kontext bedeutsam sein: Diese Technik der Steigerung über verwandte Begriffe, mit denen das Sehen beschrieben wird, findet sich etwa auch in der Textgrundlage der Noli me tangere-Szene, in der die Lexik um Sehen, Berühre­n und Erkennen kreist und unterschiedliche Semantiken des Visuellen aufgerufen werden.28 Barbara Baert hat auf die enge Verschränkung von Sehen – im Sinne von Betrachten, Bemerken, Erkennen – und Bewegung hingewiesen, die auch für das vorliegende Beispiel zentral sein dürfte, wird doch affektive Ansprache vor allem verwendet, um Mitfühlen, Erkennen und Nachahmen aufzurufen.29 Bedeutsamerweise lässt sich diese in der Inschrift verwendete Technik der Ansprache und Teilhabe in der zeitgenössischen Theaterpraxis wiederfinden: Strukturell ist das Adressieren der Gläubigen vor dem Relief mit der Ansprache des Proclamators vergleichbar, der in spätmittelalterlichen Mysterienspielen die Erzählerinstanz verkörperte und zu andächtigem Betrachten und Bedenken des Mysterienspiels aufrief. 30 Für unseren Zusammenhang ist dabei zentral, dass zwischen statisch-bildhaften Theaterszenen und dynamisch-narra­

27 Ferré 2012 (wie Anm. 4), S. 28f. beschäftigt sich überaus gewinnbringend mit dem Wechselverhältnis von Theater und Bildkünsten bei René d’Anjou in Bezug auf Spiritualität und Konstitution von memoria. 28 Bieringer, Reimund: ›They Have Taken Away My Lord‹: Text-Immanent Repetitions and Variations in John 20:1-18, in: Repetitions and Variations in the Forth Gospel: Style, Text, Interpretation. Hrsg. von Gilbert van Belle. Löwen 2008 (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium), S. 609–630. 29 Baert, Barbara: To touch with the gaze: noli me tangere and the iconic space. Oostakker 2011; dies.: An odour, a taste, a touch, impossible to describe: noli me tangere and the senses, in: Religion and the senses in early modern Europe. Hrsg. von Wietse de Boer u. Christine Göttler. Leiden [u.a.] 2013 (Intersections 26), S. 111–151. 30 Egidi, Margreth: Theatralität und Bild im spätmittelalterlichen Passionsspiel. Zum Verhältnis von Gewaltdarstellung und compassio, in: Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Hans Aurenhammer u. Daniela Bohde. Bern [u.a.] 2015 (Vestigia bibliae 32/33), S. 181–203, hier S. 190.

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tiven Passionsskulpturen Strukturanalogien bestehen,31 die für die ästhetische und affektregulierende Wirkung von Francesco Lauranas Relief wichtig sein dürften. Beide bieten sich verschränkende mediale Möglichkeiten an, über das Ansehen äußerer Bilder innere Bilder zu konstituieren. Der Gläubige gelangt dabei durch compassio und conformatio zu einer »verinnerlichenden Verkörperung und verkörperlichenden Verinnerlichung mittels Gestalthaftem, Szenischem, Anschaulichem«32. Fritz Oskar Schuppisser hat die wichtigsten Elemente spätmittelalterlicher Passions­ meditation herausgearbeitet,33 deren Hinzuziehung im Kontext der Zölestinenkirche in Avignon, die sich durch einen besonderen Zugang zur Spiritualität auszeichnet, durchaus sinnvoll ist. Nach diesem Schema wird zunächst das erinnernde Gedenken (rememoratio) angestoßen, es folgt eine kurze Danksagung (gratias agere), dann die affektive Teilnahme am Leiden Christi (compassio), dann das Gebet (oratio) und schließlich die Nachfolge Christi (imitatio).34 Damit sind die Hauptmerkmale spätmittelalterlicher Meditationslehre benannt, welche auf die seit Augustinus gängige theologische Lehre zurückgehen, nach der die menschliche Seele aus drei interagierenden Teilen besteht: memoria, intellectus und affectus.35 Diese Stufen der Gotteserkenntnis durch Erinnerung und Nachvollzug lassen sich auch auf die Inschrift des Marmorreliefs beziehen und dürften den Verständnishintergrund dafür abgeben, welche Affekte des Betrauerns und Mitfühlens evoziert werden sollen. Gerade auch auf lexikalischer Ebene sind die für die rememoratio wichtigen Techniken des Vor-Augen-Stellens mittels Imaginationskraft nah an der in der Inschrift gewählten Begrifflichkeit. An mehreren Stellen der Passionsliteratur wird zudem auf die Bedeutung einer Bildvorlage, einer imago, für die imaginatio des Leidens Christi und die erstrebenswerte conformatio des Gläubigen als einer körperlich-geistigen Angleichung hingewiesen. Das Insistieren der Inschrift auf dem Medium sowie dem Material Marmor und dem ihm zugewiesenen didaktischen Potenzial führt uns zu der Frage nach dem Status des Bildes und den spezifisch bildlichen Mitteln, derer sich Francesco Laurana bedient, um die Affekte in dem plastischen Bild darzustellen und vor dem Relief zu entfachen. Verstärkt wird die Betrachteransprache durch die Aktualisierung performativer Motive, die der zeitgenössischen Praxis des liturgischen Theaters entnommen sein dürften. Diese Annahme liegt nahe, wenn die Hochschätzung des Theaters am Hofe des René d’Anjou sowie das tatsächliche Erlebnis der Aufführung von Arnould Grébans Mysterienspiel einbezogen wer-

31 Egidi 2015 (wie Anm. 30), S. 193. 32 Kiening, Christian: Präsenz – Memoria – Performativität, in: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel. Hrsg. von Ingrid Kasten u. Erika Fischer-Lichte. Berlin / New York 2007, S. 139–168, hier S. 144. 33 Schuppisser, Fritz Oskar: Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio Moderna und bei den Augustinern, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Hrsg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 169–210. 34 Schuppisser 1993 (wie Anm. 33), S. 175f. 35 Schuppisser 1993 (wie Anm. 33), S. 174.

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den.36 Es ist bekannt, dass René d’Anjou selbst über die Möglichkeiten des visuellen und akustischen Erinnerns und Vergegenwärtigens spiritueller Erfahrung reflektierte.37 Dabei fungiert der Hintergrund, der in bestem rilievo schiacciato eine Vedute Jerusalems meint, als eine historisierende Folie, die nicht auf Authentizität abzielt, sondern auf ästhetische Übersteigerung der im Vordergrund stattfindenden christlichen Tragödie, die die Inschrift wortgewaltig unterstützt. In Francesco Lauranas Monumentalrelief haben wir damit in einem einzigen Werk zwei Modelle, Affekte zu generieren, einmal durch das Bild und einmal durch den Text der Inschrift. Beide Medien lassen sich mit dem Mysterienspiel verknüpfen, gehen jedoch darüber hinaus. Während die emotionale Betrachteransprache über visuelle Modi geschieht, wird die Memoria und damit eine rationale, mnemische Ebene über die Inschrift angesprochen, in der der Zugriff über das gelesene beziehungsweise laut verlesene Wort passiert. Maria ist in ihrer dargestellten Ohnmacht affektbeladenes Gegenbild Christi und Figur der gewünschten Betrachterreaktion, Christus ist Affektauslöser sowohl innerhalb des Bildes (ex negativo: die Schergen, ex positivo: Maria) als auch vor dem Bild. Die Entstehung des komplex komponierten Hochaltarensembles am Hofe des René d’Anjou ist dabei kein Zufall, sondern Ergebnis von intensiven Diskussionen über das emotionale, ästhetische und intellektuelle Potenzial der künstlerischen Medien und ihre Effekte für die erkenntnisund glaubensstiftende Memoria.38 Bild- und Textmedium verschränken sich gegenseitig. Dabei liegt der Fokus auf starker Affektdarstellung durch Kontrastästhetik und starker Affektauslösung durch eine eindringlich formulierte Inschrift, die durch Schlüsselbegriffe die Imagination des Betrachters stimuliert und zu einer starken emotionalen Reaktion führen soll. Passionsimagination und Affektsimulation profitieren von dem monumentalen Maßstab der Figuren und ihrer starken Farbigkeit, die den verblüffenden Effekt hat, kalte Marmorskulptur als geradezu lebendig und transgressiv wahrnehmen zu können – als tristia spectaculum.

Literaturverzeichnis Ästhetische Grundbegriffe. Hrsg. von Karlheinz Barck. 7 Bde. Stuttgart [u.a.] 2000–2010. Aurenhammer, Hans u. Daniela Bohde (Hrsg.): Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit. Bern 2015 (Vestigia bibliae 32/33). Baert, Barbara: To touch with the gaze: noli me tangere and the iconic space. Oostakker 2011. Baert, Barbara: An odour, a taste, a touch, impossible to describe: noli me tangere and the senses, in: Religion and the senses in early modern Europe. Hrsg. von Wietse de Boer u. Christine Göttler. Leiden [u.a.] 2013 (Intersections 26), S. 111–151.

36 Dazu Ferré, Rose-Marie: Arts éphémères et Antiquité à la cour de René d’Anjou, in: L’Antiquité entre Moyen Âge et Renaissance. L’Antiquité dans les livres produits au nord des Alpes entre 1350 et 1520. Hrsg. von Chrystèle Blondeau u. Marie Jacob. Paris 2011, S. 383–405. 37 Ferré 2012 (wie Anm. 4), S. 289. 38 Dazu grundlegend Ferré 2012 (wie Anm. 4), S. 287.

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HEILIGE IN »NAHDISTANZ« Die Figuren der lateinischen Kirchenväter Anton Sturms in der Wieskirche

Betritt der Besucher die Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland, kurz Wieskirche (erbaut 1745 bis 1754), wird sein Blick zunächst auf den reich dekorierten Hochaltar gelenkt, der den gesamten Chorraum einnimmt und das Ziel der Wallfahrer, die Figur eines gegeißelten Christus, in einer Nische im Sockelbereich inszeniert. Hier befindet sich das Zentrum der Andacht, zu welchem der Gläubige seine Bitten trägt und das auch der kunstinteressierte Kirchenbesucher als Erstes ansteuern wird. Zugleich ist es Ausgangspunkt für ein vielschichtiges theologisches Ausstattungsprogramm, das sich über den gesamten Kirchenraum erstreckt.1 Zu diesem gehören auch die vier Figuren der lateinischen Kirchenväter, die den ovalen Gemeinderaum zwischen dessen Doppelpfeilern auf Rocaille-Konsolen umstehen. (Taf. IV–VII) Naturgemäß und, das kann man sicher annehmen, bewusst gewollt fallen sie erst auf den zweiten Blick ins Auge. Räumlich separiert und hierdurch mit einem gewissen Eigengewicht versehen, flankieren sie dennoch als Repräsentanten der Kirche die Verehrung des Gnadenbildes des Gegeißelten und binden diese an deren Autorität zurück. Dieser ikonographisch-ikonologischen Funktion als primärem Aussagegehalt fügen die Wirkungsqualitäten der Figuren weitere Bedeutungsfacetten hinzu, die sich gewissermaßen erst im Zuge der ästhetischen Erfahrung erschließen. In diesem Zusammenhang spielen Affekte auf zwei Ebenen eine Rolle, die im Folgenden thematisiert werden sollen. So ist sowohl die spezifische Darstellung von affektiver Bewegung als Teil der skulpturalen Gestaltung zu betrachten, als auch deren Produktion und Modellierung auf Seiten der Betrachter. Beide hängen eng miteinander zusammen, sind jedoch komplexer verwoben als lediglich im Verbund eine einfache Affektübertragung anzustreben. Geschaffen wurden die Skulpturen 1754 vom Füssener Bildhauer Anton Sturm als Holzfiguren mit goldgehöhter Weißfassung.2 Auf der Nordseite des Gemeinderaums steht, 1 2

Hierzu und zum Folgenden vgl. auch meine Dissertation, die demnächst erscheinen wird. Zum Werk Sturms vgl. Jocher, Norbert: Vom klösterlichen Repräsentationsbedürfnis zur volksnahen Bildertheologie: Charakteristik der Sturm-Figuren, in: Anton Sturm 1690–1757. Bildhauer und Bürger in

Heilige in »Nahdistanz«

1  Gemeinderaum, Wieskirche, Nordseite, 18.08.2011, 07.58 Uhr.

von Osten her beginnend, die Figur des Gregor in päpstlichem Ornat mit Hirtenstab und der Taube des Heiligen Geistes. Ihr Pendant vor dem nordwestlichen Pfeilerpaar bildet Augustinus in bischöflichem Gewand, dem die Flammen seines brennenden Herzens aus der Brust schlagen.3 (Taf. VI und VII) Gegenüberliegend befindet sich auf der östlichen Seite Ambrosius als Bischof gekleidet und versehen mit einem Bienenkorb als Attribut, während Hieronymus vor dem südwestlichen Pfeilerpaar mit Kardinalshut und Kreuzstab auf einen Totenschädel hinabblickt, den er vor sich auf einem Codex hält.4 (Taf. VIII und Abb. 1) Auch den übrigen Figuren ist ein Codex beigefügt, den sie, wie auch ihren jeweils schräg in den Raum ausgreifenden Stab, mit elegant abgespreizter, höfisch anmutender Handhaltung fassen. Alle Skulpturen sind zwar dreiansichtig komponiert, jedoch vorzugsweise auf eine fron­ tale oder seitlich diagonale Betrachtung vom Gemeinderaum aus hin angelegt, in der sie die größte plastische Präsenz entfalten. Sie zeichnen sich durch einen tordierten Kontrapost mit starkem Hüftknick und zur Seite gedrehter Schrittstellung aus. Dies verleiht ihnen einen ausgeprägten, in seiner anatomischen Unmöglichkeit artifiziell wirkenden S-Schwung. Ein verfremdendes Moment stellen auch ihre proportional sehr klein gehaltenen Köpfe sowie die Überlängung ihrer Körper dar. Letztere wird zusätzlich von der Binnenmodellierung der überwiegend vertikal fallenden Falten ihrer stoffreichen Gewänder betont. Die

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Füssen. Hrsg. von der Stadt Füssen. Füssen 1990, S. 38–71; zu den Kirchenväterfiguren der Wies v. a. S. 65. Zur Zuschreibung vgl. Emmerling, Erwin: Zu Anton Sturms Arbeiten in der Wies, in: Anton Sturm 1690– 1757. Bildhauer und Bürger in Füssen. Hrsg. von der Stadt Füssen. Füssen 1990, S. 72–77. Zur Ikonographie des Augustinus vgl. »Augustinus von Hippo«, in: Lexikon der christlichen Ikonographie (LCI), Bd. V, Sp. 277–290, zum brennenden Herzen v. a. Sp. 283f. Zu derjenigen des Gregor vgl. »Gregor I. der Große«, in: LCI, Bd. VI, Sp. 432–441, zur Taube insbesondere Sp. 434 u. 436. Zur Ikonographie des Ambrosius vgl. »Ambrosius von Mailand«, in: LCI, Bd. V, Sp. 115–120, zum Bienenkorb v. a. Sp. 116 u.118. Zu derjenigen des Hieronymus vgl. »Hieronymus«, in: LCI, Bd. VI, Sp. 519– 529, zum Totenschädel insbesondere Sp. 520.

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Gesichter der Figuren mit symmetrisch gerollten Bärten zeigen markante Züge und ihr Blick, mit Ausnahme desjenigen des Hieronymus, ist visionär in die Ferne gerichtet.5

Individualisierung und Präsenz: Die Rolle der dargestellten religiösen Affekte Zusätzlich zu ihren Attributen wird jede der Figuren durch leichte Abweichungen in ihrer Mimik und Gestik individuell charakterisiert, die in Rückbindung an die jeweilige Legend­e eine eigene Ausprägung ihrer Verbindung zum Transzendenten und ihrer Ergriffenheit von Gott transportieren. So wendet Gregor seinen Kopf nach rechts der Taube des Heilige­n Geistes zu, welche gleichsam im Begriff ist, sich auf seiner Schulter niederzulassen.6 Allerdings schaut er diese nicht an, sondern richtet seinen verzückten Blick mit leicht geöffnetem Mund visionär in die Ferne. Der Empfang der Inspiration wird so als ein sich im Moment vollziehendes Ereignis geschildert und gewinnt dadurch an Lebendigkeit und Präsenz.7 Einen vergleichbaren Grad an Verzückung scheint auch sein Pendant des Augustinus zu erfahren, welcher mit geöffneten Lippen den Blick nach links in unbestimmte Ferne wendet. Als Zeichen seiner brennenden Gottesliebe lodern die Flammen seines Herzens aus der Brust, so dass auch hier die Verbundenheit mit dem Überirdischen als aktuales, ihn affektiv ergreifendes Geschehen gezeigt wird.8 Die Verschmelzung des religiösen Affekts mit dem Attribut, die sich in diesem Fall besonders anbietet, lässt die Rolle der Darstellung innerer Bewegung für die Individualisierung der Kirchenväter besonders augenfällig werden. Augustinus hält in diesem Falle nicht, wie sonst üblich, das brennende Herz gewissermaßen distanzierend in der Hand, sondern ist – ganz und gar ergriffen von brennender Gottesliebe – gleichsam mit diesem verschmolzen.9 Gegenüberliegend richtet auch Ambrosius visionär, jedoch ohne Ausdruck von Verzückung, den Blick empor. Vielmehr scheint er mit ernster Miene zu hören, was er im auffällig emporgehobenen, vom Faltenwurf von Rochett und Pluviale hinterfangenen Codex niederlegen wird.10 Der asymmetrisch weit nach rechts verschobene lange Bart sowie die leicht schwingende Kette mit dem bischöflichen Brustkreuz unterstreichen die Wendung seines Kopfes und suggerieren Bewegung, welche auch das rechterhand herabhängende 5

Zu den Stilmerkmalen der Figuren Anton Sturms vgl. Jocher 1990 (wie Anm. 2), S. 39f., 57 u. 59 sowie speziell zu den Kirchenväterfiguren der Wies S. 65. Zur Postur von Skulpturen des Rokoko allgemein vgl. Loers, Veit: Rokokoplastik und Dekorationssystem. Aspekte der süddeutschen Kunst und des ästhetischen Bewußtseins im 18. Jahrhundert. München 1976, S. 83f. 6 Zur Legende des Heiligen Gregor siehe De Voragine, Jacobus: Legenda Aurea. Hrsg. von Bruno Häuptli. Freiburg im Breisgau 2014, S. 606–643. 7 Zur Inspiration durch den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube als tradiertem Bestandteil der GregorIkonographie vgl. »Gregor I. der Große« in LCI (wie Anm. 3), u. a. Sp. 432f., 434f. u. 437f. 8 Zur Legende des Heiligen Augustinus vgl. De Voragine 2014 (wie Anm. 6), S. 606–643. 9 Üblicherweise hält Augustinus das brennende Herz in der Hand oder trägt es äußerlich auf seine Brust aufgebracht. Zu den konventionellen Darstellungsformen des Herz-Attributs vgl. »Augustinus von Hippo« in LCI (wie Anm. 3), Sp. 283f. 10 Zur Legende des Heiligen Ambrosius siehe De Voragine 2014 (wie Anm. 6), S. 780–809.

Heilige in »Nahdistanz«

Ende des Orariums aufnimmt. Angesichts der ansonsten ruhigen Postur des Heiligen scheint diese sachte Schwingung weniger äußere als innere Bewegung auszudrücken. Vielmehr vermittelt sie die Ergriffenheit des Heiligen im Hören von Gottes Wort. Im Unterschied zur Figur des Augustinus wird dies jedoch nicht mit seinem Attribut verbunden. Stattdessen befindet sich der Bienenkorb lediglich als kleine Beigabe zu seinen Füßen, so dass ihm als einziger der Kirchenväterfiguren seine attributive Kennzeichnung rein additiv hinzugefügt wird. Hieronymus schließlich wird als am stärksten in sich gekehrt dargestellt. Im Unterschied zu den übrigen Kirchenvätern, die grundsätzlich den individuell variierten Affekt visionärer Ergriffenheit zeigen, senkt er seinen Blick introspektiv und in Kontemplation versunken zum Totenschädel auf seinem Codex. Diese Rücknahme äußerer Bewegung drückt auch sein annähernd vertikal gehaltener Stab aus, der als einziger nicht dynamisierend in den Raum ausgreift. Gemeinsam mit seinen im Vergleich zu den übrigen Figuren noch markanter ausgeprägten, ausgezehrt wirkenden Zügen charakterisiert ihn dies als Eremit.11 Trotz dieser asketischen Rücknahme äußerer Bewegung ist jedoch auch er nicht gänzlich immobil dargestellt. So vermittelt der zur Seite verschobene, lange Bart sowie die gleichsam schwingenden Troddeln des Kardinalshutes vermitteln auch hier den Eindruck leichter Bewegung. Im Zusammenspiel mit der ruhigen, kontemplativen Körperhaltung des Heiligen scheint dies abermals eine nach innen gekehrte, sich lediglich im Inneren vollziehende affektive Bewegung auszudrücken. Die in kontemplativer Versenkung erfahrenen Regungen des Eremiten zeigen sich allein im leisen Schwingen von Barthaar und Kopfbedeckung. Die Charakterisierung der Kirchenväter erfolgt so insgesamt vorrangig über die Individualisierung affektiver, auf die jeweilige Legende bezogener Zustände, deren Facetten innerhalb der zeitgenössischen Skulptur Süddeutschlands zunächst offenbar durchaus gängige Darstellungsmodi bilden. Beispielsweise zeigen auch die weißgefassten Figuren der Kirchenlehrer, die als Assistenzfiguren den Hochaltar der 1720 bis 1739 neuerbauten Klosterkirche von Diessen am Ammersee umstehen und von Johann Joachim Dietrich geschaffen wurden, entsprechende Affekte (Taf. VIII). Augustinus steht hier ebenfalls erfasst von Gottesliebe mit brennendem Herzen, Gregor wird mit der Taube des Heiligen Geistes im Moment des Empfangs der Inspiration dargestellt und Hieronymus versunken in Kontemplation als Eremit.12 Einzig Ambrosius unterscheidet sich von der Formulierung Sturms, indem er nicht gleichsam hörend den Blick in die Ferne, sondern diesen hinab auf den von ihm gehaltenen Codex richtet. Darüber hinaus zeigen auch die Gesichter der Figuren Dietrichs markante Alterssignaturen, allerdings sind diejenigen der Skulpturen in der Wies mit scharfen Nasenrücken und aufgeworfenen Lippen ungleich expressiver ausgeprägt. Zudem erfahren die Attribute in Diessen eine stärker additive Behandlung, indem sie im 11 Zur Legende des Heiligen Hieronymus siehe De Voragine 2014 (wie Anm. 6), S. 1906–1921. 12 Zur Klosterkirche von Diessen vgl. Dietrich, Dagmar: Ehem. Augustiner-Chorherren-Stift Diessen am Ammersee. München 1986.

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Falle von Hieronymus und Augustinus, die zuvorderst auf Sockeln aufgestellt sind, zusätzlich von Putten präsentiert werden beziehungsweise Augustinus das brennende Herz lediglich in der Hand hält. Die Figuren der Wieskirche unterscheiden sich hiervon insofern, als eine stärkere Einbindung und letztlich Verschmelzung der Attribute mit der Schilderung des affektiven Zustands angestrebt wird.

Steigerung der Präsenz durch Inszenierung im »kreisenden Licht« Diese individuell variierte, zuständliche Schilderung der Ergriffenheit von religiösem Affekt wird indes nicht allein anhand von Mimik und Gestik vermittelt, sondern zusätzlich von der charakteristischen, treffend als »kreisend« umschriebenen Lichtführung unterstützt, welche vor allem den Gemeinderaum der Wieskirche prägt.13 Gleich einer »Licht­ regie« fördert sie die Wahrnehmung der Figuren in ihrem je individuellen Eigengewicht, indem sie diese abwechselnd in den Fokus der Wahrnehmung rückt und sie jeweils wirkungsvoll mittels rückwärtiger Ausleuchtung und einem reizvollen Hell-Dunkel-Kontrast inszeniert. Währenddessen sind die übrigen Skulpturen zwar dank des Streulichts ebenfalls gut wahrnehmbar, treten jedoch gegenüber der jeweils kontrastiv hervorgehobenen Figur zurück. Als Untersuchungsbasis für die nachfolgenden Befunde dienen hauptsächlich Beobachtungen während eines Sonnentages im August. Angesichts der stark wandelbaren Licht­ situation sind die Beobachtungen somit nur bedingt verallgemeinerbar, wie auch weitere Beobachtungen in der Literatur zeigen.14 Dessen ungeachtet dürfte sich jedoch der Effekt der rückwärtigen Ausleuchtung jahreszeitenunabhängig als grundsätzlich konstant erweisen. Darüber hinaus erfahren die Figuren des Augustinus und des Gregor auf der Nordseit­e vermutlich nur bei vergleichsweise hohem Sonnenstand eine besondere Inszenierung durch das einfallende Tageslicht. Ist jedoch eine entsprechende Lichtsituation gegeben, wird die sich gleichsam aktual vollziehende Inspiration des Gregor unterstrichen. So leuchtet im August während der Zeitspanne von ungefähr sieben bis halb neun Uhr morgens, bevor der Fokus der Illumination auf dem geosteten Chor liegt, hauptsächlich das Licht, das durch das nordöstliche Fenster einfällt, den rückwärtigen Raum zwischen Skulptur und Außenwand aus. Die Figur selbst steht größtenteils im Schatten des Pfeilers, so dass ihre Konturen und insbesondere

13 So von Carl Lamb als Titel seines Films Raum im kreisenden Licht von 1936. Vgl. hierzu Lamb, Carl: Die Wies. Das Meisterwerk von Dominikus Zimmermann. Berlin 1937, S. 102, zu den Figuren der Kirchenväter insbesondere S. 96–101; Lamb, Carl: Die Wies. München 1948, S. 56f.; Lamb, Carl: Die Wies. München 1964, S. 100f. 14 So beschreibt Carl Lamb vor allem Wirkungen des direkt auf die Figuren auftreffenden Lichts, das die Figuren gleich Schauspielern, die auf ihr Stichwort gewartet hätten, belebe und ihren Ausdruck gleichsam vollende. Vgl. Lamb 1937 (wie Anm. 13), S. 96–101, v. a. 98f.; Lamb 1948 (wie Anm. 13), S. 56f. sowie Lamb 1964 (wie Anm. 13), S. 97f.

Heilige in »Nahdistanz«

2  Anton Sturm, Heiliger Ambrosius, 1754, Holz, Maße unbekannt, Wieskirche, 15.09.2009, 14.15 Uhr.

die Hinwendung des Kopfes zur Taube oberhalb der Schulter deutlicher hervortreten. Dies verlebendigt die Skulptur zusätzlich, so dass der Eindruck, der im Hier und Jetzt stattfindenden Inspiration des Heiligen Gregor beizuwohnen und sein­e religiöse Ergriffenheit mitzuerleben für den Betrachter noch verstärkt wird. (Abb. 1) In diese Lichtsituation wird auch die gegenüberliegende Figur des Ambrosius einbezogen, deren vergoldeten Krummstab das seitlich auftreffende Sonnenlicht aufleuchten lässt, während die Skulptur selbst verschattet steht. Dass sie auch am frühen Nachmittag keine gezielte Illumination erfährt, obwohl für diese Zeitspanne eine volle Ausleuchtung zu erwarten wäre, ist auf die dichten Laubbäume im Außenbereich der Kirche zurückzuführen, wie eine im September und damit für einen tieferen Sonnenstand beobachtete Lichtsituation zeigt.15 (Abb. 2) Zu dieser Jahreszeit trifft das einfallende Sonnenlicht um 14 Uhr 15 Es ist anzunehmen, dass der Baumbestand auf der Südseite erst einige Zeit nach der Fertigstellung des Kirchengebäudes angepflanzt wurde, da er dem Augenschein nach nicht aus der Erbauungszeit stammen dürfte. Im Gegensatz zur Baumgruppe im Bereich der Fassade, deren Entfernung in der Vergangenheit aus konservatorischen Gründen diskutiert wurde, scheint er jedoch keine entsprechenden Probleme aufzuwerfen. Zur Diskussion um den Baumbestand vgl. Emmerling, Erwin: Carl Lamb und sein­e photographischen Aufnahmen, in: Die Wies. Geschichte und Restaurierung. Hrsg. von Michael Petzet. München 1992, S. 101–122, S. 106f.

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3  Gemeinderaum, Wieskirche, Südseite, 18.08.2011, 15.07 Uhr.

rückwärtig auf die Skulptur und lässt die Silhouette des Ambrosius im Zwischenraum der Pfeiler mit nach rechts gewandtem Kopf und vergoldeter Mitra voll zur Geltung kommen. Die Wirkung ist vergleichbar: Auch hier verstärken sich die Präsenzeffekte, indem die Figur in ihrer seitlichen Drehung imposant aufgerichtet ist und in ihrer affektiven Bewegung unmittelbar lebendig wirkt. Mit am eindrücklichsten inszeniert die Lichtführung die Figur des Hieronymus. Aufgrund ihrer Positionierung auf südwestlicher Seite ohne jegliche Verschattung im Außenbereich beginnt die Ausleuchtung des hinterfangenden Raumteils im Hochsommer bereits ungefähr um 13 Uhr. Ihren Höhepunkt erfährt sie um ca. 15 Uhr und nimmt erst drei Stunden später langsam ab. (Abb. 3) Damit bleibt diese Figur mit Abstand am längsten im Fokus der Aufmerksamkeit. Diese bündelt sie zusätzlich über ihre ausgesprochen spannungsvolle, den Reiz des Kontrasts weiter steigernde Verbindung mit der umgebenden Architektur. Durch das Fehlen raumgreifender Bewegungsmotive und dem annähernd senkrecht gehaltenen Stab erscheint sie der Vertikalität der Pfeiler einerseits am stärksten angenähert. Zugleich setzt sie sich jedoch in ihrem geschlossen erscheinenden, kontrastiv betonten plastischen Volumen subtil von dieser ab. Insbesondere die leichte Diagonale des Kardinalshutes erzeugt gemeinsam mit der geringfügigen Abweichung des Stabs von der Senkrechten der Pfeiler gerade in ihrer nur minimalen Ausprägung ein Spannungsmomen­t, das die kontemplative innere Bewegung des Heiligen umso wirkungsvoller transportiert. Die Illumination der Figur des Augustinus schließlich entfaltet einen zwar nur jahreszeitlich gegebenen, dafür jedoch umso verblüffenderen und inhaltlich mit am bedeutsamsten Effekt. So erhält die nordwestliche Raumpartie im August erst um ca. 18.30 Uhr direktes Sonnenlicht, dessen Intensität zwar nicht mehr für eine starke kontrastive Hervorhebung der Figur ausreichend ist. Jedoch bewirkt sein seitlicher Einfallswinkel, dass von ca. 18.40 bis 19.00 Uhr das Licht auf die aus der Brust hervorschlagenden Flammen der ansonsten

Heilige in »Nahdistanz«

4  Anton Sturm, Heiliger Augustinus, 1754, Holz, Maße unbekannt, Wies­k irche, 18.08.2011, 18.47 Uhr.

aufgrund des Pfeilers verschattet stehenden Figur trifft. (Abb. 4) Hierdurch entsteht mittels der reflektierenden Vergoldung der Eindruck, als loderten sie »wahrhaftig« aus dem Herzen des Heiligen hervor. Diese Steigerung des Wirklichkeitsgrades vermittelt den religiösen Affekt brennender Gottesliebe mit einer Eindrücklichkeit, die kaum zu überbieten ist.

Die Kirchenväter als Heilige in »Nahdistanz« Mit Blick auf den Betrachter könnte diese facettenreiche Erzeugung von Präsenzeffekten zunächst auf eine rein identifikationsstiftende Intention schließen lassen, zumal sich die Skulpturen im selben Raum mit diesen befinden und so – im Unterschied zum Figurenpersonal des Hochaltars, das per se in Distanz aufgestellt ist – von vornherein in einer unmittelbareren Beziehung zu diesen stehen. Wie die Gläubigen selbst scheinen sie von innerer Bewegung ergriffene, fühlende Menschen zu sein. Dennoch wird keine reine Affektübertragung, sondern vielmehr eine subtil austarierte, ambivalente Betrachterrelation angestrebt. So erzeugt die Inszenierung innerer Bewegung letztlich ein Verhältnis simultaner

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Nähe und Distanz, indem sie die Figuren zwar einerseits »vermenschlicht«.16 Dennoch sind die dargestellten religiösen Affekte zugleich dem Alltäglichen enthoben, indem sie als Vision oder kontemplative Schau auf die überweltliche, distanzierenden Vorbildcharakter beanspruchende Vollkommenheit der Heiligen verweisen. Auch das räumliche Verhältnis zielt nicht auf eine reine Nähe zum Betrachter, sondern trägt seinerseits zu einem ambivalenten Erleben bei. Ein vergleichsweise unmittelbares Verhältnis besteht zwar insofern, als sich der Aufstellungsort der Figuren relativ nah zum »irdischen« Bodenniveau befindet. Dass sie dem Diesseits dennoch enthoben sind, vermittelt der übermannshohe Anbringungsort ihrer Rocaille-Konsolen, der ein Aufschauen erfordert. Zugleich ist der Blick der Figuren über die Betrachter hinweg in eine unzugängliche und unbestimmte, gleichsam transzendente Ferne gerichtet. In relativer Nähe aufgestellt, erscheinen die Figuren so zugleich entrückt und unnahbar. Entfremdend wirken darüber hinaus auch die distinguierte Handhaltung mit leicht abgespreizten Fingern sowie die auswärts gekehrte Beinstellung, die sich an zeitgenössische Konventionen der Körperhaltung einer adligen Oberschicht anlehnen. 17 Hinzu kommt die irrationale Proportionierung der Figuren mit verhältnismäßig kleinen Köpfen und überlängten Beinen, deren anatomische Plausibilität hauptsächlich über den Faltenwurf der stoffreichen Gewänder erzeugt wird. Und nicht zuletzt drückt auch die lichtreflektierende, goldgehöhte Weißfassung die Ambivalenz zwischen diesseitiger Nähe und Entrückung aus, indem sie die körperliche Präsenz der Figuren zurücknimmt, sie irdischer Körperlichkeit entfremdet und als gleichsam überirdische »Lichtwesen« erscheinen lässt. Überdies wirkt sie als nobilitierende Marmorimitation, welche die Skulpturen als Artefakt­e markiert und so der Illusion »realer«, lebendiger Figuren entgegenarbeitet.18 Auf diese Weise werden die Kirchenväter der Wieskirche als Mittlerfiguren erfahrbar, die, im Kirchenraum präsent, der Wirklichkeit des Betrachters zuzugehören und dessen inneres Erleben zu teilen scheinen. Zugleich sind sie jedoch dieser Wirklichkeit als überirdische, an transzendenten Sphären teilhabende Lichtgestalten entrückt. Inwieweit darüber hinaus auch der charakteristische Gesichtsschnitt der Figuren – gewissermaßen als Träger der Mimik – zu einem ambivalenten Erleben beiträgt, soll abschließend diskutiert werden. In der Literatur wird dieser zunächst als dezidiert identifikationsstiftende stilistische Eigenart Anton Sturms bewertet, indem die markanten, mit ausgeprägter Nasenform versehenen Physiognomien der Heiligen in Zusammenhang mit einem vermeintlichen lokalen, ländlichen Menschentyp gebracht werden. Deren Ähnlich-

16 Eine Annäherung über das Affektive ist darüber hinaus auch allgemein für die Ikonographie des ­Augustinus mit dem Herzen als einem der wichtigsten Attribute feststellbar. Vgl. »Augustinus von H ­ ippo« in LCI 1973 (wie Anm. 3), S. 283f. 17 Zur Übernahme höfischer Gestik in der Skulptur des 18. Jahrhunderts vgl. Loers 1976 (wie Anm. 5), S. 82–86. 18 Zur Weißfassung vgl. Emmerling, Erwin: Bemerkungen zu weiß gefaßten Skulpturen, in: Die Wies. Geschichte und Restaurierung. Hrsg. von Michael Petzet. München 1992, S. 423–436; Schießl, Ulrich: Rokokofassung und Materialillusion. Mittenwald 1979.

Heilige in »Nahdistanz«

keit habe eine Distanzverkürzung zum überwiegend dem bäuerlichen Milieu entstammenden zeitgenössischen Betrachter bewirkt. Das »Bäuerliche« erscheine in der Heiligkeit »geadelt«, so dass die Figuren Sturms eine anschauliche, dem einfachen Menschen verständliche Bildertheologie darstellten.19 Dass sich der vergleichsweise kräftige Gesichtsschnitt der Skulpturen Sturms auch an ­Physiognomien von Zeitgenossen orientiert haben könnte und so ein gewisses Identifikationspotenzial bereitstellte, mag zwar durchaus möglich sein. Die hageren Züge jedoch rein als Übersetzung eines vermeintlich groben und bäuerlichen, von Arbeit ausgemergelten Menschentypus zu deuten, erscheint dennoch als zu kurz gegriffen, zumal die distinguierte Handhaltung und Postur der Figuren in eine ganz andere Richtung weisen. Vielmehr wäre zu überlegen, ob ihre charakteristische Gesichtsmodellierung nicht zugleich als Darstellungsmodus aufzufassen sind, der standesunspezifisch ihre Autorität als Kirchenväter unterstreicht und dadurch seinerseits Distanz zum Betrachter schafft. Indem die mageren Physiognomien ihr fortgeschrittenes Alter nachdrücklich betonen, erscheinen sie als altehrwürdige Heilige. Zusätzlich steigern die tendenziell überzeichneten Alterssignaturen speziell mit Blick auf ihre Rolle als Kirchenväter deren würdevolle Inszenierung, indem sie auch auf das für deren Status zentrale Kriterium der antiquitas, der Zugehörigkeit zum christlichen Altertum, hinweisen.20 Im Zusammenspiel mit ihrem Ornat und der aristokratischen Körperhaltung werden sie somit nicht allein als verehrungswürdige Heilige, sondern zugleich nachdrücklich in ihrer Bedeutung für die Institution der Kirche vor Augen gestellt. In der Gesamterscheinung legt dies dem Gläubigen, der nicht die Gesichtszüge isoliert, sondern in Verbindung mit der übrigen Darstellung wahrnimmt, vorrangig eine Haltung von Ehrfurcht nahe. Der Aspekt einer potenziellen Distanzverkürzung dürfte demgegenüber auch für den zeitgenössischen Betrachter nachgeordnet gewesen sein.

Die Gestaltung der Figuren im programmatischen Kontext Abschließend soll noch einmal der Bezug der Figuren zum Gnadenbild in den Blick genom­ men und gefragt werden, welche Bedeutung ihr zusätzlicher, auf gestalterischer Ebene vermittelter Aussagegehalt gemeinsam mit der Modellierung der Betrachterrelation in diesem Zusammenhang entfaltet. Sicher gehen – dies soll an dieser Stelle betont werden – die Wirkungsqualitäten der Skulpturen nicht allein in dieser Funktion auf, sondern stellen, zumal in wechselndem Lichtspiel inszeniert, immer auch einen ästhetischen Mehrwert bezie19 Vgl. hierzu Jocher 1990 (wie Anm. 2), v. a. S. 54–61, S. 65 u. S. 66–68. 20 Zum Kriterium der antiquitas, das der Theologe Vinzenz von Lérins um 434 in seiner Theorie des Väterbeweises gemeinsam mit denjenigen der doctrina orthodoxa (Lehrgemeinschaft mit der Kirche), sanctitas vitae und approbatio ecclesiae (Anerkennung von Person und Lehre seitens der Kirche) aufstellte vgl. »Kirchenväter«, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. VI, Sp. 70f.; v. a. Sp. 71; »Kirchenlehrer, Kirchenväter«, in: LCI, Bd. II, Sp. 529–538, hier v. a. Sp. 529; » Kirchenväter (patres ecclesiae)«, in: LCI, Bd. VII, Sp. 314.

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hungsweise Überschuss an Effekt bereit. Mit anderen Worten: Die Figuren Sturms besitzen ausreichend Potenzial, um über ihre inhaltliche Rolle im Rahmen des Ausstattungsprogramms der Wieskirche hinaus Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dennoch wurden sie in erster Linie für dieses konzipiert, so dass ihre Qualitäten vor allem innerhalb dieses rezeptionslenkenden Bezugsrahmens zu betrachten sind. Dies gilt insbesondere für die spezifische Betrachterrelation, die sie erzeugen. Indem sie über das ambivalente Erleben, das in der »Nahdistanz« erzeugenden Gestaltung angelegt ist, als altehrwürdige Mittlerfiguren zwischen Diesseits und Jenseits erfahrbar werden, wird nachdrücklich ihre Autorität unterstrichen. Als diesseitige Menschen hatten sie, so die Botschaf­t, Zugang zu höheren Sphären und damit zu Gott. Ihre Lehre ist somit unanfechtbar und mit ihr die Institution der Kirche, die sie repräsentieren und die auf dieser beruht. Dies in Bezug auf eine Wallfahrt zu einem Gnadenbild zu betonen, war insofern wichtig, als der nachtridentinischen Bilderverehrung latente heterodoxe Tendenzen innewohnten. Vom Tridentinischen Konzil an sich per Dekret vom »Aberglauben« abgegrenzt und zur Abschaffung jeglicher Missbräuche unter eine stärkere kirchlich-institutionelle Kon­ trolle gestellt, erwiesen sich die zuvor seitens der Reformatoren angegriffenen Praktiken von Bilderverehrung und das ihnen zugrundeliegende quasi-sakrale Verständnis vielmehr als höchst beständig.21 Nach wie vor wurde ausgewählten Bildwerken physisch übertragbar­e Heilsmacht zugeschrieben und ihre Substanz, von virtus erfüllt, als Arznei und Apotro­ paion gebraucht.22 Speziell im Zusammenhang mit der Verehrung einer Christus-Figur war es daher von umso größerem Interesse zu betonen, dass gemäß der Lehre der Katholischen Kirche nicht das Gnadenbild, sondern allein die vom Priester gespendete geweihte Hostie Träger der Realpräsenz Christi ist. Entsprechend kann diese lediglich über die Repräsentanten der Kirche vermittelt werden, da es hierfür der eucharistischen Wandlung bedarf. 21 Während der letzten Phase des Tridentinischen Konzils (25.12.1559–09.12.1565) wurde das Dekret Über die Anrufung und Verehrung der Heiligen und die Reliquien und über die heiligen Bilder initiiert und am 03.12.1563 angenommen. Der Text des Dekrets findet sich bei Denzinger, Heinrich u. Peter Hünermann (Hrsg.): Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum – Kompendiu­m der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Freiburg im Breisgau. 1991, S. 1821– 1825. Zur Genese des Dekrets vgl. Jedin, Hubert: Kirche des Glaubens – Kirche der Geschichte. Bd. II: Konzil und Kirchenreform. Freiburg im Breisgau 1966, S. 460–498. Zur letzten Tagungsperiode des Tridentinischen Konzils vgl. Jedin, Hubert: Geschichte des Konzils von Trient, Dritte Tagungsperiode und Abschluß. Freiburg im Breisgau 1975, zur Ausarbeitung und Annahme des Dekrets zur Heiligen-, Reliquien- und Bilderverehrung v. a. S. 180f. 22 Vgl. Henkel, Georg: Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts. Weimar 2004. Zum Gebrauch von Gnadenbildern als Heil- und Schutzmittel vgl. Kriss-Rettenbeck, Lenz: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. Rudolf Kriss zum 60. Geburtstag. München 1963. Für Studien zu Einzelwallfahrten und zur Wallfahrt auf dem Hohenpeißenberg vgl. Habermas, Rebekka: Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschicht­e des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991; Kaiser, Sebastian: Die Wallfahrt Kößlarn. Volkskundliche Untersuchung des religiösen Lebens einer Gnadenstätte zwischen Spätmittelalter und Gegenwart. Passau 1989, v. a. S. 90–164; Gribl, Albrecht: Unsere Liebe Frau zu Dorfen. Kultformen und Wallfahrtsleben des 18. Jahrhunderts. Dorfen 1981; Brückner, Wolfgang: Die Verehrung des Heiligen Blutes in Walldürn. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen zum Strukturwandel barocken Wallfahrtens. Aschaffenburg 1958.

Heilige in »Nahdistanz«

Nur dann kann die Hostie den Status beanspruchen, Christus wahrhaft zu enthalten. Für ein Gnadenbild hingegen ist dies, so die Botschaft, ausgeschlossen. Zusätzlich zu dieser legitimierenden und affirmativen Rolle besitzen die Kirchenväter als Heilige Vorbildcharakter und leiten die Wallfahrer gewissermaßen in ihrer Andacht an, indem sie über ihre individualisierte Ergriffenheit von religiösem Affekt Spielarten von Spiritualität vor Augen stellen. Zugleich nahbar und ehrfurchtvolle Distanz gebietend, regen sie die Gläubigen an, es ihnen gleichzutun und sich ergreifen und bewegen zu lassen von Gott. Dabei zielt ihre aufmerksamkeitsbündelnde Inszenierung nicht darauf, sich selbst in den Mittelpunkt der Kontemplation zu stellen. Vielmehr vermitteln sie eine vielschichtige ästhetische Erfahrung, die gewissermaßen in die Relation zwischen Wallfahrer und Gnadenbild eingreift und dazu beiträgt, diese zu modellieren. Wie die Heiligen, sollen sich auch die Gläubigen der religiösen Erfahrung öffnen, die ihnen die Andacht vor dem Gnadenbild vermittelt; dies jedoch ausschließlich im Rahmen der kirchlichen Lehre, welche die Kirchenväter repräsentieren. Die Figuren Anton Sturms tragen im Rahmen des Ausstattungsprogramms somit in gleich mehrfacher Weise dazu bei, potenzielle hetero­ doxe Tendenzen zu korrigieren und im Sinne einer »rechten« Andacht umzulenken.

Literaturverzeichnis Brückner, Wolfgang: Die Verehrung des Heiligen Blutes zu Walldürn. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen zum Strukturwandel barocken Wallfahrtens. Aschaffenburg 1958. Denzinger, Heinrich u. Peter Hünermann (Hrsg.): Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum – Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Freiburg im Breisgau. 1991. Dietrich, Dagmar: Ehem. Augustiner-Chorherren-Stift Diessen am Ammersee. München 1986. Emmerling, Erwin: Bemerkungen zu weiß gefaßten Skulpturen, in: Die Wies. Geschichte und Restaurierung. Hrsg. von Michael Petzet. München 1992, S. 423–436. Emmerling, Erwin: Carl Lamb und seine photographischen Aufnahmen, in: Die Wies. Geschichte und Restaurierung. Hrsg. von Michael Petzet. München 1992, S. 101–122. Emmerling, Erwin: Zu Anton Sturms Arbeiten in der Wies, in: Anton Sturm 1690–1757. Bildhauer und Bürge­r in Füssen. Hrsg. von der Stadt Füssen. Füssen 1990, S. 72–77. Gribl, Albrecht: Unsere Liebe Frau zu Dorfen. Kultformen und Wallfahrtsleben des 18. Jahrhunderts. Dorfen 1981. Habermas, Rebekka: Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1991. Henkel, Georg: Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocke­n Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts. Weimar 2004. Jedin, Hubert: Geschichte des Konzils von Trient, Dritte Tagungsperiode und Abschluß. Freiburg im Breisgau 1975. Jedin, Hubert: Kirche des Glaubens – Kirche der Geschichte. Bd. II: Konzil und Kirchenreform. Freiburg im Breisgau 1966. Jocher, Norbert: Vom klösterlichen Repräsentationsbedürfnis zur volksnahen Bildertheologie: Charakteristik der Sturm-Figuren, in: Anton Sturm 1690–1757. Bildhauer und Bürger in Füssen. Hrsg. von der Stadt Füssen. Füssen 1990, S. 38–71. Kaiser, Sebastian: Die Wallfahrt Kößlarn. Volkskundliche Untersuchung des religiösen Lebens einer Gnadenstätte zwischen Spätmittelalter und Gegenwart. Passau 1989.

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Kriss-Rettenbeck, Lenz: Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens. Rudolf Kriss zum 60.  Geburtstag. München 1963. Lamb, Carl: Die Wies. Das Meisterwerk von Dominikus Zimmermann. Berlin 1937. Lamb, Carl: Die Wies. München 1948. Lamb, Carl: Die Wies. München 1964. Lexikon für Theologie und Kirche. Hrsg. von Walter Kasper [u.a.]. 11 Bde. Freiburg im Breisgau. 1993–2001. Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum u. Wolfgang Braunfels. 8 Bde. Freiburg im Breisgau 1968–1976. Loers, Veit: Rokokoplastik und Dekorationssystem. Aspekte der süddeutschen Kunst und des ästhetischen Bewußtseins im 18. Jahrhundert. München 1976. Schießl, Ulrich: Rokokofassung und Materialillusion. Mittenwald 1979. De Voragine, Jacobus: Legenda Aurea. Hrsg. von Bruno Häuptli. Freiburg im Breisgau 2014.

Stillstellung – Verinnerlichung – Kontemplation

Lars Zieke

STILLSTELLUNG – VERINNERLICHUNG – KONTEMPL ATION Visuelle Strategien der Affektreduzierung in Giovanni Bellinis Pietà Donà dalle Rose

Auf den ersten Blick erschließt sich der Gewinn einer Auseinandersetzung mit den Affekten anhand von Werken Giovanni Bellinis nicht sofort, da insbesondere die Heiligen in den Darstellungen der sog. Sacra conversazione wie etwa der Pala di San Giobbe oder der Pala di San Zaccaria in sich gekehrt wenig affektive Regung zeigen. Traten in Leon Battista Albertis Traktat De pictura/Della pittura (um 1435), gemäß seines aus der antiken Rhetoriklehre entwickelten Modells zur Affektübertragung, die Mittel der Körpersprache zur Kommunikation des emotionalen Ausdrucks in den Vordergrund – also eine expressive Veräußerlichung innerer Emotionen, die eine direkte Affektübertragung von der Figur auf den Rezipienten im Sinne semantischer Eindeutigkeit als Ziel hatte –, so findet man in der Malerei Giovanni Bellinis ein diesbezüglich differentes Vorgehen.1 Der emotionale Gehalt der Thematik wird häufig verinnerlicht dargestellt und sukzessiv im Prozess der Bildbetrachtung vermittelt. Ausgehend von der These, dass eine Affizierung des Betrachters2 im Akt der ästhetischen Wahrnehmung des Bildes zu einer religiösen Kontemplation führen kann, soll exemplarisch Giovanni Bellinis um 1500–1505 entstandene Pietà Donà dalle Rose aus den Gallerie dell’Accademia in Venedig in den Blick genommen werden (Abb. 1, Taf. IX).3 Die 1 2 3

Alberti, Leon Battista: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei. Hrsg. von Oskar Bätschman­n [u.a.] Darmstadt 2000, S. 268: »ut lugentibus conlugentibus, ridentibus adribentibus, dolentibus condoleamus.« Diese Form des Begriffs wird im Text geschlechtsneutral verwendet und bezieht sich zugleich auf weibliche und männliche Rezipienten. Von der Forschung bisher nur kursorisch am Rande von Werkmonographien (Heinemann, Fritz: Giovann­i Bellini e i Belliniani. Venedig 1962, Bd. I, S. 52f.; Huse, Norbert: Studien zu Giovanni Bellini. Berlin [u.a.] 1972, S. 96f.; Robertson, Giles: Giovanni Bellini. New York 1981, S. 114; Goffen, Rona: Giovanni Bellini. New Haven 1989, S. 41; Tempestini, Anchise: Giovanni Bellini. München 1998, S. 166f.; Pächt, Otto: Venezianische Malerei des 15. Jahrhunderts. Die Bellinis und Mantegna. Hrsg. von Margareta VyoralTschapka u. Michael Pächt. München 2002, S. 179f.; Bätschmann, Oskar: Giovanni Bellini. Meister der venezianischen Malerei. München 2008, S. 200), eines Ausstellungskatalogs (Renaissance Venice and the North. Crosscurrents in the time of Dürer, Bellini and Titian (Ausst.-Kat. Venedig, Palazzo Grassi, 05.09.1999–09.01.2000). Hrsg. von Bernard Aikema u. Beverly Louise Brown. London 1999, S. 228) und eines Restaurierungsberichts (Il colore ritrovato. Bellini a Venezia (Ausst.-Kat. Venedig, Gallerie dell’ Accademia, 30.09.2000–28.01.2001). Hrsg. von Rona Goffen u. Giovanna Nepi Sciré. Mailand 2000, S. 82)

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1  Giovanni Bellini, Pietà Donà dalle Rose, 1500–1505, Öl auf Holz, 64 × 87 cm, ­Venedig, Gallerie dell’Accademia.

Bedeutung des Verhältnisses von Figur und Landschaft für die Visualisierung der mit der Compassio verbundenen Affektivität wird hierbei besonders von Interesse sein. Zu untersuchen sind Bellinis ästhetische Strategien einer verinnerlichten Darstellung von Emotionen und einer damit verbundenen Dialektik von Nähe und Ferne im bildräumlichen Gefüge. Bei der Analyse von motivischen Synthesen in diesem thematischen Zusammenhang und der im Prozess der Bildbetrachtung hervorgerufenen Assoziationen und Aktivierungen von religiösem Wissen sollen im Kontext der visuellen Kultur des Betrachters die dafür konstitutiven medialen und medienreflexiven Bedingungen beleuchtet werden.

Stillstellung In vollkommener Ruhe vor einer sich weit erstreckenden Landschaft, die weder durch menschliches Treiben noch durch einen einzigen Windhauch belebt, in ihrer Gestaltung jedoch durch eine reiche Vegetation, verschiedene Architekturen und angelegte Wegführungen als kultivierte Natur im Sinne einer natura naturata bestimmt ist, sitzt die Gottesbehandelt. Über die Auftragslage und den ursprünglichen Ort der Pietà Donà dalle Rose ist leider nichts bekannt. Es befand sich in verschiedenen venezianischen Sammlungen und erhielt seinen Namenszusatz durch den Besitz bis 1934 in der Sammlung der Familie Donà dalle Rose, siehe Tempestini 1998 (wie Anm. 3), S. 166; Ausst.-Kat. Venedig 1999 (wie Anm. 3), S. 228.

Stillstellung – Verinnerlichung – Kontemplation

mutter in sich gekehrt auf dem Erdboden und betrauert ihren toten Sohn. Der Akt des Trauerns ist dennoch durch eine auffällige ›Stille‹ gekennzeichnet, die ihre bildliche Konkretisierung nicht nur in der Figur der Gottesmutter selbst, sondern gerade auch in der Landschaft findet. Diese komplexe Semantik soll im Folgenden hinsichtlich ihrer ästhetischen Gestaltungsstrategien und der Funktion für die Darstellung und Vermittlung des Affektiven untersucht werden. Auffallend an Bellinis Pietà ist die Reduktion der Komposition auf Maria und Christus, die zunächst etwas isoliert von der Landschaft dicht am Vordergrund situiert scheinen, wobei Maria den vom Kreuz abgenommenen Sohn auf ihrem Schoß hält und dessen Tod inwendig betrauert. Neben der außergewöhnlichen Figurenkomposition, die sonst nicht wieder in Bellinis Werk zu finden ist, fällt besonders die stille Verinnerlichung der Affekte und die damit verbundene Zurücknahme der Bilderzählung auf.4 Es handelt sich hier jedoch nicht um die Ikonographie der Beweinung als narrative Sequenz der Passion zwischen Kreuzabnahme und Grablegung, da die üblichen Assistenzfiguren einer Beweinungsgruppe und die signifikanten Bildelemente wie Kreuzigungsstätte oder Felsengrab fehlen, die auf diesen narrativen Zusammenhang verwiesen hätten. Trotz der verwandten Bezeichnung und einer thematischen Ähnlichkeit zu dem in Italien um 1300 entstandenen Bildtypus der Imago Pietatis (oder des Schmerzensmanns),5 ist Bellinis Pietà mit dem eigenständigen Darstellungstypus des ›Vesperbildes‹ als Teil der gemeinhin als Pietà bezeichneten Ikonographie Marias mit dem toten Christus zu fassen.6 Im Vesperbildmotiv findet eine Fokussierung auf den semantischen Kern der Beweinungsszene statt, also die ihren Sohn beweinende Gottesmutter und damit eine Verdichtung der Heilsgeschichte im intimeren Mutter-Sohn-Verhältnis. In Verbindung mit der Isolierung der Figuren geschieht eine Zurücknahme der erzählerischen Dynamik, die eine 4

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Verschiedentlich wird in der Forschung einerseits eine ›Verzeitlichung‹ durch die Kombination der Imag­o Pietatis mit einer Landschaft in Werken Bellinis betont, andererseits das Phänomen einer Zurücknahme des Erzählerischen zu einer ›Verzuständlichung‹ als Hauptmerkmal des ›Andachtsbildes‹ herauskristallisiert, vgl. Belting, Hans: Giovanni Bellini: Pietà. Ikone und Bildererzählung in der venezianischen Malerei. Frankfurt am Main 1985; Goffen 1989 (wie Anm. 3), S. 68 u. 78; Bätschmann 2008 (wie Anm. 3), S. 68. Zur Entwicklung der Imago Pietatis vgl. Belting, Hans: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion. Berlin 1981, S. 265f. u. 281f.; Schmerzensmann (Imago Pietatis), in: Lexikon der christlichen Ikonographie (LCI), Bd. IV, Sp. 87–95; Satzinger, Georg u. Hans-Joachim Ziegeler: Marienklage und Pietà, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Beiträge zum 8. Reisensburger Arbeitsgespräch vom 29. November bis 1. Dezember 1991. Hrsg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 241–276, S. 261. Zum Typus des Schmerzensmanns bei Bellini vgl. Coffey, Rosemary A.: The Man of Sorrows of Giovanni Bellini. Sources and significance. Dissertation. Ann Arbor 1987. Die deutsche Bezeichnung als »Vesperbild« ist zurückzuführen auf die Zuordnung der Kreuzabnahme zur Vesper im Stundenbuch. Die Benennung im Italienischen als »Pietà« ist leicht irreführend, da sie häufig auch für das Motiv des Schmerzensmanns, der Beweinung und auch der Kreuzabnahme verwendet wird, vgl. Vesperbild, in: LCI, Bd. IV, Sp. 450–456, hierzu Sp. 450; Minkenberg, Georg: Die plastische Marienklage. Ein Beitrag zu ihrer Entstehung und ihren geistesgeschichtlichen Grundlagen. Aachen 1986, S. 36f., bevorzugt den Begriff der »Marienklage«. In diesem Beitrag wird die Figurengruppe als »Vesperbild« bezeichnet, um damit das weite Begriffsfeld der »Pietà« einzugrenzen. Es soll dabei aber als Teil der Ikonographie der Pietà verstanden und nicht davon abgegrenzt werden.

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2  Giovanni Bellini, Beweinung Christi, um 1510, Öl auf Leinwand, 445 × 310 cm, Venedig, Gallerie dell’Accademia.

noch stärkere Fokussierung des affektiven Gehalts ermöglicht. Die Bilderzählung (historia) wird damit gleichsam nachrangig, da der Kreuzestod Christi als erzählerischer Moment in der Vergangenheit liegt.7 Es wird folglich ein andauernder Augenblick der Trauer dargestellt, in dem Zeitlichkeit aufgehoben zu sein scheint. Die Reduktion des Narrativen und die visuelle Strategie, den emotionalen Gehalt des Sujets eher verinnerlicht statt ausdrucksintensiv zu kommunizieren, bietet dem Betrachter in kohärenter Relation die Möglichkeit zur Kontemplation sowohl des religiösen Inhalts als auch der ästhetischen Struktur von Bellinis Pietà.8 7

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Zum Begriff der historia, etwa bei Alberti, sei innerhalb der mittlerweile kaum mehr überschaubaren Literatur verwiesen auf Patz, Kristine: Zum Begriff der Historia in L. B. Albertis De Pictura, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986), S. 269–287; Aurenhammer, Hans H.: Malerei im Horizont von Rhetorik und Poesie. Zu Leon Battista Albertis Theorie der historia, in: Rhetorik 24 (2005), S. 27–42. Vgl. Coffey 1987 (wie Anm. 5), S. 5. Zu Strategien der Negierung des Narrativen im Bildraum am Beispiel von Bellinis Kreuzigung im Museo Correr, siehe Aurenhammer, Hans: Reflexionen des Sehens in Gemälden Giovanni Bellinis, in: Mobile Eyes. Peripatetisches Sehen in den Bildkulturen der Vormoderne. Hrsg. von David Ganz u. Stefan Neuner. München 2013, S. 199–242; Aurenhammer, Hans: Schräge Blicke, innere Landschaften. Räume der »Kreuzigung Christi« bei Jacopo Bellini, Giovanni Bellini und Antonello da Messina, in: Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit. Kongressakten Frankfurt am Main 2011. Hrsg. von dems. u. Daniela Bohde. Bern [u.a.] 2015, S. 335–375, hierzu S. 351.

Stillstellung – Verinnerlichung – Kontemplation

Im Vergleich mit Bellinis großformatiger, um 1510 entstandener Pala der Beweinung in der Accademia in Venedig wird der beschriebene Unterschied deutlich (Abb. 2). Die Leidensthematik ist hier in die historia der Beweinung Christi eingebunden. Das Kreuz erinnert an den vorhergehenden, eben vollzogenen Moment der Kreuzabnahme. Dennoch ist das Bild im Vergleich zu anderen Beweinungsszenen durch Ruhe und Stillstellung charakterisiert. Zwar entsprechen die Assistenzfiguren in ihrer ausdrucksintensiven Gestik und Mimik dem affektrhetorischen Modell Albertis, jedoch steht im Zentrum die Beweinung Christi durch Maria, die auf dem Boden kauernd den toten Sohn hält und ihm somit am nächsten ist. Währenddessen gruppieren sich die Heiligen symmetrisch um sie – ähnlich einer Sacra conversazione –, überwinden in ihrer Bewegtheit aber die eigene Statik nicht und bilden damit keinen Handlungsverlauf heraus.

Verinnerlichung. Ikonographische Verschränkungen – Mediale Verschiebungen Einen wichtigen Bezugspunkt für das Verständnis der Komposition von Bellinis Pietà liefern besonders deutsche Vesperbildskulpturen in Stein oder Holz, die sich seit dem späten 14. Jahrhundert im Veneto befanden und teilweise noch heute dort auf Nebenaltären in Kirchen situiert sind, wie zum Beispiel in der Taufkapelle von S. Marco oder einer Seitenkapelle in S. Giovanni in Bragora in Venedig (Abb. 3).9 Signifikant für die Komposition ist die fast horizontale Lagerung des toten Christus auf dem Schoße der Mutter, die jedoch erhöht sitzt. Anders als bei Bellinis Gemälde, in dem Christus am Nacken und an den Knien durch die Hände Mariens statisch gestützt ist, werden bei den Vesperbildskulpturen Christi Arme überkreuzt auf dem Schoß dargestellt. In Bellinis Gemälde evoziert der heruntergesunkene Arm Christi eine Momenthaftigkeit, die auf die Verzeitlichung seines Opfertodes verweist.10 Im Gegensatz zu dem verinnerlichten Modus der Affektdarstellung von Bellinis Pietà weisen die Skulpturen einen sich davon unterscheidenden Ausdruck auf, der in der betonten Mimik und Gestik auf eine intensive, veräußerlichte Passio abzielt. Während Maria in Bellinis Gemälde in sich gekehrt ist, wird der Akt des Weinens bei den Skulpturen mimisch

9 Körte, Werner: Deutsche Vesperbilder in Italien, in: Kunstgeschichtliches Jahrbuch der Bibliotheca ­Hertziana 1 (1937), S. 1–138, hierzu S. 26 u. 37; Wolters, Wolfgang: La scultura veneziana gotica (1300– 1460). Venedig 1976, Bd. I, S. 262. Unklar bleibt, ob die Bildwerke importiert oder von deutschen Künstlern in Norditalien gefertigt wurden. Körte 1937 (wie Anm. 9), S. 91, stellt den Export der Skulpturen in Frage und plädiert für die Verbreitung im Zusammenhang mit der Wanderbewegung deutscher Handwerker; Steingräber, Erich: Zur »Italianisierung« des deutschen Vesperbildes, in: Skulptur in Süddeutschland 1400–1770. Festschrift für Alfred Schädler. Hrsg. von Rainer Kashnitz u. Peter Volk. München [u.a.] 1998, S. 11–17, hierzu S. 14, nennt für den Export von Vesperbildskulpturen nach Italien vor allem süddeutsche, böhmische und schlesische Werkstätten. 10 ›Verzeitlichung‹ meint hier die Ergänzung und Einbindung von Elementen der Zeitlichkeit trotz einer Stillstellung der Handlung und jenseits einer narrativen Darstellungsweise im Sinne von Albertis historia, auf die Bellini in seinem Gemälde verzichtet.

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3  Deutscher Künstler, Vesperbild, frühes 15. Jh., Holz, 98 × 82 cm, Venedig, San Giovanni in Bragora.

besonders betont. Das Gesicht der Gottesmutter ist schmerzverzogen, während sie mit der linken Hand ihren Schleier hält, um die herunterlaufenden Tränen aufzufangen. 11 In diesem gestischen Akt des Auffangens vergegenwärtigt sich das substantielle, materielle Resultat des Weinens als veräußertes Zeichen der Trauer selbst. Die Frontalität und der ostentative Darbietungsgestus des geschundenen Körpers Christ­i entsprechen in ihrer übersteigerten Darstellungsform weniger dem mimetischen Bildkonzept, das auf eine Vergegenwärtigung durch Naturnähe abzielt. 12 Das psychische Leid der Mutter wird dem physischen Tod des Sohnes in der Darstellung quantitativ und qualitativ gleichgesetzt. Die Vermittlung des affektgeladenen Inhalts geschieht hier also vielmehr über den drastisch zugespitzten Ausdruck des Körpers, was von der Forschung zumeist in Zusammenhang mit der demonstrativen Leidenskultur der deutschen Mystik und Mater dolorosa-Frömmigkeit interpretiert wurde.13 Dies lässt eher einen appellativen Charakter der Inhaltsvermittlung zur Erzeugung von Empathie und Compassio erkennen, denn die Darbietung des leidgezeichneten Christus konnte der Anbetung der fünf Wunden dienen.14 11 Körte 1937 (wie Anm. 9), S. 26, hatte diesen in den italienischen Vesperbildskulpturen häufiger vorkommenden Gestus als Vorhaben, die Seitenwunde Christi zu bedecken, gedeutet. Eine genauere Betrachtung lässt jedoch erkennen, dass Maria das Tuch immer genau unter ihr tränendes Auge hält und das Tuch in ihrer Hand durch die Schüsselform diese Funktion veranschaulicht. 12 Steingräber 1998 (wie Anm. 9), S. 15. 13 Besonders die Akzentuierung physischer Präsenz ist vielfach im Zusammenhang mit der deutschen Mystik erklärt worden, siehe Büttner, Frank O.: Imitatio pietatis. Motive der christlichen Ikonographie als Modelle zur Verähnlichung. Berlin 1983, S. 63–132; Minkenberg 1986 (wie Anm. 6), S. 97f.; Steingräber 1998 (wie Anm. 9), S. 12. 14 Steingräber 1998 (wie Anm. 9), S. 13f. Zum Konzept der Compassio vgl. Peng-Keller, Simon: Christliche Passionsmeditation als Schule der »Compassion«?, in: Mitleid. Konkretionen eines strittigen Konzepts. Kongressakten Zürich 2006. Hrsg. von Ingolf U. Dalferth u. Andreas Hunziker. Tübingen 2007, S. 307– 341, hierzu S. 328. Zur Compassio und der affektiven Reaktion im Umgang mit religiösen Artefakten vgl.

Stillstellung – Verinnerlichung – Kontemplation

Im Unterschied zur Malerei war es im Medium der Skulptur möglich, die Figurengrupp­e dreidimensional im Raum zu präsentieren und damit das auf die Figuren bezogene Thema des Schmerzes als Anregung zur Kontemplation für den Betrachter räumlich erfahrbar zu machen. Das Vesperbild war somit durch die mediale Bedingung der Skulptur in ihrer Plastizität real berührbar und konnte vom Betrachter »auf seine eigene Leiblichkeit« bezogen werden.15 Der »leibhaftige Charakter« der Erfahrung des toten Körpers Christi wird in der Pietà Donà dalle Rose hingegen allein durch die mimetische Wirkung von Bellinis Malerei evoziert. Die durch die Mimesis erzeugte Präsenzillusion des zu betrauernden Christus ermöglicht auch eine Vergegenwärtigung des Affektiven.16 Der mediale Unterschied zur Skulptur korrespondiert mit den differenten Visualisierungsstrategien: die Verinnerlichung und die Reduzierung der Emotionen. Bellini transferiert das Motiv des Vesperbildes in das Medium der Malerei, deren wirklichkeitsnaher Charakter im Kontrast zur Ausdrucksintensität der Skulpturen die Illusion einer Verlebendigung des Schmerzes generiert.17 Dem Entzug der Dreidimensionalität des Körpers wird durch die Visualisierung des Themas im zweidimensionalen Medium des Tafelbildes mit der vergegenwärtigenden Wirkung von Bellinis Malerei begegnet. Wie Bartolomeo Fazio (vor 1410–1457) in De viris illustribus (1453–1457) im Rekurs auf antike Dichtung und Rhetorik darlegt, dient vor allem eine naturnahe Darstellungsweise der lebensnahen Präsenzerzeugung des Inhalts und führt zu einer affektiven Reaktion beim Betrachter. In diesem Zusammenhang betont er besonders die Visualisierung verinnerlichter Emotionen im Bild.18

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Dinzelbacher, Peter: Religiöses Erleben vor bildender Kunst in autobiographischen und biographischen Zeugnissen des Hoch- und Spätmittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Kongressakten Bielefeld 1996. Hrsg. von Klaus Schreiner. München 2002, S. 299–330, hierzu S. 319–322. Zur taktil-sensuellen Wirkung der Vesperbildskulpturen vgl. Steingräber 1998 (wie Anm. 9), S. 12; Castr­i, Serenella: »In virginis gremium repositus«. Dall’archetipo del »Vesperbild« alla »Bella Pietà«. Un »excursus«, non solo alpino, in: Il gotico nelle Alpi 1350–1450 (Ausst.-Kat. Trient, Castello del Buonconsiglio u. Museo Diocesano Tridentino, 20.07.–20.20.2002). Hrsg. von Enrico Castelnuovo u. Francesca de Gramatica. Trient 2002, S. 170–185, S. 173, bezeichnet dies als »virtualità«. Nach Daniel Arasse evoziert die mimetische Qualität des Bildes beim Betrachter »un désir de présence« und stimuliert damit die Emotionen des Betrachters, siehe Arasse, Daniel: Giovanni Bellini et les limites de la mimésis: la Pietà de la Brera, in: Künstlerischer Austausch. Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte. Hrsg. von Thomas W. Gaehtgens. Berlin 1993, Bd. II, S. 503–509, hierzu S. 505. Die malerische Rezeption des Vesperbildmotivs und seine Verbindung zu den Skulpturen wird von ­Steingräber 1998 (wie Anm. 9), S. 16, als »vereinzelt« beschrieben und nicht näher verfolgt. Das Thema wird eher von Forschern zur spätmittelalterlichen Skulptur des nordalpinen Raums behandelt und unterliegt dabei dem Fokus auf bildhauerische Werke. In der Forschung zur italienischen Malerei hat das ­Thema bisher wenig Interesse gefunden und noch zu keiner eigenständigen Studie anregen können. Auch bei den italienischen Kunsthistorikern scheint es aufgrund der gleichen Bezeichnung als Pietà bisher wenig Beachtung erzeugt zu haben. Baxandall, Michael: Giotto and the Orators. Humanist observers of painting in Italy and the discovery of pictorial composition. Oxford 1971, S. 104 u. 164: »ut pote quae non solum ut os ut faciem ac totius corporis liniamenta, sed multo etiam magis interioris sensus ac motus exprimantur postulat, ita ut vivere ac sentire pictura illa et quodammodo moveri ac gestire videatur.« (es benötigt nicht nur die Darstellung des

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Einen weiteren medialen Unterschied in Bellinis Gemälde bietet die Gelegenheit zur Einbettung der Figurengruppe in einen fiktiven Bildraum, der die Landschafts- und Lichtdarstellung einer an mimetischen Gestaltungskonzepten orientierten Malerei ermöglicht. Die kompakte Geschlossenheit der Figurengruppe, die sie auf den ersten Blick isoliert im Bildraum erscheinen lässt, wird durch die Licht- und Farbgestaltung mit der Landschaft synthetisiert oder gar vereinheitlicht.19 Teile des weißen Tuchs des Lendenschurzes Christ­i oder des Schleiers Mariens korrespondieren in ähnlicher Weise mit dem Himmel und der sich sfumatesk verblauenden Bergkette ganz im Hintergrund wie das Inkarnat des Hauptes Christi mit den Brauntönen der Landschaft im Mittel- und Hintergrund. Figuren und Landschaft verbinden sich also nicht perspektivisch, sondern durch die Darstellung von Licht und Atmosphäre. Die beschriebene affektlose Stummheit der Figuren amalgamiert im Medium der Malerei mit der Ruhe der handlungsfreien und menschenleeren Landschaft, was sich etwa anhand der chromatischen Auflösung der Konturen in den Gesichtern ähnlich wie bei der Gebirgskette am Horizont nachvollziehen lässt.20 Mit diesen formalen Modus und in Konsequenz des vorher beschriebenen Verzichts, die Landschaft als Handlungsraum der Figuren aufzufassen, konzipiert Bellini die Landschaft in der Pietà in ihrer darstellerisch erzeugten Ruhe als bildräumliches Äquivalent zur figürlichen Affektreduzierung. Farb- und Lichtgestaltung erweisen sich als Mittel der Vereinheitlichung und Vergegenwärtigung, die das Verhältnis zwischen Bildfiguren und Landschaft erst erfahrbar machen und damit auch die affektive Gestimmtheit der trauernden Maria vermitteln.21 Die mimetische Wirkung der Darstellung von Licht und Atmosphäre zur Verbindung von Figur und Landschaft im Medium der Malerei unterstützt somit auch die Vergegenwärtigung des Sujets der Compassio Christi.

Gesichts oder des Anlitzes und der Züge des gesamten Körpers, aber vor allem und weit mehr der inneren Gefühle und Regungen, damit das Bild lebendig und empfindungsfähig erscheint und gewissermaßen bewegt und munter erscheint. Übers. d. Verf.). Zum Topos der ästhetischen Lebendigkeit des Bildes vgl. Land, Norman E.: The viewer as poet. The Renaissance response to art. University Park (Penn.) 1994, S. 11; Fehrenbach, Frank: Calor nativus – color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des »Lebendigen Bildes« in der frühen Neuzeit, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Kongressakten Florenz 8. bis 11. Mai 2000. Hrsg. von Ulrich Pfisterer. München [u.a.] 2003, S. 151–170. 19 Auf Bellinis Auseinandersetzung mit der altniederländischen Malerei bei der Vereinheitlichung von Figur und Raum durch Licht und Farbe verweist Castelfranchi Vegas, Liana: Italia e Fiandra nella pittura del Quattrocento. Mailand 1983, S. 157. 20 Otto Pächt beschreibt das Phänomen der Integration der Figurengruppe durch die Farbgebung in ­Bellinis Pietà als »Verfließen des figuralen Elements ins Landschaftliche«, siehe Pächt 2002 (wie Anm. 3), S. 179. 21 Bezüglich des Zusammenwirkens von Licht-, Farb- und Landschaftsgestaltung verliert sich die kunsthistorische Forschung – auch für die venezianische Malerei um 1500 – häufig in Beschreibungen der Projektion von emotionalen Zuständen auf die Landschaft als »Stimmungsraum«. Diese Nachwirkungen der Einfühlungsästhetik um 1900 sind jedoch nur schwer für die Kunst der Frühen Neuzeit historisierbar, dazu auch Aurenhammer 2015 (wie Anm. 8), S. 355. Zur Einfühlungsästhetik als Problem der Kunstgeschichte siehe Schwartz, Frederic J.: Die Angemessenheit der Einfühlung. Probleme eines kunsthistorischen Konzepts, in: Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts. Hrsg. von Robin Curtis u. Gertrud Koch. München 2009, S. 143–158.

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4  Giovanni Bellini, Pietà Donà dalle Rose, Detail (wie Abb. 1).

Im Zusammenhang mit der Erzeugung von Präsenzillusion und der möglichen Auseinandersetzung mit dem plastisch geformten Vesperbild wäre zu überlegen, ob das Gemäld­e einen paragone mit der Skulptur impliziert. Als einziges Indiz im Bild dient jedoch lediglich Bellinis Signatur »IOANNES / BELLINUS« auf dem Felsstück links neben Maria, die als Hinweis auf eine mediale Bezüglichkeit zu den Vesperbildskulpturen gedeutet werden kann (Abb. 4).22 In Bildern, deren Sujets durch einen weiträumigen Landschaftsraum charakterisiert sind, hat Bellini seine Signatur sonst nicht direkt in einen materiellen Bestandteil des Bildraums eingeschrieben, sondern diese eher auf einem cartellino im Vordergrund an der ›ästhetischen Grenze‹ des Bildes positioniert und damit zugleich die Fiktionalität der bildlichen Darstellung markiert. Im Verhältnis zum flachen Boden gestaltet Bellini den Stein und die Gewandfalten an dieser Stelle in besonders haptischer Plastizität. Die tiefe Fältelung des Stoffs und die Konturen des Felsstücks wirken nahezu formanalog. Ergänzt durch die Positionierung der rechten Hand Christi unmittelbar daneben, werden autorschaftliche Bezüge zum Topos des Künstlers als Schöpfer evident.23 Führt man den Gedanken einer Formanalogie fort, so ließe sich die Korrespondenz des Faltenwurfs der Gewandung Marias mit der Struktur des Felsstücks als monumentale, skulpturale Wirkung der Figurengruppe im Verhältnis zur Landschaft deuten. Bellini unternimmt darüber hinaus in der Pietà eine Umformung des Vesperbildmotivs durch eine Verknüpfung der Figurenkomposition mit dem Typus der Madonna dell’umiltà, da Maria nicht erhöht, sondern auf dem kargen Sandboden sitzt, und erzielt somit eine intimere und gegenwärtigere Wirkung.24 In der ikonographischen Tradition hält Maria das

22 Brassat, Wolfgang: »The Battle of the Pictures«. Rhetorik, Interpikturalität und der Agon der Künstler, in: Rhetorik 24 (2005), S. 43–70, hierzu S. 51, deutet die Verwendung von Signaturen im Zusammenhang mit dem paragone. 23 Zu den Signaturen Giovanni Bellinis siehe Goffen, Rona: Signatures. Inscribing identity in Italian Renaissance art, in: Viator 32 (2001), S. 303–370, hierzu S. 313f. Vgl. Gludovatz, Karin: Fährten legen – Spuren lesen. Die Künstlersignatur als poietische Referenz. Paderborn 2011. 24 Robertson 1968 (wie Anm. 3), S. 114, bezeichnet die Madonna auf der Wiese als Umwandlung des nord­ alpinen Pietà-Typus’ zu einer Madonna dell’umiltà.

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5  Giovanni Bellini, Madonna auf der Wiese, 1500–1505, Öl auf ­Leinwand, 67,3 × 86,4 cm, London, National Gallery.

Christuskind, in der Pietà nun aber ihren toten Sohn auf dem Schoß. Die Ikonographie der Madonna dell’umiltà war von Bellini auch in der zeitnah entstandenen Madonna auf der Wiese (1500–1505, London, National Gallery) einmalig aufgegriffen worden (Abb. 5).25 Der Zustand des Kindes im Schlafe auf dem Schoß der Mutter steht in Analogie zum toten Christus im Vesperbild. Die Vorausdeutung auf die Passion Christi in der Darstellung des Christuskindes in Konfiguration mit Maria wird in Bellinis Thronender Madonna in den Gallerie dell’Accademia in Venedig umgekehrt umgesetzt (Abb. 6). Die Körperhaltung des auf dem Schoß der thronenden Maria schlafenden Christuskindes rekurriert mit der Motivwiederholung des nach unten gesunkenen rechten Armes auf eine Darstellungskonvention des Vesperbildes.26 Die psychologisierte mütterliche Relation Marias ermöglicht in der thematischen Verschränkung neben der Freude über den geborenen Gottessohn die gleichzeitige Trauer über den zukünftigen Opfertod.27 Die beschriebenen motivischen und medialen Bezugnahmen von Bellinis Bildfindung generieren sich durch die Aufnahme des Vesperbildmotivs in einer ikonographischen Synthese durch die motivische Referenzialität auf die Madonna dell’umiltà, die vor allem im Medium der Graphik im Veneto bekannt war.28 Man kann zwar auf eine intermediale Refe25 Goffen 1989 (wie Anm. 3), S. 60. 26 Goffen 1989 (wie Anm. 3), S. 41. 27 Aurenhammer untersucht dies anhand von Bellinis Lochis-Madonna, siehe Aurenhammer, Hans H.: Das Christuskind als tragischer Held? Eine antike Pathosformel in Giovanni Bellinis Lochis-Madonna, in: Fremde Zeiten. Festschrift für Jürgen Borchhardt zum sechzigsten Geburtstag. Hrsg. von Fritz Blakolmer [u.a.] Wien 1996, Bd. II, S. 377–394, hierzu S. 380. 28 Vgl. Giorgione (Ausst.-Kat. Castelfranco, Museo Casa Giorgione, 12.12.2009–11.04.2010). Hrsg. Enrico Maria Dal Pozzolo u. Lionello Puppi. Mailand 2009, S. 457f.

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6  Giovanni Bellini, Thronende Madonna mit schlafendem Kind, um 1470–1475, Tempera auf Holz, 120 × 163 cm, V ­ enedig, Gallerie dell’Accademia.

renzialität in Bellinis Pietà aufgrund der Umsetzung des Vesperbildmotivs schließen, jedoch finden sich keine Merkmale einer Interpikturalität oder Intermedialität im Medientransfer des Sujets von der Plastik in die Malerei, da keine deutliche Markierung des Bezugs zu konkreten Werken zu finden ist. Bellini synthetisiert vielmehr verschiedene Ikonographie­n und Darstellungstraditionen, um den jeweiligen affektiven Gehalt zu konzentrieren. Es geht also weniger um die erläuterte paragonal zugespitzte Verhältnismäßigkeit der Medien Skulptur und Malerei in der Auseinandersetzung mit dem Motiv des Vesperbildes, abzielend auf eine Überbietung (aemulatio), sondern um verschiedene Visualisierungsstrategie­n von Affektdarstellung und -vermittlung. Dabei steht nicht das gegenseitige Ausspielen gegenläufiger Gestaltungs- und Wirkungsweisen im Vordergrund, sondern eine Ergänzung oder Potenzierung im Visuellen als Synthese von affektvermittelnden Formen der Bild­ rhetorik. Die Verschränkung des Motivs des Vesperbildes mit dem der Madonna dell’umiltà in Bellinis Pietà Donà dalle Rose akzentuiert eine mariologische Perspektive auf die Com­ passio und ermöglicht eine Verdichtung der Aussage im Visuellen, stand die Madonna dell’umiltà doch für die Vorausschau auf die zukünftige Passion und das Vesperbild für die Rückschau auf die Kreuzigung des Sohnes im Sinne der Beweinung.29 Mit dieser ikonogra29 Zur Analogie von Christuskind und totem Christus vgl. Goffen 1989 (wie Anm. 3), S. 60.

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phischen Verdichtung werden die programmatisch reduzierten Bildelemente zur narrativen Einordnung konfiguriert. Der allusive Charakter entsteht weniger durch den intermedialen Verweis auf konkrete Werke im Bild selbst, sondern im imaginativen Prozess der Assoziation der Motive und die Erinnerung an diese durch den Betrachter. Die Komposition spielt demnach mit der Bilderfahrung des zeitgenössischen Rezipienten und der Verankerung von Sehgewohnheiten in dessen visueller Kultur und schafft somit einen erkenntnisstiftenden Mehrwert für die Sinnkonstitution des Bildes. Demnach konsolidieren sich Emotionen durch kulturelle und soziale Erfahrung der Realität des Betrachters in Projektion auf das Bild.

Kontemplation. Affekt und Bildraum Im Unterschied zur halbfigurigen Komposition des Typus der Imago Pietatis ermöglicht das Motiv des Vesperbildes und seine erforderliche Ganzfigurigkeit die Positionierung der Figurengruppe inmitten einer Landschaft. Damit kommt dem Bildraum eine konstitutive Bedeutung bei der Vermittlung von mit dem Sujet verbundenen Affekten an den Betrachter zu. Durch die malerische Definition des Vordergrundes als kargem Erdboden scheint der Betrachter zunächst abgegrenzt zu den Bildfiguren zu sein. Die Figurengruppe selbst lässt sich schwer in diesem Bildraum verorten, da sie sich nah am Vordergrund befindet und ihre Disposition zur Weite der Landschaft schwer bestimmbar ist.30 Die Landschaft entwickelt demnach eine Weitenausdehnung, die im Unterschied zur linearperspektivischen Konstruktion des Bildraums auf keinen Fluchtpunkt oder ein Sehziel ausgerichtet ist.31 In nicht klar zu trennender Abfolge reihen sich grün bewachsene Felder aneinander bis zur horizontal verlaufenden Stadtmauer. Dahinter setzt sich die Landschaft als Gebirge fort, wobei die Berge nahezu einen »bildparallelen Abschluss« bilden.32 Während sich die Ebenen von Feld, Stadt und Gebirge auf der linken Seite horizontal aneinander reihen, wird die Landschaft auf der rechten Seite durch Wege, Baumgruppen und ein das Tal überspannendes Aquädukt verbunden und im Kontrast zur abgrenzenden Stadtmauer in die Ferne geöffnet. Durch die in Form eines Segmentbogens verlaufenden floral-vegetabilen Umfassungen sind Maria und Christus vom Mittel- und Hintergrund abgeschirmt, was zu einer zusätz-

30 Grave, Johannes: Landschaften der Meditation. Giovanni Bellinis Assoziationsräume. Freiburg im Breisgau 2004, S. 21, erklärt die räumliche Unbestimmbarkeit von Bellinis Pietà mit dem Mangel an Höhenunterschieden im Bild. 31 Ewel, Markus: Das Darstellungsproblem »Figur und Landschaft« in der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts. Hildesheim [u.a.] 1993, S. 40. Auch Grave 2004 (wie Anm. 30), S. 18, verweist auf ­B ellinis Strategie seit den frühen Ölberg- und Kreuzigungsdarstellungen, weite Landschaftsausblicke zu konstruieren. 32 Pochat, Götz: Figur und Landschaft. Eine historische Interpretation der Landschaftsmalerei von der Antike bis zur Renaissance. Berlin [u.a.] 1973, S. 363.

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lichen Distanzierung vom Hintergrund und somit zur Betonung der Ferne führt.33 Die dadurch verstärkte Isolierung der Figurengruppe im Bildraum entspricht der Isoliertheit einer im Raum freistehenden Skulptur. Wie bereits in Bezug auf das Motiv der Madonna dell’umiltà beschrieben, schafft dies die Umgebung eines hortus conclusus für die Figurengruppe und generiert eine Dialektik zwischen Distanz – im Sinne einer Abschirmung vom Hintergrund – und Nähe – gemäß einer Inklusion des Betrachters in diesen Bereich. Die Positionierung auf dem kargen Erdboden entspricht jedoch vielmehr einem locus desertus, der als Ort der Einsamkeit dem Thema der Trauer entspricht. 34 Bellini passt im Zuge der Umformung des Motivs der Madonna dell’umiltà den Bildraum der semantischen Umakzentuierung an. Zu erwägen wäre, ob Bellini anstelle von narrativen und körperlich-expressiven Bild­ elementen, die auf den Zusammenhang der Passion verwiesen hätten, orientiert an der altniederländischen Malerei vorgeht und die mariologischen und christologischen Symbolike­n verschiedener Pflanzen in dem vegetabil und floral reichhaltigen Feld hinter der Figurengruppe sowie den Gewächsen im Vordergrund verdichtet.35 Der bogenförmige Bereich mit den verschiedenen Pflanzen wird durch seine kräftigere grüne Farbigkeit und die damit verbundene Separierung von der restlichen Landschaft als Ort einer solchen Semanti­ sierung markiert. Die Vielfalt der Pflanzendarstellungen kann die Neugier (curiositas) des humanistisch gebildeten Betrachters wecken, der sich im Prozess der Bedeutungszuweisung den Bildinhalt vergegenwärtigt.36 So könnten beispielsweise die detaillierten Beschreibungen von Blumen und deren symbolische Verweise auf christliche Tugenden (Veilchen für humilitas, Lilie für castistas, Rose für caritas, usw.) in dem Bonaventura zugeschriebenen Traktat Vitris mystica zur Meditation und zum imaginativen Vor-Augen-Führen anregen.37 In Bellinis Pietà könnten die Pflanzendetails des besonders exponierten Streifens neben der Mariensymbolik diese Seh- und Meditationsangebote visuell bündeln. Im meditativen Wahrnehmungsprozess kann der Betrachter dabei von der visibilia zur spiritualia geführt werden, begünstigt durch die Fähigkeit des Bildes, ihm Einblick in die invisibilia zu gewähren.38

33 Zur Situierung der Gruppe im Bildraum vgl. Huse 1972 (wie Anm. 3), S. 96. 34 Vgl. Ewel 1993 (wie Anm. 31), S. 16. 35 Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen [1953]. Hrsg. von Stephan Kemperdick. Köln 2001, S. 146 u. 150f. 36 »Curiositas/Neugier«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. I, S. 794–813; Krüger, Klaus: Das Bild als Schleie­r des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001, S. 120. 37 Bonaventura: Vitris mystica, in: Operae omnia. Bd. VIII: Opuscula varia ad theologiam mysticam et res ordinis fratrum minorum spectantia. Hrsg. von Collegii S. Bonaventurae. Quaracchi 1898, S. 159–229, zit. nach Grave 2004 (wie Anm. 27), S. 52f. Zu dem Traktat als direkte Quelle für Bellini siehe Fleming, John V.: From Bonaventura to Bellini. An essay in Franciscan Exegesis. Princeton 1982, S. 89f. 38 Zum Konzept der visibilia und invisibilia in Meditationstexten seit Augustinus vgl. Grave 2004 (wie Anm. 30), S. 50f. u. S. 57. Zur Thematisierung und Reflektion des Sehens in Bildern Giovanni Bellinis vgl. Aurenhammer 2013 (wie Anm. 8); Aurenhammer 2015 (wie Anm. 8).

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Die Nähe des Betrachters zur Figurengruppe findet ihren Kontrast in der Ferne des Landschaftsausblicks.39 Es gibt keine Bewegung der Bildfiguren zum Betrachter aus dem Bild heraus im Sinne eines Kommunikationsaktes. Ihm bleibt folglich nur die Bewegung in die Tiefe des Bildes hinein, die der landschaftliche Weitblick ermöglicht. Damit wird die Landschaft erst durch die räumliche Disposition der Ferne erfahrbar.40 Diese erzeugte Tief­e lässt eine Narrativierung des Bildraums erwarten, die jedoch nicht erfüllt wird und den Betrachter immer wieder auf die Figurengruppe der Pietà zurückführt. Denn die Tiefendimension wird gerade nicht durch weitere Figuren oder Nebenhandlungen dynamisiert, sondern entwickelt ihr Potenzial in der mit der Gruppe korrespondierenden Ruhe, bezogen auf die Menschenleere der Landschaft. Der Verzicht auf weitere Figuren kann demnach als Mittel zur Visualisierung von Ruhe verstanden werden, um eine Anregung des Betrachters zur Kontemplation zu ermöglichen. Bellinis Landschaft fungiert damit nicht als Aktions- und Handlungsraum der Bilderzählung, wie häufig in Darstellungen der Kreuzigung und Beweinung Christi. Die Trennung zwischen Vorder- und Hintergrund in Bellinis Pietà evoziert gleichsam den Eindruck der Repräsentation zweier Sphären im Bild. Ist der unmittelbare Vordergrund der Realität der biblischen Figuren zuzuordnen, so entspräche die Landschaft durch die Architekturzitate der Vedute im Hintergrund der Wirklichkeitssphäre des zeitgenössischen Betrachters (Abb. 7). Unter den Gebäuden der Vedute befinden sich die wichtigen Monumente Vicenzas wie der Palazzo della Ragione hinter dem Torre dei Signori, der Torre di Piazza sowie die Fassade der gotischen Basilika von Vicenza, aber auch Gebäude aus Ravenna wie San Vitale und der Glockenturm von Sant’Apollinare in Classe.41 Die imaginative Vergegenwärtigung des religiösen Inhalts der Heilserwartung in der eigenen Wirklichkeit konstituiert sich hier in Verbindung mit einer identitätsstiftenden Authentifizierung durch die lokaltopographischen Architekturzitate.42 Die Darstellung der 39 Zur Kontrastierung einer betrachternahen Figurendisposition mit der Ferne eines Landschaftsweitblicks als medienreflexive Bildstrategie zur Vergegenwärtigung vgl. Krüger, Klaus: Malerei als Poesie der Ferne, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Kongressakten Frankfurt am Main 1997. Hrsg. von Klaus Krüger u. Alessandro Nova. Mainz 2000, S. 99–122, hierzu S. 99f.; Jaritz, Gerhard: Nähe und Distanz als Gebrauchsfunktion spätmittelalterlicher religiöser Bilder, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Kongressakten Bielefeld 1996. Hrsg. von Klaus Schreiner. München 2002, S. 331– 346, hierzu S. 331. 40 Ein Lob der überzeugenden Darstellung von Ferne in der Landschaft findet sich in Fazios Beschreibung von Jan van Eycks nicht erhaltener Badender Frau: »[...] et item equi hominesque perbrevi statura, montes, nemora, pagi, castella tanto artificio elaborata, ut alia ab aliis quinquaginta milibus passum distare credas.«, zit. nach Baxandall 1971 (wie Anm. 18), S. 107 u. 166 (und auch Pferde, Menschen von kleiner Statur, Berge, Haine, Weiler und Burgen, mit solcher Kunstfertigkeit ausgeführt, sodass man sie fünfzig Meilen weit entfernt glaubt, Übers. d. Verf.). 41 Gibbons, Felton: Giovanni Bellini’s Topographical Landscapes, in: Studies in Late Medieval and Renaissance Painting in Honor of Millard Meiss. Hrsg. von Irving Lavin u. John Plummer. New York 1977, S. 174–184, hierzu S. 174f.; Tempestini 1998 (wie Anm. 3), S. 166; Bätschmann 2008 (wie Anm. 3), S. 200. 42 Die eingefügten Architekturzitate wurden von der älteren Forschung als künstlerische Verarbeitungen von Bellinis Eindrücken, die er während seiner Reise nach Pesaro in den 1470ern aufgenommen haben

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7  Giovanni Bellini, Pietà Donà dalle Rose, Detail (wie Abb. 1).

Vesperbildgruppe oszilliert damit zwischen einer Verortung in der fingierten Realität des Betrachters und der gleichzeitigen Entrückung von der Wirklichkeit durch die Distanzierung von der Landschaft. Intensiviert wird dies noch durch die Platzierung des Klosters von Monte Berico bei Vicenza auf dem Hügel in Kopfhöhe Marias. Zwar ist nicht belegt, ob der Auftraggeberkontext der Pietà Donà dalle Rose mit dem Kloster in Zusammenhang steht, doch würde die prominente Positionierung in der Landschaft in Verbindung mit der Gottesmutter eine Verstärkung der vergegenwärtigenden Wirkung der Architekturzitate und gleichzeitig den Auftraggeberbezug visuell kommunizieren. Eine weitere Möglichkeit zur Aufhebung der Distanzierung zugunsten einer Verbindun­g der Figurengruppe mit der Landschaft bietet die ästhetische Strategie des Einsatzes von Formanalogien in Bellinis Pietà Donà dalle Rose.43 Etwa korrespondiert die Tiefe der Falte­n von Marias Gewandung mit der Tiefe der Landschaft, entsprechend den geschlungenen Wegen, die den Blick des Betrachters zum Hintergrund führen und kompositorisch die Raumebenen verbinden. Die Isolierung der Figurengruppe wird folglich durch nach hinte­n verlaufende Wegführungen überwunden. Die Wege leiten hier von der Figurengruppe in Richtung der Stadt oder umgekehrt, könnten jedoch auch noch narrative Referenzen an die Kreuzigungsszene beinhalten, bei der häufig im Hintergrund der Weg von der Stadt Jerusalem zur Kreuzigungsstätte dargestellt ist.44 Auch der herabhängende Arm wird vom soll, gedeutet und unterlagen einer enthusiastischen topographischen Bestimmungswelle. Felton Gibbons beschreibt die Vedute im Hintergrund der Pietà als authentische Stadtansicht Vicenzas im 15. Jahrhundert, siehe Gibbons 1977 (wie Anm. 41), S. 182. Zu den topographischen Zuschreibungen der Architekturzitate vgl. Robertson 1968 (wie Anm. 3), S. 114; Pochat 1973 (wie Anm. 32), S. 363; Pächt 2002 (wie Anm. 3), S. 179f.; Bätschmann 2008 (wie Anm. 3), S. 200. Die bloße Abbildung eines realen Stadtprospekts würde der sinnstiftenden Funktion und ihrer ästhetischen Bedeutung für die Landschaftskomposition nicht gerecht werden. Vielmehr ließe sich die Stadt als Topos des himmlischen Jerusalems und die Landschaft damit als locus amoenus deuten. In Anbetracht des toten Christus bietet sich dem Betrachter damit eine Vorausschau auf das himmlische Jerusalem, verortet in der eigenen Wirklichkeit. 43 Auch Markus Ewel zielt mit der Analyse von Formanalogien und der Konfiguration landschaftlicher Elemente auf eine Verbindung von Figur und Landschaft ab, siehe Ewel 1993 (wie Anm. 31), hierzu zusammenfassend S. 57. 44 Vgl. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, S. 159.

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Schwung des Weges wiederaufgegriffen und evoziert eine kompositorische sowie semantische Synthese der Figurengruppe mit der Landschaft.45 Das Detail der rechts neben Maria weit über den Pflanzenstreifen hinauswachsenden Blume schafft gleichsam eine subtile Verbindung zum Hintergrund. Hier fungiert der Weg als Anregung und Lenkung des Umherschweifens des Betrachterblickes. Mit diesem wandelt der Betrachter im Bild zwischen der Nähe zu Maria und Christus und der Ferne der Landschaft umher, wobei sich der Sinnhorizont des Sujets über die sukzessive Entschlüsselung integrierter Symboliken, etwa der beschriebenen Pflanzendetails oder der Architekturzitate, imaginativ erschließen und vergegenwärtigen lässt. Die spezifischen Details in der Landschaft dienen nicht der bloßen symbolischen Ergänzung des Bildinhalts, sondern bestimmen die sich sukzessiv vollziehende Rezeption des Betrachters.46 Diese Bildstrategie findet ihre Diskursivierung in einem Brief, den Pietro Bembo 1506 an Isabella d’Este bezüglich der Ausstattung ihres studiolo in Mantua schreibt. Er übermittelt der Markgräfin darin Bellinis Ringen um »künstlerische Freiheiten« bei der Themenwahl und Umsetzung des Bildauftrags, indem er fordere, er wolle »vagare a sua voglia nelle pitture che, quanto è in lui, possano sodisfare a chi le mira«.47 Diese Äußerung wurde zum Diktum einer Wanderung des Blickes durch die Landschaft, während der das Auge die (religiösen) Motive erschließt und im Prozess der ästhetischen Wahrnehmung die Semantik dem Betrachter vermittelt wird.48 Das Anregen eines von ästhetischer Neugier (curiositas) geleiteten Umherschweifens des Betrachterblickes durch die Landschaft führt nicht zu einer unmittelbar erschließbaren semantischen Evidenz. Die Deutungsherausforderungen setzen »Assoziationsketten« beim Betrachter in Gange, wodurch die Landschaft zum Raum der Kontemplation der Passion Christi wird.49 Die mit dem Thema der Passio und Compassio verbundenen Affekte übertragen sich daher nicht direkt, sondern im allmählichen Prozess der Bildbetrachtung: Religiöse Erfahrung generiert sich im Akt der ästhetischen Wahrnehmung. Die eingangs beschriebene motivische Referenzialität potenziert die visuelle Kommunikationsfähigkeit des Bildes als Träger des affektiven Gehalts. Das Spiel mit dem ikonographischen Bildwissen des Betrachters, das in dessen Imagination prozessual verschiedene Szenen und Bedeu-

45 Pochat 1973 (wie Anm. 32), S. 363. 46 Wie Johannes Grave überzeugend dargelegt hat, war die Bildstrategie, die Landschaft als Assoziations-, Zerstreuungs- und Meditationsraum für den Betrachter anzulegen und ihm dabei Variationsmöglichkeiten der sukzessiven Bilderschließung zu offerieren, bereits in Bellinis Hl. Franziskus (New York, Frick Collection) herausgebildet, siehe Grave 2004 (wie Anm. 30), besonders S. 15 u. 39. 47 Brief von Pietro Bembo an Isabella d’Este am 11.01.1506, in: Giovanni Bellini (Ausst.-Kat. Rom, Scuderie del Quirinale, 30.09.2008–11.01.2009). Hrsg. von Mauro Lucco u. Giovanni C. F. Villa. Mailand 2008, Nr. 99, S. 352. 48 Vgl. Gentili, Augusto: Bellini and Landscape, in: The Cambridge Companion to Giovanni Bellini. Hrsg. von Peter Humfrey. Cambridge 2004, S. 167–181, hierzu S. 177. 49 Grave 2004 (wie Anm. 30), S. 106, versteht Bellinis Bilder als »Vorgeschichte des vieldeutigen Bildes in der frühen Neuzeit«. Zu Assoziationsmöglichkeiten im Zusammenhang mit einer religiös-allegorischen »Bildlektüre« siehe ebd., S. 45f.

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tungsebenen der Passion hervorruft, verstärkt die Kontemplationshaltung und die Vermitt­ lung eines theologischen Inhalts durch das Bild. Dies setzt beim Betrachter differenzierte visuelle Fertigkeiten und Gewohnheiten voraus, die durch seine soziokulturelle Umgebung sowie seine Verortung in dieser visuellen Kultur geprägt sind.50 Nicht die Imago allein führt zur affizierenden Wirkung, sondern durch die Imaginationskraft des Rezipienten vermittelt sich der affektive Gehalt im Prozess der Bildbetrachtung und der Kontemplation.

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50 Zur Bedeutung der Erinnerung, die durch die bildliche Darstellung hervorgerufen wird, siehe Lentes, Thomas: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Kongress­ akten Frankfurt am Main 1997. Hrsg. von Klaus Krüger u. Alessandro Nova. Mainz 2000, S. 21–46, S. 24f.

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Lars Zieke

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AFFEK T ALS R AUM Mediale Figurationen der Verehrung bei Francesco Vanni

Die Kirche Santa Maria degli Angeli in Castiglion Fiorentino1 in der südlichen Toskana verwahrt ein Altarbild, in dem Funktionszuweisungen zwischen Bild, Rahmen und Betrachter stetig neu ausgehandelt werden (Abb. 1, Taf. X). 1596 schuf der sienesische Maler Francesco Vanni (1564–1610)2 dieses Werk als ikonische Rahmung für ein verehrtes Gnadenbild. Unter einem Baldachin mit der Geisttaube wird von zwei Putten eine Krone auf die Kuppel eines Tabernakelaltars herabgetragen, in dessen materialiter eingeschnittener Öffnung sich vormals als Bild-im-Bild eine mittlerweile entfernte Pietà aus dem frühen 16. Jahrhundert befand. Zwei Engel sowie Engelsköpfe umgeben den gemalten Altar. Im Vordergrund sind der Erzengel Michael, die Heiligen Franziskus und Antonius von Padua sowie am rechten Rand stehend der Heilige Josef situiert. Das Potenzial von Vannis Rahmenbild, den Affekt der ›Verehrung‹ des Gnadenbildes einerseits darzustellen, ihn andererseits selbst beim Betrachter hervorzurufen, steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Vannis Tafel gehört zu einem Corpus von über 170 Altarbildern, die im frühneuzeitlichen Italien als ›Rahmenbilder‹ für darin eingesetzte Gnadenbilder entstanden.3 Als bild1 2

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Vgl. Semoli, Paola: Castiglion Fiorentino, in: Cortona e la Valdichiana aretina: la storia, l’architettura, l’arte della città e del territorio. Itinerari nel patrimonio storico-artistico. Hrsg. von Stefano Casciu. Mailand 2000, S. 95–107. Zum Künstler vgl. Riedl, Peter Anselm: Zu Francesco Vanni und Ventura Salimbeni, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 9.I (1959/1960), S. 60–70. Vgl. Ciampolini, Marco: Pittori Senesi del Seicento. Poggibonsi 2010, Bd. III, S. 897–1016. Vgl. Marciari, John: Francesco Vanni. Artistic Vision in an Age of Reform, in: Francesco Vanni. Art in late Renaissance Siena (Ausst.-Kat. New Haven, Yale University Art Gallery, 27.09.2013–05.01.2014). Hrsg. von John Marciari/Suzanne Boorsch. New Haven 2013, S. 1–31. Augart, Isabella: Rahmenbilder. Altarbilder mit eingebettetem Gnadenbild im frühneuzeitlichen Italien, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 67 (2014), S. 184–193. Vgl. »Einsatzbild«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. IV, Sp. 1006–1019. Vgl. Warnke, Martin: Italienische Bildtabernakel bis zum Frühbarock, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 19 (1968), S. 61–102. Vgl. Hecht, Christian: Das Bild am Altar: Altarbild – Einsatzbild und Rahmenbild – Vorsatzbild, in: Format und Rahmen. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hrsg. von Hans Körner u. Karl Möseneder. Berlin 2008, S. 127–143, hier S. 131.

Affekt als Raum

1  Francesco Vanni, Marienkrönung mit Engeln und Heiligen, 1596, Öl auf Leinwand, Maße unbekannt, Castiglion Fiorentino, Santa Maria degli Angeli.

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religiöse Praxis präsentieren diese Rahmungen das Gnadenbild als ihren materiellen und inhaltlichen Mittelpunkt und wurden zur Inszenierung im Sakralraum und zur Affizierung des Betrachters angefertigt. Ein Gnadenbild ist ein Artefakt, welchem von den Gläubigen aufgrund seiner auf göttlicher Gnade beruhenden Wirkmacht, die sich etwa in Bildwundern manifestiert, Verehrung zuteilwurde.4 Im Hinblick auf die Medialität des Gnaden­ bildes kann von der Grundüberlegung ausgegangen werden, dass jedes Werk durch kontextuelle und institutionelle Praktiken zum Gnadenbild ›gemacht‹ werden kann.5 Derartige Praktiken umfassen die Translation in einen Sakralbau, das Anbringen an einem Altar, die Erweiterung der Altarinszenierung durch einen ›Apparat‹ von Kerzen, Votivbildern, Rosenkränzen, Schmuck sowie Blumen, die Bekleidung des Bildes, das Ver- und Enthüllen mit Textilien sowie liturgische und paraliturgische Handlungen wie Messen, Prozessionen und Wallfahrten. Eine genuin bildliche Praktik im Umgang mit Gnadenbildern stellt das Rahmenbild dar. In dieser mehrteiligen Bildkonfiguration dient das rahmende Altarbild der Inszenierung des eingesetzten Gnadenbildes im Sakralraum, der Kommentierung und Legitimierung der Bildverehrung und der Betrachteraffizierung. Die Inszenierungspraxis erstreckt sich auf Marien- und Heiligenbilder in Form von Gemälden und Statuen. Topographische Zentren der Rahmenbildproduktion sind Pistoia, Prato, Lucca, Siena und das Chianti-Gebiet sowie Rom. Die Entstehung des Bildphänomens ab den späten 1470er Jahren lässt sich aus der Werkstattpraxis der sogenannten aggiornamenti herleiten, welche Modernisierungen von älteren Bildern durch Übermalungen, Anstückungen und Einrahmungen umfassen.6 Die katholische Kirche entschied sich im 16. Jahrhundert bewusst für den Fortbestand der Bildverehrung; in diesem Zuge wurde das Rahmenbild als Inszenierungsstrategie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstärkt aufgegriffen. Der Großteil der Rahmenbilder entstand nach dem Konzil von Trient (1545–1563) im Umfeld der toskanischen Malerei des späten Cinquecento, der pittura riformata, zu der Künstler wie Santi di Tito, Jacopo Chimenti gen. Empoli, Francesco Curradi, Mario Balassi, Matteo ­Rosselli, Simone Pignoni und Francesco Vanni gezählt werden. Im Hinblick auf die Visualisierung von Affekten im religiösen Bild ist die pittura riformata der Stadt Siena in besonderem Maße aufschlussreich. Ausgehend von dem Werk

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Eine zeitgenössische Definition eines Gnadenbildes findet sich im 1582 entstandenen Discorso intorno alle imagini sacre e profane des Bologneser Kardinals Gabriele Paleotti: »In quinto luogo si dirà santa un’immagine quando Dio abbia operato manifestamente segni e miracoli in tale imagine […] La stessa si dirà di altre immagini che si trovano altrove e che, per opera divina, si erano vedute talora con il volto radioso, talora versare lacrime dagli occhi, o gocce di sangue, o fare qualche movimento come se fossero vive, o anche perchè in esse si sarà riconosciuta la bontà di Dio che, per mezzo loro, ha in un istante risanato i malati, ridato la vista ai ciechi e liberato alcuni da pericoli vari«, siehe Paleotti, Gabriele: Discorso intorno alle immagini sacre e profane (1582). Vatikanstadt 2002, S. 58–61. Holmes, Megan: Miraculous images in Renaissance Florence, in: Art history 34 (2011), S. 432–465. Vgl. dies.: The miraculous image in Renaissance Florence. New Haven 2013. Filippini, Cecilia: Riquadrature e »restauri« di polittici trecenteschi o pale d’altare nella seconda metà del Quattrocento, in: Maestri e botteghe. Pittura a Firenze alla fine del Quattrocento (Ausst.-Kat. Florenz, Palazzo Strozzi, 16.10.1992–10.01.1993). Hrsg. von Mina Gregori [u.a.]. Mailand 1992, S. 199–218.

Affekt als Raum

Federico Baroccis wurde dort am Ende des 16. Jahrhunderts eine Bildsprache entwickelt, welche im Vergleich zur pittura riformata in Florenz affektbetonter und dynamischer angelegt ist. Der sienesische Maler Francesco Vanni wurde nach einem Romaufenthalt in den 1580/1590ern durch Barocci und die Carracci stilistisch geprägt. Wesentliches Merkmal seiner Stilformulierung ist die Verknüpfung von vielfarbigem Kolorismus mit sfumatoEffekten und oszillierenden Farbwerten (cangiantismo) einerseits und einem auf das Zeichenstudium gestützten Naturalismus andererseits.7 Vanni ist Ende des 16. Jahrhunderts anhand mehrerer Werke in Castiglion Fiorentino nachweisbar.8 1596 schuf er ein hochrechteckiges Tafelbild (Abb. 1, Taf. X) in Öl auf Leinwand mit dem Bildthema Marienkrönung mit Engeln und Heiligen für die Kirche Santa Maria degli Angeli im Vorort Rètina. Der im 12. Jahrhundert errichtete Sakralraum wurde 1576 den Kapuzinerbrüdern, einem franziskanischen Bettelorden, übergeben; der Bau wurde im Verlauf des 16. Jahrhunderts mit Säulenstellungen und einer Vorhalle erweitert sowie in der Apsis verändert und 1581 als Santa Maria degli Angeli neu geweiht.9 Im Zuge dieser Umbauten erfolgte eine Ausstattung mit mehreren Fresken und Gemälden, darunter Vannis Rahmenbild. Als Auftraggeber dieser inszenatorischen Rahmung können aufgrund der dargestellten Ordensheiligen Franziskus und Antonius von Padua die lokalen Kapuzinerbrüder gelten.10 Das Werk ist signiert und datiert mit »Franc.s Van./nius Sen. s Fe. / 1596« auf der geöffneten Buchseite des Heiligen Antonius. Vannis Rahmenbild diente zur bildräumlichen Integration und Inszenierung einer darin eingesetzten Pietà unbekannter Hand aus dem 16. Jahrhundert.11 Vannis Visualisierungsziel besteht darin, den Betrachter zur Verehrung des eingesetzten Gnadenbildes zu bewegen. Aktuelle emotionswissenschaftliche Modelle zählen Verehrung zu den komplexen mixed emotions und other-praising emotions.12 Bewunderung und Verehrung erfolgen aufgrund einer Einschätzung einer anderen Person oder Entität als wichtig, bedeutungsvoll, moralisch hochstehend, talentiert, übergeordnet, mächtig, gar angsteinflößend. Vor der Folie unseres heutigen Verständnisses ist es gleichwohl wichtig, die genuin frühneuzeitliche Bedeutungsebene der Verehrung zu unterscheiden und diese in der diskursiven Gebundenheit des konfessionellen Zeitalters zu verorten. In den frühneuzeitlichen Diskur7 8

Zu stilistischen Bezügen vgl. Marciari 2013 (wie Anm. 2), S. 7–11. Casciu, Stefano: Le arti figurativi, in: Cortona e la Valdichiana aretina: la storia, l’architettura, l’arte della città e del territorio. Itinerari nel patrimonio storico-artistico. Hrsg. von Stefano Casciu. Mailand 2000, S. 43–57, hier S. 53. 9 Vgl. Salmi, Mario: Il rinnovamento rinascimentale di una pieve romanica, in: Studien zur toskanischen Kunst. Festschrift Ludwig Heinrich Heydenreich. Hrsg. von Wolfgang Lotz u. Lise Lotte Möller. München 1964, S. 255–265. 10 Die Darstellung des Heiligen Michael geht auf das entsprechende Patronat der Vorgängerkirche zurück. 11 Bei der Restaurierung der Kirche in den 1990er Jahren (Rückbau der frühneuzeitlichen Strukturen, Beseitigung der Altäre) wurde die Tafel durch die Soprintendenza Belle Arti e Paesaggio per le provincie di Siena Grosseto e Arezzo entfernt. 12 Zink, Veronika: Von der Verehrung. Eine kultursoziologische Untersuchung. Frankfurt am Main / New York 2014. Vgl. Schindler, Ines [u.a.]: Admiration and adoration: Their different ways of showing and shaping who we are, in: Cognition and Emotion 27.1 (2013), S. 85–118.

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sen über die vielfältigen Erscheinungsformen der menschlichen Affekte13 wurde um die Verehrung ein semantisches Feld eröffnet, welches Admiration, Adoration, Staunen und Bewunderung (admiratio, venerazione, stupor) umfasst. 1582 formuliert der Bologneser Kardinal Gabriele Paleotti etwa »l’adorare, come detto, non è altro che esibire la dovuta riverenza verso una cosa per la sua eccellenza«.14 Die hier beschriebene Rückbindung an kulturell genormte Praktiken und die valorisierende Wahrnehmung eines Erhabenen, Unbeschreiblichen, gar Numinosen machen Verehrung zu einem »ästhetischen Affekt«15, welcher sich für eine kunsthistorische Betrachtung in besonderer Weise eignet. Dazu möchte ich im Folgenden veranschaulichen, wie Francesco Vanni die ästhetische Verfasstheit der Rahmung für einen auf die Verehrung der eingefügten Pietà bezogenen bildlichen Kommentar nutzt. Ziel ist es, genauer nach den medialen Konstruktionen, den diskursiven Voraussetzungen und der in Vannis Bild eingeschriebenen Möglichkeit einer Affektmodellierung des Betrachters hin zur Verehrung zu fragen. Wie diese Referenzpunkte und Gestaltungsmittel in Vannis Bild zusammenwirken, bezeichne ich als »mediale Figurationen« von Verehrung.16 Der Begriff der medialen Figurationen scheint mir in diesem Zusammenhang treffend, da er den Eigenwert des Bildes und dessen Prozessoffenheit (Dynamik, Bewegung, Relationalität) in besonderem Maße betont. Dadurch soll vermieden werden, das Bildliche lediglich auf eine bloße Abbildungsleistung in der Veräußer­ lichung ›unsichtbarer‹ innerer Affekte (»Affektdarstellung«) mittels Mimik oder Gestik, damit einhergehend auf eine semantisch als eindeutig postulierte ›Lesbarkeit‹ körper­ sprachlicher Zeichen zu beschränken,17 oder es als nachträgliche Umsetzung sprachlicher Prä-Texte zu verstehen. Stattdessen erlaubt der Begriff, Visualisierungen des Affektiven im Medium Bild als in ihrem historischen Zeitkontext verankerte und ihn mitproduzierende,18 als vielschichtig-ambivalent vom Künstler angelegte,19 und schließlich als potenziell 13 Vgl. »Affektenlehre, 2. Kunst«, in: Enzyklopädie der Neuzeit (EdN), Bd. I, Sp. 88–90, hier Sp. 88. Vgl. »Gefühl 1. Allgemein«, in: EdN, Bd. IV, Sp. 247–252. Vgl. »Affekt«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. I, S. 16–48. Vgl. Hoff, Michael: Die Kultur der Affekte: Ein historischer Abriss, in: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Hrsg. von Antje Kraus-Wahl [u.a.]. Bielefeld 2006, S. 20–35. 14 Siehe Paleotti 2002 (wie Anm. 4), S. 91. 15 Vgl. hierzu auch Gess, Nicola: Vortheoretische Affekte. Staunen als ästhetische Emotion zwischen Genuss und Erkenntnis, in: Vor der Theorie. Immersion – Materialität – Intensität. Hrsg. von Oliver Jahraus u. Mario Grizelj. Würzburg 2014, S. 325–336. 16 Vgl. die prozesssoziologische Begriffsbelegung bei Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt am Main 1987, S. 5, der »die Figuration nicht als statisch, als etwas Bestehendes, sondern eben als einen Prozeß sieht«. Zur film- bzw. medienwissenschaftlichen Begriffsverwendung vgl. Bettina BrandlRisi [u.a.] (Hrsg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge. München 2000. 17 Zum Verhältnis von Emotion und Zeichen vgl. Michel, Paul: Emotionen: Gestaltungsformen, Diskurs­ felder, Beeinflussung, in: Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Emotionen. Hrsg. von Paul Michel. Zürich 2005, S. 1–67. 18 Bal, Mieke: Einleitung: Affekt als kulturelle Kraft, in: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Hrsg. von Antje Krause-Wahl [u.a.]. Bielefeld 2006, S. 7–19. 19 Werner, Elke Anna: Visualität und Ambiguität der Emotionen. Perspektiven der kunst- und bildwissenschaftlichen Forschung, in: Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne. Hrsg. von Claudia Jarzebowski u. Anne Kwaschik. Göttingen 2013, S. 147–166.

Affekt als Raum

beim Rezipienten affektproduzierende Figurationen zu verstehen. 20 In einem derartigen Zusammenspiel verschiedener Visualisierungsstrategien auf der Bildfläche einerseits, in der Verflechtung von kulturellem Kontext, Werk und Betrachterraum andererseits, entstehen Relationen und räumliche Strukturen,21 welche sich – als unsichtbares Dazwischen – um den Nukleus des Bildes legen. Darin folge ich der Deutung des französischen Semiotikers und Philosophen Louis Marin, der die Funktionsweise der »Rahmung« als Intervall beschrieb: »Der Rahmen kann als Intervall zwischen drei Räumen verstanden werden, die ein Gemälde verbindet (dem dargestellten Raum, dem Raum der Repräsentation und dem Raum der Präsentation).«22 Mit den folgenden Überlegungen sei daher ein Versuch unternommen, Affekt innerhalb einer räumlichen Kategorie zu denken.

Räume – Relationen Eine erste Ebene ist die bildinterne Verhandlung von räumlich-kontextuellen und institutionellen Praktiken, welche ein Artefakt zum Gnadenbild ›machen‹ und dem Betrachter aus seiner eigenen Glaubenswirklichkeit wohlvertraut waren. Vannis Bild diente ursprünglich im Chorbereich am hölzernen Hauptaltar der Inszenierung der Gnadentafel.23 Das Rahmenbild inszeniert das lokal verehrte Gnadenbild in einer Innenraumsituation. In einer schmalen, von seitlichen Pilastern begrenzten Halle befindet sich mittig auf inkrustierten Marmorfliesen eine freistehende, in schimmernden Braunwerten als hölzern markierte, Kleinarchitektur mit steinerner Mensa, zwei vorgesetzten Säulen und einer Kuppel. Diese Kleinarchitektur evoziert als Figuration zweiter Ordnung eine tatsächliche zeitgenössische Altarsituation. Vom »Raum der Präsentation«24 Castiglion Fiorentino aus­ gehend, verortet die rahmende Inszenierung das Gnadenbild nun an einer festgelegten Position im Gefüge des gemalten Innenraumes (»Raum der Repräsentation«)25, welcher in 20 Vgl. zur »Medialisierung des Heiligen« Lentes, Thomas u. David Ganz (Hrsg.): Ästhetik des Unsichtbaren. Bildgebrauch und Bildtheorie in der Vormoderne. Berlin 2004 (KultBild 1), S. 14. Vgl. auch die Beiträge in Koch, Elke u. Heike Schlie (Hrsg.): Orte der Imagination – Räume des Affekts. Die mediale Formierung des Sakralen. Paderborn 2016. 21 Rau, Susanne: Räume: Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. Frankfurt am Main 2013. Vgl. Rau, Susanne u. Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Topographien des Sakralen: Religion und Raumordnung in der Vormoderne. München [u.a.] 2008. Vgl. Schwerhoff, Gerd: Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Topographien des Sakralen: Religion und Raumordnung in der Vormoderne. Hrsg. von Susanne Rau u. dems. München [u.a.] 2008, S. 38–71. 22 Marin, Louis: Du cadre au décor ou la question de l’ornement dans la peinture, in: Rivista di Estetica 12 (1993), S. 16–35, hier S. 23: »Le cadre peut alors être compris comme un intervalle des bords des trois espaces que conjoiunt le tableau (représenté, de représentation et de présentation)«, übers. Beyer, Vera: Rahmenbestimmungen. Funktionen von Rahmen bei Goya, Velázquez, van Eyck und Degas. München 2008, S. 19. Vgl. zu Theorien der Rahmung »Rahmen«, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, S. 364–367. 23 Das Bild befindet sich seit der Restaurierung der Kirche in den 1990er Jahren an der rechten Wand des Presbyteriums. 24 Marin 1993, S. 23, übers. 2008, S. 19 (wie Anm. 22). 25 Marin 1993, S. 23, übers. 2008, S. 19 (wie Anm. 22).

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einem dritten Schritt als ›anderer Ort‹, als Bildraum einer Differenz, ausgewiesen wird: Durch die Säulenstellung eröffnet sich der Blick zum blauen Himmel als Chiffre eines himmlischen »dargestellten Raum[es]«26 im Bildhintergrund. Neben dieser räumlich-institutionellen Transgression vom lokalen Kircheninterieur hin zum Ort der Transzendenz wird durch die gemalten Textilien eine weitere Verortung als mediale Figuration der Verehrung angedeutet. Ein gestreiftes Ehrentuch hinterfängt den gemalten Altar mit einer Öffnung für das ursprünglich hier eingebettete Gnadenbild, das Tuch wird in der Bildeinrichtung durch Seile an den beiden dahinterstehenden Säulen befestigt. Die Bildnische für das eingesetzte Gnadenbild wird somit als unverhüllt und offen markiert. Dies ist insofern von Interesse, als dass es sich bei der Bedeckung und Enthüllung von Gnadenbildern um eine weitverbreitete soziale Praktik in der Frühen Neuzeit handelt. Für zahlreiche Gnadenbilder sind in den frühneuzeitlichen Quellen Verhüllungen nachweisbar.27 Diese umfassen oftmals bestickte oder bemalte Vorhänge aus Textilien wie Seide oder Brokat (cortinae), feststehende, teils mechanisch entfernbare, Bedeckungen des Bildträgers aus Holz oder kostbaren Metallen wie Silber sowie seitlich angebrachte klappbare Holz- oder Metallflügel (sportelli). Die Praktik der Bedeckung rekurriert auf eine alte kultische Tradition28 und dient der Betonung der ikonischen Wirkmacht und der Bedeutungssteigerung des Wahrnehmungserlebnisses durch den nicht alltäglichen Anblick.29 Wesentlich in Vannis malerischer Replik dieser Praktik ist nun, dass der implizite Betrachter als Betrachter eines ›unverhüllten‹ Gnadenbildes konstituiert wird und somit gleichermaßen in einer konkreten räumlich-institutionellen Disposition verortet wird. Die Momenthaftigkeit eines enthüllten Gnadenbildes lokalisiert das Wahrnehmungserlebnis in den Kontext eines konkreten Ereignisses, welches sich etwa innerhalb einer Liturgiefeier, eines Marienhochfestes oder einer Bruderschaftsveranstaltung abspielte. Der im Rahmenbild eröffnete freie Blick auf das Gnadenbild weist dem Betrachter in der ästhetischen Fiktion eine privilegierte Stellung als Teilnehmer des Enthüllungs-Ereignisses zu. In Vannis Bildkonfiguration wird neben dieser zeitgenössischen Praktik der Ver- und Enthüllung von Gnadenbildern noch ein weiterer Umgang mit Gnadenbildern aufgerufen: die offiziell-kirchliche Bekrönung mit metallenen Weihekronen.30 Den oberen Gemälderand ziert ein roter Schmuckbaldachin mit goldenen Elementen über dem Altar, unter dem die Geisttaube vor einer goldenen Kreisform zu sehen ist und zwei Putten eine Krone auf den oberen Aufsatz der Kuppel herabsenken. Die Bekrönung des Gnadenbildes als dar­ gestelltes Bildmotiv treffen wir nicht nur in der italienischen Bildtradition, sondern auch

26 Marin 1993, S. 23, übers. 2008, S. 19 (wie Anm. 22). 27 Holmes 2013 (wie Anm. 5), S. 218–227. 28 Dünninger, Hans: Gnad und Ablaß – Glück und Segen, Das Verhüllen und Enthüllen heiliger Bilder, in: Jahrbuch für Volkskunde 10 (1987), S. 135–170. Vgl. Holmes 2013 (wie Anm. 5), S. 218–220. 29 Holmes 2013 (wie Anm. 5), S. 223; S. 220. 30 Zur Bekrönung von Marienbildern vgl. Gussone, Nikolaus: Die Krönung von Bildern im Mittelalter, in: Jahrbuch für Volkskunde 13 (1990), S. 150–176. Vgl. »Krönung von Marienbildern«, in: Marienlexikon, Bd. III, S. 683.

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gerade in Vannis Werk31 wiederholt an. In Vannis Rahmenbild wird die aus dem »Raum der Präsentation« zeitgenössisch bekannte Verehrungspraxis der Bekrönung – in diesem Fall durch die himmlischen Personen – nicht nur dargestellt, sondern auch stetig als Ereignis vollzogen. Dabei kommt dem Rahmenbild der relationale Status eines Intervalls zu, welches zwischen dem Gnadenbild und der Betrachterwirklichkeit eingezogen wird und kontinuierlich zwischen diesen beiden vermittelt. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, der die Differenz zwischen dem Heiligen (sacré) und der Religion herausstellte. Während er das Heilige als das »Getrennte, das Ausgegrenzte, das Verschanzte« beschreibt, kann nach Nancy die Religion »als das dargestellt werden, was eine Verbindung zu dem abgetrennten Heiligen herstellt«32. Nancy folgend, kommt dem Rahmenbild als Teil des Raumes der Religion zugleich eine Handlungskraft als Agens der Vermittlung zu. So kann Vannis Darstellung der räumlichen Inszenierung im liturgischen Raum und der zeitgenössischen Verehrungspraktiken der Enthüllung und Bekrönung als eine durch die Bildlichkeit realisierte religiöse Annäherung an das Heilige verstanden werden. Diese Darstellung der frühneuzeitlichen Verehrungspraxis, welche als Institutionalisierungsakt eines Gnadenbildes innerhalb der Topographie des Sakralraums zu verstehen ist, macht das Rahmenbild zum Handlungsbild einer zeitgenössischen Verehrungspraktik. Prägend für ein derartiges aktives Bildverständnis ist hierbei der Ereignis-Begriff von Hans-Georg Gadamer. Zentral in seiner Bildauffassung ist der Gedanke, dass ein Kunstwerk nicht ein »distanziertes, von Betrachter und zeitlichem Kontext«33 unabhängiges Objekt ist, sondern vielmehr seine Sinndimension gerade erst in der jeweiligen dialogischen Begegnung mit dem Betrachter gewinne. Er vermerkt in Wahrheit und Methode 1960 zum Ereignischarakter des Werkes: »Jede Aufführung ist ein Ereignis, aber nicht ein Ereignis, das als ein eigenes dem dichterischen Werke gegenüber oder zur Seite träte – das Werk selbst ist es, das sich in dem Ereignis der Aufführung ereignet.«34 Nach Gadamers Bildbegriff ›ist‹ Vannis Rahmenbild somit in diesem – bildlich perpetuierten – Moment im Modus der Verehrung. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass das Rahmenbild selbst einen ›verehrenden‹ Bildmodus für das eingesetzte Gnadenbild einnimmt. Das Bildliche hat somit nicht nur eine Wirkmacht als Medium zur Annähe­rung an das Heilige, sondern auch eine eigene affektive Handlungskraft. Das Bild, so scheint es mir, ist nicht nur Träger der zeitgenössischen Verehrungspraktiken, sondern selbst ein ›Ort‹, eine Handlungsfläche des Affektiven.

31 Vgl. Francesco Vanni, Marienkrönung mit Engeln und Heiligen (1598, Siena, San Niccolò al Carmine), sein­e Madonna mit dem Kind, Bernardin von Siena, Franziskus und Leonard (1593, Arcidosso, Chiesa dei Cappuccini) sowie seine Marienkrönung mit Engeln und Heilung eines Knaben (um 1600, Siena, Chiesa di S. Spirito/S. Giacinto). 32 Nancy, Jean-Luc: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 9. 33 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Gesammelte Werke, Bd. I. Tübingen 2010, S. 16. 34 Gadamer 2010 (wie Anm. 33), S. 152. Vgl. weiterführend Dominic Delarue [u.a.] (Hrsg.): Das Bild als Ereignis. Zur Lesbarkeit spätmittelalterlicher Kunst mit Hans-Georg Gadamer. Heidelberg 2012.

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Seelenbewegungen Auf dieser Aushandlungsfläche agieren die dargestellten Bildfiguren, die nun als eine zweite Ebene der medialen Figurationen von Verehrung in den Blick genommen werden. Affekte räumlich zu denken, heißt in diesem Zusammenhang, dass die Bildfiguren nicht nur in ihrer bildhaft-statischen ›Körpersprache‹, sondern vor allem auch in ihrer räumlichen Bewegung und Interaktion wesentliche Affektträger sind. Diese Überlegung zum Affekt als Bewegung stützt sich auf Leon Battista Alberti. Im Kontext seiner an antiker Rhetorik (movere) orientierten Wirkungsästhetik35 beschreibt der italienische Humanist in seinem Malereitraktat Della Pittura (1435/36) die Affekte als innere Seelenbewegungen (movimenti­ d’animo): Einerseits gibt es Bewegungen der Seele, die ›Affekte‹ genannt werden, wie Zorn, Schmerz, Freude und Furcht, Begehren und dergleichen. Andererseits gibt es Bewegungen der Körper.36 Diese seelischen Bewegungen aber erkennt man an den Bewegungen des Körpers. So sehen wir, wie ein Schwermütiger, weil ihn die Sorge bedrückt und die Gedanken ihn bedrängen, mit seinen Kräften und Sinnen wie benommen dasteht und sich langsam und träge mit seinen blassen und geschwächten Gliedern bewegt. Bei einem Melancholiker wirst du die Stirn gerunzelt sehen, den Nacken erschlafft, und wie im übrigen jedes Glied wie müde und verlassen herabhängt. Weil der Zorn die Seele aufregt, schwellen dem Zornigen hingegen im Ärger die Augen und das Gesicht an, zudem entzündet sich seine Gesichtsfarbe, und jedes seiner Glieder bewegt sich umso heftiger, je größer die Wut ist. Den heiteren und fröhlichen Menschen gehören die freien Bewegungen und bestimmte anmutige Biegungen an.37

Ausgehend von einer Affekt-Klassifikation entwickelt Alberti ein Modell, Affekte im Bild äußerlich sichtbar darzustellen. Dabei stellt er dem Maler die Aufgabe, durch die Wiedergabe des im Naturstudium beobachteten äußeren Erscheinungsbildes,38 durch Körperhaltung und Bewegung, Mimik, Gestik und Gesichtsfarbe, Einblick in die Seelenbewegung einer Bildperson zu geben. Besonderes Augenmerk lenkt Alberti in seiner Beschreibung

35 Vgl. zum Verhältnis von Text und Bild in der humanistischen Wirkungsästhetik Werner 2013 (wie Anm. 19). 36 Siehe Alberti, Leon Battista: Della Pittura – Über die Malkunst (1435/36). Hrsg. von Oskar Bätschmann u. Sandra Gianfreda. Darmstadt 42014, übers. S. 135, S. 134: »Sono alcuni movimenti d’animo detti affezione, come ira, dolore, gaudio e timore, desiderio e simili. Altri sono movimenti de’ corpi.« 37 Siehe Alberti 2014 (wie Anm. 36), übers. S. 131/133, S. 130/132: »Ma questi movimenti d’animo si conoscono dai movimenti del corpo. E veggiamo quanto uno atristito, perché la cura estrigne e il pensiero l’assedia, stanno con sue forze e sentimenti quasi balordi, tenendo sé stessi lenti e pigri in sue membra palide e malsostenute. Vedrai a chi sia malinconico il fronte permuto, la cervice languida, al tutto ogni suo membro quasi stracco e negletto cade. Vero, a chi sia irato, perché l’ira incita l’animo, però gonfia di stizz­a negli occhi e nel viso, e incendesi di colore, e ogni suo membro, quanto il furore, tanto ardito si getta. Agli uomini lieti e gioiosi sono i movimenti liberi e con certe inflessioni grati«. 38 Vgl. Oskar Bätschmann/Sandra Gianfreda: Einleitung. Leon Battista Alberti über die Malkunst, in: Albert­i 2014 (wie Anm. 36), S. 1–60, hier S. 39–40. Vgl. Reißer, Ulrich: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1997. Vgl. Rehm, Ulrich: Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung. München / Berlin 2002.

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der Ausdrucksformeln auf den Aspekt der Bewegung (»quasi balordi«, »lenti e pigri«, »stracco e negletto«, »tanto ardito si getta«).39 Innerhalb seines umfassenderen Bewegungsbegriffs, welcher sieben mögliche Richtungen der Bewegung im Raum umfasst,40 schreibt sich durch derartige Veränderungen, Beschleunigungen und Verlangsamungen des Körpers eine Ebene der Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit in die »bildlich dargestellten Bewegungsformen und Handlungszusammenhänge«41 des bildlichen »Vorgangs« (istoria) ein. Albertis Überlegungen zur bildlichen Wirkungsästhetik wurden in der Folgezeit in zahlreichen kunsttheoretischen Schriften weiter ausgehandelt.42 Inwieweit Bilder jedoch nicht als bloße Umsetzung der verschriftlichen Wirkungsästhetik zu verstehen sind, sondern unter Berücksichtigung des Anbringungsortes und des impliziten Betrachters eigene mediale Figurationen erzeugen, zeigt sich deutlich in Vannis Rahmenbild. In der Tafel wird bildräumliche Bewegung nicht nur durch mannigfaltige Blickbewegungen und Figurenpositionen ausgedrückt. Eine besondere Bedeutung kommt den Farbwerten zu, die in ihrem Zusammenspiel und in ihrem Betrachterbezug wesentlich für die im Bild dargestellte und evozierte Verehrung sind: Vier Cherubimköpfe mit roten Wangen flankieren die Öffnung für die Gnadenbildinszenierung. Im oberen linken Bildteil scheint sich ein größerer Engel in einer weiten Schrittstellung mit geöffneten Armen hin zum Betrachterraum zu bewegen und neigt sich dem Tabernakelaltar zu. Auf der rechten Seite blickt achsensymmetrisch ein weiterer Engel mit buntschimmerndem Gewand und überkreuzten Armen zu den im Bildvordergrund positionierten Heiligen herab. Links blickt der Erzengel Michael frontal den Betrachter an. Im contraposto stützt er das rechte Spielbein auf dem Helm ab; während die rechte Hand des Seelenwägers in der Waagschale ruht, hat er seine linke Hand angewinkelt hinter den Rücken geführt. In der Bildkonfiguration kommt ihm die Rolle einer appellativen Figur zu, der die Bildbetrachtung des impliziten Betrachters lenkt. Albertis Forderung nach einem ›Zeiger‹, 43 welcher den

39 Zum Bewegungsbegriff bei Alberti vgl. Michels, Norbert: Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster 1988, S. 9–38. 40 Bätschmann/Gianfreda 2014 (wie Anm. 38), S. 39. 41 Dittmann, Lorenz: Über das Verhältnis von Zeitstruktur und Farbgestaltung in Werken der Malerei, in: Festschrift Wolfgang Braunfels. Hrsg. von Friedrich Piel u. Jörg Traeger. Tübingen 1977, S. 93–109, hier S. 95. 42 Vgl. Michels 1988 (wie Anm. 39), zu Gauricus S. 78–86, zu Lomazzo S. 104–120. So beschäftigt sich ­Pomponius Gauricus in seinem Traktat De Scultura 1504 mit der Frage, wie ein Kunstwerk durch Bewegungsdarstellung beim Betrachter imaginäre lebhafte Bilder hervorzurufen vermag. Leonardo da Vinci fügt die Gemütsbewegung des Künstlers als weiteren Aspekt hinzu und konzentriert sich daneben auf den Ausdruckswert des Gesichtes und der Gestik. In der Kunsttheorie des ausgehenden 16. Jahrhunderts wurde der Ausdruckswert der Faktur verstärkt analysiert. So gibt beispielsweise Giovanni Paolo Lomazzo in seinem Trattato dell’arte della pittura 1584 genaue Empfehlungen, wie Komposition, Bewegung, Licht, Farbgebung, Perspektive, Figurendarstellung und Bewegungsrichtungen zur affektiven Aufladung beitragen. 43 Alberti 2014 (wie Anm. 36), übers. S. 133, S. 132: »E piacemi sia nella storia chi ammonisca e insegni a noi quello che ivi si facci, o chiami con la mano a vedere, o con viso cruccioso e con gli occhi turbati minacci che niuno verso loro vada, o dimostri qualche pericolo o cosa ivi maravigliosa, o te inviti a ­piagnere con loro insieme o a ridere.«

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Betrachter »mit der Hand zum genauen Hinschauen auffordert« (»chiami con la mano a vedere«), folgend, treten Bildfiguren auf, welche durch einen Zeigeakt mit gestreckter Hand auf einen bildimmanent dargestellten Gegenstand hindeuten und sich in ihrer Blickwendung an den Betrachter richten. Zahlreiche Rahmenbild-Inszenierungen von Vanni und von anderen Malern nutzen eine derartige Figur, welche den Betrachter auf das eingebettete Gnadenbild verweist.44 In Vannis Bild in Castiglion Fiorentino jedoch wird der »Gestus des Zeigers« 45 in der Figur des Erzengels Michael nicht über eine Handbewegung, sondern über seine Person und über seine auf den Betrachter bezogene Frontalität eingelöst. Ihm kommt bereits durch seine Positionierung im Raum eine hervorgehobene Stellung zu. Als Bildfigur steht er im Modus der ›Ostension‹ (lat. ostendere, zeigen). Über eine bloße Blicklenkung des Betrachters hinausgehend, wird durch Michael die Betrachtungsweise gesteuert und das Bild um eine Appellstruktur bereichert, das Bild ›richtig‹ zu betrachten. In diesem Zusammenhang sind wiederum nicht nur die körpersprachlichen Zeichen, sondern vor allem die Farbwerte von großer Bedeutung: Vanni betont die Aufmerksamkeitslenkung auf diesen Heiligen durch sein in vielfarbigen Tönen oszillierendes Gewand. Der helle Gelbton der eng am Körper anliegenden Rüstung setzt sich vom dunklen Hintergrund der Raumsituation ab. Der Rotwert seines Schultertuchs kehrt beim Stoffelement an der Lanzenspitze, am Baldachin, am Gewand des rechten Engels und an der Steinschwelle unterhalb des Heiligen Antonius wieder und lenkt den Blick des Betrachters in einer Kreisbewegung durch den Bildraum. Dabei entsteht durch die Blickbewegungen des Betrachters eine Umrahmung des Gnadenbildes. Verehrung wird als bildräumlicher Wahrnehmungsprozess im Bild vollzogen. Die gesättigten Farbwerte in Vannis Rahmenbild setzen in den Bildecken helle Akzente und variieren zwischen den oszillierenden Farbwerten bei den größeren Engeln und dem Erzengel und dem schlichteren warmen Gelb und Braun des Heiligen Josef. Dieser steht in einer halbfrontalen Schrittstellung am rechten Bildrand, der linke Fuß des bärtigen Heiligen spielt mit der ästhetischen Schwelle zwischen Bild- und Betrachterraum. Ähnlich wie dem Erzengel Michael kommt auch ihm die Rolle einer ostentativen Betrachterlenkung zu. Während Michael durch seine Frontalität als erstes Wahrnehmungsangebot den Blick des Betrachters einfängt, führt ihn der nach oben blickende Nährvater Josef auf das eigentliche Ziel der Bildinszenierung: das Gnadenbild. Seine Blickregie, die parallel gesetzten Linien der Faltenschwünge und die Stange in der rechten Hand des Josef weisen den Betrachterblick nach oben zum hier vormalig eingesetzten Gnadenbild. Dieser linear ›weitergeleitete‹ Blick kann dabei als vergleichsweise passiver Wahrnehmungsakt, die eigene aktive ›Umrahmung‹ des Gnadenbildes durch den Betrach44 Vgl. Francesco Vanni, Marienkrönung mit Engeln und Heiligen (1598, Siena, San Niccolò al Carmine); Prospero Fontana, Die Beweinung Christi mit verehrenden männlichen und weiblichen Figuren (1566– 1570, Berlin, SMB Gemäldegalerie, Depot); Benedetto Pagni, Engel und Heilige (1552–1553, Pisa, Museo Nazionale di San Matteo, Depot) oder Sodoma, Gottvater mit Heiligen (um 1536, Siena, San Domenico). 45 Gandelman, Claude: Der Gestus des Zeigers, in: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Hrsg. von Wolfgang Kemp. Berlin 1992, S. 71–93.

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ter hingegen als aktiver Wahrnehmungsakt verstanden werden. Körperbewegung, Farb­ bewegung, Blickbewegung – diese Figurationen erzeugen eine in beide Richtungen durchlässige Membran zwischen Bild- und Betrachterraum und machen die beiden stehenden Heiligen zum Scharnier für den Betrachter hin zur ›richtigen‹ Gnadenbild-Wahrnehmung. Die im Bild eingeschriebenen movimenti oculari als Blickbewegungen des Betrachters erzeugen den Rhythmus für die movimenti d’animo, die Seelenbewegungen der Verehrung.

segni esteriori – cultu interiore Wie die legitime Wahrnehmung und Verehrung des Gnadenbildes auszusehen habe, dies spielt Vanni anhand der beiden Franziskanerheiligen Franziskus und Antonius von Padua durch. Indem er die beiden Figuren bei der Verehrung des Gnadenbildes zeigt, fügt er dem Rahmenbild eine dritte Ebene der medialen Figurationen der Verehrung zu: die Betrachteraffizierung. In ihren dunkelbraunen Ordenskutten scheinen sie in der Farbwirkung eng mit dem Braunwert des gemalten Tabernakelaltars verbunden, sie sind – im Vergleich zu Josef und Michael – näher an das Gnadenbild gerückt. Im Bildgefüge lenkt die von oben und von links vorne kommende Lichtquelle Akzente auf die Gesichter und Hände der Franziskaner. Die Augenringe im ausgezehrten Gesicht und die Stigmata des Franziskus gibt Vanni in Entsprechung zur Darstellungskonvention des Heiligen wieder. In seinen angewinkelten Händen hält der Heilige Franziskus ein kunstvoll geschnitztes Kruzifix, die Bewegungsenergie des poverello ist mit erhobenem Haupt und gespreizten Ellenbogen nach oben und außen gerichtet (Abb. 2, Taf. XI). Neben ihm wirkt der Heilige Antonius von Padua in seiner Bewegungsenergie hingegen nach innen zurückgenommen und in die Lektüre seines Buches vertieft. Vannis naturnaher Darstellungsmodus setzt helle Glanz­ akzente auf die Fingernägel der zum Gebet zusammengeführten Hände. Neben dem Vanitas-Symbol eines Schädels ist ein aufgeschlagenes Buch an die Platte des Tabernakelaltars gelehnt, vor dem der Heilige betet (Abb. 3, Taf. XII). Wie lässt sich ›Verehrung‹ im Bild visualisieren? In den biblischen und apokryphen Texten, den theologischen Abhandlungen und der frühneuzeitlichen Kunstliteratur gibt es keine klaren Anweisungen zur codifizierten Darstellung von Verehrung für die Maler. Als sichtbare Körper-Zeichen der Verehrung in Vannis Werk lassen sich das Niederknien beider Heiliger, der nach oben zum Himmel gerichtete Blick und der leicht geöffnete Mund des Franziskus, die gefalteten Hände, das Neigen des Hauptes sowie der gesenkte Blick des Antonius beschreiben. Ähnliche Ausdrucksformeln werden in der zeitgenössischen Bild­ tradition und bei Rahmenbild-Inszenierungen vielfach verwendet. In diesem Zusammenhang ist ein 1566–1570 entstandenes Rahmenbild des Bologneser Malers Prospero Fontan­a im Depot der Gemäldegalerie in Berlin von Interesse: Die Beweinung Christi mit verehrenden männlichen und weiblichen Figuren (Öl auf Holz, 219 × 140 cm). Besonders die drei über­ einander gestaffelten männlichen Figuren auf der rechten Bildseite (Abb. 4) bieten in ihrer Gestik und Mimik Wahrnehmungsangebote als Aufruf zur Verehrung an den Betrachter.

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2  Francesco Vanni, ­Marienkrönung mit Engeln und Heiligen, Detail (wie Abb. 1).

Fontana betont den momenthaften Charakter der Verehrung innerhalb einer Gruppe, welcher sich als zeitlich unterscheidbare Reaktion auf das gemeinsame Erlebnis, eine Vision der Pietà, äußert. Dazu ordnet Fontana mehrere Einzelfiguren in unterschiedlichen Ergriffenheitsdarstellungen in einer komplexen Staffelung übereinander und in einer halbkreisförmigen Anordnung um das eingesetzte Gnadenbild an und fächert eine innerbildliche Zeitstruktur des Ereignisses auf. Die Entwicklung von Körperzeichen der Verehrung geht zum einen auf liturgische Gebärden wie das Händefalten (junctio manuum), das Knien und Kniebeugen (genuflexio), das Verbeugen oder das Brustklopfen zurück.46 Vor dem Altar und im Sakralraum voll-

46 Zu liturgischen Gebärden vgl. auch Guardini, Romano: Von heiligen Zeichen (1922/1929). Ostfildern 2008.

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3  Francesco Vanni, ­Marienkrönung mit Engeln und Heiligen, Detail (wie Abb. 1).

führte liturgische Handlungen und Körperbewegungen der Gläubigen werden somit im Bild dargestellt und konstituieren dieses als Figurationen der Verehrung mit. Zum anderen scheint die Entwicklung dieser visuellen Zeichen von einem phänomenologischen Ausdruckswillen für die körperliche Reaktion auf ein übergeordnetes Gnadenereignis bestimmt. Für die Figuration der Verehrung im Bild bedeutet dies, dass die körperlichaffektive Reaktion als valorisierende Wahrnehmung des Numinosen zu deuten ist und das Unsichtbare und Undarstellbare der göttlichen Gnade vor allem in der Reaktion darauf durch die dargestellten Bildfiguren an Form zu gewinnen vermag. Diese Reaktion des Staunens und der Ergriffenheit ist im frühneuzeitlichen Zeitkontext austauschbar sowohl für die Verehrung als auch für andere Darstellungskonventionen etwa bei der Transfiguration oder der Mariä Himmelfahrt nutzbar. Derartige Motivübernahmen und -kombinationen innerhalb der Kunstentwicklung weisen körperlichen Ausdruckszeichen somit einen topischen Stellenwert zu. Wesentlich erscheint dabei jedoch die Möglichkeit zur Neuentwick-

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4  Prospero Fontana, Die Beweinung Christi mit verehrenden männlichen und weiblichen Figuren, Detail, 1566–1570, Öl auf Holz, 219 cm × 140 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie.

lung visueller Zeichen im produktionsästhetischen Prozess.47 Eine ästhetische Freude am Thema der Verehrungsdarstellung lässt sich beispielsweise deutlich bei Paolo Uccellos 1436 entstandener Anbetung des Kindes (Tempera auf Holz, 118 × 48,5 cm) aus der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe beobachten (Abb. 5). Uccello zeigt nicht nur die Gottesmutter und die Heiligen bei der Adoration des Christuskindes mit etablierten Ausdrucksgebärden wie den gebeugten Knien und den zum Gebet gefalteten Händen. Im Bildhintergrund haben sich auch Ochse und Esel in kniender Körperhaltung mit angewinkelten Vorderbeinen ­niedergelassen. Körper-Zeichen der Verehrung sind stets vor dem Hintergrund ihrer kulturellen und zeitlichen Gebundenheit zu verstehen. Im Zeitkontext der Katholischen Reform wurde dem Thema der ›Verehrung‹ große Bedeutung beigemessen und in zahlreichen Abhandlungen aus theologischer und bildtheologischer Perspektive diskutiert.48 In einer für die kunsthistorische Forschung aufschlussreichen Quelle, dem 1582 entstandenen bildertheologischen Traktat Discorso intorno alle imagini sacre e profane des Bologneser Kardinals 47 Vgl. zum Begriff der Poiesis (griech. »machen«, »herstellen«, »tun«) und zur Produktionsästhetik als Theo­ rie der künstlerischen Arbeit »Produktionsästhetik«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. VII, Sp. 140–154. Zu Uccellos Tafel vgl. Kat. 2.7, in: Da Donatello a Lippi, officina pratese (Ausst.-Kat. Prato, Museo di Palazzo Pretorio, 13.09.2013–13.01.2014). Hrsg. von Andrea De Marchi [u.a.]. Mailand 2013, S. 118–119. 48 Hecht, Christian: Katholische Bildertheologie der Frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren. Neuauflage Berlin 2012.

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5  Paolo Uccello, Anbetung des Kindes, 1436, Tempera auf Holz, 111 × 48,5 cm, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle.

Gabriele Paleotti, wird Verehrung (venerazione, adorazione) als »l’adorare, come detto, non è altro che esibire la dovuta riverenza verso una cosa per la sua eccellenza«49 definiert. Paleotti unterscheidet drei Verehrungsgrade: Während der Trinität die »Latrie« (adorazione; latrìa) zukomme, sollen sich die Gläubigen in »Hochverehrung« (hiperdulia) an die Gottes­ mutter und in »Verehrung« (dulia) an die Heiligen wenden.50 Eine Passage des Traktates ist im Hinblick auf die Visualisierung von Verehrung von besonderem Interesse: 49 Siehe Paleotti 2002 (wie Anm. 4), S. 91. 50 Siehe Paleotti 2002 (wie Anm. 4), S. 91–92.

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Unsere Absicht ist es, durch diese äußeren Zeichen hindurch die Gnade des Herren zu ver­ ehren. […] Wenngleich, entsprechend der eigenen Gewohnheiten, manche vor dem Bildnis niederknien, andere es umfassen, wieder andere es küssen, andere es nur mit dem Finger berühren, wie man es von den Armeniern liest […] und doch gibt es, bei all diesen äußerlichen Unterschieden doch nur einen einzigen inneren Kultus.51

Verehrung äußert sich nach Paleotti in sichtbaren aktiven Handlungen (segni esteriori) und in innerer Gestimmtheit (culto interiore).52 In dieser Dualität führt der Weg vom äußerlichen Kult zum »inneren, geistigen Akt«.53 Als äußerliches Wahrnehmungsangebot kommt dem Bild dabei ein hoher Stellenwert zu. Der damit verbundene Aspekt der Bildverehrung wird ausführlich diskutiert. Die Verehrung des Bildes bezieht sich auf den himmlischen Prototypen und dient der Gewissheit der himmlischen Gnadenquelle.54 Das Bild als sichtbares Objekt und die ihm entgegengebrachte Verehrung durch segni esteriori kann in einem Kausalverhältnis die innere Vertiefung des culto interiore auslösen. Kultische Ver­ ehrungspraktiken vor dem Bild umfassen bei Paleotti das Kerzenanzünden und Körperbewegungen wie Kniebeugen oder die Berührung des Bildes. In Entsprechung zu einer in der posttridentinischen Bildertheologie weitverbreiteten Auffassung55 müssen gemalte Bilder für Paleotti sowohl den Geist des Betrachters als auch dessen Frömmigkeit anregen, wozu sie affektive Aspekte einsetzen müssen (»illuminare l’intelletto e suscitare al contempo la devozione e stimolare il cuore«).56 Verehrung als im Bild dargestellter und durch das Bild initiierter Affekt wurde im Sinne der Katholischen Reform funktionalisiert und diente der Legitimation der altgläubigen Bildverehrung. Im Konzil von Trient (25.12.1559– 09.12.1565) wurde diese Auffassung in dem am 03. Dezember 1563 angenommenen Dekret »Über die Anrufung und Verehrung der Heiligen und die Reliquien und über die heiligen Bilder« verdichtet.57 Das Dekret betont, dass die Bilder als Abbilder der Heiligen (quae illae repraesentant) in den katholischen Kirchen weiterhin präsentiert und verehrt werden sol-

51 (Übers. d.V.). Siehe Paleotti 2002 (wie Anm. 4), S. 91: »noi abbiamo principalmente in animo di riverire, attraverso questi segni esteriori, la gloria […] E però vedremo talora, secondo i costumi delle persone, alcuno inchinarsi ad una imagine, altro abbracciarla, altro bacciarla, altro toccarla solo col dito, come si legge degli Armeni […] e nondimeno, con tutta questa diversità esteriore, potrà essere un solo il culto interiore.« 52 Siehe Paleotti 2002 (wie Anm. 4), S. 92–93. Vgl. Hecht 2012 (wie Anm. 48), S. 144–150. 53 Hecht 2012 (wie Anm. 48), S. 144. 54 Siehe Paleotti 2002 (wie Anm. 4), S. 92. 55 In ähnlicher Weise führt Karl Borromäus aus, dass Darstellungen, welche den Betrachter nicht zur Frömmigkeit bewegen können, abzulehnen seien. Siehe Borromäus, Karl: Instructiones Fabricae et Supellectilis Ecclesiasticae (1577), in: Trattati d’Arte del Cinquecento. Hrsg. von Paola Barocchi. Bari 1962. Bd. III, S. 3–113, hier v.a. Buch I, Cap. XVII De Sacris Imaginibus Picturisve, S. 42–45. 56 Siehe Paleotti 2002 (wie Anm. 4), S. 202. 57 Siehe hierzu Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum – Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Hrsg. von Heinrich Denzinger u. Peter Hünermann. Freiburg im Breisgau 1991, 1821–1825. Vgl. zum Konzil von Trient Jedin, Hubert: Kirche des Glaubens – Kirche der Geschichte, Bd. II: Konzil und Kirchenreform. Freiburg im Breisgau 1966, S. 460–498 sowie Jedin, Hubert: Geschichte des Konzils von Trient, Bd. IV. Dritte Tagungsperiode und Abschluß, erster und zweiter Halbbd., Freiburg im Breisgau 1975, S. 180f.

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len. Der Grund liege darin, dass die Heiligenbilder als Exempla die Frömmigkeit der Gläubigen steigern würden und sich die ihnen erwiesene Ehre und Verehrung (honorem et venerationem) auf den dargestellten Heiligen als Prototyp und damit verbunden auf das göttliche Wirken selbst beziehen würde. Wenn man vor diesem Hintergrund wieder auf Vannis Rahmenbild blickt, lässt sich die Überlegung anstellen, dass die im Bild dargestellte Verehrungspraktik der Heiligen Franziskus und Antonius, dem Tridentinischen Dekret visuell folgend, als äußeres Zeichen dazu dient, den Affekt des Betrachters ebenfalls zur Verehrung hin zu modellieren. Diese Körperzeichen der Heiligen dienen als ›Affektbrücken‹ hin zum Betrachter. Nach einem auf Horaz zurückgehenden und in Leon Battista Albertis Malereitraktat (1435/36) weiterentwickelten wirkungsästhetischen Modell sind derartige Affektbrücken wesentliches Agens des movere und dienen als innerbildliche Rezeptionsvorgaben für uns als implizite Betrachter, welche »weinen mit dem Weinenden, lachen mit dem Lachenden und leiden mit dem Leidenden« (piagniamo con chi piange, e ridiamo con chi ride, e doglianci con chi si duole).58 Man könnte ergänzen: verehren mit den Verehrenden. Die Heiligen Franziskus und Antonius führen bildimmanent dem Betrachter vor, wie eine posttridentinisch angemessene Verehrungshaltung zum eingebetteten Gnadenbild auszusehen habe. Im Hinblick auf die ursprünglich eingesetzte Gnadentafel einer Pietà wird deutlich gemacht, dass der »himmelnde Blick«59 als Ausdrucksgebärde auf den Gnadenakt der Heilsgeschichte, die Passion Christi, gerichtet ist. Das Kruzifix in den angewinkelten Händen des Heiligen Franziskus ist höchst ambivalent angelegt: Es ist zum einen als kunstvoll geschnitztes hölzernes Artefakt, zum anderen durch das lebendig anmutende Inkarnat des Gekreuzigten und die Materialität seines freischwebenden Nimbus im Modus der Präsenz dargestellt. Indem Christus am Kreuz gewissermaßen auf die eingesetzte Pietà und damit auf sein eigenes Bild im Schoß der schmerzerfüllten Mutter blickt, werden die Grenzen der imago weiter ausgelotet (Abb. 2, Taf. XI). Dadurch verdeutlicht die Rahmenbild-Inszenierung, dass sich auch die Verehrung des darin eingebetteten Gnadenbildes über das Bild auf den himmlischen Prototyp, den dreieinigen Gott, als eigentliche Gnadenquelle beziehen müsse. Der Heilige Franziskus wird über das Kunstobjekt zur Verehrung der Heilsgewissenheit motiviert und in einer nach auswärts gerichteten Bewegungsenergie mit gestreckten Armen und aufgerichtetem Oberkörper präsentiert, gewissermaßen visuell vom Ort der Kunstbetrachtung zum himmlischen Prototypen ›weitergeleitet‹. Auf der geöffneten Buchseite des Heiligen Antonius von Padua erscheint in einer ikonischen Spielerei die Künstlersignatur und erinnert in roten Initialen und schwarzen Buchstaben an die ästhetische Ver58 Alberti 2014 (wie Anm. 36), übers. S. 131, S. 130: »Poi moverà l’istoria l’animo quando gli uomini ivi dipinti molto porgeranno suo proprio movimento d’animo. Interviene da natura, quale nulla più che lei si truova rapace di cose a sé simile, che piagniamo con chi piange, e ridiamo con chi ride, e doglianci con chi si duole.« 59 »Der himmelnde Blick«. Zur Geschichte eines Bildmotivs von Raffael bis Rotari (Ausst.-Kat. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden Gemäldegalerie Alte Meister, Semperbau, 03.11.1998–10.01.1999). Hrsg. von Andreas Henning u. Gregor J. M. Weber. Dresden / Emsdetten 1998.

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fasstheit eines liturgischen Buches oder Stundenbuches (Abb. 3, Taf. XII). Hierdurch wird im Rahmenbild die Beziehung zwischen der äußeren Schau und Textlektüre sowie der inneren Schau der Heilsgeschichte im Modus der Verehrung visuell eingefordert. In beiden Fällen, bei Antonius und bei Franziskus, ergibt sich also, dass Sehen und Ver­ehrung eng miteinander verschränkt sind. Der Visualität des Affektiven wird somit eine aktivische Dimension zugewiesen: Verehrung erfolgt in einem Akt des Betrachtens und kann gleichermaßen durch einen Akt des Betrachtens gesteuert werden. Die dargestellten Heiligen Antonius und Franziskus sind in der räumlichen Disposi­tion zwischen Bildraum und Betrachterraum als vermittelnde Identifikationsfiguren zwischen Gnadenbild und Betrachter eingeschaltet. Sie sollen das gesamte Spektrum der inneren und äußeren Verehrung, die segni esteriori und den cultu interiore, auffächern. Dabei kommt dem Raum zwischen den beiden Heiligen eine besondere Bedeutung zu. Was sich hierin abzeichnet, können wir als ›Dopplung und Überlagerung‹ zusammenfassen. Die genannten Ausdrucksgebärden, mimischen und gestischen Bewegungen sowie die jeweiligen Blickrichtungen der Heiligen sind nicht als ›individuelle‹ Veräußerlichung ihrer Affekt­e zu verstehen, sondern als verräumlichte Seelenbewegung: Indem Vanni jeweils zwei Varianten der inneren und äußeren Verehrung darstellt und diese beiden Bewegungsenergien miteinander verschränkt, wird nicht nur das ganze Spektrum des Affektes in seinem Bild aufgefächert, sondern auch ein affektiver Zwischen-Raum generiert. Zwischen der Bildlichkeit der eingesetzten Pietà, der offenbarten Heilsbotschaft im Medium der Schrift (Antonius) und dem Präsenz-Artefakt des Gekreuzigten (Franziskus) setzt das Bild eine bewusste Leerstelle: eine Leerstelle, die gleichwohl gefüllt ist durch die in ihr vollzogene Subsumierung der Affektlagen der Adoration. Verehrung wird in Vannis Tafel räumlich verstanden, als zwar unsichtbarer, aber vielleicht gerade dadurch als umso stärker verdichteter Raum visualisiert. Das Rahmenbild wird für den Betrachter als räumliche Konzentration der adoratio erfahrbar. Vannis Bild lädt ihn ein, selbst in diesen Verehrungsraum einzutreten.

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Rhetoriken der Empfindsamkeit

Joseph Imorde

RHETORIKEN DER EMPFINDSAMKEIT

Der Kirchenhistoriker Paul Maria Baumgarten1 äußerte einmal die Meinung, dass das devotionale Weinen in der Frühen Neuzeit eine »ganz allgemeine Mode« gewesen sei.2 Bei »jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit« habe man geweint, geheult, geschluchzt. Und da hätte es keinen Unterschied zwischen Männern und Weibern gegeben: »Sie heulte­n einzeln oder rudelweise; sie heulten gemeinschaftlich zu Hunderten, ja zu Tausenden«.3 Die pointierte Formulierung war nicht aus der Luft gegriffen, sondern Ausdruck der unzähligen Zeugnisse performativen Weinens in den Zeiten katholischer Reform. Tränen zu vergießen, gehörte ganz selbstverständlich zum religiösen Leben. Das Weinen wurde als die herzliche Sprache Gottes empfunden, die immer wieder aus den Augen des oder der Gläubigen hervorbrach, um vom Verborgenen zu reden.4 Mit den Zähren traten unsicht1

Paul Maria Baumgarten (1860–1948), 1887 Mitglied des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft, 1894 Priesterweihe in Rom, mit Unterbrechungen bis 1924 als Privatgelehrter in Rom. Vgl. Gatz, Erwin: Anton de Waal (1837–1917) und der Campo Santo Teutonico. Rom [u.a.] 1980 (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 38, Supplementheft), S. 95. Negative Meinungen auch in Baumgarten, Paul Maria: Die römische Kurie um 1900. Ausgewählte Aufsätze von Paul M. ­Baumgarten eingeleitet und mit einem Werkverzeichnis herausgegeben von Christoph Weber. Köln / Wien 1986 (Kölner Veröffentlichungen zu Religionsgeschichte 10), S. 3: »große Dreistigkeit«; S. 20: »frech«. Ein würdigender Nachruf von Karl August Fink in der Zeitschrift für Kirchengeschichte 63 (1950/51), S. 239–242. 2 Baumgarten, Paul Maria: Von der neuen Ausgabe der Constitutiones Societatis Jesu, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 56 (1937), S. 399–423, hier S. 408. 3 Baumgarten 1937 (wie Anm. 2). Baumgarten kündigt dort eine Studie zum Thema an: »Diese höchst merkwürdigen Vorgänge werde ich demnächst ausführlicher besprechen.« Die Studie ist leider nie erschienen. 4 Vgl. Rodriguez, Alphonso: EXERCITIVM DE PERFECTIO- NE ET VIRTVTIBVS CHRISTIANIS. ­AVCTORE R. P. ALPHONSO RO- driguez Societatis IESV Sacerdote, in tres partes distributum, Et cum omnibus, tum eiusdem Socie- tatis Religiosis potissimùm accom- modatum. Ex lingua Hispanica in Italicam: & ex hac in Latinam à Patre eiusdem Societatis iam- primùm traductum. PARS PRIMA. De varijs medijs acquirendae virtutis & perfectionis. Cum facultate Superiorum, & Priuilegio Caesareo DILINGAE. Formis Academicis. APVD VDALRICVM REM. M. DCXX I s.l. 1621, Tractatus Qvintus [De Oratione], Capvt XII [Momenti esse maximi, in Meditatione insistere actibus affectibusque voluntatis], S. 352–353: »[…] Anima mea liquefacta est, vt dilectus locutus est, [Cant. 5] quod egregiè, vt solet, S. Thomas aduertit dicens, [2.2.q 180 a. 7.] temetsi contemplatio essentialiter posita sit in intellectu, vltima nihilominus ipsius

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bar wirkende Affektionen an die Oberfläche5 und machten dort die innere Reue, Umkehr und Gnadenzuwendung erkenn-, sicht- und meßbar. Eines der besten Beispiele für die Tränenverliebtheit der katholischen Reform war – bekanntermaßen – Ignatius von Loyola, der sich in jeder Hinsicht den großen Weinern und Ordensgründern des hohen Mittelalters, das heißt den Heiligen Dominikus und Franziskus gleich zu machen versuchte. Die 175 Belege für das Vergießen von Tränen allein in den ersten vierzig Tagen seines geistlichen Tagebuchs,6 geben eine Ahnung davon, wie

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perfectionem consistere in amore affectuque voluntatis, ita vt finis principalis contemplationis nostrae, esse debeat hic affectus, Deique amor. Et quidem hanc esse breuem illam succinctamque orationem à Christo traditam vult S. Augustinus, quando dixit: Orantes autem nolite multùm loqui. Aliud est, inquit ille, sermo multus, aliud diuturnus affectus; absit ab oratione multa locutio sed non desit multa precatio: Et negotium hoc plus gemitibus, quàm sermonibus agitur iuxta illa prophetae: neque taceat pupilla oculi tui. [Matth. 6, l. de oran. Deum c. 10 q & Epistol. 21. Ad Prob. Thren. 2. In ps 5.] quaerit super his D. Hieronymus, quo nam pacto dicat [353] Hieremias, vt pupilla oculi non taceat, an non lingua est, quae loquitur? quid pupillae cum locutione? Respondet verò, quando coram Deo lacrymae funduntur, dici tunc, pupillas oculorum transmittere Deo voces, sicuti etiam nihil loquendo ore, loqui possumus Deo corde: sic misi­t DEVS, ait S. Paulus spiritum filij sui in corda vestra, clamantem: Abba pater. [Ad Gal. 4.] Et in Exodo Mosi dixit DEVS: Quid clamas ad me? [Exod. 14.] qui tamen non nisi corde loquebatur, pari ratione conuenit & nos extollere voces nostras in oratione ad DEVM, l a c r y m i s s c i l i c e t , s u s p i r i j s , a e s t u a n t i b u s d e s i d e r i j s , q u i b u s m u l t ò m a g i s q u a m e x t e r n a v o c e i n c o e l u m p e n e t r a t u r.« Und weiter Pars Prima, Tractatus Septimvs [De Examine conscienitae.], Capvt IX. [Magni referre adiungere Examini particulari, opus aliquod poenale], S. 508–509: »Multùm cum hac doctrina concordat, id quod docet Cassianus, disputando de diligentia, qua vti dèbemus in spirituali hoc conflictu, & examine particulari. Eam ipse sic describit: Adversus vitium illud inquit, arripiat principale certamen, seruus DEI, omnem curam mentis ac sollicitudinem erga illius impugnationem, observationemque defigens, aduersus illud, quotidiana ieiuniorum spicula, contra illud cunctis momentis cordis suspiria, crebraque gemituum tela contorquens; aduersus illud vigiliarum labores, ac meditationem sui cordis impedens, indefinentes quoque orationum ad DEVM fletus fundens & impugnationis suae extinctionem, ab illo specialiter ac iug ter poscens. Haec ille, Hanc diligentiam non modò adhibere debemus in dicto examine, verum etiam in oratione, nec illa solitaria duntaxat quam remotis arbitris facimus, sed & crebrò coram alijs interdiu attollendi oculi cordis in coelum sunt, & ad Dominum piaculares orationes transmittendae, & cum suspirijs gemituque cordis ad eum clamandum, Domine, da humilitatem, Domine, castitatem, Domine, patientiam. Ad hunc eundem effectum, augustissimum Sa- [S. 509] cramentum saepiuscule adeundum & interunendum, ibique coram & à Domino multa Instantia, gratia postulanda, acquirendi id quo tantopere ad nostram vocationem indigemus.« Vgl. Ricci, Bartolomeo: INSTRUCTIO R. P. BARTHO- LOMAEI RICCII SOCIE- TATIS IESV THEOLOGI DE MODO RECTE MEDITAN- DI DE REBVS DIVINIS, Optimisquibusq. praeceptis, documentis, & exemplis, è SS. Patrum monumentis excerptis, illustrata. NVNC recens ex Italico idiomate in latinam linguam traducta. A R. P. IOANNE BVSAEO SO- CIETATIS IESV. ACCESSIT R. P. FRANCISCI ARIAS EXER- citium de Praesentia DEI. MOGVNTIAE. EX TYPOGRAPHEO BALTHA- ZARIS LIPPII. ANNO M.DCV. Leipzig 1605, S. 486–489 [Pars III Cap. V De Lachrymis spiritualis]. Ricci bietet noch einmal eine Tränenklassifikation, zuerst werden die Tränen des Alltags (S. 486: »Ad has lachrymas prompti sunt, quibus humidum est cerebrum, vt mulieres, pueri, corpulenti, & pituitosi.«), von einem geistlichen Weinen abgesetzt. In der Klasse der spirituellen Tränen gibt es wiederum drei Untertypen: »compunctio cordis« (Petrus), »compassionis« (Christus) und schließlich »dulcedinis« (Ignatius). S.  487: »Primi generis lachrym[a]e sunt incipientium, qui sunt in via purgatiua. Secundae autem proficientium, qui sunt in via illuminatiua. Tertiae denique lacrymae sunt dulcedinis, & propriae Perfectorum, qui sunt in via unitiua.« Vgl. Guibert, Joseph de: La spiritualité de la Compagnie de Jésus. Esquisse historique. Rom 1953 (Bibliotheca Instituti Historici S. I. 4), S. 45: »Dans la première partie du manuscrit, pour les quarante jours qui vont du 2 février au 12 mars, il est fait mention les larmes 175 fois, soit en moyenne plus de quatre fois par jour; dans la seconde partie, à dater du 14 mars apparaissent les notations algébriques (a l d, puis O C Y)

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wichtig der »dono delle lachrime« für Ignatius von Loyola war und wie einflußreich er für die Glaubensausrichtung des Jesuitenordens werden sollte.7 Roberto Bellarmino legte in seinem erstmals 1617 erschienenen Tränentraktat De gemitu columbae, sive de bono ­lacrymarum, libri tres unter anderem Zeugnis davon ab, dass neben Ignatius von Loyola und Franz Xaver auch die später heilig gesprochenen Jugendlichen des Ordens, das heißt der Pole Stanislaus Kostka und der Fürstensohn Luigi Gonzaga, in ganz abundantem Maße Tränen vergossen hatten.8 Doch selbstverständlich wurde nicht nur im Jesuitenorden geweint. In Rom selbst fiel neben Ignatius besonders der Gründer des Oratorianerordens, Filippo Neri, durch seine Tränenbegabung auf. Das Weinen war dabei so stark, dass man es bei ihm als ein Wunder ansah, dass er darüber sein Augenlicht nicht verlor.9 Ein weiterer, ausgezeichneter Weiner, war der damalige General des Kapuzinerordens Lorenzo da Brindisi. Häufig wurde bei ihm beobachtet (und hin und wieder auch dargestellt), wie er sich die Zähren mit extra dafür bereit gelegten Taschen- oder Tränentüchern abwischte. Die Schwester des Herzogs von Mantua, so ging die Legende, habe einmal mehrere dieser völlig durchnäßten »fazzoletti« ausgewrungen und damit immerhin eine kleine Karaffe gefüllt.10 qui désormais jusqu’au 27 février 1545, résumeront les notes marquant jour par jour la présence, l’abondance ou l’absence des larmes, avant, pendant, après la messe, à l’oraison, en chambre ou à la chapelle; et, les développements plus longs disparaissant à partir de la fin de mai, le Journal n’est plus, pour les neufs derniers mois, qu’un registre minutieusement tenu de ce don des larmes.« 7 Vgl. Guibert 1953 (wie Anm. 6), S. 48: »Il paraît donc bienqu’il y avait pour Ignace liaison intime, et quasi équivalence, entre les larmes et les faveurs intérieures dont elles étaient la manifestation.« 8 Bellarmino, Roberto: DE GEMITV COLVMBAE, siue De dono lacrymarum, LIBRI TRES: Auctore ROBERTO S. R. E. CARD. BELLARMINO è Societate IESV. AD IPSAM EAMDEM RELIGIONEM SVAM. ANTVERPIAE, EX OFFICINA PLANTINIANA, Apud Balthasarem & Ioannem Moretos. M. DC. XVII Antwerpen 1617, S. 7f.: »Habent quoque ijdem seniores nostri (vt alia multa praeteream) exemplum beati Francisci Xauerij, de quo illud constat, tanta copia spiritualium consolationum, & lacrymarum ­suauissimarum abundasse, vt ipse quoque temperamentum à Domino petere cogeretur. Habent denique iuniores nostri exempla duorum adolescentium nobilissimorum, non minùs virtute quàm sanguine, beat­i videlicet, Stanislai Kostca, & beati Aloysij Gonzagae, qui flumina lacrymarum, praesertim in precibus, fundere videbantur.« 9 Il primo processo per San Filippo Neri. Nel Codice Vaticano Latino 3798 e in altri esemplari dell’archivio dell’oratorio di Roma. Hrsg. von Giovanni Incisa della Rochetta u. Nello Vian. Bd.  I: Testimonianze dell’inchiesta romana: 1595. Vatikanstadt 1957 (Studi e testi 191), S.  183 [Antonio Gallonio am 07.09.1595]: »Era tanto il dono delle lachrime continuo, che è stato miracolo che non habbi perso la vista­; non poteva applicarsi a cose de Iddio, che non piangesse; q u a n d o v e d e v a p e r s o n e t e n t a t e o i n g a n n a t e , p i a n g e v a s u b i t o commovendoseli le viscere per compassione; et, cosi vechio, doi anni sono, li sentii dire una persona della qual duibitava non fosse in uno inganno: ›per te‹, piangendo diceva, ›mi farò anco discipline assai, così vechio come sono‹.« Vgl. auch Il primo processo per San Filippo Neri. Nel Codice Vaticano Latino 3798 e in altri esemplari dell’archivio dell’oratorio di Roma. Hrsg. von ­Giovanni Incisa della Rochetta u. Nello Vian. Bd. III: Testimonianze dell’inchiesta romana: 1610, Testimonianze ‹extra Urbem›: 1595–1599. Vatikanstadt 1960 (Studi e testi 205), S. 422 [Federico Borromeo Extra Urbem Milano im Januar 1597]: »Fu tale la sua carità, che, per salvare un’anima, et per levare una del peccato, il l’ho visto dare in pianto dirottissimo, in quel modo, a punto, che un fanciullo piange, quando è battuto aspramente dalla madre: questo ho io visto doi o tre volte.« 10 Carmignano di Brenta, Arturo M. da: San Lorenzo da Brindisi dottore della chiesa universale (1559–1619). 4 Bde. Venedig-Mestre 1960–1963 (Miscellane Laurentiana IV), Bd. III, S. 429–434, hier S. 432 [Rapiment­i e lacrime]: »Per asciugarsi le lacrime si faceva preparare sill’altare numerosi fazzoletti. A volte gliene bas-

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Bei all’ dem nahmen die Weiner der Frühe Neuzeit Maß und Beispiel an den Tränen, die das Mittelalter reichlich hatte vergiessen und auch unermüdlich hatte theoretisieren können. Das breite Schrifttum der Kirchenväter, das in der katholischen Reform in systematischer Weise einer Relektüre unterworfen wurde, bot neben vielem anderen auch eine stets weiter ausgearbeitete Lacrimologie. Die vielen Tränenkataloge, die das Mittelalter – von Johannes Cassian (gest. ca. 435),11 bis – sagen wir – Bonaventura (1221–1274)12 erarbeitet hatte, konnten etwa von der jesuitischen Neuscholastik des Collegio Romano wieder aufgegriffen und den kontroverstheologischen Anforderungen der Zeit angepaßt werden. So knüpfte der Jesuit Bartolomeo Ricci in seiner Istruttione per meditare aus dem Jahre 1600 an Gregor den Großen an und unterschied grundsätzlich drei geistliche Arten der Tränen: Das Weinen aus tiefster Betroffenheit und Zerknirschung (compunctio/contritio), das Weinen aus Mitleid (compassio) und das Weinen aus innerer Rührung (dulcedo).13 Dies­e Abfolge war insofern mit der mittelalterlichen Tradition auf das Engste verbunden, als dass das Reue- und Bußweinen auch da stets an der ersten Stelle aller Kategorisierungsversuche gestanden hatte. Das Lob der »compunctio lacrymarum« oder »contritio cordis« ließ sich dem frühen Schrifttum an hunderten von Stellen entnehmen. Die Tränen der Pönitenz waren – nach den Worten des heiligen Chrysostomos – nicht nur süsser als der reinste Honig, sondern auch erquickender als der Wein und nährender als das Brot.14 Die reini-

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tavano due o tre; ma altre volte non erano sufficienti quattro, cinque, sei, e più; tanto che alla finde della celebrazione si vedeva la mensa dell’altare tutta ingombra di fazzoletti. Era una profluvio di pianto che scendeva a bagnare anche i paramenti, il corporale e le tovaglie della mensa. Nè i panni apparivano soltanto inumiditi; ma erano intrisi di lacrime come se fossero stati inzuppati nell acqua. Basterà dire che la duchessa di Mantova, facendone spremere un certo numero, ne ricavò una piccola caraffina di liquido.« Ebd., Bd. IV.2, S. 233–238, hier S. 234–235 [1626–1628. – Deposizione di padre Francesco Severino da Napoli. Dal P. A. Nap. ASV, Arch. Congr. SS. Rituum Proc. 379, f. 44r ss.]: »E questo [die langen Messen] non in estasi, ma sempre padrone di se stesso, in meditationi e grandissime effu- [S. 235] sioni di lachrime, sì che ne bagnava più fazzoletti, col mezzo de’ quali Dio nostro signore have operato molti miracoli; e li bagnava in modo, che, per quanto ho udito dal padre fra Filippo da Soragna sopradetto, madama di Ferrara, sorella del duca di Mantova, havendo intelligenza con nostri frati, da quegli fazzoletti premuti hebb­e una carafina piena delle lacrime del detto padre.« Stock, Norbert: Leben und Wirken des heiligen Lorenz von Brindisi aus dem Kapuziner-Orden. Brixen 1882, S. 157. Benke, Christoph: Die Gabe der Tränen. Zur Tradition und Theologie eines vergessenen Kapitels der Glaubensgeschichte. Würzburg 2002 (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 35), S. 98f. Zu Bonaventura siehe Balogh, Joseph: Das Gebetsweinen, in: Archiv für Religionswissenschaft 37 (1929), S. 365–368, S. 366 mit Verweis auf Bonaventura, Dieta salutis, C. XXXVIII: »Hiernach gibt es drei Arten des Andachtweinens: fletus compunctionis, fletus compassionis, fletus devotionis. Das Gerüst des Systems ist folgendes: Sex sunt fletus incitamenta, et sex fletus impedimenta, et sex fletus emolumenta. Fletus incitamenta: recognitio propriae culpae; incolatus praesentis vitae; timor gehennae; recordatio passionis dominicae; recordatio humanae miseriae; desiderium celestis patriae. Fletus impedimenta: superbiae elatio; terrenorum affectio; cordis compressio; nimia occupatio; ignorantiae excaecatio; peccati magnitudo. Fletus emolumenta vel utilitatis: spiritum devotum lavat; spiritum malignum necat; terram cordis irrigat; sitim sedat; orando efficaciter impetrat.« Vgl. Ricci 1605 (wie Anm. 5), S. 486–489 [Pars III Cap. V De Lachrymis spiritualis]. Zappert, Georg: Über den Ausdruck des geistigen Schmerzes im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Förderungs-Momente des Rührenden im Romantischen. Gelesen in den Sitzungen der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am XIV. und XXVIII. April MDCCCLII. Wien 1854 (Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 5), S. 73–136, hier S. 77.

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gende Wirkung der Reuetränen konnte mit jener der Aschenlauge verglichen werden, denn wie diese die Wäsche, so säuberten die Busstränen die Seele; wie das Bad den Leib von Schmutz, so reinigte das Weinen von den Sünden.15 Und da das Vergießen von Tränen in seiner purgierenden Wirkung einer zweiten Taufe zu vergleichen war und auch gleichkommen sollte, musste es dem geistlichen Stand zur Aufgabe werden, diese sündentilgende Reinigung immer und immer wieder an sich selbst zu vollziehen, und das im besten Falle ein ganzes Leben lang.16 Diesem Anspruch war es unter anderem zuzuschreiben, dass die Hagiographie von allem Anfang an von wunderlichen Tränenberichten nur so überfloß. Es gab keinen Heiligen, der sich nicht durch eine starke Tränengabe ausgezeichnet hätte.17 Als Beispiel sei hier der heilige Johannes, genannt der Nasiräer, angeführt, der so endlos Tränen vergoß, dass ihm die Augenlider dahinschwanden, 18 anführen könnte man aber auch den heiligen ­Asterius, dem aufgrund seines unablässigen Weinens die Augenwimpern ausfielen, sodass er stets ein Tuch mit sich führte, um seine abundant fließenden Tränen zu trocknen.19 Wünschte nun in der frühen Neuzeit jemand in den Ruf der Heiligkeit zu gelangen, musste er sich an diesen und vielen anderen Heroen orientieren und mit seinem persönlichen »donum lachrimarum« belegen, dass er zu der kleinen Gruppe der Auserwählten und Begnadeten gehörte. Kaum jemand kam dieser performativen Nachweispflicht stärker nach als der Papst Clemens  VIII. (Ippolito Aldobrandini), der sich wie kein anderer vor und nach ihm dadurch auszeichnete, fast immer und überall Tränen vergießen zu können. Zeit seines Pontifikats wurde bemerkt und von den Zeitgenossen aufgezeichnet, dass er bei nahezu allen heiligen Handlungen lang und laut weinte.20 Seine Auftritte zeichneten sich – ganz generell gesprochen – durch eine inszenierte Weinerlichkeit aus. 21 Das zeitigte Wirkung, denn die auffällig ausgestellte Tränengabe von Clemens’ VIII. schlug sich in der Kunstproduktion der Zeit nieder. So wurden den Tränen des Papstes geistliche Verse gewidmet, zur Ehre seines weit vernehmbaren Schluchzens geistliche Musik komponiert. Eines der letz-

15 Zappert 1854 (wie Anm. 14), S. 77f. 16 Müller, Barbara: Das Gebet unter Tränen in der Benediktsregel und der Vita Benedicti Gregors des Großen (dial. II), in: Erbe und Auftrag 76 (2000), S. 47–59. 17 McEntire, Sandra: The Doctrine of Compunction in Medieval England: Holy Tears. Lewiston (N.Y.) 1990 (Studies in Medieval Literature 8), S. 29: »After the sixth century the topos of tears as a characteristic of sanctity continues to be represented.« 18 Vgl. Wensinck, Arent Jan: Über das Weinen in den monotheistischen Religionen Vorderasiens, in: Festschrift Eduard Sachau. Zum 70. Geburtstag gewidmet von Freunden und Schülern. Hrsg. von Gotthold Weil. Berlin 1915, S. 26–35, S. 26 mit Verweis auf Anecdota Syriaca. Hrsg. von Jan Pieter Nicolas Land. 4 Bde. Leiden 1862–1875, Bd. II, S. 24. 19 Zappert 1854 (wie Anm. 14), S. 79. 20 Baumgarten, Paul Maria: Neue Kunde von alten Bibeln. Mit zahlreichen Beiträgen zur Kultur- und Literaturgeschichte Roms am Ausgange des sechzehnten Jahrhunderts. Rom: Im Selbstverlage des Verfassers 1922, S. 15. 21 Vgl. zum Gebetsweinen gewissermassen komperatistisch Ohm, Thomas: Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum. Mit 34 Abbildungen auf 20 Tafeln. Leiden 1948, S. 197–209.

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ten Gedichte Tarquato Tassos, Die Tränen der allerheiligsten Jungfrau,22 sowie der letzte Tonsatz des Komponisten Orlando di Lasso mit dem Titel Die Tränen des heiligen Petrus23 waren der Familie Aldobrandini und dem Papst selbst zugeeignet.24 Wo Dichter und Musiker vorangegangen waren, folgten schnell auch bildende Künstler. 25 Nach 1600 wurden vor allem die biblischen Beispiele befreienden Weinens bildwürdig und auch zunehmend populär. Neben der zerknirschten Maria Magdalena kam nun häufiger der seine dreimalige Verleugnung Jesu reuende Petrus zur Darstellung.26 (Abb. 1) Bemerkenswert dabei war die Tatsache, dass die althergebrachte Ikonographie des Themas sich nachhaltig wandelte.27 22 Siehe das Urteil von Tonelli, Luigi: Tasso. Turin [u.a.] s.a., S. 318–319: »Meno felici, i poemetti lirico-narrativi, Le lagrime di Maria Vergine, e Le lagrime di Gesù Cristo, concepiti, e svolti in ottave, secondo l’uso, allora diffuso, di questa specie di lamenti, tra cui eran diventate famosissime le Lagrime di S. Pietro del Tansillo. Ma anche questi furono dettati da uno stato d’animo doloroso-religioso, indubbiamente sincero; né mancano belle strofe, specie là, dove – ne Le lagrime di Maria Vergine –, dalla descrizione die dolori della Vergine, e dall’esortazione a piangere per Lei, si passa a una preghiera, che riguarda intimamente il poeta: ›Tu, regina del Ciel, ch’a noi ti mostri  /  Umida i lumi, e l’una e l’altra gota, / Fa’ di lagrime dono agli occhi nostri, / Ed ambe l’urne in lor trasfondi, e vota; / Perché, piangendo, agli stellanti chiostri / Teco innalz­i il pensier l’alma devota;  /  /  Alziamo or con Maria, d’amore acceso, / Il pensier nostro, come fiamma, o strale: / Seguendo alto Signor, ch’in Cielo asceso, / Siede a destra col Padre, al Padre eguale: / Né di terreno affetto il grave peso / Tardi la mente, che s’inalza e sale. / Alziamo il pianto: e sovra ’l Cielo ascenda, / Sol per sua grazia, ed ella in grado il prenda.‹« 23 Vgl. Steinheuer, Joachim: Poverello che farai? – Musik als Vehikel gegenreformatorischer Bestrebungen, in: Zeitsprünge 1 (1997), 2/4, S. 602–626, hier S. 610f.: »Aufschlußreich für den Stellenwert dieser neuartigen Andachtsmusik ist, daß Lasso diese Stücke nicht als Auftragskomposition, sondern zu seiner eigenen ›besonderen Andacht in nunmehr schwer lastendem Alter in [611] Klänge gekleidet‹ hatte, wie er in seiner Widmung an Papst Clemens VIII. betont.« Lassos Dedikation in deutscher Übersetzung in: Lasso, Orlando di: Lagrime di San Pietro. Hrsg. von Fritz Jensch. Kassel 1989 (Orlando di Lasso: Sämtliche Werke 20), S. XXII. 24 Pastor, Ludwig von: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Mit Benutzung des Päpstlichen Geheim-Archives und vieler anderer Archive. Freiburg im Breisgau 1893–1930, Bd. XI, S. 639–640. 25 So nahm Cesare Ripa das Stichwort »Pianto« in seine bebilderte »Iconologia« von 1603 auf. Ripa, Cesare: Iconologia Overo Descrittione Di Diverse Imagini cauate dall’antichità, & di propria inuentione, Trouate, & dichiarate Da Cesare Ripa Pervgino, Caualiere dei Santi Mauritio, & Lazaro. Di nuouo riuista, & dal medesimo ampliata di 400. & più imagini, Et di Figure dintaglio adornata. OPERA Non meno vtile che necessaria a Poeti, Pittori, Scultori, & altri, per rappresentare le Vitrù, Vittij, Affetti, & passioni humane. In Roma, Appresso Lepido Faeij. M. DC. III. Rom 1603, S. 400–401. Dort auch ein Verweis: »Vedi alla terz­a Beatitudine.« Siehe S. 38 [Beatitudine terza. E il Pianto.]: »Il pianto, come qui si piglia, è il dispiacere, che per carità si può pigliar da ciascuno si delle sue, come dell’altrui colpe, & danni ancora. Et essendo so stat­o d’vna fanciulla, quasi il meno colpeuole, che possa essere, non è dubbio, che facilmente sarà consciuta per segno di quelche sarebbe necessario a dire a chi con parole, volesse esprimere il concetto di questa Beatitudine, nella quale co’l motto si manifesta, che i l p r e m i o d i e q u e s t a s o r t e d i p i a n t o , d a r à v n a p e r p e t u a a l l e g r e z z a d e l l ’a l t r a v i t a .« 26 Siehe Mormando, Franco: Teaching the Faithful to Fly: Mary Magdalena and Peter in Baroque Italy, in: Saints and Sinners. Caravaggio and the Baroque Image. Hrsg. von Franco Mormando. Chestnut Hill (Ma.) 1999, S. 107–135, S. 116–120 [The Penitent Magdalene]; S. 123–124 [The Penitent Peter]. Dazu auch Pérez Sánchez, Alfoso E. u. Ana Sánchez-Lassa de los Santos (Hrsg.): Las Lágrimas de San Pedro en la pintura espagñola del Siglo de Oro. Bilbao 2000. 27 Lavin, Irving: Georges de La Tour. The Tears of St. Peter and the »Occult« Light of Penitence, in: L’Europ­a e l’arte italiana. Hrsg. von Max Seidel. Venedig 2000 (Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut 3), S. 352–375, hier S. 359. Zur Verbreitung der früheren Ikonographie siehe ­Heisenberg, August: Ikonographische Studien. I. Die Martha-Szene. II. Das Bekenntnis Petri und die

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1  Carlo Dolci, Pietro penitente, um 1665, Öl auf Holz, 40 × 27 cm, Privatsammlung.

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War in den älteren Bildformularen besonderes Gewicht auf die eigentliche Verleugnungsszene gelegt worden, konzentrierte man sich nun vor allem auf die Person des reuigen, das heißt des weinenden Apostelfürsten. Die neu entstehenden Bilder verzichteten weitestgehend auf die Darlegung narrativer Daten und setzten im Gegenteil auf eine – so möchte ich sie nennen – empfindsame Nahsicht. Die »seelische« Verfasstheit des Apostels sollte in den Blick gelangen und auf den Betrachtenden affizierend wirken. Popularität musste der reui­ ge Petrus auch deshalb erlangen, weil mit dem Thema nicht nur die devotionalen Praktike­n der katholischen Reform bekräftigt wurden, durchaus im Rückgriff auf verbürgte Traditio­ nen, sondern weil sich mit ihm auch verschiedene Punkte der theologischen Auseinandersetzung, die das Papsttum in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu bewältigen hatte, in die unmittelbare Anschauung heben ließ. Der Protest Luthers hatte sich ja bekanntermaßen an der spätmittelalterlichen Gnadenlehre und Bußpraktik der Kirche, das heißt konkret am Ablaßhandel entzündet und sich von dort aus schnell auch auf den päpstlichen Primat ausgeweitet.28 Dieser ins Zentrum der Institution zielenden Kritik wurde nun auch mit den Tränen Petri begegnet, denn sie beglaubigten zuerst einmal die kontroversen katholischen Ansichten zum Bußsakrament, setzten dann aber auch andere, damit verbundene Glaubenspositionen ins Bild, wie etwa Ansichten zur menschlichen Willensfreiheit oder auch Glaubenssätze zur Rechtmäßigkeit der kirchlichen Gnadenverwaltung. Petrus wurde nun als »figura di vn vero, e diuoto penitente« dargestellt und – was vielleicht ausschlaggebender war – als derjenige gezeigt, der von Christus als erster die Schlüssel zum Himmelreich erhalten hatte. Das neue Bildformular, etwa im Pietro piangente des römischen Malers Domenico Fetti, gab nun nicht nur der kirchlichen Pönitenzpraktik eine innere Motivation, sondern verlieh darüberhinaus der Institution des Papst- und Priestertums eine – so möchte ich sagen – affektive Tiefendynamik. (Abb. 2, Taf. XIII) Denn die Auszeichnung der Kirche mit der Binde- und Löse-Gewalt (Matth. 16, 18–19; Joh. 20, 23) hatte sich ja zuerst in Petrus bewähren und durch ihn auch innerlich erfüllen müssen (Matth. 26, 69–75). Das bittere Weinen kondensierte in der Bibel noch das, was sich dann in einer jahrhundertelangen Entwicklung in das Bußsakrament der Kirche entfalten sollte.29 Die Tränen in Domenico Fettis Gemälde wiesen auf dreierlei: auf die – nur im Lukas­

Ansage der Verleugnung. III. Die Kirchen Jerusalems auf dem lateranischen Sarkophag Nr. 174 von August Heisenberg. (Mit 2 Tafeln) Vorgetragen am 4. Juni 1921. München 1922 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-philologische und historische Klasse, Jahrgang 1921, 4. Abhand­lung), S. 23–75, hier S. 25–26. 28 Zum Primat des Papstes Quednau, Rolf: Die Sala di Costantino im Vatikanischen Palast. Zur Dekoration der beiden Medici-Päpste Leo X. und Clemens VII. Hildesheim/New York 1979 (Studien zur Kunstgeschichte 13), S. 191–204. 29 Siehe Hausherr, Irénée: Penthos. La doctrine de la componction dans l’Orient chrétien. Rom 1944 (Orien­ talia Christiana analecta 132), S. 40. Benke, Christoph: Die Gabe der Tränen. Zur Tradition und Theologie eines vergessenen Kapitels der Glaubensgeschichte. Würzburg 2002 (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 35), S. 58: »Der in der Bußgeschichte erst später zu beobachtende Anstieg der Beichthäufigkeit hatte zur Folge, dass das Element der Betroffenheit durch Gott (compunctio) zurücktrat.«

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2  Domenico Fetti, Pietro penitente, 1613, Öl auf Holz, 95,8 × 55,9 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum.

evangelium durch den Blick Christi ausgelöste – Zerknirschung Petri (compunctio/contritio), auf das Schuldbekenntnis des Apostels (confessio) und auf die Abwaschung der Sünde durch göttliche Vergebung (satisfactio).30 Was mit dem weinenden Petrus nach 1600 vermehrt zur Darstellung gelangte, war nichts weniger als die affektive Legitimationsszene kirchlicher Poenitenzpraxis und damit die empfindsame Rechtfertigung der päpstlichen Schlüsselgewalt. Das war natürlich lang tradiertes Wissen, ein Wissen, das etwa der Jesuit Giorgio Mastrilli in seinen Discorsi sopr­a la passione e morte di Christo den Studenten des Collegio Romano weiterzureichen wusste­. 30 Benke 2002 (wie Anm. 29), S. 128.

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In der Schrift aus dem Jahr 1607 zitierte Mastrilli gewichtige Gewährsmänner, wie etwa den Kirchenvater Ambrosius, der in den Tränen Petri auch schon dreierlei erkannt wissen wollte, nämlich: »[la] virtù della contritione, confessione, e sodisfattione insieme«,31 das heißt die biblisch verbürgte Kurzversion des katholischen Bußsakraments. Eine andere Autorität, Leo der Große, wurde von Mastrilli deshalb zitiert, um darzulegen, dass das Weinen Petri die Kraft der heiligen Taufe besessen habe und dass dem Apostel die Sünde der Verleugnung nur deshalb von Gott gestattet worden sei, damit in der Kirche das Heilmittel der Buße überhaupt begründet werde.32 Erst die ehrlich gereute Schuld konnte den Apostel zum Richteramt auszeichnen, erst die Erniedrigung in der Buße ihn zum Vikar Christi machen. Das Weinen Clemens VIII. war in diesem Sinne bedeutsam und von ekklesiologischer Bedeutung. Zweifelsohne hatte Domenico Fetti solche und ähnliche Ansichten im Sinn, als er noch als Student des Collegio Romano seinen Pietro piangente malte.33 Sein Bild bemühte sich ja gerade darum, das apostolische Amt nicht nur im, sondern auch mit dem Affekt zu fundieren. Das machte der Maler nicht nur an den Tränen kenntlich, sondern ließ es unmittelbar dadurch anschaulich werden, dass sich Petrus mit seinem linken Arm ostentativ auf die heilige Schrift stützte, auf der nicht zufällig auch die Insignien seines Primats lagen. Als bemerkenswert erscheint nun, wie Fetti versucht den biblisch beglaubigten Affekt – im Rekurs auf das Lukasevangelium – auf sein Publikum zu übertragen. Der Kunstgriff besteht schlichtweg darin, dass der Apostel den Augenkontakt mit seinem betrachtenden Gegenüber nicht etwa nur sucht, sondern ihn nachgerade erzwingt. Dieser apostolische Augenwurf stellt einen jener Blicke dar, welche den Betrachter egal wo er sich im Raume befindet zu fixieren und zu verfolgen im Stande ist. Zudem hat der Maler das rechte Auge Petri absichtsvoll in den Mittelpunkt der Komposition gerückt und es obendrein bedeutungs-

31 Mastrilli, Giorgio: Discorsi sopra la passione e morte di Christo. Rom 1607, S. 227–228: »Felici lagrime, felice pianto, felici sospiri furono questi, tanto efficaci, e potenti ad ottenere perdono del peccato commesso, che S. Leone dà loro la medesima forza del battesimo: ›foelices, Sancte apostole, lachrymae suae‹ (sono parole sue) ›quae ad diluendam culpam negationis virtutem sacri habuere baptismatis; adfuit enim dextera Domini Iesu Christe qui labentem te priusquam dejicereris, exciperet, & firmitatem standi in ipso cadendi periculo recepisti?‹ Et anche S. Ambrogio dà loro virtù di contritione, confessione, e sodisfattion­e insieme; udite di gratia/quell ch’egli dice: ›Petrus doluit, & flevis, quia erravit ut homo: Non invenio, quid dixerit; invenio quod flevit: lachrymas eius lego, satis factionem non lego; sed quod defendi non potest, ablui potest: lavant lachrymae delictum, quod pudor est confiteri; & verecundae lachrymae sine horrore culpam loquuntur, lachrymae crimen sine offensione verecundiae confitentur: lachrymae veniam non postulant, sed merentur; inveni, cur tacuit Petrus, ne tam cito veniae petito plus offenderet; ante flendum est, quam petendum.‹« Dazu Lavin 2000 (wie Anm. 27), S. 373. 32 Leo der Große: Reden über Petrus. Paderborn 1939, S. 130–135 [Sermo XI/Elfte Rede], hier S. 134: »lacrimae tuae, quae ad diluendam culpam negationis virtutem sacri habuere baptismatis!«, S. 135: »Glücklich, o heiliger Apostel, sind deine Tränen, die zur Tilgung der Schuld deiner Verleugnung die Kraft der Taufe hatten.« 33 Lehmann, Jürgen M.: Domenico Fetti. Leben und Werk des römischen Malers. Dissertation. Frankfurt am Main 1976, S. 265 zitiert den Brief des Kardinals Montalto vom 09.11.1613 an Ferdinando Gonzaga. Mantua, Archivio di Stato, Serie F, Busta 473: »Tengo la lettera di V. Alt.za delli 12. d’oct.re, nella quale mi raccomanda Domenico Fetti studente qui nel Collegio de’ P.ri Giesuiti, […].«

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reich auf jene vertikale Linie gesetzt, die im Hintergrund Hell und Dunkel voneinander scheidet. Den tränenverhangenen Blick, den dieses Auge wirft, wird man als das eigentliche Thema des Gemäldes ansehen dürfen, denn mit ihm soll sich beim Betrachter affekiv einstellen und erneuern, was Petrus im Lukasevangelium durchlebte, als sich Christus nach ihm umwandte, ihn anschaute, und der Apostel sich daraufhin der Weissagung erinnerte und auf das Tiefste getroffen, seine Sünde zu bereuen und zu beweinen begann. Der in der Exegese immer wieder als heilbringend und gnadenspendend gekennzeichnete Blick Christi (»lo sguardo salutifero di Christo«34) wird hier durch seinen Vikar an den Betrachter mit der Aufforderung weitergegeben, sich freien Willens auf die eigene Schuld zu besinnen und sie wahrhaftig zu bereuen, um dann mit der Gabe der Tränen auch der Vergebung teilhaftig zu werden. Inhaltlich will der stellvertretende Blick den gläubigen Betrachter möglicherweise zu einem affirmierenden Affekt bewegen, um mit der emotionalen Evidenz der induzierten Bußgesinnung, in letzter Konsequenz auch die Sakramentenlehre der katholischen Kirche im individualisierten Selbstvollzug zu legitimieren. Künstlerisch scheint es Fetti besonders darum gegangen zu sein, die Befähigung der Malerei auszustellen, mit der stummen Rede des Bildes nicht nur belehren und unterhalten, sondern auch bewegen zu können35 – und das »a similitudine degli oratori«, so wie es die katholische

34 Allegoria vniverale di tutto il poema della Sig. Lucretia Marinella, in: Tansillo, Luigi: Le Lacrime Di San Pietro Di Luigi Tansillo Poema Sacro Con Gli Argomenti, Ed Allegorie Di Lucrezia Marinella Ed Un Discorso Di Tommaso Costo. Giuntavi in questa nuova Edizione la Raccolta della sue Rime notabilmente accresciuta. In Venezia Apresso Francesco Piacentini. MDCC XXXVIII Venedig 1738 [Einleitung ohne Seitenzahl (3r)]: »Ouero lo sguardo salutifero di Christo essere ci puo figura del la Gratia di Dio, che è chiamata da Teologhi aiuto diuino, ouero gratia gratis data, q[ue]sta è vn dono, col qual l’huomo si dispone à riceuere il fauor sommo dello Spirito diuino, & è sempre apparecchiata à muouere, & eccitare il libero arbitrio, la cui opera è acconsentire al santo delle buone ammonitioni, come ci mostra Alberto Magno, nel lib. quinto al cap. secondo della Theologica verità, con tali parole. Gratia gratis data, que est prestò liberum arbitrium excitare, & commouere, cuius est huic admonitioni consentire, & hoc est quod in se est facere, quo facto potest homo ad gratiam gratum facientem se preparare. Et qual è colui si priuo di conoscimento? che non sappia, che il fauor superno è necessario à far che le anime nostre ritornino in gratia di chi le creò? ma non solamente è necessaria à saluarci la gratia, ma seco vuole anco in pro[n]to della volontà nostra, che volentieri, e pronta acconsentisca al dolce suono delle diuine voci. Però volendo mostrarci Agostin Santo, che è bisogno alzare la bassezza delle anime de’ miseri mortali alla celeste Patria la prontezza del voler nostro disse. Qui creauit te sine te, non saluabit te sine te. Onde deue l’huomo, che in alcuna parte mostrar si vuole uero amico del Cielo con lagrime, confessioni, contritioni, & penitenza, & amara penitenza prepararsi alla gratia; percioche Dio Signor nostro non dona il suo aiuto à chi non si dispone à riceuere i diuini suoi fauori. Gratia non datur ei, qui se non habilitat ad gratiam. Scriue il Beato Alberto nel Compendio della Theologica verità; percio che colui, che non si sforza di piacere al Soprano Rettor delle stelle de’suoi doni non è degno.« 35 Paleotti, Gabriele: Discorso intorno alle imagini sacre e profane, in: Trattati d’arte del cinquecento fra manierismo e controriforma. Hrsg. von Paola Barocchi. 3 Bde. Bari 1960–1962 (Scrittori d’Italia 219, 221, 222), Bd. II, S. 117–509, hier S. 215–216: »Quello poi che abbiamo detto chiamarsi ufficio del pittore, che è il mezzo per conseguire questo fine, pare a noi che da nissun altro luogo meglio si possa cogliere, che dalla stessa comparazione degli scrittori, a’ quali per ufficio dell’arte è imposto che debbano dilettare, insegnare e movere. Parimente dunque u f f i c i o d e l p i t t o r e s a r à u s a r e l i s t e s s i m e z z i n e l l a s u a o p e r a , f a t i c a n d o s i p e r f o r m a r l a d i m a n i e r a , c h e e l l a s i a a t t a a d a r e d i l e t t o, a d i n s e g n a r e e m o v e r e l’a f f e t t o di chi la guar- [S. 216] derà.«

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Kunsttheorie von einem im Collegio Romano ausgebildeten »pittore cristiano« fordern konnte.36 Wie das im Bild angelegte Ziel wahrhafter Affektübertragung zu erreichen war, hatte für den Jesuitenorden der dritte General, Francisco de Borja, in einem kurzen Leitfaden zur Predigtlehre festlegen können.37 In seiner »Ratio concionandi«38 – die in den 1550er Jahren verfasst, aber dann erst 1592 veröffentlicht wurde – fand sich die Anweisung, dass sich der Prediger zuerst in die rechte Stimmung bringen müsse, bevor er auf die Kanzel steige. Denn erst durch die eigenen Gefühle und die tiefe Inbrunst der inneren Regungen sei er in der Lage, andere dazu zu bewegen, Gleiches zu empfinden.39 Um diese Ansicht zu belegen, griff Francisco de Borja bezeichnenderweise zur Poetik des Horaz und zitierte eine Stelle, in der es um die Wahrhaftigkeit der Empfindung und die ehrliche Effizienz ihrer Übertragung ging: »si vis me flere, dolendum est primum ipse tibi«, oder in den gereimten Worten Johann Christoph Gottscheds: »Drum, wenn ich weinen soll; / So zeige du mir dein Auge thränenvoll.«40 Was hier zum religiös-moralischen Anspruch erhoben wurde, war der wahrhaftige Aus­ druck jenes sich im Weinen objektivierenden Gnadenzustandes.41 Diese Forderung nach 36 Paleotti 1960–1962 (wie Anm. 35), S. 214–216: »Dell’officio e fine del pittore cristiano, a similitudine d ­ egli oratori.« 37 Auch Francisco de Borja empfindet Süßigkeit beim Gebet und weint während der Messe. Siehe Ribade­neira, Pietro: Das Leben des heiligen Franziskus Borgias. Hrsg. von Johann Jakob Hansen. Paderborn 1891, S. 137: »Eine solche Süßigkeit verkostete er im Gebete, daß man hätte meinen sollen, er wolle gleich einem andern Jakob mit Gott im Gebete ringen und nicht eher ablassen, bis er den göttlichen Segen empfangen habe.« Und S. 138: »Las er Messe, so flossen ihm die Thränen der Andacht gewöhnlich über die Wangen herab.« 38 O’Malley, John W.: Die ersten Jesuiten. Übers. von Klaus Mertes. Würzburg 1995, S. 121: »In den 1550er Jahren schrieb Borja seinen Tratado breve del modo de predicar el santo Evangelio, der 1592 posthum von Ribadeneira veröffentlicht wurde.« 39 Borja, Francisco: RHETORICAE ECCLESIASTICAE siue DE RATIONE COMPO- nendae Concionis, Libri tres. R. D. FRANCISCI PANI- garola Episcopi Astensis, Ordinis S. Francisci; R. P. FRANCISCI BORGIAE, Societatis Iesu Theologi; R. P. IOANNIS A IESV MA- ria Carmelitae discalceati. Nunc primum coniunctim editi. COLONIAE, Apud Ioannem Crithium./Anno M. D. CXII. Köln 1612. Darin: P. FRANCISCI | BORGIAE | De oratione concionandi | LIBELLUS., S. 142–188, hier S. 155: »Fingat se praesentem sermonibus à Christo habitis,/ad viuum auditoribus exprimat, voce potius quam gestu. Obseruet minas, ad terrorem incutiendum, misericordias verò Dei, & beneficia ad amorem Dei conciliandum Timor enim animum à vitijs deterret, vt contra amor ad virtutem inflammat. I n d u c a t E c c l e s i a s t e s eas animi affectiones, quas auditorium animis imprimere vult: nec enim alios mouet, qui non se prius mouerit, intenderit, atque inf lam[m]arit: vnde & quidam olim ait: si v is me f lere, dolendum est primum ipse tibi.« 40 Stenzel, Jürgen: »Si vis me flere …« – »Musa iocosa mea«. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 650–671, hier S. 659. 41 Ein spätes Beispiel Gisbert, Blasius: Die Christliche Beredsamkeit, nach ihrem innerlichen Wesen, wie auch in der Ausübung vorgestellt, und mit Exempeln erläutert, durch den Ehrwürdigen Pater Blasius ­Gisbert, von der Gesellschaft JEsu. Aus dem Französischen übersetzt. Bey dieser Ausgabe, welche nun durch eine Zugabe vermehrt worden, mit einer Vorrede versehen von Herrn Pater Franz Neumayr, aus ermeldeter Gesellschaft, der hohen Domstiftskirche in Augsburg Predigern. Mit Erlaubniß der Obern. Augsburg und Innsbruck, Auf Kosten Joseph Wolffs. 1768, S. 110 [V. Cap.]: »Der Verstand redet nicht mehr, als eine Sprache, das Herz aber versteht alle Sprachen. Redet man dannenhero nur mit dem Ver-

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einem reinen Gefühl des Predigers und nach der gewissermaßen natürlich übernatür­lichen Transmission dieses Erlebnisses auf den Gläubigen42 sollte nicht nur die geistliche Rhetori­k des Barock durchwalten und bestimmen,43 sondern wurde nun auch der Kunst teilweise unter Strafandrohung auferlegt und den Künstlern von der Kirche abverlangt.44 stande, so muß man nothwendig trocken; kaltsinnig und einförmig reden. Redet man aber mit dem Herzen, so wird man sich abwechselnd, überflüßig und lebhaft ausdrücken können.« 42 Für die frühen Beispiele Zappert 1854 (wie Anm. 14), S. 84, Anm. 61 u. 62: »Sie [die Kirche] ordnet an, dass der Bischof vor den versammelten Bussebereiten Gott unter Thränen um Vergebung ihrer Sünden zu bitten habe, dass, um den Poenitenten zu Thränen zu bewegen, der Priester selbst dem Bekennenden mit dem Beispiele der eigenen Zähren vorangehe. Manche Beichtväter vergossen bei solchen Veranlassungen eine derartige Fülle von Thränen, dass man hätte glauben mögen, sie beweinten ihre eigenen Sünden.« [Anm. 61: »Als ein frommer Mann bei dem h. Hugo zur Beichte ging, vergoss der Heilige einen so reichen Strom von Thränen, dass sie auf das Haupt des Poenitenten und von dort längs der Wange ihm in den Mund flossen. Ipse super caput eius, et tantam vertici lacrymarum infuderit copiam, ut madefactis capillis, deorsum etiam rivuli per confitentis ora defluerunt. Vit. S. Hugonis. Episcop. Gratianopol. (+ 1132) A. S. S. April. 1, p. 41 a. cnf. Vit. S. Petri Archiepiscop. Tarent. (+ 1175) A. S. S. Mai. 2, 326 c.«] Siehe auch Gerstfeld, Olga von u. Ernst Steinmann: Pilgerfahrten in Italien, Leipzig 1912, S. 157–188 [Foligno], hier 165–166: »Eine rührende Gestalt ist der Beato Cresci (+ 1323), eine armer Sohn des Volkes, vom dem erzählt wird, Gott hätte ihm ›die Gabe der Tränen‹ verliehen. Er weinte unausgesetzt über seine Sünden und die Sünden der Welt und wandelte oft hinaus in die grüne Ebene an das Ufer des Topino, den er um seine Wassermengen beneidete, denn er wünschte sich deren ebenso viele, um in Tränen der Reue seine Missetaten auszubaden. Die Steine am [S. 166] Ufer des Stromes wurde naß von seinen Zähren und begannen wie Edelsteine zu funkeln; der Beato aber sammelte sie in ein Körbchen und brachte sie als schönste Gabe einem Bilde der Madonna dar. Solcher lieblichen Legenden gibt es viele.« 43 Und natürlich darüber hinaus, wie die empfindsame Predigtheorie des Blasius Gisbert zeigt. Gisbert 1768 (wie Anm. 41), S. 222 [VIII. Cap.]: »Ich fodere [sic] von einem christlichen Redner, so ein empfindliches und zartes Herz, das alles muß fühlen können.« S. 224 [VIII. Cap.]: »Ein gut Herz aber ist dasjenige, das alles empfindet, so man empfinden muß, und daß es auch auf solche Weise empfindet, wie man es empfinden soll.« 44 Siehe Gombrich, Ernst Hans: Meditations on a Hobby Horse and other Essays on the Theory of Art by E. H. Gombrich. London / New York 1963, S. 12–29 [Visual Metaphors of Value in Art], hier S. 25–26. Gombrich läßt das Problem der »Aufrichtigkeit« eines Kunstwerkes (sincerity) nicht im Barock beginnen, sondern erst bei den Romantikern, kommt dabei aber auch auf die Stelle bei Horaz zu sprechen: »It is true that Horace advises the poet ›You must feel pain yourself if [S. 26] you want me to cry‹, but such advice no less than Wordsworth’s contrasting recollection ›in tranquillity‹ should be considered technical hints rather than moral injunctions.« Dem wäre mit dem Hinweis auf die jesuitische Tradition zu widersprechen. Und weiter S. 27: »We suspect them [die Künstler wie etwa Guido Reni] of wanting to seduce us to a forbidden form of exhibitionism and we evade them by throwing doubt on their sincerity. As we do not want to cry, we turn the dictum of Horace against them and maintain that they never felt pain – as if they had claimed that they did.« Vgl. dazu Gombrichs Brief an James Elkins in: Elkins, James: Pictures & Tears. A history of people who have cried in front of paintings. New York [u.a.] 2001, S. 231: »Dear Prof. Elkins Thank you for your letter of 28 Sept. I see that you are going to disprove the passage in Leonardo’s Paragone (33, fascicle 14), ›The painter will move to laughter, but not to tears, for tears are a greater disturbance of the emotions than laughter.‹ To answer your question, no, I don’t recall having wept in front of a painting, though certainly at the movies or reading a book. I believe Oskar Kokoschka told me that he had shed tears in front of a Memling, if I remember correctly, seeing the naked feet in water, because he was so moved. I have a confused memory of a painting (by Chodowiecki?) of Frederick the Great weeping on looking at the painting of ›Calus Taking Leave of his Family‹. […] By the way, I have spent a lot of time on the history of caricature, but hardly ever laughed, and barely smiled! Yours sincerely, E. H. Gombrich.« Und Gombrich 1963 (wie Anm. 44), S. 56–69 [Expression and Communication], hier S. 56: »The idea that art effects some kind of emotional contagion has been at the basis of all expressionist aesthetics ever since Horace wrote his famous line: si vis mi flere, dolemdum est primum ipsi tibi (Ad Pisones, 103/4).«

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Wozu die sich popularisierende Beredsamkeit des Weinens allerdings unausweichlich auch führen musste, war die Konventionalisierung gnadenanzeigender Ausdrucksgesten. Noch zu Lebzeiten Clemens VIII. begann das römische Publikum an der Wahrhaftigkeit des päpstlichen Bussweinens zu zweifeln und nicht wenige dachten, dass Ippolito Aldo­ brandini sich darauf verstanden habe, seine Tränendrüsen gleichsam auf Knopfdruck in Gang zu setzen und wieder abzuschalten.45 Mochte das performative Weinen Clemens VIII. auch zu kritischen Kommentaren Anlaß geben, was es nebenher auch belegte, war die kirchenamtlich approbierte Verankerung der katholischen Glaubenskonstitution im persönlichen Empfinden. Das bestenfalls durch die Gnade Gottes eingesenkte Gefühl wurde durch die Kirche zum verlässlichen Erkenntnismittel erhoben und jeder – und das war gegen den protestantischen Determinismus gewandt – dazu aufgefordert, »die Evidenz des Nicht-Evidenten«46 am und im eigenen Leibe aufzusuchen. Diese selbstgerechte Emotionalisierung des Gläubigen hatte auch für die Kunst weitreichende Folgen, da sie nun als Offenbarungstechnik galt und in Dienst genommen wurde, die empfindsame Formierung des Gläubigen zu befördern. Diese Entwicklung war natürlich keine zufällige, sondern Folge einer verstärkten Inanspruchnahme und Kontrolle der Kunst durch die nachtridentinische Kirche. Als Werkzeug der Pastoraltheologie, das heißt als Mittlerin einer irgendwo, nur nicht im Bild selbst aufzufindenden substanziellen Aussage, konnte die Kunst ihre Autonomie theoretisch wie praktisch nur dadurch retten, dass sie den Künstler geistlich qualifizierte, das heißt, diesen selbst zum Mittler machte, selbst als begnadet und gewissermaßen als heilig und gottgleich hinstellte. Bei der Betrachtung eines Bildes sollte der Gläubige von der Materialisierung selbst absehen und gleich nach dem verborgenen Kern Ausschau halten, egal wo dieser nun zu verorten war, ob nun im gottbegnadeten Künstler oder in Gott selbst. In der empfindsamen Andacht fand der gläubige Betrachter den Beleg für das hinter dem Werk und gleichzeitig in ihm selbst wirkende Andere. Die tränenreichen Rührungen, die sich daraufhin möglicherweise auch einstellten, unterlagen allerdings rhe-

45 So unterstellt zumindest Baumgarten 1922 (wie Anm. 20), S. 15 ohne seine Quelle genau zu bezeichnen: »Dieses stets wiederholte und andauernde Weinen kam den Römern im Laufe der Jahre aber etwas zu häufig vor, und sie redeten viel darüber. Einen etwas deutlichen Ausdruck haben diese Ansichten in folgender Bemerkung gefunden: Am Donnerstag morgen hat unser Herr wegen des Festes des allerheiligsten Leibes Christi die hergebrachte capella und Prozession abgehalten. Er trug das Sakrament barfüßig und immer mit Tränen in den Augen. Aber diese Besonderheit der Tränen hätte man gar nicht zu erwähnen brauchen, da man nachgerade ganz genau weiß, wie Seine Heiligkeit sie immer bereit haben. Das war im Jahre 1599. Der Ausdruck ist nicht übermäßig erfurchtsvoll: p o i c h è h o r m a i s i s a p e r t u t t o q u a n t o , q u a n t o S u a S a n t i t à l e h a b b i a p r o n t e . Damit wird ganz klar ausgesprochen, daß die öffentliche Meinung Roms den Tränen des Papstes keine besondere Bedeutung mehr beilege. Ja, es liegt sogar noch etwas mehr darin angedeutet. Damals hatte man weder die nötigen Kenntnisse, noch die geeigneten Mittel an der Hand, um nervöse Schwächezustände erkennen zu können. Infolgedessen ging man in deren Beurteilung völlig fehl. Es ist wohl ganz unzweifelhaft, daß dieses sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einstellende krampfhafte Weinen von langer Dauer als nervöse Schwäche anzusehen ist, der der Papst nicht Herr werden konnte.« 46 Schröder, Gerhart: Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit. Königstein 1985, S. 255.

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torischen oder auch poetologischen Gesetzmäßigkeiten, sie waren berechenbar und erwiesen sich gerade deshalb als wirksames Instrument der institutionalisierten Steuerung subjektiver Glaubenskonstitution. Auf dieser empfindsamen Ebene war eine »ästhetische« Erfahrung von der religiösen Empfindung kaum mehr zu unterscheiden, weil auch die Kunstfertigkeit und bildnerische Rhetorik als Ergebnis substanzieller Offenbarung und ehrlicher Affektübertragung ausgegeben wurde. Dass nun die frühe Kunstgeschichte die empfindsame Identifikation, das heißt die Bewunderung, Erschütterung, Rührung, das Mitweinen und Mitlachen vor den Artefakten als verwerflich empfand, und die Ästhetik der Einfühlung und empfindsamen Involvierung als vulgär, ja selbst als obszön ablehnte, war natürlich nichts anderes als eine Spätfolge der unter Clemens VIII. Fahrt aufnehmenden Konfessionalisierung. Wer sich mit interesse­ losem Wohlgefallen gegen das »Aufgehen im Unendlichen«, und das »Sich-Auflösen im Gefühl eines Uebergewaltigen und Unbegreiflichen«47 zu immunisieren versuchte, konnte gar nicht anders, er musste die eigenen Empfindungen als Genuss- und Erkenntnismittel gering schätzen. Heute postuliert man eine »Ereignisästhetik«, die vom Erleben der unerwartet einbrechenden Alterität die Wiedergewinnung des Auratischen erhofft und sich wohl auch einen »objektivierten Selbstgenuß« davon erwartet.48 Ohne Zweifel ist die individuelle Empfindsamkeit wieder zur künstlerischen Bearbeitung freigegeben.

47 Wölfflin, Heinrich: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien. München: Theodor Ackermann Königlicher Hof-Buchhändler 1888, S. 72–73: »Hier treffen wir auf den N e r v d e s B a r o c k . Er kann sich eigentlich nur im Grossen offenbaren. Der Kirchenbau ist der Ort, wo er sich allein ganz befriedigt: A u f g e h e n i m U n e n d l i c h e n , S i c h - A u f l ö s e n i m G e f ü h l e i n e s U e b e r g e w a l t i g e n u n d U n b e g r e i f l i c h e n , das ist das Pathos der nachklassischen Zeit. Verzicht auf das Fassbare. Man verlangt nach dem Ueberwältigenden. Es ist eine Art der B e r a u s c h u n g , mit der die Barockarchitectur, mit der vor Allem jene ungeheuren Räume der Kirchen den Sinn erfüllen. Eine dumpfe Totalempfindung, man kann das Object nicht fassen, formlos möchte man sich hingeben an das Unendliche. Die neu entfachte R e l i g i o s i t ä t d e s J e s u i t i s m u s stimmt sich mit Vorliebe durch die Vorstellung der grenzenlosen Himmelsräume und der unzählbaren Chöre der Heiligen zur Andacht. Man schwelgt in der Vo r s t e l l u n g d e s U n v o r s t e l l b a r e n , mit Begirde stürzt man sich in die A b g r ü n d e d e r U n e n d l i c h k e i t . Aber die formlose Entzückung gehört nicht der jesuitischen Kirchlichkeit allein an: ohne zu betonen, dass auch von einem Giordano Bruno gleichzeitig die Wonne dieser Gefühle durchkostet wurde – das Aufgehen im All ist ihm die höchste denkbare Seligkeit –, will ich nur bemerken, dass der Jesuitismus eine bereits lange vorbereitete Sache übernimmt. Wir finden eine Steigerung des Empfindens nach dieser (pathologischen) Seite schon in den letzten Jahren Raffaels. Die heil. Cäcilia (1513), die die Arme sinken lässt und überwältigt von der himmlischen Musik stumm aufblickt, nicht um zu sehen, sondern um den Tönen sich entgegenzuöffnen, ist der Anfang zu der ganzen Masse der späteren Bilder, die die gleiche Stimmung, heftiger, leidenschaftlicher, als wollüstiges Hinsinken, als entzückte Ekstase oder [S. 73] als sehnsuchtsvolle Hingabe und überirdische Beseligung wiedergeben.« 48 Geiger, Moritz: Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung I.2 (1913), S. 568–685, S. 596: »Genuß ist, solange er dauert, sich selbst genug. Es führt keine Brücke zum übrigen Leben.«

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Rhetoriken der Empfindsamkeit

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Affekt, Devotion, Prestige

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AFFEK T, DEVOTION, PRESTIGE Daniele da Volterras San Giovanni Decollato Die Klinge hat soeben das Haupt des Heiligen Johannes abgetrennt, dessen am Boden liegender Körper in Verkürzung zu sehen ist […]. Wie dieses linke Schulterblatt […] hervortritt! Wie die Zuckungen des gewaltsamen Todes gekonnt wiedergegeben werden durch die ­verkrampften Finger, durch das Händeringen! Das Blut, das aus den Adern schießt, scheint aus dem Gemälde auszutreten.1

Die Worte Joseph Marie Callerys in seiner Galerie Royale de Peinture de Turin (1859) zeugen von echter Begeisterung angesichts der Enthauptung des Täufers der Galleria Sabauda (Abb. 1, Taf. XIV). Tatsächlich handelt es sich bei der um die Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen, 177 cm hohen und 141 cm breiten Bildtafel um ein spektakuläres Werk. Umso mehr erstaunt, dass sich die Kunsthistoriographie dieses Gemäldes bisher kaum angenommen hat – das Fehlen direkten Quellenmaterials zu Entstehung, Funktion und Aufstellungsort der Tafel mag hierfür eine Erklärung liefern. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Annäherung an die Frage, wie dieses religiöse Bild mit stark affektivem Potenzial vor dem Hintergrund des ästhetischen Diskurses und der devotionalen Praxis seiner Zeit zu verorten ist. Für dieses – zu weiten Teilen spekulative – Unterfangen ist es unumgänglich, zunächst einmal die spärlichen Informationen zu dem wenig beachteten Gemäld­e zusammenzutragen. Die erste Publikation, die von der Existenz des Werkes Zeugnis ablegt, Giovanni Cinellis erweiterte Edition von Francesco Bocchis Bellezze della citta di Firenze (1677), nennt die Casa Niccolini in der Via de’ Servi in Florenz als Standort des Gemäldes und Daniele da Volterra als dessen Autor.2 Beide Angaben erweisen sich als verlässlich: Die Tafel wurde 1

(Übers. d. Verf.) Callery, Joseph Marie: La Galerie Royale de Peinture de Turin. Turin 1859, S. 176: »Le fourreau vient de trancher la tête de saint Jean, dont le corps gisant par terre est vu en raccourci […]. Comme cet omoplate gauche saillit bien […]! Comme les convulsions de la mort violente sont bien rendues par ses doigts qui se crispent, par ses mains qui se tordent! Le sang qui jaillit par les artères, semble sortir du tableau.« 2 Bocchi, Francesco u. Giovanni Cinelli: Le Bellezze della citta di Firenze. Florenz 1677, S.  404–407: »[…] nella quale [casa] di Giov. Niccolini, oggi del Marchese di questa famiglia. […] passando alle pittur­e […] un S. Gio: Batista decollato di Daniel da Volterra del qual poche opere si veggono.«

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1  Daniele da Volterra, Enthauptung des Täufers (San Giovanni Decollato), um 1555/1556, Öl auf Holz, 177 × 141 cm, Turin, Galleria Sabauda.

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1840 aus dem Besitz der Florentiner Familie Niccolini für Turin erworben3 und die Zuschreibung an Daniele ist aus stilistischen Gründen überzeugend.4 Auch in einem 1611 verfassten Inventareintrag zur Sammlung Giovanni di Agnolo Niccolinis wird diese Identifikation des Künstlers vertreten.5 Die muskulösen Körper und ihre enorme Plastizität, die kunstvoll-bewegten Figurenposen und die prononcierten Verkürzungen, die deutlich umrissenen Konturen sowie das geringe Interesse an graduellen koloristischen Übergängen weisen Daniele da Volterras Enthauptung als ein Werk der Michelangelo-Nachfolge aus. Die Figur des Täufers, die Daniele im Turiner Gemälde entgegen der geläufigen Ikonographie nicht im härenen Büßergewand, sondern in ein rotes Tuch gehüllt zeigt, ist direkt inspiriert von Michel­ angelos nur wenige Jahre zuvor entstandenem Christus im Fresko der Bekehrung Pauli der Cappella Paolina von etwa 1545. Der Künstler war bekanntermaßen ein enger Vertrauter Michelangelos. Er erhielt von ihm Entwurfsvorlagen,6 überarbeitete behutsam dessen ­Giudizio, was ihm den Spitznamen »Höschenmaler« einbrachte, und stand ihm schließlich am Sterbebett bei – den Tod seines Idols hat er in einem Brief an Vasari geschildert.7 Werke von Daniele da Volterra, der sich in seinem Kunstschaffen leitmotivisch als Michelangelos Jünger inszenierte,8 besaßen schon früh Seltenheitswert, wie Cinelli im Zusammenhang mit dem Enthaupteten Johannes (San Giovanni Decollato) vermerkt. Dies ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass dieses religiöse Historienbild zu Beginn des 17. Jahrhunderts, d. h. 50–60 Jahre nach seiner Entstehung als Sammlungsbild fungieren konnte. Das oben erwähnte Niccolini-Inventar vermerkt das Gemälde ausdrücklich nicht in einer Kapelle, sondern »[n]ella camera a man manca verso la via de’ Servi«.9 Wenn es sich dabei auch um keine veritable Galeriesituation gehandelt haben mag, so wird doch zumindest deutlich,

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Spanticati, Carla Enrica [u.a.] (Hrsg.): La Galleria Sabauda di Torino. Opere scelte. Turin 2006, S. 27. Unmittelbar vergleichbare Farbgebung, Modelé, Figurentypen und Reduktion der Bildelemente lassen sich in gesicherten Werken Daniele da Volterras beobachten, etwa in der für Giovanni della Casa gefertigten, doppelseitig bemalten Schiefertafel mit der Darstellung von David und Goliath im Louvre. Spinelli, Riccardo: Precisazioni su alcune opere della collezione di Giovanni di Agnolo Niccolini (1544– 1611), in: Paragone.Arte 60 (2009), Ser. 3,86, S. 76–83, hier S. 79 u. vor allem S. 82, Anm. 34: »A.N.C.Fi [Archivio Niccolini di Camugliano], fascicolo 106, inserto 5, c.n.n. [carte non numerate] ›Nella camera a man manca verso la via de’ Servi: Un quadro in tela dove è la Decollazione di San Gio Battista di mano di Daniele da Volterra«. Das Gemälde – als dessen Bildträger fälschlicherweise Leinwand (tela) angegeben wird – ging durch Erbschaft in den Besitz Francesco Niccolinis über. Vgl. Treves, Letizia: Daniele da Volterra and Michelangelo. A collaborative relationship, in: Apollo 154 (2001), S. 36–45. Daniele da Volterra. Amico di Michelangelo (Ausst.-Kat. Florenz, Casa Buonarroti, 30.09.2003–12.01. 2004). Hrsg. von Vittoria Romani. Florenz 2003, S. 166–169, Kat. Nr. 53 (Alessandro Cecchi). Dieser Anspruch – ein Leitmotiv im Schaffen Danieles – wird insbesondere in seinem verlorenen Satyrrelief der Capella Orsini formuliert, das durch eine Zeichnung in einem Manuskript der Biblioteca Angelica in Rom überliefert ist. Dazu Graul, Jana: ›...fece per suo capriccio, e quasi per sua defensione‹. I due bassorilievi in stucco di Daniele da Volterra per la cappella Orsini, in: Prospettiva 134–135 (2009–2010), S. 141–156. Spinelli 2009 (wie Anm. 5).

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dass das Werk im Stadtpalast der Niccolini jedenfalls nicht in einem der privaten Devo­tion vorbehaltenen architektonischen Kontext aufbewahrt wurde, sondern vermutlich als Ausstattung eines profanen Raumes fungierte.

Affekterregung und Affektkontrolle durch formale Gestaltung Das auffälligste, weil drastischste Bildelement des Turiner Gemäldes ist zweifellos der blutige Rumpf, der durch die starke Verkürzung der Figur des Enthaupteten den Betrachter unmittelbar adressiert.10 Die Abwärtsbewegung des Henkers, sein überlanger linker Arm sowie die im Licht aufblitzende Klinge des Schwertes in seiner Rechten lenken den Blick ebenso auf den Halsstumpf wie der Rot-Ton des Blutes. Das abgeschlagene Haupt ist so platziert, dass der Blick in den geöffneten Körper freigegeben ist. Vereinzelt im Quattrocento anzutreffen, etwa in einem Gemälde von Giovanni di Paolo (um 1455, Chicago, Art Institute), handelt es sich um ein Motiv, das zu Beginn des Cinquecento vermieden wurde – entweder, indem der Henker die Figur überdeckt, wie beispielsweise in einem Fresko von Andrea del Sarto (1523, Florenz, Chiostro dello Scalzo), oder indem der Täufer in Seitenansicht gezeigt wird, wie in einer Tafel Bacchiaccas (1540er Jahre, Berlin, Gemäldegalerie). Um die Mitte des 16. Jahrhunderts lässt sich ein verstärktes Interesse an diesem Grauen erregenden Detail feststellen, so etwa in Francesco Salviatis Fresko in der Cappella del ­Pallio des Palazzo della Cancelleria in Rom. Der Blutstrahl, der in Daniele da Volterras Gemälde aus dem Halsstumpf des Täufers auf den Betrachter zuzuschießen scheint, kann in einem religiösen Kunstwerk selbstverständlich theologisch gedeutet werden, als Verweis auf die Eucharistie oder die Blutzeugenschaft Johannes’. Der Blick auf eine nichtreligiöse Ikonographie eröffnet jedoch einen weiteren Bedeutungsaspekt – den des Spektakels. 1552, also im zeitlichen Horizont der Entstehung der Turiner Tafel, äußert sich der aretinische Bischof Bernardetto Minerbetti in einem Brief an Vasari über Cellinis noch unvollendeten Perseus wie folgt: »[…] das, woran ich mich mit Verwunderung gar nicht satt sehen kann, ist das Blut, das ungestüm aus dem Rumpf [der Medusa] hervorkommt, dass es, obwohl es von Metall ist, nichts weniger als wirklich scheint, so dass es alle vertreibt, da sie Angst haben, vom Blut befleckt zu werden.«11 Im Rahmen topischen Künstlerlobes wird hier behauptet, das Blut von Cellinis Medusenrumpf erzeuge Angst – Angst, dass das Kunstwerk auf den Betrachter physisch

10 Im Vergleich mit einer Predellentafel gleichen Themas, die Daniele um 1540 schuf (Douai, Musée de la Chartreuse), wird die Radikalität dieser Lösung deutlich. Zur Predella aus Douai vgl. Ciardi, Roberto Paolo u. Benedetta Moreschini: Daniele Ricciarelli. Da Volterra a Roma. Rom 2004, S. 82. 11 (Übers. d. Verf.) Minerbetti, Bernardetto: A Giorgio Vasari in Roma [Brief vom 20. August 1552], in: Scritti d’arte del Cinquecento. Hrsg. von Paola Barocchi. Mailand u. Neapel 1973, 3 Bde, Bd. II, S. 1198– 1200, hier S. 1199: »[…] quel che non posso saziarmi di guardare con stupore è el sangue, che impetuosamente esce del tronco, che, ancorché di metallo sia, par niente di meno da dovero, che scaccia altrui per paura di essere insanguinato.«

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übergreifen könnte. Minerbetti nimmt damit Callerys eingangs zitierte Beschreibung des Turiner Bildes um 300 Jahre vorweg. Die Vorstellung vom In-Mitleidenschaft-Ziehen des Rezipienten hat ihre Wurzeln letztlich in Aristoteles’ Affektlehre. Die in Über die Seele ausgedrückte Idee, dass jede Form sinnlicher Wahrnehmung eine Form des Erleidens (pathesis) darstelle, findet im Begriff des ›Pathos‹ Eingang in die antike Rhetorik.12 Die Überzeugungskraft und damit die Leistung des Redners lässt sich gemäß antiken Rhetoriken daran bemessen, ob es gelingt, einen Zustand emotionaler Erregung, bei Cicero als perturbatio umschrieben, in den Zuhörern zu erzeugen, sie Leiden zu machen. 13 Die psychische Erschütterung wird zum Ausweis künstlerischer Wirksamkeit, eine Idee, die mit zunehmender Theoretisierung des Kunstdiskurses auf Grundlage antiker Rhetorik im 16. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte. Stellvertretend für entsprechende Bemerkungen bei Leonardo da Vinci, Romano Alberti und anderen Autoren sei hier auf Lodovico Dolces Malereitraktat Aretino von 1557 verwiesen, in dem es heißt: »Es ist nötig, dass die Figuren die Seelen der Betrachter bewegen, mal um sie zu bestürzen, andere Male um sie zu erheitern, andere Male um sie zu Mitleid oder zu Verachtung zu bewegen […]. Andernfalls kann der Maler davon ausgehen, nichts geleistet zu haben […]«14. Die Wahl des Darstellungsgegenstandes ist die erste vom Künstler zu bringende Vorleistung (auch wenn die Vorstellung einer Wahlmöglichkeit wohl eher eine Fiktion sein mochte, wurde das Bildsujet doch meist, manchmal bis in einzelne Details, vorgegeben).15 Die Erregung von Affekten, allen voran des aristotelischen Doppels von Furcht und Mitleid, ist allerdings gleichermaßen abhängig von der Darstellungsweise. Doch wodurch wird der Betrachter nach Auffassung von Künstlern und Kunsttheorie des Cinquecento affiziert? Ein Kommentar Lomazzos gibt hierüber Aufschluss: […] alle diese Arten von körperlichen Bewegungen [moti] kommen zusammen, um in der Malerei die seelische Bewegung [commovimento] zu erzeugen, welche von den Malern auch furia oder terribilità der Kunst genannt wird. Und genau dies bringt den Betrachter dazu, in verschiedener Weise seelisch bewegt zu sein [a commoversi diversamente] und sich in Leiden-

12 Arist. an. III, 2, 426 a–b. Zur Aufwertung des movere im Kunstdiskurs des Cinquecento gegenüber den anderen traditionellen rhetorischen Zielvorgaben des instruere und delectare vgl. Michels, Norbert: Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster 1989, besonders S. 38f., 57f., 127f., 158. 13 Zur Übersetzung des griechischen pathos mit dem lateinischen perturbatio (= Störung) vgl. Vogt, Katja Maria: Die stoische Theorie der Emotionen, in: Zur Ethik der älteren Stoa. Hrsg. von Barbara Guckes. Göttingen 2004, S. 69–93, hier S. 69. 14 Rhein, Gudrun: Der Dialog über die Malerei. Lodovico Dolces Traktat und die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts. Mit einer kommentierten Neuübersetzung. Köln [u.a.] 2008, S. 288. Vgl. Leonardo da Vinci: Das Buch von der Malerei [vor 1519]. Übers. u. hrsg. von Heinrich Ludwig. Wien 1882, 3 Bde, hier Bd. II, S. 221f.; Alberti, Romano: Trattato della nobiltà della pittura [1585], in: Trattati d’Arte del Cinquecento. Fra Manierismo e Controriforma. Hrsg. von Paola Barocchi. Bari 1961–1962, 3 Bde., Bd. III, S. 195–235, hier S. 216. 15 So heißt es etwa bei Laudun d’Aigaliers, Pierre de: L’Art poëtique françois [1597]. Hrsg. von Jean-Charles Monferran. Paris 2004, S. 204: »Plus les Tragedies sont cruelles plus elles sont excellentes«.

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schaft zu bringen [appassionarsi], zum Lachen, zum Schmerz, zum Mut, zum Staunen, zum Bewundern, zum Schrecken, zur Geilheit und den anderen affetti der Seele. Und vor allem erregt und bewegt ihn das, was ihm mit höchster Kraft und Effekt vor Augen gestellt wird, umso mehr, wenn der Maler die Bewegungen [moti] auszuwählen weiß […].16

Neben der Suggestion von Bewegung wird einem weiteren damit eng verbundenen formalen Element in der Kunstliteratur stark affektives Potenzial zugesprochen: der perspektivischen Verkürzung, dem scorcio oder auch scorto. So betont Vasari im Zusammenhang mit Pordenones Fresken für Santo Stefano in Venedig die darin charakteristischen »scórti ­terribili di figure« oder schreibt über Michelangelos Fresko der Sixtinischen Decke mit Gottvater, der Sonne und Mond scheidet, er zeige sich »molto terribile per lo scorto delle braccia e delle gambe«.17 Der Rekurs auf die Erzeugung der emotionalen Extremsituation der Angst (terrore) dient dazu, ganz im Sinne des von der Rhetorik in die Kunstliteratur übernommenen Anspruchs auf eine höchstmögliche Wirkung auf den Rezipienten, die ästhetische Wirkmacht der bildenden Künste zu beschwören. Nicht umsonst wird im Zusammenhang mit jenem Künstler, bei dem man beide Momente, Bewegung und Verkürzung, in nie zuvor dagewesener Verdichtung findet – Michelangelo – im Kunstdiskurs des Cinquecent­o der Begriff terribilità geprägt.18 Daniele da Volterra schließt mit seinem Turiner Bild an derartige Überlegungen an. Verspricht bereits das grausame Sujet eine Erschütterung des Betrachters, so wird dies auch auf formaler Ebene eingefordert: durch die Suggestion von Bewegung in den Gestalten des – durch seine dämonische Physiognomie als negativ-be­drohlich charakterisierten – Henkers und des enthaupteten Täufers mit seinen verkrampften Fingern sowie durch die Verkürzungen beider Figuren. Die Gestaltung des Bildes zielt offensichtlich auf Affekterregung. Dies lässt sich besonders gut herausarbeiten in Gegenüberstellung mit einem Werk, durch dessen Gebrauchskontext wir wissen, dass es eindeutig zur Affektkontrolle eingesetzt wurde. Es handelt sich um eine tavoletta aus dem Besitz der 1488 gegründeten römischen Confraternità di San Giovanni Decollato dei Fiorentini. Die exklusive religiöse Laienbruderschaft des Enthaupteten Johannes, des San Giovann­i Decollato, der unter anderem Michelangelo und der Kunstmäzen Bindo Altoviti ange­ hörten, rekrutierte ihre Mitglieder ausschließlich aus den Reihen der in Rom lebenden 16 (Übers. d. Verf.) Lomazzo, Gian Paolo: Scritti sulle Arti. Hrsg. von Roberto Paolo Ciardi. Florenz 1973– 1975, 2 Bde, Bd. I (1973), S. 242–373, hier S. 302: »[…] tutte queste specie di moti vengono a formare nella pittura il commovimento, il quale da i pittori è ancor chiamato furia e terribilità dell’arte. E questo è quello che spinge i riguardanti a commoversi diversamente et appassionarsi a riso, a dolore, ad audacia, a stupore, a meraviglia, a spavento, a lascivia et a gli altri affetti dell’animo; et in somma gl’incita e commove a tutto quello che loro è rappresentato innanzi, con tanto maggior forza et effetto, quanto piú sa il pittore eleggere i moti [...].« 17 Vasari, Giorgio: Vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568. Hrsg. von Rosanna Bettarini u. Paola Barocchi. Florenz 1966–1997, 15 Bde, Bd. IV (1976), S. 433 (Vita di ­Giovanni Antonio Licinio da Pordenone e d’altri pittori del Friuli) und Bd. VI (1987), S. 40 (Vita di Michel­agnolo Buonarroti fiorentino, pittore, scultore architetto). 18 Zur Begriffsgeschichte der terribilità vgl. Plackinger, Andreas: Violenza. Gewalt als Denkfigur im michel­ angelesken Kunstdiskurs. Berlin / Boston 2016, S. 62–85.

Affekt, Devotion, Prestige

2  Mitglied der Confraternità di San Giovanni Decollato in Rom in Bruderschaftstracht mit t­ avoletta, vor 1923, Photographie, Aufbewahrungsort unbekannt.

Toskaner.19 Michel de Montaignes Schilderung der Exekution des Räubers Catena 1581 vermittelt einen lebendigen Eindruck von der besonderen Aufgabe der Decollato-Laienbrüder (Abb. 2): Man […] läßt vor dem Verbrecher ein schwarz verhangenes großes Kruzifix hertragen, dem zu Fuß zahlreiche mit Tuch verkleidete und maskierte Männer folgen. Es soll sich um Edelleute und andre angesehne Römer handeln, die sich dem Dienst weihen, die Verbrecher zur Hinrichtung […] zu geleiten; zu diesem Zweck bilden sie eigens eine Bruderschaft. Zwei der so verkleideten und maskierten Männer – vielleicht auch Mönche – befinden sich beim Verbrecher auf dem Karren und predigen auf ihn ein; der eine hält ihm ein Bild mit der Darstellung des Heilands vors Gesicht und läßt es ihn ohne Unterlaß küssen […] Noch am Galgen […] hielt man dem Catena dies Bild so lange vors Gesicht, bis er von der Leiter gestoßen wurde. Er verschied wie Leute sonst im Bett: ohne zu gestikulieren, ohne ein Wort.20 19 Zur San Giovanni Decollato-Bruderschaft vgl. Fanucci, Camillo: Trattato di tutte l’opere pie dell’alma­ citta di Roma. Rom 1601, S. 335–338; Edgerton, Samuel Y.: Pictures and Punishment. Art and Criminal Prosecution during the Florentine Renaissance. Ithaca / London 1985, S. 178–188; Paglia, Vincenzo: La Morte confortata. Riti della paura e mentalità religiosa a Roma nell’età moderna. Rom 1982, S. 33f. 20 Montaigne, Michel de: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Hrsg. von Hans Stilett. Frankfurt am Main 2002, S. 152. Die Beobachtungen Montaignes werden gestützt durch Fanucci 1601 (wie Anm. 19), S. 336f. »[…] ponendogli [dem Delinquenten] auanti gl’occhi l’asprissima passione, & l’opprobriosa morte del N.S. Giesu Christo […] facendolo spesso abbracciare l’imagine del Santiss. Crucifisso, dipenta in certe tavolette, tenendogliela sempre innanzi gli occhi, mentre che l’accompagnano al supplitio […]«; die Kleidung der Brüder wird als »loro sacchi negri« erwähnt.

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Dass der von Montaigne geschilderte Bildgebrauch bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts üblich war, überliefert ein Bericht aus Florenz von 1513 aus der Feder Luca della Robbias, eines Nachkommen der gleichnamigen Künstlerfamilie. Darin werden die letzten Stunden eines zum Tode Verurteilten beschrieben, dessen berührende Worte den für diesen Anlass üblichen Gebetsvorlagen (sogenannte proteste oder auch affetti) entsprechen: »Und als er [auf dem Weg zum Richtplatz] die Treppe hinunterging, sprach er, voller Liebe, die Augen zur tavoletta gewendet: ›Herr, Du bist meine Liebe, Dir gebe ich mein Herz, ich liebe Dich allein […]. Hier bin ich, Herr; ich komme freiwillig, gib mir Stärke und Mut.‹ Und mit so viel Gefühl sprach er, dass jeder, der ihn hörte, weinte.«21 Montaignes und della Robbias Berichte sowie bruderschaftsinterne Anweisungen an die confortatori (Tröster) verdeutlichen die zentrale Rolle der Bildtäfelchen oder tavolette als »visuelles Betäubungsmittel«.22 Die tavoletta bot letzte Zuflucht, Identifikationsfläche und Schutz vor dem verstörenden Anblick der Menge und des Schafotts. Die genannten Quellen erwähnen stets Christus am Kreuz als Motiv der Täfelchen. In der Regel sind die tavolette aber zweiseitig bemalt und präsentieren auf ihrem Verso ein Heiligenmartyrium oder eine Szene aus der Passion. Eine tavoletta im nicht öffentlich zugänglichen Museo della Camera Storica der Decollato-Bruderschaft in Rom zeigt auf der Rückseite die Enthauptung des Täufers (Abb. 3). 23 Samuel Edgerton argumentiert überzeugend, dass diese Ikonographie für die meditative Vorbereitung im Vorfeld von Hinrichtungen durch Enthauptung vorgesehen war (im Rahmen des geistlichen Beistands in der Nacht vor der Exekution).24 Die Bereitschaft des Täufers, den tödlichen Schwerthieb in Demut zu erwarten sowie seine Hinwendung im Betgestus zum kreuzförmigen Johannesstab, der vor ihm auf den Boden liegt, liefern eine direkte Handlungsanweisung an den Delinquenten. Diese Johannes-tavoletta weist mehrere Übereinstimmungen mit Daniele da Volterras tavola der Galleria Sabauda auf. Die nüchterne bildflächenparallele Gefängnisrückwand mit vergittertem, quadratischem Fenster und die Konzentration auf die zentralen Protagonisten sind den Werken ebenso gemeinsam wie die farbliche Gestaltung.25 Auch auf der 21 (Übers. d. Verf.) Notizie di Luca della Robbia, latinista e storico del secolo XVI. Recitazione del caso di Pietro Boscoli e di Agostino Capponi, scritte da Luca della Robbia, l’anno MDXIII, in: Archivio storico Italiano 1 (1842), S. 276–312, hier S. 305f.: »E mentre andava giù per la scala, tutto innamorato, disse così, voltando gli occhi alla tavoletta: Signore, tu se’ il mio amore; io ti dono il cuore; io amo te solo […]. Eccomi, Signore; volentieri vengo; dammi fortezza e vigore. E con tanto affetto diceva, che chiunque udiva, forte lacrimava.« Beispiele für die oben erwähnten Gebetsvorlagen bei Manara, Giacinto: Notti Malinconiche nelle quali con occasione di assister’ à Condannati à morte, si propongono varie difficoltà spettanti à simile materia. Bologna 1668, S. 768–773 u. S. 775–778. Englische Übersetzung und Kommentierung von della Robbias Schilderung bei Edgerton, Samuel Y.: A Little-Known ›Purpose of Art‹ in the Italian Renaissance, in: Art History 2 (1979), 1, S. 45–61, hier S. 49f. 22 (Übers. d. Verf.) Edgerton 1985 (wie Anm. 19), S. 172 spricht von »a kind of visual narcotic«. 23 Laut Soprintendenza per i Beni Storici, Artistici ed Etnoantropologici del Lazio (scheda OA 12/00257215) ist das Täfelchen auf das 16. Jahrhundert zu datieren. 24 Edgerton 1979 (wie Anm. 21), S. 49f. 25 Ich danke der Arciconfraternità di San Giovanni Decollato dei Fiorentini in Rom für den Zugang zum Museo della Camera Storica.

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3  Anonym, Enthauptung des Täufers, Rückseite einer tavoletta, 2. Hälfte 16. Jh. (?), 52 × 28 cm, Öl auf Holz, Rom, Arciconfraternità di San Giovanni Decollato, Museo della camera storica.

römischen tavoletta ist der Täufer in Rot und Salome in Blau gekleidet. Gerade die Gestalt der biblischen Prinzessin auf dem Täfelchen kommt Danieles Salome so nahe, dass sie wie eine spiegelbildliche, züchtigere Variante – sie hält die Silberplatte vor die Brust – ihres Turiner Äquivalents wirkt. Dennoch gibt es markante Unterschiede zwischen der undatierten tavoletta26 aus Rom und der Tafel aus Turin nicht nur im Hinblick auf die Größen­ dimensionen (Größe eines Tennisschlägers versus mittleres Galerieformat). Der Funktion der Affektkontrolle der tavolette entspricht der beruhigte (oder vielmehr beruhigende) Darstellungsmodus des römischen Johannes-Täfelchens. Momentwahl und Bildaufbau begrenzen das Schreckenspotenzial des Sujets. Der Täufer ist parallel zur Bildfläche im Profil gegeben, Salome und der Henker sind dazu planimetrisch im rechten Winkel angeordnet. Daraus ergibt sich eine statische, nahezu spiegelsymmetrische Gesamtkomposition. Der Henker in Rückenfigur scheint mangels Charakterisierung eine neutrale, keinesfalls abstoßende oder furchterregende Figur. Durch die Konzentration auf den 26 Zu keiner der tavolette liegen gesicherte Datierungen vor, doch lassen sich vereinzelt Prototypen des 16. und 17. Jahrhunderts erkennen. So scheint eine tavoletta des Museo della Camera Storica auf Sebastiano del Piombos Geißelung Christi zurückzugehen, eine andere wiederum von Annibale Carraccis Darstellungen der Beweinung inspiriert.

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Augenblick vor der Enthauptung (auch hierdurch wird eine Identifikation begünstigt) wird die Darstellung von Blut oder Körperverletzung und damit jedes eventuell verstörende Moment vermieden. Die Einladung zur Identifikation mit dem Dargestellten war die zentrale Aufgabe der tavoletta, aber eben mit dem Zweck, eine Gefährdung des Hinrichtungsprocederes – etwa durch das Panisch- und Übergriffig-Werden des Delinquenten – zu verhindern.

Confraternità als Kontext? Die eben betrachtete Johannes-tavoletta wurde ohne jeden Zweifel für die römische Confraternità di San Giovanni Decollato in Rom geschaffen. Auch für die Turiner Tafel des in Rom tätigen Toskaners Daniele da Volterra ist – nicht zuletzt aus ikonographischen Gründen – eine Entstehung und Rezeption im Umkreis dieser Laienbruderschaft denkbar. Wie bereits erwähnt, handelte es sich bei dieser confraternità um ein spezifisch florentinisches Milieu in der Ewigen Stadt: Daniele da Volterras Freund und Mentor Michelangelo war Mitglied der Bruderschaft und sein Leichnam wurde vor der Überstellung nach Florenz in den Räumen der confraternità aufgebahrt. Auch Giovanni della Casa, für den der Maler seine doppelseitig bemalte Schiefertafel mit der Darstellung von David und Goliath (Paris, Musée du Louvre) schuf, war wahrscheinlich in den Reihen der Laienbrüder anzutreffen.27 Vertragsunterlagen bestätigen, dass Daniele selbst in direkter Verbindung mit der Bruderschaft stand. In einem Dokument von 1551 wird erwähnt, dass Giorgio Vasari den Auftrag für den Hauptaltar der Kirche der Bruderschaft erhalten habe und Daniele da Volterrra denjenigen für den Hauptalter ihres angrenzenden Oratoriums sowie einen Vorschuss von 25 scudi.28 Den Altar des oratorio allerdings schmückt keinesfalls eine Pala von der Hand des Künstlers, sondern ein Leinwandgemälde von Jacopino del Conte mit der Darstellung der Kreuzabnahme.29 Die in der Literatur geäußerte Hypothese, seine Enthauptung des Täufers sei das Produkt dieses Auftrages, das aus unerfindlichen Gründen durch das heu27 Keller, Rolf E.: Das Oratorium von San Giovanni Decollato in Rom. Eine Studie seiner Fresken. Neuf­ châtel 1976, S. 16; Di Sivo, Michele: Il fondo della Confraternità di S. Giovanni decollato nell’Archivio di Stato di Roma (1497–1870). Inventario, in: Rivista storica del Lazio VIII (2000) 12, S. 181–225, hier S. 197, Anm. 57. 28 Weisz, John S.: Daniele da Volterra and the Oratory of S. Giovanni Decollato, in: The Burlington Magazin­e 123 (1981) 939, S. 355–357, hier S. 355: »Facolta data a tre Fratelli di poter convenire in nome di tutta la compagnia per la tavola del Altar maggiore di Chiesa con Giorgio Vasari, Aretino, e per la tavola dell’Oratorio con Daniele da Volterra, da quale la Compagnia pretendeva avanzare V [= scudi] 25. [datiert] 1551.« 29 Vgl. Weisz, John S.: Salvation through Death. Jacopino del Conte’s Altarpiece in the Oratory of S. Giovann­i Decollato in Rome, in: Art History 6 (1983), S. 395–405. Zur Ausstattung des oratorio Keller 1976 (wie Anm. 27); Tempesta, Claudia: Oratorio di San Giovanni Decollato, in: Il Rinascimento a Roma. Nel Segno di Michelangelo e Raffaello (Ausst.-Kat. Rom, Museo Palazzo Sciarra, 25.10.2011–12.02.2012-02). Hrsg. von Maria Grazia Bernardini u. Marco Bussagli. Mailand 2011, S. 116–133. Zu Vasaris Enthauptung des Täufers für die chiesa Mocci, Laura: L’Altare Maggiore della Chiesa di San Giovanni Decollato in Roma, in: Bollettino d’arte 96–97 (1996), S. 127–132.

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te noch im oratorio aufbewahrte Gemälde Jacopinos ersetzt worden sei, ist problematisch.30 Zum einen weisen die Bilder gänzlich unterschiedliche Ikonographien auf, zum anderen ist Jacopinos Altarbild fast dreimal so groß wie Danieles Tafel.31 Vasaris Altarbild in der chiesa di San Giovanni Decollato, direkt neben dem Oratorium, zeigt wiederum die Enthauptung des Täufers (Abb. 4). Aber auch dieses Werk ist mehr als doppelt so groß wie das Turiner Gemälde und setzt inhaltlich völlig andere Akzente als die Tafel von Daniele da Volterra: Der Henker selbst ähnelt mit seinem muskulösen Körper und der Stirnbinde einem antiken Athleten. Indem seine physische Erscheinung einem auch moralisch positiv konnotierten antikischen Körperideal entspricht, wird dem Vorgang ein Stück weit das Moment des Schreckens entzogen. Ein Gleiches geschieht durch die zahlreich anwesenden Zeugen, links zwei Soldaten in antikisierendem Gewand, rechts die Begleiterinnen Salomes. Der Aspekt der Herstellung von ›Öffentlichkeit‹ ist hier von hoher Relevanz. Jutta Held hat – den Grundüberlegungen von Foucaults Überwachen und Strafen folgend – dargelegt, dass die Ikonographie der Enthauptung des Johannes, der sein Los in Ergebenheit annimmt und die weltliche Gerichtsbarkeit widerstandslos akzeptiert, der Ideologie des zunehmend auf Disziplinierung des Individuums ausgerichteten frühneuzeitlichen Staatswesens in idealer Weise entspricht. Den von einer derartigen Lesart massiv abweichenden Charakter von Daniele da Volterras Turiner Gemälde stellt Held deutlich heraus: In dem Gefängnis, in das man Johannes eingesperrt hat, vollstreckt der Henker den Befehl ohne Zeugen. Auf diese Weise wird nicht nur das Urteil gegen Johannes angefochten […], sondern die Gerichtsbarkeit selbst gerät ins Zwielicht. Es gehörte in der frühen Neuzeit bekanntlich zu ihrer Legitimierung, daß die Hinrichtungen öffentlich vollstreckt werden mußten. Das Gefängnis, eine Erfindung des frühmodernen Staates, wird in Daniele da Volterras Szene als heimliche Mordstätte gesehen, der Henker […] wird in diesem Bild als brutaler Mörder denunziert.32

Danieles San Giovanni Decollato ist neu in seiner für das Cinquecento bis dato singulären Zuspitzung des Sujets durch die Konzentration auf wenige Bildfiguren und den weitgehenden Verzicht auf Staffage. Das Turiner Bild verweigert seinem Betrachter die Möglichkeit, dem blutigen offenen Hals zu entgehen – im Gegensatz zu Vasaris Gemälde, in dem das 30 Diese These wird bei Spanticati 2006 (wie Anm. 3), S. 27 als Möglichkeit erwähnt. 31 Danieles Enthauptung des Täufers besitzt die Maße 177 × 141 cm, während Jacopinos Kreuzabnahme 340 × 210 cm groß ist, das entspricht einem Flächenverhältnis von 2,5 m² : 7,14 m². Geht man davon aus, dass für das Altarbild des Oratoriums tatsächlich stets das Thema der Kreuzabnahme vorgesehen war, ist die Entscheidung der Laienbrüder einleuchtend, den Auftrag an Daniele zu vergeben. Sein damals vielbeachtetes Fresko der Kreuzabnahme der Cappella Orsini der Trinità dei Monti galt den Zeitgenossen als sein capolavoro. Weisz 1981 (wie Anm. 28), S. 355f. schreibt eine Zeichnung aus dem Louvre, die frappierend­e Ähnlichkeit zu Jacopinos fertigem Altarbild besitzt, Daniele da Volterra zu und sieht darin dessen ursprünglichen Entwurf, mit dem die im Vertragsdokument erwähnte Auszahlung von 25 Scudi zu erklären sei und an dem sich Jacopino nach Abtretung des Auftrags durch Daniele orientiert habe. Sein hohes Arbeitspensum im Zuge der Ausstattung der Stanza di Cleopatra im Vatikan könnte erklären, warum Daniele der confraternità schließlich kein Altarbild lieferte. 32 Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Berlin 1996, S. 183f.

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4  Giorgio Vasari, Enthauptung des Täufers, um 1555, Öl auf Holz, 312 × 198 cm, Rom, San ­Giovanni Decollato.

Blut in einer eleganten Kurve seitlich wegspritzt. Die von Held erwähnte Resistenz seiner Konzeption gegen eine erzieherisch-erbauliche Didaxe im Sinne frühneuzeitlicher Diszi­ plinierung, die von den Laienbrüdern der confraternità mit ihrem Beitrag zum störungsfreien Ablauf weltlicher Gerichtsbarkeit mitgetragen wurde, lässt Daniele da Volterras Werk im Unterschied zu Vasaris Altarbild für die Andacht im Rahmen der Bruderschaft eher ungeeignet erscheinen. Ein Gemälde Girolamo Muzianos, über dessen Entstehungsumstände wir genauestens unterrichtet sind, liefert jedoch einen Hinweis darauf, dass Danieles Turiner Tafel in Zusammenhang mit der San Giovanni Decollato Bruderschaft rezipiert wurde (Abb. 5). In der formalen Gestaltung der Johannes-Figur ist Muzianos Enthauptung des Täufers (heute in San Bartolomeo dei Bergamaschi in Rom) ebenso wie in der Gesamtkonzeption des Bildes mit seiner Reduktion auf das essentielle Figurenpersonal eindeutig von Danieles Werk beeinflusst. Muzianos Leinwandgemälde entstand zwischen 1578–1582 für die Cappella Goldi der Chiesa di San Macuto in Rom im Zuge einer Testamentsverfügung des guardian­o der Confraternità dei Santi Bartolomeo e Alessandro dei Bergamaschi.33 Zunächst fällt auf,

33 Tosini, Patrizia: Girolamo Muziano 1532–1592. Dalla Maniera alla Natura. Rom 2008, S. 420.

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5  Girolamo Muziano, Enthauptung des Täufers, 1578–1582, Öl auf Leinwand, 300 × 190 cm, Rom, San Bartolomeo dei Bergamaschi.

dass das Altargemälde für die Kapelle des Vorstehers der Bergamasker confraternità nicht etwa auf deren Schutzpatrone Bartholomäus und Alexander oder das Patrozinium der Kirche, Mauritius (Macuto) rekurriert, sondern eine Johannes-Ikonographie gewählt wurde. Ließe sich diese Wahl mit dem Vornamen des Stifters, Giovanni Battista Goldi, erklären, so muss die Entscheidung gegen eine Inszenierung des Bußpredigers in seiner Eigenschaft als Täufer (Battista), stattdessen aber für die Darstellung seiner Hinrichtung überraschen – dies umso mehr, als hier inhaltlich keinerlei Berührungspunkt zu den karitativen Tätigkeiten der Brüder aus Bergamo besteht. Die Entscheidung für genau dieses Sujet wäre aber dann verständlich, wenn die Pala der Cappella Goldi dem Zweck dienen sollte, die Bergamaschi und ihren Vorsteher als ernstzunehmende Konkurrenz der in Rom hochangesehenen florentinischen Laienbruderschaft des San Giovanni Decollato34 zu präsentieren. Die Tatsache, dass gerade Danieles Fassung des Themas Muzianos Bildfindung offensichtlich prägte, liefert ein Indiz dafür, dass die Zeitgenossen die Turiner Tafel mit der San Giovanni 34 Fanucci 1601 (wie Anm. 19), S. 360f. berichtet in seinem Kapitel Della Confraternità de Sanii [sic] Bartholomeo, & Alisandro della Natione Bergamasca, dass die Bruderschaft 1538 gegründet wurde, womit sie vergleichsweise jung war. Wie die San Giovanni Decollato-Bruderschaft der Florentiner definierte sich die confraternità der Bergamasker durch die Herkunft ihrer Mitglieder von außerhalb Roms. Sie war hauptsächlich im karitativen Bereich (Alten- und Armenfürsorge, Bereitstellung von Mitgiften) tätig.

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Decollato-Bruderschaft identifiziert haben.35 Doch wenn sein Gemälde auf Grund von Format und in ideologischer Hinsicht heikler Behandlung des Stoffes weder für das Orato­rium noch die Kirche der Florentiner Bruderschaft in Rom geeignet scheint, welcher Entstehungszusammenhang wäre dann denkbar? Es scheint naheliegend, dass das Gemälde als Verweis auf die Mitgliedschaft seines Auftraggebers in einer der – auf Grund ihrer Vorrechte und prominenten Mitglieder – exklusivsten religiösen und sozialen Vereinigungen Roms36 verstanden wurde. Dank der Recherchen von Michele di Sivo liegen die Listen des Giornale und des Libro del Proveditore der San Giovanni Decollato-Bruderschaft in publizierter Form vor. Leider weisen die Akten eine Lücke auf, welche die Phase vom 1. Mai 1522 bis zum 1. Mai 1556 umfasst, und enden mit dem Jahr 1586, so dass just für den Zeitraum, in dem Danieles Enthauptung des Täufers entstand sowie für die Phase, in der Giovanni Niccolini während seines Aufenthaltes als Florentiner Gesandter an der römischen Kurie (1588–1610) das Gemälde erworben haben könnte, keine verwertbaren Informationen vorliegen.37 Aber ein Giuliano ›Niccollinni‹ ist zwischen 1510–1517 als governatore und als consigliere verzeichnet, d.h. in verantwortlichen Positionen innerhalb der bruderschaftsinternen Hierarchie.38 Möglicherweise waren Mitglieder der florentinischen Niccolini-Familie auch in der Zeit um 1550 in der confrater­ nità aktiv und gaben die Enthauptung bei ihrem toskanischen Landsmann Danie­le in Auftrag. Vielleicht aber haben die Niccolini das Bild auch erst aus dem Besitz eines anderen Laienbruders erworben, für den dieses Gemälde eine ähnliche soziale Funktion hatte wie Muzianos Enthauptung des Täufers für Giovanni Battista Goldi: die Dokumentation von sozialem Status. Muzianos und Danieles Gemälde gleichen Bildthemas unterscheiden sich aber deutlich durch ihre Maße (300 × 190 bzw. 177 × 141 cm), was unterschiedliche Aufstellungskontexte nahelegt. Interessanterweise berichtet Vasari, dass Daniele da Volterra für den vermutlich in der San Giovanni Decollato-Bruderschaft aktiven Literaten Giovanni della Casa, der ein Kunst35 Verwirrend ist, dass eine Replik von Muzianos Enthauptung des Täufers (275 × 181 cm) im Presbyterium der Chiesa di San Giovanni Decollato aufbewahrt wird, vgl. Tosini 2008 (wie Anm. 33), S. 492, d.h. in unmittelbarer Nähe zu Vasaris Gemälde gleichen Themas. Diese schwächere Zweitfassung nach Muziano lässt sich seit Titi, Filippo: Studio di Pittura, Scoltura et Architettura, nelle chiese di Roma. Rom 1674, S. 89 im Gebäudekomplex der confraternità nachweisen und belegt die Komplexität der Einflüsse und Austauschprozesse zwischen den verschiedenen Laienbruderschaften Roms. 36 Fanucci 1601 (wie Anm. 19), S. 337 berichtet, dass der Aufnahme in die San Giovanni Decollato-Bruderschaft (die jährliche Zahl der Neumitglieder war auf neun beschränkt) ein sorgfältiges Aufnahmeverfahre­n voranging. Außerdem durften die Laienbrüder in keiner anderen confraternità Mitglied sein und mussten Aufnahmegebühren entrichten. In ihren Mitgliedsakten finden sich so bedeutende Florentiner Namen wie Rucellai, Altoviti, Cavalcanti oder Strozzi, vgl. Di Sivo 2000 (wie Anm. 27), S. 187 u. S. 215–219. Fanucci betont (S. 338), dass die San Giovanni Decollato-Bruderschaft besondere päpstliche Gnaden­ beweise und Privilegien erhalten hatte. Dazu gehörte das Recht, zum Festtag der Enthauptung des Täufers (San Giovanni Decollato), dem 29. August, einen zum Tode Verurteilten Gefangenen ihrer Wahl zu befreien. Die Bruderschaft kontrollierte auch die Übereignung der Leichname hingerichteter Delinquenten an die Sapienza zu anatomischen Studienzwecken. 37 Di Sivo 2000 (wie Anm. 27), S. 197f. 38 Di Sivo 2000 (wie Anm. 27), S. 210.

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6  Nach Daniele da Volterra (?), Johannes der Täufer, um 1555/1556 (?), Öl auf Holz, 191,5 × 129 cm, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pina­kothek.

traktat habe schreiben wollen, mehrere Gemälde profanen sowie religiösen Inhalts geschaffe­n habe, darunter einen San Giovanni in Penitenza, von dem Repliken in München (Bayerisch­e Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek) und Rom (Musei Capitolini) überliefert sind (Abb. 6).39 Für diese Werke ist ein Entstehungs- und Rezeptionskontext unter profanen kunsttheoretischen Vorzeichen nicht ausgeschlossen. Mit ihren Maßen von 191,5 × 129 cm bzw. 178 × 110 cm kommen die beiden Fassungen des Büßenden Johannes dem Format der Turiner Enthauptung des Johannes (177 × 141 cm) sehr nahe. Vielleicht ist hier der Entstehungskontext für die Tafel aus der Galleria Sabauda zu suchen. Daniele da Volterras San Giovanni Decollato, was auch immer seine ursprüngliche Funktion gewesen sein mag, erscheint im Rückblick als ein Vorläufer des autonomen reli-

39 Vasari 1966–1997 (wie Anm. 17), Bd. V, S. 545. Vgl. Ausst.-Kat. Florenz 2003 (wie Anm. 7), S. 134f., Kat. Nr. 37 (Vittoria Romani).

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giösen Sammlerbildes, jener Gattung, deren herausragender Protagonist Michelangelo Merisi da Caravaggio werden sollte.40 Möglicherweise hat erst die Rezeptionsgeschichte des Œuvres von Caravaggio eine derartige Umdeutung von Danieles Tafel ermöglicht. Es bliebe zu überlegen, inwieweit die San Giovanni Decollato-Bruderschaft zur Herausbildung dieses Bildtypus’ beigetragen hat, nicht nur durch das private Mäzenatentum ihrer Mitglieder, sondern auch durch die von ihr regelmäßig abgehaltenen öffentlichen Kunstausstellungen, mit denen sie in letzter Konsequenz die Institutionen Wechselausstellung und Kunstkritik mitbegründete.41 Daniele da Volterras Turiner tavola jedenfalls, dies zeigt die Gegenüberstellung mit der tavoletta, deren Funktion der Affektkontrolle klar vorgegeben ist, wurde offensichtlich mit dem Ziel der Erregung von Affekt und dadurch letztlich der Erregung von Aufmerksamkeit geschaffen. Ob dieses Gemälde tatsächlich den Betrachter zu affizieren vermochte, ist zweitrangig. Wichtiger ist, dass das Werk durch Elemente, die nach zeitgenössischer Auffassung affektives Wirkpotenzial besaßen (Bewegung und Verkürzung), die Fähigkeit zur Affekterzeugung postulierte und damit das Maximum dessen zu erfüllen versprach, was ein Kunstwerk cinquecentesker Kunsttheorie zu Folge leisten sollte und leisten konnte.

Literaturverzeichnis Alberti, Romano: Trattato della nobiltà della pittura [1585], in: Trattati d’Arte del Cinquecento. Fra Manie­ rismo e Controriforma. Hrsg. von Paola Barocchi. Bari 1960–1962, 3 Bde, Bd. III, S. 195–235. Bocchi, Francesco u. Giovanni Cinelli: Le Bellezze della citta di Firenze. Florenz 1677. Callery, Joseph Marie: La Galerie Royale de Peinture de Turin. Turin 1859. Ciardi, Roberto Paolo u. Benedetta Moreschini: Daniele Ricciarelli. Da Volterra a Roma. Rom 2004. Daniele da Volterra. Amico di Michelangelo (Ausst.-Kat. Florenz, Casa Buonarroti, 30.09.2003–12.01.2004). Hrsg. von Vittoria Romani. Florenz 2003. Di Sivo, Michele: Il fondo della Confraternità di S. Giovanni decollato nell’Archivio di Stato di Roma (1497– 1870). Inventario, in: Rivista storica del Lazio VIII (2000) 12, S. 181–225. Edgerton, Samuel Y.: A Little-Known ›Purpose of Art‹ in the Italian Renaissance, in: Art History 2 (1979), 1, S. 45–61. Edgerton, Samuel Y.: Pictures and Punishment. Art and Criminal Prosecution during the Florentine Renaissance. Ithaca / London 1985. Fanucci, Camillo: Trattato di tutte l’opere pie dell’alma citta di Roma. Rom 1601. Graul, Jana: ›... fece per suo capriccio, e quasi per sua defensione‹. I due bassorilievi in stucco di Daniele da Volterra per la cappella Orsini, in: Prospettiva, 134–135 (2009–2010), S. 141–156.

40 Zum intellektuellen Horizont des religiösen Sammlerbildes zur Zeit Caravaggios vgl. Plackinger, An­dreas: ›Visus‹ und ›tactus‹, Affekt und Wahrheit in Caravaggios Ungläubigem Thomas. Überlegungen zum religiösen Sammlerbild im Rom des frühen 17. Jahrhunderts, in: kunsttexte.de 4 (2010). http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010-4/plackinger-andreas-1/PDF/plackinger.pdf (16.01.2013). 41 Die Kunstausstellungen sind ab spätestens 1620 als regelmäßige Veranstaltung nachweisbar. Die Protokolle zu Giovanni Bagliones Anzeige gegen Caravaggio belegen jedoch, dass bereits 1603 die Möglichkeit bestanden haben muss, Werke (auch profanen Inhalts) in den Räumen der San Giovanni Decollato-Bruderschaft zu präsentieren, dazu Haskell, Francis: Maler und Auftraggeber. Kunst und Gesellschaft im italienischen Barock. Köln 1996, S. 184f.

Affekt, Devotion, Prestige

Haskell, Francis: Maler und Auftraggeber. Kunst und Gesellschaft im italienischen Barock. Köln 1996. Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Berlin 1996. Keller, Rolf E.: Das Oratorium von San Giovanni Decollato in Rom. Eine Studie seiner Fresken. Neufchâtel 1976. Laudun d’Aigaliers, Pierre de: L’Art poëtique françois [1597]. Hrsg. von Jean-Charles Monferran. Paris 2004. Leonardo da Vinci: Das Buch von der Malerei [vor 1519]. Übers. u. hrsg. von Heinrich Ludwig. Wien 1882, 3 Bde. Lomazzo, Gian Paolo: Scritti sulle Arti. Hrsg. von Roberto Paolo Ciardi. Florenz 1973–1975, 2 Bde. Manara, Giacinto: Notti Malinconiche nelle quali con occasione di assister’ à Condannati à morte, si pro­ pongono varie difficoltà spettanti à simile materia. Bologna 1668. Michels, Norbert: Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster 1989. Minerbetti, Bernardetto: A Giorgio Vasari in Roma [Brief vom 20. August 1552], in: Scritti d’arte del Cinquecento. Hrsg. von Paola Barocchi. Mailand u. Neapel 1973, 3 Bde, Bd. II, S. 1198–1200. Mocci, Laura: L’Altare Maggiore della Chiesa di San Giovanni Decollato in Roma, in: Bollettino d’arte 96–97 (1996), S. 127–132. Montaigne, Michel de: Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Hrsg. von Hans Stilett. Frankfurt am Main 2002. Notizie di Luca della Robbia, latinista e storico del secolo XVI. Recitazione del caso di Pietro Boscoli e di Agos­tino Capponi, scritte da Luca della Robbia, l’anno MDXIII, in: Archivio storico Italiano 1 (1842), S. 276–312. Paglia, Vincenzo: La Morte confortata. Riti della paura e mentalità religiosa a Roma nell’età moderna. Rom 1982. Plackinger, Andreas: ›Visus‹ und ›tactus‹, Affekt und Wahrheit in Caravaggios Ungläubigem Thomas. Über­ legungen zum religiösen Sammlerbild im Rom des frühen 17. Jahrhunderts, in: kunsttexte.de 4 (2010). http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010-4/plackinger-andreas-1/PDF/plackinger.pdf (16.01.2013). Plackinger, Andreas: Violenza. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunstdiskurs. Berlin / Boston 2016. Rhein, Gudrun: Der Dialog über die Malerei. Lodovico Dolces Traktat und die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts. Mit einer kommentierten Neuübersetzung. Köln [u.a.] 2008. Spanticati, Carla Enrica [u.a.] (Hrsg.): La Galleria Sabauda di Torino. Opere scelte. Turin 2006. Spinelli, Riccardo: Precisazioni su alcune opere della collezione di Giovanni di Agnolo Niccolini (1544–1611), in: Paragone.Arte 60 (2009), Ser. 3,86, S. 76–83. Tempesta, Claudia: Oratorio di San Giovanni Decollato, in: Il Rinascimento a Roma. Nel Segno di ­Michel­angelo e Raffaello (Ausst.-Kat. Rom, Museo Palazzo Sciarra, 25.10.2011–12.02.2012). Hrsg. von Maria Grazia Bernardini u. Marco Bussagli. Mailand 2011, S. 116–133. Titi, Filippo: Studio di Pittura, Scoltura et Architettura, nelle chiese di Roma. Rom 1674. Tosini, Patrizia: Girolamo Muziano 1532–1592. Dalla Maniera alla Natura. Rom 2008. Treves, Letizia: Daniele da Volterra and Michelangelo. A collaborative relationship, in: Apollo 154 (2001), S. 36–45. Vasari, Giorgio: Vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568. Hrsg. von Rosanna Bettarini u. Paola Barocchi. Florenz 1966–1997, 15 Bde. Vogt, Katja Maria: Die stoische Theorie der Emotionen, in: Zur Ethik der älteren Stoa. Hrsg. von Barbara Guckes. Göttingen 2004, S. 69–93. Weisz, John S.: Daniele da Volterra and the Oratory of S. Giovanni Decollato, in: The Burlington Magazine 123 (1981) 939, S. 355–357. Weisz, John S.: Salvation through Death. Jacopino del Conte’s Altarpiece in the Oratory of S. Giovanni Decollato in Rome, in: Art History 6 (1983), S. 395–405.

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IMAGO ET FIGUR A MORTIS Visuelle Reflexionsfiguren in Pieter Bruegels d.  Ä. Triumph des Todes A medida que lo hacía, los contornos y después los tonos más claros del cuadro de Brueghel se perfilaban ante sus ojos. Aquella pintura, que también podía reconocer aunque la oscuridad velase la mayor parte de sus detalles, siempre había ejercido sobre ella una peculiar fascinación. [...] a fin de cuentas, todos los cuadros eran cuadros de un mismo ­cuadro, como todos los espejos eran reflejos de un mismo reflejo, como todas las muertes eran muertes de la misma Muerte. Arturo Pérez-Reverte, La tabla de Flandes (1990)

Tod soweit das Auge reicht: Tod durch Erhängen, Tod durch Köpfen, Tod durch Ertränken, Tod durch Rädern, Tod durch Erschlagen ... Tod auf jede nur erdenkliche Art, herbeigeführt durch eine omnipräsente, archaische Gewalt, die entfesselt an einem sonderbaren Ort des Schreckens ihre absolute Allmacht manifestiert. Über Männer, Frauen und Kinder, Bauern, Adlige, Landsknechte und Würdenträger bricht gewaltsam eine unbegreifbare Katastrophe herein, die das Spiegelbild der gesamten Gesellschaft im Akt des kollektiven Sterbens vereint. Jenes unheilvolle Grauen, das die Menschheit gleichermaßen unerwartet wie brutal zu vernichten sucht, findet in der reitenden Todesfigur im Zentrum des Bildes und ihrem zahllosen Gefolge von Toten eine sinnfällige Evidenz. Niemand und nichts, weder Mensch noch Natur, können der zerstörerischen Wucht dieser ungeheuren Streitkraft standhalten, die erbarmungslos, ohne jede Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion oder Stellung jagt, foltert und mordet. Pieter Bruegels d. Ä. um 1562 entstandener Triumph des Todes (Abb. 1, Taf. XV) visualisiert die totale Agonie alles Lebendigen, deren apokalyptisches Ausmaß die verheerte Weltlandschaft mit den darin agierenden Figuren zu einem theatrum mortis werden lässt, auf das der Betrachter des Bildes von seinem erhöhten Standpunkt wie auf eine Bühne blickt.1 In dieser aufwendig inszenierten T ­ ragödie

1

Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen ist meine 2011 in Berlin erschienene Dissertation: Tri­ logie der Gottessuche. Pieter Bruegels d. Ä. Sturz der gefallenen Engel, Triumph des Todes und Dulle Griet. Zum Triumph des Todes vgl. zuletzt Silver, Larry: Morbid fascination: Death by Bruegel, in: The Anthropomorphic Lens. Hrsg. von Walter S. Melion [u.a.]. Leiden 2015, S. 421–454.

Imago et Figura Mortis

1  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, um 1562, Öl auf Holz, 117 × 162 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado.

imitieren einige der Toten mit einer geradezu proteischen Wandlungsfähigkeit die Ver­ haltensweisen sowie Rituale ihrer Opfer, tragen deren Kleidung und interagieren auf eine Art, die darauf schließen lässt, dass sie maskiert und verkleidet den Platz der Lebenden einnehmen werden. Sie spielen Musikinstrumente, fahren einen Karren voller Gebeine, halten Gerichtsverhandlungen ab, lassen Glocken läuten oder, gleichsam die Folgen ihres eigenen Zorns beseitigend, veranstalten aufwendige Exequien und begraben selbst die Leichen.2 Ob Mönch, Narr oder Pilger – sie alle werden umgebracht und sogleich durch Tote ersetzt, die in ihrer eigenartigen Mimesis zu bizarren Akteuren avancieren, deren maka­ bres Schauspiel das Zerbrechen der kosmologischen Ordnung verdeutlicht. Eine Menschheit in zwei differenzierten Zuständen steht hier in einem antithetischen Verhältnis zueinander und widerspricht der christlichen Auffassung von einer Gemeinschaft der Lebenden und der Verstorbenen, über die am Ende der Zeiten gerichtet wird. Überwältigt von den Mächten des Todes verwandelt sich die untergehende Welt in eine irdische Hölle, einen gottverlassenen, bizarren Schauplatz, an dem sich die Menschheit immerwährend selbst für ihre Sünden zu bestrafen scheint. 2 Vgl. Kiening, Christian: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit. München 2003, S. 161.

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In Bruegels makabrem Phantasma einer universellen Idee des Sterbens ist der Tod nicht nur eine einzelne Figur, die Sense schwingend im Galopp über alles Irdische triumphiert, er ist zugleich die Masse der Toten, jene endlos multiplizierte Verkörperung seiner Selbst und nicht zuletzt die eigentliche Handlung des Bildes. Die Radikalität dieses Sujets und die Singularität des Bildkonzepts, das sich innovativ mit dem virulenten ästhetischen Problem der Darstellbarkeit und Wahrnehmbarkeit des Todesmysteriums auseinandersetzt, machen das Werk, wie im Folgenden gezeigt werden soll, zum präzedenzlosen Fall künstlerischer Imagination. Die visuelle Rhetorik der Tafel zielt dabei auf eine mentale Form der meditatio mortis, der Antizipation des eigenen Sterbens durch den Betrachter, dessen in modellhaften Bahnen gesteuerte Affizierung im Zentrum des Rezeptionsprozesses steht. Vor dem Hintergrund der konfessionellen Kontroversen um den Status religiöser Bilder im 16. Jahrhundert, so die hier vertretene These, entwarf der niederländische Maler eine der komplexesten bildlichen Reflexionen über die Möglichkeiten und Grenzen visueller Repräsentation immaterieller Wirklichkeit.

Imago Mortis Ein kurzer Blick auf eine Geste der Ohnmacht, in der sich der Verlust jeglicher Affektkontrolle widerspiegelt, lässt den Rezipienten des Triumph des Todes unerwartet zum Betrachter zweiter Ordnung werden (Abb. 2): Ein Edelmann im roten Gewand am rechten Rand des Bildes versucht, sein Schwert zu ziehen, um sich im hoffnungslosen Gefecht gegen die mordende Horde zu behaupten, doch angesichts des sich nähernden Todes verlässt ihn der Mut, seine Waffe wird zum nutzlosen Statussymbol.3 Durch das Fehlen eines direkten Kontrahenten wird der adlige Protagonist selbst in die Rolle eines Betrachters versetzt, der emotional überwältigt mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund entsetzt den Ablauf des Geschehens verfolgt, das sich auf drei durch die Komposition vorgegebenen Bedeutungsebenen abspielt. Während der Hintergrund des Bildes die totale Vernichtung wiedergibt, die gleichermaßen die Gewalten wie die Agonie der Natur einbezieht, und der Mittelgrund dem namenlosen Massenschicksal vorbehalten ist, schildert der Vordergrund die individuellen Konfrontationen zwischen den Lebenden und den Toten. Es ist jedoch nicht alleine die brutale Gewissheit, dass alles um ihn im Begriff ist zu sterben, die den Edelmann vor Schrecken erstarren lässt, sondern wohl auch die Erkenntnis, dass dieses Sterben der mors repentina, einem unheilvollen, weil plötzlichen und ohne letzte Sakramente erfolgten Tod entspricht. Ein solcher wurde bereits in der Bibel als Strafe Gottes verstanden und verweist auf die von ihm verlassene, verdammte Menschheit.4 Trotz des innerhalb der Komposition allgegenwärtigen Kreuzes kann nichts, was der verzweifelte Adlige sieht, als Hinweis auf das irdische Einwirken oder die Präsenz Gottes gedeutet werden und 3 4

Vgl. Kiening 2003 (wie Anm. 2), S. 164. Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München 112005, S. 19–23.

Imago et Figura Mortis

2  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, Detail (wie Abb. 1).

so scheint die in Zerstörung begriffene Welt mit ihren Bewohnern sich selbst überlassen zu sein. Die Abwesenheit Gottes macht das Madrider Tafelbild zu einer, wie es Walter S. Gibson 1991 treffend bezeichnete, profanen Apokalypse, einem verstörenden Gericht ohne Richter, das sich weder zeitlich noch topographisch bestimmen lässt.5 Eine Hoffnung auf Erlösung ist deshalb im Bild nicht greifbar, die Omnipräsenz und Allmacht des Todes werden durch keinen eschatologischen Zusammenhang relativiert, der sich dem Betrachter unmittelbar im Akt des Sehens erschließen würde.6 Auf der Suche nach einem die Katharsis auslösenden Motiv lässt die intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Szenen des irdischen Infernos eine grundlegende strukturelle Eigenart des Werkes erkennen. Bruegels visueller Entwurf stellt zwar unumstritten den titelgebenden und in seiner Totalität unrelativierbaren Triumph des Todes dar, doch gleichzeitig entzieht sich dieser konsequent einer expliziten ikonographischen Zuordnung, da die Tafel programmatisch Elemente unterschiedlicher Darstellungstraditionen unter einer Bildformel subsumiert.7 Der schweifende Blick des Betrachters wird deshalb, sobald er von einem Motiv zum nächsten wandert, meist mit dem Problem des Erkennens einer übergreifenden Logik des Untergangs­ 5

6 7

»Indeed, with Hell reduced to inconsequence and Heaven apparently banished altogether, the Triumph of Death is, in effect, a secular apocalypse. We are thus faced with a phenomenon less frequently encountered in the history of art than we might imagine – Bruegel appears to have invented a totally new subject.« Gibson, Walter S.: Pieter Bruegel the Elder. Two studies. Lawrence 1991, S. 53–95, hier S. 62. »The absence of any sign of hope or salvation is unusual for Bruegel’s time.« Sellink, Manfred: Bruegel. The Complete Paintings, Drawings, and Prints. Ghent 2007, S. 176. Vgl. Gibson 1991 (wie Anm. 5), S. 71.

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3  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, Detail (wie Abb. 1).

szenarios konfrontiert.8 Die visuelle Rhetorik des Werkes, darin ist sich die Forschung seit der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts einig,9 führt daher den Rezipienten über einen Partizipationsprozess in die Thematik des Bildes ein, bei dem sukzessive einzelne ikonographische Muster als solche identifiziert und in Relation zueinander gesetzt werden. Dieser Prämisse folgend, hat die kunsthistorische Literatur seit Jahrzehnten erfolgreich nach ikonographischen Vorbildern für die Madrider Tafel gesucht. Dabei wurde jedoch der weiterführenden Frage nach einem hinter dem vielschichtigen Bezugssystem stehenden Bildkonzept erstaunlicherweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt.10 Die im linken Vordergrund kompositorisch herausgehobenen Sterbeszenen eines Kaisers und eines Kardinals, jeweils von ihrem toten alter idem begleitet, ermöglichen in diesem Zusammenhang einen ersten Einstieg in das ikonographische Rezeptionsspektrum des Bildes (Abb. 3).11 Solche direkten Begegnungen der hohen Würdenträger mit dem Tod als eigenem Selbst gehören genauso wie die zahlreich innerhalb der Madrider Tafel musi8 9

Vgl. Kiening 2003 (wie Anm. 2), S. 162. Für die Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse vgl. Marijnissen, Rogier H.: Bruegel. Das vollständige Werk. Köln 2003, S. 195; Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 87–90. 10 Dieses grundsätzliche Problem innerhalb der Bruegel-Forschung ist auch im Umgang mit weiteren ­Werken des Malers wie etwa den Niederländischen Sprichwörtern zu beobachten vgl. Meadow, Mark A.: Pieter Bruegel the Elder’s Netherlandish Proverbs and the Practice of Rhetoric. Zwolle 2002, S. 39–40; Michalsky, Tanja: Perlen vor die Säue. Pieter Bruegels Imaginationen von Metaphern in den Niederländischen Sprichwörtern (1559), in: Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Horst Bredekamp, Christiane Kruse u. Pablo Schneider. München 2010, S. 237–257, hier S. 241. 11 Kiening 2003 (wie Anm. 2), S. 162.

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4  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, Detail (wie Abb. 1).

zierenden Toten zum klassischen Kanon der Totentanzdarstellungen.12 Insbesondere die nordalpinen Variationen des Themas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, allen voran Hans Holbeins d. J. erstmals 1538 in Lyon herausgegebenen Imagines mortis, fungierten, wie die Forschung zeigen konnte, als Vorbilder mehrerer Figuren und Figurenkonstellatio­ nen des Bruegel’schen Bildes.13 Allerdings belegt ein detaillierter Vergleich beider Werke, dass der niederländische Maler seinen Vorlagen nirgendwo exakt folgte, sondern wiederholt für einzelne Szenen oder gar Gestalten mehrere von Holbeins »Totentanz-Bildern« miteinander kombinierte und damit gleichsam symbolisch übercodierte.14 Ein entsprechendes visuelles Verfahren kann gleichermaßen beim Umgang Bruegels mit einer weiteren mittelalterlichen Darstellungstradition beobachtet werden, die der Madrider Komposition unübersehbar zu Grunde liegt. In der zentralen Figur des Todesreiters, die geradezu schwebend seine Opfer niedermäht (Abb. 4), der rechts in Zerstreuung begriffenen höfischen Gesellschaft (Abb. 2) und der links fahrenden Karre mit den Gebeinen (Abb. 3)

12 Charles de Tolnay war wohl der erste Forscher, der die Elemente des Totentanzes im Triumph des Todes identifizierte. De Tolnay, Charles: Pierre Bruegel l’Ancien. Brüssel 1935, S. 31; Grossmann, Fritz: Bruegel. Die Gemälde. Köln 1955, S. 191. 13 Vgl. Gibson, Walter S.: Bruegel. London 1977, S 116; Gibson 1991 (wie Anm. 5), S. 62–67; Marijnissen 2003 (wie Anm. 9), S. 195; Van Schoute, Roger u. Helene Verougstraete: The Triumph of Death by Pieter Bruegel the Elder and Pieter Brueghel the Younger, in: The Triumph of Death by Pieter Brueghel the Younger. Hrsg. von James I. W. Corcoran. Antwerpen 1995, S. 35–53, hier S. 36. 14 Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 118–123. Zur Mehrfachbedeutung bei Bruegel vgl. Müller, Jürgen: Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä. München 1999, S. 73.

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adaptierte er das klassische Thema des Triumphs des Todes, wie es sich in der italienischen Monumentalmalerei des 14. und 15.  Jahrhunderts etabliert hatte und in der Folgezeit mehrfach in der Druckgraphik zu finden war.15 Die Vorbildfunktion diverser Werke, insbesondere der freskierten Trionfi della Morte in Pisa (um 1330) und Palermo (um 1445), von denen Bruegel dasjenige aus dem Palazzo Sclafani möglicherweise auf seiner Italienreise (1552–1554) sehen konnte, ist unumstritten.16 Die Plötzlichkeit und Brutalität, mit der sich die sich rasch bewegenden Todesbringer – in den späteren druckgraphischen Variationen des Themas auf einem Triumphwagen dargestellt – den schockierten Menschen nähern, sowie die Mannigfaltigkeit der Opfer verweisen auf jene programmatische Globalität des Sterbens und Gleichheit aller angesichts des Todes, die dem Werk von Bruegel so eigen ist. Doch auch hier wird das traditionelle Motiv über seine ursprüngliche symbolische Bedeutung hinaus semantisch aufgeladen. Der hinter der reitenden Todesfigur rollende Höllenofen ist genauso wie letztlich die dargestellte Vernichtung der Welt eine bildliche Allusion auf die Ikonographie der Offenbarung des Johannes.17 Das bizarre Fuhrwerk, aus dessen Innerem Flammen aufsteigen, wird von einigen dämonischen Wesen angeschoben und versinnbildlicht in der Anordnung seiner architektonischen Elemente den Hölleneingang. Die Vorderwand mit dem hochgezogenen Gittertor als ›Rachen‹ und zwei kleinen Okulus-Fenstern als ›Augen‹ spielt motivisch auf das Leviathan-Maul an, welches in den Darstellungen der Apokalypse dem Todesreiter folgt und die Verdammten verschlingt.18 Die Aufgabe der traditionellen animalischen Form zugunsten eines mit Fremdeinwirkung rollenden Architekturkonstrukts verweist auf den grotesken Charakter der ›Requisitenhölle‹ und stellt somit ihre symbolische Funktion als Ort der ewigen Strafe infrage. Angesichts der grausamen Bestrafung der Menschheit im Hier und Jetzt wird die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits aufgehoben, die gezeigte Welt der alles umfassenden Agonie ist längst selbst eine makabre Imagination der Hölle geworden. Ebenso wie die ikonographische Tradition der Apokalypse war für Bruegels Bildfindung die moralisierende Parabel von der Begegnung der drei Lebenden mit den drei Toten essenziell, welche ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Texten und Bildern europaweit verbreitet wurde.19 Waren es im 14. Jahrhundert weitgehend statische Bilder der Begegnung, auf denen die Toten den Lebenden, entsprechend dem vanitativen SpeculumGedanken, wie eine Spiegelung gegenüberstanden, änderte sich die Bildkonzeption im 15. Jahrhundert grundlegend in Richtung einer dramatischen Auseinandersetzung, bei der die Verstorbenen immer aggressiver agierten.20 Mehrere Stundenbücher des 16. Jahrhun15 De Tolnay 1931 (wie Anm. 12), S. 31; Gibson 1991 (wie Anm. 5), S. 61–62; Sullivan, Margaret A.: Bruegel and the Creative Process, 1559–1563. Farnham 2010, S. 143–173. 16 Vgl. Gibson 1991 (wie Anm. 5), S. 53–95; Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 105–142. 17 Vgl. Jedlicka, Gotthard: Pieter Bruegel. Der Maler in seiner Zeit. Erlenbach 1938, S. 120. 18 »Da sah ich ein fahles Pferd; und der, der auf ihm saß, heißt ›der Tod‹; und die Unterwelt zog hinter ihm hier.« Apk 6,8. 19 Gibson 1991 (wie Anm. 5), S. 69–71. 20 Vgl. Rotzler, Willy: Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten. Ein Beitrag zur Forschung über die mittelalterlichen Vergänglichkeitsdarstellungen. Winterthur 1961, S. 262.

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5  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, Detail (wie Abb. 1).

6  Jacob Binck, Tod und Landsknecht, nach 1510, Kupferstich, 8,1 × 6,5 cm, Aufbewahrungsort unbekannt.

derts dokumentieren die motivische Verwandlung der ursprünglich kontemplativen Szene in einen erbarmungslosen Kampf, bei dem, wie in Bruegels Werk, die übermächtig gewordenen Toten ihre lebenden Pendants brutal zu vernichten suchen.21 Eine gelehrte Kombination aus tradierten Motiven des Totentanzes, des Triumphs des Todes, der Apokalypse sowie der Begegnung der drei Lebenden mit den drei Toten bildet, so lässt sich an dieser Stelle festhalten, die thematische Grundstruktur des Bildes, doch wird diese durch eine Vielzahl weiterer geläufiger Elemente der Todesikonographie, diverse versinnbildlichte Sprichwörter und explizite, geradezu emblematische Verweise auf Werke anderer Künstler komplementiert.22 Exemplarisch können hier etwa die rechts oberhalb des Edelmanns gezeigte Konfrontation eines verwesten Toten mit einer Hofdame (Abb. 2), die auf das zu Anfang des 16. Jahrhunderts in der Druckgraphik äußerst populär­e Thema Der Tod und das Mädchen rekurriert, das im linken Mittelgrund dargestellte Sprichwort »Die groote vissen eten de cleyne«23 oder der links des Edelmanns gestürzte Landsknecht genannt werden, den Bruegel einem Kupferstich Jakob Bincks (nach 1510) entnahm (Abb. 5 und 6).24 Im Kontext der Verwendung ausgewählter Bildzitate ist die visuelle Autorität Hieronymu­s Boschs für die Madrider Tafel wie für Bruegels Gesamtœuvre von besonderer Bedeutung. Die explizite Adaption einiger Motive seiner Werke, vor allem jener des um 1510 entstan21 Gibson vermutet, dass die Darstellungen des Themas von Giulio Clovio in zwei Stundenbüchern der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts für Bruegels Werk von besonderer Bedeutung waren. Vgl. Gibson 1991 (wie Anm. 5), S. 71–72. 22 Vgl. Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 127–131. 23 Zur Bedeutung des Sprichworts vgl. Marijnissen 2003 (wie Anm. 9), S. 81–82. 24 Vgl. Corcoran, James J. I. W. (Hrsg.): The Triumph of Death by Pieter Brueghel the Younger. Antwerpen 1995, pl. 7.

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denen Heuwagen-Triptychons, verweist erneut auf die Komplexität des Bruegel’schen Rezeptionssystems. Zu den programmatischen Entlehnungen gehört nicht nur das von einem toten Geiger begleitete Liebespaar am rechten Rand des Bildes (Abb. 2), das bei Bosch an der Spitze des auf der Mitteltafel gezogenen Heuwagens erscheint, und eine von Jagdhunden des Todes verfolgte männliche Figur im Hintergrund, die bei dem Meister aus ’s-Hertogenbosch prominent auf dem rechten Flügel des Triptychons mit der Darstellung der Hölle präsentiert wird, sondern auch der überfallene Pilger, dem sein totes Pendant gerade die Kehle durchschneidet.25 Die letztgenannte, von dem Betrachter in ihrer Grausamkeit kaum zu bewältigende Szene, zeigt Bruegel, sich auch kompositorisch dem Vorbild verpflichtend, zentral im Vordergrund des Bildes und inszeniert sie damit als eine topische Formel, eine Ikone des Tötungsaktes. Die Besonderheit all der bildlichen Bezüge liegt darin, dass sie eindeutig identifizierbar sind und damit trotz der Neukontextualisierung ihren Symbolgehalt in die Bruegel’sche Komposition einbetten respektive, sobald sie als solche erkannt werden, ihren ursprünglichen Sinnzusammenhang aufrufen und gewissermaßen für den Triumph des Todes aktivieren.26 Im Fall des Heuwagen-Triptychons wären das die zentralen Themen der menschlichen Laster als Ursache der Verdammung und der fehlende Glaube als Grund der Abkehr Gottes von seiner Schöpfung, die Bruegel durch die gezielten visuellen Rückgriffe für die Aussage seines eigenen Werkes konstituierend werden ließ.27 Während jedoch dem Triptychon Boschs eine teleologische Zeitvorstellung zugrunde liegt, im Sinne derer sich die Bilderzählung von links nach rechts, vom Kommen der ersten Sünde in die Welt bis zu der endgültigen Bestrafung der Laster in der Hölle ent­ wickelt, scheint das makabre Geschehen in Bruegels Werk wie ein nicht enden wollender, auf die Tafel gebannter Albtraum jeglicher linear gedachter Zeitlichkeit enthoben zu sein.28 Diese Paradoxie wird nicht zuletzt von einer ungewöhnlichen Verwendung eines mythologischen Motivs getragen, auf das erstmals Keith Moxey 1973 aufmerksam machte (Abb. 3).29 Unter das Räderwerk des links fahrenden Gebeinkarrens wird im nächsten Moment eine der drei antiken Schicksalsgöttinnen, die Parze Atropos, geraten, die sterbend dabei ist, einen Lebensfaden, der innerbildlichen Logik der Szene folgend wohl den eigenen, zu durchschneiden. Die bemerkenswerte bildliche Konstellation wird meines Erachtens symbolisch durch eine Frauenfigur mit Kind auf dem Arm und einem Spinnstock in der Hand ergänzt, die tot mit dem Gesicht nach unten vor dem sterbenden Kardinal auf dem Boden liegt und das Pendant zu Atropos, der ›Unabwendbaren‹, bildet. Während die den Lebensfaden durchschneidende Atropos die Todesgöttin darstellt, ist Klotho die Geburtsgöttin, die den Faden spinnt. Die Attribute des Spinnstocks und des Kindes las25 Vgl. Gibson 1977 (wie Anm. 13), S. 118–119; Sullivan 2010 (wie Anm. 15), S. 147–149. 26 Vgl. Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 127, S. 187–188. 27 Für die Zusammenfassung der Forschungen zum Heuwagen-Triptychon siehe: Marijnissen Rogier H.: Hieronymus Bosch. Das vollständige Werk. Köln 1999, S. 52–59. 28 Zum Phänomen der paradoxen Zeitlichkeit bei Bruegel vgl. Müller 1999 (wie Anm. 14). 29 Moxey, Keith: The Fates and Pieter Bruegel’s Triumph of Death, in: Oud Holland 87 (1973), S. 49–51. In diesem Kontext siehe insbesondere auch Sullivan 2010 (wie Anm. 15), S. 143–173.

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sen die Bruegel’sche Figur in Übereinstimmung mit der ikonographischen Tradition als eine der drei Parzen erscheinen, die für den Beginn des Lebens steht, hier jedoch tot gezeigt wird.30 Die Abwesenheit der dritten Schicksalsgöttin Lachesis, die den Lebensfaden weiterspinnt und abmisst, spiegelt die paradoxe Zeitstruktur des Bildes wider. Die Dauer des Lebens wird negiert bzw. sie besteht gar nicht, und die leblose Klotho verweist auf die Unmöglichkeit des Neubeginns, bis mit dem Sterben von Atropos der Tod letztlich über sein eigenes alter idem triumphieren wird. Dass hier der Tod in einem gleichsam ikonoklastischen Akt seine eigene antike Verkörperung vernichtet, ist nicht nur deshalb paradigmatisch, weil absurderweise die Todesgöttin ermordet wird respektive ihrem Leben selbst ein Ende setzt, sondern auch, weil die verstörende Szene als faktische und metaphorische Überwindung einer antiken Todesvorstellung durch eine genuin christliche verstanden werden kann. Die denkwürdige Figurenkonstellation fungiert daher vor allem als Gegenüberstellung zweier radikal unterschiedlicher Repräsentationsformen des Todes, die als solche, von dem Rezipienten begriffen, die konzeptuelle Grundstruktur des Bildes offenbaren: Bruegels Triumph des Todes fasst nicht nur im Sinne einer imaginativen Enzyklopädie des Makabren diverse Todesarten zusammen, deren akribische malerische Vorführung die Auslösung starker Affekte forciert, sondern ist ein visuelles Kompendium, eine Summe historischer und zeitgenössischer Bilder des Abstraktums Tod. Dafür spricht neben der formalen und inhaltlichen Vielfalt der Bruegel’schen Mors-Gestalten, die unterschiedliche Stadien der Verwesung aufweisen, auch ihr wechselndes Rollenrepertoire, das von bewaffneten Jägern, Landsknechten, Richtern und Mönchen über die apokalyptischen Reiter und Schnitter bis hin zu Spielmännern, Narren und sonderbaren Totengräbern reicht. Beides lässt sich dezidiert auf zahlreiche Motive der mittelalterlichen Todesikonographie und ihre späteren Variationen zurückführen; in der somatischen Heterogenität dieser Gestalten und den unterschiedlichsten Handlungszusammenhängen, in denen sie auf dem Bild auftreten, manifestiert sich das gesamte Spektrum an tradierten Verkörperungen des Todes. Während ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Kunst eine singuläre Todesfiguration in Form des sogenannten trockenen Skeletts, la morte secca, bevorzugt wurde, entwarf Bruegel eine Komposition, in welcher dieser primär sinnbildhaften Verkörperung keine eindeutige Dominanz eingeräumt wurde, weil der Maler den Betrachter seines Bildes in den unzähligen Szenen des Schreckenspanoramas alle historischen und aktuellen Facetten der bildlichen Wandelbarkeit des Todes, sein beständiges Substituieren von Wesen und Rollen in dessen Funktion als Exekutor der Menschheit demonstrieren wollte. Mit der ikonographischen Amalgamierung unterschiedlicher Darstellungstraditionen und Motive, der Überformung der einzelnen imagines mortis zu einer gleichsam ultimativen imago mortis schuf Bruegel ein Werk, das für sich den Status einer allgemeingültigen

30 Zwei graphische Darstellungen der Parzen waren möglicherweise für den Triumph des Todes von Bedeutung: Pieter Coecke van Aelsts um 1540 entstandener Triumph des Ruhmes über den Tod, auf dem Klotho, Lachesis und Atropos leblos im Vordergrund erscheinen, sowie Maarten van Heemskercks Triumph der Zeit und des Todes von 1562. Vgl. Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 129–131.

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Visualisierung des Todes beanspruchen konnte. Dies vor allem deshalb, weil der Triumph des Todes in seiner Komplexität den Rezipienten nicht nur das gesamte Spektrum an Möglichkeiten der künstlerischen Bewältigung des Mysteriums vorführt, sondern zugleich, wie im nächsten Schritt analysiert werden soll, paradigmatisch auf die Grenzen seiner Darstellbarkeit verweist.

Figura Mortis Ein trügerisches Symbol der Hoffnung, ein auf einer Falltür aufgemaltes rotes Kreuz, lässt die vor den Mächten des Todes panisch fliehenden Menschen auf Bruegels Werk blind in einen enigmatischen Riesenkasten hineinstürzen, den der Künstler rechts im Bild aufwendig inszenierte (Abb. 7). Erst auf den zweiten Blick erschließt sich dem Betrachter anhand der seltsamen Form der hölzernen Konstruktion, deren oberer Teil von einem blühenden Rasenstück bedeckt ist, ihre eigentliche Gestalt: Auf der vergeblichen Suche nach einem Schutz unter dem Glaubenszeichen treibt die übereilte Flucht vor dem Tod die Lebenden in einen gigantischen Sarg, dessen Inneres, so evoziert es die oberhalb dargestellte Vegetation, einer unterirdischen Grabkammer gleicht. Begleitet von den rhythmischen Schlägen eines unheimlichen Trommlers, der auf dem Deckel des Sarges Platz genommen hat, drängen sich zahlreiche Figuren gewaltsam in den von zwei Toten mit Hilfe eines Hebemechanismus geöffneten Schlund der Falle hinein.31 Der Weg zurück ist von dem reitenden Schnitter versperrt, welcher der Leserichtung des Bildes von links nach rechts folgend, die Menschen mit seiner Sense wie Vieh zusammentreibt und niedermetzelt. Da zugleich die Öffnung des Holzbaus an beiden Seiten von einer mit Waffen gerüsteten Gerippearmee bewacht wird, die hinter den zu Schilden umfunktionierten Sargdeckeln nur darauf wartet, ihr grausames Werk der Vernichtung zu verrichten, ist jeder der verzweifelten Versuche, dem Tod und den Toten zu entkommen, ebenso töricht wie aussichtslos. Die unergründliche Dunkelheit im Inneren der Falle, in der sich die Konturen der hineinstürzenden Figuren gleichsam stufenweise aufzulösen scheinen, sowie die sich hinter ihr kontinuierlich aufbauenden Totenscharen verleihen ihrer wahren Funktion visuelle Evidenz: Die Flucht vor dem Tod endet paradoxerweise im Tod, da das Sterben in der Finsternis des überdimensionalen Sarges zur einzigen Rettung vor den gnadenlosen Angreifern wird. 32 In jener Umwandlungskammer selbst zu Toten geworden, nehmen die Menschen die äußere Gestalt ihrer Mörder an und werden, sobald sie aus dem Sarg austreten, absurderweise genau zu dem, was sie vor kurzem noch fürchteten, den brutalen Feinden der Lebenden.33 Während im Bild des älteren Bruegel die Stelle, an der die neuen Toten den Sarg verlassen, 31 Jan Bialostocki spricht in diesem Zusammenhang von einem Abgrund, der die Form einer kolossalen mausefallenähnlichen Maschine hat. Bialostocki, Jan: Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft. Dresden 1966, S. 193. 32 Vgl. Kiening 2003 (wie Anm. 2), S. 168. 33 Kiening 2003 (wie Anm. 2).

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7  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, Detail (wie Abb. 1).

programmatisch hinter der Skelettarmee verborgen bleibt, hat der Sohn des Malers Pieter Brueghel  d.  J. in einer heute in Cleveland aufbewahrten Kopie des Triumph des Todes (Abb. 8, Taf. XVI) zum leichteren Verständnis des Geschehens anstelle eines vergitterten Fensters eine ganze Tür an die Seite der hölzernen Konstruktion gemalt, durch welche die der körperlichen Verwandlung Unterzogenen heraustreten.34 Die erschütternde symbolische Aussage der Szene bleibt dennoch unverändert; was hier dem Betrachter der beiden Werke präsentiert wird, ist kein sich vollziehender christlicher Transitus, sondern eine beklemmende, weil unverzügliche Metamorphose der Lebenden in Tote. Es ist, wie ­Christian Kiening 2003 treffend konstatierte, ein »Übergang zu einem paradox unbestimmbaren innerweltlichen Zustand« 35, in dem der Tod stets neuen Tod hervorbringt und die Toten in einem scheinbar zeitlosen irdischen Handlungslauf wiederauferstehen, um die Lebenden an diesem gottverlassenen Ort zu vernichten. Allen voran verdeutlicht dieses zentrale Motiv der Madrider Tafel, dass die Menschheit verzweifelt nicht nur gegen den Todesreiter und sein zahlloses Gefolge von Toten, sondern letztlich gegen sich selbst kämpft und daher zum eigenen Richter wird.36 Die Bedeutung der semantisch aufgeladenen Sargfalle geht in diesem Kontext jedoch weit über ihre Funktion als Ort der Generierung neuer Toter hinaus. Sie ist im bildtheoretischen Sinne vor allem eine paradigmatische Leerstelle der Sichtbarkeit, mit der Bruegel 34 Zu Pieter Brueghels d. J. Triumph des Todes vgl. Corcoran 1995 (wie Anm. 24). 35 Kiening 2003 (wie Anm. 2), S. 168. 36 Vgl. Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 105–142.

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8  Pieter Brueghel d. J., Triumph des Todes, 1626, Öl auf Holz, 117 × 167 cm, Cleveland, The Mildred Andrews Fund.

die affektgeleitete Neugier des Betrachters steigert, um auf den Vollzug des Sterbeaktes jenseits der optischen Wahrnehmung zu verweisen. Erneut manifestiert sich an dieser Stelle die Eigenwilligkeit des Bildkonzepts, denn damit wird die Relevanz der mit humanistischer Gelehrsamkeit zu einer umfassenden imago mortis elaboriert zusammengeführten Todesrepräsentationen evident infrage gestellt. Während der Tod in seinen multiplen Gestalten und Rollen mit seiner Omnipräsenz die Komposition bestimmt, verbirgt sich sein wahres Mysterium in der Dunkelheit der Falle, denn allein dort wird, der innerbildlichen Logik der Tafel folgend, der Übergang zwischen Leben und Tod, wenn auch nicht sichtbar, so doch für den Rezipienten (be-)greifbar. Die unendlichen Folter- und Mordszenen des Bildes werden aus dieser Perspektive betrachtet als fiktionale Schöpfungen entlarvt, die ›nur‹ als visuelle Verweise auf das Abstraktum dienen können. Die ›Transformationsfalle‹ mit ihrer programmatischen Valenz für die gesamte Darstellung lässt den Triumph des Todes nicht nur als eine imago, sondern vielmehr als eine figura mortis erscheinen.37

37 Zum Verständnis des Kunstwerks als figura vgl. Schlie, Heike: Der Klosterneuburger Ambo des Nikolaus von Verdun. Das Kunstwerk als figura zwischen Inkarnation und Wiederkunft des Logos, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter. Hrsg. von Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury. Würzburg 2013, S. 205–247.

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Wie der Romanist Erich Auerbach 1938 anhand antiker und mittelalterlicher Quellen zeigen konnte, meinte der Gestaltbegriff figura, der bereits bei Lukrez in Verbindung mit Traumbild und Phantasiegestalt verwendet wurde, im Kontext christlicher Realprophetie nicht die veritas selbst, sondern vielmehr deren imitatio.38 Angesichts ihrer metaphorischen Wandelbarkeit im semantischen Spiel zwischen Urbild und Abbild bleibe die figura, nach Auerbach, trotz all ihrer sinnlichen Evidenz immer ein verhülltes, deutungsbedürftiges Gleichnis. In seiner Studie Fra Angelico. Dissemblance et Figuration (1990) weitete Georges Didi-Huberman diese Überlegungen auf den Bereich der bildenden Kunst aus, indem er im Zusammenhang mit der religiösen Malerei des Quattrocento über die epistemische Eigenart der figura reflektierte.39 Als formhafter Ausdruck für formlose Abstrakta, der trotz seiner Präsenz die äußere Erscheinung des Transzendenten nie eindeutig signifizierte, bestand ihre Aufgabe darin, im Partizipationsprozess eine geistige Konversion einzuleiten, welche den Rezipienten Glaubensmysterien antizipieren oder erahnen ließ. Anders formuliert: Mit figura war im Kontext der bildenden Kunst grundlegend die Erzeugung einer Präsenz gemeint, die im Wahrnehmungsprozess zuerst den Sinnen und sodann dem Gedächtnis des Betrachters ein Mysterium einprägte, ohne jenes einfach nur beschrieben bzw. abgebildet zu haben. Dieses konzeptuelle Verständnis der figura als dynamische Referenzialität zwischen dem Mysterium und dessen Darstellung kann für die historischen Repräsentationen des Todes geltend gemacht werden, nicht zuletzt deshalb, weil sich der Terminus figura mortis in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Publikationen und Kunstwerken nachweisen lässt.40 Eine figura mortis wäre demzufolge ein ontologisches Paradox, Chronotopos des Unfigurierbaren, da sie, um Didi-Hubermans Definition aufzu­ greifen, in ihrer Sichtbarkeit stets auch das Unsichtbare des Abstraktums einschließt und nicht nur das Resultat einer bildlichen Konkretisierung des Todes ist, sondern gerade diese als Prozess problematisiert. In diesem Sinne thematisiert Bruegel mit der kompositorisch herausragenden Darstellung der Sargfalle als Ort des Massensterbens das Visualisierungsproblem des Unfass­baren, das sich a priori jeder Art der Sichtbarmachung konsequent entzieht.41 Die zahlreichen Todesikonographien, welche dem Betrachter nachdrücklich an jeder Stelle des Bildes begegnen, all die präsentierten bildlichen Versuche, das Abstraktum in Form von handelnden Figuren zu erfassen, werden angesichts des subversiven Potenzials der Falle als defizitär gekennzeichnet. Die Figur in ihrem klassischen Verständnis innerhalb der frühneuzeitlichen Kunsttheorie als Konfiguration der sichtbaren Welt wird hier gleichsam von der figura als visuelle Referenz auf das Mysterium evident infrage gestellt, weil letztere gerade nicht mimesis und/oder imitatio ist, sondern vielmehr deren Verhinderung. Auf diese radikale Weise die faktische Unmöglichkeit der Darstellung des Sterbeaktes reflektierend, setz38 Vgl. Auerbach, Erich: Figura, in: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 436–489. 39 Vgl. Didi-Huberman, Georges: Fra Angelico. Dissemblance et figuration. Paris 1990. 40 Mit figura mortis wird etwa eine Darstellung des Todes in Johann Geiler von Kaysersbergs Sermones (Straßburg 1514, Holzschnitt, 280 × 195 mm) betitelt. 41 Vgl. Kiening 2003 (wie Anm. 2), S. 171; Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 142.

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te sich der niederländische Maler innovativ mit dem seit der Antike bekannten Topos der visuellen Wiedergabe des Todesaugenblicks auseinander. Plinius schreibt in Buch XXXV der Naturalis historia, dass sich unter den zu rühmenden Werken des Apelles auch jenes bewunderungswürdige befand, welches das Unmögliche wiederzugeben vermochte, das Aushauchen des Lebensodems.42 Die Entscheidung Bruegels, den Sterbemoment, die unmittelbare Metamorphose vom Lebendigen in das Tote, vom Wohlgeformten in das Verweste, als eine Leerstelle der Sichtbarkeit zu inszenieren, wird aus kunsttheoretischer Perspektive zu einer besonderen Form der aemulatio. Genau diese thematisierte der Zeitgenosse und Freund des Malers, der berühmte Kartograph Abraham Ortelius, welcher Bruegel in seinem um 1573 entstandenen Album amicorum nicht nur explizit mit Apelles verglich,43 sondern nachdrücklich auf die gedankliche, jenseits des Dargestellten liegende Komplexität seiner Werke verwies: »In omnibus eius operibus intelligitur plus semper quam pingitur.«44 Die visuelle Argumentation des Triumph des Todes setzt sich mit dem dilemmatischen Verhältnis der ästhetischen Fiktion zur ihrer metaphysischen Begründung, der Transzendenz, die sie zur Anschauung bringen soll, auseinander. Dieses Phänomen beschrieb Klaus Krüger 2001 überzeugend als eine Konzeption des Bildes als »Membran zu einer imaginären und letztlich inkommensurablen Wirklichkeit, die von ihm verhüllt und zugleich enthüllt, verschleiert und zugleich offenbart wird«.45 In diesem Spannungsfeld zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Darzustellenden zu seiner Darstellung führt die Betrachtung von Bruegels Werk gezielt an eine Grenze, die keine andere ist als jene der Bildlichkeit, wodurch die Rezeption vorerst in eine Dissoziation von Sehen und Wahrnehmen mündet, die den Betrachter einerseits an die Inkommensurabilität des Todes erinnert und andererseits seine Vorstellungskraft stimuliert. Für eine Bildparadoxie wie die figura mortis war gerade die Imaginationsfähigkeit des Rezipienten, die seit jeher bei der Vermittlung von Glaubensinhalten eine entscheidende Rolle spielte, nicht nur eine stetige Herausforderung, sondern auch ein Garant ihrer Wirkungskraft. Bruegels künstlerische Imagination des Todes leitet, wie abschließend gezeigt werden soll, den Betrachter selbst zu einem Imaginationsakt des Abstraktums an, der damit im Zuge des Partizipationsprozesses zur komplementären Ergänzung des Werkes wird.

42 »[…] sunt inter opera eius et exspirantium imagines. quae autem nobilissima sint, non est facile dictu.« Plinius, Naturalis historia, XXXV, 36, 90. Vgl. Sullivan 2010 (wie Anm. 15), S. 145. 43 Vgl. Popham, Arthur E.: Pieter Bruegel and Abraham Ortelius, in: The Burlington Magazine LIX (1931), S. 184–188; Michalsky, Tanja: Imitation und Imagination. Die Landschaft Pieter Bruegels im Blick der Humanisten, in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, S. 383–405. 44 Zit. nach Marijnissen 2003 (wie Anm. 9), S. 13. 45 Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001, S. 80.

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Imaginatio Mortis Ein seltener Moment der Ruhe inmitten der weltlichen Apokalypse (Abb. 9): Während die Todesrichter links im Mittelgrund des Bildes vor einem Ossuarium die Verurteilung der Menschheit mit ihren Trompeten verkünden, hat ein in Gedanken versunkener Toter unbemerkt am Eingang des Baus Platz genommen. Seine nachdenkliche, geradezu topische Pose des ›Optima philosophia et sapientia est meditatio mortis‹ geht über berühmte Vorbilder wie Dürers Meisterstich aus dem Jahr 1514 auf die antike Vier-Säfte-Lehre Galens zurück und lässt ihn als Sinnbild der Melancholie erscheinen. Neben Melencolia I war es vor allem eine Illustration aus Andreas Vesalius’ De Humani corporis fabrica von 1543 (Abb. 10), die Bruegel – wohl aufgrund der dort gezeigten denkwürdigen Selbstreflexion des Todes – in der Gestaltung der Figur inspiriert hat.46 Präsentiert das Werk Vesalius’ das Nachdenken über das eigene Wesen im elegischen Sinne der auf dem Grab sichtbaren Inschrift »Vivitur ingenio, caetera mortis erunt«, wird das Nachsinnen des Toten auf dem Madrider Bild um ein weiteres Attribut erweitert: ein lebloses, direkt vor dem Melancholiker liegendes Rebhuhn, auf das sich seine leeren Augenhöhlen zu richten scheinen. Die Vieldeutigkeit dieses Motivs betont wiederholt die symbolische Komplexität des Bildes, da das Rebhuhn sowohl für die Laster als auch für Wahrheit und Gotteserkenntnis stehen kann.47 Das tote Rebhuhn im Madrider Werk versinnbildlicht daher, die Ambiguität des Tieres auslotend, die Sünden und ihre Bestrafung ebenso wie das fehlende Gottvertrauen. Trotz der ihm als Toten immanenten Pejorativität widmet sich daher der von der Vernichtung abgewandte Melancholiker als einziges positiv konnotiertes Exemplum dem geistigen Ergründen der Ursache der Katastrophe. In diesem Kontext ist die Tafel im Prado, ganz im Sinne von Erasmus von Rotterdams 1503 publizierter Schrift Enchiridion militis Christiani­, als visuelle Aufforderung zu betrachten, sich auf eine innere Welt zu besinnen und in der geistigen Kontemplation zu unverfälschten Wahrheiten zu gelangen.48 Der Melancholiker in seiner unverkennbaren Geste des contemptus mundi bildet zugleich das symbolische Gegengewicht zum betrachtenden Edelmann und verweist mit seiner Reflexion auf den einzigen Weg der Erlösung aus der irdischen Hölle, der in der zum wahren Glauben und der Gottessuche führenden Selbsterkenntnis, der inneren Schau liegt. In diesem gedanklichen Kontext findet die Szene ihre komplementäre symbolische Ergänzung in dem am Höllenwagen angebrachten Konvexspiegel von beachtlicher Größe, der nicht nur auf die dem Werk thematisch zugrunde liegende Speculum-Metapher der Begegnung zwischen den drei Lebenden und den drei Toten verweist und als Vanitas-Motiv fungiert, sondern allen voran als Gegenstand geistiger Selbstbetrachtung zu deuten ist.

46 Kiening 2003 (wie Anm. 2), S. 167. 47 Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 138. 48 Zu Bruegels Auseinandersetzung mit den Schriften von Erasmus vgl. u.a. Müller 1999 (wie Anm. 14); Richardson, Todd M.: Pieter Bruegel the Elder. Art Discourse in the Sixteenth-century Netherlands. Surrey 2011.

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9  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, Detail (wie Abb. 1).

10  Illustration aus: Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica librorum epitome (Basel 1543), Kupferstich, fol. 9v.

Durch das Ausmachen dieser beiden scheinbaren Nebenmotive innerhalb der Komposition und dem Erkennen der ihnen innewohnenden symbolischen Bedeutung erschließt sich dem Betrachter des Bildes der Grund der Abwesenheit Gottes, die offensichtlich mit dem fehlenden Glauben der Menschheit und ihrer Lasterhaftigkeit zusammenhängt. Dies­e manifestiert sich anschaulich in dem sie charakterisierenden Festhalten an äußeren materiellen Dingen und den Freuden des Lebens, die im Übermaß, so lehrt eine der Inschriften von Bruegels 1558 herausgegebener Kupferstichfolge der Sieben Todsünden, den Menschen sich selbst und Gott vergessen lassen.49 Nicht einmal im Augenblick des Todes sind die Lebenden auf der Madrider Tafel in der Lage, von ihren Sünden abzulassen, wie etwa der sterbende Kaiser, der trotz seines fragilen Zustandes um seinen Reichtum fürchtet, das musizierende Paar oder der das Schwert ziehende Edelmann, die alle anhand des Vergleich­s mit der Lasterfolge als Exempla der Avaritia, Luxuria oder Ira gedeutet werden können. Die 49 »Want overdaet doet Godt en hem selven vergheten«. Stridbeck, Carl G.: Bruegelstudien. Untersuchungen zu den ikonologischen Problemen bei Pieter Bruegel d. Ä. sowie dessen Beziehungen zum niederlän­ dischen Romanismus. Stockholm 1956, S. 113.

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implizite Funktion dieser und weiterer Figuren als Sinnbilder der Laster belegt erneut, dass hier primär die sündige Menschheit dargestellt ist, die – und das scheint entscheidend für das Verständnis der Tafel zu sein – sowohl im lebendigen wie im toten Zustand als tugendlos gekennzeichnet ist. Nicht nur durch das grausame Morden, sondern auch durch die von den Toten übernommenen Rollen der Lebenden, die sie als Spiegelbilder der Opfer erscheinen lassen, ist ihnen der gleiche negative Charakter inhärent, doch wegen ihrer Überlegenheit werden sie zu Richtern der Lebenden, die letztlich ihre eigenen moralischen Verfehlungen verkörpern. Eine solche bizarre Selbstbestrafung der Menschheit kann daher nur eine paradoxe Wandlung der Welt und nicht ihre Rettung bewirken, das dargestellte Geschehen bleibt ohne die durch die Figur des nachdenklichen Toten angedeutete Katharsismöglichkeit eine sich gleichsam selbst beschleunigende Allegorie der vernichtenden Gottesferne, die bezeichnenderweise in den Kopien des Bildes in ihrer Radikalität konsequent relativiert wurde.50 Die Einbeziehung des Betrachters in die Reflexion des Melancholikers dient jedoch nicht nur dem Erkennen dieser theologischen Komponente des Gemäldes, die einmal mehr Bruegels Einschätzung als pictor christianus, eines sich als Exeget betätigenden Malers bestätigt,51 sondern besitzt meines Erachtens, ebenso wie die Sargfalle, eine weitreichende kunsttheoretische Dimension. Es ist kein Zufall, dass der niederländische Maler auf dem Bild ausgerechnet mit einer Figur der Melancholie ein mögliches Heilsmodell andeutet, das den Tod in seiner Allmacht metaphorisch zu zähmen vermag. Dem melancholischen Charakter wurde seit der Antike neben seinen ausgeprägten geistigen Qualitäten ebenfalls eine besondere vis imaginativa zugesprochen, eine Tatsache, die sowohl in Bezug auf den Künstler als auch auf den Betrachter seines Bildes von entscheidender Bedeutung zu sein scheint.52 Bereits Aristoteles verband in seinen Problemata mit dem melancholischen Temperament eine besondere prophetisch-divinatorische Begabung und einen schier grenzenlosen Erfindungsreichtum, eine Vorstellung, welche über Marsilio Ficinos De triplici vita in die frühneuzeitliche Kunsttheorie einging und in Dürers Melencolia I ihre gelehrteste bildliche Umsetzung fand.53 Wie Peter-Klaus Schuster 1991 zeigen konnte, wird in Dürers Kupferstich genau jene Auffassung der in der Forschung wiederholt unter­ suchten Verbindung zwischen Melancholie und Phantasie aufgegriffen, welche die unerschöpfliche Einbildungskraft als Grund aller Künste ansah, allerdings nur dann, wenn sich diese Einbildungskraft den Regeln des Verstandes unterwarf.54 »Andernfalls verführt 50 In den Kopien des Bildes wurde die ursprüngliche Komposition durch mehrere Motive wie etwa eine Kreuzigungsszene im Hintergrund oder Bibelzitate im Vordergrund ergänzt (Abb. 8, Taf. XVI), welche die Macht des Todes in einen klar erkennbaren eschatologischen Zusammenhang stellen und damit das Konzept des Bildes gravierend verändern. Vgl. Pawlak 2011 (wie Anm. 1), S. 135–136. 51 Vgl. Müller 1999 (wie Anm. 14), S. 178–180; Falkenburg, Reindert L.: Pieter Bruegels Kruisdraging: een proeve van ›close-reading‹, in: Oud Holland 107 (1993), 1, S. 17–33. 52 Vgl. Schuster, Peter-Klaus: Melencolia I. Dürers Denkbild. Berlin 1991, S. 215. 53 Schuster 1991 (wie Anm. 52), S. 215. 54 Vgl. Schuster 1991 (wie Anm. 52); Swan, Claudia: Art, Science, and Witchcraft in Early Modern Holland. Jacques de Gheyn II (1565–1629). Cambridge 2005, S. 175–194.

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sie den Menschen zu Trugbildern, Täuschungen und Wahnvorstellungen.«55 Mit der Figur des Melancholikers konnte Bruegel genau jene zusammengehörigen und zugleich anti­ thetischen Konzepte aufgreifen, die einerseits die künstlerische Imaginationskraft feierten und andererseits auf die mit ihr verbundene Gefahr des Wahns verwiesen.56 Der Triumph des Todes, der mit unzähligen Repräsentationen des Abstraktums bildlich argumentiert, reflektiert aus dieser Perspektive nicht nur – das ist selbsterklärend – den künstlerischen Akt ihrer Entstehung, sondern lässt in der makabren Vorstellung des unrelativierbaren und vor allem unkontrollierbaren Todes jene unheilvolle Folge der ungebändigten schöpferischen Kraft erahnen. Das Ungeheure des apokalyptischen Phantasmas, welches die Kreativität des Künstlers hervorbrachte, bleibt dennoch in der Bildform gebannt, die es visuell bewältigt, ordnet und vermittelt. Nur eines vermag das Konzept des Bildes in diesem Zusammenhang nicht zu kontrollieren, etwas, das es paradoxerweise selbst herausfordert: die Imaginationskraft des Betrachters. Ihre Valenz für das Werk wird durch die Figur des toten Melancholikers, dem Sinnbild der vis imaginativa, überdeutlich und durch das Motiv der Sargfalle in modellhafte Bahnen geleitet: Angeregt durch die Vielzahl der imagines mortis und den der Sichtbarkeit programmatisch entzogenen Sterbeakt, der sich in der unergründlichen Dunkelheit des Riesensarges vollzieht, beginnt der Betrachter des Bildes zwangsläufig, das Geschehen im Inneren der Falle, das Sterben als Ereignis und damit den Tod als ein in die Vorstellbarkeit geholtes Subjekt zu imaginieren. Derartige ›Leerstellen‹, die dezidiert an die Imagination des Rezipienten appellieren, um ihm auf diesem Weg die Aussage des Werkes zu vermitteln, sind ein besonderes Charakteristikum des Bruegel’schen Œuvres. An dieser Stelle sei nur exemplarisch auf die Anwesenheit eines unsichtbaren Kreuzes im Vordergrund des Aufstiegs zum Kalvarienberg von 1564 hingewiesen, die von Jürgen Müller im Kontext erasmianischer Schriften überzeugend als die Forderung Bruegels nach dem Weichen der Erkenntnis des Sichtbaren vor der Erkenntnis des Geistigen gedeutet wurde; oder Tanja Michalskys Untersuchungen zu den Landschaften Bruegels, die, wie die Autorin postuliert, ihren Rezipienten zu einem Imaginierenden machen, indem sie den Akt der individuellen Imaginationen provozieren.57 Ein entsprechendes argumentatives Muster weist auch der Triumph des Todes auf, welcher mit seiner visuellen Rhetorik beim Betrachter die Erzeugung mentaler Bilder des Todes herbeiführt, die das vorgeführte Kompendium der Repräsentationen des Abstraktums im semantischen Spiel zwischen Sehen, Nicht-Sehen, Wahrnehmen und Erkennen vervollständigen. Der hervorgerufene Imaginationsakt wird zu einer subjektiven Erfahrung des Todes, einer Art mentaler Technik der Selbst- und Gewissenserforschung angesichts dessen Unabwendbarkeit. Die meditatio 55 Schuster 1991 (wie Anm. 52), S. 216. 56 Zu Imagination und Wahn siehe: Swan, Claudia: Eyes wide shut. Early modern imagination, demonology, and the visual arts, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 7 (2003), 4, S. 560–581. 57 Müller 1999 (wie Anm.  14), S.  142; Michalsky, Tanja: ›L’atelier des songes‹. Die Landschaften Pieter ­Bruegels d. Älteren als Räume subjektiver Erfahrung, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Krüger u. Alessandro Nova. Mainz 2000, S. 123–138

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mortis, wie sie die Madrider Tafel einzuleiten scheint, war im Kontext der geistigen Betrachtung der sog. Vier letzten Dinge (Tod, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle) ein fester Bestandteil der mittelalterlichen sowie frühneuzeitlichen Spiritualität und im 16. Jahrhundert wiederholt Thema philosophisch-religiöser Schriften und zahlreicher Kunstwerke.58 In Anlehnung an die Tradition der Ars moriendi des 15. Jahrhunderts avancierte die Todesbetrachtung nicht nur in Erasmus von Rotterdams De praeparatione ad mortem von 1533 zum wesentlichen Element des Frömmigkeitsideals des miles christianus, sondern wird auch in Ignatius von Loyolas 1548 herausgegebenen Exercitia spiritualia als ein für das Seelenheil förderliches, gegen jede Art weltlicher Versuchungen und Leidenschaften wirksames Mittel beschrieben.59 Eine meditatio mortis wurde in diesem Kontext als eine Meditation über das eigene Leben verstanden, bei der sich der Meditierende aus der Perspektive des imaginativ mit Hilfe der Einbildungskraft ins Leben gleichsam vorgelegten Todes als ein für sein persönliches Heil verantwortliches Individuum ins Blickfeld nahm.60 Die geistige Todesbetrachtung und Selbsterforschung waren daher in der Meditation untrennbar miteinander verbunden, eine Vorstellung, die insbesondere in Bezug auf die Konzeption des toten Melancholikers als Denkfigur des Bildes prägend sein dürfte. Damit die mentale Form der Antizipation des eigenen Sterbens, der individuellen Vorbereitung auf das Kommende sowie der beständigen Auseinandersetzung des Gläubigen mit der Gewissheit des Todes angesichts dessen heilsgeschichtlicher Bedeutung dienen konnte, durfte die meditatio mortis jedoch nicht in die curiositas, eine strukturlose Abschweifung in die gottvergessene Selbstbetrachtung führen, sonst endete die geistige Übung in der ­Stagnation von Melancholie und Verzweiflung.61 Die Imaginationsleistung während des Meditierens erlaubte – und dies wurde nachdrücklich empfohlen – die Herstellung eines geradezu sinnlichen Verhältnisses zum eigenen Sterben, das beinah jede Art maka­brer Vorstellung autorisierte und dadurch die Furcht vor dem Tod beträchtlich steigern konnte.62 Doch wie Erasmus in seiner ›Sterbeschrift‹ ausdrücklich betont, ist die meditatio ­mortis allen voran das Gegenteil der Todesfurcht, ihre endgültige Überwindung, weil sie einer geistigen Haltung entspricht, die nur dem Gläubigen in der Hoffnung auf Erlösung möglich ist.63 Vor dem Hintergrund dieser Meditationspraxis des 16. Jahrhunderts betrachtet, lässt die intensive Auseinandersetzung des Rezipienten mit Bruegels Bild und der seinem Konzept impliziten Aufforderung zu einer meditatio mortis den Schrecken des gleichermaßen omnipräsenten wie omnipotenten Todes zurückweichen. Die Madrider Tafel, so kann 58 Wodianka, Stephanie: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der ›meditatio mortis‹ in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004; Göttler, Christine: Last Things. Art and the Religious Imagination in the Age of Reform. Turnhout 2010. 59 Bialostocki 1966 (wie Anm. 31), S. 203. 60 Wodianka 2004 (wie Anm. 58), S. 2. 61 Wodianka 2004 (wie Anm. 58), S. 334–381. 62 Bialostocki 1966 (wie Anm. 31), S. 203. 63 Schottroff, Luise: Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern. Göttingen 2012, S. 83–84.

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abschließend konstatiert werden, erlaubt ihrem Betrachter mit Hilfe seiner eigenen Einbildungskraft am Ende eines komplexen Partizipationsprozesses jene Todesfurcht zu bändigen, die sie auf einmalige Weise durch die präzedenzlose Radikalität des dargestellten Sujets beschwört. Der Triumph des Todes ist gerade deshalb eine der eindrucksvollsten visuellen Manifestationen des metapikturalen Reflexionspotenzials Bruegel’scher Kunst, weil er die scheinbare Defizienz der Malerei in Bezug auf das ungreifbare Mysterium auf eine Art werkinhärent problematisiert, die letztlich die gemalte Fiktion zu einem realen Imaginarium des Todes werden lässt. Dadurch wird der Offenbarungsanspruch frühneuzeitlicher Kunst gegenüber der inkommensurablen Wirklichkeit in einem denkwürdigen Akt ästhetischer Selbstvergewisserung formuliert.64

Literaturverzeichnis Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München 112005. Bialostocki, Jan: Stil und Ikonographie. Studien zur Kunstwissenschaft. Dresden 1966. Corcoran, James I. W. (Hrsg.): The Triumph of Death by Pieter Brueghel the Younger. Antwerpen 1995. De Tolnay, Charles: Pierre Bruegel l’Ancien. Brüssel 1935. Didi-Huberman, Georges: Fra Angelico. Dissemblance et figuration. Paris 1990. Falkenburg, Reindert L.: Pieter Bruegels Kruisdraging: een proeve van ›close-reading‹, in: Oud Holland 107 (1993), 1, S. 17–33. Gibson, Walter S.: Bruegel. London 1977. Gibson, Walter S.: Pieter Bruegel the Elder. Two studies. Lawrence 1991. Göttler, Christine: Last Things. Art and the Religious Imagination in the Age of Reform. Turnhout 2010. Grossmann, Fritz: Bruegel. Die Gemälde. Köln 1955. Jedlicka, Gotthard: Pieter Bruegel. Der Maler in seiner Zeit. Erlenbach 1938. Kiening, Christian: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit. München 2003. Krüger, Klaus u. Alessandro Nova (Hrsg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Mainz 2000. Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001. Marijnissen Rogier H.: Hieronymus Bosch. Das vollständige Werk. Köln 1999. Marijnissen, Rogier H.: Bruegel. Das vollständige Werk. Köln 2003. Meadow Mark A.: Pieter Bruegel the Elder’s Netherlandish Proverbs and the Practice of Rhetoric. Zwolle 2002. Michalsky, Tanja: Imitation und Imagination. Die Landschaft Pieter Bruegels im Blick der Humanisten, in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, S. 383–405. Michalsky, Tanja: ›L’atelier des songes‹. Die Landschaften Pieter Bruegels d. Älteren als Räume subjektiver Erfahrung, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Krüger u. Alessandro Nova. Mainz 2000, S. 123–138. Michalsky, Tanja: Perlen vor die Säue. Pieter Bruegels Imaginationen von Metaphern in den Niederländischen Sprichwörtern (1559), in: Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Horst Bredekamp, Christiane Kruse u. Pablo Schneider. München 2010.

64 Zu dem Phänomen der spezifischen Selbstdiskursivität von Bildern vgl. die grundlegenden Untersuchungen von Victor I. Stoichita und Klaus Krüger. Stoichita, Victor I.: L’instauration du tableau. Paris 1993; Krüger 2001 (wie Anm. 45).

Imago et Figura Mortis

Moxey, Keith: The Fates and Pieter Bruegel’s Triumph of Death, in: Oud Holland 87 (1973), S. 49–51. Müller, Jürgen: Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä. München 1999. Pawlak, Anna: Trilogie der Gottessuche. Pieter Bruegels d. Ä. Sturz der gefallenen Engel, Triumph des Todes und Dulle Griet. Berlin 2011. Popham Arthur E.: Pieter Bruegel and Abraham Ortelius, in: The Burlington Magazine LIX (1931), S. 184– 188. Richardson, Todd M.: Pieter Bruegel the Elder. Art Discourse in the Sixteenth-century Netherlands. Surrey 2011. Rotzler, Willy: Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten. Ein Beitrag zur Forschung über die mittelalterlichen Vergänglichkeitsdarstellungen. Winterthur 1961. Schlie, Heike: Der Klosterneuburger Ambo des Nikolaus von Verdun. Das Kunstwerk als figura zwischen Inkarnation und Wiederkunft des Logos, in: Figura. Dynamiken der Zeiten und Zeichen im Mittelalter. Hrsg. von Christian Kiening u. Katharina Mertens Fleury. Würzburg 2013, S. 205–247. Schottroff, Luise: Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern. Göttingen 2012. Silver, Larry: Morbid fascination: Death by Bruegel, in: The Anthropomorphic Lens. Hrsg. von Walter S. Melion [u.a.]. Leiden 2015, S. 421–454. Stoichita, Victor I.: L’instauration du tableau. Paris 1993. Stridbeck, Carl G.: Bruegelstudien. Untersuchungen zu den ikonologischen Problemen bei Pieter Bruegel d. Ä. sowie dessen Beziehungen zum niederländischen Romanismus. Stockholm 1956. Sullivan, Margaret A.: Bruegel and the Creative Process, 1559–1563. Farnham 2010. Swan, Claudia: Eyes wide shut. Early modern imagination, demonology, and the visual arts, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 7 (2003), 4, S. 560–581. Swan, Claudia: Art, Science, and Witchcraft in Early Modern Holland. Jacques de Gheyn II (1565–1629). Cambridge 2005. Schuster, Peter-Klaus: Melencolia I. Dürers Denkbild. Berlin 1991. Van Schoute, Roger u. Helene Verougstraete: The Triumph of Death by Pieter Bruegel the Elder and Pieter Brueghel the Younger, in: The Triumph of Death by Pieter Brueghel the Younger. Hrsg. von James I. W. Corcoran. Antwerpen 1995, S. 35–53. Wodianka, Stephanie: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der ›meditatio mortis‹ in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004.

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MIT HER Z UND OHNE VERNUNFT Frans Snyders’ Hundeblicke

Mit größter Eindringlichkeit stellt eine 1599 datierende Zeichnung von Jakob de Gheyn d. J. dem Betrachter einen Kalbskopf vor Augen (Taf. XVII), dessen saftiges Fleisch auf vielen Antwerpener Tafeln als Delikatesse gegolten hätte.1 Das gehäutete Haupt leuchtet vor dem dunklen Hintergrund, der das von einem Schalenrand umkränzte Schlachtererzeugnis umfängt. Sorgsam sind Muskeln und Sehnen des freigelegten Fleisches ausgearbeitet, minutiös Augen- und Nasenpartie gemalt. Dieses Bildmotiv hatte bereits Pieter Aertsen in seiner Fleischerbude mit Flucht nach Ägypten von 1551 auffällig in Szene gesetzt, hinsichtlich derer kontrovers diskutiert worden ist, ob sie Mahnmal übertriebener Sinneslust oder Denkmal des Opfertods Christi sei.2 Bei De Gheyns Arbeit hingegen fehlt jeder Hinweis, das abgeschlagene Haupt als eucharistisches Symbol zu lesen oder als Reflex über die Vergänglichkeit des Lebens zu deuten. Die Zeichnung verwehrt sich, nur als Repräsentation eines dahinterliegenden Sinns verstanden zu werden. Vielmehr strebt sie in jedem ihrer 1

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Jakob de Gheyn d.J.: Gehäuteter Kalbskopf. Aquarell, 157 × 202 mm, 1599; Amsterdam, P. & N. de Boer Foundation; dazu Ger Luijten in: Goltzius to Van Gogh (Kat. Amsterdam, P. & N. de Boer Foundation). Hrsg. von Hans Buijs u. Ger Luijten. Paris 2014, S. 122, Nr. 54; Smith, Pamela H.: The body of the artisan. Chicago 2004, S. 221; Maria Sibylla Merian, 1647–1717 (Ausst.-Kat. Frankfurt am Main, Historisches Museum, 18.12.1997.–01.03.1998). Hrsg. von Kurt Wettengl. Ostfildern-Ruit 1997, S. 156, Nr. 94; Hopper, Florence: Clusius’ world, in: The authentic Garden. Hrsg. von Leslie Tjon Sie Fat u. Erik De Jong. Leiden 1991, S. 13–36, hierzu S. 17; Jacques de Gheyn II als tekenaar (Ausst.-Kat. Rotterdam, Museum Boymansvan Beuningen, 14.12.1985–10.02.1986; Washington, National Gallery of art, 09.03.–12.05.1986). Hrsg. von A.W.F.M. Meij. Rotterdam 1985, S. 79, Nr. 75; Van Regteren Altena, Iohan Q.: Jacques de Gheyn. 3 Bde. Den Haag 1983, Bd. I, S. 66 u. Bd. II, S. 131, Nr. 837; L’époque de Lucas de Leyde et Pierre Bruegel (Ausst.-Kat. Florenz, Istituto Universitario Olandes di Storia dell’Arte, 25.10.-30.11.1980; Paris, Institut nerlandais, 26.02.–12.04.1981). Hrsg. von Karel G. Boon. Florenz 1981, S. 100. Pieter Aertsen: Fleischerbude mit Flucht nach Ägypten. Öl auf Holz, 123 × 167 cm, 1551; Uppsala, Museum Gustavianum; dazu jüngst: Schneider, Norbert: Niederländische Malerei im Zeitalter von Humanismus und Reformation. Berlin 2015, S. 268–278; die Forschungsgeschichte zusammenfassend: Michalski, Sergiusz: Fleisch und Geist, in: Artibus et Historiae 22 (2001), S. 167–186, besonders S. 167–172. – Zur zeitgenössischen Einschätzung des Rindskopfs als markantes Motiv des Gemäldes: Van Mander, Karel: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler. 2 Bde. Hrsg. von Hanns Floerke. München 1906, Bd. I, S. 330f.

Mit Herz und ohne Vernunft

Züge nach bildlicher Präsenz. Es ist trotz aller Eindeutigkeit des dargestellten Zustands schwer, den Kopf für leblos zu halten. Der Pinselduktus ist freigelegt, allerdings nur in Partien, an denen das Innere nach Außen tritt. Im gehäuteten Fleisch und vergossenen Blut zeigen sich energische Malwirbel, sehnenartige Pinselhiebe und vertropfte Farbe. Die Pigmente des auf dem Grund vergossenen Blutes im Vordergrund sind vermutlich mit den Händen verdickt, um zu suggerieren nicht Farbe, sondern Blut sei hier geronnen. Farbe sei das Lebenselixier des Blattes. Opak dagegen sind Augen- und Nasenpartie gestaltet. Die verwendete Farbe ist hier fetthaltiger, glänzender, als sei das Leben noch nicht ganz gewichen, seien Nase und Auge noch feucht. Trompe-l’œil-artig ist die Nase aus dem Bild gedreht und fokussiert trifft das Kalbsauge den Blick des Betrachters, dessen Standpunkt nicht über denjenigen des Kalbs erhöht ist. Die derart fokussierten Sinnesorgane provozieren einen ebenbürtigen Blickwechsel, simulieren eine gegenseitige Wahrnehmung. Und das obwohl das Bild die Begegnung zugleich als absurd charakterisiert. Das Kalb ist offensichtlich tot, enthauptet und gehäutet. Ohnehin galt der Kopf eines Tieres nicht als Sitz der Vernunft, sondern lediglich als Ort seiner Sinnesorgane. Im Kuhauge spiegelt sich nur die Welt des Menschen, das Kreuzfenster des Betrachterraums. Das Bild suggeriert eine Begegnung auf Augenhöhe, konterkariert dies jedoch zugleich und entlarvt den Blickwechsel als menschliche Projektion. De Gheyns sorgfältige Inszenierung der animalischen Sinneswahrnehmung ist auffällig, jedoch – wie im Folgenden deutlich werden wird – keinesfalls beispiellos. Vielmehr lässt sich in der flämischen Malerei seit Anfang des 17. Jahrhunderts eine Vielzahl ähnlich intensiver Blickwechsel auf Augenhöhe zwischen Tier und Mensch finden. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, einen der Gründe für dieses gesteigerte Interesse von Künstlern für die Sinneswahrnehmung von Tieren aufzuzeigen. Leitende These wird dabei sein, dass der bildlichen Auseinandersetzung mit den Blicken von Tieren ein kunsttheoretischer Anspruch korrespondierte, der gerade die emotionalen Qualitäten von Kunst wertschätzte:3 In gemalten Tierblicken konnte sich ein Kunstverständnis artikulieren, das vorrangig nicht räsonierende, sondern animalische, körperliche und affektive Reaktionen der Bildbetrachtung gustierte. Tierische Blicke wurden immer wieder dafür eingesetzt, um den Wert von Bildern nicht in einem durch die Vernunft zu erschließenden Gehalt, sondern in der sich sinnlich darbietenden Wirkung ihrer Oberfläche zu lokalisieren. Wie niederländische Stillleben nicht nur komplexe Allegorien und Aufforderungen zur emotionalen Selbst3

Zur konkurrierenden Wahrnehmung von gemaltem Fleisch als Sinnesschmeichelei und moralisierende Allegorie vgl. die Angaben in Anm. 2 sowie: Linke, Alexander: Ein Stillleben mit Kotelett, in: Deine Wunden. Hrsg. von Reinhard Hoeps u. Richard Hoppe-Sailer. Bielefeld 2014, S. 174–177; speziell zum Verhältnis affekt-evozierender und allegorischer Bildelemente im Werk von Rubens: Vetter, Andreas W.: Inszenierungen von Schrecken und Gewalt im Werk des Peter Paul Rubens, in: Peter Paul Rubens (Ausst.-Kat. Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, 08.08.–31.10.2004). Hrsg. von Nils Büttner u. Ulrich Heinen. München 2004, S. 58–68; einführend zum Verhältnis von Affekt und Raissonement als kunsttheoretisches Problem des 17. Jahrhunderts: Kirchner, Thomas: L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. Mainz 1991, besonders S. 73–79 u. 341–361.

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disziplinierung waren, sondern vor allem auch als Augenschmaus geschätzt wurden: so insistiert auch De Gheyns Aquarell darauf, nicht nach einem tieferen Sinn zu fragen. Es enthäutet sein Objekt, dringt in dessen Anatomie ein, die es zugleich als Anatomie des Bildes selbst präsentiert. Das freigelegte Fleisch der Arbeit zeigt den Pinselstrich, aus dem es gemacht ist. Es selbst ist materielles Objekt, das physisch konsumiert sein will.4 Darstellungen animalischer Wahrnehmung boten sich für eine Affekt-orientierte Charakterisierung von Kunst an, da Tiere einen genauen Platz in der göttlichen Schöpfungsordnung markierten.5 Nach der maßgeblich von Aristoteles geprägten Vorstellung einer Scala naturae unterschieden sich Tiere von Pflanzen (und Steinen) durch ihre Sinnesorgan­e und ihr daran geknüpftes, affektives Handlungsvermögen. Vom Menschen hinwieder trennte sie der Mangel an kognitiven Fähigkeiten, welche die Basisfunktionen von sensus communis, imaginatio und memoria überschritten, also vor allem an ratio. Sie wurden für fühlend wie der Mensch, aber im Gegensatz zu diesem nicht für denkend gehalten. 6 Auf4

Grundlegend zum Zusammenhang von Farbe und Fleisch beziehungsweise zur Inkarnat-Malerei als Qualitätskriterium der Kunst: Bohde, Daniela u. Mechthild Fend (Hrsg.): Weder Haut noch Fleisch. Berlin 2007; zudem: Lehmann, Ann-Sophie: The »colours of the naked« in workshop practice and art theory, 1400–1600, in: Netherlands Yearbook for History of Art 58 (2007/2008), S. 87–109; Lehmann, AnnSophie: In the flesh. Jan van Eyck’s Adam and Eve panels. Zwolle 2007; Didi-Huberman, Georges: Die leibhaftige Malerei. München 2002, S.  21–29; Sedlmayr, Hans: Bemerkungen zur Inkarnatsfarbe bei Rubens, in: Hefte des Kunsthistorischen Seminars der Universität München 9/10 (1964), S. 41–54; vgl. ferner die Hinweise in Anm. 53f.; einführend zur Engführung der Materialität von Bildern mit tierischem und menschlichem Fleisch: Krüger, Matthias: Der geschlachtete Ochse als ein Stück Malerei, in: Materia­ lität und Bildlichkeit. Hrsg. von Marcel Finke u. Mark A. Halawa. Berlin 2012, S. 249–267. 5 Grundlegend zur Vorstellung einer Scala naturae oder natürlichen Seins-Ordnung: Lovejoy, Arthur O.: The Great Chain of Being. Cambridge 1936; speziell zu Aristoteles’ Verortung der Tiere: Coles, Andrew: Animal and childhood cognition in Aristotle’s biology and the scala naturae, in: Aristotelische Biologie. Hrsg. von Wolfgang Kullmann u. Sabine Föllinger. Stuttgart 1997, S. 287–324; vgl. auch: Sorabji, Richard: Animal minds and human morals. Ithaca 1993, besonders S. 7–29; dagegen zu frühneuzeitlichen Diskussionen, die – gleich den im Folgenden analysierten Hundeblicken Snyders’ – eher für die Nähe von Tier und Mensch argumentieren vgl. Anm. 6 und die Beiträge in: Muratori, Cecilia (Hrsg.): The animal soul and the human mind. Pisa 2013; ferner: Muratori, Cecilia: Eating (rational) animals. Campanella on the ratio­nality of animals and the impossibility of vegetarianism, in: Ethical perspectives on animals in the Renaissance and Early Modern period. Hrsg. von ders. u. Burkhard Dohm. Florenz 2013, S. 139–166, besonders S. 142–150; Wild, Markus: Die anthropologische Differenz. Berlin 2007, besonders S. 1–20; Fudge, Erica: Animals, Rationality, and humanity in Early Modern England. Ithaca 2006, besonders S. 123–146; Steiner, Gary: Anthropocentrism and its discontents. Pittsburg 2005, besonders S. 112–152; Meyer, Heinz: Frühe Neuzeit, in: Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Hrsg. von Peter ­Dinzel­bacher. Stuttgart 2000, S. 293–403, hier S. 343–356; Münch, Paul: Die Differenz zwischen Mensch und Tier, in: Tiere und Menschen. Hrsg. von ders. Paderborn 1998, S. 328–331; Suutala, Maria: Tier und Mensch im Denken der deutschen Renaissance. Helsinki 1990, besonders S. 129–222; speziell zu höfischen Kulturtechniken, die assimilatorische Einschätzungen des Tier-Mensch-Verhältnisses begünstigten: Friedrich, Udo: Menschentier und Tiermensch. Göttingen 2009, besonders S. 178–187 und 269–293; speziell anhand des Umgangs mit Hunden: Brackert, Helmut u. Cora van Kleffens: Von Hunden und Menschen. München 1989, S. 101–122 u. S. 145–178. In allgemeiner Hinsicht einführend zu Fragen kognitiver Kapazitäten von Tieren: Hurley, Susa­n u. Matthew Nudds (Hrsg.): Rational animals? Oxford 2006. 6 Zu frühneuzeitlichen Einschätzungen animalischer Affekte und Emotionen: Ebbersmeyer, Sabrina: ­Telesio on the affective nature of men and animals, in: The animal soul and the human mind. Hrsg. von Cecilia Muratori. Pisa 2013, S. 97–111; Perler, Dominik: Medieval Debates on Animal Passions, in: ­Emotion and cognitive life in Medieval and Early Modern philosophy. Hrsg. von Martin Pickavé u. Lisa

Mit Herz und ohne Vernunft

grund dieser Zwischenstellung der Tiere konnte ihre organisch geschärfte, aber nicht ratio­ nal korrigierte Sinneswahrnehmung zum beliebten Zeugen für die mimetischen Qualitäten von Kunstwerken werden: Myrons Kühe, Apelles’ Pferde oder Protegenes’ Rebhühner liefern dafür beredte Beispiele.7 Und just hiermit hängt auch der Umstand zusammen, dass in umgekehrter Weise Tiere zu den Hauptmotiven zählten, anhand derer die Potenziale mimetischer Kunst diskutiert wurden, Betrachter auf den ›ersten Blick‹ zu erregen oder ohne Korrektur durch einen zweiten Sinn beziehungsweise rationalisierende Kontemplatio­n zu affizieren.8 Alle drei genannten Legenden inszenieren so ihre Tiere (Kuh, Pferd und Reb­ huhn) nicht nur als Kunstrichter, sondern auch als Exemplifikationsobjekt mimetischer Kunst.9 Im Fokus der folgenden Ausführungen stehen jedoch weder diese Künstlerlegenden noch der ebenfalls untersuchenswerte Einsatz tierischer Blicke in frühneuzeitlichen Allegorien der Kunst, sondern Hundeblicke.10 Interessieren soll eine Reihe von Hundebildern des Antwerpener Tiermalers Frans Snyders, der als erster eine Fülle monumentaler und in ihrem Selbstanspruch nicht hinter Historiengemälden nachstehender Tierdarstellungen schuf.11 Denn Hunde, die in frühneuzeitlichen Künstlerviten ebenfalls als Motive und Zeugen lebensnaher Kunst begegnen, eigneten nicht nur für die Betonung mimetischer QuaShapiro. Oxford 2012, S. 32–52; Liebman, Elizabeth: Unspeakable passions, in: Representing the passions. Hrsg. von Richard Meyer. Los Angeles 2003, S. 137–162; in allgemeiner Hinsicht einführend zur Ab- und Zuschreibung von Emotionen an Tiere: Rowlands, Mark: Can animals be moral? Oxford 2012, besonders S. 39–70. 7 Hinsichtlich der Künstlerlegenden vgl. zu Myron: Anthologia Graeca IX.713–742 u. 793–798; Plinius Naturalis historia XXXIV.57; Van Mander, Karel: Das Lehrgedicht. Hrsg. von Rudolf Hoecker. Den Haag 1916, S. 236–239 (Lehrgedicht IX.42–46); zu Apelles: Plinius Naturalis historia XXXV.95; Van Mander 1916 (wie Anm. 7), S. 228f. (Lehrgedicht IX.25); zu Protogenes: Strabon Geographie XIV.2.5. – Die von Zeuxis’ Trauben getäuschten Vögel dürften die bekannteste Anekdote in dieser Hinsicht sein: Plinius Naturalis historia XXXV.65; dazu: Van Mander, Karel: Het schilder-boeck. Haarlem 1604, fol. 67v; Van den Vondel, Joost: Aenleidinge ter Nederduitsche dichtkunste. Hrsg. vom Instituut De Vooys. Utrecht 1977, S. 52, Z. 190–192. 8 Zu dem in dieser Hinsicht wohl meist bemühten Motiv der Fliege: Jurković, Harald: Das Bildnis mit der Fliege, in: Belvedere 10 (2004), S. 4–23; Chastel, André: La burla della mosca, in: Musca depicta. Hrsg. von dems. Mailand 1984, S. 11–36. 9 Einführend zur Bedeutung von Tieren für gemaltes und geschriebenes Reflektieren über Kunst in der Frühen Neuzeit u.a.: Pfisterer, Ulrich: Animal art, human art, in: Humankinds. The Renaissance and its anthropologies. Hrsg. von Andreas Höfele u. Stephan Laqué. Berlin 2011, S. 217–243; Hinz, Berthold: Mimesislegenden, in: Der Neue Pauly. Brill Online (Ersterscheinung online 2006); König-Lein, Susanne: Die Darstellung exotischer Tiere in der Florentiner Malerei des Quattrocento. Weimar 1997, S. 117–128. 10 Einführend zum Blick aus dem Bild vgl. die älteren Studien von: Neumeyer, Alfred: Blick aus dem Bilde. Berlin 1964; Frey, Dagobert: Dämonie des Blickes. Wiesbaden 1953; Seligmann, Siegfried: Die Zauberkraft des Auges und das Berufen. Hamburg 1922. – Erhellend speziell hinsichtlich des Blickes von Hunden: Neumann, Gerhard: Der Blick des Anderen, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 87–122. 11 Grundlegend zu Frans Snyders (als Tiermaler): Koslow, Susan: Frans Snyders. The noble estate. Seventeenth-century still-life and animal painting in the Southern Netherlands. Antwerp 1995, S. 201–217; Robels, Hella: Frans Snyders. Stilleben- und Tiermaler, 1579–1657. München 1989, besonders S. 90–117; speziell zu Snyders’ monumentalen (Alltags-)Tierdarstellungen: Koslow 1995 (wie Anm. 11), besonders S. 201–203; Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 55–67.

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litäten von Kunst und der Bekräftigung ihrer sinnlichen Affizierungspotenziale, sondern auch für die Auseinandersetzung mit dem spannungsreichen Verhältnis zwischen vernunft- und emotionsgeleiteter Wahrnehmung von Kunst. Sie galten nämlich als vernunftlose Affektwesen und wurden doch gleichzeitig für ihre Lernfähigkeit und ihren Gehorsam geschätzt.12

I. Pugna animalium pro cibo – Gierige Hundeblicke Hündische Zügellosigkeit und Selbstbeherrschung beziehungsweise die Spannung zwischen lüsternem und kontrolliertem Blick hat der Antwerpener Maler Frans Snyders in einer Reihe von Bildern, die dem Futterneid unter Hunden gewidmet ist, zum eigentlichen Thema der Darstellung erhoben.13 Im Besonderen gilt das für eine Arbeit, die in die frühen 1630er-Jahre datiert werden kann und die den roten Faden der folgenden Ausführungen bildet (Taf. XVIII):14 Diese zeigt auf ihrer 120 × 171 cm messenden Leinwand einen kräftigen Jagdhund, der über sein ergattertes Fressen wacht. Besitzergreifend hat er seine Vorderläufe über die Innereien eines Tieres gelegt, die man aufgrund ihrer Größe und des langen Schlunds vermutlich einem Rind oder einem Hirsch zuschreiben kann. Steinboden, Pilaster und der unverstellte Ausblick in die freie Landschaft schildern ein wohlhabendes, wenn nicht adeliges Milieu, wie auch das vergoldete Halsband des Hundes einen vornehmen Besitzer erwarten lässt. Zwei kleinere Hunde kommen von rechts hinzu, deren Knurren und Bellen jedoch nur wenig Beachtung bei ihrem größeren Artgenossen finden. Denn dessen Augenmerk gilt einzig dem Betrachter des Bildes, dessen Blick er mit blutunterlaufenen Augen begegnet, vielleicht nicht knurrend, aber doch kurz vor einem warnenden

12 Zwei häufig als Zeugnis besonders lebensnaher Malerei bemühte Beispiele sind Protogenes’ durch Schwammwurf vollendeter Hund (Plinius Naturalis historia XXXV.103; Van Mander 1916 (wie Anm. 7), S. 226f. [Lehrgedicht IX.21]) und Van Mander 1604 (wie Anm. 7), fol. 82r–v) und Publius’ Issa (Martial Epigramme I.109). – Gemalte Hunde die ihre ›Artgenossen‹ zu täuschen vermögen wurden beispielsweis­e Albrecht Dürer (Rupprich, Hans (Hrsg.): Dürer. Schriftlicher Nachlass. 3 Bde. Berlin 1956–1969, Bd. III, S. 460; dazu: Eisler, Colin: Dürer Arche Noah. München 1996, S. 179–199; Agthe, Marion: Das Bild des Hundes in Albrecht Dürers Gesamtwerk. Bochum 1987, S. 40–42), Frans Floris (Van Mander 1906 (wie Anm. 2), Bd. I, S. 314f.; vgl. auch Van Mander 1604 (wie Anm. 7), fol. 136r) und Annibale Carracci ­(Malvasia, Carlo C.: Felsina pittrice. 2 Bde. Bologna 1678, Bd. I, S. 473f.) nachgesagt. Eine mögliche antik­e Vorlage bildet: Anthologia Graeca IX.604; einführend zu den Hunden von Malern: Billeter, Erika: Hunde und ihre Maler. Bern 2005, S. 116–138; einführend zu Hunden als murrende und kläffende Kunstkritiker: Waźbiński, Zygmunt: Artisti e pubblico nella Firenze del Cinquecento, in: Paragone-Arte 28 (1977), S. 3–24. 13 Einführend zu Snyders’ Hunde-Gemälden: Koslow 1995 (wie Anm. 11), S. 271–281; Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 299–303, Nr. 186–191. 14 Frans Snyders (Werkstatt?): Ein Hund verteidigt seine Beute. Öl auf Leinwand, 120 × 171 cm, 1630–1635 (?); Privatslg.; dazu: Cacce principesche (Ausst.-Kat. Tivoli, Villa d’Este, 17.05.–20.10.2013). Hrsg. von Francesco Solinas. Rom 2013, S. 111–114, Nr. 30; vgl. auch Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 302f., Nr. 189 f.; Hervé Oursel in La peinture flamande au temps de Rubens (Ausst.-Kat. Lille, Musée des Beaux-Arts, 03.07.–31.08.1977). Hrsg. von Jacques Foucart u. Jean Lacambre. Arras 1977, S. 127f.

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Bellen, kampfbereit, die Sehnen noch angespannt und nur scheinbar ruhig. Es spricht für Snyders’ gründliches und in zahlreichen Zeichnungen dokumentiertes Naturstudium, dass er den Hund in einer solchen Schwebehaltung zwischen An- und Entspannung, Besinnung und Eruption darzustellen weiß.15 Zwar liegt er auf dem Boden und hängt regelrecht über seiner Beute, doch auch so kommt sein mächtiger Bizeps zur Geltung und bleiben die Hinterläufe zum Aufsprung bereit. Bis in die angespannte Kurvatur seines Schwanzes zieht sich diese Doppelbödigkeit von Nervosität und Stille, die auch das Bild im Ganzen charakterisiert. Nicht zuletzt aufgrund eben dieser ambivalenten Stellung des Hundes fällt es schwer, den intensiven Blick zu beschreiben, der den Betrachter so unmittelbar trifft. Vordergründig darf man diesen sicherlich in Verbindung mit dem Streit der Hunde um das opulente Beutestück bringen. Noch vor dem ›Kampf ums Weib‹ und natürlichen Feindschaften galt der Konkurrenzstreit um Nahrung spätestens seit Aristoteles’ kanonisch gewordener Formulierung als einer der drei Hauptgründe tierischer Auseinandersetzungen. 16 »Krieg der Tiere um Speise, Unterkunft und Nachkommen«, fasst Albertus Magnus zusammen.17 »Hast du irgendwann gesehen, wie ein Hund nach [...] Fleischstücken, die ihm sein Herr zuwirft, mit aufgerissenem Maul schnappt?« schreibt Seneca. »Alles, was er erwischt, schluckt er auf der Stelle, unzerkaut.«18 Verschiedene Varianten dieses Bildsujets schildern in diesem Sinne die Gula, die Gefräßigkeit, die aggressiven und gierigen Blicke sowie den eigentlichen Kampf der Hunde um ihr Fressen, die auch eine Vielzahl niederländischer Sprichwörter beschrieben. »Zwei Hunde an einem Knochen kommen selten überein.«19 Auf einer 115 × 175 cm messenden Küchenszene (Taf. XIX) unterbricht ein kräftiger Genickbiss jäh das Festmahl eines über den Innereien hängenden Hundes.20 Ähnlich heftig ist der Streit auf einer weiteren Bearbeitung des Sujets ausgebrochen, auf der zwei Windhunde im Kampf um die üppigen Schlachterprodukte entbrannt sind (Taf. XX). 21 Auch hier werden die blutigen Innereien nicht als gerechte Belohnungen eines triumphie15 Zu Snyders’ (gezeichneten) Hunde-Studien: Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 418–423, Nr. 50–86. 16 Aristoteles Historia animalium 608b. 17 Albertus Magnus De animalibus I.8.1.2; vgl. zudem: Thomas von Aquin Summa theologiae I.81.2; Nifo, Agostino: Expositiones in omnes Aristotelis libros de historia animalium. Venedig 1546, S. 262f.; Cardan­o, Girolamo: Offenbarung der Natur. Basel 1559, S. 178; Aldrovandi, Ulisse: Ornithologiae libri XII. 3 Bde. Bologna 1599–1603, S. 251; Garcia Carrero, Pedro: Disputationes medicae super fen primam libri primi Auicenæ. Alcalá de Henares 1611, S. 788f. – Vgl. auch Anm. 24. 18 Seneca, Lucius A.: Epistulae morales ad Lucilium. Hrsg. von Rainer Nickel. 2 Bde. Düsseldorf 2007–2009, Bd. I, S. 436f. (Epistulae LXXII.8). 19 Zu diesem Sprichwort: Bässler, Andreas: Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potenzial von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500. Berlin / New York 2003, S. 158f. – Für weitere niederländische Sprichwörter über die Gier und Aggression von Hunden hinsichtlich ihres Fressens: Koslow 1995 (wie Anm. 11), 276f. 20 Anonym (nach Frans Snyders): Zwei Hunde über Schlachtabfälle streitend. Öl auf Leinwand, 115 × 175 cm; Privatslg.; dazu: European noble and private collections (Aukt.-Kat. Amsterdam, Christie’s London, 14.02.2006, Sale 2691), S. 170, Lot 491. 21 Anonym (nach Frans Snyders): Zwei Hunde streiten sich um Schlachtabfälle. Öl auf Leinwand, 103 × 179 cm; Kunst & Antiquitäten (Aukt.-Kat. Stuttgart, Nagel, 23.–24.09.2009, Sale 413), S. 18, Lot 406.

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1  Juriaen Jacobsz., Hunde im Kampf, 1678, Öl auf Leinwand, 78 × 93 cm, Hamburg, Hamburger Kunsthalle.

renden Prachthundes präsentiert, sondern stehen die Affekte und Triebe gefräßiger Hund­e im Vordergrund, welche die Ordnung der Küche aufwühlen. In diesem Sinne brandmarkt eine signierte und heute im Prado aufbewahrte Darstellung eines Tierstreits von Frans ­Snyders die gierigen Handlungen unmissverständlich durch das zerbrochene Geschirr beziehungsweise durch das von der überschäumenden Lebendigkeit der Tiere zerstörte Stillleben im Bildvordergrund (Taf. XXI).22 Mit fletschenden Zähnen beansprucht ein kräftiger Hund seine fleischige Beute, während ein Artgenosse unter den wachsamen und auf ihre Chance wartenden Augen einer Katze die Zähne tief in eine Wurstkette geschlagen hat. Die Doppelkonnotation von gustatorischer und erotischer Fleischeslust als Grund für die hündische Gewaltbereitschaft setzt schließlich ein 1678 von Juriaen Jacobsz. geschaffenes Gemälde (Abb. 1), das sich motivisch an Snyders’ Hundebildern orientiert, nicht übermäßig subtil ins Bild, wenn es die Geschlechtsorgane des Hundes bald in den Mittelpunkt des Kampfgeschehens rückt.23 An friedliches Teilen oder einen vernünftigen Kompromiss ist in allen vier Darstellungen nicht zu denken. Sie veranschaulichen vielmehr das ›Fressen und Gefressen-Werden‹ oder das ewige Bellum naturae, über das in der postlapsalen Welt allein der Mensch sich mittels seiner Vernunft erheben könne.24 In den Blicken der Tiere spiegelt sich vor allem ihre tierische Gier, ihr bestialisches Verlangen oder eben ihre animalische Natur. Mehr als 22 Frans Snyders: Zwei streitende Hunde und Katze. Öl auf Leinwand, 99 × 145 cm; Madrid, Museo del Prad­o, Inv.-Nr. 1750; dazu: Koslow 1995 (wie Anm. 11), S. 272f.; El siglo de Rubens (Kat. Madrid, Museo del ­Prado). Hrsg. von Matías Díaz Padrón. 3 Bde. Barcelona 1995, Bd. II, S. 1238f., Nr. 1750; Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 302, Nr. 188. 23 Juriaen Jacobsz.: Hunde im Kampf. Öl auf Leinwand, 78 × 93 cm, 1678; Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. HK-445; dazu mit weiterführenden Literaturangaben: Die niederländischen Gemälde (Kat. Hamburg, Kunsthalle). Hrsg. von Thomas Ketelsen. Hamburg 2001, S. 144f. 24 Einführend zum historischen Verständnis von Kämpfen unter Tieren: Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. II, S. 277–289; Egerton, Frank N.: The concept of competition in nature before Darwin, in: Actes du XIIe Congrès International d’Histoire des Sciences 8 (1971), S. 41–46. – Speziell zum Begriff eines Bellum naturae: Cicero De natura deorum II.125; Plinius Naturalis historia XX.1.1–2.

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jeder Blick eines menschlichen Sünders oder eines Dämons vermag der Blick vernunftlose­r Tiere, die ungezügelte Affizierung durch visuelle Reize zu verbildlichen. Frans Snyders’ Hundeblick (Taf. XVIII) aus blutunterlaufenen, feucht triefenden Augen spielt mit dem Schrecken des Bösen Blicks, der neben Kindern und Frauen vor allem wilden Tieren aufgrund ihrer vorgeblichen Vernunftlosigkeit zugeschrieben wurde.25 Gleich dem Medusenblick könne er faszinieren, da die emotionale Aufruhr, das innere Feuer der Tiere ganz ungebremst durch die Augen austrete und den Säftehaushalt des erblickten Opfers ins Ungleichgewicht stürze.26 Besonders deutlich wird der moralische Appell, der mit dem unvernünftig ungezügelten Blick von Hunden im Angesicht eines saftigen Fleischbrockens verbunden werden konnte, in einer Frans Snyders oder seinem Schwager, Paul de Vos, zuzuschreibenden Arbeit aus dem Prado (Taf. XXII).27 Dieser liegt die schon von Demokrit gebrauchte Fabel Äsops »Canes et umbra« zugrunde, in der es nach der von Heinrich Steinhöwel 1608 herausgegebenen Übersetzung heißt:28 Ein Hund trug ein Stück Fleisch in seinem Maul und lief durch ein fließendes Wasser. In dem Durchlauff sieht er das Fleisch im Wasser scheinen und wähnt, er sehe ein anderes Stück in dem Wasser und ward begierig dasselbe auch zu nehmen. Und sobald er das Maul auftat, dasselbe auch zu erwischen, entfiel ihm das, das er vorher trug und führt es das Wasser halb hinweg. Also stand er und hatte das Gewisse mit dem Ungewissen verloren. Darum: welcher Geiziger zu viel will haben, dem wird oft zu wenig.29

Das Gemälde des Prado konzentriert seine Darstellung auf den Wendepunkt der im 17. Jahrhundert beliebten und beispielsweise von Karel van Mander referierten Fabel und 25 Zur frühneuzeitlichen Vorstellung des Bösen Blicks bzw. speziell der Faszination durch Tiere: Rakoczy, Thomas: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Tübingen 1996, S. 169–186; Seligmann 1922 (wie Anm. 10), S. 150–175; vgl. ferner allgemein: Koos, Marianne: Bildnisse des Begehrens. Emsdetten 2006, S. 187–206; Pfisterer, Ulrich: Augentäuschung als Erkennungsweg in der nordalpinen Malerei am Übergang von Spätmittelalter zu Früher Neuzeit, in: Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes. Hrsg. von Frank Büttner u. Gabriele Wimböck. Münster 2004, S. 157–204, S. 167 und 177–180; Stewart, Dana E.: The arrow of love. London 2003, S. 81–123; Parigi, Silvia: Oculus fascinans, in: Rivista di estetica 42 (2002), S. 61–80; Suzuki, Shigeo: The power of seeing in Renaissance poems and emblems of love, in: Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Hrsg. Wolfgang von Harms u. Dietmar Peil. Frankfurt am Main 2002, S. 725–734; Spence, Sarah: Texts and the Self in the Twelfth century. Cambridge 1996 (mit einer Zusammenstellung der älteren Literatur); zu Aristoteles und Avicenna als zentrale Autoritäten für die Vorstellung der Faszination: Bischoff, Christina J.: In der Zeichenwelt. Frankfurt am Main 2009, S. 62–67; Polansky, Ronald: Aristotle’s De anima. Cambridge 2007, S. 263–284; Everson, ­Stephen: Aristotle on perception. Oxford 1997, S. 139–185; Lindberg, David C.: Theories of vision from Al-Kindi to Kepler. Chicago 1976, S. 6–9 u. 33–57; Bundy, Murray W.: The theory of imagination in ­classical and mediaeval thought. Urbana 1927, S. 60–82. 26 Zur Vorstellung von Körpersäften und deren Beeinflussbarkeit noch immer aufschlussreich: Schöner, Erich: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Wiesbaden 1964. 27 Paul de Vos / Frans Snyders: Der Hund und seine Beute. Öl auf Leinwand, 207 × 209 cm, ca. 1636–1638; Madrid, Museo del Prado, Inv.-Nr. 1875; dazu: Kat. Madrid 1995 (wie Anm. 22), Bd. II, S. 1278f., Nr. 1875; Koslow 1995 (wie Anm. 11), S. 262f. 28 Zu Demokrits Verweis auf die Äsop-Fabel: Gemelli Marciano, Laura (Hrsg.): Die Vorsokratiker. 3 Bde. Düsseldorf 2007–2010, Bd. III, S. 454, Nr. 139. 29 Steinhöwel, Heinrich (Hrsg.): Das gantze Leben und Fabeln Esopi. Frankfurt am Main 1608, S. 57f.

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dramatisiert den gierigen Blick des Hundes, der ganz gebannt von der augentäuschenden Mimesis der Wasseroberfläche die sichere Beute für den scheinbar besseren Fang fahren lässt.30 Affektartig schnappt er nach dem Trugbild und so besiegelt wie für Narziss die Anziehungskraft und der sinnliche Reiz des Ebenbilds das Schicksal des Hundes. Bezeichnenderweise verzichtet Paul de Vos beziehungsweise Frans Snyders dabei nicht darauf, den Unterschied zwischen der in Farbigkeit und Plastizität zum optischen Fix- oder Reizpunkt des Gemäldes gemachten tatsächlichen Beute und dem matten und konturarmen Trugbild herauszuarbeiten. Doch dies dient nicht nur, um die Moral der Äsop’schen Fabel besonders zu unterstreichen. Denn zur Dramatisierung des Geschehens wählt er einen Moment, der sich dem Betrachter unweigerlich als kunstfertige Simulation vor Augen stellt. Das Einfrieren der Fallbewegung oder das künstliche Schweben des Fleischstücks markiert dieses selbst als Trugbild. Nicht zufällig dürfte der Maler so gerade an diesem Teil des Gemäldes, dessen Textur besonders plastisch gestaltet ist, sein künstlerisches Material offenlegen und seinen Pinselduktus den Augen seiner schaulustigen Betrachter feilbieten.

II. Leine, Zucht und Verstand – Kontrollierte Hundeblicke Es wäre nicht unbegründet anzunehmen, auch Frans Snyders stelle in seinem Gemälde (Taf. XVIII) einen raffgierigen Hund dar, der Schlachtabfälle für sich erbeutet hat und dies­e nun gegen den Fressneid kleinerer Hunde zu verteidigen weiß. Sein affektiver Blick träfe so auch den Betrachter, sei es lüstern nach einer vermeintlich größeren Beute, sei es kampfbereit, sein Fressen zu verteidigen. Doch unweigerlich rufen die angeführten Bilder gefräßiger Hunde Gegenbilder der Mäßigung auf. Die Aggressionen der Hunde sind nicht ungebrochen positiv konnotiert, sondern heischen nach Züchtigung. Die gierigen Blicke wollen gebannt und in Ordnung überführt werden. Von einer identifizierenden Kooperation oder einer ungebrochenen Sympathie mit den ungezogenen, affektiven Hunden kann keine Rede sein. Äsops Fabel macht dies unmissverständlich. Und die monumentale Bearbeitung im Prado stellt der unförmigen Malerei seines Fleischbrockens die Ruhe und Ausgewogenheit der Gesamtkomposition entgegen. Besonders dringlich werden Fragen der Mäßigung und Affektregulierung, ruft man sich den potenziellen Besitzer des großformatigen Gemäldes in Erinnerung.31 Denn Gefallen wird das Bild vor allem bei Hunde- und Jagdliebhabern gefunden haben, die sich ihren eigenen Hunden wohl weniger in Erwartung zügelloser Fressgier denn von Drill und Gehorsam genähert hätten. Der wachsame Blick des Hundes auf Snyders’ monumentaler Komposition ließe sich insofern auch als Rückversicherung bei seinem Herrchen verstehen. Gerade in tierliebendem und jagdfreudigem Umfeld finden sich Charakterisierungen von Hunden, die deren 30 Zu Van Manders Verweis auf die Äsop-Fabel: Van Mander 1604 (wie Anm. 7), fol. 133v. 31 Zur Provenienz einiger Hunde-Bilder Snyders’: Koslow 1995 (wie Anm. 11), S. 272 u. S. 274–280; Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 300, Nr. 187a, S. 302, Nr. 188.

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Affektbeherrschung und Hörigkeit betonen. »Sie haben einen wundersamen Verstand [...] und Gedächtnis, welche allein den Menschen ausgenommen alle andere [Lebewesen] übertrifft«, konstatierte der flämische Humanist Justus Lipsius regelrecht im Widerspruch zu Äsops Fabel vom gierigen Hund.32 Dieser natürlichen Tugend (Virtus) verdankten Hund­e schließlich ihre Rolle als Begleiter von Dialektik-Personifikationen sowie als Attributstier des Gelehrten.33 Und auf unzähligen Küchenszenen und Jagdstillleben ist der Gehorsam und die Affektkontrolle des Hundes in Kontrast zur Zügellosigkeit und Gefräßigkeit vor allem von Katzen gesetzt worden.34 Auf einer am Werk Paul de Vos’ angelehnten Küchenszene aus dem Musée de Grenoble geht ein Hund so mit allen Zeichen von Aggression eine Katze an (Taf. XXIII), um diese daran zu hindern, sich die saftig roten Innereien anzueignen, die den visuellen Fixpunkt des Gemäldes bilden.35 Das pflichtbewusste Bewachen der Beute – gerade auf Jagd-Stillleben – geht letztlich auf Philostrat zurück, der in seinen Imagines in einer seiner beiden Xenien einen solchen Jagdhund beschreibt, der stolz über die von ihm miterjagte Beute wacht.36 Inwiefern der durchdringende Blick des Hundes zum Betrachter auf Snyders’ Gemälde durchaus als Rückversicherung des Hundes verstanden werden kann, dessen Besonnenheit gerade der Kontrast zum aggressiven Gebärden der beiden kleineren Hunde unterstreicht, vermag eine Reihe von Varianten über ein ähnliches Bildmotiv zu verdeutlichen, für das Frans Snyders’ Gemälde aus den Musées royaux des Beaux-Arts in Brüssel exemplarisch ist (Abb. 2).37 Dieses zeigt drei Hunde, denen auf einem Tisch in einer großen Schale Schlacht­ erzeugnisse gereicht sind. Und zweifelsohne ist die Darstellung nicht der Gier oder dem Fressneid der Hunde gewidmet. Die formale Gestaltung betont vielmehr die Ruhe und Ordnung, mit denen sich die Speisung vollzieht. Gerade der Blick des Hundes, der als erster zugeschnappt hat, strahlt wenig Aggression aus und wird wohl eher als Gesuch um Zustimmung zu verstehen sein. Die Hörigkeit des Hundes betonen auch zwei vergleichbar­e 32 Lipsius, Justus: Von wunderbarer Natur und Eigenschafft. Hrsg. von »Canisius Procyon«. o.A. 1614, S. 11. 33 Den locus classicus zur Verbindung von Hund und Dialektik bildet: Basilius von Cäsarea Homilien IX.4; vgl. ferner: Schneider, Manfred: Der Hund als Emblem, in: Politische Zoologie. Hrsg. von Anne von der Heiden u. Joseph Vogl. Zürich 2007, S. 149–176, besonders S. 155–161; Wirth, Karl-August: Die kolorierten Federzeichnungen im Cod. 2975 der Österreichischen Nationalbibliothek, in: Anzeiger des Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1979), S. 67–110, besonders S. 72–80; grundlegend zum Hund als Begleiter des frühneuzeitlichen Gelehrten: Reuterswärd, Patrik: The dog in the humanist’s study. In: Konst­historisk tidskrift 50 (1981), S. 53–69. 34 Zur unterschiedlichen Charakterisierung von Katze und Hund sowie ihrer als natürlich geltenden Feindschaft: Santi, Francesco: Cani e gatti, grandi battaglie, in: Micrologus 8 (2000), S. 31–46; vgl. zudem im Werk Snyders’: Robels 1989 (wie Anm. 11), besonders S. 189f., Nr. 25, S. 192, Nr. 28, S. 202f., Nr. 37, S. 203f., Nr. 39, S.232f., Nr. 76. 35 Nach Paul de Vos: Küchenstreit von Hund und Katze. Öl auf Leinwand, 104 × 136 cm; Musée de Grenoble­, Inv.-Nr. MG-100; dazu: Peintures des écoles du Nord (Kat. Grenoble, Musée de Grenoble). Hrsg. von ­Marcel Destot. Paris 1994, S. 173f.; vgl. auch: Asperges in olieverf (Ausst.-Kat. Venlo, Limburgs Museum, 22.04.-17.07.2005). Hrsg. von Barbara Kruijsen. Zwolle 2005, S. 120f., Nr. 18. 36 Philostrat Imagines II.26. 37 Frans Snyders: Drei Hunde am Fressnapf. Öl auf Holz, 75 × 107 cm; Brüssel, Musées royaux des BeauxArts, Inv.-Nr. 4323; dazu: Koslow 1995 (wie Anm. 11), S. 271f.; Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 299f., Nr. 186.

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2  Frans Snyders, Drei Hunde am Fressnapf, 1. Hälfte 17. Jh., Öl auf Holz, 75 × 107 cm, Brüssel, Musées royaux des Beaux-Arts.

Bilder Frans Snyders’ und seiner Werkstatt aus einer Privatsammlung in Anvers und dem Schloss Läckö (Abb. 3).38 Denn diese zeigen ihre Hunde zwar ebenfalls als wachsame Verteidiger ihrer erbeuteten Schlachterzeugnisse, legen ihnen allerdings Halsbänder an die Seite, die ihnen offenkundig abgenommen worden sind und somit das Vertrauen ihrer Besitzer in ihre Selbstbeherrschung zu bezeugen vermögen. Als Signum hingegen der Fremdbeherrschung des Hundes und der Dressur seiner Affekte begegnet ein Halsband auf einer weiteren Bearbeitung des Sujets (Abb.  4), auf der das lockere Hängen der Kette zumindest das noch vorherrschende Maß seiner Mäßigung anschaulich macht.39 Auf dem Gemälde Snyders’ hinwieder, dessen Hundeblick den Betrachter so markant trifft (Taf. XVIII), charakterisieren das Halsband des Hundes und sein vergoldetes Orna-

38 Frans Snyders (Werkstatt): Hund mit Rindskopf. Öl auf Leinwand, 150 × 250 cm; Anvers, Privatslg.; dazu: Du baroque au classicisme (Ausst.-Kat. Paris, Musée Jacquemart-André, 24.10.2011–24.01.2011). Hrsg. von Jan de Maere. Brüssel 2010, S. 110f.; Koslow 1995 (wie Anm. 11), S. 274. – Frans Snyders (Werkstatt): Hund mit Rindskopf. Öl auf Leinwand, 113 × 206 cm; Schloss Läckö, Nationalmuseum Stockholm, Inv.Nr. 636; dazu: Robels 1989 (wie Anm. 11), S. 302, Nr. 189a. 39 Frans Snyders (Werkstatt): Hund mit Innereien. Öl auf Leinwand, 116 × 172 cm, 1630–1635; Privatslg.; dazu: Francesco Solinas in: Ausst.-Kat. Tivoli 2013 (wie Anm. 14), S. 111–114, Nr. 29; vgl. auch: Robels 1989 (wie Anm. 11), 302f., Nr. 189f.

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3  Anonym (Werkstatt Frans S­ nyders?), Hund mit Rindskopf, 1. Hälfte 17. Jh., Öl auf Leinwand, 150 × 250 cm, Privatbesitz.

ment ihn als vornehmen Jagdhund und suggerieren, er habe sich sein Fressen durch Eifer und Disziplin während der Jagd verdient.40 Er ähnelt den kräftigen Hunden, die sich auf zahlreichen Fürstenportraits als Zeichen herrschaftlicher Macht finden und dokumentieren, in welchem Maße die Privilegierung einzelner Hunde als Spiegel der sozialen Ordnung am Hofe fungierte.41 Zudem gleicht Snyders’ kräftiger Hund den in zeitgenössischen Jagdtraktaten dargestellten Leithunden, denen eine entscheidende Rolle bei der fürstlichen Parforce-Jagd zukam.42 Die waidgerechte Teilung der Beute unter menschlichen und tieri40 Zu historischen Hundehalsbändern, deren höfische Bedeutung sich nicht zuletzt in ihrem kunsthandwerklichen Aufwand spiegelt: Deutsches Jagdmuseum München (Kat. München, Deutsches Jagdmuseum). Hrsg. von Bernd E. Ergert [u.a.]. Braunschweig 1979, S. 60–62; Jagd einst und jetzt (Ausst.-Kat. ­Marchegg, Schloss, 29.04.–15.11.1978). Hrsg. von Johannes Gründler. Wien 1978, S. 416–418, Nr. 506f., 510, 512, 514–518; Jagd und Kunst (Ausst.-Kat. Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Okt.– Nov. 1975). Hrsg. von Erich Egg. Innsbruck 1975, S. 32, Nr.123–126. 41 Zum hierarchisierenden Umgang mit Hunden als Spiegel gesellschaftlicher Ordnung: Schneider 2007, besonders S. 149–153; Teuscher, Simon: Hunde am Fürstenhof, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 347–369. – Die sexistische Konnotation der Engführung von kräftigen Hunden und Fürsten verdeutlicht auch die Vielzahl von Schoßhündchen auf Frauenportraits: Spickernagel, Ellen: Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Megagerien und in der Kunst des 17.–19. Jahrhunderts. Köln 2010, S. 108–119. 42 Zur historischen Charakterisierung von Leithunden vgl. (neben Anm. 45): Suter, Robert: Par force. Jagd und Kritik. Konstanz 2015, S. 50–55, 86 u. 92; Seidl, Katharina: Jagdhunde, in: Herrlich Wild (Aust.-Kat.

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4  Frans Snyders (Werkstatt?), Hund mit Innereien, 1630–1635, Öl auf Leinwand, 116 × 172 cm, ­Privatbesitz.

schen Jägern, aber auch die Auszeichnung einzelner Hunde und gerade erfolgreicher Leithunde durch besondere Beutestücke findet sich in zahlreichen Jagdtraktaten beschrieben und gehört zu den bis weit in die Neuzeit gepflegten Traditionen der Jagd.43 Anschaulich machen dies die zahlreichen Darstellungen der Curée in den unterschiedlichen Editionen von Jacques Fouilloux’ Grundlagenwerk zur Jagd. Johann Hellers und Sigmund Feierabends Übersetzung von 1582 zeigt so die feierliche Übergabe eines Vorderlaufs an den obersten Jägerführer und eine Hundemeute, die sich zugleich über die Reste eines Hirschs hermacht (Abb. 5).44 Voran gestellt ist dieser Holzschnitt einem Kapitel aus dem Hunde-

Innsbruck, Ambras, 16.06.–31.10.2004). Hrsg. von Wilfreid Seipel. Wien 2004, S. 151–158; Salvadori, ­Philippe: La chasse sous l’Ancien Régime. Paris 1996, S. 91–98; einführend zu den funktionalen Typen von Jagdhunden: Klemettilä, Hannele: Animals and hunters in the late Middle Ages. New York / Abingdon 2015, S. 100–110; Bugnion, Jacques: Les chasses médiévales. Gollion 2005, S. 137–141. 43 Für schriftliche und bildliche Schilderungen der Curée: Haehn, Max (Hrsg.): Das Jagdbuch des Roy Modus. Gevelsberg 1975, S. 37f.; Schlag, Wilhelm/Thomas, Marcel (Hrsg.): Das Jagdbuch des Mittelalters. Graz 1994, fol. 70r–73v; Du Fouilloux, Jacques: Neuw Jag unnd Weydwerck Buch [...]. Hrsg. von Johann Hellers/Sigmund Feierabend. 2 Bde. Frankfurt am Main 1582, Bd. I, fol. 16r–v u. 54r–55v; Von Flemming, Hans F.: Der vollkommene teutsche Jäger. 2 Bde. Leipzig 1719–1724, Bd. I, S. 280f. 44 Jost Amman: Nach der Jagd. Holzschnitt in: Du Fouilloux 1582 (wie Anm. 43), Bd. I, fol. 16r; dazu: ­Bartrum, Giulia u. Marjolein Leesberg (Hrsg.): Jost Amman. 12 Bde. Rotterdam 2001–2003 (The New Hollstein German), Bd. VIII, S. 4, Nr. 195–22.

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5  Jost Amman, Nach der Jagd, in: J­ acques Du Fouilloux, Neuw Jag unnd Weydwerck Buch, hrsg. von Johann ­Hellers u. Sigmund Feierabend, 1582.

Teil des zweibändigen Werks, das davon handelt, »Wie man jung Hund zum Hirsch abrichten / und auff ein ander weiß ihr Recht geben sol.« Es ist insofern exemplarisch für die Bedeutung von kulinarischer Belohnung in der Abrichtung oder Dressur von Hunden. Denn der Nahrungstrieb oder die – in Äsops Sinne – Fressgier der Hunde war für Jäger keineswegs negativ konnotiert. Vielmehr war sie Voraussetzung dafür, dass sich der Jäger die damit verbundenen Jagdinstinkte für sein eigenes Weidwerk zunutze machen konnte.45

III. Met ogen verslinden – Lust am gemalten Fleisch Eine Deutung des Hundeblicks auf Frans Snyders’ Gemälde (Taf. XVIII) als beherrscht und kontrolliert, steht insofern nicht in unvereinbarem Widerspruch mit seiner Deutung als affektiv und gierig. Den blutunterlaufenen Augen ist noch die Gier und Kampflust anzusehen, welche auch die Darstellung der beiden anderen Hunde bestimmt. Doch wie die Heftigkeit der Szenerie durch die Einfachheit und Klarheit des Hintergrundes gemildert und durch die trennende Stufe am Bildvordergrund in Grenzen verwiesen ist, so ist die Körper45 Vgl. dazu einführend: Du Fouilloux 1582 (wie Anm. 43), Bd. I, fol. 11r–12v u. 13v–16v; Von Heppe, Carl: Aufrichtiger Lehrprinz oder praktische Abhandlung von dem Leithund. Augsburg 1751, S. 450–468.

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haltung des Hundes von Spannung und Gelassenheit zugleich getragen und in seinem Blick durchaus ein Moment des Innehaltens zu erkennen. Die überlebensgroße Darstellung des Hundeleibes lebt von der Begeisterung für seine mächtige Physis und der Faszination am tierischen Streit. Doch sie suggeriert, dem Hund käme Fressen und Ehrenplatz rechtermaßen zu, da sich sein von unten zum Betrachter erhobener Blick als Ausdruck der Anerkennung seiner ihm gesetzten Grenzen zu verstehen gibt. Zweifelsohne liegt genau hierin auch ein Moment der Zügelung, Ordnung und letztlich Disziplinierung des Betrachters und dessen Blick. Die aus der monumentalen Bildanlage gewonnene Ruhe und ästhetische Distanzierung lassen den Eindruck entstehen, der Betrachter könne zum Herr des gemalten Hundes werden, diesen dressieren und seine Affekte zügeln, wenn er selbst von dem Hund emotional unberührt bleibt und ihm mit Besonnenheit in seine Grenzen weist. Doch zugleich verwehrt sich Frans Snyders’ Gemälde nachdrücklich einer solch einseitig räsonierenden Bildbetrachtung. Vielmehr animiert es zu einer physisch aufwühlenden, nervösen, affektiven Sinnesschau, die den Betrachter aus seiner vernunftbasierten Reserve zu locken sucht. Zumindest signalisiert dies die malerische Gestaltung der rohen Fleischmasse, die als erzählerischer Mittelpunkt des Geschehens vielleicht mehr als jedes andere Bildmotiv die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Zweifelsohne kristallisiert sich in ihr die Faszination für die bestialische Wildheit und Animalität des Hundes, dessen Kraft und physische Überlegenheit sich im unmenschlichen Fraß gleichzeitig spiegelt wie buchstäblich daraus speist. Allemal inszeniert das Bild – gleich De Gheyns Aquarell (Taf. XVII) – im Gegensatz zu den in der Zeit beliebten Darstellungen geschlachteter Ochsen die tierischen Eingeweide nicht als christliche Symbole oder als Ausdruck des menschlichen Leids und Opfer Christi. Vielmehr manifestiert sich in ihnen die materialistische Sicht eines Hunde- und Jagdliebhabers, der in der Begegnung mit Tieren eine körperliche Herausforderung suchte und in der animalischen Gier und Grausamkeit vor allem die Kräfte der auch ihn umfassenden Natura naturans am Werke sah. Ihm offerierte sich der vibrierende Hundeleib als Resonanzkörper, der ihm erlaubte, sich Emotionen und Affekten hinzugeben, die nur aufgrund des speziellen Jagdkontextes das Decorum nicht verletzten.46 Das Bild rechnet mit einem machiavellistischen Betrachter, der die höfische Heroisie­ rung des Hundes durch das Recht des Stärkeren legitimierte und damit liebäugelte, diesem

46 Das physische Kräftemessen und die selbsterwählte ›Animalisierung‹ des Jägers war wiederholt Ansatzpunkt von Jagdkritiken, die an die Vernunft basierte Würde des Menschen appellierten: Johannes von Salisbury Polycraticus, I.1; Erasmus Adagia, Nr. 3001; Morus, Thomas: Von der wunderbarlichen Innsel Utopia. Hrsg. von Claudius Cantiuncula von Metz. Basel 1524, fol. g3v–g4v; Agrippa von Nettesheim, Heinrich C.: De incertitudine et vanitate scientiarum liber. Köln 1531 [zuerst 1527], fol. q4r; speziell zum Vorwurf übertriebener Hundeliebe von Jägern: Szabó, Thomas: Die Kritik der Jagd, in: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Hrsg. von Werner Rösener. Göttingen 1997, S. 167–230, besonders S. 189–191; einführend in die Geschichte der Jagdkritik: Suter 2015, S. 31–78; Wolter-von dem Knesebeck, Harald: Aspek­ te der höfischen Jagd und ihrer Kritik in Bildzeugnissen des Hochmittelalters, in: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Hrsg. von Werner Rösener. Göttingen 1997, S. 493–572, besonders S. 523–537; Eckardt, Hans W.: Herrschaftliche Jagd, bäuerliche Not und bürgerliche Kritik. Göttingen 1976, S. 142–150.

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auch in seiner eigenen Lebenswirklichkeit Geltung zu verschaffen.47 Er »l[a]est nicht nach«, schrieb Georg Neumark in seiner Beschreibung von Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar als englische Dogge, wenn er seinen »Feind [...] oder sonst ein wildes Thier erblikket.«48 Zuletzt ließe sich wie beim Hunde-Gemälde aus dem Prado fragen, in welchem Maße sich dadurch das Bild auch selbst den gierigen Betrachteraugen als Beutestück feilbietet, um von dessen Blicken gleichsam verschlungen zu werden. »Met ogen verslinden« ist zu­mindest eine auch im heutigen Niederländischen gebräuchliche Redewendung. Karel van Mander spricht davon, dass Pieter Breugel d.Ä. vor Natur-Bewunderung die Alpen verschlungen hätte und warnte unter Rekurs auf den Aktäon-Mythos davor, dass »die Sinne [...] wie die Jagdhunde [sind], die ihres Herrn Fleisch als Speise verschlangen«.49 Dieser Vergleich der Augen mit Jagdhunden ist ein antiker Topos, der sich beispielsweise in der Anthologia Graeca findet.50 Platons Verwendung von Jagdbildern als Erkenntnismetaphern stützt sich darauf und auch Thomas von Aquin, Cusanus, Giordano Bruno oder Francis Bacon gebrauchen die Jagd nach tierischem Fleisch als Sinnbild geschärfter sinnlicher Wahrnehmung.51 In diesem Sinne verglich Leon Battista Alberti die Vorgänge des Sehens und des Beißens, wenn er in seinem 1540 erstmals in Basel und dann wieder 1649 in Amsterdam gedruckten Traktat De pictura davon spricht, dass die äußeren Sehstrahlen die Kontur eines Objekts »wie mit Zähnen einfingen«.52 Vor dem Hintergrund dieser teils praktischen, teils metaphorischen Verbundenheit von Jagen, Verschlingen und Sehen sticht die saftig glänzende und schreiend leuchtende Farbfläche ins Auge (Taf. XVIII), die in auffälligem Kontrast zu den dunklen, matten und überwiegend gebrochenen Tönen des übrigen Bildes steht. Ihr kräftiges Blutrot bildet den stärksten Reizmoment des Gemäldes und verleiht der Darstellung überhaupt erst ihre Kraft und Expressivität. Unweigerlich ruft sie – in einer absichtsvollen Verdrehung – das Malen von Fleisch als topisches Qualitätsmerkmal auf den Plan, wie es schon von Cennin­o Cennini gefordert und dann von Kunstliteraten wie Giorgio Vasari und Karel van Mander zum entscheidenden Kriterium zeitgenössischer Erneuerung und Vollendung der Kunst gemacht worden ist.53 Erst durch die lyffverwe (Leibfarbe) lebten Gemälde, die »fleischig 47 Ähnlich Francesco Solinas in: Ausst.-Kat. Tivoli 2013 (wie Anm. 14), S. 111f.; vgl. auch die Angaben in Anm. 41; einführend zur Bedeutung von Tieren in der politischen Theorie: Von der Heiden, Anne u. Joseph Vogl (Hrsg.): Politische Zoologie. Zürich 2007. 48 Neumark, Georg: Christlicher Potentaten Ehren-Krohne. Weimar 1675, Teil 2, S. 18; dazu: Disselkamp, Martin: Barockheroismus. Tübingen 2002, S. 15f. 49 Van Mander 1906 (wie Anm. 2), Bd. I, S. 254–257; Van Mander 1916 (wie Anm. 7), S. 42f. (Lehrgedicht I.62). 50 Anthologia Graeca XII.92. 51 Einführend zur Jagd mit Hunden als Erkenntnismetapher: Bombassaro, Luiz C.: Die Jagdmetapher im Werk von Giordano Bruno. Frankfurt am Main 2002; Eamon, William: Science and the Secrets of Nature. Princeton 1994, S. 269–300; Classen, Joachim C.: Untersuchungen zu Platons Jagdbildern. Berlin 1960. 52 Alberti, Leon Battista: De pictura. Basel 1540, S. 14. – Zu dieser auch bei Leonardo da Vinci zu findenden Verbindung von Sehen und Beißen: Fehrenbach, Frank: Der Fürst der Sinne. In: Sehen und Handeln. Hrsg. von Horst Bredekamp. Berlin 2011, S. 141–154, hier 145f. 53 Einführend zur Bedeutung der Inkarnatsmalerei in der italienischen Kunstliteratur der Frühen Neuzeit: Bohde, Daniela: Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians. Ems-

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erglühen« und »fleischfarben blühen« sollen, da sie sonst »nur Fischfleisch oder [...] Steinfiguren zu sein« scheinen.54 Im Gegensatz zu weiten Teilen von Snyders’ Gemälde ist die Textur des Fleischbrocken gröber und der Pinselduktus freigelegt. Wie schon in De Gheyns Gehäutetem Kalbskopf (Taf. XVII) und der Legende vom Hund und seiner Beute aus dem Prado (Taf. XXII) wird auch hier die blutige Fleischmasse zum Ort, an dem die Materialität der Farben und die Gemachtheit des Bildes am stärksten zutage treten. Der optische Reiz der Malerei präsentiert sich hier gleich einem Stück Fleisch als nichts anderes denn physisch, materiell, sinnlich. Die ›Eingeweide des Gemäldes‹ sind nicht verborgen, ein tieferer Sinn nicht versteckt und der Gehalt des Bildes nur mit den Sinnen zu gustieren. Die Qualität des Bildes liegt offen zutage und ist offensichtlich das, was auch die Augen eines Hundes so sehr reizt. Der den Betrachter intensiv beäugelnde Hund wartet auf nichts anderes denn auf dessen Zustimmung, sich der körperlichen Lust und dem visuellen Reiz ganz hinzugeben.

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Fabiana Cazzola-Senkpiel

FORMEN PATHOGNOMISCHEN EXPERIMENTIERENS IN LEONARDO DA VINCIS ZEICHNUNGEN Medialität, Materialität und Ästhetik eines Wissens um das Affektive

Das zeichnerische Werk von Leonardo da Vinci (1452–1519) bietet ein heterogenes Konvo­ lut dar, das von physiognomischen Skizzen bis hin zu stark deformierten Gesichts- und Profilstudien reicht, und als Gruppe der sog. »grotesken Köpfe« bekannt ist.1 Bei diesen Zeichnungen kleinen Formats geht es um eine Praxis des künstlerischen Erprobens von mimischen Ausdrucksvariationen. Diese Widerspiegelungen von Gemütsbewegungen im Äußeren ermöglichen es – so der leitende Gedanke vorliegender Ausführungen –, durch das Medium der Zeichnung Leonardo da Vincis Auffassung des Affektiven näher zu kommen. Im Gegensatz zu den anatomischen Zeichnungen sowie den Optikstudien des Künstlers wurde die Gruppe der sog. »grotesken Köpfe« noch nicht eingehend im Rahmen von Forschungsdiskursen zum Verhältnis von Wissen und Kunst untersucht. Dementsprechend gilt es in der Folge, anhand zweier Fallbeispiele aus dieser Bildauswahl zu fragen, auf welche Weise sich der Geltungsanspruch des spezifischen Wissens- und Erfahrungsmodus der Kunst in Bezug auf affektive Dimensionen manifestiert. Wie verhalten sich hierbei produktions- und wirkungsästhetische, affektive und epistemische Aspekte zueinander? Die Bildanalyse zielt darauf ab, verschiedene Dimensionen eines Wissens um das Affektive in und durch künstlerische(n) Bilder(n) zu beleuchten. Die affektive Aufladung der Bilder – so die These – ist dabei als ästhetischer Mehrwert zu betrachten. Um dies zu erläutern, wird die zeichnerische Linie mit Aspekten ästhetischer Evidenzproduktion in Verbindung gesetzt.

1

Gombrich, Ernst H.: The Grotesque Heads, in: ders.: The Heritage of Apelles. Studies in the Art of the Renaissance. London 1976, S. 57–75. Die Bezeichnung zielt auf die starke Übersteigerung und Verzerrung der Gesichtszüge ab, die die Figuren absonderlich übertrieben, lächerlich erscheinen lässt.

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Medialität, Materialität und Ästhetik eines Wissens um das Affektive Leonardo da Vinci hält um ca. 1504 in seinem sog. Trattato della pittura (Codex Urbinas) fest: Di fisonomia e chiromanzia. Della fallace fisonomia e chiromanzia non mi estenderò, perché in esse non è verità; e questo si manifesta perché tali chimere non hann­o fondamenti scientifici. Vero è che i segni de’ volti mostrano in parte la natura degli uomini, i loro vizi e complessioni; ma nel volto i segni che separano le guancie dai labbri della bocca, e le nari dal naso e le casse degli occhi sono evidenti, se sono uomini allegri e spesso ridenti; e quelli che poco li segnano sono uomini operatori della cogitazione; e quelli che hanno le parti del viso di gran rilievo e profondità sono uomini bestiali e iracondi, con poca ragione; e quelli che hanno le linee interposte infra le ciglie forte evidenti sono iracondi, e quelli che hanno le linee trasversali della fronte forte lineate sono uomini copiosi di lamentazioni occulte e palesi […].2

Der Passus handelt exemplarisch von der Natur, den Lastern und Komplexionen der Menschen, die aufgrund mehr oder weniger ausgeprägter Gesichtszüge zum Ausdruck kommen. Unterschiedliche affektbezogene Wissensbestände gehen hierbei ineinander auf: Man erkennt Elemente der antiken Physiognomik, welche die Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele bereits thematisiert hat, und Elemente der mittelalterlichen medizinischen Theorie der Komplexionen bzw. der Temperamentenlehre – die Textpassage erwähnt gewis­ sermaßen die Typen des Cholerikers/Sanguinikers und des Melancholikers.3 Diese Aspekt­e spielen für Leonardo da Vincis Auslegung der menschlichen Natur aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes eine wesentliche Rolle, wobei eine physiologische und psychosomatische Auffassung des Menschen sichtbar wird.4 Die (textbasierte) Lehre der Physiognomik verfügt laut dem Künstler über keine wissenschaftliche Basis, aber er interessiert sich offen­ sichtlich für das physiognomische Verfahren, nach welchem aufgrund des Äußeren Rückschlüsse auf das Innere einer Person zu ziehen sind. Leonardo da Vincis Ausführungen zei-

2 3

4

Camesasca, Ettore (Hrsg.): Leonardo. Trattato della pittura. Vicenza 2000, S. 156. Zur Bedeutung dieser Disziplin für das Verständnis der Kunst vgl. Reißer, Ulrich: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1997; spezifisch zu Leonardo da Vinci vgl. Kwakkelstein, Michae­l W.: Leonardo da Vinci’s Grotesque Heads and the Breaking of the Physiognomic Mould, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 54 (1991), S. 127–136, hier S. 128–130; Laurenza, Domenico: La »fisonomia naturale« di Leonardo: una traccia giovanile e alcuni sviluppi, in: Achademia Leonardi Vinci 9 (1996), S. 14–19; zur Differenzierung von complexio (die flüssigen oder humoralen Bestandteile des Körpers) und compositio (die Anatomie, Morphologie des Körpers) im medizinischen Kontext und zu ihrer Rolle bei Leonardo da Vinci vgl. Laurenza, Domenico: La »composizione« del corpo. Fisiognomica ed embriologia in Leonardo, in: Nuncius 13 (1998), 1, S. 3–37. Zöllner, Frank: Bewegung und Ausdruck bei Leonardo da Vinci. Leipzig 2010, S. 31–33 u. S. 278–280, betont, dass der Künstler von den physiologischen Grundlagen des seelischen Ausdrucks ausgeht; Laurenza, Domenico: De Figura Umana. Fisiognomica, anatomia e arte in Leonardo. Firenze 2001, S. 9; Gründler, Hana: Against »the Fatigue in Mind«. Leonardo’s Anatomical Drawings as Multiperspectival Epistemic Spaces, in: Leonardo da Vinci’s Anatomical World. Hrsg. von Alessandro Nova u. Domenico Laurenza. Venedig 2011, S. 131–153, hier S. 136, spricht in Anlehnung an Laurenza 2001 (wie Anm. 4) von einer »holistischen« Einstellung Leonardo da Vincis.

Formen pathognomischen Experimentierens in Leonardo Da Vincis Zeichnungen

gen vielmehr, dass die Affekte es sind, welche im Gesicht dauerhafte Spuren hinterlassen und so über Neigungen oder Laster der Person Auskunft geben.5 Der Corpus der leonardesken Zeichnungen zeigt de facto einige Beispiele auf, die – wie Ulrich Reißer es geäußert hat – da Vincis Auseinandersetzung mit der Praktikabilität der Physiognomik als Wissenssatz zu belegen scheinen,6 und zwar in der/durch die Kunst, die er bekanntlich als Wissenschaft auffasst.7 So lässt sich das besonders produktive Moment einer Wissensaushandlung medialer Natur ausmachen.8 Anhand der gewählten Fallbeispiele sollen ferner zwei Möglichkeiten aufgezeigt werden, Aspekte der Materialität in Bezug auf die Darstellung affektiver Dimensionen zu denken dies stets im Verhältnis zu deren Medialität und zum ästhetischen Mehrwert der Bilder. Zum einen geht es um das Evozieren materieller Werte, die eine bestimmende Wirkung bezüglich der dargestellten affektiven Dimension haben, zum anderen um die konkreten material- und gegenstandsdefinierenden Eigenschaften der zeichnerischen Linien, die kraft ihrer selbst affektive Dimensionen der Darstellung entfalten. In beiden, sich gegenseitig ergänzenden Beispielen kommt auch der haptischen Qualität der Zeichnung als solche eine wichtige Rolle in Hinblick auf das epistemische Potenzial der Bilder zu, wobei die eingangs erwähnten Aspekte eines Wissens um das Affektive in/durch künstlerische(n) Bilder(n) zutage gefördert werden.

Affektive Spuren Beim Kopf eines alten Mannes oder einer alten Frau im Profil (Abb. 1, Taf. XXIV) treffen die obere Lippe und die Nase beinahe aufeinander. Die schrägen Schraffuren um das Antlitz verlaufen parallel und regelmäßig, die sehr dunklen Schattierungen im Halsbereich sind durch Befeuchtung der sanguigna-Spitze oder beim festen Drücken des Stiftes auf das Papier entstanden. Wie beobachtet wurde, ist dem Rötel eine gewisse Weichheit eigen, die die Wiedergabe von Lichtschattierungen ermöglicht und somit besonders geeignet ist, auch emotionale/affektive Werte durchscheinen zu lassen, beispielsweise durch die Modellierung der Dichte von Muskeln und Hautfalten.9 Die geschlechtliche Unbestimmtheit der 5

Vgl. Baader, Hannah: Das Selbst im Anderen. Sprachen der Freundschaft und die Kunst des Portraits 1370–1520. München 2015, S. 171. 6 Reißer 1997 (wie Anm. 3), S. 13. 7 Wenn Leonardo über die Wissenschaftlichkeit der Malerei spricht, lässt sich dies verallgemeinern und nicht reinlich zwischen Malerei und Zeichnung differenzieren. Fehrenbach, Frank: Pathos der Funktion. Leonardos technische Zeichnungen, in: Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Helmar Schramm [u.a.]. Berlin / New York 2006 (Theatrum Scientiarum 2), S. 84–113, hier S. 87f., macht auf diesen Punkt aufmerksam. 8 Schmölders, Claudia: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 21997; Kwakkel­stein 1991 (wie Anm. 3), S. 128 u. 136, fasst diese Zeichnungen als wichtiges Medium auf, um formale und ideologische Lösungen für künstlerische Bedürfnisse zu suggerieren. 9 Spagnolo, Maddalena: La matita rossa come luce e colore: verifiche sugli studi di teste di Leonardo e dei leonardeschi, in: Polittico 1 (2000), S. 65–82.

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1  Leonardo da Vinci, Kopf eines alten Mannes oder einer alten Frau im Profil, um 1495–1505, Rötelzeichnung, 99 × 82 mm, Hamburg, Kunsthalle, Kupferstichkabinett.

Figur wird von der psychologischen Intensität der dargestellten Figur wettgemacht.10 Dieses Close-up exponiert das pathetische Moment als »Erleiden«, wobei es weniger um eine plötzliche affektive Erregung geht,11 sondern eher – laut Leonardo da Vincis Vorstellungen – um die Modellierung der Gesichtszüge durch die im Laufe der Zeit erlebten Affekte. Dieses Antlitz zeigt also eine psychologische Komplexität, die aufgrund »affektiver Spuren« zum Tragen kommt, wobei die extreme Betonung der Muskelbündel in engem Zusammenhang mit dem Gesichtsausdruck steht. Um da Vincis Verständnis des Ausdrucks in der Kunst/Malerei näherzukommen, geht zuletzt der Medizinhistoriker Domenico Laurenza auf die leonardeske Anatomie näher ein. Er setzt die physiognomischen Konzeptionen des Künstlers mit zeitgenössischen medizinischen Theorien in Verbindung und stellt somit einen Übergang von einer statischen Auffassung von Physiognomik hin zu einer Patho­

10 Vgl. Italienische Zeichnungen 1450–1800 (Kat. Hamburg, Kupferstichkabinett der Hamburger Kunst­ halle). Hrsg. von David Klemm. Bd. II. Köln [u.a.] 2009, S. 214f. mit weiterführender Literatur; Viatte, Françoise: Portraits et grotesques, in: Léonard de Vinci. Dessins et manuscrits (Ausst.-Kat. Paris, Musée National du Louvre, 05.05.–14.07.2003). Hrsg. von ders. u. Varena Forcione. Paris 2003, S. 169–242, hierzu S. 180. 11 Vgl. »Gefühl und Einfühlung«, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, S. 110–113; zu einer Charakterisierung der Begriffe ẽthos und páthos vgl. Schmölders 1997 (wie Anm. 8), S. 68.

Formen pathognomischen Experimentierens in Leonardo Da Vincis Zeichnungen

gnomik fest.12 Man beachte zum Beispiel die Art und Weise, wie die Hals- und Nackenmuskeln der Figur oder der innere Ohrbereich gezeichnet worden sind: Durch die Verwen­ dung ähnlicher formaler Elemente wie in den anatomischen Zeichnungen lässt sich der Versuch beobachten, den durch faziale Muskeln ge­prägten Gesichtsausdruck und somit den affektiven Bereich zu naturalisieren, ja zu verwissenschaftlichen. Der Künstler modelliert in diesen Zeichnungen den Bereich des Affektive­n mit denselben künstlerischen Mitteln, die er für die Hervorbringung eines anatomisch-biologischen Wissens in anderen Zeichnungen einsetzt. Das Beispiel zeigt ferner, dass der Einsatz von Rötel als Farbstoff in die Darstellung der Gesichtsoberfläche, das heißt hier der Gesichtsmuskeln, durch die Anverwandlung bestimmter materialer Werte einwirkt. Der materielle Charakter des Inkarnats wird ferner als Resultat der Aushandlung zwischen medizinisch-anatomischem Wissen um Epidermis, Gewebe und Organe und künstlerischem Praxiswissen um Techniken, Eigenschaften und Handhabung des Instrumentes sichtbar.

Altern und Haut Darüber hinaus ist es evident, dass die Figur die extremsten Folgen des Alterungsprozesses sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht aufzeigen soll. Die sichtbarwerdenden Zeichen der Zeit verstärken die expressive Mimik des Gesichtes und zeigen demnach ein Interesse am Altern als folgenreicher Prozess nicht nur in Hinblick auf äußere körperliche Veränderungen, sondern auch hinsichtlich »innerkörperlicher«, affektiver/ emotionaler Folgen. Laurenza demonstriert, dass da Vinci vor allem nach 1500 ein zunehmendes Interesse an Verwandlungen hat, die durch Wechselwirkungen zwischen Äußerem und Innerem im Menschen stattfinden.13 Der menschliche Körper wird demzufolge als fließende Struktur aufgefasst, der sich in stetiger Veränderung befindet. 14 Es lässt sich anfügen­, dass da Vincis Auffassung des Alterns aristotelisch geprägt ist, und dass diese Zeichnung belegt, was in dieser Vorstellung des Alterungsprozesses beschrieben ist: das Altern als ein Erkalten und deshalb ein Vertrocknen, weil die Lebenswärme in diesem abmagernden, abbauenden Prozess zurückgeht.15 Wie zuletzt u.a. von Hannah Baader betont wurde, 12 Laurenza, Domenico: Corpus mobile. Ansätze einer Pathognomik bei Leonardo, in: Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik. Hrsg. von Frank Fehrenbach. Mün­ chen 2002, S. 257–301. 13 Laurenza 2002 (wie Anm. 12), S. 275–276, hier S. 279, betont, dass da Vinci sich vor allem für die visuellen Wirkungen des pathologischen Prozesses interessierte, so für die plastische Aktivität, die im Äußeren des Körpers stattfindet. 14 Exemplarisch: Laurenza, Domenico: Fisiognomica e anatomia in Leonardo: la funzione delle immagini, in: Atti e memorie dell’Accademia Petrarca di Lettere, Arti e Scienze 65 (2003[2004]), S. 139–163. 15 Fehrenbach, Frank: Calor nativus – color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ›Lebendigen Bildes‹ in der frühen Neuzeit, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Hrsg. von Ulrich Pfisterer u. Max Seidel. München / Berlin 2003, S. 151–170, hier S. 157; Fehrenbach, Frank: Der oszillierende Blick. Sfumato und die Optik des späten Leonardo, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65 (2002), S. 522–544.

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zeich­ne sich gerade an der Haut im Sinne der Humorallehre ab, von welchen Säften ein Körper bestimmt wird. Die Haut zeige an, ob der Körper feucht, trocken, warm oder kalt ist. Sie stelle demzufolge das Medium dar, durch das wesentliche Charakterzüge erkennbar werden.16

Ästhetische Evidenz und das Affektive Beim Kopf eines alten Mannes oder einer alten Frau im Profil (Abb. 1, Taf. XXIV) tritt eine ausdrucksstarke Sinnkonfiguration in Erscheinung, wobei die einzelnen materiellen Bild­ elemente wie Linie(n), Schraffuren und Schattierungen einander bereichern. An dieser Stelle lassen sich einige Gedanken zum komplexen Wechselverhältnis zwischen Linie(n) und ästhetischer Evidenz anführen, um so auch die zentralen Aspekte der bildlichen Präsenzeffekte und der Überzeugungskraft in die Analyse der Beispiele einzubeziehen. Der Linienausführung kommt eine wesentliche Bedeutung bei der Evidenzerzeugung zu. Man könnte mit Jörg Bittner von einem »auf höchste Klarheit zielenden« Einsatz des Linien­ zuges sprechen.17 Leonardo da Vincis Aufzeichnungen zu Malerei und Kunsttheorie belegen begriffsgeschichtlich die Relevanz der ästhetischen Evidenz: Jenseits der Bedeutung von Evidenz als bloße Sichtbarkeit/Offenkundigkeit kommt in seinen Darlegungen auch wirkungsästhetischen Dimensionen in Zusammenhang mit visueller Erkenntnis eine entscheidende Rolle zu. Zum einen steht Evidenz bei Leonardo in engem Zusammenhang mit den Konzepten des Verstehens und Erkennens, zum anderen hat ästhetische Evidenz im Sinne von Überzeugungs-, Beweis- und Geltungskraft sowie Wirklichkeitsproduktion im Medium des Bildes an dessen epistemischer Dimension teil. Besonders auffallend in ­Leonardo da Vincis sog. Trattato della pittura ist die Erwähnung der Linien im Zusammenhang mit Zeigen, Beweisen, Verstehen/Erkennen und somit in Bezug auf visuelle Wissensprozesse.18 Hier knüpfen Aspekte eines nicht-diskursiven, nichtpropositionalen Wissens an, denn es geht um ein Wahrnehmen und Erfahrbarwerden durch die künstlerischen Bilder. Das Beispiel drückt ein Wissen um Affekte in bildlicher Form auf seine eigene, nichtsprachliche Ebene aus, wobei man es mit Gottfried Boehm als »Oszillation zwischen Einsicht und Affekt […]« konturieren könnte, da »sachliche Luzidität und affektive Wirkung« einander nicht ausschließen, »als leibliche Ausdrucksform, die deiktische Funktion hat«.19

16 Baader 2015 (wie Anm. 5), S. 263. 17 Zur ästhetischen Evidenz vgl. Boehm, Gottfried: Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. Hrsg. von dems. [u.a.]. München 2008, S. 14–43, hier S. 17f. sowie Boehm, Gottfried: Das Zeigen der Bilder, in: Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren. Hrsg. von dems. [u.a.]. München 2010, S. 18–53; Bittner, Jörg: Zu Text und Bild bei Leonardo da Vinci. Eine mediengeschichtliche Kritik des Einsatzes verbaler und visueller Darstellungsmittel in der italienischen Renaissance. Frankfurt am Main [u.a.] 2003, S. 243. 18 Die Verfasserin dieses Beitrages bereitet eine Studie zum Thema vor. 19 Boehm 2008 (wie Anm. 17), S. 17f. sowie Boehm 2010 (wie Anm. 17), S. 18–53.

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Konkretion Vor diesem Hintergrund soll die medienspezifische, materiell-sinnliche und visuelle Präsenz der zeichnerischen Linie als solche hervorgehoben werden. Es ist bekannt, dass Leonard­o da Vinci vor 1500 vorwiegend Metallstifte (deren Anwendungen nicht korrigiert werden können) und Federn verschiedener Stärke verwendet. Nach 1500 benutzt der Künstler die unterschiedlichsten Materialien und Medien: Rötel, schwarze Kreide, Pastell, Kohle und Aquarell. Den unterschiedlichen Medien liegen jeweils unterschiedliche Wirkungsabsichten zugrunde, die mit den Charakteristika der wiedergegebenen Objekte verbunden sind.20 Bei diesen kleinen Zeichnungen handelt es sich überwiegend um Profildarstellungen, ein Format, das die Wiedergabe einer Charaktereigenschaft, einer Befindlichkeit oder einer Gemütslage erschwert, da die wiederzugebenden Gesichtsteile bzw. -oberflächen extrem reduziert sind.21 Hierbei kommt selbstverständlich der Ausführung der Linien eine wesentliche Rolle zu, wie auch das nächste Beispiel aufzeigt. Zwei getrennte, gebogene Linien umreißen die lange Kinnpartie des in Feder und Tinte ausgeführten Kopfes eines Mannes im Profil (Abb. 2). Der fest geschlossene, leicht nach unten gerichtete Mund besteht aus einem geraden Strich; Wangen- und Nasenfalte verlaufen in dieselbe Richtung; die deformierte Nase überragt die untere Lippe. Das sichtbare Auge besteht aus einem dunkleren Tintenfleck, der in einen geraden Strich übergeht und so den kräftigen Stirnansatz und die Augenbrauen markiert. Eine Falte umringt die untere Augenpartie und verleiht dem Auge einen trüben Ausdruck, der die Gestalt im Allgemeinen kennzeichnet. Dieses Beispiel bezeugt, welch differenziertes Potenzial und welche Ausdruckskraft wenige Linienzüge entfalten können. Ernst Gombrich erkennt in der spezifischen Medialität des Linienzuges dieser Zeichnungen eine gewisse »Gelassenheit« und bezeichnet diese Beispiele als »(groteske) Kritzeleien«. Diese Aspekte liest er vor dem Hintergrund der Kunstauffassung Leonardo da Vinci­s als Instrument der kreativen Imagination und als im Prozess begriffen, damit der Imaginationsstrom im Fluss gehalten werden kann.22 Dabei geht es meistens jedoch nicht um ein schnelleres Skizzieren und um eine zeichnerische Impulsivität, sondern eine hohe technische Fähigkeit bei der Handhabung des Werkzeugs wird ge- und herausgefordert, denn die Linienführung ist minimal. Somit wird der experimentelle Charakter dieser meist sehr kleinformatigen Kopfstudien erkennbar. Ein virtuos beherrschtes technisches Experimentieren mit dem Instrument führt zu immer neuen Ausdrucksmöglichkeiten, wobei Momente der Uneindeutigkeit der vor Augen geführten affektiven Dimensionen den ästhetischen Mehrwert ähnlicher Beispiele ausmachen. Wenige Linien – ja sogar ein einziger,

20 Vgl. Fehrenbach 2006 (wie Anm. 7), S. 84–113. 21 Zur Fixier- oder Nichtfixierbarkeit von Seelenregungen in den »grotesken Köpfen« Leonardo da Vincis vgl. Bittner 2003 (wie Anm. 17), S. 250f. 22 Gombrich 1976 (wie Anm. 1), S. 74–75; Gombrich, Ernst H.: Leonardo’s Method for Working out Compositions, in: ders.: Norm and Form. Studies in the Art of Renaissance. London 1985, S. 58–63, hier S. 61.

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2  Leonardo da Vinci, Kopf eines Mannes im Profil, Fragment des Codex Atlanticus, fol. 264 recto-b, um 1505, Tuschezeichnung, 32 × 13 mm, Windsor, Royal Library, The Royal Collection, Windsor Castle.

kontinuierlicher Linienzug – bestimmen die expressive Qualität der Profile.23 Das Hervortreten eines Ausdrucks durch minimale Änderungen der Profillinien zeigt zudem die Komplexität der Aktualisierung des Bildsinnes im Prozess des Sehens: In Anlehnung an einen Gedanken von Victor Stoichita lässt sich sagen, dass die Kunst es schafft, durch eine Profillinie den Ausdruck als Ganzes vor Augen zu führen.24 Vergleicht man die hier interessierenden Fallbeispiele, lässt sich festhalten, dass eine Reduzierung des feinen, ornamentalen Linienzuges mitnichten einen Verlust der Kraft ihrer Wirkung verursacht, sondern sogar deren Konkretion bewirken kann. Der künstlerische Schaffensprozess und sein epistemischer Status werden in Betracht gezogen. Im Akt des Zeichnens wird bei der Auslotung der Ausdrucksmöglichkeiten der Darstellung Wissen um affektive Dimensionen in materieller Form zuallererst hervor­ gebracht und zugleich ausgelotet. Die spezifische mediale Prozesshaftigkeit der Zeichnung – das heißt der zeichnerischen Linie – ermöglicht mithin die Analyse der materiellen Vergegenwärtigung des Affektiven. Durch die material- und gegenstandsdefinierenden Eigen23 Zöllner 2010 (wie Anm. 4), S. 281. 24 Vgl. Stoichita, Victor Ieronim: Johann Caspar Lavater’s Essays on Physiognomy and the Hermeneutics of Shadow, in: RES. Anthropology and Aesthetics 31: The Abject (1997), S. 128–138, hier S. 133.

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schaften zeichnerischer Linien erfährt etwas Immaterielles wie eine Befindlichkeit eine gegenständliche Konkretisierung und wird folglich durch die haptische Präsenz der Zeichnung rezeptionsästhetisch für einen Betrachter fassbar und erkennbar, ja am »eigenen Leibe« erfahrbar. Die Erkenntnisqualität der künstlerischen Bilder in Hinblick auf das Affektive kommt somit zum Zuge. Abermals mit Boehm gesprochen, handelt es sich bei ähnlichen zeichnerischen Linien um »ihrer faktischen Beschaffenheit nach materielle Federstriche«,25 die als Spur des Zeichenaktes sowie des tätigen Künstlers betrachtet werden können. Deren imaginatives Nachzeichnen ermöglicht gewissermaßen dem Betrachter die Teilhabe an der Erfahrung des Zeichnens.26

Form und Linien Leonardo da Vinci geht bekanntlich im sog. Trattato auf die Methode der Wiedergabe eines Profil-Porträts nach einem einzigen Blick ein.27 In diesem Kontext erwähnt der Künstler verschiedene Formen und schließlich Linien,28 die dabei ihre Anwendung finden sollten: geraden, konvexen und konkaven Linien; aber auch Formen kommt eine wesentliche Rolle für die Analyse dieser Zeichnungen zu. Gombrich versteht die »grotesken Köpfe« als Erweiterung des eigenen Form-Repertoriums seitens des Künstlers.29 Ulrich Reißer spricht von experimenteller Formenkundung und vertritt bezüglich da Vincis »grotesker Köpfe« die These, dass sie Umformungen einiger als ideal angesehener Physiognomien sind. Reißer hat das Anliegen der Verfremdung der »grotesken Köpfe« in der Wahrnehm25 Boehm, Gottfried: Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung, in: Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung. Hrsg. von Friedrich Teja-Bach u. Wolfram Pichler. München 2009, S. 43–59, hier S. 56. 26 Zur Phänomenalität der zeichnerischen Linie vgl. Boehm 2009 (wie Anm. 25); Rosand, David: Drawing Acts. Studies in Graphic Expression and Representation. Cambridge 2002; Witte, Georg: Die Phänomenalität der Linie – graphisch und graphematisch, in: Randgänge der Zeichnung. Hrsg. von Werner Busch [u.a.]. München 2007, S. 29–54. 27 Camesasca 2000 (wie Anm. 2), S. 154–155: »Del fare un’ effigie umana in profilo dopo averlo guardato una sola volta. In questo caso ti bisogna mettere a mente le varietà de’ quattro membri diversi in profilo, come sarebbe naso, bocca, mento e fronte. Diremo prima de’ nasi, i quali sono di tre sorta, cioè dritti, concavi e convessi […].« 28 Mit Form wird definitionsgemäß das Äußere, die sichtbare (plastische) Gestalt, in der ein Gegenstand erscheint, besonders im Hinblick auf die Linien, die ihn begrenzen gemeint. Bekanntlich entwickelte ­Leonardo da Vinci die Ansicht, dass der Punkt, der für ihn gleichsam Null ist, auch Grenze und Anfang einer Linie und demzufolge auch Grenze und Anfang von Flächen und Körpern sein kann, vgl. Felfe, Robert: Nebenwege der Perspektive. Die Linie als bildnerisches Element zwischen Geometrie und Handwerkspraxis, in: Dynamiken des Wissens. Hrsg. von Klaus W. Hempfer u. Anita Traninger. Freiburg im Breisgau [u.a.] 2007 (Scenae 6), S. 61–89, insbesondere S. 62f; Boehm, Gottfried: Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Hrsg. von Ulrich Pfisterer u. Max Seidel. München / Berlin 2003, S. 49–59; sowie grundlegend Fehrenbach, Frank: Veli sopra veli. Leonardo und die Schleier, in: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher. Hrsg. von Johannes Endres [u.a.]. München 2005, S. 121–147. 29 Gombrich 1976 (wie Anm. 1), S. 62.

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barkeit des Kunstmittels der Zeichnung und in den sich in ihr präsentierenden Extremformen verortet.30 Auch die Interpretation der Bildauswahl als »morphologische Deformationen« ist in der Forschung zu finden.31 Ferner hat Nicola Suthor das Ziel der grotesken Köpfe Leonardos als »Definierung der Form aus dem Formlosen« beschrieben.32 Die konstanten Formen und Strukturen, die den sog. »grotesken Köpfen« gemeinsam sind – und die Gombrich sogar dazu bringen, von einer gewissen Uniformität und Monotonie, welche hinter der oberflächlichen Vielfalt steckt, zu sprechen33 –, ermöglichen durch bereits vorhandene oder gezielte vergleichende Gegenüberstellungen ein bildliches Argumentieren aufgrund formaler Kennzeichen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass es sich hier um Beispiele handelt, bei welchen Bilder auf Bilder Bezug nehmen.34 Obwohl Martin Clayton der Meinung ist, dass die sog. »grotesken Zeichnungen« ohne Inhalt seien, bloße Formübungen, die im Grunde nicht analysiert werden können,35 lassen sie sich dagegen besonders gut aus einem formästhetischen Blickwinkel untersuchen, um die Hervorbringung und Untersuchung des Affektiven außerhalb propositionaler Diskurse zu begründen. Die destabilisierenden und zugleich Neues hervorbringenden Momente sollen unterstrichen werden: So werden Wiederholung und Differenz im morphologischen bildlichen Erkunden experimentierend als Faktoren der bildlichen Affektgenerierung eingesetzt. Darüber hinaus eröffnet das breite Spektrum von Leonardo da Vincis grotesken Gestalten und monströsen Gesichtern die Möglichkeit, absichtsvolle Verstöße gegen Schönheitsparameter in Betracht zu ziehen. Das Wissen um und das Übertreten von ästhetischen Regeln erlaubt es zugleich, Kreativitätskonzepte, künstlerische Lizenzen und imaginative Verfahren zu thematisieren.

Schluss Die Analyse förderte verschiedene Aspekte eines Wissens um das Affektive in und durch künstlerische(n) Bilder(n) zutage. So handelt es sich einerseits um ein Wissen des Künstlers um affektive Dimensionen, das beim künstlerischen Ausloten von mimischen Ausdrucksmöglichkeiten zuallererst bildlich hervorgebracht wird, andererseits auch um die Vermittlung dieses Wissens und der Evokation des Affektiven durch das künstlerische Bild, wobei die Aspekte der Medialität, Materialität und Ästhetik fokussiert wurden. 30 Reißer 1997 (wie Anm. 3), S. 276–288; Zöllner 2010 (wie Anm. 4), S. 178. 31 Viatte 2003 (wie Anm. 10), S. 185, spricht von »déformation morphologique«. 32 Suthor, Nicola: Schnitt = Strich in Albrecht Dürers stereometrischen Zeichnungen, in: Linea I. Grafie di immagini tra Quattrocento e Cinquecento. Hrsg. von Marzia Faietti u. Gerhard Wolf. Venedig 2008, S. 87–109, hier S. 104. 33 Gombrich 1976 (wie Anm. 1), S. 64 u. S. 67f. 34 Zum Thema: Krüger, Klaus: Geschichtlichkeit und Autonomie. Die Ästhetik des Bildes als Gegenstand historischer Erfahrung, in: Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch. Hrsg. von Otto Gerhard Oexle. Göttingen 1997, S. 55–86. 35 Clayton, Martin: Leonardo’s Gypsies, and the Wolf and the eagle, in: Apollo CLVI (2002), S. 27–33, hier S. 27.

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Die kunsttheoretischen Aufzeichnungen Leonardo da Vincis zur Erzeugung von affektiven Dimensionen im Bild sowie zur affektiven Einbeziehung des Betrachters sollen vor diesem Hintergrund kritisch hinterfragt werden: Diese basieren – anders als in seiner zeichnerischen Praxis – hauptsächlich auf Korrespondenzen (z. B. Lachen der Figur im Bild/Lachen des Betrachters). Vielmehr wird in den und durch die besprochenen Zeichnungen eine affektive Vieldimensionalität aufgemacht, die beispielsweise zwischen Traurigkeit, Leiden und Komik variiert und sich einer genauen Bestimmung widersetzt. ­Leonardo da Vincis Linien nehmen immer wieder neue Gestalt an und bergen folglich ein sehr differenziertes Potenzial des Wissens um das Affektive, das allein in künstlerisch-bildlicher Form vorhanden ist und so die Wechselwirkung zwischen materieller Darstellung und der an sie gebundenen theoretischen Reflexion herausstellt.

Literaturverzeichnis Baader, Hannah: Das Selbst im Anderen. Sprachen der Freundschaft und die Kunst des Portraits 1370–1520. München 2015. Bittner, Jörg: Zu Text und Bild bei Leonardo da Vinci. Eine mediengeschichtliche Kritik des Einsatzes verbale­r und visueller Darstellungsmittel in der italienischen Renaissance. Frankfurt am Main [u.a.] 2003. Boehm, Gottfried: Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Hrsg. von Ulrich Pfisterer u. Max Seidel. München / Berlin 2003, S. 49–59. Boehm, Gottfried: Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. Hrsg. von dems. [u.a.]. München 2008, S. 14–43. Boehm, Gottfried: Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung, in: Öffnungen. Zur Theorie und ­Geschichte der Zeichnung. Hrsg. von Friedrich Teja-Bach u. Wolfram Pichler. München 2009, S. 43–59. Boehm, Gottfried: Das Zeigen der Bilder, in: Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren. Hrsg. von dems. [u.a.]. München 2010, S. 18–53. Camesasca, Ettore (Hrsg.): Leonardo. Trattato della pittura. Vicenza 2000. Clayton, Martin: Leonardo’s Gypsies, and the Wolf and the eagle, in: Apollo CLVI (2002), S. 27–33. Fehrenbach, Frank: Der oszillierende Blick. Sfumato und die Optik des späten Leonardo, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65 (2002), S. 522–544. Fehrenbach, Frank: Calor nativus – color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ›Lebendigen Bildes‹ in der frühen Neuzeit, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Hrsg. von Ulrich Pfisterer u. Max Seidel. München / Berlin 2003, S. 151–170. Fehrenbach, Frank: Veli sopra veli. Leonardo und die Schleier, in: Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher. Hrsg. von Johannes Endres [u.a.]. München 2005, S. 121–147. Fehrenbach, Frank: Pathos der Funktion. Leonardos technische Zeichnungen, in: Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Helmar Schramm [u.a.]. Berlin / New York 2006 (Theatrum Scientiarum 2), S. 84–113. Felfe, Robert: Nebenwege der Perspektive. Die Linie als bildnerisches Element zwischen Geometrie und Handwerkspraxis, in: Hempfer, Klaus W. u. Traninger, Anita (Hrsg.): Dynamiken des Wissens. Hrsg. von Klaus W. Hempfer u. Anita Traninger. Freiburg im Breisgau. [u.a.] 2007, (Scenae 6), S. 61–89. Gombrich, Ernst H.: The Grotesque Heads, in: ders.: The Heritage of Apelles. Studies in the Art of the Renaissance. London 1976, S. 57–75. Gombrich, Ernst H.: Leonardo’s Method for Working out Compositions, in: ders.: Norm and Form. Studies in the Art of Renaissance. London 1985, S. 58–63.

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Marius A. T. Wittke

KEINE MIENE ZUM BÖSEN SPIEL? Zum Paradoxon von Affektvisualisierungen in den frühneuzeitlichen Darstellungen von Totenschädeln

Sowohl in der Unterhaltungsliteratur als auch in wissenschaftlichen Publikationen ist im Zusammenhang mit Totenschädeln stets von einem böse oder hämisch grinsenden Tod die Rede.1 Dabei handelt es sich jedoch um eine paradoxe Begrifflichkeit, denn tote Wesen sind qua Definition nicht befähigt, irgendeine affektive Handlung zu vollziehen. Von einem Grinsen im physiognomischen Sinne kann also nicht die Rede sein, sondern von einer Assoziation der anatomischen Disposition, die dank der bildlichen Aneignung und Fiktio­ nalisierung zu einer Potenzierung der Affektlage beiträgt. Das zu untersuchende Phänomen – so die These – tritt bei den verschiedensten Schädeldarstellungen in der Frühen Neuzeit auf, es betrifft vollständige oder fragmentarische Skelette, aber auch einzelne Schädel. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine vielschichtige Ambivalenz in Bezug auf die Lebendigkeit des dargestellten Wesens. Zwar ist das Oxymoron des »lebenden Toten« als Eigenschaft eines anthropomorphen Todes geläufig, doch bleibt den gänzlich skelettierten Organismen die Plausibilität ihrer Mimik versagt, denn ihnen fehlen die benötigten Gesichtsmuskeln und -organe, um Affektlagen zu generieren. Eine weitere Abstraktionsebene evoziert der losgelöste Schädel: Ohne sein menschliches Knochengerüst verliert er den Impetus des »lebenden« Toten. Trotz dieser Tatsachen übernimmt die wissenschaftliche Forschung beinahe selbstverständlich die Terminologie des grinsenden Todes. Bei der Lektüre der gängigen Literatur, die sich mit dem Thema der Todes- und Totendarstellungen befasst, trifft man nur selten auf Formulierungen, die das Paradoxon dahinter sichtbar machen. Man kann es beinahe als Ausnahme bezeichnen, wenn Christian Kiening »die aufgesperrten, scheinbar spöttisch 1

Neben vielen Beispielen sei folgende Publikation genannt, da in anderem Zusammenhang erneut darauf verwiesen wird: Horat, Heinz (Hrsg.): Renaissancemalerei in Luzern 1560–1650. Aus Anlaß d. Jubiläums 600 Jahre Schlacht bei Sempach, 600 Jahre Stadt und Land Luzern (Ausst.-Kat. Ettiswil, Schloss Wyher, 06.06.–12.10.1986). Luzern 1986, S. 182. Eine Untersuchung zum Begriff selbst und seinem erstmaligen Gebrauch liegt nicht vor. Die älteste dem Autoren bekannte Formulierung stammt von Alexander Goette aus dem Jahr 1897, siehe dazu Goette, Alexander: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder. Straßburg 1897, S. 203.

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grinsenden Köpfe«2 in Wilhelm Werner von Zimmerns Totentanz beschreibt und dabei fast unbemerkt auf den bloßen Schein verweist, denn theoretisch sollte der Ausdruck aller Totenschädel ähnlich und neutral sein und eher mit einem Lachen assoziiert denn identifiziert werden. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden dargelegt werden, welche anatomischen Vorstellungen jene Forscher zu einer solchen Wortwahl in Bezug auf die Kunstwerke bewegt haben könnten. In einem zweiten Teil soll anhand bildlicher Gegenüberstellungen von Druckgraphiken mit Schädelfotographien der Grad an Mimesis überprüft werden, den Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts in ihren Werken anwandten. Dabei soll analysiert werden, ob das dargestellte Skelett selbst einem Affekt unterlegen ist oder ob es sich lediglich um seinen »natürlichen Ausdruck« handelt, der wiederum den Betrachter affiziert. Gleicht ein menschlicher Knochenschädel dem als »hämisch« negativ konnotierten Mienenspiel eines lebendigen Menschen oder hat der Künstler absichtlich dahingehende Veränderungen vorgenommen? Ist der Ausdruck des Totenschädels ein emotionaler oder wird er nur so gedeutet und ist Teil einer kulturell kognitiven Eigenschaft des Todes? In der abschließenden Zusammenführung beider Komplexe soll dann der Konnex zwischen Affektlagen des Totenschädels und dem affizierten Betrachter untersucht werden. Das hier zu betrachtende Paradox ist in der Forschung nicht unbemerkt geblieben, jedoch in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt worden. In Holbeins Totentanz und seine Vorbilder geht Alexander Goette bereits 1897 kurz auf dieses Phänomen ein.3 Er erkennt die durch den Künstler vorgenommenen Veränderungen am Schädel und identifiziert Augenhöhlen und Kiefernspalte als die wichtigsten Stellen einer Physiognomie des Totenschädels. Allerdings hält er diese Eigenschaft für ein Alleinstellungsmerkmal des Holbeinschen Totentanzes. Bei anderen Darstellungen skelettierter Schädel handele es sich um den stereotypen Ausdruck des Schädels, den man leicht als höhnisches Grinsen missinterpretieren könne.4 Dass dies nicht nur für Holbeins Totentanz zutrifft, sondern darüber hinaus um einige Aspekte zu erweitern ist, soll dieser Beitrag zeigen. Der Ausgangspunkt für die Untersuchungen zum »hämisch grinsenden Tod« ist der menschliche Schädel und dessen für das Lachen verantwortliche Organe. Dazu zählt in erster Linie der Mund, der an allen Formen der Freudenäußerung beteiligt ist. Ein Lächeln oder Grinsen beginnt mit dem Heben der Mundwinkel und der Ausdehnung der Lippen in die Breite; öffnet sich der Mund und die Zähne werden sichtbar, spricht man umgangssprachlich von einem breiten Grinsen. Kommt die Öffnung des Kiefers und eine stimmlich repetitive Äußerung hinzu, handelt es sich um ein Lachen. Die Sichtbarwerdung des dentalen Apparates ist dabei das Schlüsselmoment, denn er ist das Einzige, was dem Totenschä­ del von der Mundpartie bleibt. Um seinen Ausdruck zu deuten, bedarf es eines Abgleiches

2 Zimmern, Wilhelm Werner von: Totentanz (dt. 1540er Jahre, Rottweil). Hrsg. von Christian Kiening. Konstanz [u.a.] 2004 (Bibliotheca Suevica 9), S. 199. 3 Siehe Goette 1897 (wie in Anm. 1). 4 Siehe Goette 1897 (wie in Anm. 1), S. 204.

Keine Miene zum bösen Spiel?

mit anderen Gesichtspartien, da bei einem Lebenden die Zähne beim Gähnen, Schreien, Singen und Lachen sichtbar sind. Das Gähnen geht meist einher mit dem Schließen der Augen und starker Faltenentwicklung im Gesicht, das Singen benötigt Zunge und Lippen zur Tonformung; sowohl Gähnen als auch Singen kommen daher als Assoziation im Zusammenhang mit dem Schädel nicht in Frage. Schreie und Gelächter hingegen legen den größten Teil beider Zahnreihen frei und ähneln somit am ehesten dem Erscheinungsbild des Knochenschädels. »Den [fehlenden] Mund vertritt am Schädel der ganze Zwischenraum zwischen den Kiefern; und da diese Spalte viel ausgedehnter ist als der wirklich­e Mund, so erinnert sie an den möglichst breit gezogenen, also grinsenden Mund. Der ›grinsende Schädel‹ ist daher ein ganz gewöhnlicher Ausdruck.«5 Susanne Regener benennt dieses unheimliche, manische Grinsen als sardonisches Lachen.6 Sie bezieht sich dabei auf »eine Todesvorstellung aus dem Barock, nach der sich jene im Prozeß des Sterbens in einen anderen verwandeln, die vom sardonia herba gegessen haben.«7 Der Begriff sardonios wird in Wilhelm Papes Handwörterbuch der griechischen Sprache folgendermaßen definiert: σαρδανιοσ, das grimmige Hohngelächter eines Zornigen, zu eigenem Schaden od. bei eigenem Schmerze des Lachenden. […] Andere [Autoren] schrieben σαϱδȯνιον und leiteten es von einer giftigen Pflanze σαϱδȯνιον her, die bes. in Sardinien waxse [sic!] u. das Gesicht dessen, der von ihr esse, zu einem unwillkürlichen grinsenden Lachen verziehe.8

Auch wenn Susanne Regener diese Praxis auf die barocke Todesvorstellung bezieht, sind Gebrauch und Kenntnis dieses Krautes und des darauffolgenden krampfhaften, bitteren Lachens bereits seit der Antike bekannt. Sardonismus wird bei Homer, Plutarch und anderen Autoren genannt.9 Eine erste deutsche Druckfassung Plutarchs erschien 1579 in Frankfurt am Main. Dort heißt es: »Diese verachtung hat er mit sehr großem vnwillen und beschwerlich gelitten, also / daß er wider seinen Feinden / die vor frewden lachten / ganz vnhöflich zu schrie / Sie lachten ein Sardonisch Gelächter / vnd wueßten wenig / wie sie von seiner That wie / so grosse Finsternuß vmgeben wuerde.«10 Auch in den Schriften Joan Luis Vives’ taucht der Begriff auf. In der 1544 erschienenen deutschen Übersetzung von De officio mariti heißt es zu gewissen Verhaltensweisen einer Ehefrau: »[Wenn] Ain keybige oder halsstarcke nit nachgeben will/ oder mit aim boshafftigen und Sardonischen gelächte­r (wie man sagt) vnd mit aim vppigen stillschweigen vo[n] jrer mainung nit will abweichen«, 5 6

Goette 1897 (wie in Anm. 1), S. 203. Regener, Susanne: Physiognomie des Todes. Über Totenabbildungen, in: Bilder vom Tod. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Dorle Dracklé. Hamburg 2001 (Interethnische Beziehungen und Kulturwandel. Ethnologische Beiträge zu soziokultureller Dynamik 44), S. 49–66, hierzu S. 63. 7 Regener 2001 (wie in Anm. 6), S. 63. 8 Handwörterbuch der Griechischen Sprache, Bd. II, S. 862. 9 Homer, Hom Od. 20, 302; Plato, Schol. Plat. S. 396 und Plat. Rep. I, 337 a; Sophokles, Soph. frg. 171; ­Polybios, Pol. 17, 7, 6; Meleager, Mel. 52 (v. 179). 10 Plutarch: Von der herrlichsten, löblichsten, namhafftsten Historien, Leben […] der herrlichsten Männer, so under den Römern und Griechen gegrünet haben. Hrsg. von Wilhelm Xylander u. Jonas Löchinger. Frankfurt am Main 1579, fol. 211v.

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wobei das Fremdwort in der Randspalte erläutert wird: »Ain Sardonisch glächter / würt inn aim sprichwort / für ain erdichtets gespöttiges vnd vast bitters gelächter gebraucht.«11 Die Kenntnis dieses Wortes kann also für besagten Zeitraum durchaus angenommen werden, scheint es doch als Sprichwort sogar außerhalb der alphabetisierten Stände bekannt gewesen zu sein. Signifikant an dem Begriff ist die Analogie des Disparaten, die sich zwischen dem toten und dem lebenden »Grinsen« entwickelt: So wie der Lebende leidend Schmerz erfährt aber trotzdem zu Grinsen beginnt, so scheint der skelettierte Schädel zu lachen, obwohl er leblos ist. Dieses Moment bringt beide Motive einander näher und verstärkt in dieser Verbindung deren Evidenz. Für diese Überlegung ist nicht einmal die Bezeichnung des Schädels mit dem Begriff des sardonischen Lachens nötig, lediglich die assoziative Verknüpfung des bitteren Lachens mit diesem durch die Rezipienten. Das Ergebnis ist ein verlebendigter Eindruck des Totenschädels. Dieser lässt sich weiterhin steigern, indem neben der Kieferpartie jene der Augen hinzugezogen und mimisch eingesetzt werden, denn den physio­gnomischen Unterschied zwischen freundlichem und boshaftem Gelächter oder ängstlichem und bedrohlichem Schrei erhält man lediglich über das Zusammenspiel von Mund, Brauen und Augen. Der blanke Schädel besitzt jedoch kein Sehorgan mehr, die einstigen Stellen des Lebens bilden nun zwei leere, verschattete Höhlen. Bewegung und Ausdruck sind hier nicht auszumachen. Wie aber ist dann eine Differenzierung zwischen Freude und Wut vorzunehmen? Alexander Goette erkannte bereits, dass die Orbitae (Augenhöhlen) die wichtigen Aufgaben der Augen zu übernehmen suchen. Eine »Blickrichtung« konnte der Künstler evozieren, indem er »den Schatten in der Augenhöhle nach einer bestimmten Stelle zusammenzog oder durch Senkung des äusseren oberen Randes der Orbita und durch Zuspitzung ihres äusseren Winkels ein oberes Augenlid und seine Brauenwulst in bestimmter Lage vortäuschte«.12 Dadurch sind beinahe alle Formen und Größen möglich, die ein Auge aufweisen kann.

Die Anatomie menschlicher Schädel und ihre künstlerische Rezeption in frühneuzeitlicher Druckgraphik Vor dem Hintergrund eines Objektvergleichs mit dem Anspruch einer authentischen13 Grundlage liegt dem Beitrag eine Untersuchung an menschlichen Schädeln zugrunde, die fotographisch umfassend festgehalten wurde und hier exemplarisch gezeigt wird (Abb. 1 11 Vives, Juan Luis: Von Gebührlichem Thun und lassen eines Christlichen Ehemanns [lat. Oxford / Brügge 1528]. Übers. von Christophorus Bruno. Basel 1544, fol. 12v. 12 Goette 1897 (wie in Anm. 1), S. 202. Es ist das gleiche Stilmittel, wie es heute noch im Comic verwendet wird. 13 Die folgenden Überlegungen sollen den mimetischen Gehalt der in der Druckgraphik gezeigten menschlichen Schädel überprüfen oder, in Abgrenzung zur naturgetreuen Nachahmung, die Fiktionalisierung dieser aufzeigen.

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1  Männlicher Schädel eines homo sapiens, drei Ansichten, Knochen, Völkerwanderungszeit, Tübingen, Geographisches Institut – Osteologische Sammlung.

2  Männlicher Schädel eines homo sapiens, zwei Ansichten, Knochen, ­Völkerwanderungszeit, Tübingen, Geographisches Institut – Osteologische Sammlung.

und 2). Die Ausgangslage bildet ein männlicher Schädel aus der Völkerwanderungszeit, der im süddeutschen Raum gefunden wurde und sich heute in der osteologischen Sammlung der Universität Tübingen befindet.14 Da die Schädelmorphologie des homo sapiens sich in den letzten 2000 Jahren kaum verändert hat und lediglich regionale Spezifika auszumachen sein könnten, kann der untersuchte Schädel als ein adäquates Vergleichsobjekt zur frühneuzeitlichen Druckgraphik fungieren. Vorab sind jedoch drei Prämissen zu benennen, die für die Argumentation der Vergleichbarkeit berücksichtigt werden müssen. Das ist zum einen die Individualität, die zur Folge hat, dass jeder Schädel einzigartig ist und auch außerhalb der pathologischen Anato­ mie kleinere Abweichungen in der Morphologie aufweisen kann. Dass sich die Zeitgenossen 14 Für die Genehmigung und den Zugang zur Arbeit in der osteologischen Sammlung Tübingen dankt der Autor der Direktorin der Paläoanthropologie, Frau Prof. Dr. Katerina Harvati-Papatheodorou, und Herrn Michael Francken, M.A.

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des 16. Jahrhunderts darüber bereits bewusst waren, zeigen spätestens die Untersuchungen von Andreas Vesalius.15 Da es also keinen »Einheitsschädel« gibt, dürfen kleine Abweichun­ gen vom Vergleichsmodell nicht als Fehler oder Unvermögen des Künstlers gelten. Mit dieser Tatsache hängen auch, als zweitem Punkt, die Sicht und der Blickwinkel auf das Objekt zusammen. Ein Totenschädel hat im Unterschied zum lebendigen Kopf mehr Öffnungen, Tiefen und Formwechsel. Durch Drehen und Wenden bringt er ein umfangreiches Spektrum an Perspektiven hervor, bereits eine geringe Änderung des Blickpunktes verändert den gesamten Eindruck, sodass die Gegenüberstellung mit nur wenigen Fotos nicht allumfassend, sondern höchstens näherungsweise sein kann. Außerdem muss drittens das anatomische Wissen der Zeitgenossen und die Fähigkeit, dieses anzuwenden, miteinbezogen werden. Gewisse Eigenheiten können dem möglichen Unwissen des Urhebers oder den Grenzen des Mediums geschuldet sein; trotzdem können diese zur Generierung oder Steigerung eines Affektes beitragen. Die erste Graphik, die untersucht werden soll, stammt von Barthel Beham und zeigt vier Totenschädel, die vor einer Stufe oder einer Schwelle16 gestapelt wurden, auf der ein nackter Knabe liegt (Abb. 3). Die in starker Untersicht gezeigte kindliche Figur hat die Augen geschlossen, zu seiner Rechten steht eine ihn überragende, beinahe abgelaufene Sanduhr, was Horst Janson zu der Annahme führt, dass es sich um einen toten Putto handelt.17 Dieses Memento Mori, das im Spannungsfeld von kindlicher Jugend und Totenschädeln entsteht, besitzt eine lange Darstellungstradition.18 Direkt über dem Knaben und unmittelbar am oberen Bildrand gibt Beham im zweiten Zustand des Blattes seinem Werk einen Titel: »MORS · OMNIA · AEQVAT« (Der Tod macht Alles gleich).19 Drei Krania (Schädel ohne Unterkiefer) stehen unmittelbar vor der stufenartigen Erhöhung auf ihrer verbleibenden Zahnreihe, zwischen ihnen liegt je ein großer Arm- oder Beinknochen, während der vierte Schädel pyramidal so auf den beiden rechten positioniert ist, dass der Betrachter ihn von unten erblicken kann. Sabine Peinelt vermutet, dass es sich bei den vier Schädeln um nur ein einziges Exemplar handelt, das der Künstler aus vier unterschiedlichen Ansichten präsentiert, um sein Wissen und Können unter Beweis zu stellen. Als

15 Siehe dazu den Holzschnitt Verschiedene Ansichten von Schädeln aus Andreas Vesalius’ De humani corporis fabrica libri septem, Basel 1555, Staatsbib. Bamberg, Inv. Anat. f. 2–d. 16 Horst Janson sieht hierin die Schwelle zu einem Ossuarium. Siehe dazu Janson, Horst W.: The Putto with the Death’s Head, in: Art Bulletin 19 (1937), 3, S. 439. 17 Vgl. Janson 1937 (wie Anm. 16), S. 439. Im Hinblick auf den toten Knaben ist sich Janson anzuschließen, allerdings handelt es sich in Behams Werk nicht um einen Putto. 18 Das Motiv existiert bereits auf einer Bronzemünze aus Ephesos (um 223 n. Chr.) und begegnet uns erneut 1458 beim Medallieur Boldù in Padua. Beham ist der erste Künstler nördlich der Alpen, der sich dieses Thema aneignet. Siehe dazu Goddard, Stephen H.: Child with Four Skulls, in: The World in Miniature. Engravings by the German Little Masters (Ausst.-Kat. Kansas, University, 04.09.–23.10.1988 [u.a.]). Hrsg. von dems. Kansas 1988, S. 156–159, hier S. 157. 19 Frederick Weber führt diesen Ausdruck auf Claudians Raptus Proserpinae, Buch 2, Vers 302, zurück. Siehe dazu: Weber, Frederick Parkes: Aspects of Death and Correlated Aspects of Life in Art, Epigram and Poetry. New York 1918, S. 126.

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3  Barthel Beham, Der Knabe mit vier Schädeln, 1528–1530, Kupferstich, 53 × 77 mm, Coburg, Kunstsammlung der Veste Coburg.

Anhaltspunkt dient ihr vor allem die sich gleichende Abfolge der Zähne. 20 Anhand der Zähne lassen sich jedoch nur zwei der Schädel vergleichen – die anderen verwehren perspektivisch den Blick auf das Dentale – und gerade bei diesen besteht eine Differenz.21 Außerdem lassen sich die beiden linken Schädel anhand der Kranznaht eindeutig unterscheiden. Auch Christiane Wiebel verweist darauf, dass dies Studien nach realen Schädeln sind.22 Die Detailtreue und vor allem die Anordnung in Positionen, in denen man in summa den gesamten Schädel erfassen kann, deuten auf ein Studium nach der Natur hin, auch wenn deutlich wird, dass es sich nicht um eine rein naturalistische Wiedergabe handelt. Der rechte untere Schädel ist dem Betrachter zugewandt und besitzt einen zornigen Ausdruck. Dieser entsteht durch das starke Herabsenken der oberen Orbitae-Ränder und der daraus resultierenden Glabellafalte, der sogenannten Zornesfalte. Jedoch ist es paradox, in diesem Zusammenhang von einer Falte zu sprechen, da der nackte Knochen gemeint ist. Der Vergleich mit dem realen Schädel (Abb. 2, links) belegt, dass die Formen, die Beham darstellt, nicht oder nicht in diesem Ausmaß auftreten können. Außerdem verbindet er verschiedene Ansichten, indem er einerseits das Kranium beinahe im Profil zeigt, den für den Affekt verantwortlichen Teil des »Gesichtes« andererseits ins Dreiviertelprofil

20 Siehe hierzu Peinelt, Sabine: Schlafendes Kleinkind mit vier Totenköpfen, in: Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgrafik der Beham-Brüder. Hrsg. von Jürgen Müller u. Thomas Schauerte. Emsdetten 2011, S. 242–243, hier S. 242. 21 Von der Sutura intermaxillaris aus fehlen beim rechten Schädel drei bis vier Zähne auf der rechten Seite, beim oberen Schädel sind aber nur zwei leere Wurzelkanäle zu sehen. Beim unteren Exemplar folgen der Lücke zwei Zähne, beim oberen folgen der Leerstelle vier. 22 Siehe hierzu Wiebel, Christiane: Vanitas – Die Eitelkeit alles Irdischen, in: Die dunkle Seite der Renaissance – Bizar­rerien im Kontext der italienischen Druckgraphik des 16. Jahrhunderts (Ausst.-Kat. Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, 25.06.–13.09.2015), Coburg 2015, S. 68–79, hier S. 49. 2015.

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rückt. Mittels dieser »Physiognomie des Todes« wird der Betrachter in dessen Bann gezogen und gleichzeitig kann der Künstler seine anatomischen Kenntnisse unter Beweis stellen. Deshalb war Beham bereit, zwei Ansichten zu amalgamieren. Das mimetische Konzept entfaltet seine Valenz, weil die jeweiligen Abweichungen so gering sind, dass sie erst im Vergleich mit einem realen Schädel deutlich werden. Vor dem wissenschaftlichen Hintergrund der aufkommenden Anatomietraktate, wie etwa von Andreas Vesalius, nehmen im Laufe des 16. Jahrhunderts die mimetischen Qualitäten der Darstellungen des menschlichen Schädels zu. Dies kann insbesondere an einzelnen Bildelementen und ihrer Detailtreue beobachtet werden. Gerade im italienischen Raum war es zunehmend gebräuchlich, Schädel, Skelette und Leichen orientiert an realen menschlichen Überresten zu gestalten. Giorgio Vasari berichtet dies über Michelangelo, Rosso Fiorentino und Baccio Bandinelli.23 Möglicherweise war derartiges auch der Fall bei deren Zeitgenosse Giovanni Battista Franco, dessen Osteologische Studien24 ein aufrecht stehendes Skelett, einige Beinknochen und eine Reihe von verschiedenen Schädelansichten zeigen. Christiane Wiebel beschreibt, »dass es sich hier um den rechten oberen Teil eines wesentlich größer geplanten druckgraphischen Werkes […] handelt«25, bei welchem der das Blatt umgebende Fries weitere Schädel beinhaltete. Eine Kopie dieses TotenkopfFrieses hat sich dank Niccolò Nelli erhalten (Abb. 4) und befindet sich heute im Kupferstichkabinett in Berlin. Auch wenn für Nellis Kopie von einem Übertragungsprozess auszugehen ist, bei dem Details geringfügig verändert, ergänzt oder vernachlässigt werden, so kann man doch den großen Realitätsanspruch erkennen, den Franco bei seinem Entwurf im Sinn hatte. Als gebürtiger Venezianer hatte er vermutlich Kontakt zu Andreas Vesalius, der zwischen 1537 und 1542 in Venedig an seinem Werk De humani corporis fabrica arbeitete.26 Außerdem profitierte Franco von der Nähe zur Universität von Padua, die zu dieser Zeit als das medizinische Zentrum galt, und unterhielt Beziehungen zu dem Mediziner Bartholomäus Eustachius, der an einem anatomischen Werk arbeitete, welches ebenfalls mit Graphiken versehen werden sollte.27 Trotz dieser anatomischen Vorkenntnisse fallen im Vergleich mit tatsächlichen Schädeln einige Merkmale ins Auge, die zum einen auf eine dezidiert künstlerische Inszenierung hinweisen und zum anderen – teilweise als Folge dieser Inszenierung – gewisse Affektlagen bedienen, obwohl es sich bei diesem Blatt ursprünglich um eine anatomische Studie handelte. Es fällt auf, dass neben Krania und Unterkiefern auch ganze Schädel dargestellt werden. Nach dem Verfall des Gewebes, der Sehnen und der Haut ist eine Verbindung zwischen

23 Siehe hierzu Wiebel 2015 (wie Anm. 22), S. 64, Anm. 74 u. 75. 24 Giovanni Battista Franco: Osteologische Studien, Kupferstich, 459 × 320 mm, Wien, Albertina, Inv.-Nr. DG2014–161. 25 Wiebel 2015 (wie Anm. 22), S. 40. Zur Rekonstruktion des gesamten Motives S. 39–41. 26 Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica, libri septem [lat. Venedig 1538–1542]. Nachdr. d. Ausg. Basel 1543. Hrsg. von Culture et civilisation. Brüssel 1964. 27 Siehe dazu Wiebel 2015 (wie Anm. 22), S. 41.

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4  Niccolò Nelli nach Giovanni Battista Franco, Verschiedene Schädel, 1563, Kupferstich, 119 × 337 mm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett.

Unterkiefer und Kranium jedoch nicht mehr möglich,28 die Komposition insbesondere des Schädels links unten wird also zu Gunsten der Kieferrelationen und deren Unteransicht zusammengehalten. Ähnlich verhält es sich bei dem Schädel rechts oben, der eine Kieferöffnung darstellt (vgl. Abb. 2, rechts). Bemerkenswert ist auch der mittig en face gezeigte Schädel, bei dem die obere Zahnreihe nicht mit der unteren schließt, was die natürliche Kieferstellung wäre (vgl. Abb. 1, rechts) und wie es unmittelbar daneben im Profil wiedergegeben wird. Es wird aber auch keine geöffnete Kieferdarstellung präsentiert, sondern ein parallel in die Horizontale erhobenes Kranium über dem Unterkiefer. Im Zusammenspiel mit den herabgesenkten Orbita-Rändern erweckt dieses Gebilde einen leidenden Eindruck. Ein denkbares reales Arrangement zeigt der Schädel im Profil nach links (vgl. Abb. 1, links). Dort sind jedoch insbesondere die Orbitae stark zur Seite gezogen, sodass die Augenhöhle beinahe dieselbe Form wie in der Frontalsicht aufweist. Hier haben wir es mit einem ähnlichen Phänomen wie in Behams Werk zu tun: der Betrachter sollte trotz mimetischer Wiedergabe affiziert werden. Durch die artifizielle Zusammensetzung der Schädelteile und der daraus resultierenden Physiognomie evoziert der Stich den Eindruck von Wehklagen und Agonie, Eigenschaften, mit denen das Sterben und der Tod verbunden sind. Diese werden hier durch ein Werk vermittelt, welches vordergründig aus künstlerischem Interesse an Anatomie gefertigt wurde. Das Ineinandergreifen von zwei Ansichten weist auch Alexander Mairs Skelett von 1605 auf (Abb. 5). Das Blatt gehört zu einer Reihe von sechs Memento Mori-Drucken, die neben einem erzbischöflichen Wappen einen Sterbenden, einen Gesegneten, einen Mann im Fegefeuer und einen Verdammten in der Hölle zeigen. Die Forschungsliteratur gibt keinen Aufschluss über diese Bilderserie oder das zugehörige Skelett. Druckgraphische Verzeich28 Die Anordnung der menschlichen Schädel in den Abbildungen 1 und 2 waren nur durch präzises Arrangement auf Kissen und Haltern möglich.

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5  Alexander Mair, Skelett, aus einer Memento ­Mori-Reihe, um 1605, Kupferstich, 86 × 65 mm, ­London, British Museum.

nisse führen lediglich die Eckdaten der einzelnen Werke an und verweisen auf Alexander Mair als ausführenden Künstler.29 Alle sechs Sinnbilder sind in einen verzierten ovalen Rahmen gebettet, über und unter welchem je eine Kartusche mit gebogenem Schriftzug angebracht ist. Beim Skelett ist darin »Per peccatum Mors. Rom. 5.« in der oberen und »In omnes homines Mors pertransijt Rom. 5.« in der unteren zu lesen.30 Das Monogramm Mairs umklammert dabei den unteren Schriftzug, indem in der Kartusche die beiden Majuskel eingefügt wurden, links das A, rechts das M.31 Im Oval ist ein Skelett bis zu den untersten Rippenbögen zu sehen, Halswirbel und Schädel nehmen die obere Hälfte ein. Letzterer wirkt verkürzt, da das Skelett seinen Kopf in den Nacken gelegt hat, was eine leichte Untersicht zur Folge hat. Daher erscheinen ober­e 29 Mair produzierte seine Holzschnitte meist nach selbst gefertigten Zeichnungen an. Siehe hierzu: ­Andresen, Andreas (Hrsg.): Der Deutsche Peintre-Graveur oder die deutschen Maler als Kupferstecher, Bd. III. Leipzig 1872, S. 345. Wir können diese Praxis unter Vorbehalt auch auf seine Kupferstichproduktion übertragen. Möglicherweise liegt dem Blatt also kein anonymer Künstler zugrunde, sondern dieser ist mit Mair selbst zu identifizieren. 30 Röm. 5,12: »per peccatum mors et ita in omnes homines mors pertransiit«, übersetzt: »der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen«. Alle deutschen Bibelstellen zitiert nach der Übersetzung Martin Luthers, Deutsche Bibelgesellschaft 1984; alle lateinischen Stellen zitiert nach der Biblia Sacra Vulgata Editio quinta von Robert Weber und Roger Gryson, Deutsche Bibelgesellschaft 1983. 31 Passavant irrt, wenn er unter un squelette »Pièce non signée« angibt, vgl. Passavant, Johann David (Hrsg.): Le Peintre-Graveur. Bd. II, New York 1966, S. 250. So wird bei Nagler sogar explizit darauf verwiesen, dass sich nur in einem Kupferstich von Mair ein Monogramm befindet, nämlich bei besagtem Skelett. Siehe dazu: Nagler, Georg Kaspar (Hrsg.): Die Monogrammisten und diejenigen bekannten und unbekannten Künstler aller Schulen, Bd. I. München 1858, S. 403.

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und untere Zahnreihe als aufsteigende(r) Parabel bzw. Bogen, welche(r) eine Assoziation zu herabgezogenen Mundwinkeln bewirkt. Hinzu kommt die Verschmelzung zweier Dreiviertelporträts – von links und von rechts gesehen – und eine Wiedergabe der Kieferstellung, die in keiner Relation zum echten Gebiss steht. Dadurch wird der Unterkiefer viel breiter gespreizt, was den klagenden Eindruck verstärkt. Die Schläfenbeine und das Scheitelbein scheinen sich hinter dem fazialen Teil des Schädels aufzublähen, der gesamte Schädel bekommt dadurch ein viel zu großes Volumen. Den letzten ausdrucksstarken Aspekt liefern erneut die Formen der Orbitae. Diese besitzen einen herabgesenkten Knochenschild und werden zusätzlich durch die Untersicht in wehklagende, leere Höhlen verwandelt. Dazu wird das Licht-Schatten-Spiel ausgenutzt und überspitzt, denn der Lichteinfall müsste eigentlich die Augenhöhlen erhellen (vgl. Abb. 1, Mitte). Bekannter als Mairs Stich ist die ihm zu Grunde liegende Vorlage von Raphael Sadeler.32 Auf dieser hält das nahezu zahnlose Skelett seinen Schädel aufrecht im Dreivier­telprofil, Ober- und Unterkiefer klaffen weit auseinander, während Brustkorb und Arme kleiner und gedrungener wirken. Der Schädel nimmt mehr als die Hälfte des Ovals ein. Insgesamt wirkt das Blatt gemäßigt, neutral, denn da die Orbitae natürlich wiedergegeben sind, ist kein gerichteter Affekt des Skelettes auszumachen. Es könnte sich sowohl um einen »Ruf« oder »Schrei« handeln, als auch um das bloße Herabsinken des Unterkiefers im Zuge des Verfallsprozesses. Durch die leichte Positionsänderung des Schädels und damit einhergehende Detailverschiebungen schaffte es Mair, einen gänzlich anderen Affekt zu generieren, als es im Werk von Sadeler der Fall ist. Außerdem war es ihm auf diese Weise möglich, dem Tod analog zu den drei anderen letzten Dingen der Stichfolge einen »Blick« nach oben zu verleihen. Es sei an dieser Stelle der Verweis auf die Affekte im Gesicht des sterbenden Laokoon erlaubt, die im 16. Jahrhundert zur typischen Formel der Visualisierung von Schmerz avancierten und hier in seitenverkehrter Spiegelung im Antlitz des Todes wiederkehren. Eine auffällige Eigenart einiger Totenschädeldarstellungen, die bisher noch keine Behandlung in der einschlägigen Literatur erfahren hat, sind wellenförmige Orbitae. Viel stärker als die zum »finsteren Blick« verengten Augenhöhlen in Behams Blatt zeigen mehrere Werke eine durchweg wellenförmige, wulstige Knochenstruktur, die sich bisweilen auf das gesamte Skelett überträgt, wie bei einem Stich des Meisters IAM von Zwolle aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.33 Von Einzelknochen und Rippen über phantasievoll­e osteologische Konstrukte, die über eine anatomisch unkorrekte Wiedergabe des Knochengerüstes hinwegtäuschen, bis hin zu einzelnen Gesichtsknochen vermittelt der tote Körper den Eindruck, als stehe er unter dem Einfluss kleinster Schwingungen, die seine knöcher32 Raphael Sadeler I.: Die Vier letzten Dinge, Tod, nach 1601–1604, Kupferstich, 169 × 110 mm, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 42034D. Zur Abhängigkeit beider Stiche siehe: Göttler, ­Christine: Last Things. Art and the Religious Imagination in the Age of Reform. Turnhout 2010 (Proteus 2), S. 213. 33 Meister IAM von Zwolle: Memento Mori, 1460–1490, Kupferstich, 330 × 227 mm, Wien, Albertina, Inv.Nr. DG1928–514.

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6  Matthäus Greuter, Memento Mori, 1579–1638, Kupferstich, 242 × 171 mm, Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg.

ne Oberfläche vibrieren lassen. Dies überträgt sich auch auf die weiteren drei Schädel im Blatt, bei denen die nasale Öffnung, die Augenhöhlen und Unterkiefer, sogar die Schädelform selbst davon betroffen sind. Um fehlende anatomische Kenntnisse des Künstlers kann es sich dabei nicht handeln, denn die Foramen (kleine Öffnungen) für den Nervus mentalis und Nervus infraorbitalis sowie die Knochennähte sind bereits deutlich erkennbar (vgl. dazu Abb. 1, Mitte).34 Ebenso ist der Kanal für den Sehnerv (Fissura orbitalis superior) dargestellt, wenn auch zentral und geometrisierend kreisrund; bei einem der Schädel schlängelt sich sogar eine Natter durch das kleine Loch. Auch auf einem Bildnis Papst Hadrians VI. von Francesco Ubertini und im Vergänglichkeitsbuch des Wilhelm Werner von Zimmern stößt man auf derart geformte Augenhöhlen.35 Die gleiche Beobachtung lässt sich auf einem Gemälde Kaspar Gisigs machen: Hier schießt Freund Hein einen todbringenden Pfeil auf den im Totenbett liegenden Melchio­r 34 Zur anatomischen Terminologie hier und im Folgenden siehe: Schünke, Michael [u.a.] (Hrsg.): Prome­ theus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Stuttgart / New York 22009, S. 12–14 u. über das Sachverzeichnis. 35 Francesco Ubertini: Bildnis des Papstes Hadrian VI. als Priester, 1525, Öl auf Pappelholz, 98,2 × 73,3 cm, Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Inv.-Nr. GK 484; Wilhelm Werner von Zimmern: Vergänglichkeitsbuch, 1540er Jahre, Rottweil, Schloß Herrenzimmern (heute Bösingen), Stuttgart. Württembergische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen A III 54, fol. 64r.

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Imfeld.36 In Zusammenhang mit dem Bild wird in der Literatur ebenfalls vom grinsenden Tod gesprochen.37 Was jedoch in Bezug auf das Thema der Physiognomie auffällt, ist die derart starke Ausprägung der wellenförmigen Augenhöhlen, dass man den architektonischen Formbegriff des Dreipass verwenden möchte. Am auffälligsten tritt dieses Phänomen in einem Kupferstich von Matthäus Greuter in Erscheinung (Abb. 6). Mit einem unmissverständlichen »MEMENTO MORI« führt Greuter im oberen Bereich des Blattes in die Thematik ein. Die Mahnung, des irdischen Endes zu gedenken, wird in einem lateinischen Zusatz am unteren Rand verdeutlicht: »Vigilate & orate quia nescitis diem nec horam«38. Das Blatt zeigt en face einen Schädel, dessen Kontur gänzlich von der eines natürlichen Schädels abweicht (vgl. Abb. 1, rechts). Die Schädeldeck­e wirkt wie aufgebläht, das Scheitelbein quillt hinter dem Stirnbein an allen Seiten hervor, während die Kranznähte fehlen oder lediglich angedeutet werden. Anstelle derer führt eine vertikale Linie über die gesamte Schädelmitte bis zum Nasenbein und wird von einer zweiten, konkav-konvexen Linie auf dem Stirnbein gekreuzt. Unmittelbar daran setzen wulstartig die Knochenschilde der Orbitae an, selbst Jochbeinfortsätze und Kiefergelenke sind wolkenartig gestaltet, ihre Konturen kräuseln sich in alle Richtungen. Darunter schließen sich die zwar schmalen, aber deutlich in die Horizontale gewinkelten Kieferknochen an, die unten in einer markanten Kinnkerbe zusammenlaufen. Das lückenhafte Gebiss hat im Oberkiefer lediglich Platz für fünf bis sechs Zähne, von denen nur drei vorhanden sind. Im ebenso verfallenen Unterkiefer sind fünf von ehemals elf Zähnen erhalten. Das auffälligste Merkmal sind die massiven Wülste, welche um die gesamten Orbitae mäandern und oberhalb des Nasenbeins zu einer tiefen Glabellafalte führen. Ungewöhnlic­h sind auch die kreisrunden Durchbrüche im Keilbein, der hinteren Wand der Augenhöhle. Durch die wellenförmige Außenbegrenzung werden diese Löcher zusätzlich beschnitten, sodass sie den Eindruck eines wehleidigen und traurigen Ausdrucks des Totenkopfes erwecken. Dazu trägt auch das wulstartige Knochengewebe bei, das mehr organisch denn knöchern wirkt, es verleiht dem Schädel etwas Lebendiges. Welchen Effekt dabei die kleinen Öffnungen im Keilbein haben, wird in der direkten Gegenüberstellung mit einem Stich von Giovanni Orlandi deutlich,39 der wahrscheinlich die nahezu identische, spiegelverkehrte Vorlage zu Greuters Blatt bildet.40 Im oberen Bereich des Blattes paraphrasiert er

36 Kaspar Gisig (zugeschrieben): Porträt auf dem Totenbett von Melchior Imfeld, 1622, Öl auf Leinwand, 94 × 102 cm, Sarnen, Frauenkloster St. Andreas. 37 Siehe Horat 1986 (Wie in Anm. 1), S. 182. 38 Übersetzt: »Wachet und betet, denn ihr kennt nicht den Tag noch die Stunde.« Greuter bezieht sich auf Math. 24, 42: »vigilate ergo quia nescitis qua hora Dominus vester venturus sit«, übersetzt: »wachet; denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt«. 39 Giovanni Orlandi, Memento Mori, 1602, Kupferstich, 250 × 190 mm, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Inv.-Nr. Graph. A1. 1916. 40 Für Orlandi als Bildinventor spricht die Tatsache, dass Greuter erst 1603 in Rom eintrifft. Mit Orlandis Druck im Jahr 1602 gäbe es so einen terminus post quem, um die Entstehung von Greuters Blatt näher einzugrenzen. Zu Greuters Aufenthaltsorten siehe: Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. LXI, S. 503.

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mit »QVIS EST HOMO QVI VIVET ET NON VIDEBIT MORTEM« Psalm 88, 49,41 während er am unteren Blattrand neben »MEMENTO MORI« seine Autorenschaft für das Jahr 1602 in Rom bezeugt. In Orlandis Entwurf weist der Schädel einen Schneidezahn und zwei Backenzähne mehr auf, ansonsten gleichen sich beide Blätter bis auf die Tatsache, dass der Italiener auf die kreisrunden Aussparungen verzichtete. Seine Darstellung wirkt lebloser, dabei trotzdem nicht mimetischer, da die markanten Knochenwülste auch hier das Motiv dominieren. Man könnte meinen, dass die gewellte Form der Augenhöhlen von verfaulter, über die Brauenwülste unförmig herabhängender Haut her rührt. Dafür würde auch die fehlende Sichtbarkeit der Knochennähte sprechen. Es sind jedoch keine Übergänge oder Grenzen zwischen dem deutlich knöchernen Oberkiefer und der übrigen Schädeloberfläche zu erkennen, die Skelettierung muss also bereits abgeschlossen, die Haut verfallen sein. Die gesamte Erscheinung ist allerdings so unwirklich, dass hier von einer absichtlichen Deformierung und Vermischung von Totem und Lebendigem aus künstlerischen Beweggründen ausgegangen werden muss. Die genaue Intention Greuters ist nicht in Erfahrung zu bringen, jedoch gibt das Blatt in Coburg einen handschriftlichen Hinweis hierzu, den ein ehemaliger Besitzer auf die Schädelstirn geschrieben hat: Christi todt ist meines todtes todt Denn er darumb gestorben, das ich Leben soll, warumb sollte denn der Nun nicht leben, für welchen der gestorben, der das Leben selbst ist?42

Es handelte sich daher um ein Blatt der Kontemplation, welches dem ehemaligen Besitzer bei der Betrachtung und Auseinandersetzung mit dem Dargestellten zum Spiegel und zur Projektionsfläche eschatologischer Vorstellungen und verschiedener Seinsebenen zwischen Leben und Tod wurde. So findet der zeitgenössische Betrachter in einem Werk, welches er mit einer Inschrift ergänzte, alles vereint: Das eigene Leben und die eigene Sterblichkeit, die Erinnerung an den Tod, die Notwendigkeit des leiblichen Todes für das ewige Leben und den Verweis auf den Opfertod Christi. Diese verschiedenen Bezüge von Leben und Tod werden in der polyvalenten Erscheinung des Schädels deutlich. Abschließend soll in diesem Kontext eine Holzskulptur aus dem Bayerischen Nationalmuseum hinsichtlich der künstlerischen Gestaltung ihrer Augenhöhlen betrachtet werden. Dort befindet sich ein hölzernes Skelett, welches einen Löwen reitet. Das 1513 aus Lindenholz geschnitzte Kunstwerk wird unter Vorbehalt Thomas Teichmann zugeschrieben und stammt ursprünglich aus dem Chor der Abteikirche in Heilsbronn, wo es Teil einer Standuhr war. Der Tod schlug hier »mit einem Knochen die Stunden, sein rechter Arm war mit

41 Vulgata, Psalm 88, 49: »Quis est vir qui vivat et non videat mortem salvans animam suam de manu inferi semper.« Die Deutsche Entsprechung bei Luther unter Psalm 89, 49: »Wo ist jemand, der da lebt und den Tod nicht sähe? der seine Seele errette aus des Todes Hand?«. 42 Siehe hierzu: Wiebel 2015 (wie Anm. 22), S. 71.

Keine Miene zum bösen Spiel?

7  Thomas Teichmann (?), Tod auf Löwe reitend, 1513, Lindenholz bemalt, 143,5 × 61 × 108,5 cm, München, Bayerisches Nationalmuseum.

Hilfe eines eisernen Gelenks beweglich, auch sein Unterkiefer und die Zunge des Löwen waren mit dem Mechanismus verbunden, der sich im hohlen Rücken des Todes verbarg.«43 Die Figur wurde also in einem performativen Akt verlebendigt und vergegenwärtigte visuell die unerbittlich verrinnende Zeit. Dem ohnehin symbolisch als Tod konnotierten Gerippe kam so eine zweite Ebene der Todesreflexion zu. Dass es dem Schnitzer tatsächlich auf einen lebendigen Eindruck ankam, lässt nicht nur der bewegliche Kiefer erahnen, sondern verrät weiterhin ein Blick in das »Gesicht« (Abb. 7). Über das helle Holz wird direkt eine Verbindung zum Material des Knochens hergestellt, unterstützend kommt das Einhalten von Form und Proportion hinzu. Die Illusion wird lediglich durch Bearbeitungsspuren am Material und das Fehlen kleinerer Details wie der Foramen oder der Knochennähte getrübt. Das auffälligste Stilmittel sind jedoch die mandelförmigen Vertiefungen, die der Schnitzer in das fiktive Keilbein eingelassen hat. Anders als bei dem Stich von Greuter wird hier direkt auf eine abstrahierte Form lebendiger Augen angespielt. Durch die Positionierung der ellipsenförmigen Vertiefungen, dem Herabsenken ihrer äußeren Winkel und einer leichten Rotation der Gesamtform bekommt der Tod einen wehmütig 43 Bayerisches Nationalmuseum: Der Tod auf dem Löwen als Uhrenkasten, Inv.-Nr. MA 3450, http://www. bayerisches-nationalmuseum.de/index.php?id=547 (29.03.2016).

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leidenden, vor allem aber menschlichen Ausdruck. Der Betrachter kann sich mit der anthro­ pomorphen Figuration des Todes identifizieren, welche in ihrer Funktion als Stundenläuter zu einer Rezeptionsfigur wird, die nicht nur drohend der Sünde Sold einfordert, sondern über ihr Mienenspiel Anteil am menschlichen Schicksal nimmt, das sie selbst einst teilte und jede Stunde mit ihrem Schlag näher bringt. Über das tradierte Memento MoriMotiv wird dem Rezipienten der Todesfigur die eigene Sterblichkeit bewusst, gleichzeitig erkennt er aber auch menschliche Regungen im alles überwältigenden Tod.

Synthese von Anatomiestudium und Affektlagen Obwohl dem Skelettierten sämtliche Bedingungen für ein Spiel der Mimik fehlen, fanden Künstler ästhetische Mittel, dem Totenschädel durch subtile Veränderungen verschiedene Ausdrücke zu verleihen. Gemeint sind dabei nicht die sehr wohl unterstützende Gesti­k und Perspektive, sondern, so wollte der Beitrag zeigen, auch gestalterische Transformationen der Schädelknochen und deren Anordnung. Bei den hier nicht näher behandelten, aber von Alexander Goette untersuchten Holbeinschen Totentanzdarstellungen sind die extremen Deformationen der Schädelform wie auch bei den hier untersuchten Bildwerken Ausdruck künstlerischer Ideenfindung und nicht künstlerisches Unwissen oder Unvermögen der Stecher und Schneider. Diese Umgestaltungen sind Teil einer Transformation, die stereotype Gesichtszüge und Eigenschaften des lebendigen Gesichts auf den skelettierten Schädel überträgt. Dabei besitzen nicht nur die Schädel eigene Affekte, sondern affizieren auch den Betrachter. Es ist davon auszugehen, dass durch diese künstlerischen Stilmittel bestimmte Eindrücke evoziert werden sollten; offen bleibt, ob die Wirkung beim zeitgenössischen Betrachter die gleiche gewesen ist, wie sie beim heutigen Rezipienten hervorgerufen wird. Dies war nicht unbedingt davon abhängig, ob die gezeigte Ansicht der Natur entsprach, sondern ob das gezeigte Konzept formal und inhaltlich für den Betrachter funktionierte. Wich der Darstellungsmodus zu sehr von bekannten Typen ab, wurde das Objekt mehrdeutig. »Im öffentlichen Bewusstsein des 16. und 17. Jahrhunderts wurden die Affekte […] beargwöhnt, soweit sie nicht als rhetorisch eingesetzte Mittler zum jenseitigen Heil in Anspruch genommen werden konnten.«44 Der Bildkontext und die fast immer vorhandene Bildinschrift intendieren diesen Heilsgedanken, jedoch stellt sich grundsätzlich die Frage, ob diese Skelettphysiognomien überhaupt als Affekte gedeutet wurden. »In manchen Fällen versetzen uns die Bilder in Unruhe. [...] Und gerade hier entsteht der Affekt: zwischen einer Wahrnehmung, die uns beunruhigt, und einer Handlung, die wir zögern auszuführen.«45 Im Fall der Skelette ist das Beunruhigende zuerst das unge44 Hoff, Michael: Die Kultur der Affekte: Ein historischer Abriss. In: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Hrsg. von Antje Krause-Wahl [u.a.]. Bielefeld 2006, S. 20–31, hier S. 23. 45 Bal, Mieke: Einleitung: Affekt als kulturelle Kraft, in: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Hrsg. von Antje Krause-Wahl [u.a.]. Bielefeld 2006, S. 7–19, hier S. 9.

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wohnte, paradoxe Bild des lebenden Toten (-schädels), das unwirklich vitale Konstrukt aus Knochen. Das zögernde Handeln ist in diesem Fall ein Symptom der Unsicherheit, denn resultierend aus der Erfahrung des Ungewohnten, wissen die Rezipienten nicht, wie sie sich verhalten sollen. Obwohl die Semantik und die Symbolik des Totenschädelmotivs kulturell bestimmt wurden und damit auf einem tradierten Wissen basieren, evoziert jede neue, physiognomisch innovative Konzeption, die mit den Betrachtern in einen Dialog tritt, eine Verunsicherung. Auch wenn den Zeitgenossen der religiöse Kontext bewusst war, in dem diese Werke gelesen werden mussten, wird für einen kurzen Moment der Betrachtung jene affektive Reaktion beim Rezipienten ausgelöst, wie sie bereits bei den Darstellungen der Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten im 16. Jahrhundert zu finden ist: die reflexartige Abkehr und furchtsame Flucht vor dem Grauen. Der Fokus liegt dabei stets auf der Physiognomie, denn »die Vorstellung vom Gesicht als Ausdruck des menschlichen Wesens [ist] ein Grundmotiv in der Geschichte der Kunst.« 46 Dies scheint der Grund zu sein, weshalb die starren Formen des skelettierten Schädels transformiert und fehlende Organe dadurch kompensiert wurden, um noch im Tod das Humane zu betonen. Denn nur durch die Evidenz des Fazialen vermag die abstrakte Erscheinung des Todes eine Reaktion hervorzurufen, die über den bloßen Schrecken hinausgeht. Sie kann sich in ein Lachen – den »Zwischenraum zwischen den Kiefern«47 – verwandeln, Neugierde wecken oder verstärkend zu einer ungebändigten Todesangst anwachsen.

Literaturverzeichnis Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. 90 Bde. Hrsg. von Andreas ­B eyer u. Günter Meißner. Leipzig / München 1983–2016. Bal, Mieke: Einleitung: Affekt als kulturelle Kraft, in: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Hrsg. von Antje Krause-Wahl [u.a.]. Bielefeld 2006, S. 7–19. Bayerisches Nationalmuseum: Der Tod auf dem Löwen als Uhrenkasten, Inv.-Nr. MA 3450. http://www.­ bayerisches-nationalmuseum.de/index.php?id=547 (21.09.2016). Andresen, Andreas (Hrsg.): Der Deutsche Peintre-Graveur oder die deutschen Maler als Kupferstecher. 5 Bde. Leipzig 1872. Nagler, Georg Kaspar (Hrsg.): Die Monogrammisten und diejenigen bekannten und unbekannten Künstler aller Schulen. 5 Bde. München 1858. Goddard, Stephen H.: Child with Four Skulls, in: The World in Miniature. Engravings by the German Little Masters (Ausst.-Kat. Kansas, University, 04.09.–23.10.1988 [u.a.]). Hrsg. von dems. Kansas 1988, S. 156– 159. Goette, Alexander: Holbeins Totentanz und seine Vorbilder. Straßburg 1897. Göttler, Christine: Last Things. Art and the Religious Imagination in the Age of Reform. Turnhout 2010 ­(Proteus 2). Handwörterbuch der Griechischen Sprache. Hrsg. von Wilhelm Pape. 4 Bände. Braunschweig 31880. Hoff, Michael: Die Kultur der Affekte: Ein historischer Abriss, in: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Pro­ zesse. Hrsg. von Antje Krause-Wahl [u.a.]. Bielefeld 2006, S. 20–31.

46 Bal 2006 (wie Anm. 45), S. 12. 47 Goette 1897 (wie in Anm. 1), S. 203.

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Horat, Heinz (Hrsg.): Renaissancemalerei in Luzern 1560–1650. Aus Anlaß d. Jubiläums 600 Jahre Schlacht bei Sempach, 600 Jahre Stadt und Land Luzern (Ausst.-Kat. Ettiswil, Schloss Wyher, 06.06–12.10.1986). Luzern 1986. Janson, Horst W.: The Putto with the Death’s Head, in: Art Bulletin 19 (1937), 3, S. 423–449. Passavant, Johann David (Hrsg.): Le Peintre-Graveur. 3 Bde. New York 1966. Peinelt, Sabine: Schlafendes Kleinkind mit vier Totenköpfen, in: Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgrafik der Beham-Brüder. Hrsg. von Jürgen Müller u. Thomas ­Schauerte. Emsdetten 2011, S. 242–243. Plutarch: Von der herrlichsten, löblichsten, namhafftsten Historien, Leben […] der herrlichsten Männer, so under den Römern und Griechen gegrünet haben. Hrsg. von Wilhelm Xylander u. Jonas Löchinger. Frankfurt am Main 1579. Regener, Susanne: Physiognomie des Todes. Über Totenabbildungen, in: Bilder vom Tod. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Dorle Dracklé. Hamburg 2001 (Interethnische Beziehungen und Kulturwandel. Ethnologische Beiträge zu soziokultureller Dynamik 44), S. 49–66. Schünke, Michael [u.a.] (Hrsg.): Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Stuttgart / New York 22009. Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica, libri septem [lat. Venedig 1538–1542]. Nachdr. d. Ausg. Basel 1543. Hrsg. von Culture et civilisation. Brüssel 1964. Vives, Juan Luis: Von Gebührlichem Thun und lassen eines Christlichen Ehemanns [lat. Oxford/Brügge 1528]. Übers. von Christophorus Bruno. Basel 1544. Weber, Frederick Parkes: Aspects of Death and Correlated Aspects of Life in Art, Epigram and Poetry. New York 1918. Wiebel, Christiane: Vanitas – Die Eitelkeit alles Irdischen, in: Die dunkle Seite der Renaissance – Bizarrerien im Kontext der italienischen Druckgraphik des 16. Jahrhunderts (Ausst.-Kat. Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, 25.06.–13.09.2015). Coburg 2015, S. 68–79. Zimmern, Wilhelm Werner von: Totentanz (dt. 1540er Jahre, Rottweil). Hrsg. von Christian Kiening. Konstanz [u.a.] 2004 (Bibliotheca Suevica 9).

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AFFEC TUS EXPRIMIT Die Rolle der Affekte im Schaffen von Pietro Testa

Die folgenden Überlegungen widmen sich einer Analyse der Werke Pietro Testas und sollen in enger Verzahnung mit der Lektüre seiner kunsttheoretischen Schriften die zentrale Rolle der Affekte im Schaffen des Künstlers anhand von konkreten Beispielen herausarbeiten. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, der Frage nachzugehen, ob es im Rom der Jahre 1630 bis 1650, in dem Künstler wie Testa und Poussin aktiv waren, bereits Tendenzen einer systematischen Visualisierung der Affekte vor den Schriften Charles Le Bruns gab, der sich in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts in Paris um eine solche Theoretisierung bemühte.

Der Theoretiker Pietro Testa Der 1612 in Lucca in der Toskana geborene Pietro Testa übersiedelte um 1628 nach Rom, wo er seine künstlerische Ausbildung erfuhr und bald Aufnahme in die Kreise herausragender Gelehrter und Sammler wie Vincenzo Giustiniani und Cassiano dal Pozzo fand. 1 Der frühe Biograph Joachim von Sandrart berichtet, wie er den verarmten Künstler beim Zeichnen nach antiken Kunstdenkmälern auf dem Kapitol und Forum Romanum entdeckte und ihn anschließend mit dem Marchese Giustiniani bekanntmachte.2 Im Auftrag von Giustiniani und dal Pozzo zeichnete Testa unzählige figurative Kunstwerke der Antike nach, wodurch er nicht nur große Sicherheit im Zeichnen erwarb, sondern auch sein visuelles Gedächtnis trainierte und eine bemerkenswerte Kenntnis antiker Ikonographie erlangte, die ihm bei der Erschaffung seiner späteren Inventionen nützlich war. 1 Testas Frühzeit in Rom wurde im 17.  Jahrhundert von den Biographen des Künstlers beschrieben: ­Sandrart, Joachim von: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste. Nürnberg 1675. II, Buch 2, S. 202. Baldinucci, Filippo: Cominciamento e progresso dell’arte dell’intagliare in rame colle vite di molti de’ piú eccellenti maestri della stessa professioni (1686). Hrsg. von Evelina Borea, Turin 2013, S. 193–207. Baldinucci, Filippo: Notizie dei professori del disegno da Cimabue in qua. Hrsg. von F. Ranalli, Bd. V, Florenz 1847, S. 310–321. Hess, Jacob (Hrsg.): Die Künstlerbiographien von Giovanni Battista ­Passeri. Leipzig / Wien 1934, S. 182–188. 2 Sandrart 1675 (wie Anm. 1), S. 202.

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Schon während des Nachzeichnens antiker Schlachtensarkophage konnte Testa verschiedene Arten der Darstellung von Affekten beobachten.3 Gleichzeitig waren der Kontak­t mit dal Pozzo und dessen Bibliothek, in der grundlegende Texte für den frühneuzeitlichen Diskurs zum Thema der Affekte aufbewahrt waren, darunter auch Albertis Malereitraktat, sowie seine Freundschaft mit Poussin Ansporn für den Künstler, ein gelehrter Maler zu werden, der seine Werke stets mit theoretischen Überzeugungen unterlegte. Testa strebte danach, für Sammler eine ernstzunehmende Alternative zu den Bamboccianti, den Malern von Wirtshausszenen und Bettlern, darzustellen, die seiner Auffassung einer hohen Kunst widersprachen. Das heute in Düsseldorf aufbewahrte Notizbuch des Künstlers zeigt neben den Kunstwerken, die in weiterer Folge analysiert werden, dass Testa der Darstellung von Affekten eine zentrale Rolle in seinem Schaffen zuschrieb. Nach dem vermutlichen Selbstmord des Künstlers im März 1650 scheinen die noch nicht zu einem Buch gebundenen Notizblätter über den Neffen Giovanni Cesare Testa in den Besitz des Kardinals Camillo Massimo gelangt sein. Dort dürfte deren Bindung erfolgt sein, bevor das Buch im Inventar des Nachlasses von Pier Leone Ghezzi aufscheint, aus dem es Lambert Krahe, der erste Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie, 1756 erwarb.4 Aus den Notizen geht hervor, dass Testa plante, einen Malereitraktat zu schreiben, der aus drei Büchern bestehen sollte. In der Ambition, einen solchen Traktat zu schreiben, stand Testa nicht alleine da, sondern konnte auf eine Tradition schreibender Künstler zurückblicken, der Leon Battista Alberti, Leonardo, Lomazzo, Romano Alberti und Federico Zuccar­i angehörten, die sich, so wie Testa, um die soziale Aufwertung der Malerei in Abgrenzung zum reinen Handwerk bemühten. Testas Aufzeichnungen wurden 1984 von Elizabeth Cropper publiziert.5 Im Notizbuch finden sich einige Stellen, die für das Verständnis von Testas Zugang zu den Affekten aus philosophischer und künstlerischer Sicht relevant sind. Auf Folio 11 rect­o ist zu lesen: »Che siano veramente affetti vedi Aristotile nell’Etica, libro 2, carte 92«.6 Testa bezieht sich auf die 1550 in Florenz erschienene Übersetzung der Ethik des Aristoteles von Bernardo Segni, in der an betreffender Stelle zu lesen ist, was Aristoteles zu den Affekten zählte: »Affetti chiamo io Concupiscenza, Ira, Animosità, Paura, Ardire, Invidia, Allegrezza, Amore, Odio, Desiderio, Emulatione, & Misericordia: & finalmente tutte quelle pertu-

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Man vergleiche die in Windsor Castle (Royal Library, inv. RL 8710) aufbewahrte Nachzeichnung nach der Medici-Vase (Florenz, Galleria degli Uffizi), oder den möglicherweise auf einer Nachzeichnung basierenden Stich von Matthäus Greuter nach einem Schlachtenrelief, das noch heute über einer Tür im Palazzo Giustiniani in Rom eingemauert ist. Dazu Fusconi, Giulia: Kat. I.2 u. Kat. I.5, in: Pietro Testa e la nemica fortuna. Un artista filosofo tra Lucca e Roma. Hrsg. von ders. Rom 2014, S. 154 u.159. Zur frühen Provenienz des Notizbuches vgl. Albl, Stefan u. Angiola Canevari: Kat. V.7, in: Fusconi 2014 (wie Anm. 3), S. 299–301, hierzu S. 300. Die in der Folge zitierten Stellen aus Testas Notizbuch wurden vom Autor zu Zwecken der leichteren Lesbarkeit geringfügig der gängigen italienischen Schreibweise angepasst. Cropper, Elizabeth: The Ideal of Painting. Pietro Testa’s Düsseldorf Notebook. Princeton / New Jersey 1984. Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 220.

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bationi, alle quali conseguita piacere, ò dolore«.7 Nicht minder von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist der Passus auf Folio 15 recto: »E a questo vi vol grandissima aprensiva e retentiva, perché mai si vedono le cose animate che per transito, come chi tira pesi, chi l’alsa, chi teme, chi si rallegra, e tutti gl’affetti in somma; e l’altra Pittura né rende perito. Qui vedi Zenofonte, quanto dice Socrate per gl’affetti. Le ragioni poi per i lumi, per i movimenti, per i colori, le degradationi et altre molte cose«.8 An dieser Stelle erfahren wir aus der Feder des Künstlers, dass die Affekte, so wie alle belebten Dinge, transitorisch sind und ihre gelungene Darstellung die Malerei auszeichnet und gelehrt macht. An dieser Aussage lässt sich der hohe Stellenwert, den der Künstler den Affekten zuschrieb, ablesen und es kann mit großer Wahrscheinlichkeit vermutet werden, dass Testa wusste, dass bereits Alberti die Schwierigkeit hervorgehoben hatte, die Bewegungen der Seele (Affekte) und die Bewegungen des Körpers in einen überzeugenden, situationsgebundenen Einklang zu brin­ gen.9 Neben Alberti zählte auch Lomazzo zu den von Testa gelesenen Autoren, der die Auffassung vertrat, dass zu den primären Aufgaben der Malerei zähle, dem Betrachter zahlreiche Affekte und Leidenschaften der Seele anschaulich vor Augen zu führen.10 Auf Xenophon und die Äußerungen des Sokrates zu den Affekten soll an späterer Stelle eingegangen werden. Zunächst interessiert eine weitere Aussage des Künstlers: Testa scheint nahezulegen, dass eine Reflexion über die Affekte so zentral ist, dass sie im Schaffensprozess des Künstlers die Wahl der Belichtung, der Bewegungen der Figuren, der Farben und Abstufungen mitbestimmt (»Le ragioni poi per i lumi, i movimenti, per i colori, le degradationi et altre molte cose«).11 Es ist bedauerlich, dass dieser Punkt nicht weiter ausgeführt wurde. So kann der Zusammenhang von Affekten und Farb- und Formgebung nur durch die Analyse der erhaltenen Werke erfolgen. Von Bedeutung ist jedenfalls, dass sie für die Konzeption einer gelehrten Malerei (Testa sprach von pittura ideale), wie es in der Hierarchie der Gattungen etwa die Historie sein konnte, eine wesentliche Rolle spielten.12 Nach der ursprünglichen Absicht des Künstlers wäre der geplante Traktat in drei Bücher unterteilt gewesen. Das erste Buch hätte mit didaktischem Anspruch von der Nachahmung der Natur und Meister der Renaissance und Zeitgenossen gehandelt, »mostrando come si dà principio a questa imitazione e come sia necessario tenersi forte in non dar in maniere,

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Segni, Bernardo: L’Ethica d’Aristotile. Florenz 1550, S. 92. Dies war, wie Cropper gezeigt hat, jene von Test­a verwendete Ausgabe der Ethik des Aristoteles. Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 220. Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 235. Alberti, Leon Battista: Della Pittura. Über die Malkunst. Hrsg. von Oskar Bätschmann u. Sandra ­Gian­freda. Darmstadt 2002, S. 133–135. Lomazzo, Giovanni Paolo: Scritti sulle arti. Hrsg. von Roberto Paolo Ciardi. Florenz 1973, Buch I, Kap. 1, S. 25. Vgl. Pommier, Èdouard: Il volto di Lomazzo, in: Il volto e gli affetti. Fisiognomica ed espressione nelle arti del Rinascimento. Hrsg. von Alessandro Pontremoli. Florenz 2003, S. 61–81, hierzu S. 62–63. Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 235 Der Titel des geplanten Malereitraktats des Künstlers lautet: Trattato di pittura ideale. Für eine Demonstration, wie sich die Reflexion über die Affekte auf die Farbgebung in seinen Gemälden ausgewirkt haben könnte, vgl. am Beispiel des Kindermordes (Rom, Galleria Spada), Albl, Stefan: Teoria e pratica nella pittura di Pietro Testa, in: Fusconi 2014 (wie Anm. 3), S. 65–79, hierzu S. 66–67.

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le quali sì facilmente corrompono i giovani, e come i maestri se non mostrano il fine, impediscono i voli ai più belli spiriti, tirandoli per li accidenti in pazzi labirinti«. Das zweite Buch wäre den mathematischen und wissenschaftlichen Regeln gewidmet gewesen, die der Malerei zugrunde liegen und sie in den Rang einer Wissenschaft erheben. Das dritte Buch hätte abschließend die Vorstellung der Perfektion in der Malerei behandelt. Die pittura ­ideale trägt nicht nur Zeugnis des Studiums nach der Natur und nach anderen Künstlern, sowie der Mathematik und Perspektive, sondern verlangt vom Künstler auch eine umfassende Kenntnis der Geschichte und Literatur. Der Künstler müsse: »in una parola esser filosofo«.13 Die Notizen Pietro Testas, die sich mit ihren Gedankensprüngen und ihrer geringen Systematik heute unvollständig präsentieren, zeigen neben einer Vielzahl von Beobachtungen zu unterschiedlichen künstlerischen und philosophischen Problemen leider nur die Grundstruktur eines geplanten und nie realisierten Vorhabens. Dies ändert jedoch nichts an ihrem hohen Quellenwert und der Tatsache, dass die Schriften auf bestimmte Diskurse aufmerksam machen, die in den Jahren 1630–1650 in Künstlerkreisen Roms relevant waren. In dieser Hinsicht erscheint die Information auf Folio 17 verso, dass ein Kapitel eigens den Affekten gewidmet werden hätte sollen (»Si farà bellissimi trattati degli affetti e delle sconvenevolezze dei goffi intorno a quelli«), insofern von besonderem Interesse, als dass darin offenbar auch Beispiele der pittori goffi, der ungeschickten Maler, genannt werden sollten, die in der Darstellung der Affekte scheiterten. Es überrascht nicht, dass Künstler und Kunstverständige in ihrem Urteil über Kunstwerke die Darstellung der Affekte beobachteten und kritisierten. Doch ist die Frage zu stellen, ob in einer Zeit, in der es von künstlerischer Seite noch keine systematisch festgeschriebene Abhandlung zu den Affekten gab, nicht bereits von einer Gruppe von Malern, darunter Poussin und Testa, ausgegangen werden kann, die in Rom in engem Austausch mit Philosophen und Gelehrten an einer praktisch angewandten Codifizierung der Affekte arbeitete, die zur ersten Systematisierung durch Charles Le Brun führte.14 Dieser hatte 1668 zwei Vorträge an der Pariser Kunstakademie über die Expression des passions gehalten, die von Zeichnungen begleitet wurden, mittels derer er versuchte, menschliche Emotionen systematisch zu visualisie-

13 Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 246. 14 Sybille Ebert-Schifferer hat im Rom der 1630er-Jahre mit Verweisen auf die Musik- und Rhetoriktheorie im dal Pozzo- und Barberini-Kreis und auf die Rolle Domenichinos und Poussins bereits auf Tendenzen zur Standardisierung der Affekte hingewiesen, die möglicherweise sogar schon zuvor bei Guido Reni und Guercino bemerkbar sind. Ebert-Schifferer, Sybille: L’expression contrôlée des passions: le rôle de Poussin dans l’élaboration d’un art civilisateur, in: Poussin et Rome. Hrsg. von Olivier Bonfait [u.a.]. Paris 1996, S. 329–352, 345. In den selben Jahren hielt sich auch der englische Diplomat und Philosoph Sir Kenelm Digby in Rom auf, der 1644 seine Two Treatises publizierte, in denen er Descartes auch in Bezug auf die Affekte antwortete, vgl. Kenelm Digby’s Two Treatises. Hrsg. von Paul S. MacDonald. s.l. 2013, Kap. XXXV (»Of the material instrument of knowledge and passion, of the several effects of passion, of pain and pleasure, and how the vital spirits are sent from the brain into the intended parts of the body without mistaking their way«), S. 376–386.

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ren.15 Le Brun konzentrierte sich in seinen Zeichnungen, die 1678 in die Druckgraphik übertragen wurden, auf das Gesichtsfeld, was als Fortschritt gegenüber Alberti betrachtet werden kann, der im 15. Jahrhundert Malern den Ratschlag erteilte, die Regungen der Seel­e mittels der Glieder zum Ausdruck zu bringen, da die ausschließliche bildliche Vermittlungen der Emotionen durch das Gesicht zu kompliziert sei.16 Le Brun wurde in seinem Bestreben, der Darstellung der Affekte eine theoretische, fast wissenschaftliche Grundlage zu verleihen und somit die Malerei zu nobilitieren, von René Descartes beeinflusst, der 1649 Les Passions de l’ame publizierte und bereits 1637 in seinem Discours de la Méthode den Sitz der Emotionen in der Zirbeldrüse, folglich im Gehirn und nicht im Herzen lokalisierte, wie es der antiken Tradition entsprochen hätte, was wiederum den Künstler dazu inspiriert haben könnte, den Ausdruck der Leidenschaften auf das Gesichtsfeld zu konzentrieren.17 Wichtig für die Ausprägung von Le Bruns Theorie der Affekte war ohne Zweifel der Kontakt mit Poussin, den er zwischen 1642 und 1646 im selben Ambiente in Rom frequentierte, dem auch Pietro Testa angehörte. Letzterer versuchte, wie wir gesehen haben, den Affekten in seinen Schriften eine in der Kunstliteratur bis dato noch nie so ausführlich behandelte Rolle zu widmen, scheiterte jedoch an seinen Ambitionen. Auch aufgrund seines frühen Todes im Jahr 1650, im Alter von 37 Jahren, konnte das Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt werden. Auf Folio 17 verso schreibt Testa, dass er von seinen Freunden ermahnt wurde, er solle mit dem Schreiben aufhören und sich auf das Arbeiten konzentrieren, da er sich sonst in ein aussichtsloses Unterfangen verstricke. In seinem Bestreben, jungen Künstlern mit seinem Traktat eine wertvolle Orientierungshilfe zu geben, ignorierte Testa jedoch die Kommentare seiner Freunde und hielt fest, dass sich junge Künstler oft zu früh auf ihren Mühen ausruhten und in der Folge streitlustig und faul würden, anstatt Weisheit zu erlangen. Ein probates Mittel um saggezza (Weisheit) zu erlangen, bestehe jedoch in einem »filosofare degli affetti«.18 Damit muss ein ständiges Beobachten und Studium des Menschen in all seinen Gefühlslagen gemeint gewesen sein, das der Maler mit dem Ziel, eine pittura ideale zu erschaffen, in seinen Werken umsetzen sollte.

15 Montagu, Jennifer: The Expression of the Passions. The Origins and influence of Charles Le Brun’s Conférence sur l’expression générale et particulière. New Haven / London 1994; Beauvais, Lydia (Hrsg.): Inventaire Général des dessins ècole francaise. Charles Le Brun 1619–1690. 2 Bde. Paris 2000, Bd. II, S. 541–569. 16 Alberti 2002 (wie Anm. 9), S. 130–137. 17 Siehe dazu Kirchner, Thomas: Ausdruckstheorien von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, in: Tronies. Das Gesicht in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Dagmar Hirschfelder u. León Krempel. Berlin 2014, S. 11–24, hierzu S. 15. Cottegnies, Line: Codifying the passions in the Golden Age. A few reflections on Charles Le Brun’s scheme and its influence in France and in England, in: Etudes epistémè 1 (2002), S. 141– 158, hierzu S. 143. 18 »Ma sento qui chi gravemente mi ammonisce io intraprendere cosa del tutto vana, e che mentre mi è dato l’operare mi perdi nel scrivere, essendo che le menti dei giovani per le cose ritrovate e registrate riescono lasse e piene d’oblivione che acute e chiare, perché riposandosi sulle fatiche altrui non mai procurano farsi famigliari della ragione, e più presto servendosi a ogni tempo delle ragioni altrui saranno garuli e ­litigiosi che saggi, il che nella pittura si ottiene dal filosofare degli affetti«, Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 245–246, folio 17v–18r.

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Theorie und Praxis Wenn auch die Aussagen des Künstlers zum Thema der Affekte fragmentarisch erhalten, meistens nur angedeutet und nie systematisch ausgearbeitet sind und sich über verschiedene Stellen seines Notizbuches verstreuen, ja selbst deren Abfassung nur grob in die Jahre­ zwischen ca. 1635 und 1650 datiert werden kann, so lässt sich dennoch anhand von Beispielen demonstrieren, dass es im Schaffen Testas eine Veränderung in seinem Zugang zur Darstellung der Affekte gab. Eine der frühesten Radierungen des Künstlers, die aus stilistischen Gründen zwischen 1630 und 1635 datiert werden kann, zeigt das Martyrium des Heiligen Erasmus (Abb. 1). Testa orientiert sich an dem Altarbild mit demselben Thema, das Nicolas Poussin 1629 für Sankt Peter in Rom geschaffen hat. Vermutlich zählte dieses Gemälde zu den ersten prägenden Eindrücken des jungen Künstlers, der 1628 erstmals in Rom dokumentiert ist. Erasmus liegt bildparallel auf einer Holzbank, während eine Gruppe von dynamisch agierenden Schergen damit beschäftigt ist, seinen Darm aufzurollen. Testa war im Unterschied zu Poussin, dessen Altarbild im Sakralraum Aufstellung fand, in seiner Radierung weniger an strikte Regeln des Decorums gebunden und somit freier, eine noch dramatischere Form des Martyriums zu finden und durch die weit aufgerissenen Münder, die verzerrten Augen und determinierten Handlungen, die Bösartigkeit der Schergen in prononcierter Weise zum Ausdruck zu bringen. Erasmus hat infolge der Schmerzen den Mund zum Schrei geöffnet. Sein Oberkörper sinkt nach unten, mit der rechten Hand fasst er sich in die geöffnete Wunde, der linke Arm verschwindet unter einer Draperie. Die Verteilung von Licht und Schatten, die zum Teil ungeschickte und unklare Anordnung der Figuren und Gegenstände im Raum, sowie die harte, plastisch wirkende Draperie im Vordergrund, samt der Bischofsmitra, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um ein Frühwerk des Künstlers handelt. Das Martyrium des Heiligen Erasmus aus den frühen dreißiger Jahren kann ungeachtet des divergierenden Sujets mit dem 1648 datierten Selbstmord des Cato von Utica verglichen werden (Abb. 2). Kaum eine Gegenüberstellung kann die künstlerische Entwicklung Testa­s in der Druckgraphik besser veranschaulichen. Dargestellt ist Marcus Porcius Cato der ­Jüngere, der sich Julius Caesar nicht unterwerfen wollte und den Freitod wählte, um die eigene Freiheit zu bewahren. Plutarch hatte die letzten Momente im Leben des römischen Feldherrn eindrucksvoll beschrieben.19 Nach einem Abendessen mit seinen Freunden zog sich Cato der Jüngere in sein Schlafgemach zurück und fügte sich nach der Lektüre von Platons Phaidon eine Wunde in der Brust zu, die zunächst von einem Arzt versorgt, kurz darauf jedoch von Cato wieder aufgerissen wurde, der mit bloßen Händen seine Eingeweide zerfetzte. Diese Aktion ist der Auslöser für die Reaktion von Catos Freunden, die sich 19 Plutarch: Vite de gli huomini illustri greci et romani. Nuovamente tradotte per M. Lodovico Domenichi & altri. Et diligentemente confrontate co’ testi Greci per M. Lionardo Ghini, Parte Seconda. Venedig 1637, S. 160.

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1  Pietro Testa, Martyrium des Heiligen Erasmus, 1630/1635, Radierung, 273 × 185 mm, Privatbesitz.

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2  Pietro Testa, Selbstmord des Cato von Utica, 1648, Radierung, 278 × 414 mm, Privatbesitz.

um das Bett ihres Anführers gruppiert haben. Furchtvoll blickt die Figur links auf die geöffnete Bauchwunde, die Figur daneben zerkratzt sich die Wangen, zwei weitere Männer wenden sich mit großer Dynamik von dem grausamen Schauspiel ab. Vier weitere Figuren sind am Bettende zu sehen. Fast lässt sich diese Figurengruppe wie der transitorische Bewegungsablauf einer einzelnen Figur lesen, die zunächst laut aufschreit, sich in der Folge vor Verzweiflung die Haare ausreißt, dann vor lauter Trauer zu Boden sinkt und schließlich niedergeschlagen auf dem Bett zu liegen kommt, wobei die Hände der auf dem Bett liegenden Figur in einer Art und Weise ineinander verschränkt sind, die an John Bulwers Chirologia (1644) erinnert, in der diese Geste als »tristitia animi signo«, als Zeichen der Traurigkeit der Seele, vorgestellt wird.20 Im Selbstmord des Cato von Utica zeigt sich im Vergleich zum frühen Martyrium des Heiligen Erasmus ein wesentlich klarerer Kompositionsaufbau, zu dem nicht nur die überzeugende räumliche Verteilung der Figuren und Gegenstände, sowie ein nach rationalen Prinzipien gestalteter Innenraum gehören, sondern eben auch der variantenreiche Umgang mit den Affekten und der gekonnte Einsatz des Helldunkels. Die einzige Lichtquelle, die im Selbstmord des Cato auszumachen ist, befindet sich in Form einer Flamme im rechten Hintergrund des Raumes. Sie ist verantwortlich für die Beleuchtung der Figuren von rechts 20 Bulwer, John: Chirologia. Or the natural language of the hand. London 1644, S. 151.

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und die Schatten, die besonders ausgeprägt in der Draperie über den Figuren zum Vorschein treten, die in barocker Bewegung und möglicherweise in Einklang mit Catos Handlung die Dramatik des Geschehens erhöhen soll. In künstlerischer Sicht stellt sie mit ihren unzähligen, stark bewegten Faltenbahnen ohne Zweifel ein wesentlich gelungeneres Resultat gegenüber der fast schüchtern in den Vordergrund platzierten Gewandung des Erasmus in der frühen Radierung dar. Ein zentraler Unterschied zwischen den beiden Werken besteht in der Darstellung der Protagonisten. Erasmus manifestiert seine Schmerzen durch seinen zum Schrei geöffneten Mund. Der plastisch modellierte Cato dagegen, scheint in seiner Rolle als stoisches Tugend­ exempel seine Schmerzen zu kontrollieren. Seine Lippen sind fest zusammengepresst, die Augen verschlossen, mit der linken Hand reißt er sich die Eingeweide aus dem Körper, während die andere zur Faust geballt ist. Bereits Cropper hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Proportionen Catos der antiken Skulptur des Laokoon nachempfunden sind, die 1506 in Rom aufgefunden und seither in Kunst und Literatur als herausragendes Werk für die Darstellung der Affekte zelebriert wurde.21 Es muss jedoch bemerkt werden, dass Testa das Pozential des Laokoon in seinem dramatischen Kampf zwischen Leben und Tod zwar erkannte und ihn als Modell für seine Figur Catos verwendete, vom antiken Vorbild jedoch in bestimmten zentralen Punkten abwich. Dazu zählt besonders der bewusste Verzicht auf den bereits von Virgil beschriebenen und mit einem sterbenden Stier verglichenen Aufschrei des trojanischen Priesters, der durch die Skulptur so wirkungsstark vermittelt wird (Abb. 3 und 4).22 Obwohl das antike Vorbild in die Figur Catos eingeschrieben wurde, zeigt sie keinen Aufschrei, sondern durch das Zusammenpressen von Augen und Mund die Kontrolle der Gemütsbewegungen, was nach stoischer Auffassung als tugendhaft gewertet wurde. In dieser Art des Umgangs mit einem antiken Vorbild ähnelt Testa seinem Mentor Poussin, der in vergleichbar reflektierter Weise auf antike Modelle für die Schaffung seiner Mannalese (Paris, Musée du Louvre) zurückgriff, was bereits von Le Brun bei seiner Akademierede 1667 beobachtet wurde.23 Überraschenderweise wurde Testas Kunstgriff von Giovanni Battista Casanova in der Mitte des 18. Jahrhunderts missverstanden. Casanova widmet Testas Radierung eine ausführliche Beschreibung und bemerkt:

21 Cropper, Elizabeth: Pietro Testa 1612–1650. Prints and Drawings. Aldershot 1988, Kat. 116, S. 249–256, hierzu S. 252. 22 Vergil: Aeneis. Hrsg. von Gerhard Fink. Regensburg 2005, II, 220–230: »Laokoon versucht, sich mit den Händen aus der Umklammerung zu befreien, während Geifer und scheußliches Gift seine Priesterbinden besudeln. Zugleich stößt er entsetzliche Schreie aus, zum Himmel dringt ein Brüllen, wie wenn ein verwundeter Stier vom Altar flieht und das Beil, das übel traf, aus dem Nacken schleudert«. 23 Zu Le Bruns Akademierede zu Poussins Mannalese von 1667 vgl. Schlink, Wilhelm: Ein Bild ist kein Tatsachenbericht. Le Bruns Akademierede zu Poussins Mannawunder von 1667. Freiburg im Breisgau 1996. Zur Rolle der Affekte bei Poussin, vgl. auch Schütze, Sebastian: Aristide de Thèbes, Raphaël et Poussin. La répresentation des »affetti« dans les grands tableaux de histoire de Poussin d’années 1620–1630, in: Nicolas Poussin. Hrsg. von Alain Mérot u. Oskar Bätschmann. 2 Bde. Paris 1996, Bd. II, S. 573–601.

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3  Pietro Testa, Selbstmord des Cato von Utica, Detail, 1648, Radierung, 278 × 414 mm, Privatbesitz.

4  Laokoon, Detail, 1. Jh. v. Chr., Marmor, Höhe 184 cm, Vatikan, Vatikanische Museen.

Pietro Testa hat sich daher in seinem sterbenden Cato von der Wahrheit entfernt. Man sieht an ihm einen Wütenden, der seine Eingeweide zerfleischt; sein Schmerz geht in Raserey über; nicht Standhaftigkeit und Entschlossenheit einer erhabenen Seele, nicht das ist es, was der Künstler ausgedrückt hat. Der Zuschauer findet an ihm nicht jenen erlauchten Roemer, den man sich vorgestellt hat; er entspricht dem Begriffe nicht, den sich die Welt von ihm macht. Denn die Handlung des Cato entspringt aus einem ganz andern Grunde als die Raserey ist. Der Künstler stellt ihn vor, als wenn er durch die Qualen des Koerpers aufgebracht waere, den Zustand der Seele aber hat er gaenzlich nicht ausgedrückt. Es ist die Handlung eines Menschen voller Verzweiflung. Man sieht da nicht den Ausdruck des Laokoon, dieses Muster haette der Künstler besser studieren sollen, denn dieses war die Gelegenheit dazu.24

Dass Testa in ganz bewusster Weise in der Modellierung des Gesichts vom antiken Vorbild abwich, mag nicht nur ein Vergleich mit dem zeitnahe entstandenen Gemälde Alexander der Große im Fluss Kydnos (New York, Metropolitan Museum of Art) verdeutlichen, in dem ebenfalls der Laokoon als Vorbild für die Gestalt Alexander des Großen diente, während das Gesicht dezidiert von der antiken Skulptur abweicht, sondern in erster Linie ein Passus im Notizbuch des Künstlers, in dem zu lesen ist, dass es unangebracht wäre, Cato oder Dido mit schmerzvollem Gesichtsausdruck darzustellen: »Catone che per fuggire la tiranide di Cesare s’amazza / il farlo in atto dolente è inproprio, così è di Dido e altre. Questo intorno l’espressione degli affetti«.25 24 Casanova, Giovanni Battista: Theorie der Malerei. Hrsg. von Roland Kanz. München 2008, S. 252. 25 Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 264.

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Der Entscheidung, die Kontrolle des Schmerzes durch Cato zu verbildlichen und somit seinen Mut, die große physische und moralische Stärke, sowie die Entschlossenheit im Augenblick seines Todes zum Ausdruck zu bringen, scheint eine Reflexion über Alter, sozia­ len Stand und Rolle in der Geschichte des Protagonisten vorausgegangen zu sein. Diese Überlegungen scheinen, wie Testa in einer der zuvor zitierten Passagen seines Notizbuches ausgeführt hat, tatsächlich Auswirkungen auf die Bewegungen der Figuren, die Beleuchtung und Formen gehabt zu haben. Der Selbstmord des Cato unterscheidet sich in diesem ganz bewussten Zugang zu den Affekten nicht nur von der frühen Radierung, in der Erasmus schmerzvoll in einer Art und Weise aufschreit, die sich bildlich kaum vom brüllenden Schergen rechts unterscheiden lässt, sondern auch von zeitgleichen Darstellungen des Selbstmordes des Cato, wie jenen Giovanni Battista Langettis, in denen keine Schmerzkontrolle erfolgt.26

Systematik der Affektdarstellung? In seiner sukzessiven Verbesserung bei der Wiedergabe menschlicher Affekte muss Testa eine Reihe von Physiognomie-Studien betrieben und versucht haben, verschiedene Gefühlsregungen graphisch zu erfassen. Leider sind nur wenige Blätter erhalten. Eine Zeichnung in Montpellier zeigt über der Aufschrift »accennato per l’espressione del Dolore, del Pianto« fünf Köpfe unterschiedlichen Geschlechts und Alters, darunter ein alter Mann und eine alte Frau, ein Mann mittleren Alters und ein Kind, die weinen und ihren Schmerz manifestieren (Abb. 5). Die Aufschrift des Künstlers besagt, dass diese Zeichnung entstanden ist, um Schmerz und Tränen darzustellen. Gerne wüsste man, ob es für andere Affekte vergleichbare Zeichnungen gab, dann hätte man im graphischen Corpus und im Denken des Künstlers bereits rund zwei Jahrzehnte vor Le Brun so etwas wie einen systematischen Zugang zur Visualisierung von Affekten aufzeigen können. So allerdings erscheint dieses faszinierende Blatt, in dem auf exemplarische Weise Schmerz und Tränen von Figuren in unterschiedlichen Stadien ihres Lebens dargestellt sind, isoliert. Es besteht der Eindruck, dass eine solche Studie in Zusammenhang mit ausgeführten oder geplanten Werken entstand, denn sehr ähnliche Gefühlsregungen tauchen in den Aposteln in einer Zeichnung der Transfiguration Christi auf (Berlin, Kupferstichkabinett).27 Eine andere Zeichnung in Montpellier veranschaulicht, wie das künstlerische Ausdrucksstudium Hand in Hand mit der Lektüre philosophischer Texte ging. Auf diesem 26 Langetti hat dieses Thema mehrfach aufgegriffen, vgl. Mantovanelli, Marina Stefania: Giovanni Battista Langetti. Il Principe dei Tenebrosi. Soncino (CR) 2011, Kat. 7–8, 13–19, 23, 48, 50, 51. 27 Dagobert Frey hat eine Zeichnung mit demselben Sujet in einer Stuttgarter Privatsammlung publiziert und darauf hingewiesen, dass diese Komposition von François Collignon in die Druckgraphik übertragen wurde. Frey, Dagobert: Eine Zeichnung von Pietro Testa, in: Festschrift Friedrich Gerke. Hrsg. von Josef A. Schmoll. Frankfurt am Main 1962, S. 185–188. Zu den von Collignon nach dem Tod Testas gestochenen Zeichnungen vgl. Rocchi, Martina: Raccolta di diversi disegni e pensieri di Pietro Testa. Ritrovati Doppo la sua Morte. Dati in Luce da Francesco Collignon, in: Fusconi 2014 (wie Anm. 3), S. 380–396.

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5  Pietro Testa, Ausdrucksstudien, Federzeichnung, 161 × 254 mm, Mont­pellier, Musée Fabre.

Blatt befinden sich mehrere Notizen von Testa, darunter »virtù intorno al piacere e al dolore«, sowie am unteren Bildrand eine kleine Skizze einer doppelköpfigen Herme unter der Aufschrift »i due termini, l’uno del piacere e l’altro del dolore«.28 Bereits Cropper hat überzeugend darauf hingewiesen, dass Testa hier von Aristoteles beeinflusst wurde, der in seiner Nikomachischen Ethik (II , 1106 b 36 – 1107 a 5) schreibt: Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte ist die zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und des Mangels; sie ist aber auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Mittlere findet und wählt, während die Fehler in dieser Beziehung darin bestehen, dass das rechte Maß nicht erreicht oder überschritten wird.

Diese aristotelische Überzeugung wurde von Testa sichtlich geteilt, wenn er in seinem Notizbuch schreibt, dass man täglich von einem Extrem ins andere fällt und dass der Mittelweg (strada di mezzo), der die Perfektion enthält, in menschlichen Handlungen viel zu wenig beachtet wird.29 28 Zur Zeichnung Cropper 1988 (wie Anm. 21), S. 253. L’atelier de l’oeuvre. Dessins italiens du Musée Fabre (Ausst.-Kat. Montpellier, Musée Fabre, 16.02.–12.05.2013). Hrsg. von Eric Pagliano. Kortijk 2013, Kat. 46 r°, S. 197. Albl, Stefan u. Angiola Canevari: Pietro Testa e Socrate, in: I Pittori del Dissenso. Giovanni Benedetto Castiglione, Andrea de Leone, Pier Francesco Mola, Pietro Testa, Salvator Rosa. Hrsg. von dems. [u.a.]. Rom 2014, S. 185–201, hierzu S. 191. 29 Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 238.

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6  Pietro Testa, Triumph der Malerei auf dem Parnass, 1648, Radierung, 474 × 722 mm, ­Privatbesitz.

Bezüglich der Extreme menschlicher Leidenschaften, Freude und Schmerz (piacere e dolore) fertigte Testa in den vierziger Jahren eine Zeichnung an, der eine Stelle aus Platons Phaidon (60b–c) zugrunde liegt und welche die letzten Stunden des Sokrates im Gefängnis darstellt.30 Sokrates sitzt auf dem Bett, zieht sein Bein an, reibt sich den Knöchel mit der Hand und sagt: Was für ein eigenes Ding, ihr Männer, ist es doch um das, was die Menschen angenehm nennen, wie wunderlich es sich verhält zu dem, was ihm entgegengesetzt zu sein scheint, dem Unangenehmen, dass nämlich beide zu gleicher Zeit zwar nie in dem Menschen sein wollen, doch aber, wenn einer dem einen nachgeht und es erlangt, er fast immer genötigt ist, auch das andere mitzunehmen, als ob sie zwei an einer Spitze zusammengeknüpft wären; und ich denke, wenn Äsopos dies bemerkt hätte, würde er eine Fabel daraus gemacht haben, dass Gott beide, da sie im Kriege begriffen sind, habe aussöhnen wollen, und weil er dies nicht gekonnt, sie an den Enden zusammengeknüpft habe, und deshalb nun, wenn jemand das eine hat, komme ihm das andere nach. So scheint es nun auch mir gegangen zu sein; weil ich von der Fessel in dem Schenkel vorher Schmerz hatte, so kommt mir nun die angenehme Empfindung hintennach.

Der bildliche Umgang mit Gegensatzpaaren wie Hell und Dunkel oder Freude und Schmerz taucht in weiterer Folge vermehrt in den Werken des Künstlers auf. Eine allegorische Ra30 Zu dieser Zeichnung in der graphischen Sammlung der Staatsgalerie in Stuttgart, vgl. Albl/Canevari 2014 (wie Anm. 28), S. 190. In der eingangs zitierten Stelle, in der Sokrates und Xenophon erwähnt werden, bezieht sich Testa auf die von Xenophon (Memorabilia, III, 10, 6–9) überlieferte Begegnung zwischen Sokrates und dem Bildhauer Kliton, in der über die Notwendigkeit diskutiert wird, dass ein Bildhauer seine Skulpturen nicht nur lebensgetreu darstellen, sondern ihnen auch eine Seele verleihen müsse.

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dierung Testas, die 1648 von Giovanni Giacomo de Rossi verlegt wurde, zeigt den Triumph der pittura ideale auf dem Parnass (Abb. 6). Im Zentrum der Komposition ist die von den drei Grazien gekrönte Personifikation der Malerei dargestellt, die mit ihrem Wagen Invidia mit ihrem Schlangenhaupt überrollt und vor dem Parnass zu stehen kommt. Dort wird sie von Dichtern und den Musen in Empfang genommen. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang sind die drei Inschriften am unteren Bildrand, die von links nach rechts lauten: »AFFECTUS EXPRIMIT, ARCUM MERETUR, PARNASO TRIUMPHAT«. Die Inschriften scheinen nahezulegen, dass sich die Malerei, wenn es ihr gelingt, die Affekte auszudrücken, einen Triumphbogen verdient und schließlich auf dem Parnass über alle Zeiten triumphieren wird. Hier zeigt sich erneut der enorme Stellenwert, den Testa den Affekten in seinem Schaffen beimaß. Am linken Bildrand, unmittelbar über den Worten »AFFECTUS EXPRIMIT«, befinden sich, wie bereits Sutherland Harris, Lord und Cropper festgestellt haben, die beiden Gegensätze der Leidenschaften.31 Vor der Herme des Gottes der Fruchtbarkeit Priapos, einem Mädchen mit einem Blumenkorb und zwei Kindern, lagert ein nacktes Liebespaar, das die schönen und sinnlichen Aspekte des Lebens verkörpert. Direkt darunter befindet sich ein von Schlangen umwundener, schreiender Mann, der, wie zu Recht bemerkt wurde, an der Skulptur des Laokoon inspiriert ist, gleichzeitig aber stark an der von Cesare Ripa in dessen Iconologia gewählten Verbildlichung des Schmerzes (dolore) orientiert ist, die ihrerseits wiederum den Laokoon aufgreift (Abb. 7). Interessant ist nun, dass Testa in der Vorzeichnung für diese Radierung (Frankfurt am Main, Städel Museum) auf die beiden Pferde die Worte weiß (bianco) und schwarz (nero) als Ausdruck des Helldunkels (per il chiaroscuro) geschrieben hat. Das Helldunkel stellt genauso wie Freude und Schmerz Extremwerte dar, die ein Maler mit dem Ziel, eine pittur­a ideale zu erschaffen, beherrschen muss. Freude und Schmerz, Hell und Dunkel sind zentrale Kategorien für das Verständnis der Werke Testas aus den vierziger Jahren, in denen im genus grave, häufig ethisch und moralisch korrekte Verhaltensweisen von großen Figuren der Geschichte, wie Sokrates, Achilles, Eneas, Alexander dem Großen, Cato oder Dido, vorgestellt wurden. Der Kausalzusammenhang von Testas Überlegungen zu den Affekten und der Tugend als Mittelweg aristotelischer Auslegung, sowie zum künstlerischen Einsatz des Helldunkels soll zum Abschluss noch einmal anhand von zwei konkreten Beispielen verdeutlicht werden. Wendet man sich erneut dem Selbstmord des Cato von Utica zu, so wird diese besondere Eigenschaft des Cato, der als Exempel der Tugend seine Leidenschaften sowohl im Leben als auch in den letzten Momenten vor seinem Tod kontrolliert, durch die davon abweichenden Reaktionen der Freunde, die sich um sein Bett versammelt haben und ihre Trauer lautstark ausdrücken, für den Betrachter umso deutlicher hervorgehoben. Einzig der Jüngling an der Tür rechts und die Rückenfigur in der Bildmitte scheinen in der Lage 31 Sutherland-Harris, Ann u. Clara Lord: Pietro Testa and Parnassus, in: The Burlington Magazine, vol. CXII, no. 802 (1970), S. 15–20. Cropper 1988 (wie Anm. 21), Kat. 73, S. 151–155.

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7  Dolore, in: Cesare Ripa, I­ conologia, Siena 1613, S. 161.

zu sein, in diesen schrecklichen Sekunden ihre Gefühle zu kontrollieren, wodurch sie den Überzeugungen Catos am nächsten erscheinen. Die Rückenfigur hat sich nach rechts gewendet und weist mit der linken Hand auf den sterbenden Cato. Im Grunde handelt es sich bei ihr um eine seit dem 15. Jahrhundert in der Malerei so häufig eingesetzten Rücken­ figur, die mit einem Zeigegestus die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Wesentliche der Darstellung lenkt. Auffallend ist nun, dass durch diese Figur die Tugend Catos als exem­ plum nicht nur durch sich selbst und den Verweis auf den Protagonisten ausgedrückt wird, sondern auch durch den Umstand, dass der Mantel der Figur aufgrund der Beleuchtungssituation eine helle und eine dunkle Seite aufweist, wobei die zentrale Bildachse, die eben im Denken Testas die Mitte und Perfektion andeutet, exakt entlang des Übergangs der beiden Extreme Hell und Dunkel verläuft. Eine Malerei, die das Ziel hat, die Perfektion zu erreichen, setzt sich Testa zufolge nicht aus den Strahlen der Sonne zusammen, da diese zu scharf sind (acuto), auch nicht aus reinem Tageslicht, da dieses zu weich ist (molle) und

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ebenso nicht aus dem Licht der Fackel, da dieses zu roh (crudo) ist, sondern findet einen Mittelweg aus allen diesen Extremen, welcher der Malerei Kraft und Milde zugleich verleiht.32 Durch die zentrale Bildachse, die entlang des Mantels der Rückenfigur verläuft, ist die Perfektion als Mitte extremer Affekte (Freude und Schmerz) und Lichtwerte (Hell und Dunkel) klar markiert. Die Rückenfigur verkörpert und unterstreicht somit für den Betrachter die Tugendhaftigkeit Catos. Ein vergleichbares künstlerisches Prozedere findet sich in der etwa 1643/1644 entstandenen Galatea (Lucca, Palazzo Mansi). In diesem Gemälde, das als Hauptwerk der Sammlung Buonvisi in Lucca galt, ist die nackte Galatea auf ihrem von Delphinen gezogenen Wagen zu sehen, während der Zyklop, der sie erfolglos umworben und ihren Geliebten Acis getötet hatte, im Hintergrund vor einer großen Felswand erscheint. Ovid (Metamorphosen, XIII, 865-870) schildert die Gefühlszustände des Zyklopen: Ich werde ihm [Acis] die Eingeweide bei lebendigem Leibe herausziehen, die Glieder zerstückeln und sie über die Felder und über deine Wogen hinstreuen – so mag er sich mit dir vermischen! Denn Liebesglut verzehrt mich, und durch die Kränkung lodert die Flamme nur heftiger, und mir ist, als trüge ich den Aetna mit all seinen Kräften in meiner Brust – und du, Galatea, lässt dich nicht rühren.

In der Folge reißt der Zyklop ein Stück des Felsens heraus und schleudert ihn auf Acis, der dadurch erdrückt wird. Vom Tod des Acis ist in Testas Gemälde nichts zu sehen. Es geht in diesem Bild, das Teil der Sammlung des angehenden Kardinals Girolamo Buonvisi war, nicht um Brutalität und weniger um die Inszenierung der erotischen Sinnlichkeit der Galatea, als um den Ausdruck ihrer Tugend und Beherrschung der Affekte im Unterschied zum unkontrollierten Zyklopen. Schließlich lässt Ovid die Protagonistin an anderer Stelle sagen (Metamorphosen, XIII, 755): »Ihn [Acis] liebte ich; mich aber umwarb der Zyklop unaufhörlich. Und wenn du fragst, ob der Hass auf den Zyklopen oder die Liebe zu Acis mächtiger in mir war, kann ich es nicht sagen: Gleich stark war beides«. Eine solche Stelle mag vor dem Hintergrund des bislang Ausgeführten für Testa und seinen Auftraggeber ausgereicht haben, um Galatea, die zwischen Liebe und Hass die »Mitte hielt«, als Tugendheldin zu inszenieren. Nicht durch Zufall verläuft die zentrale Bildachse, wie im Selbstmord des Cato von Utica, entlang des Bereichs, an dem Hell und Dunkel ineinander übergehen, und der durch den plastisch gestalteten und bildparallel angeordneten Oberarm der Galatea markiert ist. Auf diese Weise zeigt sich, wie in der künstlerischen Produktion Testas das Festhalten an konkreten Ideen bezüglich der Affekte der darzustellenden Protagonisten unmittelbare Auswirkungen auf die formale Gestaltung der Werke hatte. In diesem Beitrag wurde erstmals versucht, die Bedeutung der Affekte im Schaffen ­Pietro Testas systematisch zu untersuchen. Anhand der Analyse der für das Thema relevanten Textstellen aus dem geplanten, jedoch nie realisierten und nur fragmentarisch in Manuskriptform erhaltenen Malereitraktats des Künstlers, ist der Stellenwert, den Testa

32 Cropper 1984 (wie Anm. 5), S. 240.

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den Affekten zuschrieb, aufgezeigt worden. Die künstlerische Bewältigung der menschlichen Emotionen war im Denken Testas ein wesentlicher Gradmesser einer idealen, von theoretischen Prinzipien geleiteten Malerei. In der Qualität der Darstellungsweise dieser zum Ausdruck gebrachten Affekte spiegeln sich nach Auffassung Testas die intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten des Malers. Durch die Untersuchung ausgewählter Werke aus den Jahren 1630 bis 1650, darunter das Martyrium des Heiligen Erasmus, der Selbstmord des Cato von Utica und der Triumph der Galatea wurde in einem zweiten Schritt versucht, Testas kunsttheoretische Positionen zu überprüfen und nach deren Umsetzung in ausgeführten Werken zu befragen. Dabei konnte eine gesteigerte Rationalisierung und Theoretisierung der Affekte im 1648 datierten Selbstmord des Cato von Utica festgestellt werden, die in dieser Form im Martyrium des Heiligen Erasmus aus den frühen dreißiger Jahren noch nicht vorhanden war. Im Weiteren wurde auf die Rolle Poussins verwiesen und Testas Zugang zu den Affekten nicht als Phänomen eines isolierten, von der Gesellschaft sich fern haltenden melancholischen Künstlers behandelt – diese romantische Lesart Testas wurde von Autoren wie Passeri nahegelegt und erstmals von den Wittkowers in deren Buch Born under Saturn (1963) thematisiert – sondern stets in Bezug zu seinem künstlerischen und sozialen Umfeld gesetzt. Die Stellung Testas als Wegbereiter einer systematischen Visualisierung der Affekte, wie sie 1668 von Charles Le Brun vorgestellt wurde, verdient es ausführlicher untersucht zu werden. Die Erforschung des römischen Milieus der vierziger Jahre bietet sich als besonders fruchtbarer Nährboden für die Lösung weiterer Probleme an und sollte der Diskussion um das damals wie heute aktuelle Interesse an den menschlichen Leidenschaften aus philosophischer und künstlerischer Sicht neue Diskursfelder öffnen.

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CHARLES LE BRUNS E XPRESSION DES PASSIONS UND DIE TÊTES D’E XPRESSION IM KONTEX T PHYSIOLOGISCHER BETR ACHTUNGEN

Die kleine Zeichnung von Charles Le Brun (Abb. 1) präsentiert die Auswirkungen der inneren Gefühle Überraschung und Schrecken auf die Gesichtszüge. Verstehen können wir sie durch die Darstellung der gesenkten und zur Nasenwurzel hin zusammengezogenen Augenbrauen, welche die stark geöffneten Oberlider fast berühren, durch den stechenden Blick, die geweiteten Augen, die gehobenen Oberlider bei angespannten Unterlidern, die sich hebenden und absinkenden Augenbrauen und die horizontal verzerrten Lippen. Die aufgeführten Erkennungszeichen passen gut zu der hier abgebildeten Zeichnung des französischen Künstlers Charles Le Brun, der diese um 1667 geschaffen hat. Sie diente als Anschauungsmaterial für eine Vorlesung über die Darstellung von Gefühlen und Leidenschaften, die Le Brun an der Akademie des Beaux Arts de Sculpture et de Peinture in Paris vorgetragen hatte. 1698 wurde diese Zeichnung zusammen mit anderen in einem kleinen Büchlein unter dem Titel Méthode pour apprendre à dessiner les Passions publiziert.1 Die gerade gegebene Erklärung der visuellen Kennzeichen der beiden Emotionen gehört aber nicht zu diesem Buch, sondern stammt aus dem Kapitel Überraschung und Angst des von dem amerikanischen Psychologen Paul Ekman verfassten Buches Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren.2 Wie der britische Neurologe Oliver Sacks formuliert, hat »niemand auf der Welt […] Gesichtsausdrücke so intensiv untersucht wie Paul Ekman«, denn »seit Darwins ›Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren‹ hat es kein derart breit angelegtes und einsichtsreiches Buch mehr zu diesem Thema gegeben.«3 Bei Darwin – auf den auch Ekman verweist – lesen wir im ersten Satz der Einleitung: »Über den körperlichen Ausdruck der Seelenbewegungen sind viele Werke geschrieben worden […] Die berühmten Conférences des Malers Le Brun […] 1 2 3

Le Brun, Charles: Méthode pour apprendre à dessiner les passions proposée dans une conférence sur l’expression générale et particulière. Amsterdam 1702. Nachdruck Hildesheim [u.a.] 1982, Abb. 32. Das Büchlein erschien erstmals 1698 in Amsterdam und Paris. Ekman, Paul: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Heidelberg 22011, S. 207‒237, besonders S. 228‒233. Sacks, Oliver: Klappentext zu Ekman 2011 (wie Anm. 2).

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1  Charles Le Brun, Etonnement avec frayeur – ­mouvement composé, um 1667, Federzeichnung, 130 × 95 mm, Paris, Louvre.

ist das beste mir bekannte ältere Werk; es enthält manche gute Bemerkung.«4 Darwin mag als Gewährsmann dienen, dass Le Brun weit in das 19. Jahrhundert hinein intensiv rezipiert wurde, bevor seine Ansichten als überholt galten. Diese durchaus überraschende Übereinstimmung zwischen der heute aktuellen Forschung zu den äußeren Erkennungszeichen von Emotionen und den Zeichnungen und Gedanken des französischen Malers Charles Le Brun aus dem 17. Jahrhundert möchte ich zum Anlass nehmen, über die Aktua­ lität von Le Brun erneut nachzudenken.

Charles Le Bruns Expression des passions Bei der Definition des Begriffs Leidenschaft paraphrasiert Le Brun zunächst den Philosophen und Stoiker Pierre Charron: »Die Leidenschaft ist eine Bewegung der Seele, die im sensitiven Bereich liegt, was sich darin zeigt, dass sie dem folgt, was die Seele für sich als gut erachtet oder das flieht, das sie als schlecht erkennt«.5 Für seine Grundauffassung noch 4 5

Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Reprint der Ausgabe Stuttgart 1872. Nördlingen 1986, S. 1. »Premièrement, la passion est un mouvement de l’Ame, qui réside en la partie sensitive, lequel se fait pour suivre ce que l’Ame pense lui être bon, ou pour fuir ce qu’elle croit lui être mauvais […].«; zit. nach ­Montagu, Jennifer: The ›Expression of the Passions‹. The origin and influence of Charles Le Brun’s Conférence sur l’expression générale et particulière. New Haven / London 1994, S. 112. Übers. d. Verf. Zu Pierre Charron siehe Montagu 1994, S. 157.

Charles Le Bruns Expression des passions und die Têtes d’expression …

wichtiger wurde die Schrift Les Passions de l’Ame von René Descartes, 1649 in Paris erschienen. 6 Le Brun folgt Descartes’ Physiologie eng und übernimmt von ihm auch die Einteilung der Leidenschaften in einfache und zusammengesetzte. Für die bildende Kunst erachtet Le Brun dann folgende einfache Leidenschaften als besonders wichtig, die er analysiert und darstellt, da ihre Kenntnis und das Wissen über ihr Entstehen als die Voraussetzung für die komplizierteren zusammengesetzten Leidenschaften angesehen werden: Verwunderung (l’admiration), Erstaunen (l’étonnement), Aufmerksamkeit (l’attention) und Achtun­g (l’estime), Verachtung (le mépris), Hass (la haine), Schauder (l’horreur), Entsetzen (le frayeur), einfache Liebe (l’amour simple), Verlangen/Begierde (le désir), Hoffnung (l’espérance), Furcht (la crainte), Kühnheit/Mut (l’hardiesse), Eifersucht (la jalousie), Trauer (la tristesse), geistiger/innerlicher Schmerz (le douleur d’esprit), körperlicher/spitzer Schmerz (le douleur corporelle et aigue), Freude (la joie), Lachen (le ris), Weinen (le pleurer), Wut (la colère), Verzweiflung (le désespoir), Zorn/Raserei (la rage). Um den äußeren Ausdruck der Leidenschaften und Emotionen richtig darzustellen, interessiert sich Le Brun vor allem für die physiologischen Mechanismen der körperlichen Funktionen, welche die Entstehung der Leidenschaften erklären. Zum Sehvorgang bemerkt Descartes, dass es nicht das Auge, sondern die Seele sei, die sieht.7 Der »Hauptsitz der Seele«, über den sie ihre Funktionen ausübt, ist die Zirbeldrüse (glandula pinealis) in der Mitte des Gehirns.8 Da diese im Gehirn nur einmal vorhanden ist, verbinden sich in ihr die zwei Bilder, »die von den beiden Augen kommen […]«.9 Das so erzeugte Bild oder die Einschätzung seiner Bedeutung ruft in der Seele die Leidenschaften hervor. Verteilt werden sie »mittels der Lebensgeister, der Nerven und selbst des Blutes […]«.10 Le Brun folgt Descartes in diesem Modell und bestimmt wie dieser die sichtbare Aktion der Seelenbewegung als eine Bewegung der Muskeln, deren Kontraktionen durch die Nervenenden ausgelöst werden, die wiederum auf die größere oder geringere Menge Lebensgeister (»esprits animaux«) reagieren, welche durch die Erwärmung des Blutes durch den Körper zirkulieren. In Artikel Sieben des ersten Teils der Passions de l’Ame schreibt Descartes unter der Überschrift »Herleitung der Bewegung der Seele, die von außen angestoßen wird und die Veränderungen im Menschen durch diese Bewegung«: 6

Im dem kleinen Traktat, der mit Le Bruns Zeichnungen dann publiziert wurde und wohl auf seine Vorlesungen zurückgeht, lassen sich unterschiedliche Texte nachweisen. Neben Descartes werden hier auch andere Texte zitiert, so die Schrift Les caractères des passions des französischen Arztes Marin Cureu de la Chambres, De l’usage des passions des Philosophen Jean-François Senault, die in der stoischen Tradition stehende Schrift De la sagesse von Pierre Charron. Die Abhängigkeit von den genannten Texten hat ­Montagu 1994 (wie Anm. 5) ausführlich dargelegt. 7 Diese Feststellung trifft Descartes in der Dioptrique; zit. nach Klaus Hammacher in der Einleitung zu Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele. Hrsg. u. übers. von Klaus Hammacher. Hamburg 1996, S. XL. 8 Descartes 1996 (wie Anm. 7), Teil I, Art. 32. Siehe auch die Einleitung von Klaus Hammacher, in: Descarte­s 1996 (wie Anm. 7), S. XXXVII. 9 Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 55 [Teil I, Art. 32]. 10 Siehe dazu Descartes 1996 (wie Anm.  7), Teil I, Art. 32‒40. Siehe auch die Einleitung von Klaus ­Ham­macher in: Descartes 1996 (wie Anm. 7).

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Darüber hinaus weiß man, dass alle Bewegungen der Glieder von den Muskeln abhängen und dass diese Muskeln derart einander entgegengesetzt sind, dass, wenn der eine sich verkürzt, er die Körperpartie, an der er festsitzt, zu sich zieht, wobei zugleich der Muskel, der diesem gegenüberliegt, verlängert wird. […] Schließlich weiß man, dass all diese Bewegungen der Muskeln wie auch aller Sinnesorgane von Nerven abhängen, die wie kleine Fäden oder Röhrchen alle vom Gehirn ausgehen und wie dieses eine Art Luft oder sehr subtilen Wind enthalten, den man die Lebensgeister nennt.11

Das mit Lebensgeistern angefüllte Gehirn schickt diese zu den anderen Teilen des Körpers. Transportiert werden sie zu den Muskeln durch die Nerven, »welche wie kleine Leitungen sind«. Je nach Menge der dort ankommenden Lebensgeister, wird der Muskel sich stärker oder schwächer bewegen, sich zurückziehen oder anschwellen. Die Dynamik der Muskeln macht so die innere Regung der Seele nach außen sichtbar.12 In der bis ins Altertum zurückreichenden Tradition der Beschäftigung von bildenden Künstlern mit den Gemütsbewegungen nimmt Le Brun durch seine konsequente Orientierung an der aktuellen Physiologie und Anatomie seiner Zeit eine besondere Stellung ein. Seine auf den ersten Blick schematischen und trockenen, geradezu dürr zu nennenden Zeichnungen zur Pathognomik, die dem schnell vergänglichen Aufscheinen von Emotionen im Gesicht konträr erscheinen, haben dieser in der Forschung die Einschätzung eingetragen, nicht mehr als ein »lehrbares Typensystem von kodifizierbaren Ausdrucksköpfen« zu sein.13 Die kunsthistorische Forschung hat sich in mehreren grundlegenden

11 Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 13 [Teil 1, Art. 7]. Le Brun fasst Descartes Physiologie in zwei Sätzen zusammen: »Die Aktion ist nichts anderes als die Bewegung einzelner Teile und sie äußert sich oder entsteht durch den Wechsel der Muskeln, die nur Bewegung in den Enden der Nerven haben, die quer durchgehen. Die Nerven wirken nur durch die Lebensgeister, die in den Windungen des Gehirns enthalten sind und das Gehirn erhält seinerseits die Lebensgeister durch das Blut, das fortwährend durch das Herz fließt, das es erwärmt und verdünnt, wobei eine gewisse Substanz erzeugt wird, die es zum Gehirn transportiert und es damit füllt«. (»L’action n’est autre chose que le mouvement de quelque partie, & le mouvement ne se fait que par le changement des muscles que n’ont de mouvement que par l’extrémité des nerfs qui passent au travers, les nerfs n’agissent que par les esprits qui font contenue dans les cavitez du cerveau, & le cerveau ne reçoit les esprits que du sang, qui passe continuellement par le cœur, qui l’échauffe & le raréfie de telle sorte qu’il produit un certain subtil qui le porte au cerveau, & le remplit.«) Le Brun 1982 (wie Anm. 1), S. 3‒4. Übers. d. Verf. 12 Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 19‒21 [Art. 11]. 13 Rohlmann, Michael: Die Kunst zu Füßen des wahren Alexander: Charles Le Bruns Reines de Perse, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 71 (2010), 8, S. 233‒263, besonders S. 240. Le Brun und seine Akademiekollegen waren, wie die Literatur immer wieder deutlich herausstellt, nicht die Ersten, die sich mit Emotionen und deren Darstellung in der bildenden Kunst durch Gesten, Gebärden und Mimik auseinandergesetzt haben. Leonardo da Vinci, dessen Schriften genau in dieser Zeit neu herausgegeben wurden, muss hier genannt werden. Niederländer wie Pieter Bruegel d.Ä., Frans Floris oder Peter Paul Rubens und Italiener wie Lorenzo Bernini haben sich intensiv mit der Darstellung von Gemütsbewegungen beschäftigt. Dennoch greift es zu kurz, die Auseinandersetzung an der französischen Akademie allein darin zu sehen, dass die »vorhandenen Theorien und die bereits entwickelte Praxis vor allem der italienischen Kunsttheorie zusammengefasst und zu einem lehr- und lernbaren Konzept systematisiert« worden sei. So bei Larsson, Lars Olof: Der Maler als Erzähler. Gebärdensprache und Mimik in der französischen Malerei und Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts am Beispiel Charles Le Bruns, in: Lars Olof Larsson. Wege nach Süden. Wege nach Norden. Aufsätze zu Kunst und Architektur. Hrsg. von Adrian von Buttlar [u.a.] Kiel 1998, S. 185–201, S. 190. Larsson sieht die Bemühung der Akademie dann auch in letzter Konsequenz als gescheitert an.

Charles Le Bruns Expression des passions und die Têtes d’expression …

Untersuchungen mit dem Themenkomplex der Darstellung der Leidenschaften bei Le Brun und innerhalb der französischen Akademie und Kunst auseinandergesetzt. Grundlegend zu Le Brun ist die Untersuchung von Jennifer Montagu, die einen Katalog der Zeichnungen und Quellen enthält sowie die kritische Edition der unterschiedlichen Vorlesungsmitschriften.14 Thomas Kirchner verfolgt das Thema weit in das 18. Jahrhundert hinein und interpretiert Le Bruns Anliegen dahingehend, dass dieser »daraus eine für die Kunst anwendbare Lehre zu formen« gesucht habe. Dazu zwänge er den Ausdruck der einzelnen Leidenschaften in »eine Art Baukastensystem der Gesichtsteile«, welches im Horizont des rationalistischen Denkens der Zeit zu sehen sei. In der Zusammensetzung der Baukastenteile sei dann eine Methode gefunden, jeden erdenklichen Ausdruck zusammensetzen zu können und für den Betrachter – der das System auch kenne – herauslesbar zu machen. Der eigentliche Grund für diese Ansicht sei, so Kirchner, in einer idealistischen Konzeptio­n von Kunst zu suchen: Die Kunst habe nicht die Natur nachzuahmen, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte. Nicht an der Wirklichkeit sollte sich der Künstler orientieren, sondern an der Idee einer idealen Natur. Nur mit Hilfe dieser höheren Wahrheit könne er Schönheit erreichen. Die Kenntnis der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten, wie sie sich Le Brun bei den Muskeln des Gesichtes anzueignen versuchte, sollte ihm nicht ermöglichen, die Natur korrekter wiedergeben zu können (wie es Leonardos Anliegen war), sondern sich von ihr zu befreien, um sie – gottähnlich – nachschaffen, verbessern zu können.15

Hubert Damisch, Norman Bryson und Louis Marin sehen dagegen Le Bruns Zeichnungen stärker in der sprachphilosophischen Tradition wie der Grammatik von Porte Royal verankert.16 Er habe ein Alphabet, eine mehr oder weniger künstliche Zeichensprache der Gefühle entwickeln wollen. Diese Deutung scheinen die Blätter, auf denen jeweils zwei frontal gezeichnete und ein im Profil gesehener Kopf abgebildet sind, zu bestätigen, denn sie sind alphabetisch mit A beginnend durchgezählt. Allerdings finden sich hier einige Buchstaben doppelt, andere fehlen (Abb. 2).17 Im Folgenden soll ein anderer Blickwinkel eingenommen werden, der Le Brun stärker in der zeitgenössischen physiologischen Tradition sieht und seine Vorlesung zu den Passio­ nen nicht als abgeschlossenes Modell betrachtet. Bei der Herleitung der Gesichtszüge folgt Le Brun konsequent den aktuellen Hypothesen zur Physiologie, den von Descartes angedachten Veränderungen der Nerven und Muskeln. Seine Zeichnungen stellen dadurch

14 Montagu 1994 (wie Anm. 5). 15 Kirchner, Thomas: L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. Mainz 1991, S. 36. 16 Damisch, Hubert: L’alphabet des masques, in: Nouvelle Revue de Psychoanalyse 21 (1981) S. 123‒131; Bryson, Norman: Word and Image. French Painting of the Ancient Régime. Cambridge 1981, S. 47‒50; Marin, Louis: Grammaire royale du visage, in: A visage découverte (Ausst.-Kat. Paris, Fondation Cartier, 18.6.–04.10.1992). Paris 1992, S. 71‒88. 17 Unter dem Buchstaben C sind zwei Emotionen (attention und éstime) abgebildet. Die Buchstaben G, J, K, U, W, Z fehlen. M kommt zweimal vor (la crainte und la hardiesse); so auch der Buchstabe V (la colère). Siehe zu dieser Gruppe von Zeichnungen Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 144‒145.

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2  Charles Le Brun, M: La Crainte, um 1667, Feder­ zeichnung, 197 × 244 mm, Paris, Louvre.

weder eine Idealisierung der Gesichtszüge noch eine Abstrahierung oder Zeichengrammatik dar. Sie machen die jeweiligen Veränderungen der Nerven sichtbar und sind fest in der Anthropologie der Zeit verankert. Duchenne de Boulogne wird rund zweihundert Jahre später mit Hilfe des elektrischen Stroms dieselben Nerven wie Le Brun in Bewegung setzen, mit eben den bei Le Brun gezeigten Auswirkungen auf den Gesichtsausdruck.18

Von der pathognomischen Studie zum Ausdruckskopf Von der Systematik her betrachtet, gehört die Darstellung zum Thema des Ausdrucks (expression). Der Ausdruck sei, so sagt Le Brun in der Vorlesung, »eine naive und natürlich­e Ähnlichkeit der Dinge, die man repräsentieren muss«. 19 Er ist die Bedingung dafür, dass die Darstellungen auf einem Gemälde überzeugen und dass das lediglich Vorgetäuschte als wahr erscheine. Der Ausdruck ist in der Farbe, in der Zeichnung, in der Wiedergabe der Landschaft, in der Zusammenstellung der Figuren, in deren Haltung und Gestik und eben auch in den von Leidenschaften gekennzeichneten Gesichtszügen erkennbar.20 Da die Seele mit allen Körperteilen verbunden ist, ist der ganze Körper Träger der Leidenschaften.21

18 Boulogne, Duchenne de u. Guillaume Benjamin: Physiologie des mouvements démontrée à l’aide de l’expérimentation électrique et de l’observation clinique et applicable à l’étude des paralysies et des déformations. Paris 1867. 19 »L’expression est une naïve & naturelle ressemblance des choses que l’on a à représenter«, zit. nach ­Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 112‒124, besonders S. 112. Übers. d. Verf. 20 »[…] aujourd’hui j’essayerai de vous faire voir que l’expression est aussi une partie qui marque les mouvemens du Cœur, et qui rend visible les effets de la passion.« Le Brun in Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 112. 21 Le Brun in: Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 115.

Charles Le Bruns Expression des passions und die Têtes d’expression …

Das Gesicht spielt insofern eine besondere Rolle, da der Ausdruck hier überaus differenziert erscheint. Um zu einer klaren Darstellung der Reaktionen auf die Gemütsbewegungen im Gesicht zu gelangen, vernachlässigt Le Brun die Gesichtsfarbe und die Reaktionen in den anderen Körperteilen. Da im Zentrum des Gehirns die Zirbeldrüse sitze, also das Organ, das die Bilder der Leidenschaften empfange, reagieren die Gesichtszüge am unmittelbarsten auf diese. Dabei seien es die Augenbrauen, welche die Natur der inneren Erregung am klarsten ausdrücken.22 Wie die Seele zwei Grundrichtungen zeigt, aus denen die Leidenschaften dann entstünden, so zeigen die Augenbrauen zwei Bewegungen, mit denen alle Leidenschaften ausgedrückt werden könnten. Erheben sich die Augenbrauen zum Gehirn, drücke dies sanfte und gemäßigte Bewegung aus, traurige und leidenschaftliche Gefühle führen zu einer sich senkenden Augenbraue. Einfache Gefühle führen zu einfachen, zusammengesetzte Gefühle zu zusammengesetzten Bewegungen. Mund und Nase folgen dagegen eher den Bewegungen des Herzens.23 Um den Übergang der inneren Erregung zum sichtbaren Ausdruck nicht unerklärt zu lassen, verbindet Le Brun das philosophisch-physiologische Modell mit den anatomischen Studien des Flamen Andreas Vesalius, dessen Ansichten auch im 17. Jahrhundert Gültigkeit besaßen. Andreas Vesalius’ Sieben Bücher über den Bau des menschlichen Körpers, erstmals erschienen 1543, thematisieren Knochen, Muskeln, Blutgefäße, Nerven, Brust- und Bauchorgane und das Gehirn. Vesalius weist im Schädel zwölf Gehirnnerven aus, wovon der siebte, der Gesichtsnerv (nervus facialis), dem Gehirnstamm entspringt und die Bewegungen der Gesichtsmuskeln steuert, womit er auch für die Mimik zuständig ist.24 Le Brun extrahiert zeichnerisch Schädel und Gesichtsnerven aus Vesalius’ Illustrationen. Dann überträgt er dessen Darstellung der Gesichtsnerven in einen im Profil gezeigten Umrisskopf und schließlich in eine Frontalansicht, die nun die Nervenwege und Nervenenden an den Augenbrauen, den Nasenflügeln und den Mundwinkeln genau aufzeigt. In einer weite­ ren Version ergänzt er die Profil- und Frontalansicht um den Blick auf den Schädel und die von der Zirbeldrüse ausgehenden Nervenbahnen (Abb. 3). Die Forschung hat diese Blätter keineswegs übersehen, bespricht sie aber meist im Rahmen von Le Bruns Studien zur Physiognomie.25 Sie sind heute in den Sammlungen des Louvre in das Album mit Le Bruns physiognomischen Studien eingebunden. Claude Nivelon, enger Mitarbeiter in Le Bruns Werkstatt, weist aber ausdrücklich darauf hin, dass Le Brun sie auch für seine pathognomischen Vorlesungen verwendet habe: »Es muss festgehalten werden, dass er zur Darlegung dieser Prinzipien und zu deren Begründung die aus Vesalius genommenen Köpfe zeigt, wie auch für die Themen des Gemüts, welche er untersuchen wollte, um eine solide Grundlage zu geben, für den Ort der Seele in der Drüse, wo sie ihrer Meinung nach sitzt,

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Le Brun in: Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 113. Le Brun nach Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 115. Vesalius, Andreas: De Humani corporis fabrica. Basel 1543, S. 315‒321 u. 605‒621. Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 26‒28. Bekannt sind sechs Kopien, die Le Brun nach Vesalius angefertigt hat (siehe Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Estampes, G.M.6561‒6566).

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3  Charles Le Brun, Kopfdarstellungen nach Vesalius De Humani corporis fabrica, um 1667, Federzeichnung, 237 × 387 mm, Paris, Louvre.

und über die Röhren, die dazu dienen Lebensgeister zu transportieren und in alle Partien des Gesichtes zu verteilen.«26 Ordnet man gedanklich diese Zeichnungen also vor die Darstellungen der Gemütsbewegungen, dann wird deutlich, dass der Kopf der Tranquilité (Abb. 4) die Leerfolie darstellt­, in die die Nerven gedanklich eingetragen werden können, und dass alle weiteren Blätter von der Verwunderung bis hin zur Wut die Veränderung der Nerven und Muskeln um die Augen, an den Nasenflügeln und am Mund zeigen, gemäß den bei Descartes vorgefundenen beziehungsweise von Le Brun selbst formulierten Beschreibungen. Für die Darstellung der Furcht (Abb. 2) ergeben sich daraus folgende Schritte: Zunächst erwähnt Le Brun die innere Bewegung, die durch ein äußeres Bild ausgelöst werde, das Furcht errege. »Die Furcht ist die Besorgnis des kommenden Übels, die dem Übel vorausgeht, von dem wir bedroht werden«.27 Dann beschreibt er die Entstehung der Furcht aus der Hoffnung: »Aber wenn es keinen Anschein gibt, das zu erhalten was man sich wünscht, dann nimmt die Furcht oder die Hoffnungslosigkeit den Platz der Hoffnung ein«. Das sich nun einstellende Gefühl der Unsicherheit zeigt sich »durch die im Bereich der Nase etwas angehobenen Augenbrauen, eine funkelnde Pupille und eine unruhige Bewegung im Zentrum des Auges, in einem geöffneten, nach hinten gezogenen Mund, der an den Seiten weiter geöffnet ist als in der Mitte, wobei die Unterlippe weiter zurückgezogen ist als die Oberlippe«. Dieser Teil der Beschreibung wird auf Blatt M gezeigt, frontal, im Profil nach links und in einem gesteigerten Zustand, nur noch auf Auge, Nase und Mund reduziert rechts außen. Über die

26 Nivelon, Claude: Vie de Charles Le Brun. Bibliothèque Nationale, Paris, MS Fonds français, Nr. 12987, S. 191‒192: »Il est à remarquer que pour l’établissement de ces principes et les bienfonder il y a des têtes tirées de Vésal et sur des sujets naturels qu’il a voulu examiner pour rendre [›raison‹ crossed out] une solide raison du siège de l’âme placé dans la glande selon leur sentiment et les tuyaux qui servent à porter les esprits actifs et les distribuer dans toutes les parties du visage«; zit. nach Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 218. Übers. d. Verf. 27 »La crainte est l’appréhension du mal à venir, laquelle devance les maux dont nous somme menacez«, Le Brun in: Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 114. Übers. d. Verf.

Charles Le Bruns Expression des passions und die Têtes d’expression …

4  Charles Le Brun, La Tranquilité, um 1667, Federzeichnung, 202 × 257 mm, Paris, Louvre.

Veränderung der Gesichtsfarbe informiert dann wiederum der Text. »Die Rötung ist selbst stärker als bei der Liebe und der Begierde, aber sie ist nicht so schön, denn sie behält eine blasse Farbe ebenso wie die Lippen und sie sind auch trockener als bei der Leidenschaft der Liebe, und die Furcht verwandelt sich in Eifersucht«.28 Diese Beschreibung findet eine weitere Ergänzung am Schluss des Vortrags, denn Le Brun weist ausdrücklich darauf hin, dass sich der Ausdruck der Furcht auf alle Körperteile ausbreiten könne.29 Zweifellos ist es ihm wichtig, den Akademiemitgliedern eine bessere Vorgehensweise bei der Darstellung im Sinne deutlicher Lesbarkeit der Gemütsbewegungen an die Hand zu geben. Gleichzeitig zeigt sich in der Annahme einer unmittelbaren physiologischen Reaktion auf äußere Reize eine anthropologisch begründete Auffassung, die auch die Kunstbetrachtung berührt. Le Bruns Zeichnungen bilden diese spontanen Reaktionen in den Gesichtszügen ab, die durch die Bewegungen der Nerven und Muskeln entstehen. Um sie klar erkennbar zu machen, scheint es konsequent, sie von anderen Einflüssen, welche die individuellen Gesichtszüge prägen, zunächst loszulösen, von physiognomischen Gesichtspunkten, von der Charakterlehre, der Temperamentenlehre, dem individuellen Alter und Geschlecht sowie der sozialen Stellung und persönlichen Bildung. Le Bruns Vorlesung gibt keinen Grund zur Annahme, er habe die Darstellung der Gemütsbewegungen auf seine Zeichnungen zur Pathognomik beschränken wollen. Im Gegenteil, er und seine Akademiekollegen wie etwa André Félibien haben sehr intensiv über die Frage der jeweils individuellen Reaktion gemäß Alter, Geschlecht, Charakter, Temperament, Stand und Bil-

28 »Mais s’il n’y a pas d’apparence d’obtenir ce que l’on désire, alors la crainte ou le désespoir prend la place de l’espérance et les mouvemens de la crainte s’expriment parle sourcil un peu élevé du côté du nez, la prunelle étincelante & dans un mouvement inquiet, située dans le milieu de l’œil, la bouche ouverte par les côtés que par le milieu, aient la lèvre de dessous plus retirée que celle de dessus. La rougeur est plus grande même qu’en amour ni au désir, mais elle n’est pas si belle, car elle tient de la couleur livide, les lèvres seront de même, & elles seront aussi plus sèches que dans la passion de l’amour, mais la crainte se change en jalousie.« Le Brun in: Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 119f. Übers. d. Verf. 29 Le Brun in Montagu 1994 (wie Anm. 5), S. 123.

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dung nachgedacht.30 Einige Jahre vor den Akademievorlesungen formuliert Le Brun seine Gedanken zur Hingabe, zur Zähmung und Modifizierung von Emotionen in einem Gemälde, das unter mehreren Gesichtspunkten als Programmbild beschrieben und interpretiert worden ist.31

Charles Le Bruns Les Reines de Perse 1661 malte Charles Le Brun für Ludwig XIV. das Gemälde Les Reines de Perses, die Königinnen Persiens zu Füßen Alexanders des Großen (Abb. 5, Taf. XXV). Bereits 1663 verfasste André Félibien eine außergewöhnlich lange und ausführliche Bildbeschreibung des Gemäldes für den König.32 Die dargestellte Szene trägt sich zu, nachdem die Griechen unter der Führung Alexanders die Perser in der Schlacht bei Issos besiegt haben und der Perser­könig Darius die Flucht ergriffen hat. Alexander und sein Gefährte Hephaistion besuchen noch im Feldlager die Familie des besiegten Königs, die ihnen nun als Kriegsbeute zugefallen ist. Darius’ Familie ist den Griechen bereits im Vorzelt entgegengekommen, um Alexander um Gnade zu bitten. Versehentlich wirft sich Darius’ Mutter Sisygambis nicht Alexander, sondern Hephaistion zu Füßen. Auf die Verwechslung aufmerksam gemacht, umfasst sie nun – die Majestätsbeleidigung korrigierend – den linken Fuß Alexanders. Der Bildbetrachter blickt auf neunzehn Gestalten, die alle einerseits durch den Irrtum der Sisygambis noch verängstigter, andererseits durch die Reaktion Alexanders mit Überraschung, Erstaunen und Freude erfüllt ihre ganze Aufmerksamkeit direkt oder indirekt Alexander zuwenden. Alexander überrascht die Anwesenden dadurch, dass er sich nicht empört und wütend wird, sondern einen Schritt auf die Versammlung zutut, sich zum Einen mit offener Geste und offenem Blick der Gattin des Darius zuwendet und zum Anderen seinen ebenfalls erstaunten Gefährten Hephaistion mit der rechten Hand neben sich zieht und ihm damit eine gleichberechtigte Stellung einräumt.33 30 Vgl. zum Beispiel Le Bruns Akademievorlesungen zu Raffael und Poussin oder André Félibiens Vorwort zu diesen. Siehe etwa Held, Jutta: Französische Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts und der absolute Staat. Le Brun und die ersten acht Vorlesungen an der Königlichen Akademie. Berlin 2001. 31 Die Beiträge von Posner, Kirchner 1991 (wie Anm. 15), Rosenberg, Birkenholz, Michalski, Rohlmann 2010 (wie Anm. 13) legen umfassende Interpretationen vor. Sie klären u.a. die Entstehungs- und Präsentationsgeschichte, analysieren die Parallelsetzung von Ludwig XIV. mit Alexander und Le Bruns mit Apelles und erklären das Gemälde als Teil der Herrscherpanegyrik, als Wunschbild und Konkurrenzbild. Vgl. Posner, Donald: Charles Lebrun’s triumphs of Alexander, in: The Art Bulletin 41 (1959), 3, S. 237‒248; Rosenberg, Raphael: André Félibien et la description de tableaux: naissance d’un genre et professionnalisation d’un discours, in: Revue d’esthétique 31/32 (1997), S. 148‒159; Birkenholz, Alescha-Thomas: Die AlexanderGeschichte von Charles Le Brun. Historische und stilistische Untersuchungen der Werkentwicklung. Frankfurt am Main [u.a.] 2002; Michalski, Sergiusz: Narration, Gebärdensprache und Mimik im Dariuszelt des Charles Le Brun: zu einem Leitbild des »grand goût«, in: Bilderzählungen ‒ Zeitlichkeit im Bild. Hrsg. von Andrea von Hülsen-Esch. Köln [u.a.] 2003, S. 107‒125. Kirchner, Thomas, Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre de Charles Le Brun: tableau-manifeste de l’art français du XVIIe siècle. Paris 2013. 32 Félibien, André: Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre. Peinture du Cabinet de Roy. Paris 1663. 33 Birkenholz 2002 (wie Anm. 31), S. 50.

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5  Charles Le Brun, Les Reines de Perse, 1660/1661, Öl auf Leinwand, 110,5 × 131,5 cm, ­Versailles, ­ hâteau, Salon de Mars. C

Die neunzehn Mitglieder des persischen Hofes zeigen unterschiedliche Reaktionen auf dieses Ereignis. Die Gemütsbewegungen, die sich in ihren Körpern, Gesten und vor allem in ihren Gesichtern zeigen, werden durch das Bild, welches das Erscheinen Alexanders und Hephaistions auf die Seele der Anwesenden macht, so die Ansicht der zeitgenössischen Physiologie, ausgelöst. Den kompositorischen Gegenpart zu Alexander bildet die ägyptische Frau am anderen Ende des Zeltes. Ihre weit geöffneten Augen und der geöffnete Mund sind Ausdruck ihrer Verwunderung und ihres Erstaunens (»admiration et étonnement«), also Zeichen der ersten Gemütsbewegung, die nach Descartes dadurch entsteht, dass ein Objekt Aufmerksamkeit und Interesse auf sich zieht.34 Zwischen ihr und Alexander entspannen sich alle Formen der emotionalen Reaktion auf das Erscheinen der beiden Sieger: Überraschung bei Hephaistion, Trauer und Unterwerfung bei Sisygambis, Schmerz bei Statira, einer der Töchter des Darius, die weinend um Haltung ringt. Auf dem Antlitz von Darius’ Gattin mischen sich Schmerz und Hoffnung. Die 1665 publizierte Bildbeschreibung von Félibien und die modernen kunstwissenschaftlichen Interpretationen des Gemäldes beleuchten dies in allen Einzelheiten.35 Nicht nur die Darstellung der Gemütsbewegungen, auch die Komposition, der kunstvolle Einsatz 34 Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 109‒113 [Teil II, Art. 70‒72]. 35 Siehe die Beiträge in Anm. 31.

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der Farben und des Lichtes, die Anspielungen auf Konkurrenzwerke und Vorbilder sowie die damit verbundene Bildaussage zeigen das hohe künstlerische Reflexionsniveau des Gemäldes von Le Brun, das am Anfang seiner Karriere als einflussreichster Künstler am Hofe Ludwigs XIV. steht.36 Das kann und soll hier nicht alles wiederholt werden. Félibien macht in seinem Text jedoch einen Punkt stark, der bisher in seiner Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung nicht gesehen wurde und der für das zeitgenössische Verständnis der Beziehungen zwischen unmittelbarer Reaktion und Zähmung der Gefühle, die auch als Kultivierung zu verstehen ist, von großer Bedeutung ist. Félibien stellt heraus, dass die anwesenden Personen je nach Stand, Bildung, Verständnis und Temperament unterschiedlich reagieren. Das Erscheinen von Alexander und Hephaistion wecke Verwunderung, löse Angst aus, aktiviere aber auch den Willen, dieser nicht nachzugeben, nicht wegzurennen oder sich zu Boden zu werfen, wie es beispielsweise der Sklave rechts außen tut. Gezeigt sei, so versichert Félibien seinen Lesern, das selbstbestimmte Reagieren und der Versuch der Betroffenen, die erste und spontane Gemütsbewegung zu verändern.37 Hinter der Annahme, dass dies möglich sei, steht eine genaue Lektüre von Descartes. Der Schlüsselbegriff zu diesem Verständnis ist bei Félibien und bei Descartes der Begriff der générosité, der Edelmut. In Le Bruns Gemälde zeige, so Félibien, nur Alexander diese générosité. Charakterisiert wird er hier als ein edelmütiger Herrscher. In den Augen von Darius’ Gattin drückte sich die Hoffnung aus, die sie in die Gnade eines so edelmütigen Herrschers setze: »l’espérance qu’elle à dans la clémence d’un vainqueur si généreux«. 38 Alles an ihm zeige dies: Seine Haltung, sein Handeln und sein Charakter vermitteln Milde (clémence), Mäßigung (modération), Mitgefühl (compassion), Gefasstheit (contenance), Anmut (grâce) und Höflichkeit (civilité). 39 Dies führe dazu, dass er in der Lage sei, sich dahingehend selbst zu besiegen, dass er in einer Situation der Beleidigung und der uneingeschränkten Macht über die Besiegten, Milde walten lasse.40 Um den Begriff der générosité zu verstehen, der bei Le Brun selbst nicht vorkommt, hilft ein Blick auf das Werk Descartes’. Dieser ordnet die générosité zu den besonderen Leidenschaften. Systematisch folgt sie der Verwunderung und der Selbstachtung. Letztere entsteht, wenn »die Achtung in uns durch die Liebe hervorgerufen wird«.41 Dann ist sie nicht mehr allgemeingültig »und kommt allein daher, dass man mehr oder weniger geneigt ist, das Große […] einer Sache zu betrachten aufgrund dessen, dass man mehr oder weniger Affekt dafür empfindet«.42 Bezieht sich dieses Gefühl auf die eigene Person, »d.h. wenn es unser eigenes Verdienst ist, was wir schätzen bzw. ver36 37 38 39 40

Siehe die Beiträge in Anm. 31. Félibien 1663 (wie Anm. 32), S. 12–20. Félibien 1663 (wie Anm. 32), S. 12. Félibien 1663 (wie Anm. 32), besonders S. 5‒15. Bei Félibien heißt es, dass diese Szene zu den großartigsten Taten Alexanders gehöre, auf Grund »de la clémence & de la modération que ce Prince fit paroitre en cette rencontre; car en se surmontant soymesme, il surmonta, non pas des peuples barbares, mais le vainqueur de toutes les nations«, siehe Félibien 1663 (wie Anm. 32), S. 6. 41 Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 237 [Art. 150]. 42 Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 237 [Art. 150].

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achten«, so entsteht die Selbstachtung, die eine Bewegung der Lebensgeister auslöst, die derart offensichtlich ist, dass sie bei denen, die gut von sich denken, »sogar die Miene, die Gesten, das gesamte Verhalten in allen Handlungen verändert«.43 Den einzigen Grund zur Selbstachtung sieht Descartes im Gebrauch des freien Willens und in der »Herrschaft, die wir über unser Wollen haben«.44 Nur für diese vom freien Willen abhängigen Handlungen verdiene man Lob, nur diese »machen uns in gewisser Weise Gott ähnlich, indem er uns zum Herr über uns selbst macht«.45 Der Edelmütige erkennt »dass er nichts hat, das ihm wahrhaftig angehört außer allein der freien Verfügung über sein Wollen«.46 Sowohl dafür, dass er dies gut nutzt, kann er dann gelobt oder getadelt werden als auch dafür, dass er sein Wollen in sich festigt und verstetigt, also zur persönlichen Tugend macht.47 Dominik Perler hat in Descartes’ Denken einen Dualismus aufgezeigt, der besagt, dass Emotionen als Zustände aufzufassen sind, die in Geist und Körper, zwei real verschiedenen Substanzen, verankert sind und daher einen geistigen und einen körperlichen Anteil haben.48 »Obwohl Descartes in der Vorrede zu Les Passions de l’Ame betont, er wolle streng als Naturwissenschaftler vorgehen und moralische Diskussionen vermeiden, hält er ganz am Ende fest, einzig und allein von den Emotionen hänge ›das ganze Gut und Übel dieses Lebens ab‹, und er fordert den Leser auf, sie müssten lernen, ›ihrer Herr zu werden‹«. 49 Descartes ist sich sicher, dass so schwach eine Seele auch sei, sie dennoch, richtig geleitet, eine absolute Macht über ihre Emotionen erlangen könne. 50 Perler weist auch darauf hin, dass Descartes die Annahme vertrete, dass Emotionen auf kognitive Weise kontrolliert werden könnten, ja sogar kontrolliert werden müssten. Die Kontrolle der Emotionen häng­e mit ihrer Repräsentation und deren Modifizierung zusammen, die wiederum von jedem Einzelnen abhängig ist, denn »bei der Reaktion auf das Objekt geht es nicht einfach darum­, wie dieses an sich beschaffen ist, sondern wie es für eine Person ist, auf die es einwirkt, und wie es folglich von dieser Person eingeschätzt wird.«51 Dieses Problem, die Frage der Einschätzung, sehen wir im Zelt des Darius dargestellt. Grundlegend ist dabei die Bewertung jedes einzelnen Anwesenden, ob ein Objekt gut oder schlecht ist. Perler folgend, könnte man hier von einer normativen Eigenschaft (ob gut oder schlecht) sprechen, mit der das jeweilige Objekt repräsentiert wird. Und dies eröffnet die Möglichkeit der Modifizierung des Repräsentierten: »Sobald man einem Objekt in einer Repräsentation nicht nur deskriptive, sondern auch normative Eigenschaften zuschreibt, erfasst man es nicht mehr neutral, sondern je nach den Eigenschaften liebend 43 44 45 46 47 48

Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 239 [Art. 151]. Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 239 [Art. 151]. Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 239 [Art. 153]. Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 241 [Art. 153]. Descartes 1996 (wie Anm. 7), S. 241 [Art. 153]. Perler, Dominik: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270‒1670. Frankfurt am Main 2011, S. 278‒354. 49 Perler 2011 (wie Anm. 48), S. 111. Siehe Descartes 1996 (wie Anm. 7), Teil III, Art. 212. 50 Perler 2011 (wie Anm. 48), S. 284. Siehe Descartes 1996 (wie Anm. 7), Teil I, Art. 50. 51 Perler 2011 (wie Anm. 48), S. 307‒310.

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oder hassend, freudig oder traurig usw.«52 Dass ein und derselbe Gegenstand in unterschiedlichen Personen ganz unterschiedliche Emotionen auslösen kann, liegt nicht nur daran, »dass unterschiedliche Personen je eigene physiologische und anatomische Strukturen haben, sondern auch daran, dass sie einen Gegenstand je nach Kontext und Lebenserfahrung unterschiedlich einschätzen« und dann wohl auch bewerten.53 Auch das sehen wir im Zelt des Darius dargelegt. Daraus lässt sich schließen, dass Gemütsbewegungen nicht bloß Zustände sind, die wir erleiden, sondern auch solche, die wir selbst steuern können.54 Und hier kommt die générosité wieder ins Spiel, die bei Descartes, wie oben gesehen, ebenfalls als eine Emotion aufgefasst wird. Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass eine Steuerung überhaupt möglich wird. Einzig und allein Alexanders Haltung, Gestik und Mimik drücken Edelmut aus. Nur er ist vollkommen Herr seiner Emotionen und im Gebrauch seines freien Willens. Das Gemälde zeigt so nicht nur die unmittelbare Reaktion der Protagonisten auf das Erscheinen der Sieger, sondern auch deren Grad an Selbstbeherrschung und Zähmung ihres emotionalen Reagierens. Die Beherrschung oder auch Modifizierung der eigenen Gefühle und deren Wahrnehm­ barkeit von außen spielte für das Leben am Hofe Ludwigs XIV. eine nicht zu unterschätzende Rolle. Norbert Elias verweist nachdrücklich auf diesen Aspekt.55 Von der Beherrschung der Gesichtszüge, die im Idealfall mit den inneren Empfindungen übereinstimmen, kann durchaus das Überleben innerhalb der höfischen Gesellschaft abhängen. Und diese Abgemessenheit, diese genaue Berechnung der Stellung, in der man sich zu einem anderen befindet, diese charakteristische Zurückhaltung der Affekte, ist typisch für die Haltung des Königs und des französischen Hofes.56 Affektentladung wird in diesem System als schädlich betrachtet, da sie dem Konkurrenten Trümpfe in die Hand spielen könnte, und sie wird als Zeichen der Unterlegenheit gedeutet. In diesem Gefüge spielt die bildende Kunst eine bedeutende Rolle, denn sie zeigt in der Ausstattung der Räume mitunter in Lebensgröße agierende Protagonisten. Heftige Gemütsbewegungen, die im täglichen Leben des Hofes keinen Platz haben, präsentiert sie zum Beispiel in Kampf- und Schlachtendarstellungen. Die Kunst der Zähmung, Regulierung, Beherrschung und Modifizierung ist dabei von den Dispositionen des Einzelnen abhängig. Umso wichtiger ist es, sich über die Ursachen und Wirkungen genaue Rechenschaft abzulegen. Hierin – und nicht in erster Linie in einem rein kunstimmanenten Problem – ist Le Bruns Bemühen um die bis dahin im Bereich der bildenden Kunst differenzierteste Darstellung von Gefühlen und Leidenschaften zu sehen. Das große Format und die Vielfigurigkeit seiner Gemälde ermöglichen es 52 53 54 55

Perler 2011 (wie Anm. 48), S. 309. Perler 2011 (wie Anm. 48), S. 310. Perler 2011 (wie Anm. 48), S. 340. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie; mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Frankfurt am Main 1983. 56 Siehe dazu Elias 1983 (wie Anm. 55), S. 126.

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dem Betrachter, sich ganz real, da lebensgroß, mit den emotionalen Reaktionen der Prota­ gonisten auseinanderzusetzen. Hier geht es dann wohl auch weniger um Mitgefühl, das heißt, die Empathie steht nicht im Vordergrund.57 Vielmehr liefern diese Gemälde Modell­e zum Durchspielen möglicher Reaktionen auf einen Gegenstand oder ein Ereignis. Le Brun ist sich selbstverständlich im Klaren, dass Alter, Geschlecht, Bildungsstand und gesellschaftliche Position entscheidende Rollen spielen und die erlebten und gezeigten Gemütsbewegungen verändern oder sogar bedingen. Im Fokus steht weniger die Kunsttheorie, denn die Kunst der Beherrschung des eigenen Körpers bis hin zu den feinsten Nuancen des Gesichtsausdrucks. Neben den in Mode gekommenen Spiegeln ist es die bildende Kunst, in der die Gesellschaft sich hier betrachten und schulen kann.58

Têtes d’expression als autonome Aufgabe Das Thema der von gesellschaftlichen Konventionen überformten Emotionen greift Henri Watelet 1760 in Hinblick auf die Kunst wieder auf. Er stellt sich die Frage, wo ein junger Künstler in einer zivilisierten Gesellschaft denn überhaupt auf den spontanen und unmittelbaren Ausdruck einer Gemütsbewegung treffen könne, um diesen zu studieren? »Aber ich sehe große Schwierigkeiten für die Künstler, welche die Leidenschaften malen wollen, denn sie finden so gut wie keine Mittel mehr um ihren wahrhaften Ausdruck zu studieren!«59 Da die offene Zurschaustellung von Gefühlen als tadelnswert angesehen werde, führe dieser Mangel an Anschauungsmaterial dazu, dass die Künstler sich nur noch auf Konventionen zurückziehen könnten und Monotonie entstünde.60 Das Verschwinden der sichtbaren vielgestaltigen Emotionen aus der Öffentlichkeit sei die Kehrseite einer viel-

57 Zu dieser Auffassung siehe Rohlmann 2010 (wie Anm. 13). 58 Siehe dazu Kacunko, Slavko: Spiegel ‒ Medium – Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes. Paderborn 2010, S. 304‒309. Die Bedeutung des Gemäldes zeigt sich, wie schon häufig betont, auch in der Verbreitung durch Reproduktionsgraphik und Tapisserien. Zur graphischen Verbreitung siehe Marchesano, Louis (Hrsg.): Printing the grand manner: Charles Le Brun and monumental prints in the age of Louis XIV. Los Angeles 2010; zu den Tapisserien siehe Bertrand, Pascal-François: Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre ou la Famille de Darius: un sujet emblématique pour l’Académie royale de peinture et pour les Gobelins?, in: La tapisserie hier et aujourd’hui: actes du colloque École du Louvre et Mobilier national et Manufactures nationales des Gobelins, de Beauvais et de la Savonnerie, 18 et 19 juin 2007. Hrsg. von Arnauld Brejon de Lavergnée. Paris 2011, S. 43‒64. 59 »Mais quelles difficultés j’aperçois pour les Artistes, si, lorsqu’ils veulent peindre les Passion, ils ne trouvent presque plus de moyens d’en étudier les véritables expressions!« Watelet, Claude-Henri: L’Art de peindre. Poëme. Paris 1760, S. 130. Übers. d. Verf. Kurz darauf heißt es dort: »Il n’est pas moins remarquable, que le désir de voir cette même Nature imitée dans sa simplicité, subsiste dans les hommes civilisés, lorsqu’ils lui ont ôté la plus grande partie de sa francise & de ses droits, pour y substituer les conventions utiles des bienséance de la société«, Watelet 1760 (wie Anm. 59), S. 130‒131. 60 »Les Artistes qui commencent à pratiquer ces Arts n’aperçoivent pas encore cette expression; bien-tôt ils la cherchent; ils l’atteignent avec plus de justesse, lorsque les Arts fleurissent; ils cessent enfin de la connoître, ils y substituent des conventions: & c’est alors que les Arts font dans leur déclin.«, Watelet 1760 (wie Anm. 59), S. 131, Anm. 1. Zur Monotonie in den Künsten siehe dort S. 132.

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gliedrigen und zivilisierten Gesellschaft.61 Seine Aufgabe sieht Watelet nun darin, die natürlichen und offensichtlichen Zeichen der Leidenschaften (»signes naturels & apparents des passions«) nochmals darzustellen.62 Nachdem Watelet die 1760 aktuelle Auffassung der Systematik der Gemütsbewegungen geschildert hat, referiert er über lange Strecken aus Le Bruns Vorlesung, um den Zusammenhang zwischen der inneren Bewegung – die auch ein Mitglied der »société polie« empfinde ‒ und dem äußeren Erscheinen dieser Empfindungen, abgelöst von dem Versuch eines durch Zähmung veredelten Ausdrucks (»ennoblir d’expression«), zu visualisieren.63 Der explizite Verweis auf Le Brun zeigt, dass man seine Ausführungen im 18. Jahrhundert eben nicht nur als Konventionen aufgefasst hat, sondern als einen Weg den unmittelbaren und authentischen äußeren Ausdruck, als Folge einer inneren Bewegung darzustellen.64 Watelet steht mit seinem Anliegen nicht allein. Nach wie vor war man überzeugt, dass die Repräsentation von Gefühlen und Leidenschaften einer der wichtigen Bereiche der Kunst sei, was dazu führte, dass ab den 1760er Jahren der Ausdruckskopf, die »tête d’expression«, zu einer besonderen Aufgabe wurde. Thomas Kirchner und Catherine Schaller haben diese Entwicklung umfassend dargestellt.65 Besonders engagiert in dieser Hinsicht war Anne Claude Philippe de Thubières, Comte de Caylus, Antiquar und assoziiertes Mitglied der Französischen Akademie.66 Caylus beschreibt zunächst die Wichtigkeit des Kopfes für die Kunst. Er bedauert die für ihn überraschende Tatsache, dass »die Studien, die in der École Française durch unsere königliche Magnifizenz eingerichtet wurden und alle nötigen Teile für den Fortschritt und die gründliche Ausbildung in den Künsten vereinigen, es erlauben, das Studium des Kopfes zu vernachlässigen«.67 Auch er setzt bei Le Brun an, denn dieser habe die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung bereits gesehen.68 61 Watelet 1760 (wie Anm. 59), S. 132. 62 Watelet 1760 (wie Anm. 59), S. 131. 63 Watelet, Claude-Henri: Expression, in: Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure. Hrsg. von Claude-Henri Watelet u. Pierre Ch. Levesque. 5 Bde. Paris 1792, Bd. II, S. 224. 64 Die zeitgenössische und spätere Kritik an Le Brun stand bereits häufig im Fokus der Betrachtung. Ausführlich bei Kirchner 1991 (wie Anm. 15). Siehe auch Dabbs, Julia Kathleen: Characterising the passions: Michel Anguier’s challenge to Le Brun’s theory of expression, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 65 (2002[2003]), S. 273‒282. 65 Kirchner 1991 (wie Anm. 15); Schaller, Catherine: L’expression des passions au XIXè siècle. Le concours de la Tête d’expression à l’École des Beaux-Arts de Paris. Théories de l’expression des passions et analyse des toutes du concours. Dissertation. Fribourg 2003. 66 Joachim Rees beschäftigt sich in seiner Untersuchung von 2006 mit Caylus als Amateur, der maßgeblich mit der Förderung der zeitgenössischen Kunst beschäftigt war, siehe Rees, Joachim: Die Kultur des Amateurs. Studien zu Leben und Werk von Anne Claude Philippe de Thubières, Comte de Caylus (1692‒1765). Weimar 2006. Bekannt ist Calyus auch als Antiquar und ehrgeiziger Gegenspieler Johann Joachim Winckelmanns. Dazu siehe Weissert, Caecilie: Reproduktionsstichwerke. Vermittlung alter und neuer Kunst im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Berlin 1999. 67 »[…] les études établies dans l’école françoise par la magnificence de nos rois, réunissant toutes parties nécessaires pour le progrès et la solide instruction de vos arts, permettent de regretter l’étude des têtes.«, Caylus, Comte de: De l’étude de la tête en particulier. Manuskript abgedruckt in: Kirchner 1991 (wie Anm. 15), S. 367. Übers. d. Verf. 68 Caylus, Comte de: De l’étude de la tête en particulier. Manuskript abgedruckt in: Kirchner 1991 (wie Anm. 15), S. 367.

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Im August 1663 wird der aus Italien kommende Bildhauer Jean-Baptiste Tuby Mitglied an der Académie Royale de Peinture et de Sculpture. Sein Aufnahmestück war eine Zeichnung der darauf folgenden Büste La Joie (Abb. 6). Diese bildete das Pendant zu dem Aufnahmestück von Balthazar Marsy, der die Büste einer jungen Frau, die den Ausdruck des Schmerzes (douleur) zeigte, eingereicht hatte.69 Enge Kontakte beider Bildhauer zu Le Brun legen nahe, dass dieser hinter diesen exzeptionellen Kopfstudien stand. Caylus stiftete dann 1760 den Prix d’expression, der im Concours de la tête d’expression errungen werden konnte. Nicht in der Darstellung der ganzen Gestalt, sondern in der Konzentration auf Kopf und Gesicht war die Aufgabe zu lösen. Dadurch rückt der Gesichtsausdruck ganz unmittelbar ins Zentrum des Interesses. Caylus fordert in seinen Reden und Schriften, die die Einrichtung des Wettbewerbs begleiteten, wieder die anatomische Kenntnis des Schädels. Aufgabe sei es, nun einen Kopf zu zeichnen, zu malen, vollplastisch oder im Relief zu modellieren: einen Kopf nach der Natur in Lebensgröße, der den Ausdruck einer Leidenschaft darstelle.70 Vereinigen müsste sich das Modell, also die Natur, das erlernte Wissen und die dem Künstler eigene Einbildungskraft. In dem Text Les passions en peinture betrachtet Caylus die Passionen ausschließlich unter dem Aspekt der Malerei. Ausgangspunkt seiner Vorlesung ist die Kritik an Antoine Coypel, der Quelle, Ursache, Wirkung und Folgen der Gemütsbewegungen vollkommen verunklärt habe.71 Caylus reduziert die Vielfalt der Gemütsbewegungen auf zwei (Gesichts-)Ausdrücke, zwei »expressions générale«, auf Freude und Schmerz. Dazwischen erstrecken sich in der Natur unendliche Nuancen, die häufig nur durch das Umfeld gedeutet werden können. Er differenziert zwischen den Gefühlen, Empfindungen (»sentiment de l’esprit«) und den Leidenschaften (»pas­ sions«). Als sonderbar stellt er heraus, dass die schwächeren Gefühle des Geistes ein deutlicheres Mienenspiel zeigen als die Leidenschaften. Beispielsweise unterscheiden sich Missachtung, Verachtung und Empörung klar in ihrer Natur, nicht aber in ihrer äußerlichen Mimik.72 Zweitens müsse man die Empfindungen kennen, bevor man sie darstellen könne. Der junge Maler müsse sich daher intensiv mit den Leidenschaften beschäftigen, ihre Ursachen und ihre Wirkungen genau ergründen. Hier stößt man wieder auf die Frage, wie denn und wo Gefühle möglichst authentisch erfahren und studiert werden konnten. Die Abbildung eines unverfälschten Gefühls wird nun zur Aufgabe der Kunst. Joachim Rees betont, dass der Zeitraum zwischen der Gründung des Wettbewerbs und dem Beginn einer Debatte um seine Reform recht genau zusammenfalle mit der Karriere der sensibilité als neuer 69 Diese Büste ist heute verschollen. Zu Marsy siehe Hedin, Thomas: The Sculpture of Gaspard and Balthazard Marsy. Art and Patronage in the Early Reign of Louis XIV. With a Catalogue Raisonée. Columbia 1983, S. 175. Zu Tuby siehe Figures de la Passion (Ausst.-Kat. Paris, Musée de la Musique, 23.10.2001– 20.01.2002). Hrsg. von Frédéric Dassas. Paris 2001, S. 196. 70 Articles, rédigés par le comité du 19 janvier 1760, concernant le prix pour l’étude des têtes et de l’expression des passions, arrêtés par l’académie dans l’assemblée du samedi 9 février. Artikel III abgedruckt in: Kirchner 1991 (wie Anm. 15), S. 370. 71 Caylus, Comte de: Les Passions en Peinture. Manuskript. Bibliothèque de l’École Nationale Supérieure des Beaux-Arts (ENSBA), Paris, MS 522, S. 93; zit. nach Schaller 2003 (wie Anm. 65), S. 245. 72 Siehe Anm. 71.

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6  Jean-Bapstiste Tuby, La Joie, um 1663, Marmor, 82 × 62 cm, Versailles, Musée national du Château.

7  Pierre-Jean David d’Anger, La Douleur, 1811, Moulage, 67,7 × 30,5 × 26 cm, Paris, École Nationale Supérieur des Beaux-Arts.

ästhetischer Kategorie, die kaum zufällig gerade durch die Beschäftigung mit den Emotionen zur Reflexion über die institutionell festgeschriebene Kunstpraxis gezwungen habe.73 Der Begriff sensibilité, von dem lateinischen sensibilitas hergeleitet, bezeichnete sowohl geistig-seelische Vorgänge als auch seit dem 14. Jahrhundert die nervlich-körperliche Reizbarkeit im medizinischen Sinne und sensible vom lateinischen sensibilis bedeutete im 17.  Jahrhundert »mit Empfindung begabt«.74 Martin Fontius zeigt, wie der Begriff im 17. Jahrhundert eine Sinnerweiterung erfahren hat, von der bloßen »Empfindungsfähigkeit« hin zur Empfänglichkeit für einen moralischen Eindruck. Wichtige Station auf diesem Weg ist Abbé Gamaches, der 1704 die Sensibilität zum Fundament jeder Disposition der Seele erklärt, die uns in die Lage versetzt, diese auch im Gegenüber zu erkennen und ihn dadurch zu lieben.75 Gamaches war Cartesianer und vertrat daher die Auffassung, dass 73 Rees 2006 (wie Anm. 66), S. 403. 74 Siehe dazu »Sensibilität / Empfindsamkeit / Sentimentalität«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. V, S. 487‒508, bes. S. 487f. Vgl. auch Baasner, Frank: Der Begriff »sensibilité« im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals. Heidelberg 1988. 75 »La sensibilité est le fondement de toutes les dispositions de l’âme qu’il nous est avantageux de trouver dans les autres et qui peuvent nous disposer à les aimer«, Gamaches, Étienne-Simon: Système du cœur, ou La connoissance du cœur humain. Paris 1704, S. 180; zit. nach Fontius 2003 (wie Anm. 74), S. 493.

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als vertrauenswürdig allein die auf der Grundlage der sensibilité erfolgte Zuneigung ohne Beteiligung der Vernunft gelte, die sich »mechanisch« einstelle.76 Die so verstandene Sensibilität besitzt im Prinzip jedes Individuum. Claude-Henri Watelet hebt 1748 eben diesen egalitären Wert der Sensibilität hervor, denn »jeder Mensch erhält mit der Geburt den Keim der Sensibilität.«77 Er betont, dass den künstlerischen Werken durch dieses »sentiment universel« eine Akzeptanz bei jenen sicher sei, die ihre angeborene Empfindungsfähigkeit voll zur Entfaltung gebracht hätten.78 Die Aufgabe des Künstlers besteht nun darin, das darzustellende Gefühl nicht nur in der Natur zu beobachten, sondern es auch in sich wachzurufen, es selbst zu erleben. Caylus sieht die Lösung des Problems in der gleichzeitigen Erzeugung des Gefühls im Modell und im Künstler. Auslösendes Moment sei – so die Vorstellung Caylus’ – die vom Akademieprofessor laut vorgetragene Lektüre eines geeigneten Textes. Das so geschaffene Setting solle dazu dienen, dass der Schüler das Gefühl leichter in sich selbst erzeugen könne.79 Hier tritt das Vermögen des Empfindens selbst ins Zentrum, das auch als Voraussetzung für eine gelungene Darstellung des Ausdrucks der Empfindung gesehen wird. Nicht das ästhetische Urteil entscheidet über die Wirkung eines Kunstwerks, sondern die unmittelbare Erregung der Sensibilität des Betrachters. Auch hier spiegelt sich das Wissen um biologische und physiologische Prozesse, wie sie im Artikel der Encyclopédie unter dem Stichwort sénsibilité ausführlich diskutiert wurden. Sensibilit­é wird dort zunächst als Begriff der Medizin dahingehend erklärt, dass die Sensibilität im lebenden Körper in einigen Teilen vorhanden und fähig sei, einen Eindruck der äußeren Objekte aufzunehmen und als Folge dem Stärkegrad der Wahrnehmung angemessene Bewegungen zu produzieren.80 Die moralische Sensibilität sei dagegen die zarte und delikate Disposition der Seele, die es ihr leicht mache, gerührt und berührt zu werden. Die Sen­ sibilität mache den Menschen tugendhaft und sei die Mutter der Humanität, die hier mit »générosité« gleichgesetzt wird.81 76 Fontius 2003 (wie Anm. 74), S. 493. 77 »[…] tous les hommes reçoivent en naissance le germe de la sensibilité«, Watelet, Claude-Henri: Définition de la poésie dans l’art de la peinture. Manuskript. Bibliothèque de l’École Nationale Supérieure des Beaux-Arts (ENSBA), Ms 184, S. 18. 78 Siehe Anm. 77. 79 »[…] qu’ un artiste est obligé de penser les caractères héroïques, de s’en affecter et de s’en échauffer, et que par conséquent c’est l’esprit qui les exprime […].«, Caylus, Comte du: De l’étude de la tête en particulier. Bibliothèque de l’École Nationale Superieure des Beaux-Arts, Paris, Ms 522, S. 69‒73. Manuskript abgedruckt in : Kirchner 1991 (wie Anm. 15), S. 369. 80 Jaucourt, Louis de: Sensibilité, in: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers par une société de gens de lettres. Hrsg. von Denis Diderot u. Jean-le-Rond D’Alembert. Bd. XV. Paris 1751, S. 38‒52, S. 38: »Sensibilité, Sentiment, (Médecine). La sensibilité est dans le corps vivant, une propriété qu’ont certaines parties de percevoir les impressions des objets externes, & de produire en conséquence des mouvemens proportionnés au degré d’intensité de cette perception.« Verfasst wurde der Artikel von dem französischen Arzt und Gelehrten Louis de Jaucourt. 81 Jaucourt 1751 (wie Anm. 80), S. 52: »Sensibilité, (Morale.) disposition tendre & délicate de l’âme, qui la rend facile à être émue, à être touchée. La sensibilité d’âme, dit très-bien l’auteur des mœurs, donne une sorte de sagacité sur les choses honnêtes, & va plus loin que la pénétration de l’esprit seul. Les âmes sensibles peuvent par vivacité tomber dans des fautes que les hommes à procédés ne commettroient pas; mais elles l’emportent de beaucoup par la quantité des biens qu’elles produisent. Les âmes sensibles ont plus

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Wie schon in den Köpfen von Tuby ist das Ergebnis der künstlerischen Aufgabe die Darstellung einer Gemütsbewegung ohne – aus Sicht des Rezipienten – Bindung an eine Historie (Abb. 6). Die Aufwertung dieser Studien zur eigenständigen Gattung zeigt sich darin, dass die »têtes d’expression« im Salon als autonome Kunstwerke ausgestellt wurden.82 1811 fand hier eine besondere Ausstellung statt: In der Salle Caylus wurden um ein Medaillon und eine Vase, die beide mit einem Porträt von Caylus verziert waren, Ausdrucksköpfe präsentiert.83 Darunter waren auch Köpfe von David d’Angers, dem Gewinner des Prix d’expression von 1811 (Abb. 7). Der Ausdruck des Schmerzes von David d’Angers’ Büste orientiert sich an einer Kopfbüste des Laokoons, die vermutlich Mitte des 17. Jahrhunderts im Umkreis der Akademie geschaffen wurde und den emotionalen Ausdruck gegenüber dem Original nochmals durch die Expressivität in den Haarlocken, der Darstellung der Venen und Gesichtsfalten steigert.84 Mit dieser Büste stimmt die Haltung des Kop­ fes bei David d’Angers im Verhältnis zum Oberkörper überein. Der Ausdruck des Schmerzes ist bei ihm dagegen zurückgenommen und auf wenige Bewegungen konzentriert: die gesenkten Augenbrauen, gehobenen Nasenflügel und die geöffneten und nach unten gezogenen Lippen. David d’Angers reduziert die auslösende Bewegung konsequent auf die unter der Haut liegenden Nerven und Muskeln. Er hat sich nochmals intensiv mit der Frage der Gemütsbewegung beschäftigt. In seinen Schriften greift er die Bedeutung der Physiologie für die Künstler erneut auf und fordert eine Nervenkunde. Um diese in einem geplanten Lehrbuch darstellen zu können, bedürfe man, so schreibt er an seinen Sohn Robert, Zeichnungen von Köpfen, die die unterschiedlichen Leidenschaften abbilden. Parallel dazu müsse man die Muskeln zeigen, deren Bewegungen die verschiedenartigen Ausdrücke verursachen. Am besten geeignet seien dazu gut sezierte Köpfe.85 Wie die Ansätze von Watelet und Caylus stünde ein solches Lehrbuch, das nicht realisiert wurde, in der longue durée von Le Bruns pathognomischen Studien. Die hier dargelegten Positionen von Le Brun, Félibien, Tuby, Watelet, Caylus und d’Angers zur Darstellung des Ausdrucks sind fundamental mit der Anatomie und Physio-

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d’existence que les autres: les biens & les maux se multiplient à leur égard. La réflexion peut faire l’homme de probité; mais la sensibilité fait l’homme vertueux. La sensibilité est la mère de l’humanité, de la générosité; elle sert le mérite, secourt l’esprit, & entraîne la persuasion à sa suite.« Siehe Schaller 2003 (wie Anm. 65), S. 207‒211. Siehe Schaller 2003 (wie Anm. 65). Abgebildet in Dassas 2001 (wie Anm. 69), Abb. S. 143. »Dans une de ses lettres, ta mère t’a dit que je désirais faire, avec toi, un ouvrage sur l’anatomie dans ses rapports avec l’expression. Il nous faudra dessiner des têtes exprimant des passions diverses, et indiquer quels sont les muscles qui concourent à ces expressions différentes. Tu vois que j’aurai besoin de têtes bien disséquées. II nous faudra pénétrer la névrologie, étudier les muscles du col, qui jouent aussi leur rôle, ainsi que la veine jugulaire, surtout dans les passions violentes. Ce serait bien d’attacher nos deux noms à un même travail qui, je crois, pourrait être utile aux artistes. Il y a longtemps que je poursuis ce projet, mais tes études anatomiques me disposent à le mettre à exécution, Dieu aidant. Il ne faut rien dire de cela; c’est pour nous deux seulement.«, David d’Anger in einem Brief an seinen Sohn Robert, siehe Jouin, Henry (Hrsg.): David d’Angers et ses relations littéraires: correspondance du maître avec Victor Hugo [...]. Paris 1890, S. 308. David d’Angers Projekt wurde nicht umgesetzt.

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logie des 17. und 18. Jahrhunderts verbunden. Flüchtige Gemütsbewegungen im Gesicht lassen sich so durch das intensive Studium der Schädelanatomie und der physiologischen Reaktionen von Nerven und Muskeln auf äußere und innere Bilder und Vorstellungen fixieren. In Zusammenhang mit den jeweils aktuellen philosophischen Konzepten zur Klassifizierung, Entstehung und Modifizierung von Emotionen geben sie einem Diskurs sichtbare Gestalt, der nicht nur künstlerische, sondern auch philosophisch-physiologische und gesellschaftliche Fragen reflektiert.

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ABBILDUNGSNACHWEIS

Baert: Abb 1: © The Warburg Institute, Archive; Abb. 2: © National Media Museum Collection; Abb. 3: © YouTube license; Abb. 4: Gibbons, Felton: Dosso and Battista Dossi. Court painters at Ferrara. Princeton (N.J.) 1968, Abb. Nr. 73. Grohé: Abb. 1: Grohé, Stefan: Rembrandts mythologische Historien. Köln [u.a.] 1996, S. 12, Abb. 2; Abb. 2: Bauch, Kurt: Rembrandt. Gemälde. Berlin 1966, Taf. 15; Abb. 3 u. Taf. I: Photo © RMN-Grand Palais (Musée du Louvre)/Jean Schormans; Abb. 4: Grohé 1996, S. 12, Abb. 1; Abb. 5 u. Taf. II: Photo © Nationalmuseum, Stockholm; Abb. 6: © The Metropolitan Museum of Art; Abb. 7: Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne. Hrsg. von Martin Warnke. Berlin [u.a.] 2000 (Aby Warburg: Gesammelte Schriften II.1), S. XI, Abb. 1; Abb. 8: Warburg 2000, S. 115; Abb. 9: Bauch 1966, Taf. 226; Abb. 10: Bauch 1966, Taf. 94. Wenderholm: Abb. 1 u. Taf. III: Foto: Marianne Casamance; Abb. 2: Kruft, Hanno-Walter: Francesco Laurana. Ein Bildhauer der Frührenaissance. München 1995, Taf. 116; Abb. 3: Foto: Georg Schelbert; Abb. 4: Foto: Kunst­ geschichtliches Seminar der Universität Hamburg, Fotoarchiv; Abb. 5: Kruft, Hanno-Walter: Francesco ­Laurana. Ein Bildhauer der Frührenaissance. München 1995, Taf. 109; Abb. 6: Kruft 1995, Tafel 112; Abb. 7: Kruft 1995, Taf. 96 a. Wetzler: Abb. 1–4 u. Taf. IV–VIII: Archiv d. Verf. Zieke: Abb. 1, 4 u. Taf. IX: Ausst.-Kat. Renaissance Venice and the North. Crosscurrents in the time of Dürer, ­Bellini and Titian (Ausst.-Kat. Venedig, Palazzo Grassi, 05.09.1999–09.01.2000). Hrsg. von Bernard Aikema u. Beverly Louise Brown. London 1999, S. 129; Abb. 2: Giovanni Bellini (Ausst.-Kat. Rom, ­Scuderie del Quirinale, 30.09.2008–11.01.2009). Hrsg. von Mauro Lucco u. Giovanni C. F. Villa. Mailand 2008, S. 34; Abb. 6: Pächt, Otto: Venezianische Malerei des 15. Jahrhunderts. Die Bellinis und Mantegna. Hrsg. von ­Margareta Vyoral-Tschapka u. Michael Pächt. München 2002, S. 163; Abb. 5: © National Gallery London; Abb. 3, 7: Archiv d. Verf. Augart: Abb. 1 u. Taf. X: Marciari, John: Francesco Vanni. Artistic Vision in an Age of Reform, in: Francesco Vanni. Art in late Renaissance Siena (Ausst.-Kat. New Haven, Yale University Art Gallery, 27.09.2013–05.01.2014). Hrsg. von John Marciari u. Suzanne Boorsch. New Haven 2013, S. 1–31, hier S. 18; Abb. 2, 3, 4 u. Taf. XI, XII: Archiv d. Verf.; Abb. 5: Kult Bild. Das Altar- und Andachtsbild von Duccio bis Perugino (Ausst.-Kat. Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut, 07.07.–22.10.2006). Hrsg. von Jochen Sander. Petersberg 2006, Taf. 79.

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Abbildungsnachweis

Imorde: Abb. 1–2 u. Taf. XIII: Archiv d. Verf. Plackinger: Abb. 1 u. Taf. XIV: bpk / Alinari Archives / Magliani, Mauro for Alinari; Abb. 2: Edgerton, Samuel Y.: Pictures and Punishment. Art and Criminal Prosecution during the Florentine Renaissance. Ithaca /  London 1985, S. 175, Abb. 47; Abb. 3: Edgerton 1985, S. 174, Abb. 46; Abb. 4: Mocci, Laura: L’Altare Maggiore della Chiesa di San Giovanni Decollato in Roma, in: Bollettino d’arte 96–97 (1996), S. 127–132, hier S. 128, Abb. 1; Abb. 5: Tosini, Patrizia: Girolamo Muziano 1532–1592. Dalla Maniera alla Natura. Rom 2008, S. 250, Abb. 231; Abb. 6: Daniele da Volterra. Amico di Michelangelo (Ausst.-Kat. Florenz, Casa Buonarroti, 30.09.2003–12.01.2004). Hrsg. von Vittoria Romani. Florenz 2003, S. 134, Abb. 85. Pawlak: Abb. 1–5, 7, 9 u. Taf. XV: © Madrid, Museo Nacional del Prado; Abb. 6: Archiv d. Verf.; Abb. 8 u. Taf. XVI: Corcoran, James I. W. (Hrsg.): The Triumph of Death by Pieter Brueghel the Younger. Antwerpen 1995, S. 25; Abb. 10: Kiening, Christian: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur N ­ euzeit. München 2003, S. 167, Abb. 99. Saß: Taf. XVII: Goltzius to Van Gogh (Kat. Amsterdam, P. & N. de Boer Foundation). Hrsg. von Hans Buijs u. Ger Luijten. Paris 2014, S. 123, Nr. 54; Taf. XVIII: Cacce principesche (Ausst.-Kat. Tivoli, Villa d’Este, 17.05.–20.10.2013). Hrsg. von Francesco Solinas. Rom 2013, S. 113; Taf. XIX: European noble and ­private collections (Aukt.-Kat. Amsterdam, Christie’s London, 14.02.2006, Sale 2691), S. 170; Taf. XX: Kunst & Antiquitäten (Aukt.-Kat. Stuttgart, Nagel, 23.–24.09.2009, Sale 413), S. 19; Taf. XXI: Koslow, Susan: Frans Snyders. The noble estate. Seventeenth-century still-life and animal painting in the Southern Netherlands. Antwerp 1995, S. 273, Abb. 368; Taf. XXII: Koslow 1995, S. 263, Abb. 357; Taf. XXIII: Peintures des écoles du Nord (Kat. Grenoble, Musée de Grenoble). Hrsg. von Marcel Destot. Paris 1994, S. 173; Abb. 1: © Hamburger Kunsthalle/bpk; Foto: Elke Walford; Abb. 2: Koslow 1995, S. 271, Abb. 366; Abb. 3: Koslow 1995, S. 276, Abb. 373; Abb. 4: Ausst.-Kat. Tivoli 2013, S. 112; Abb. 5: Du Fouilloux, Jacques: Neuw Jag unnd Weydwerck Buch [...]. Hrsg. von Johann Hellers u. Sigmund Feierabend. 2 Bde. Frankfurt am Main. 1582, Bd. I, S. 16. Cazzola-Senkpiel: Abb. 1 u. Taf. XXIV: © Hamburger Kunsthalle/bpk, Foto: Christoph Irrgang; Abb. 2: Royal Collection Trust/© HM Queen Elizabeth II 2016. Wittke: Abb. 1, 2: Osteologische Sammlung Tübingen © Marius A. T. Wittke; Abb. 3, 6: © Kunstsammlungen der Veste Coburg; Abb.4: © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin; Abb. 5: Zijlma, Robert (Hrsg.): Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts, Amsterdam 1979, Bd. 23, S. 147, Nr. 83; Abb. 7: München, Bayerisches Nationalmuseum © Marius A. T. Wittke. Albl: Abb. 1–3, 6: Archiv d. Verf.; Abb. 4: Bilddatenbank Unidam; Abb. 5: Musée Fabre. http://museefabre.montpellier3m.fr/RESSOURCES/RECHERCHE_D_OEUVRES (11.5.2013); Abb. 7: Cesare Ripa, Iconologia, Siena 1613, S. 161. Weissert: Abb. 1–4: Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques; Abb. 5–7 u. Taf. XXV: Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart.

FARBTAFELN

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I  Rembrandt, Bathseba im Bade, 1654, Öl auf Leinwand, 142 × 142 cm, Paris, Louvre.

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II  Rembrandt, Die Verschwörung der Bataver unter Claudius Civilis, 1662, Öl auf Leinwand, 196 × 309 cm, Stockholm, Nationalmuseum.

III  Francesco Laurana: Kreuztragung, 1478, Marmor, 248 × 289 cm, Avignon, St-Didier.

Farbtafeln

IV  Anton Sturm, Heiliger Augustinus, 1754, Holz, Maße unbekannt, Wieskirche.

V  Anton Sturm, Heiliger Gregor, 1754, Holz, Maße unbekannt, Wieskirche.

VI  Anton Sturm, Heiliger Ambrosius, 1754, Holz, Maße unbekannt, Wieskirche.

VII  Anton Sturm, Heiliger Hieronymus, 1754, Holz, Maße unbekannt, Wieskirche.

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VIII  Hochaltar, Diessen am Ammersee, ehem. Klosterkirche, 1720­–1739.

IX  Giovanni Bellini, Pietà Donà dalle Rose, 1500–1505, Öl auf Holz, 64 × 87 cm, Venedig, Gallerie dell’Accademia.

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X  Francesco Vanni, Marienkrönung mit Engeln und Heiligen, 1596, Öl auf Leinwand, Maße unbekannt, Castiglion Fiorentino, Santa Maria degli Angeli.

Farbtafeln

XI  Francesco Vanni, Marienkrönung mit Engeln und Heiligen, Detail (wie Taf. X).

XII  Francesco Vanni, Marienkrönung mit Engeln und Heiligen, Detail (wie Taf. X).

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Farbtafeln

XIII  Domenico Fetti, Pietro penitente, 1613, Öl auf Holz, 95,8 × 55,9 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum.

Farbtafeln

XIV  Daniele da Volterra, Enthauptung des Täufers (San Giovanni Decollato), um 1555/1556, Öl auf Holz, 177 × 141 cm, Turin, G ­ alleria Sabauda.

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XV  Pieter Bruegel d. Ä., Triumph des Todes, um 1562, Öl auf Holz, 117 × 162 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado.

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Farbtafeln

XVI  Pieter Brueghel d. J., Triumph des Todes, 1626, Öl auf Holz, 117 × 167 cm, ­Cleveland, The Mildred Andrews Fund.

XVII  Jakob de Gheyn d. J., Gehäuteter Kalbskopf, 1599, Aquarell, 157 × 202 cm, Amsterdam, P. & N. de Boer Foundation.

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XVIII  Frans Snyders (Werkstatt?), Ein Hund verteidigt seine Beute, 1630–1635 (?), Öl auf Leinwand, 120 × 171 cm, Privatbesitz.

XIX  Anonym (nach Frans Snyders), Zwei Hunde über Schlachtabfälle streitend, Datierung unbekannt, Öl auf Leinwand, 115 × 175 cm, P ­ rivatbesitz.

Farbtafeln

XX  Anonym (nach Frans Snyders), Zwei Hunde streiten sich um Schlachtabfälle, Datierung unbekannt, Öl auf Leinwand, 103 × 179 cm, Privatbesitz.

XXI  Frans Snyders, Zwei streitende Hunde und Katze, vor 1636, Öl auf Leinwand, 99 × 145 cm, Madrid, Museo del Prado.

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XXII  Paul de Vos, Fabel vom Hund und seiner Beute, ca. 1636–1638, Öl auf Leinwand, 99 × 145 cm, Madrid, Museo del Prado.

XXIII  Nach Paul de Vos, Küchenstreit von Hund und Katze, Datierung unbekannt, Öl auf ­ einwand, 104 × 136 cm, Grenoble, Musée de Grenoble. L

Farbtafeln

XXIV  Leonardo da Vinci, Kopf eines alten Mannes oder einer alten Frau im Profil, um 1495–1505, ­Rötelzeichnung, 99 × 82 mm, Hamburg, Kupferstichkabinett, Kunsthalle.

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Farbtafeln

XXV  Charles Le Brun, Les Reines de Perse, 1660/1661, Öl auf Leinwand, 110,5 × 131,5 cm, Versailles, ­ hâteau, Salon de Mars. C