Arno Pötzsch: Briefe und Schriften 1938-1952 9783534745364

Dieses Buch dokumentiert die Geschichte eines Deutschen, den der Niederländer Aart van der Poel als »treuen Christen, gu

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German Pages 288 [290] Year 2019

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Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Geleitwort
Einleitung
Zu Leben und Werk
Die Niederlande unter deutscher Besatzung
Die Briefe an Käthe und Hans Neubauer
Zur Lektüre von Arno Pötzsch
Kein Wort über die Judenverfolgung
Briefe an Käthe und Hans Neubauer 1938–1952
Predigten
Zur Predigt am Heldengedenktag
Heldengedenktag (1942)
Zur Neujahrspredigt
Neujahrspredigt (1944)
Vorträge
Zur Auseinandersetzung mit H. St. Chamberlain
Houston Stewart Chamberlain (1940)
Zum Vortrag über das Ältestenamt
Das Amt der Ältesten in der Gemeinde (1942)
Zum Vortrag über Religion
Wie hältst Du es mit der Religion?(1946/47)
Singende Kirche
Zur Liedersammlung „Singende Kirche“
Liederverzeichnis
Vom Werden der „Singenden Kirche” (1942)
Nachwort (1942)
Zeittafel
Abbildungen
Bildnachweise
Bibliographie
Danksagung
Back Cover
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Arno Pötzsch: Briefe und Schriften 1938-1952
 9783534745364

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Arno Pötzsch:

Briefe und Schriften 1938 – 1952

Arno Pötzsch:

Briefe und Schriften 1938 – 1952 Ein deutscher Marinepfarrer in den besetzten Niederlanden Kommentiert und herausgegeben von Michael Heymel

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ev.-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, der Ev.-Lutherischen Landeskirche Sachsen und der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, Bonn

Die Deutsche DeutscheNationalbibliothek Nationalbibliothekverzeichnet verzeichnet diese Publikation Die diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische LQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH Daten sind sind im imInternet Internetüber überhttp://dnb.d-nb.de http://dnb.d-nb.de abrufbar. Daten abrufbar. Das Werk Werkist istininallen allenseinen seinenTeilen Teilen urheberrechtlich geschützt. Das urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung Verwertungististohne ohneZustimmung Zustimmung des Verlags unzulässig. Jede des Verlags unzulässig. Das gilt gilt insbesondere insbesonderefür fürVervielfältigungen, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Das Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung 0LNURYHU¿OPXQJHQXQGGLH(LQVSHLFKHUXQJLQXQG9HUDUEHLWXQJ durch elektronische elektronischeSysteme. Systeme. durch Academicist istein einImprint Imprintder derwbg. wbg. wbg Academic 2019 by by wbg wbg(Wissenschaftliche (WissenschaftlicheBuchgesellschaft), Buchgesellschaft), Darmstadt © 2019 Darmstadt Herausgabedes desWerkes Werkeswurde wurdedurch durch Die Herausgabe diedie Vereinsmitgliederder derwbg wbgermöglicht. ermöglicht. Vereinsmitglieder MichaelHeymel Heymel Satz: Michael Umschlagabbildung:Porträtfoto Porträtfotovon vonArno Arno Pötzsch Umschlagabbildung: Pötzsch Uniform des desMarinepfarrers, Marinepfarrers,©©Unitätsarchiv Unitätsarchiv in Uniform derder Evangelischen Brüdergemeine, Herrnhut (YDQJHOLVFKH%UGHUJHPHLQH+HUUQKXW Umschlaggestaltung:Peter PeterLohse, Lohse,Heppenheim Heppenheim Umschlaggestaltung: Gedruckt auf aufsäurefreiem säurefreiemund undalterungsbeständigem alterungsbeständigem Papier Gedruckt Papier Printed in in Germany Germany Printed Besuchen Sie Sieuns unsim imInternet: Internet:www.wbg-wissenverbindet.de www.wbg-wissenverbindet.de Besuchen 978-3-534-27135-1 ISBN 978-3-534-27135-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: (OHNWURQLVFKVLQGIROJHQGH$XVJDEHQHUKlOWOLFK eBook (PDF): (PDF):ISBN ISBN978-3-534-74536-4 978-3-534-74536-4 eBook eBook (Epub): ISBN 978-3-534-74537-1 H%RRN (SXE ,6%1,6%1

Dem Andenken von Karl-Heinrich Bieritz (1936-2011) und Friedrich Weber (1949-2015) gewidmet

Inhalt Geleitwort von Militärbischof Dr. Sigurd Rink ........................................... 69 Einleitung ....................................................................................................11 8 Zu Leben und Werk ..................................................................................12 9 44 Die Niederlande unter deutscher Besatzung ........................................... 41 Die Briefe an Käthe und Hans Neubauer................................................ 42 45 51 Zur Lektüre von Arno Pötzsch ............................................................... 48 54 Kein Wort über die Judenverfolgung ..................................................... 51 Briefe an Käthe und Hans Neubauer 1938-1952.................................... 55 59 197 Predigten ................................................................................................. 193 197 Zur Predigt am Heldengedenktag ......................................................... 193 Heldengedenktag (1942)....................................................................... 193 197 203 Zur Neujahrspredigt .............................................................................. 199 204 Neujahrspredigt (1944) ........................................................................ 200 Vorträge .................................................................................................. 207 211 211 Zur Auseinandersetzung mit H. St. Chamberlain ................................. 207 213 Houston Stewart Chamberlain (1940) .................................................. 209 Zum Vortrag über das Ältestenamt ....................................................... 221 225 226 Das Amt der Ältesten in der Gemeinde (1942) ..................................... 222 237 Zum Vortrag über Religion .................................................................. 233 Wie hältst Du es mit der Religion?(1946/47) ....................................... 233 237 245 Singende Kirche ...................................................................................... 240 245 Zur Liedersammlung „Singende Kirche“ ............................................. 240 Liederverzeichnis ................................................................................. 241 246 249 Vom Werden der „Singenden Kirche” (1942) ...................................... 244 253 Nachwort (1942) ................................................................................... 248 255 Zeittafel.................................................................................................... 249 259 Abbildungen ............................................................................................ 253

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Inhalt

283 Bildnachweise .......................................................................................... 276 285 Bibliographie ........................................................................................... 277 287 Danksagung ............................................................................................. 278

Geleitwort Dass wir nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand (EG 533, 1. Strophe), ist zu passenden und unpassenden, teilweise auch seichten Anlässen zitiert worden. Für Arno Pötzsch, den tief gläubigen Christen, den Seelsorger und Marinepfarrer, ist es eine bitterernste und darum strahlend frohe, in schweren Momenten erprobte Wahrheit gewesen. Seine Lebensgeschichte forderte, Zeuge des Evangeliums zu sein in einer alles andere als komfortablen Rollenzuschreibung, verbunden mit dem Risiko ungesicherten Fallens. Tiefer als in Gottes Hand fiel er nicht; das trug ihn. Wer zu passenden oder auch unpassenden Anlässen zitiert wird, darf gemeinhin zu den „Klassikern“ gezählt werden. Pötzsch bleibt sperrig, verweigert sich seine Zugehörigkeit zur damaligen Militärseelsorge – damit zur Organisation der Wehrmacht, weitab jener Unabhängigkeitsgarantien, wie sie die Seelsorge in der Bundeswehr zu einem geschützten kirchlichen Handlungsbereich werden lassen – doch der glatten Zuordnung einer von vornherein klar „oppositionellen“ Haltung. Pötzsch war an der Seite angefochtener Menschen, indem er selbst „mittendrin“ war, sich selbst der Macht des Bösen aussetzte. Er hat sich nicht billig auf die vermeintlich richtige Seite gebracht, sondern im Vertrauen auf Gottes erhaltende und erlösende Treue den Gefährdeten sein Dabei-Sein angetragen. Er trug als Zeuge Jesu Christi unter düsteren Umständen buchstäblich MitVerantwortung. Arno Pötzsch war ein Kind seiner Zeit. Er war mit ergriffen von der bürgerlichen Kriegsbegeisterung während des Ersten Weltkriegs und meldete sich als 17-Jähriger freiwillig zur Marine. Aus der existentiell erfahrenen Untergangsstimmung der Niederlage rettete ihn der Kontakt zur herrnhutischen Frömmigkeit. Theologe wurde er als Spätberufener. Dass dieser Christ und Pastor keinen für ihn selbstverständlichen, etwa familiär vorgezeichneten Weg gegangen ist, das atmen seine Texte. Pötzsch ist selbst ursprünglich ergriffen, ja regelrecht überrascht von der helfenden Gegenwart Gottes hinter dem Furchtbaren des Krieges und der Unrechtsherrschaft. Nur wer so unmittelbar persönlich dem Thema des Glaubens begegnet, kann Menschen in solcher Not trösten – und hat schließlich das Zeug zum „Klassiker“.

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Geleitwort

In den besetzten Niederlanden, als Marinepfarrer in Den Haag, wagt es Pötzsch, als Angehöriger der gottlosen Besatzungsmacht Mitmensch und Zeuge des Evangeliums zu sein. Ein Glaube, der sich nicht aussetzte, wäre tot in sich selbst. Pötzsch lebte und bezeugte sein persönliches Vertrauen auf Gottes Güte, die es mit allem Zwielicht aufnimmt. Dies hat Michael Heymel in seinem Werk anschaulich gemacht. Zeugnisse dieser Art stärken dort, wo es heute gilt, die Botschaft des Glaubens als wirksame Herausforderung und echten Trost zu vermitteln, abseits moralischer Hochsitze und modischer Seichtheiten. Es münden alle Pfade / durch Schicksal, Schuld und Tod / doch ein in Gottes Gnade / trotz aller unsrer Not. (EG 533,2)

Berlin, im Oktober 2018 Dr. Sigurd Rink Bischof für die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr

Einleitung Mit dieser Textsammlung soll das Wirken eines deutschen evangelischen Marineseelsorgers im Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden beleuchtet werden. Sie enthält rund 120 Briefe, zwei Predigten, drei Vorträge sowie Texte zu Liederheften, die der Cuxhavener Pfarrer und Dichter Arno Pötzsch (1900-1956) während oder unmittelbar nach seiner Dienstzeit 1940 bis 1945 in Holland geschrieben hat. Die meisten werden hier zum ersten Mal dokumentiert. Die Edition ist interessierte ist für für kirchen-, kirchen-, zeitzeit- und und militärgeschichtlich militärgeschichtlichinteressierte Leserinnen und Leser bestimmt. Sie trägt einmal zur Aufarbeitung eines Desiderats historischer Forschung bei, insofern das Gebiet der Marineseelsorge bisher kaum näher untersucht wurde, und zeigt an einem historischen Beispiel, wie ein Marineseelsorger seine Aufgabe im nationalsozialistischen 1 Herrschaftssystem Herrschaftssystem während des Zweiten Weltkriegs wahrgenommen hat. Zum anderen hat das Beispiel des Marinepfarrers Arno Pötzsch Bedeutung für die Geschichte der Beziehungen von Deutschen und Niederländern. Es verdeutlicht, wie aus der Perspektive niederländischer Christen ein „Feind“ zum „Freund“ und „Bruder“ „Bruder“ werden werden konnte. konnte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Pötzsch über seine Gemeinde hinaus weiteren Kreisen in Deutschland durch seine geistlichen Gedichte und Lieder bekannt. Heute begegnet man seinem Namen am ehesten, wenn man das Evangelische Gesangbuch (EG) oder die Herrnhuter Losungen aufschlägt. Im Stammteil des EG finden sich drei Lieder von Pötzsch: das Abendmahlslied „Du hast zu deinem Abendmahl / als Gäste uns geladen“ (EG 224), „Meinem Gott gehört die Welt“ (EG 408) und „Du kannst nicht tiefer fallen / als nur in Gottes Hand“ (EG 533). Das zuletzt genannte Lied wurde vor allem bekannt durch die Trauerfeier für den Nationaltorwart Robert Enke 2009, der sich im Alter von 32 Jahren das Leben genommen hatte, und Margot Käßmanns Käßmanns öffentliche öffentliche Erklärung Erklärung 2010, 2010, mit mit der der sie ihren undMargot 1 Vgl. Beatrix Kuchta, Die evangelische Marineseelsorge im Zweiten Weltkrieg. Ein Erschließungsprojekt im Bundesarchiv-Militärarchiv, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv 1/2009, 49-53. Auch das Wirken des mit Pötzsch gleichaltrigen Theologen HeinzDietrich Wendland (1900-1992) wäre eine genauere Untersuchung wert. Er war wie Pötzsch Michaelsbruder und von 1939-1945 Marinepfarrer, eingesetzt in Kiel, auf der Ostsee und in Libau (Lettland). Vgl. seine Memoiren: Wege und Umwege. 50 Jahre erlebter Theologie 1919-1970, Gütersloh 1977, 159-169.

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Einleitung

Rücktritt als Bischöfin der Hannoverschen Landeskirche und EKDRatsvorsitzende begründete. Die Regionalteile des EG enthalten drei weitere Pötzsch-Lieder:„Es ist ein Wort ergangen“(EG Rheinland-Westfalen-Lippe/reformierte Kirche 590; EG Baden/Elsass-Lothringen/Pfalz 586; EG Württemberg S. 1055 nur Text), „Nun ist vorbei die finstre Nacht“(EG Hessen 644) und „Herr Gott, gib uns das täglich Brot“ (EG Niedersachen/Bremen 633). Aber auch in den Herrnhuter Losungen trifft man öfter auf den Namen Arno Pötzsch in Verbindung mit einer Lied- oder Gedichtstrophe. Eine erste Erklärung dafür liefert das EG. Es vermerkt in seiner Liederkunde (EG 957) knapp: „Pötzsch, Arno, geb. 1900 in Leipzig, Erzieher und Fürsorger in den Brüdergemeinen Kleinwelka und Herrnhut, Pfarrer in Wiederau bei Rochlitz (Sachsen), Marinepfarrer in Cuxhaven und Helgoland, Pfarrer in Cuxhaven; dort gest. 1956.“ Die wenigen Stichworte verweisen auf ein schweres Leben, über das Schwerste schweigen sie. Zu Leben und Werk Arno Pötzsch wurde als zweites Kind seiner Eltern Oscar und Auguste Pötzsch, geb. Oesterlein, am 23. November 1900 in Leipzig geboren. Er stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater ist Angestellter und Verkäufer, seine Mutter Krankenschwester. Er hat eine ältere Schwester, Magdalene. Ein im Haus wohnender Student charakterisiert den 9jährigen Arno als „abwesend scheuen und in sich gekehrten, zugleich aber ungewöhnlich höflichen und liebenswürdigen Jungen“, der die Treppe zur elterlichen Wohnung emporstürmte, indem er „mehrere Stufen auf einmal nahm …“ 2 Als sein Vater schon mit 63 Jahren starb und eine unversorgte Familie hinterließ, lernte Arno Pötzsch, wie viele seiner Generation, Armut und Not kennen. Die Mutter verdiente allein den Lebensunterhalt für sich und die Kinder. Ihr Sohn war begabt zum Zeichnen, hatte Talent für Musik und Sprache, aber keine Möglichkeit, eine höhere Schule zu besuchen. Den Besuch des Lehrerseminars in Bautzen musste er vorzeitig wegen Krankheit abbrechen. Um Geld zu verdienen, arbeitete Arno Pötzsch in einer Granatenfabrik. Der Gedanke, bei der Herstellung von Tötungswaffen mitzuwirken, belaste2 Alfred Dedo Müller (1890-1972), zit. nach: Herbert Naglatzki, Arno Pötzsch: Dichter, Pfarrer, Michaelsbruder, in: Quatember 80 (2016), 140-152, hier: 140. Müller studierte zu dieser Zeit Theologie in Leipzig. Später kam Pötzsch wohl durch ihn zur Michaelsbruderschaft. 1930 wurde Müller in Leipzig zum ordentlichen Professor für Praktische Theologie berufen und lehrte bis 1969.

Einleitung

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te den empfindsamen jungen Mann. Es zog ihn zur Seefahrt. So ging er 1917 als Freiwilliger zur Kriegsmarine (Abb.1). Doch dieser Weg endete bald. Wenig länger als ein Jahr dauerte seine Dienstzeit an Bord der „SMS Ostfriesland“. Sein Vorgesetzter bescheinigt ihm im Führungsbuch: „Anständiger Charakter. Strebsamer Rekrut. Sauber im Zeug.“ Neben einem Porträtfoto findet sich diese Personenbeschreibung des 18Jährigen: „Größe 170 cm, kräftige Gestalt, dunkelblond, blaue Augen, Gewicht 70 kg.“3 In der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg verdiente er seinen Lebensunterhalt als Landarbeiter und Schriftsetzer. 4 Den Besuch des Religionslehrerseminars in Leipzig musste er schon nach einem Jahr wegen einer schweren Lebenskrise abbrechen. Er kam in Berührung mit der Herrnhuter Brüdergemeine, wo ihn das Ehepaar Winter wie einen Sohn aufnahm. Dort erkennt er mit Staunen die wunderbaren Führungen in seinem Leben. Die Herrnhuter prägen Pötzsch nachhaltig, wie er selbst erzählt: „In dieser dunklen Zeit voll Schwermut und Unruhe des Herzens um Gott und das Leben kam ich, fast wider Willen, nach Herrnhut. Gott führte mich, aber ich wußte es nicht und sah es noch nicht. Sieben Jahre lang wurde mir die Brüdergemeine, vier Jahre lang eins ihrer Schulheime, in dem mir eine erzieherische Aufgabe zufiel, zur Heimat. Die schlichte herrnhutische Frömmigkeit mit Ernst und Fröhlichkeit machte einen tiefen Eindruck auf mich …“ 5 Wie für die Brüdergemeine ist das Christentum auch für Pötzsch ein „Leben aus Gott und mit Gott“, das vom einzelnen in tätigem Glauben und lebendiger Gemeinschaft geführt wird.6 Er wird Erzieher in einem Schulheim, strebt einen sozialen Beruf an und findet Gelegenheit zur Weiterbildung. In Bautzen holte er die Mittlere Reifeprüfung nach, besuchte die Missions- und Bibelschule Herrnhut und arbeitete erneut als Erzieher in Kleinwelka. Nach einer Ausbildung am Sozialpädagogischen Frauenseminar in Leipzig war Pötzsch in den Wohlfahrtsämtern Zittau und Leipzig tätig sowie als Gerichtshelfer in Halle und kümmerte sich als Jugendamt-Fürsorger in Görlitz und Leipzig um jugendliche Erwerbslose.

3 Eintragung vom 30.8.1918, in: Personalakte im Militärarchiv Freiburg, PERS 6/260092. 4 Vgl. Abschrift eines handgeschriebenen Lebenslaufs vom 4.8.1937, in: Personalakte, PERS 6/260094. 5 Arno Pötzsch, Mensch auf Gottes Fährte, in: Jugend unter dem Wort. Ev. Jugendzeitschrift für Jungen und Mädchen, 6 (1953), 6-7. Posthum erschienen in: Kirchenkreis Cuxhaven, April 1956. 6 Vgl. Arno Pötzsch, Die Herrnhuter. Referat im WS 1932/33 an der Universität Leipzig, 23 Seiten.

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Einleitung

Nach Jahren des Zweifelns, Fragens und Suchens beschloss er in seinem dreißigsten Lebensjahr, Pfarrer zu werden. „Freilich erst im dreißigsten Lebensjahr gingen mir die Augen dafür auf, dass man auch heute, im zwanzigsten Jahrhundert, als ganz moderner, weltoffener Mensch in Wahrheit ein Christ sein und mit gutem Gewissen auf dem Boden der Kirche stehen kann“.7 Das schrieb er im Rückblick, als ihm endlich klar geworden war, dass er Theologe und Pfarrer werden wollte. Neben seinem Beruf als Erzieher gelang es ihm, sich dafür die Voraussetzungen zu schaffen: Hochschulreife, Hebräisch-, Griechisch- und Lateinprüfung; ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglichte 8 Semester Theologiestudium und Examen in Leipzig. In dieser Zeit entstanden seine ersten Gedichte und Lieder, die sich schnell verbreiteten. Im Sommer 1930 heiratete Arno Pötzsch Helene Bosse (1900-1979) aus Danzig, die als Fürsorgerin in der Blindenfürsorge und der Inneren Mission Leipzig arbeitete (Abb.2). Aus der Ehe gingen 4 Töchter hervor: Kathrin (*1931), Christiane (*1934), Sabine (*1936) und Renate (*1937). 1935 übernahm er sein erstes Pfarramt in der sächsischen Dorfgemeinde Wiederau bei Rochlitz. Schon vorher war er in Kontakt mit der evangelischen Michaelsbruderschaft und der Bekennenden Kirche gekommen, ohne sich selbst der BK anzuschließen. Seine Lieder verstand er als aus der Not der Zeit geborene „Notlieder der Kirche“. Der Weg zum Glauben war ihm schwer geworden. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Diese Fragen nach dem Woher und Wohin quälten ihn. Es sind die Fragen nach dem Sinn des Lebens, die jeder Mensch für sich zu beantworten sucht. Pötzsch fand die Antwort, als ihm der tragende Grund und das Ziel menschlichen Lebens aufging. In einem Aufsatz von 1933 unter dem Titel „Woher – wohin?“ gab er sich und anderen darüber Rechenschaft: „Sollten wir nicht demütiger werden, wenn wir uns in die Reihe der Geschlechter eingefügt sehen? Sollte uns nicht schon die Tatsache, daß wir abhängig, bedingt, begrenzt sind, daß wir nicht über uns hinaus können, demütig machen? Das Tiefste aber, das uns die Beschäftigung mit den Vorfahren zum Bewußtsein bringen will, ist dieses: wir sind Geschöpf. Das haben wir mit unsern Ahnen gemein. Unsre Abkunft von ihnen ist noch nicht das Letzte; ein anderes ist, von dem 7

Lebensbericht, 1953. Zit. nach: Marion Heide-Münnich (Hrsg.), Arno Pötzsch. Im Licht der Ewigkeit. Geistliche Lieder und Gedichte, Leinfelden-Echterdingen 2008, Einführung, 9. Ähnlich in einem Brief vom 19.2.1944 an Walther Baudert, Herrnhut, in: Das neue Lied im Evangelischen Gesangbuch. Lieddichter und Komponisten berichten (Arbeitshilfen des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nr.3), Düsseldorf 1996, 187.

Einleitung

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wir alle kommen, und durch das wir alle sind. Wir sind nicht aus uns selber. Es ist nicht unsre Tat, daß wir sind, sondern es ist Wunder, daß wir sind. Immer neu wird die alte Kinder- und Menschheitsfrage nach dem Woher des eigenen und alles Lebens gestellt, und immer wieder steht der Menschengeist fragend, fassungslos, erschüttert vor der unergründlichen Tiefe des Rätsels Leben. (…) Wir haben nicht das letzte Wort über uns; es wird über uns gesprochen; ein anderer ist es, der es über uns spricht. Wir sind einem Strome hingegeben, der ohne unser Wollen und Begreifen fließt. Wir rufen uns nicht ins Dasein, wir werden gerufen und finden uns vor. Wir leben nicht aus einem Willen zum Leben, sondern weil wir in das Leben hineingesandt, hineingeschickt sind, weil es uns als Schicksal aufgetragen worden ist. Unser Leben ist Antwort, Gehorsam. Der Rufer, der uns ruft und befiehlt zu leben, steht jenseits unseres Lebens, alles Lebens. Er ist der letzte, alles tragende Grund, dem Verstande unerfindlich, dem Glauben spürbar nahe, das Leben durchwaltend, Gott.“8

Im Glauben hatte Pötzsch erkannt: Unser Leben ist Antwort, d.h. die Antwort wird durch unser Leben gegeben. Der Rufer, der uns dazu aufruft, steht jenseits alles Lebens. Er ist das letzte Ziel. Er ruft uns zu sich. Bei den reichsweiten Kirchenwahlen am 11. Juli 1933 errangen die Deutschen Christen, die sich gemäß Artikel 24 des NSDAPParteiprogramms zu einem ‚positiven Christentum‘ und einem ‚artgemäßen Christusglauben‘ bekannten, mehr als 70% der Sitze in den kirchlichen Vertretungskörperschaften. In den meisten evangelischen Landeskirchen – 25 von 28 – lösten die DC-Mehrheiten den alten Bischof ab, so auch in Sachsen, wo Friedrich Coch, der bereits am 30. Juni von der sächsischen Landesregierung die Rechte und Befugnisse des Landesbischofs erhalten hatte, von der Synode im August 1933 zum Landesbischof bestimmt wurde. Wie dachte Pötzsch über das politische Geschehen des Jahres 1933? Der nicht mehr ganz junge Theologiestudent schreibt in sein Tagebuch: „Am 30. Januar kam, von Hindenburg berufen, die nationale bez.[iehungsweise] nationalsozialistische Regierung mit Adolf Hitler als Reichskanzler zustande. Damit begann der Kampf gegen alles Sozialistische, das man besonders gern unter dem Namen ‚Marxismus‘ als Ausgeburt der Hölle hinstellte.“ Am 14. Februar war Pötzsch die Aufnahme in die Studienstiftung des deutschen Volkes mitgeteilt worden. Er zeigte sich dankbar für diese wirtschaftliche Erleichterung und bekannte, er sei zum Dienst für das deutsche Volk bereit. Freilich, setzte er „mit Bitterkeit“ hinzu, „heute genügt es nicht mehr, Volk und Vaterland zu lieben und mit phrasenloser, stiller Selbstverständlichkeit zu dienen, sondern heute muß man mit Abzeichen und Fahnen, Uniformen und bestimmten Grußformeln bei Umzügen und Aufmär8

In: Jahresbriefe des Berneuchener Kreises 2 (1932/33), Michaelisbrief 1933, 154159, hier: 157f.

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Einleitung

schen seine ‚nationale Gesinnung‘ zu erkennen geben, andernfalls setzt man sich der Gefahr aus, als Feind des Vaterlandes, d.h. zugleich als ‚Marxist‘, verdächtigt zu werden. Nun, ich werde dem nationalistischen Rummel, der mit glänzenden organisatorischen und propagandistischen Mitteln entfacht wurde und gefördert wird, widerstehen – aus Liebe zu Volk und Vaterland. Vaterlandsliebe ist mir und sollte immer sein: selbstverständliche Voraussetzung, mit der man nicht zu prangen braucht und nicht hantieren gehen sollte. Dieses Stillschweigen habe ich aus den Erfahrungen des Weltkrieges, aus den großen Phrasen, die in ihm gemacht worden sind, und aus der Wirklichkeit, in die ich seitdem immer tiefer hineingesehen habe, gelernt.“ Die herrschenden Eliten haben nach Pötzschs Ansicht nichts dafür getan, „um auch dem ärmsten Deutschen sein Vaterland lieb und wert zu machen[.]“ Es fehle an Gerechtigkeit. „Egoismus von oben hat unser Volk gespalten, hat den deutschen Arbeiter dem Vaterlande entfremdet.“ An anderer Stelle bemerkt er: „Es ist eine unbestreitbare Tatsache – und sie begegnet einem auf Schritt und Tritt – daß sich heute mit der ‚nationalen Revolution‘ sehr starke reaktionäre Kräfte verbunden haben.“9 Zur Reichstagswahl am 5. März 1933 notiert er: „Die Nationalsozialisten erhielten eine so eindeutige Mehrheit, daß ihre Vormachtstellung unbestritten war. Immer deutlicher wurde seit jenen Tagen, daß Deutschland eine Revolution durchlebte, die sogenannte nationale Revolution. Daß sie im Ganzen unblutig verlief, zeichnet sie aus; an umwälzenden Ereignissen steht sie nicht hinter anderen Revolutionen zurück.“ Von den Terrorakten der Nazis gegen Sozialdemokraten und Kommunisten scheint Pötzsch in Leipzig nichts zu wissen. „Ich selbst stehe abseits, bringe nicht die Freude, geschweige den Jubel und die Begeisterung auf, die Unzählige ergriffen haben. Mit Fahnen, Abzeichen (Hakenkreuz u.a.) u. Liedern bekennt alles Volk seine ‚Vaterlandsliebe‘. Auch ich habe sie, als selbstverständliche Voraussetzung, und ehrenhaft hoffe ich vor Volk und Vaterland zu bestehen, aber ich habe es verlernt, (das Leben leistete mir diesen schmerzlichen Dienst!!) den leichten, schnellen, begeisterten Bekenntnissen Bedeutung beizumessen. Es geht mir allein um das wesenhafte Bekenntnis, im Sein, in der Tat. So in der Religion, so auch dem Vaterland gegenüber!“ 10 Dieses Geständnis zeigt, wie Pötzsch sich selbst verstand: als stiller Patriot, dem es widerstrebte, seine Vaterlandsliebe zur Schau zu tragen. Es zeigt einen Mann, der auf Phrasen und lautstark geäußerte Begeisterung empfindlich reagierte, weil sie seinem Wesen fremd waren. Begreiflich, dass er es ablehnte, sich ‚vorbehaltlos‘ der nationalen Bewegung anzu9

Tagebuch 1933, bisher unveröffentlicht. Ebd.

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Einleitung

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schließen. Das Vaterland, dem er dienen will, ist für ihn nicht das höchste aller Güter. Silvester 1933, in einer Predigt über das erste der Zehn Gebote, „Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst nicht andre Götter haben neben mir“ (Ex 20,2a.3), heißt es: „Alles und jedes kann, Gottes eigene Gaben können zum Abgott, zum Götzen werden; sie werden es durch falschen Gebrauch, durch falsche Stellung, die wir den Sachen Gott gegenüber einräumen. Arbeit ist Gottesdienst, aber es gibt auch ein Arbeiten, das Götzendienst geworden ist. Leben und Ehre, Gut und Blut, Volkstum und Vaterland sind Gottesgaben, aber sie werden zu Götzen, wenn wir unser Herz ausschließlich daran hängen.“11 Pötzsch erlebte den Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte am 1. April 1933. Augenzeugen berichteten ihm, „daß – entgegen den Zeitungsnachrichten – doch hier und da Juden geschlagen, mißhandelt oder durch Verhöhnung verletzt“ wurden. Er persönlich „lehne den Boykott ab, weil er Schuldige und Unschuldige traf“, und halte ein Vorgehen, das die Massen gegen ‚die Juden‘ erregt, für unchristlich. Allerdings: „Daß man den Einfluß des Judentums (Stellenbesetzung …) beschränken will auf das Maß des Bevölkerungsanteils, halte ich für gerecht und gut.“12 So dachten damals auch namhafte Publizisten, Professoren der Theologie und nicht wenige Pfarrer.13 Im März 1935 wurde Pötzsch nach Wiederau berufen und am 29. März 1936 vorzeitig als Pfarrer ordiniert. Gerade erst hatte er am 9. Februar 1935 das 1. Theologische Examen in Leipzig abgelegt, am 30. November 1936, also nach der Ordination, das 2. Examen mit „fast vorzüglich“ beim Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenamt in Dresden. Wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen wurde er im Dezember 1936 von einem NaziSpitzel im Kirchenvorstand denunziert. Es kam zum offenen Konflikt mit dem nationalsozialistischen Ortsgruppenleiter. Pötzsch konnte nicht länger Pfarrer der sächsischen Landeskirche sein und ging zur Marine zurück. Seine Kirchenleitung hatte erklärt, man wolle ihn nie wieder im Bereich der 11

Maschinenschriftlicher Text der Predigt vom 31.12.1933, 7 Seiten, hier: S. 6. Ebd. 13 Wie z.B. der christlich-völkische Publizist Wilhelm Stapel, der Erlanger Theologe Paul Althaus und der seit November 1933 als Oberkirchenrat der sächsischen Landeskirche tätige Walter Grundmann (vgl. Manfred Gailus / Clemens Vollnhals [Hg.], Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“, Göttingen 2016, 80, 106f, 208f). Pfarrer R. August vom Lutherstift aus Frankfurt a. d. Oder meinte, „der Einfluß des Judentums“ sei „ganz ohne Frage höchst unheilvoll“, und es zu bekämpfen sei „Pflicht um der Liebe willen“ (Der Nationalsozialismus, seine Ziele und seine weltanschaulichen Grundlagen, in: Die Diakonisse 7 [1932], Heft 8/9, 258-272, Heft 10, 312-321, hier: 317). 12

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Landeskirche beschäftigen. Es war zu dieser Zeit noch nicht abzusehen, dass sein weiterer Berufsweg ihn nach Holland führen würde. Bereits am 1. Januar 1938 war er durch Feldbischof Dr. Franz Dohrmann (1881-1969) als neuer Marinepfarrer an die Garnisonkirche in Cuxhaven berufen worden; am 4. Januar sollte er seinen Dienst antreten. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Seelsorge für die Marine auf der Hochseeinsel Helgoland. Die Nachricht überraschte ihn, weil er nach seiner Vorstellung im August 1937 in Berlin nichts mehr von dort gehört hatte. Er nahm an, wegen der kirchenpolitischen Streitigkeiten habe man die ursprüngliche Absicht, ihm ein Marinepfarramt zu übertragen, wieder fallen gelassen.14 Doch Dohrmann, der den Kirchenkampf aus der Militärseelsorge heraushalten wollte, war an Pötzsch interessiert. Er vermied es, radikale DC-Pfarrer zu berufen, und begünstigte Pfarrer aus Kreisen der BK. 15 So rasch, wie man es von ihm verlangte, konnte Pötzsch seine Gemeinde nicht verlassen. Auf sein sofort eingereichtes Gesuch hin wird ihm Urlaub bis zum 10. Januar gewährt, um seine Angelegenheiten in Wiederau zu ordnen. Der Abschied fiel ihm schwer, denn er hatte sich in der Dorfgemeinde wohlgefühlt. Ihm lag daran, für seine neue Aufgabe gut vorbereitet zu sein. Deshalb hatte er sich noch als Pfarrer in Wiederau mit einem Schreiben vom 15. Oktober 1937 an den II. Admiral der Nordsee gewandt: „Ich hätte … gern vor der zu erwartenden Einberufung in die Marineseelsorge an einer militärischen Übung bei der Marine teilgenommen, um die Lebensverhältnisse der zu betreuenden Soldaten noch einmal an mir selbst zu erfahren. Zwar bin ich selbst etwa 2 ½ Jahr[e] Soldat gewesen, davon über ein Jahr bei der II. Matrosen-Division und an Bord S.M.S. Ostfriesland im Kriege, aber die eigene Dienstzeit liegt weit zurück, auch sind die Lebensverhältnisse, Aufgaben und Anschauungen der heutigen Soldaten wieder anders als in jenen längst vergangenen Jahren. Einen Dienstrang besitze ich nicht. Im Jahre 1918 war ich Matrose; durch die Revolution von 1918 war die Möglichkeit des Vorwärtskommens ausgeschaltet. Auch die Reichswehr, der ich noch einmal ein Jahr in einem Infanterieregiment angehört habe, bot die Möglichkeit einer Beförderung nicht. Die Hochschulreife habe ich erst nach dem Ausscheiden aus dem Heeresdienst erworben. Ich bin also gewillt, jetzt als Matrose zu üben. Sollte die Möglichkeit dazu bestehen, so bitte ich, mich möglichst bald zur Übung einzuberufen. Ich hätte gern die Übungsreihe bis zum Eintritt in das Reserveoffiziersverhältnis auf mich genommen, habe dazu aber durch Überschrei14

Vgl. Tagebuch 1938, Eintrag vom 3.1.1938. Vgl. Dieter Beese, Seelsorger in Uniform. Evangelische Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1995, 155-157. 15

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ten der Altersgrenze wohl keine Aussicht mehr. Es liegt mir aber sehr daran, nicht nur als Marinepfarrer, sondern auch als Soldat der Marine Dienst zu tun, gleich an welcher Stelle. Da auch andere Männer meines Jahrgangs und älterer Jahrgänge zu Übungen eingezogen werden, bitte ich, mich nicht auszuschließen.“16

Das Gesuch wurde bewilligt. Am 11. Januar 1938 traf Pötzsch in Cuxhaven ein, wo ihm der Kommandant der Befestigungen in Nordfriesland, Kapitän zur See von Stosch, die Urkunde zur Ernennung als kommissarischer Marinepfarrer aushändigte. Noch am selben Tag17 erfolgte die Vereidigung. Die Eidesformel lautete: „Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“18 In Wilhelmshaven machte Pötzsch Marineoberpfarrer Ronneberger seinen Antrittsbesuch und lernte die Kollegen Effey und Rogge kennen; Effey erwies sich als Michaelsbruder. Der kommandierende Vizeadmiral Boehm gab sich im Gespräch als Christ zu erkennen. Auch der Soldat, erklärte er, brauche die Grundlage christlicher Religion. „Viele Offiziere kämen in Konflikt mit der Kirche, weil sie den Eindruck hätten, sie könnten in der Kirche nicht völlig ehrlich sein.“19 Von Ende Januar bis März absolvierte Pötzsch als einfacher Soldat eine 59 Tage dauernde Ausbildung bei der Marine. „Ich hatte Gelegenheit“, schreibt er rückblickend, „2 Monate lang in engster soldatischer Gemeinschaft mit den Menschen zusammen zu leben, die mir in der Marineseelsorge einmal anvertraut sein würden. Aus nächster Nähe konnte ich ihr Denken u. Empfinden, ihre Haltung in heutiger Zeit, unmittelbar erfahren; als Kamerad unter Kameraden brauchte ich hier nicht erst Abstände u. Hemmungen, die bekannte Distanz zu überwinden.“20 Dabei fühlte er sich mitten unter den vielen Menschen einsam, und es war ihm nicht leicht gefallen, sich ein- und den meist jungen Unteroffizieren unterzuordnen, die weniger Lebenserfahrung hatten als er. Der vorgesetzte Kapitänleutnant attestierte ihm eine gute Führung und Diensttüchtigkeit. In der Beurteilung heißt es weiter: „Gutmütiger, bescheidener und ausgeglichener Charakter. Seinen Kameraden gegenüber sehr behilflich, daher sehr gut bei ihnen beliebt.“ Die 16

Personalakte, Az. PERS 6/260092. Seine Teilnahme an der Militärübung erfolgte also auf eigenen Wunsch und war nicht durch Kriegsvorbereitungen bedingt (anders Naglatzki, 146, im Anschluss an Matthes). 17 So das Tagebuch 1938. Die von Pötzsch unterzeichnete Bescheinigung ist auf den 20.1.1938 datiert. 18 Ebd., Az. PERS 6/260093. 19 Tagebuch 1938. 20 Ebd.

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militärischen Leistungen und Eigenschaften werden wie folgt beschrieben: „Immer frisch und aufmerksam im Dienst. Sehr willig und interessiert. Zeigt sehr gute Leistungen. Wirkt im Dienst gut auf seine Kameraden ein u. nimmt diese mit. Sein militärisches Benehmen ist sicher und zuvorkommend. Gutes Auffassungsvermögen. Im Sport trotz seines Alters sehr gewandt u. ausdauernd.“21 Am Montag, 28. März 1938, wurde der neue Marinepfarrer Pötzsch durch Marineoberpfarrer Ronneberger in einem Gottesdienst in der Standortkirche Cuxhaven in sein Amt eingeführt (Abb.3). Da er wegen seines geringen Dienstalters nur ein relativ kleines Gehalt bekam, war er mit seiner großen Familie wirtschaftlich schlecht gestellt. Als er auf eigene Kosten eine Uniform für seinen neuen Dienst anschaffen musste, sah er sich genötigt, am 23. April 1938 beim Marinestationspfarrer in Wilhelmshaven eine Beihilfe zu beantragen. Das Kommando der Marinestation der Nordsee lehnte das Gesuch ab und bot stattdessen ein unverzinsliches Darlehen an, doch der vorgesetzte Marineoberpfarrer setzte sich beim Oberkommando der Kriegsmarine mit Erfolg dafür ein, dass Pötzsch eine Unterstützung erhielt. Seine Vorgesetzten kamen übereinstimmend zu dem Urteil, dass Pötzsch „für die Einstellung als Marinepfarrer in jeder Weise geeignet“ sei. Er sei „ein gefestigter Mensch, der seinen geraden Weg geht“, lautet die auf Mai 1938 datierte Beurteilung des kommandierenden Admirals, der dem 38jährigen Pfarrer ein bemerkenswertes Zeugnis ausstellt: „P. hat seine Dienstzeit bei der Marine am Schlusse des Krieges und kurz danach abgeleistet. Die Zeugnisse seiner Vorgesetzten während der Revolutionszeit heben seine Anständigkeit, seine Zuverlässigkeit und die Gediegenheit seines Wesens hervor. Eine gleichgute Beurteilung hat er sich während seiner im Januar abgelegten 8wöchigen Dienstzeit erworben. Während seiner Einführungszeit vor Übernahme seines Kommandos hat der Marinestationspfarrer, Marineoberpfarrer Ronneberger, diese Eigenschaften bestätigt gefunden. Es haben sich keine Anhaltspunkte gezeigt, an seiner positiven Einstellung zum Nationalsozialismus zu zweifeln. Was er beschworen hat, mit dem nimmt er es ernst. Seine politische Einstellung ist keinesfalls zu beanstanden.“22 Am 1. März 1939 wurde Pötzsch zum Beamten auf Lebenszeit und ständigen Marinepfarrer ernannt. Er „hat sich gut in die Marineverhältnisse hineingefunden und hat eine gute Befähigung zum Marinepfarrer“, heißt es im Beurteilungsbericht des Kapitäns zur See von Stosch. Pötzsch versehe 21 22

PERS 6/260093 PERS 6/260094.

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„seinen Dienst mit sehr grossem Eifer, Gewissenhaftigkeit und Verständnis. (…) Die Kommandantur Wesermünde bestätigt, daß er auch dort seine Aufgaben mit Geschick zur Zufriedenheit erfüllt hat.“ Sein Verhalten in und außer Dienst sei „in jeder Beziehung einwandfrei“, Pötzsch sei „beliebt und geachtet.“23 Ein schneidiger Offizier wird er freilich nicht. Der Marinedekan wünscht sich bei ihm eine „stärkere Betonung militärischer Haltung.“24 Dass es in der Wehrmacht überhaupt noch Marinepfarrer gab, war keineswegs selbstverständlich. Trotz Ablehnung durch die Partei hatte Großadmiral Erich Raeder die Einstellung von Marinepfarrern verfügt. 25 Schon im Kaiserreich standen sie als Marinebeamte im Offiziersrang. 26 Das galt auch im NS-Staat, wo alle Marineseelsorger seit 1937 Wehrmachtspfarrer waren.27 Als Marineoberpfarrer trug Pötzsch die Uniform eines Hauptoffiziers der Kriegsmarine. Er betonte jedoch stets, dass nicht der Staat, sondern eine kirchliche Instanz ihn zu seinem Dienst beauftragt hatte. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war der zuständige Feldbischof der Wehrmacht. Im Wehrmachtsteil der Kriegsmarine in der Nordsee wurde die kirchliche Leitung vom Marinedekan in Wilhelmshaven, Pfarrer Friedrich Ronneberger (1886-1968), ausgeübt.28 Mit Kriegsbeginn im September 1939 wurde Cuxhaven zur Festung erklärt. Wegen Bombardierungsgefahr kehrte Pötzschs Familie (Abb.4) bald darauf nach Wiederau zurück und fand anschließend bis Kriegsende eine Bleibe in Goslar. Januar 1940. Ein Gedicht aus dieser Zeit sieht Volk und Land im Delirium, erfasst von tödlicher Krankheit: „Ganz Deutschland brennt im Fieber. / Ruft keiner ‚Volk in Not?‘ / Ach nein, sie lügen lieber / und nennen Heil das Fieber / und bald ist Deutschland tot.“ Pötzsch notiert dazu in seinem Tagebuch:

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Beurteilungsbericht vom 4.2.1939, ebd. Stellungnahme vom 31.3.1939, ebd. 25 Vgl. Schreiben von Walter Baum, Wilhelmshaven, an Dr. H. Krausnick, Institut für Zeitgeschichte, München, vom 16.6.1956, Anlage 1 (IfZ Archiv 3121/63). 26 Vgl. Kapitän Foss, Marine-Kunde. Eine Darstellung des Wissenswerten auf dem Gebiete des Seewesens (zuerst 1901), Nachdruck Paderborn 2013, hier: 586 (46. MarinePfarrer). 27 Vgl. Hans Dieter Bastian, Art. Militärseelsorge, in: TRE 22(1992), 747-752, hier: 748. 28 Vgl. Stephan Huck / Frank Morgenstern, Friedrich Ronneberger – Pastor unter drei Kreuzen, in: Mit Schwert und Talar. Drei Pastoren zwischen Kirche und Marine, Wilhelmshaven 2017, 8-27. 24

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Einleitung „Ich kann in dem offenen oder versteckten Kampf gegen das Christentum und die christliche Kirche in Deutschland nur ein mutwilliges oder verblendetes Untergraben der Fundamente sehen, auf denen der gesunde Bestand unseres Volkslebens ruht und allein ruhen kann. Ich sehe mit heftiger Sorge und leidenschaftlicher Erregung, wie hier (…) in gefährlicher, frevelhafter Blindheit und nicht selten erschütternder Ahnungslosigkeit und Dummheit das Christentum als die wichtigste, unerschöpfliche Kraft-, Kultur- und Lebensquelle des germanischdeutschen Volkes verkannt, verachtet und abgeschnürt wird. (…) Es gibt nichts, das das Christentum ersetzen könnte. Und die aufgeblasenen Hansen, die unser Volk heute vom Christentum hinweg und angeblich über das Christentum hinaus führen wollen, die werden den Ersatz des Christentums wahrlich nicht aus ihren leeren Ärmeln, Hirnen und Herzen herausschütteln können.“29

Pötzsch sieht Anzeichen dafür, dass das deutsche Volk „im Allerinnersten nicht gesund ist“,30 und zitiert das Wort Jesu: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Mt 16,26) (Abb.5). Im Mai 1940 wurde Arno Pötzsch als Marinepfarrer (seit 1.1.1944: Marineoberpfarrer) und Militärgeistlicher für die Niederlande mit Sitz in Den Haag abkommandiert.31 In diesem Amt war er vom 17. Juli 1940 bis zum Ende des Krieges tätig.32 Bereits am ersten Tag seines Dienstes meldete er dem Marinedekan, Offiziere, denen er sich vorstellte, hätten sich entgegenkommend und hilfsbereit gezeigt. Er bat darum, ihm „einige Hundert Marinegesangbücher … und Bücher und Verteilhefte nach Möglichkeit zur Verfügung zu stellen.“33 Als Marinepfarrer stand er „den Dienststellen und den einzelnen Soldaten in Seelsorgeangelegenheiten jederzeit zur Verfügung.“ 34 Er hatte den Auftrag, die geistliche Versorgung für das deutsche Marinepersonal in einem Gebiet zu organisieren, das von den niederländischen Watteninseln bis nach Belgien hinein reichte. In diesem Gebiet war er auch für die Kriegsgräberfürsorge verantwortlich. „Er hatte die Gefallenen zu beerdigen und die Hinterbliebenen dieser Kriegstoten zu betreuen, ebenso in 29

Tagebuch 1940. Ebd. 31 Vgl. zum Folgenden: Arno Pötzsch, Sagt, dass die Liebe allen Jammer heilt. Geistliche Lieder und Gedichte. Mit einer Einführung in Leben und Werk hrsg. von Detlev Block, Stuttgart 2000, 17ff; Sonja Matthes, In Gottes Hand. Arno Pötzsch. Ein Lebensbild, Hannover 2000, 62ff; Aart van der Poel, Vijand – Vriend – Broeder. Arno Pötzsch in Nederland 1940-1945, Voorburg 2003, 59ff. 32 Zu den dienstlichen Daten vgl. Nachlass Ronneberger (EZA 621/34). 33 Schreiben an Marinedekan Ronneberger, Wilhelmshaven, vom 17.7.1940, in: PERS 6/260094. 34 Aus dem Befehl Nr. 18 des Marinebefehlshabers in den Niederlanden, in: PERS 6/260094. 30

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Den Haag die vom deutschen Kriegsgericht zur Exekution Verurteilten, auch die Verwundeten und Gefangenen.“35 Pötzsch fand sich in den neuen Verhältnisse rasch zurecht. Er knüpfte viele Verbindungen zu anderen Dienststellen, aber auch zu deutschen und holländischen Privatpersonen. Beim Marinebefehlshaber stand jederzeit ein Fahrzeug zu seiner Verfügung. Sein Dienst als Seelsorger wurde geschätzt. Besorgt, er könnte durch seine Dienstführung Anlass zu seiner Abkommandierung gegeben haben, versicherte er dem Militärdekan: „ich habe nach Ansprachen, Beerdigungen, Predigten usw. ungesucht und ungewollt immer wieder Dank und mir geradezu peinliche Worte der Anerkennung zu hören bekommen.“36 Seine Besorgnis erwies sich als unbegründet. Ein militärischer Vorgesetzter würdigte ihn als einen „von seltenem Ernst und Idealismus und tiefem sittlichem Ernst getragener Seelsorger.“37 Pötzsch hatte eine besondere Gabe, andere seelsorglich anzusprechen. Gerade den Trostbedürftigen gab er Worte mit, die sich einprägten und in bestimmten Situationen wieder präsent waren. Er verstand es, mit seinen Predigten Menschen zu berühren. Das haben ihm auch seine Vorgesetzten während des Krieges attestiert. Im März 1939 vermerkt der Marinedekan noch mit leichtem Tadel: „Seine Predigten sind gut. Sie würden noch besser sein, wenn er in ihnen das Soldatische mehr zu Wort kommen ließe. Seinem Wesen nach ist er etwas weich und das spiegelt sich in seinen Predigten wieder [sic!].“38 Zwei Jahre später lautet seine Beurteilung: „Der Marinepfarrer Pötzsch gehört zu den Pfarrern, die es mit ihrem Amt besonders ernst nehmen. Sein Fleiß und seine Rührigkeit ist vorbildlich. (…) Seine Predigten sind schlicht und einfach seinem Wesen entsprechend, aber sie finden trotzdem Anklang.“ 39 Noch positiver urteilen die militärischen Vorgesetzten. Ein Korvettenkapitän berichtet: „In seinen Predigten verliert er sich nicht in Dogmatik. Er spricht schlicht und ohne jede Phrase und weiß daher seine Zuhörer immer zu packen. Besonderes Geschick entwickelte er in dieser Hinsicht bei Beerdigungsansprachen, welche den Trauernden wirklichen Trost und Aufrichtung geben.“40 Der Stabschef nennt Pötzsch „bei aller Bescheidenheit und stillen Zurückhaltung eine ungewöhnliche Persönlichkeit, getragen von tiefem Idealismus und aufrichtiger Gläubigkeit.“ Seine Predigten seien 35

Matthes, 66. Schreiben an Marinedekan Ronneberger vom 7.10.1940, in: PERS 6/260094. 37 Undatierter Beurteilungsbericht, in: PERS 6/260094. 38 Beurteilung durch Marinedekan Ronneberger, 31.3.1939, in: PERS 6/260094. 39 Beurteilung durch Marinedekan Ronneberger vom 15.2.1941, in: PERS 6/260094. 40 Beurteilungsbericht bei Abkommandierung am 15.7.1940, unterzeichnet vom Korvettenkapitän und Kommandanten im Abschnitt Cuxhaven. In: PERS 6/260094. 36

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schlicht, gut verständlich, „ohne pastoralen Beigeschmack, oft ergreifend …“41 Hört man genau hin, so tritt ein Zug in den Gutachten besonders hervor. Pötzsch predigte gehaltvoll und schlicht, dadurch hat er einfache Menschen erreicht. Das ist eine seltene Gabe. Was er über seine Lieder schrieb, gilt auch für seine Predigten: sie wurden „aus der Liebe zu allem Schlichten, Echten in Leben, Denken und Frömmigkeit … ganz einfach.“ 42 Man nahm ihm ab, dass er ein gläubiger Mensch war, und spürte, dass er ‚wirklichen Trost‘ geben konnte. Er hatte sich der Not der anderen nicht entzogen, sondern ihr standgehalten und sie mitgetragen. Deswegen wurde dieser Prediger von seinen Zuhörern hoch geschätzt. Im Sommer 1941 kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Heeresoberpfarrer der Niederlande Stolte. Solcher Kompetenzenstreit zwischen Heeres- und Marineseelsorge war anscheinend kein Einzelfall. Er muss im Zusammenhang mit der Rivalität zwischen dem Feldbischof in Berlin und dem Marinedekan in Wilhelmshaven gesehen werden, die auch persönlich ein schlechtes Verhältnis zueinander hatten. Ronneberger bemühte sich mit Erfolg, die Marine gegen den Einfluss Dohrmanns abzuschirmen. 43 „Selbst die Betreuung von Heereseinheiten durch Marinepfarrer erfolgte ohne Abstimmung mit dem Feldbischof und unter alleiniger Dienstaufsicht des ‚Dienstältesten Marinedekans‘.“44 Pötzsch informierte Ronneberger vertraulich über die „Spannungen“ zwischen Stolte und ihm und wandte sich direkt in einem fünf Seiten langen Brief an den Heeresoberpfarrer. Entschieden wies er den Vorwurf eines Übergriffs in fremde Arbeitsgebiete zurück und erinnerte an bisherige Besprechungen, in denen etwa die Besetzung der Stelle in Amsterdam mit einem Marinepfarrer vereinbart wurde, da der Feldbischof keinen Heerespfarrer dort einsetzen konnte. Als Stolte sich nicht an diese Absprache hielt, sei bei ihm, Pötzsch, das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des anderen zerbrochen. Über die um Sachlichkeit bemühte Klärung hinaus geht es ihm aber auch darum, seine Selbständigkeit und gleichrangige Stellung zu betonen: „Ich bin zur brüderlichen Begegnung und Verständigung selbstverständlich jederzeit und auf das allerherzlichste bereit, zu einer dienstlich gemeinten Unterordnung allerdings nicht. (…) Unter gar keinen Umständen kann und werde ich mir als der dienstaufsichtführende Marinepfarrer beim Mari41

Beurteilung durch Kapitän zur See E.E. Schulze vom 5.1.1944, in: PERS 6/260094. In seinem Beitrag für die Zeitschrift Jugend unter dem Wort, zit. nach Matthes, 151. 43 Vgl. Beese, aaO. 161, 170-173. 44 Ebd. 162. 42

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nebefehlshaber nachsagen lassen, daß durch mich die Wehrmachtsseelsorge in den Niederlanden erschwert werde. Wir Marinepfarrer haben in aller Schlichtheit und Treue und in bestem Einvernehmen mit den militärischen Dienststellen aller Wehrmachtsteile (…) [unseren Dienst] ausgeübt. Es geht unter keinen Umständen an, mir oder den Marinepfarrern überhaupt, die[,] längst bevor Sie in dieses Land kamen, hier arbeiteten und die unverändert ihre alte, ihnen zugewiesene und von ihnen übernommene Arbeit weitertun, den Vorwurf des Friedestörens zu machen.“ 45 Pötzsch betreute nicht nur deutsche Soldaten, die zur Hinrichtung verurteilt waren, sondern seit 1942 auch Holländer auf dem Weg zur Erschießung, obwohl er nicht dazu verpflichtet war (Abb.6). Am 29. August 1942 begleitete er den in Utrecht inhaftierten Niederländer Willem G.J. Roell zur Exekution. Kurz vor seiner Erschießung reichte Roell dem Pfarrer zum Dank die Hand, dieser nahm die Hand des Verurteilten. Soldaten, die an dieser menschlichen Geste Anstoß nahmen, machten daraufhin Meldung. Der Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden erhielt durch den SSOffizier, der die Hinrichtung geleitet hatte, Kenntnis von dem Vorfall und verlangte „schärfstes Einschreiten gegen den Marinepfarrer Pötzsch.“ Der Marinebefehlshaber bat ihn, vorerst nichts zu veranlassen, da er zunächst Rücksprache mit Pötzsch nehmen wollte. Er kam zu dem Ergebnis, „daß man ihm ein strafbares oder ehrenwidriges Verhalten nicht vorwerfen kann, und daß er nach der Lage der Dinge kaum anders handeln konnte wie er getan hat.“46 Marinedekan Ronneberger trat in seiner Stellungnahme ebenfalls für Pötzsch ein und ordnete an, „daß künftighin kein Marinepfarrer mehr an Exekutionen von Ausländern teilzunehmen hat. Das ist Sache der einheimischen Pfarrer oder Pfarrer der deutschen Gemeinden.“47 Das Beschwerdeverfahren wurde eingestellt. Pötzsch hat noch bis zum 11. Mai 1944 Holländer zur Exekution begleitet. Außerdem betreute er im Gefängnis viele Holländer, die durch ein SSund Polizeigericht verurteilt und durch SS-Polizei-SD hingerichtet wurden. Er brachte ihnen Bibeln, Ausgaben des Neuen Testaments und Psalmenbücher.48 Mit dem Verurteilten Roell verbrachte er bis zur Exekution mehr als 45

Schreiben an Heeresoberpfarrer Stolte vom 8.6.1941, in: PERS 6/260094. Geheimer Bericht des Marinebefehlshabers Hoffmann vom 16.9.1942, in: PERS 6/260094. 47 Datiert vom 24.9.1942, in: PERS 6/260094. 48 Vgl. die Listen der vor ihrer Hinrichtung betreuten Personen, die Pötzsch am 10.8.1946 an Ronneberger geschickt hat, in: PERS 6/260094. Zu seiner Tätigkeit als Gefängnisseelsorger siehe Bert van Gelder, Deutsche Betreuung in dem holländischen Polizeigefängnis der SIPO/des SD in Scheveningen während des Krieges, in: Militärseelsorge 43 (2005), 101-118, hier: 108-114. 46

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4 Stunden. Nach seinem Bericht waren sie „ausgefüllt mit außerordentlich ernsten, schwerwiegenden, seelsorgerlichen Gesprächen, wie ich sie in solcher Tiefe selten erlebt habe. (…) Die Einstellung und Haltung des Jonkheer Roell war in jeder Weise so, daß man ihm die menschliche Achtung nicht versagen konnte.“49 Im Bericht folgt eine Schilderung der Exekution: „Etwa 13.40 Uhr kamen 2 Uffz. der Feldgendarmerie, um den Verurteilten abzuholen. Obgleich ich das Abholungskommando noch eine Zeit lang warten ließ, stellte sich später heraus, daß die Abholung noch immer viel zu früh erfolgt war. Da mir der größere Wagen zur Verfügung stand, ließ ich den Verurteilten, dem die Feldgendarmen Handschellen angelegt hatten, in meinen Wagen einsteigen, dazu 2 Feldgendarmen. Der mit noch einem Feldgendarm besetzte Wagen der Feldgendarmerie fuhr wegweisend voraus, fiel aber später durch Reifenschaden aus. – Wir gelangten dann zu dem mir bis dahin unbekannten Fort Rhyjnauwen, passierten ohne angehalten zu werden[,] die Torwache und gelangten auf den Wiesenplatz, auf dem später die Exekutionstattfinden sollte. Da es noch viel zu zeitig war, noch nicht 2 Uhr, standen und lagen die Soldaten des Erschießungskommandos noch im Grase umher. Um dem Verurteilten den Blick auf die Wiese, dem Richtplatz und die im Hintergrunde aufgerichteten Pfähle und dieVorbereitungen der Exekution zu entziehen, dirigierte einer der Feldgendarmen, ein Feldwebel, meinen Wagen hinter eine Böschung in der Nähe der Kasematten. Wegen der drückenden Hitze stiegen die Feldgendarmen und der Fahrer aus und blieben am Wagen stehen, während ich mit dem Verurteilten im Wagen verblieb. Daß das ständige Wartenmüssen auf die Exekution quälend war und daß der Verurteilte die Anwesenheit des Pfarrers und seinen Zuspruch bei diesem Aufden-Tod-warten-müssendankbar empfand, versteht sich leicht. Ein Auf- und Abgehen oder ein Betreten der Kasematten hat nicht stattgefunden. – Halb 3 Uhr traten die Feldgendarmen an den Wagen heran, öffneten die Tür und forderten auf, ihnen zu folgen. Mit dem Gefangenen und begleitet von den 2 Feldgendarmen legte ich den etwa 100 m langen Weg zu einem der Pfahle zurück, vor dem [das] Erschießungskommando Aufstellung genommen hatte. Am Pfahl wurden dem Verurteilten, der ruhig und gefasst war, die Handfesseln, abgenommen. Ich sprach leise nur ganz wenige Worte zu demVerurteilten, beantwortete dann aber eine seelsorgerliche Frage, die der Verurteilte plötzlich noch gestellt hatte. Dann verabschiedete sich JonkheerRoell von mir und sagte mir etwa die folgenden Worte:‚Herr Pfarrer, ich danke Ihnen für all Ihre Hilfe in diesen Stunden.‘ Bei diesen Worten hat mir, soweit ich mich entsinne, Jonkheer Roell die Hand zum Dank gegeben, und ich habe weder als Mensch noch als Seelsorger, der eben in mehr als 4 Stunden die tiefsten Einblicke in dieses nun zu Ende gehende Menschenleben getan hatte, die Verpflichtung gefühlt, diese einfache Geste des Dankesund desAbschieds abzuweisen. Daß ich dem Verurteilten vom mir aus ‚herzlich die Hand geschüttelt‘ hätte, ist eine völlige Verkennung und Verzeichnung 49

Bericht vom 17.9.1942, in: PERS 6/260094.

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des Tatbestandes; bei der mir eigenen Zurückhaltung und [dem] schweren Ernst der Situation lag mir eine Geste, wie sie mir vorgeworfen wird, gänzlich fern. Ich habe dann dem Verurteilten, der nicht recht wußte, wohin er mit seinen Händen sollte, gesagt, er möge seine Hände falten. Ich gab nach diesen letzten Reden mit dem Verurteilten, das doch nur wenige Augenblicke gewährt hatte, dem anwesenden Oberkriegsgerichtsrat durch Wendung und Blick zu verstehen, daß ich mit meinem Darauf verlas der Vertreter des Kriegsgerichts meinem Auftrage Auftrage zu zu Ende Ende sei. sei.Darauf das Urteil, und die AnordUrteil, seine seine Bestätigung, Bestätigung, die die Ablehnung Ablehnung des desGnadenerweises Gnadenerweisesund Exekution und und übergab übergab dem dem das das Erschießungskommando Erschießungskommando befehligennung der Exekution Offizier den den Verurteilten Verurteilten zur zur Vollstreckung.Währenddessen Vollstreckung.Währenddessen richtete ich leise den Offizier ein letztes letztes Wort, einen einzigen kurzen Spruch,an den Gefangenen und trat dann Seite. Dann Dann folgten folgten schnell schnell die militärischen militärischen Kommandos und die Schüsse, zur Seite. Verurteilten sofort töteten. Ich hatte in unmittelbarer Nähe des nun Erdie den Verurteilten schossenen gestanden, trat nun noch einmal an den am Boden Liegenden heran,stand ran, stand dort dort ganz ganz schlicht schlicht in in betender betender Haltung Haltung ein ein paar Augenblicke, etwa 2 Minuten lang, still ohne jede Geste oder liturgische Form[,] und befahl den auf Erden Gerichteten in die Hände Gottes. – Dann verabschiedete ich mich von jeanwesenden Offiziere, wartete noch auf die mit mir gekommenen Felddem der anwesenden die wegen wegenderReinigung gendarmen, die der Reinigungdes des Platzes Platzes einige einige Anordnungen Anordnungen trafen (währenddessen war der Beerdigungsunternehmer mit dem Einsargen des Toten beschäftigt) und verließ dann die Richtstätte und im Pkw das Port Rhijnau50 wen.“50

Zuletzt stellt Pötzsch fest: „Ich habe nichts getan, was der Würde eines deutschen Menschen und deutschen Offiziers im besetzten Kriegsgebiet widerspräche, ich habe aber auch nichts unterlassen, was zu einem echten 51 menschlich-seelsorgerlichen menschlich-seelsorgerlichen Verhalten gehört.“ 51 Der Normen- und Gewissenskonflikt, der ihn in seinem Dienst in ständige Anspannung versetzte, wird in diesem einen Satz erkennbar. erkennbar. Im November/Dezember 1942 sah sich Pötzsch mit einer anderen Anschuldigung von seiten der Gauabteilungsleiterin für Mütterdienst konfrontiert. Eine Mitarbeiterin der NS-Frauenschaft, Fräulein Ahrens, hatte ihn in einem Bericht an den Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden denunziert. Er habe angeblich auf die Lehrkräfte in den Mütterschulen „in weltanschaulicher, rassenpolitischer, gesundheitspflegerischer (!) Hinsicht“ Einfluss genommen. Deswegen müsse er sofort abberufen werden. Pötzsch informierte den Marinedekan, wandte sich sich aber aber auch auchdirekt direktan andie dieLeiterein Leiterin der NS-Frauenschaft in Den Haag, um die Vorwürfe zurückzuweisen. Er habe Kontakt zu Lehrkräften gefunden, die ihre „christliche Bindung“ zu erkennen gaben. Eine Schulleiterin habe „eine tiefere Neigung“ zu ihm gefasst. Dies könne ihm aber nicht als Schuld vorgeworfen werden. Die 50 51

Ebd. Ebd.

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Leiterin handle unverantwortlich, wenn sie ihn der „politischen Unzuverlässigkeit“ verdächtige. „Ich bin als vom Führer ernannter und in seinem Auftrage amtierender Marinepfarrer kein Mensch minderen Ranges, dem die Freiheit des jedem anständigen Deutschen zugebilligten gesellschaftlichen Verkehrs in der Volksgemeinschaft versagt und dem auf Grund haltloser Anschuldigungen eine ehrenrührige Versetzung zugemutet werden dürfte …“52 Der Brief ist mit „Heil Hitler"!“ gezeichnet, in Unterschied zur sonstigen Korrespondenz, in der Pötzsch den sog. deutschen Gruß vermeidet. Dem zuständigen Marinebefehlshaber lieferte Pötzsch im Januar 1943 einen ausführlichen Bericht, in dem sein Unmut sich noch deutlicher äußert.53 Die Sache selber sei „belanglos und lächerlich“, da der Brief von Fräulein Ahrens nur „eine völlig ‚vage Anschuldigung‘, aber keinerlei Beweise“ enthalte. Es sei aber „beschämend und verbitternd …, in einer Zeit, in der die Sammlung aller Kräfte das oberste Gebot der Stunde ist, im Auslande von eigenen Landsleuten, von Deutschen, verdächtigt und befehdet zu werden, nur weil man ein Pfarrer ist.“ Aus dem Bericht geht hervor, was für die beschwerdeführende Frauenschaftsleiterin zum Stein des Anstoßes geworden war: durch die Mütterschulleiterin in Den Haag hatte Pötzsch die Leiterin aus Amsterdam und mehrere Lehrerinnen kennengelernt, alle um die 40 Jahre alt, die sich zum evangelischen Glauben bekannten und an Gottesdiensten der Wehrmachtspfarrer teilnahmen. Mit ihnen habe „manches gute, ernsthafte Gespräch … stattgefunden.“ Deshalb seien sie „in einer inquisitorisch anmutenden Weise … über ihre Bekanntschaft mit dem Marinepfarrer“ und „ihr Verhältnis zum Christentum … ausgefragt“ worden. Das sei durch Fräulein Ahrens geschehen, deren Haltung und Motive Pötzsch so charakterisiert: „ein älteres Fräulein, das mit der christlichen Tradition restlos zerfallen und offenbar … von einem tiefen, maßlosen Haß gegen alles Christliche erfüllt ist.“ Dass bei ihr auch weibliche Eifersucht auf die jüngeren Frauen im Spiel war, mit denen Pötzsch sich öfter unterhielt, ist nicht auszuschließen.54 Das Bemühen, dem Marinepfarrer eine systematische Einflussnahme auf die Arbeit der Mütterschulen nachzuweisen, blieb vergeblich. Dem kom52 Schreiben an die Leiterin der NS-Frauenschaft, Frau de la Fontaine, Den Haag, vom 21.12.1942, in: PERS 6/260094. Die Zitate finden sich ebd. Vgl. Pötzschs Schreiben an Marinedekan Ronneberger vom 22.12.1942. 53 Schreiben an den Marinebefehlshaber in den Niederlanden vom 10.1.1943, in: PERS 6/260094. Hier die weiteren Zitate. 54 Vgl. den Bericht der Beschwerdeführerin Ahrens vom 13.11.1942, in: PERS 6/260094. „Es kann dem Herrn Pfarrer Pötzsch nicht unbekannt geblieben sein, daß ihm [von zwei weiblichen Lehrkräften, MH] große Sympathie entgegengebracht wird, die seinen Einfluß auf bedauerliche Weise verstärkt“ (ebd.).

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mandierenden Admiral und dem Marinedekan konnte Pötzsch am 14. Februar 1943 mitteilen, dass die Angelegenheit „vollständig beigelegt und erledigt“ war.55 Die beiden Beschwerden dokumentieren, wie sehr er in der Öffentlichkeit beobachtet und kontrolliert wurde. Einfache menschliche Gesten, Gespräche konnten Misstrauen und Verdacht erregen. Er musste vorsichtig sein. Anfang September 1943 schlug Ronneberger den übergeordneten Dienststellen zum wiederholten Mal vor, Pötzsch wegen besonderer Leistungen zum Marineoberpfarrer zu befördern (Abb.7). Die Ernennung erfolgte mit Wirkung vom 1. Januar 1944. Im Beurteilungsbericht des Marinedekans heißt es: „Mit der Wahrnehmung der Seelsorge in Holland im Jahre 1941 beauftragt, ist er über das normale Maß hinaus seinen Pflichten nachgekommen. Er hat nicht nur die gesamte Marine-Seelsorge in Holland ausgezeichnet durchorganisiert, sondern auch als Standortpfarrer in Den Haag durch seine Predigten, Vorträge, Gräberfürsorge und seelsorgerliche Arbeit sich die Wertschätzung und Anerkennung der militärischen Dienststellen und der Gemeindeglieder erworben. Seine guten Predigten haben dazu beigetragen, daß er überall an den Orten seiner Wirksamkeit enge Fühlung mit seinen Zuhörern bekam. Dichterisch und musikalisch begabt, hebt er sich aus der Reihe der Pfarrer heraus. (…) P. besitzt auch die Fähigkeiten zur Leitung, Erziehung und Weiterbildung von Pfarrern. Er ist zur Beförderung außer der Reihe besonders geeignet.“56 Am 5. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg in den Niederlanden zu Ende, die deutschen Streitkräfte hatten kapituliert. Am 8. Mai rückten kanadische Truppen in Den Haag ein, und ab 23.01 Uhr galt für die gesamte deutsche Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation. Stunden danach holten Angehörige der Feldgendarmerie vier oder fünf inhaftierte Soldaten aus dem Wehrmachtsgefängnis Den Haag, die wegen „Fahnenflucht“ zum Tode verurteilt worden waren. Pötzsch hatte diese Männer während ihrer Haft betreut. Die Henker erschossen die Gefangenen am 9. Mai in einer Gefängniszelle und verscharrten die Toten heimlich im Hof der Anstalt. Erst im März 1968 legte ein Räumbagger die Überreste der Opfer frei. „Beim Suchdienst des niederländischen Roten Kreuzes fand sich eine dünne Aktenmappe mit einem Verzeichnis von 68 in Den Haag hingerichteten Matrosen, Fliegern, Artilleristen, Grenadieren und Wachmännern, denen

55 56

Schreiben von Pötzsch vom 14.2.1943, in: PERS 6/260094. Beurteilungsbericht vom 2.9.1943, in: PERS 6/260094.

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der damalige Marine-Oberpfarrer Arno Pötzsch geistlichen Beistand geleistet und ein Begräbnis gesichert hatte.“57 Pötzsch „hatte dieses Verzeichnis aus seinem ‚Totenbuch‘ rekonstruiert und am 9. Dezember 1946 in Hamburg einem Fahnder der niederländischen Kommission für Kriegsverbrechen übergeben. Der Fahndungsoffizier, Hauptmann A. van der Schuyt jun., berichtete, Pötzsch habe während seines Einsatzes in den Niederlanden ‚die Verfehlungen seiner Landsleute so furchtbar gefunden, daß er es für richtig hielt, gewisse Dinge im Hinblick auf die Zukunft schriftlich festzuhalten‘.“58 Über die Bluttat nach der Kapitulation gab Pötzsch an: „Ich mache ferner darauf aufmerksam, daß ... am Mittwoch, dem 9.5.1945, früh, einige zum Tode verurteilte deutsche Soldaten, soviel ich weiß 4 oder 5 (††), die ich nach ihrer Verurteilung zum Tode und während ihrer Haftzeit im Kriegswehrmachtgefängnis von Den Haag betreute, auf Veranlassung eines Kriegsgerichts entgegen aller Gepflogenheit, ohne jede militärische Form und ohne geistliche Vorbereitung, durch das Gefängnispersonal in einer Gefängniszelle des K.W.G. Den Haag durch Revolverschüsse in den Hinterkopf getötet und danach im Hof vergraben wurden. Die Namen und Personalien dieser Männer sind mir zu meinem Bedauern verlorengegangen. Bekannt sind mir nur noch drei Namen: Ambotz, König und Matthe.“ 59 Wer die Täter waren, blieb dagegen unbekannt. Der verantwortliche SSHauptscharführer Johann Schweiger, damals Leiter des Wehrmachtsgefängnisses Den Haag, lebte nach dem Krieg unbehelligt in München und verweigerte jede Auskunft. Die Zahl der Strafverfahren der Marinejustiz hatte während des Krieges drastisch zugenommen. Ein großer Teil endete zwar mit der Verhängung geringfügiger Strafen. Doch die Zahl der Verurteilungen, auch der Todesurteile, stieg seit 1941 linear an. Die häufigsten Delikte in den Jahren 19391944 waren unerlaubte Entfernung vom Einsatzort und Ungehorsam, am schwersten geahndet wurden „Wehrkraftzersetzung“ und „Fahnenflucht“.60 Noch kurz vor Kriegsende hatten die deutschen Marinegerichte zahlreiche Marinesoldaten wegen unbedeutender Akte der Verweigerung zum Tode verurteilt. So waren am 21. April 1945 in Cuxhaven-Sahlenburg fünf Män57

Günter C. Vieten, Die Toten stehen langsam auf. Grausige Funde in Holland klagen deutsche Genickschußhelden an, in: Das Magazin ‚stern‘, Nr. 14/1968, 58-60. Vgl. Matthes, 102f. 58 Vieten, 60. 59 Zit. nach Vieten, ebd. 60 Vgl. Norbert Haase, „Gefahr für die Manneszucht“. Verweigerung und Widerstand im Spiegel der Spruchtätigkeit von Marinegerichten in Wilhelmshaven (1939-1945), Hannover 1996, 66-85.

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ner hingerichtet worden. „Sie hatten versucht, den Festungskommandanten von Helgoland zur kampflosen Übergabe der Insel an die Engländer zu bewegen.“61 Was Pötzsch als Marineseelsorger in den Jahren 1940 bis 1945 erlebt und bewältigt hat, ist heute kaum vorstellbar. Nach eigener Aussage wurde er „bis an die Grenzen der Kraft beansprucht“. 62 Er hatte Hunderte von Toten zu beerdigen, von fast 1500 ist die Rede. 63 Dazu kam die Begleitung der Familien, die meist auf grausame Weise einen Angehörigen verloren hatten, meist Mütter und Ehefrauen bei Freund und Feind. Was für eine seelische Belastung! Menschen, die schreckliche Ereignisse erlebt haben, werden oft von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) heimgesucht. Auch Pötzsch hatte darunter zu leiden. Sabine Schipper-Pötzsch berichtet: „Unsere Mutter erzählte mir …, daß unser Vater nach dem Krieg nachts immer wieder laut aufgeschrien habe, weil ihn die Erlebnisse bis in den Schlaf verfolgten und nicht losließen.“64 Neuere Studien zeigen, „dass Soldaten, die besser mit dem Instrument der Sprache umgehen können, seltener unter der PTBS leiden.“65 Daraus lässt sich schließen, dass eine Person verstörende Ereignisse leichter emotional bewältigen kann, wenn sie in einer sicheren Bindung lebt und hinreichende Sprachfähigkeit entwickelt hat. Beides trifft auf Arno Pötzsch zu. Das Elternhaus und die Herrnhuter Brüdergemeine hatten ihm geholfen, in einer christlichen Tradition beheimatet zu sein. Er war, wie er selbst sagen würde, „rückgebunden“ im Glauben an den Gekreuzigten, an einen Gott, der tragen hilft, „der uns und alles trägt“. 66 Und er konnte Dingen Sprache geben, die nicht für sich selbst sprechen. Indem er sie in Worte, in eine Sprache der Bilder und Gleichnisse fasste, d.h. eine poetische Form fand, sie auszusprechen, wurde es möglich, die leidvollen Erfahrungen zu verarbeiten. Bis Kriegsende achtete Pötzsch darauf, dass jeder Tote wenigstens vorläufig ein Grabkreuz mit Namen bekam. Die Kriegsgräberfürsorge blieb ihm auch nach dem Krieg in Cuxhaven ein wichtiges Anliegen. Nebenbei führte er heimlich ein ‚Totenbuch‘ mit den Namen der Exekutierten. Das war nicht ungefährlich. Aber keiner sollte vergessen sein. Nach dem Krieg

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Matthes, 109. Von Gottes Zeit und Ewigkeit, Hamburg 41958, Vorwort, 5. 63 Nach Matthes, 103. 64 Zit. nach Block 1995, 23. 65 Boris Cyrulnik, Rette dich, das Leben ruft!, Berlin 2015, 60. 66 Aus dem Gedicht ‚Er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen‘, in: Block 2000, 106; Heide-Münnich, 296. 62

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schrieb er Jahr für Jahr den Angehörigen der Exekutierten, die er hatte begleiten müssen, am Sterbetag. Pötzsch wandte sich denen zu, die unter dem NS-Regime am meisten zu leiden hatten. Er stand Soldaten bei, die wegen kleiner Dienstverstöße übermäßig bestraft wurden. Er half Menschen auf der Flucht weiter und half der holländischen Wohnbevölkerung, die je länger je mehr unter dem Krieg zu leiden hatte, nach Vermögen mit Lebensmitteln und Arbeit. Er trat für Holländer ein, die aus politischen Gründen vor Gericht standen oder weil sie Gesten der Menschlichkeit gezeigt hatten. Darunter waren Holländer, die Juden versteckt hatten und deshalb zum Tod verurteilt wurden, deren Urteil aber wegen glücklicher Zufälle nicht vollstreckt worden war. Mehr als 200 Menschen hat Arno Pötzsch auf dem Weg zur Hinrichtung begleitet. Für ihn bedeutete das jedes Mal ein Stück Mitsterben. Zwei Beispiele für viele: Ein deutscher Offizier, Vater von 7 Kindern, hatte sich gegen Ende des Krieges mit seinen Kameraden ergeben und war wider Erwarten befreit worden; wegen „Feigheit vor dem Feind“ wurde er hingerichtet. Eine Holländerin bat um Hilfe: ihre Nichten, ein Zwillingspaar, 21 Jahre alt, wurden wegen belangloser Handlungen gegen die Besatzungsmacht zum Tod verurteilt – und Pötzsch konnte nichts tun. In einem Gedicht schrieb er: „Von allen Schrecken, die ich denken kann, / lässt keiner mich wie dieser beben: / ich meine, tot zu sein – und noch zu leben.“67 Die schrecklichen Erlebnisse, das Schreien der Verurteilten, raubten ihm bis ans Lebensende den Schlaf. Die körperliche Anstrengung, die innere Anspannung und seelische Belastung, verbunden mit dem Gefühl, viel zu wenig tun zu können, führten zu großer Erschöpfung. Mehr als einmal brach es in Briefen aus ihm heraus: „Ich bin ungeheuer müde, ich würde gern wochenlang schlafen.“ Pötzsch verarbeitete diese Anspannung, indem er in Worte zu fassen suchte, was ihn betrübte, bewegte und aufrecht hielt. So war es auch Ende 1940, als eine Dienstfahrt ihn nach Paris führte. Er besucht das Rodin-Museum, wo eine Skulptur ihn nachhaltig beeindruckt: La main de Dieu – Die Hand Gottes. Eine offene Hand erhebt sich aus dem rohen Marmorstein. Sie knetet den Erdklumpen, aus dem sich ein Menschenpaar löst. Die beiden umarmen einander. Es könnte die Hand Gottes sein, der die Menschen wie ein Bildhauer erschuf, oder die schaffende Hand eines Künstlers.68 Dieses Kunstwerk inspiriert Pötzsch zu seinem vielleicht bekanntesten Lied. Er gibt ihm den Titel „Unverloren“:

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Zit. nach Matthes, 96. Vgl. Coen Wessel, In Gottes Hände: Rilke, Pötzsch en [d.h. und] Rodin, in: http://www.coenwessel.nl/ P%F6tzsch.html (eingesehen am 16.4.2018); Matthes, 74. 68

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Du kannst nicht tiefer fallen / als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen / barmherzig ausgespannt. Es münden alle Pfade / durch Schicksal, Schuld und Tod doch ein in Gottes Gnade / trotz aller unserer Not. Wir sind von Gott umgeben / auch hier in Raum und Zeit und werden in ihm leben / und sein in Ewigkeit (1941, EG 533).69

Trotz aller Arbeit und Anstrengung las, schrieb und dichtete er immens viel, meist in der Nacht auf Kosten des Schlafes. In den Jahren 1941 bis 1942 gab er zusammen mit Paul Kaetzke, dem Pfarrer der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Den Haag, drei Hefte der „Singenden Kirche“ heraus, eine Sammlung eigener Lieder, die sich rasch großer Beliebtheit erfreute. Vertont hatte sie der Organist und Chorleiter der Gemeinde, Jacques Beers (1902-1947), der sein Freund geworden war (Abb.8). Die „Weihnachtsmadonna von Stalingrad“, ein Bild, das ein anderer Freund, Kurt Reuber (1906-1944), zu Weihnachten 1942 für seine Kameraden in Stalingrad gezeichnet hatte, regte ihn zu Sonetten an. Vier davon wurden zu Weihnachten 1944 von „einer niederländischen Druckerei in Den Haag als Sonderdruck für Freunde“ herausgebracht. „Es war ein Betrieb, dem Arno Pötzsch geholfen hatte, im Dienst für die Wehrmacht zu überleben.“ 70 Das Personal der N.V. Haagsche Drukkerij en Uitgeversmaatschappij hatte den Sonderdruck „Stalingrad“ aus Dankbarkeit kostenlos für Pötzsch angefertigt. Der Direktor schrieb ihm dazu während des Hungerwinters: „Sehr geehrter Dominee! Es ist nicht meine Gewohnheit zu sprechen mit Hilfe eines Blattes Papier, die heutigen Umstände zwingen mich aber hierzu. Erstens muss ich Ihnen sagen, dass ich nicht spreche in meinem Namen sondern auf Wunsch meines Personals. Nicht wahr, Männer? Seit vier Jahren kommen Sie an unsren Betrieb, die letzte Zeit mehrmals in unsrem Betrieb und unter meinen Arbeitern. Und obschon wir Sie nicht mit offnen Armen empfangen haben, der Holländer ist sehr nüchtern, hat sich besonders die letzte Zeit Ihre Freundschaft für Ihren Mitmensch unsrem Personal so mehr als deutlich herausgestellt, dass es allein schon dadurch Achtung für Sie bekam. Die Weise worauf Sie in dieser Zeit von Hunger und Armut durch kleine Liebesgaben, Zigaretten, Kerzen u.s.w., Sie vergassen sogar unsren Spediteur und unsre Putzfrau nicht, zu helfen versuchen nach Vermögen, gibt meinem Personal die 69 Zuerst erschienen in: Singende Kirche. Eine Folge geistlicher Gesänge für die Gemeinde von Marinepfarrer Arno Pötzsch und Organist Jacques Beers, hrsg. für die Deutschen Evangelischen Gemeinden in den Niederlanden von Pfarrer Kaetzke, Den Haag 1941, 10. 70 Naglatzki, 149, vgl. Matthes, 97f.

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Einleitung Überzeugung dass nicht nur durch Ihre Würde aber besonders durch Ihre Liebe zu Ihrem Nächsten Sie ein wahrer Christen sind, denn was du den Mindesten meiner Brüder tuest, das hast du mir getan, steht in dem Kapittel Mattheus in der Heiligen Schrift. Bedenken Sie Dominee dass mein Deutsch nicht das ist eines geborenen Kanzelredners und verzeihen Sie eventuelle Fehler in diesen Worten. Eine der für mein Personal eingreifendsten Massnahmen war die verpflichtete Anmeldung und die Abführung der Männer im Alter von 16 bis 40 Jahren. Das Personal bat mich mündlich und darauf schriftlich für sie Freistellung versuchen zu bekommen. Alle holländischen und deutschen Instanzen habe ich dafür vergebens abgelaufen. Da rief mein Betriebsleiter Herr Nusteen, Ihre Hilfe ein und Sie erklärten sich sofort bereit mir zu helfen. Persönlich durfte ich mit Ihnen zu den Instanzen mitfahren und habe dort gehört und gesehen was Sie für meine Männer taten. Sie besorgten ihnen eine vorläufige Freistellung und in ihren Familien war trotz der grimmigen Armut, hierüber grosse Freude und vielen haben mit Liebe und Ehrbiet in diesen Tagen über Sie gesprochen. Denn obschon sie materiell leiden, bleiben sie in dieser drückenden Lage doch lieber bei ihren Frauen und Kindern. Das Personal wollte so gerne in dieser oder jener Weise ihren Dank zeigen aber wusste nicht wie. Es hörte aber dass Ihre Familie aus Frau und vier Kindern besteht und es kam den Gedanken auf, um von Ihrem Büchlein Stalingrad einige extra Exemplare zu setzen, zu drucken und in einem schönen Umschlag einzunähen, welche Exemplare Sie dann Ihrer Familie und einigen guten Bekannte anbieten können und selbst natürlich auch eins davon aufbewahren. Wollen Sie bitte bedenken Dominee, dass diese Exemplare vorige Woche angefertigt wurden in einem eiskalten Betrieb, mit hungrigen Magen, in ihrer eigenen Freizeit, während sie das Papier von mir gekauft und bezahlt haben. Ich versichere Ihnen Dominee, dann auch auf mein Ehrenwort dass es wirklich ein Geschenk des Personals ist. Wir haben nur eine bescheidene Abteilung Binderei und man hätte bequem bei einer Binderei einen kostbaren Einband machen lassen können doch dann hätten Fremde helfen müssen und sie wollten dieses bescheidene Geschenk ganz selber gemacht haben und ich glaube Dominee, dass Sie sich so etwas denken können. Erlauben Sie mir dann darum Dominee, Ihnen dieses Geschenk des Personals zu überhändigen und den Wunsch auszusprechen dass in den noch mal kommenden Friedensjahren Ihre Kinder beim Durchnehmen oder Zeigen dieses Büchleins

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sagen werden: ‚Unser Vater machte sogar in Kriegszeit in Holland dankbare Freunde‘. gez. Berlott direktor.“71

Allein im letzten Kriegswinter entstanden in wenigen Wochen 60 Gedichte. Während um ihn herum Den Haag in Trümmer sinkt und die holländische Wohnbevölkerung Hunger und Obdachlosigkeit erdulden muss, harrt er auf seinem Posten aus bis zu Kapitulation und Befreiung. Als er noch einmal den Soldatenfriedhof besucht, tritt ein alter Totengräber zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: „Dominee, ü hebt zoo veel gods voor de menschen gedaan, ü kann het niet slecht gaan.“72 Nach Kriegsende – inzwischen waren die Engländer in Holland einmarschiert – kam Pötzsch ins Internierungslager nach Funnix in Ostfriesland. Bald betreute er als Seelsorger die Mitgefangenen. Das Schicksal seiner Familie war noch ungewiss. Erst nach Wochen konnten seine Frau und seine älteste Tochter ihn im Gefangenenlager besuchen. „Ich habe nur den Wunsch, in Frieden leben und arbeiten zu können“, schrieb er am 21. September 1945.73 Die Familie zog wieder ins alte Pfarrhaus ein (Abb.9) und musste sich nach jahrelanger unfreiwilliger Trennung wieder ins Zusammenleben eingewöhnen. Zur Gemeinde gehörten deutsche Marinesoldaten, die im Auftrag der Alliierten die Elbmündung und die Nordsee von Minen freiräumen mussten, die von den Deutschen ausgelegt waren. Das war eine gefährliche Arbeit. Pötzsch war für die Besatzungen der Minenräumboote zuständig. Einmal kamen 100 Soldaten beim Untergang eines Fährbootes um. Oft musste Pötzsch den Angehörigen von im Krieg gefallenen Soldaten den Tod ihrer Männer oder Söhne mitteilen und ihnen letzte Gegenstände übersenden. Mit vielen Angehörigen führte er eine umfangreiche Korrespondenz. Einmal im Jahr schrieb er einen Rundbrief an alle, immer zum Totensonntag. 700 Rundbriefe waren es 1950. Es war ihm wichtig, dass die Toten nicht vergessen würden (Abb.10,11). Dem früheren Marinedekan Ronneberger dankt Pötzsch in der Rückschau „für die unvergeßlich schöne und enge brüderliche Kameradschaft in

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Brief an Marineoberpfarrer Arno Pötzsch, Den Haag, vom 25.1.1945, in: Nachlass Pötzsch. Die originale Schreibweise wurde unverändert beibehalten. Vgl. Brief Nr. 119 an Käthe Neubauer. 72 Rundbrief: Nachrufe für die heimgegangenen Brüder der Ev. Michaelsbruderschaft von November 1956 bis Januar 1959, 4. Zit. nach Naglatzki, 149. 73 Zit. nach Matthes, 104.

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den genau 10 Jahren meines Dienstes als Marinepfarrer.“74 Er fährt fort: „Es ist wohl ein ganz besonderes Verhältnis, das uns Marinepfarrer als Ihre Mitarbeiter mit Ihnen verbunden hat. Und daß dieses Verhältnis so ungetrübt schön, durch ganz großes Vertrauen getragen und auf unserer Seite durch eine herrliche verantwortliche Freiheit gekennzeichnet war, ist doch vor allem Ihr großes Verdienst. Wenn ich der vielen Mißhelligkeiten gedenke, die ja nicht ganz selten in den Kreisen der Pfarrer bestehen, (…) kann ich nur staunen und mich in Dankbarkeit freuen, daß wir evangelischen Marinepfarrer in einem so ungetrübt schönen Verhältnis der vertrauensvollen Verbundenheit zu Ihnen stehen konnten und immer wieder, jahraus, jahrein, Ihre klare Führung und Weisung und Ihre Güte und Hilfsbereitschaft erfahren durften. Dafür möchte ich Ihnen nun am Ende des Marinepfarramtes, am schmerzlichen Ende unserer Marine, noch einmal ausdrücklich und von ganzem Herzen Dank sagen. Die 10 Jahre des Marinepfarramtes sind trotz und mit allem Schweren, das ja auch in diesen Jahren beschlossen liegt, ein ungewöhnlich reicher, gewichtiger Abschnitt meines Lebens. Erst rückblickend und im Abstand wird sich der gesamte Ertrag dieser Jahre zeigen.“

Ab 1948 war Pötzsch Gemeindepfarrer an der Cuxhavener Garnisonkirche, die 1950 den Namen St. Petri-Kirche erhielt. Gemeinsam mit zwei Pfarrkollegen hatte Pötzsch viel Arbeit zu bewältigen. 75 Viele, die Hilfe brauchten, klopften im Pfarrhaus an. 1947 gab es mehr als 20.000 Vertriebene in Cuxhaven. Und bald kamen Tausende von Auswanderern in die Stadt, denn von hier aus fuhren Schiffe nach Amerika. Pötzsch gründete das Ev. Hilfswerk Cuxhaven, das sich den Flüchtlingen und ihrer Not widmete, und bemühte sich um die Errichtung einer Kriegsgräber-Gedenkstätte. Da der dienstälteste Kollege, Pastor Meinhold, den Vorsitz im Kirchenvorstand wahrnahm, hatte Pötzsch den Rücken frei für Dichterlesungen und andere Reisen. So reiste er im August 1952 zu Lesungen nach Stuttgart, wo er auch am Evangelischen Kirchentag teilnahm, Anfang Juli 1954 zu einem gesamtdeutschen Dichtertreffen auf der Wartburg und von dort weiter zum Leipziger Kirchentag, im Mai 1955 erneut zu einem Gespräch der Dichter und Schriftsteller auf der Wartburg und im September zu einer Lesung in der Gemeinde Berlin-Zehlendorf. Helene Pötzsch war eine klassische Pfarrfrau, d.h. sie kümmerte sich um Familie und Haushalt und arbeitete in der Gemeinde mit. Sie ertrug die Schweigsamkeit ihres Mannes, der sich sehr zurückzog. Für sie und ihre Kinder war das bestimmt nicht leicht. 74 Schreiben an Dekan Ronneberger, Wilhelmshaven, vom 10.1.1948, in: PERS 6/260094. 75 Die folgenden Abschnitte nehmen Informationen auf über Pötzschs Wirken in Cuxhaven nach dem Zweiten Weltkrieg, die ich Almuth und Wilhelm von der Recke verdanke.

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Arno Pötzsch lebte gern in Cuxhaven. Das ist seinen Gedichten über die Möwen, das Meer und die Schiffe abzuspüren. Trotz aller Arbeit im Pfarramt fand er Zeit zum Dichten: in seinem Zimmer in ruhigen Momenten, nachts, wenn er nicht schlafen konnte, oder bei Deichspaziergängen. Nun konnte er in Frieden leben und arbeiten, wie er es ersehnt hatte. Doch der Krieg und die vielen Begegnungen mit dem Tod hatten ihn einen Großteil seiner Gesundheit und Vitalität gekostet, Herz und Kreislauf waren schwer angeschlagen. Mehrmals musste der Erschöpfte seit 1949 zur Kur nach Bad Wiessee am Tegernsee, um sich zu erholen (Abb.20). Anschließend nahm er wieder sein altes Arbeitspensum auf. Im Rückblick ist es darum umso erstaunlicher, wie er die vielen Aufgaben bewältigen und auch noch kreativ sein konnte. Woher nahm er die Kraft? Aus seinem Glauben? Aus der Stützung durch seine Familie? Aus seinen Freundschaften? Oder aus dem Gefühl, dass er nicht mehr lange leben würde und deshalb die Zeit „auskaufen“ müsste? Eine ehemalige Konfirmandin erzählt, dass eine eigentümliche Ausstrahlung von ihm ausging: „Er konnte einem geradezu bezwingend in die Augen schauen.“ Wenn er den Konfirmandensaal betrat, war Ruhe. Eine Konfirmandengruppe, das waren damals 40-50 Konfirmanden, die nicht wesentlich anders waren als Konfirmanden heute. Und die hörten zu, waren andächtig, lernten auswendig und waren auch im Gottesdienst konzentriert und ruhig. Vielleicht lag das auch daran, dass Pötzsch in Herrnhut lange als Erzieher gearbeitet hatte und ein guter Pädagoge war. Auf allen Porträts fällt die große Ernsthaftigkeit dieses Mannes auf. Es ging eine gewisse Strenge von ihm aus. So beschreibt ihn auch ein Bericht über das Dichtertreffen auf der Wartburg: „…asketisch, streng, fast ‚zugeknöpft‘. Er spricht wenig, doch was er sagt, hat Gewicht.“ 76 Pötzsch wirkte unnahbar, auch ein bisschen traurig in seinem dunklen Anzug – immer hoch geschlossen. So traf man ihn bei seinen einsamen Spaziergängen am Deich. Aber wenn man ihn näher kennenlernte, war er freundlich und weich und gütig, oft sogar humorvoll. Seine Ausstrahlung wirkte nicht nur auf die Konfirmanden. Er faszinierte auch viele Frauen. Es gab ja in dieser Zeit viele alleinstehende Frauen in der Gemeinde. „Pötzschistinnen“ wurden sie genannt. Sie hingen an seinen Lippen, wenn er predigte. Manchmal lag nach seinen Gottesdiensten ein Blumenstrauß unter der Kanzel. Die Frauen umschwärmten ihn. Arno Pötzsch schien das nur wenig zu berühren. Doch für seine Familie – seine Frau und die vier Töchter – muss das manchmal sehr unangenehm gewesen sein. 76

Der neue Weg Nr. 164 vom 19.7.1954, in: Vom Brückenschlag des Wortes. Pressestimmen aus der Deutschen Demokratischen Republik, Separatdruck o.O. 1954, S.71.

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Wer zu ihm ins Arbeitszimmer kam, betrat einen Raum mit vielen Büchern im Vitrinenschrank und einem Schreibtisch, einem Sofa und Blumen. An der Wand ein Kruzifix, im Schrank neben den Büchern ein Totenschädel (Abb.12). Das prägte sich vielen ein. Sterben und Tod waren für Pötzsch seit seiner Jugend, erst recht seit dem Zweiten Weltkrieg, im Bewusstsein gegenwärtig. Im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung „Von Gottes Zeit und Ewigkeit“ schrieb er im Herbst 1946: „Nun gehen die ‚Worte und Lieder einer Wegfahrt‘ als ein einfaches Zeugnis menschlichen Daseins und christlicher Daseinssicht hinaus. Anfang 1945 mußte ich im Vorwort noch schreiben: ‚Wir sind im Kriege und wissen heute nicht, ob wir uns morgen noch grüßen können, und nicht, ob wir uns wiedersehen. Mancher Soldat trägt einen längst geschriebenen Abschiedsbrief bei sich – für alle Fälle. Das ist so Brauch im Kriege.‘ Wir wissen aber, und wir haben es in diesen Zeiten gefährlichen Lebens an den Abgründen wieder gelernt, daß wir nicht nur im Kriege, sondern immer und auf aller Wegfahrt media vita in morte sumus und daß wir sub specie aeternitatis unsere Straße wandern. Das gibt unserer Wegfahrt die Tiefe, unserm Scheiden und unserm Wiederbegegnen und auch diesem schlichten Gruß seinen heimlichen Ernst.“77 Pötzsch greift hier auf ein lateinisches Memento-Mori-Lied des Mittelalters zurück, in dem er seine Sicht des menschlichen Daseins ausgesprochen findet: Mitten im Leben sind wir im Tode. Das gilt nicht nur in Kriegszeiten, die der Lieddichter wie viele seiner damaligen Leser erlebt hat, sondern jederzeit, wo immer wir unterwegs sind. „Mytten wir ym leben synd / mit dem todt umbfangen“,78 wird Martin Luther in seiner Nachdichtung sagen, die Pötzsch sicher unausgesprochen mit im Sinn hatte. In der Tradition des Kirchenliedes artikuliert sich die christliche Sicht des Daseins. Pötzsch entleiht ihr die Sprache, um auf das zu verweisen, was das Menschenleben auszeichnet, was ihm Tiefe und Ernst gibt: dass es unter dem Gesichtspunkt und im Licht der Ewigkeit gelebt wird. Mit der geprägten Wendung aus der Philosophie verbindet er, darin mit Luthers Lied übereinstimmend, eine Ermutigung zum Leben. Immer und überall gehen wir unter den Augen des Ewigen, der in Zeit und Ewigkeit der Herr ist: „Gott aber ist der Eine, / der alles trägt und hält.“79 „Wir leben, sind und weben / in ihm, dem ewigen Gott.“80 77

Von Gottes Zeit und Ewigkeit, Vorwort, 7. Nach der ersten Druckfassung im Erfurter Enchiridion (Erfurt 1524). Vgl. dazu Ansgar Franz, Mitten wir im Leben sind, in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, hrsg. von Hansjakob Becker u.a., München 2001, 84-93. 79 Sub specie aeternitatis, in: Heide-Münnich, 454. 80 Ich will das Leben glauben, Str.4, in: Block 2000, 152; Heide-Münnich, 416. 78

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Es ist bezeichnend für Pötzsch, dass er das alte, sonst kaum mehr gebräuchliche Wort ‚Wegfahrt‘ gebraucht.81 Vielleicht hat er es aus der Lutherbibel übernommen. 82 Es lässt das Leben als Unterwegssein mit Weggefährten von einem Ort zum andern erscheinen; zugleich klingen Seefahrt und Wallfahrt an. Das Wort evoziert Bilder, die zeigen: Menschen sind ihr Leben lang Reisende, sie wandern ins Ungewisse. Ein Lied zur Jahreswende nimmt ihre Situation in einer Bitte auf: „Wir treiben, Herr, im Strom der Zeit. / Gib unsrer Wegfahrt dein Geleit. / Zeig Weg und Ziel und geh du mit / all Tag und Stund und Schritt für Schritt!“83 Immer wieder sprach er von seinem eigenen Tod. Wenn er im Gottesdienst ankündigte, nächsten Sonntag predigen würde, sagtesagte er stets ankündigte,dass dassereramam nächsten Sonntag predigen würde, er dazu: „so Gott will“. 1954 schrieb er: er: „Ich binbinmir stets dazu: „so Gott will“. 1954 schrieb „Ich mirder derNähe Nähe des des Todes 84 84 lässt etbewusst, heute mehr mehr denn dennje.“ je.“Sein SeinGedicht GedichtDas Dasschwere schwereLeben Leben lässt etwas was seiner Gestimmtheit erkennen: von von seiner Gestimmtheit erkennen: Schweres Leben, schwerer Tod, Dasein voller Schwere, immer ist mein Herz in Not, wie sichs wend und kehre. Immer, ob das Licht ihm scheint, ob im Dunkel nachtet, ob sichs Irdischem vereint und nach Ewgem trachtet, ob sich Liebe ihm gewährt, Glück es wild durchzittert, ob ihm Leiden widerfährt und es tiefst erschüttert – immer ist dies Herz voll Not, dass die Hände beben, immer, ach, vom dunklen Tod und vom schweren Leben.

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Vgl. Art. Weg(e)fahrt, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 27, Sp.3110. 82 In der Lutherbibel von 1912 kommt es nur ein einziges Mal im Bericht des Matthäus von der Aussendung der Zwölf vor: „Ihr sollt nicht Gold noch Silber noch Erz in euren Gürteln haben, auch keine Tasche zur Wegfahrt, auch nicht zwei Röcke, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert“ (Mt 10,9f). 83 Lied zur Jahreswende, in: Block 2000, 47. 84 Block 2000, 228; Heide-Münnich, 399.

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Am 5. Oktober 1954, auf dem Weg zwischen Hamburg und Cuxhaven, schrieb Pötzsch das Gedicht Der Mann im Rad,85 zu dem ihn eine plastische Darstellung an der Stiftskirche zu Tübingen inspiriert hatte. Sie zeigt das Martyrium des heiligen Georg (Abb.13). Für den Dichter wird es zu einem Sinnbild menschlichen Daseins: Ans Rad gebunden, unentrinnbar fest, schuf dich wie lebend eines Meisters Hand – ein steinern Bild: zur Qual der Leib gespannt, in starren Speichwerks harten Stern gepreßt. Voll Schmerz verlischt des Daseins armer Rest im Ring des Rads, drin ich den Kreis erkannt, der dich und mich und alles Leben bannt und, was er bindet, nur im Tod umschlingt. Ins Rad geflochten sind wir, du und ich, im Rad der Welt, das durch die Zeiten geht und Los und Leid, Schuld, Not und Tod umschlingt. Hat keins die Wahl! Doch wenn das Rad sich dreht, dann helf uns Gott, daß sterbend jeder sich wie dort der Märt’rer Gott zum Opfer bringt! 86 einer einfachen, schlichten Sprache daher. Gedichte wie wiediese diesekommen kommeninin einer einfachen, schlichten Sprache da86 Sie ganz ganz traditionell, sowohl inhaltlich wiewieininReim RhythSie sind traditionell, sowohl inhaltlich Reim und und Rhythher. sind mus. Pötzsch ist konservativ, seine Dichtung misst sich am am GemeindechoGemeindechoral. Aber er hat auch nicht den Anspruch, ein großer Dichter zu sein: sein: „Nicht „Nicht Künstler bin ich, nur ein Mensch vor Gott, der stammelnd kündet, was ihm nicht Gott gegeben“.87 Er wollte etwas vom Licht Gottes widerspiegeln, nicht große Literatur produzieren. Auch seine theologischen Gedanken sind sind nicht nicht 88 originell. Sein Thema ist Gott, „der große große Unbekannte“, Unbekannte“,88 ganz Andere (totaliter aliter), Unfassbare, Unfassbare, Unverstehbare, Unverstehbare, der der „große „große Treue, Treue, … … // der (totaliteraliter),

85 Text in: Heide-Münnich, 369; zur Datierung vgl. Tagebuch 1940 [1954/55], wo auch eine Postkarte mit dem Bild der Plastik eingeklebt ist. 86 Vgl. dazu Michael Heymel, Der Pfarrer und Dichter Arno Pötzsch. Bericht über ein Symposium im Kloster Kirchberg, in: Hessisches Pfarrblatt 2/2016, 56-59; Frank Lilie, Wie wollen wir singen? Glaube und Gesang, das Lied in der Kirche und Arno Pötzsch, in: Quatember 80 (2016), 131-139, hier: 137ff. 87 Ich bin kein Dichter, will kein Dichter sein, in: Block 2000, 216; Heide-Münnich, 17. 88 Gott, in: Block 2000, 66; Heide-Münnich, 84: „Du bist der große Unbekannte“.

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täglich uns aufs Neue / ein lieber Vater ist“,89 in dessen Händen wir stehen. Wir können, so Pötzsch, dieses Leben mit Schuld, Leid, Ängsten und Tod nur bestehen, indem wir Gott und seinen Vaterhänden vertrauen. Die Stärke seiner Gedichte ist ihre Echtheit. Jedes Wort hat bei ihm Gewicht und Tiefe. Was die Bedeutung seiner Gedichte ausmacht, ist die Tiefe der existentiellen Aussage, nicht formale Gekonntheit. Pötzsch wusste, dass er mit seiner Lebenshaltung für etwas stand, was der Gegenwart nach 1945 weithin verloren gegangen war. In seinem Wartburg-Vortrag „Von der Gefährdung des Wortes“ erinnert er an frühere Zeiten, „in denen das Wort, das man einander sagte und gab, mit schlichter Selbstverständlichkeit als lauter und verläßlich galt. Das einfach gesagte ‚afgesproke‘ der Holländer gilt … noch heute mehr als anderwärts schriftliche Beteuerungen und Verträge.“ Er spricht von dem Fundament des Abendlandes im „christlich-humanistischen Geiste, … auf dem Vertrauen wachsen konnte. Aus dem Vertrauen wuchs das redliche Wort, und aus dem redlichen Wort wuchs wiederum Vertrauen. Das tragende Fundament war die unendliche Verantwortung gegenüber dem Ewigen und Letzten.“ 90 Der Dichterpfarrer Pötzsch muss dieses Vertrauen erweckt haben, dass sein Wort galt und man sich darauf verlassen konnte. Den dänischen Theologen und Philosophen Sören Kierkegaard (18131855) hat er wohl gerade wegen seiner Einsichten in die Widersprüche und Gefährdungen menschlicher Existenz hoch geschätzt. Arno Pötzsch war selbst ein ernster Mensch, der sich über Dinge Gedanken machte, über die andere Menschen nicht nachdenken.91 Deshalb war Kierkegaard als glaubender Mensch und frommer Denker sehr wichtig für ihn, ein Geistesverwandter, in dem er sich selbst und seine Fragen wiedererkannte, aber auch ein seelisch Verwandter, mit dem er seine eigene Schwermut und „Schwerlebigkeit“ (eine Wortprägung von Pötzsch) teilte. Bei Kierkegaard fand er den Gedanken vom unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Gott, Zeitlichkeit und Ewigkeit und ein eindrückliches Bild vom Wagnis des Glaubens: in unendlicher Leidenschaft und objektiver Ungewissheit über 70000 Klafter Wasser zu sein – und doch zu glauben.92

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Du bist der große Treue, in: Block 2000, 82; Heide-Münnich, 20; Gesangbuch der Brüdergemeine Nr. 932,1. 90 Von der Gefährdung des Wortes. Vortrag im Rahmen der Wartburg-Tagung vom 4.7. Juli 1954, Manuskript, 10 Seiten, hier: 5. 91 So Sabine Schipper-Pötzsch über ihren Vater (mündliche Mitteilung vom 15.5.2017). 92 Vgl. Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum, Düsseldorf-Köln 1955, 62; Unwissenschaftliche Nachschrift. Erster Teil, Düsseldorf-Köln 1957, 195.

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In einem Büchlein über das Alter 93 hat Pötzsch kurz vor seinem Tod Texte verschiedener Dichter zusammengestellt, die ihm kostbar waren, u.a. von Martin Luther, Paul Gerhardt, Paul Fleming, Matthias Claudius, Sören Kierkegaard und Jochen Klepper. Daneben stehen auch eigene Gedichte und Betrachtungen, in denen Pötzsch sich einmal mehr als großer Seelsorger erweist. Er schreibt dort: „Zum Lieben sind wir lebenslang gerufen, niemals aber so wie im Alter, da die Liebe hier alles bedeutet. Die Liebe ist die Krone des Alters, seine letzte Weisheit, seine tiefste Kraft. … Und wenn wir nichts mehr zu tun vermögen und vielleicht nur noch stille liegen und leiden müssen, so können wir doch immer die Werke Gottes tun, selbst aus seiner Liebe leben, Gottes Liebe in die uns verbliebene eng gewordene Welt hineingeben, in der Einsamkeit des Alters liebende Gedanken denken, liebend Gottes Geschöpfe umfassen, liebend unsre Nächsten umsorgen, liebend für die Welt beten.“94 An anderer Stelle heißt es: „Wenn es nicht das ganze Leben schon war, so ist doch das Altersleben ein Leben sub specie mortis, unter dem Schatten oder auch im Lichte des Todes; es gibt nun keinen Gedanken mehr, in dem nicht das Wissen um die Nähe des Todes, wenn auch noch so verborgen und verschwiegen, mitschwänge. Und es ist notwendig und gut und gehört zur Würde des Alters, daß es so ist.“95 Man muss diese Sätze laut lesen, um die Kraft zu spüren, die sich in ihnen mitteilt (Abb.14). „Zu jeder Beschäftigung mit Kunst, also auch mit Gedichten, gehört zu allererst die Fähigkeit, sich ergreifen zu lassen. Nur was mich ergreift, kann ich begreifen. Jedem Begreifen muß ein Ergriffensein vorausgehen.“ 96 Pötzschs Gedichte ergreifen durch ihre Lauterkeit, durch die Reinheit, mit der sie existentielle Erfahrungen in Worte fassen. Ein Gedicht wie „Du kannst nicht tiefer fallen / als nur in Gottes Hand“ (EG 533) erschüttert, weil es erlittene und geglaubte Worte sind, Todeskandidaten und ihren Angehörigen seelsorglich zugesprochen. Pötzsch hat den Mut zu sagen: Auch durch Leiden segnet Gott – er, der Leid, Elend und Tod zur Genüge erlebt hat. Sein biblisch gegründeter Optimismus ist grenzenlos. Darum kann er sagen: „Gottes sind auch die Nächte!“ Selbst in der Hölle ist Gott bei uns. „Der Tod ist tot! Das Leben lebt!“, heißt es in einem Ostergedicht.97 „Wer’s glauben mag, der glaub den Tod, / ich will das Leben glau93

Der Tag hat sich geneiget (zuerst 1955), Wuppertal-Barmen 191974. Ebd. 16f. 95 Ebd. 25. 96 Ulla Hahn, Vorwort, in: Gedichte fürs Gedächtnis. Zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen. Ausgewählt und kommentiert von Ulla Hahn. Mit einem Nachwort von Klaus von Dohnanyi, München 122012, 30. 97 Ostern, Str. 3, in: Block 2000, 114; Heide-Münnich, 268. 94

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ben!“98 Pötzsch ist ein Mensch, der glaubt, der trotz allem daran festhält, dass es nichts gibt, das uns aus Gottes Hand reißen kann. Ostern war ihm das liebste Fest, weil der Tod überwunden wird. In seiner letzten Predigt am Sonntag nach Ostern, Quasimodogeniti, 8. April 1956, bezeugt er: „Wer an die Gewalt und Letztlichkeit des Todes glaubt, wer sich der Trauer des Todes ergibt, wer sein gottgegebenes Leben so lebt, als sei mit dem Tode alles aus …, der glaubt an den Tod, und der macht den Tod zu seinem Gott. Und wer den Tod zu seinem Gott macht, kann nur in Sinnlosigkeit leben und in Sinnlosigkeit sterben… Das ist die menschliche Situation in dieser Welt ohne Ostern… Gott zerreißt den dunklen Vorhang des Todes und stößt das geschlossene Tor auf: Ich bin der Herr, der Ewige und Lebendige… Der Tod, der Euch ängstet und schreckt, kann mir keine Grenze setzen.“99 Nach kurzer Krankheit infolge einer Blinddarmoperation starb Arno Pötzsch am 19. April 1956. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Friedhof Cuxhaven-Brockeswalde. Sein Grab ist schmucklos, der Grabstein liegt flach – wie bei den Herrnhutern (Abb.15). Kleine Sammlungen seiner geistlichen Gedichte und Lieder erschienen, zuerst von ihm selbst, dann von seiner Witwe herausgegeben, die ihn um 23 Jahre überlebte. Seine Lieder gelangten in Gesangbücher in Deutschland, der Niederlande und der Schweiz. Noch mehr finden sich in Gesangbüchern der Freikirchen: 14 in dem der Herrnhuter Brüdergemeine, 13 in dem der Methodistischen Kirche. Zu seinem 100. Geburtstag erschienen eine größere Sammlung seiner Gedichte und Lieder, eingeleitet von Detlev Block, und ein Lebensbild, verfasst von der Cuxhavener Autorin Sonja Matthes. 2008 gab Marion Heide-Münnich einen umfangreichen Band mit geistlichen Liedern und Gedichten heraus, der den Anspruch einer Gesamtausgabe allerdings nicht ganz einlöst; einige Lieder aus den Jahren des Kirchenkampfes und der „Singenden Kirche“ fehlen. Ende 2018 wurde der Nachlass von Arno Pötzsch als Schenkung an das Unitätsarchiv der Herrnhuter Brüdergemeine übergeben. Der französische Philosoph und praktizierende Lutheraner Paul Ricœur hat das Verhältnis des Christen zur Geschichte so beschrieben: „Was dem Christen … ermöglicht, die Zerrissenheit der erlebten Geschichte und die augenblickliche Absurdität einer Geschichte zu überwinden, die oft genug einem aberwitzigen Narrenstück ähnelt, das ist die Tatsache, daß diese Geschichte sich mit einer anderen Geschichte überschneidet, deren Sinn sich nicht verschließt, sondern der verstanden werden kann. (…) Der Glau98 99

Ich will das Leben glauben, in: Block 2000, 152; Heide-Münnich, 416. Zit. nach Naglatzki, 151.

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be an einen Sinn, wenn auch einen verborgenen Sinn in der Geschichte ist … zugleich der Mut, an eine tiefere Bedeutung auch der tragischsten Geschichte zu glauben (und somit eine Haltung des Vertrauens und der Hingabe mitten im Kampf) – und eine gewisse Ablehnung des Systems und des Fanatismus, ein Sinn für das Offene.“100 Darin scheint mir auch die Haltung von Arno Pötzsch auf erhellende Weise erfasst zu sein. Die Niederlande unter deutscher Besatzung Am 26. August 1939 hatte der deutsche Gesandte in Den Haag Königin Wilhelmina eine Erklärung überreicht, wonach Deutschland sich verpflichtete, im Falle eines Krieges die Neutralität der Niederlande zu achten. Drei Tage nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen erklärte der niederländische Ministerpräsident, dass die Niederlande an ihrer Neutralitätspolitik festhalten würden. Anfang Mai 1940 griffen Verbände der deutschen Wehrmacht die neutralen Niederlande an, die bereits nach 14 Tagen unter dem Eindruck der verheerenden Bombardierung Rotterdams kapitulierte. Nach der vollständigen Besetzung des Landes wurde am 29. Mai 1940 Arthur Seyß-Inquart zum Reichskommissar der besetzten Niederlande in Den Haag ernannt.101 Zunächst bemühte sich die deutsche Politik, das ‚artverwandte germanische Volk‘ der Niederländer, wie es im NS-Jargon hieß, mit Hilfe der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB) für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Diese zurückhaltende Besatzungspolitik wurde jedoch ab Februar 1941 zunehmend verschärft. Die einheimische Bevölkerung bekam nun über die Ausbeutung ihrer Wirtschaft hinaus Repressionen zu spüren. Bei den ersten Razzien wurden mehr als 400 jüdische Männer festgenommen. 140000 Juden, die rund 1,5 Prozent der Niederländer ausmachten, wurden in der Folgezeit behördlich erfasst, die meisten von ihnen, rund 107000, ab Juli 1942 in Vernichtungslager deportiert. Die niederländische Gesellschaft reagierte auf diese Härte zunehmend mit organisiertem 100

In dem Aufsatz: Das Christentum und der Sinn der Geschichte (1951), in: Paul Ricœur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, 89-109, hier: 105 und 109. 101 Vgl. Arnulf Scriba, Das deutsche Besatzungsregime in den Niederlanden, in: https://www.dhm.de/lemo/ kapitel/ zweiter-weltkrieg/kriegsverlauf/niederlandebes (eingesehen 2.10.2017); Katja Happe, Die Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-45, in: http://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/vertiefung/judenverfolgung/ (eingesehen 2.10.2017); Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940-1945 (Studien zur Zeitgeschichte Bd. 25), Stuttgart 1984; Johannes Koll, Arthur Seyss-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940-1945), Wien 2015, 69-108; Barbara Beuys, Leben mit dem Feind. Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945, zuerst München 2012, dtv 34890, München 2016.

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Widerstand, der brutal niedergeschlagen wurde. Während der Besatzungszeit wurden allein in Den Haag über 250 Menschen hingerichtet; die meisten von ihnen waren zuvor im Scheveninger Gefängnis ‚Oranjehotel‘ interniert gewesen. Dass die Verfolgungspolitik der Besatzungsmacht dennoch „erfolgreicher“ als anderswo in Westeuropa verlief, war durch die Kollaboration vieler Niederländer und eine intensive Zusammenarbeit der niederländischen mit den deutschen Behörden bedingt. Zwar gab es Beispiele von Resistenz unter der niederländischen Polizei. Doch insgesamt war sie die Hauptstütze der Besatzer bei der Erfassung und Verfolgung der Judenschaft in den Niederlanden.102 Nach der Niederschlagung des Streiks vom April/Mai 1943 zeichnete sich die deutsche Politik durch eine immer hemmungslosere Anwendung repressiver Methoden aus. Angesichts des Vormarschs der alliierten Truppen in Frankreich und Belgien versuchten sich die Angehörigen des NSRegimes mit Plünderungen und Terror an der Macht zu halten. Im September 1944 rief die niederländische Exilregierung in London die Angestellten der Eisenbahnergesellschaft zum Generalstreik auf. Das geschah in der Erwartung, dass die Niederlande bald durch die Alliierten befreit würden. Auch als sich herausstellte, dass die Befreiung noch einige Zeit auf sich warten ließ, setzte man den Streik fort. Daraufhin verhängte der Reichskommissar ein sechswöchiges Schiffsembargo, das bei den Niederländern der Westprovinzen im Winter 1944/45 zu einer Hungerkatastrophe führte. Erst mit der Befreiung weiter Teile der Niederlande durch kanadische Einheiten im April 1945 war der Zusammenbruch der deutschen Machtstellung besiegelt. Die Briefe an Käthe und Hans Neubauer Als Marineseelsorger in den Niederlanden hat Pötzsch während der fünf Jahre seines Dienstes dort kein Tagebuch geführt. Wahrscheinlich waren persönliche Aufzeichnungen zu riskant. Die 1918 begonnenen Tagebücher reichen bis Anfang 1940; der Band 1941 enthält nur eine Eintragung zur Jahreswende 1940/41. Erst 1947 werden die Tagebuchaufzeichnungen fortgesetzt, die bis 1955 reichen.103 So sind es vor allem seine Briefe, Ge102

Vgl. Hirschfeld, Fremdherrschaft, 112. Die im Nachlass befindlichen Tagebücher 1942-1944 stammen nicht von Pötzsch, sondern wurden, wie die Aufschrift der Titelblätter ausweist, von den Marinestandortpfarrern Stange (1.7.1942-9.10.1944) und Hartung (Beginn: 1.10.1944) in Cuxhaven geführt. Das Tagebuch 1940, das bis Februar reicht, enthält auch Aufzeichnungen von 1954/55. 103

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dichte und Lieder, in denen Pötzsch formuliert hat, was ihn in den Kriegsjahren bewegte. Einblick in die Verhältnisse in den Niederlanden, in denen Pötzsch sein Amt zu versehen hatte, gibt uns das Erinnerungsbuch von Aart van der Poel (1917-2001) (Abb.16), der ihn als junger Theologiestudent in Den Haag kennenlernte.104 Nach van der Poel hat Pötzsch dort mit drei Pfarrern zusammengearbeitet, die an Konflikten zwischen Niederländern und deutschen Nazis und ihren niederländischen Handlangern beteiligt waren. Gerrit Bos war Pfarrer im Stadtteil Valkenboosbuurt und zugleich Gefängnispfarrer in Scheveningen. Dirk Arie van den Bosch war Pfarrer in den Arbeitervierteln von Den Haag, wo seine Gottesdienste stets überfüllt waren. Van den Bosch wurde 1940/41 als politischer Gefangener der Nazis in Scheveningen inhaftiert und hatte in dieser Zeit viel Kontakt zu Arno Pötzsch. Im Oktober 1941 wurde er ins KZ Amersfoort verbracht, wo er nach Misshandlungen und Krankheit im März 1942 starb. Paul Kaetzke war seit 1936 Pfarrer der Deutschen Evangelischen Gemeinde (DEG) in Den Haag, in den Jahren der deutschen Besatzung ein Zentrum kirchlichen Widerstands. Unter seiner Leitung gelang es, zahlreiche Juden und andere Flüchtlinge vor dem sicheren Tod zu retten. „Er sah sich selber jedoch nicht als Held, sondern als jemand, der nur ‚seine Pflicht‘ tat.“105 Als die Nazis ihn zu boykottieren versuchten, setzte Amtskollege Pötzsch sich für seinen Freund ein. Er erreichte, dass die Wehrmacht Kaetzke zum „Marinepfarrer i.N.“ ernannte. Gestapo und SS lasen das irrtümlich als „in den Niederlanden“, es bedeutete aber „im Nebenamt“.106 Rückblickend schrieb van der Poel später: „Obwohl er in der Uniform des Feindes war, habe ich Arno Pötzsch doch schätzen gelernt als treuen Christen, guten Seelsorger und mutigen Menschen. Das Wort Zivilcourage beschreibt sein Verhalten am besten.“107 Pötzsch bekam sein Büro mit eigenem Mitarbeiterstab im ehemaligen Hotel ‚De Wittebrug‘ an der Grenze zu Scheveningen. Hier hatte er die Möglichkeit, sich nach seinen Vorstellungen einzurichten. Man nahm an, er habe mit einer eigenen Feldpostnummer, 30450, unzensierte Briefe versen-

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Aart van der Poel war im Zweiten Weltkrieg Oberst und amtierender Seelsorger bei der Royal Air Force, 83 Group, 2nd TAF (1944-1945), danach Pfarrer der Luftstreitkräfte für die Niederländer in der RAF im Vereinigten Königreich (1945-1947), Pfarrer der Luftstreitkräfte Vliegbasis Twenthe (1947-1950) und Pfarrer der Luftwaffe im Rang eines Oberst in Den Haag (1963-1972). 105 Zit. nach http://paul-kaetzke.de/wer-war-paul-kaetzke/ (eingesehen am 10.9.2018). 106 Vgl. Aart van der Poel, Sjaloom Papa, Kampen 1995, 151; Matthes, 71. 107 Matthes, 17.

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den können.108 Bert van Gelder berichtet dagegen, dass Pötzsch dieselbe Feldpostnummer hatte wie sein katholischer Kollege, Marinepfarrer Bernhard Nieberding. Formell konnten sie zwar „unzensiert Post verschicken und bekommen.“109 Da sie jedoch gewusst hätten, dass die Briefe geöffnet und gelesen wurden, hätten sie den Marinedekanen nur unverfängliche Nachrichten geschickt. Wäre dies der Fall gewesen, müsste allerdings erklärt werden, wie es Pötzsch gelang, mit seiner Feldpostnummer über mehrere Jahre persönliche Briefe zu versenden und zu empfangen, die wenig verhüllt Einblick in seine Situation und seine Gedanken gewährten. In ‚De Wittebrug‘ (Abb.17) gab es auch genügend Raum für eine Bibliothek. Diese wuchs stetig an, weil immer neue Paketsendungen mit Büchern und Zeitschriften aus Deutschland eintrafen. Im Gefängnis für politische Gefangene der Nazis in Scheveningen, das die Niederländer ‚Oranjehotel‘ nannten, hatte Pötzsch viel zu tun, um Häftlinge seelsorglich zu betreuen. Die Bestände der dortigen Bibliothek versorgte er ebenfalls mit Nachschub. Die Häftlinge, die sich Bücher ausleihen konnten, waren nicht an Romanen und anderer Literatur zur Entspannung interessiert, aber an Studienliteratur (z.B. auch an theologischen Büchern), die außerhalb des Gefängnisses nicht erhältlich war. Im Vorwort zu seinem 1947 in Hamburg erschienenen Büchlein „Von Gottes Zeit und Ewigkeit“ wird Arno Pötzsch schreiben: „Seit Jahren durch einen umfangreichen Dienst an Lebenden und Toten bis an die Grenzen der Kraft beansprucht, habe ich jeglichen außerdienstlichen Briefwechsel, auch den mit den nächsten Freunden, aufgeben müssen.“110 Ein bisher nur auszugsweise bekannter Briefwechsel nötigt dazu, diese Aussage im Blick auf die Jahre bis 1945 zu relativieren. Während des Zweiten Weltkriegs hat 108

65f, 72; 72; ihr ihr folgend folgend van van der der Poel Poel 2003, 2003, 61. 61.Matthes So Matthes, 65f, Matthes behauptet, Pötzsch sei in Aktionen eines kirchlichen Kreises eingeweiht gewesen, in dem der Ökumeniker Hans Schönfeld im Frühjahr 1942 von einem geplanten Attentat gegen Hitler sprach (vgl. van der Poel 1995, 157f). Dafür fehlen Nachweise. Schönfeld, seit Kriegsbeginn ein zentraler Mittelsmann zwischen der internationalen Ökumene und deutschen Widerstandsgruppen, agierte in einer Doppelrolle als Sekretär für die ökumenische Studienarbeit und als Genfer Mitarbeiter des Kirchlichen Außenamts. Er bereitete den Boden für Kontakte zwischen dem deutschen und dem holländischen Widerstand und kam seit August 1940 wiederholt nach Holland. 1942 vermittelte er ein Gespräch Adam von Trotts mit Mitgliedern des holländischen Widerstands, das in Den Haag stattfand (vgl. Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1939-1945, München 1973, 157-159; Ger van Roon, Zwischen Neutralismus und Solidarität. Die evangelischen Niederlande und der deutsche Kirchenkampf 1933-1945, Stuttgart 1983, 201f). 109 Van Gelder, 114. 110 Arno Pötzsch, Von Gottes Zeit und Ewigkeit. Worte und Lieder einer Wegfahrt 4 1958, 5. (zuerst 1947), Hamburg 41958, 5.

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Pötzsch nämlich immer wieder Briefe nach Cuxhaven gerichtet, die dienstliche Angelegenheiten eher am Rande und in notgedrungener Kürze streifen. Sein Hauptinteresse galt den Büchern, die er für sich oder zur Weitergabe an andere benötigte. Pötzsch hatte zwar regen Kontakt zu einem holländischen Buchhändler, der Bücher für ihn bestellte.111 Doch dies war nicht die einzige Quelle, von der er sich Literatur besorgte. Rund 120 Briefe, die er in den Jahren 1938 bis 1945 an seine Buchhändlerin Käthe Neubauer schrieb, bieten Einblick in seine Tätigkeit und seine persönlichen Gedanken. Hans und Käthe Neubauer betrieben zusammen seit 1931 in Cuxhaven, Schillerstr. 33, eine Buchhandlung („Der kleine Buchladen“), die dann bis 2007 von ihrem Sohn Frank Neubauer weitergeführt wurde.112 Arno Pötzsch und seine Frau Helene waren mit dem Ehepaar Neubauer gut bekannt. Die Briefe lassen ein vertrauensvolles Verhältnis erkennen, das auch sehr persönliche Anliegen mitzuteilen erlaubte. Daneben geht es immer wieder um geschäftliche Dinge, vor allem die Bestellung und den Versand von Büchern. Ein Brief und eine Karte aus den Nachkriegsjahren ergänzen die Sammlung. Die Briefe der Buchhändlerin (Abb.18) sind nicht mehr vorhanden, da Pötzsch sie jeweils nach dem Empfang verbrannt hat (vgl. Brief Nr. 105). Die Originalbriefe von Pötzsch lagen jahrelang in einem Schrank in der St. Petri Gemeinde Cuxhaven, ohne dass man dort über ihren Verbleib etwas wusste. Sie wurden erst im Oktober 2018 wiedergefunden. 113 Die hier vorgelegten Transkriptionen beruhen auf Briefkopien, die dem Herausgeber von Frau Kathrin Schlee, geb. Pötzsch, zur Verfügung gestellt wurden. Die Kopien sind unvollständig und z.T. unleserlich. Die große Mehrzahl der Briefe ließ sich jedoch aus ihnen rekonstruieren, unlesbare Teile konnten nach den Originalen ergänzt werden. Sonja Matthes hat in den 1990er Jahren Einsicht in die Originalbriefe an Käthe Neubauer erhalten, die ursprünglich im Besitz des Sohnes Frank 111 Klaus Heiwolt, Arno Pötzsch – Leben und Werk. Wissenschaftliche Hausarbeit im Fach Hymnologie zur staatlichen Prüfung für Kirchenmusiker (A-Examen), Masch., Köln 1989, 13. 112 Hans Neubauer (1900-1992) und Käthe Neubauer (1903-1979). Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof Cuxhaven-Ritzebüttel. Zur Buchhandlung vgl. Frank Neubauer, Leben mit Büchern, in: Die Spitze 1/1999, 24-25; Christina Busse, Neueröffnung. Navigieren im Büchermeer, in boersenblatt.net vom 4.8.2009 (in: https://www.boersenblatt. net/artikel-neueroeffnung.332487.html[eingesehen 26.7.2017]). 113 Erste Nachfragen des Verfassers am 12.8. und 2.11.2017 erbrachten, dass die Briefe von Pötzsch verschollen waren. Am 11.10.2018 wurden sie, dank Hinweisen von Superintendentin i.R. Almuth von der Recke, zusammen mit anderem Material gefunden (Mitteilung von Pastor Manfred Gruhn vom gleichen Datum). Sie wurden dem Unitätsarchiv Herrnhut übergeben, wo künftig der gesamte Nachlass Pötzsch aufbewahrt wird.

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Neubauer waren, und sie in ihrem 2000 erschienenen Lebensbild von Pötzsch ausgewertet, allerdings oft ohne Datumsangabe und z.T. in vom originalen Wortlaut abweichender Wiedergabe.114 In ihrer Darstellung finden sich einige wertvolle Bemerkungen über die Situation der Briefpartner. Da die Briefe viele Informationen enthalten über die Umstände, unter denen Pötzsch als Marinepfarrer in den Niederlanden tätig war, und detailliert über seine Lektüre und seine Interessen an literarischen und theologischen Büchern Auskunft geben, sind sie eine wertvolle Quelle für das Verständnis von Leben und Werk des Lieddichters. Es erschien daher sinnvoll, die Briefe an Käthe Neubauer, die zum weit überwiegenden Teil handschriftlich abgefasst wurden, zu transkribieren und sie in einer mit Erläuterungen versehenen Form interessierten Lesern möglichst umfassend zugänglich zu machen. Eine solche kritische Edition liefert außerdem eine zuverlässige Textbasis für weitere Forschungen zu Leben und Werk von Arno Pötzsch. Die Personen, die Pötzsch verschiedentlich nennt, gehören zunächst zum Familienkreis: seine Frau Helene und seine vier Töchter Kathrin, Christiane, Sabine und Renate. Die ältere Schwester Magdalene Bernd, geb. Pötzsch, lebte in Chemnitz (Nr. 89). Mehrfach wird in den Briefen „Anni“ erwähnt. Anni Tietje, geb. Heinsohn, war über 30 Jahre als Hausgehilfin für die Familie Pötzsch tätig. Eine Frau von Stosch, Ehefrau eines Offiziers, wohnte in Cuxhaven. 1943, während der mehrwöchigen Sanatoriumskur von Helene Pötzsch, führte eine Frau von Dossow den Haushalt der Familie in Goslar. Sie blieb der ältesten Tochter als „Drachen“ und hagere Frau mit NSDAP-Parteiabzeichen in Erinnerung. Mehrfach nennt Pötzsch auch die Namen der beiden Söhne des Ehepaars Neubauer, Frank und Michael. Bei der Erledigung seiner dienstlichen Korrespondenz in Den Haag wurde Pötzsch von der Schreibkraft Johanna Heuser (vgl. Nr. 119) unterstützt. Sie war bei ihm seit Januar 1943 als weibliche Hilfskraft beschäftigt. 115 Nach dem Krieg wurde sie Sekretärin im Pfarramt in Cuxhaven, wohnte auch im Pfarrhaus und hatte Kontakt zur Familie Pötzsch. Wiederholt wird ein Frl. Engelenberg erwähnt. Sie war vermutlich eine Niederländerin, die 1944/45 bei Pötzsch im Büro arbeitete. Zu Max Bleicken, dem ersten Bürgermeister von Cuxhaven, und seiner Frau hatte Pötzsch guten Kontakt. Elisabeth („Bezzie“) Stelter war möglicherweise die Mutter des jungen Mannes, der Pötzsch als Ordonnanz zugeteilt war (Nr. 17). Ein Ehepaar Uehleke (Nr. 119) gehörte zum näheren Bekanntenkreis.

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Vgl. Matthes, 62-104. Vgl. Schreiben von Pötzsch an Marinedekan Ronneberger vom 20.2.1943, in: PERS 6/260094, wonach Johanna Heuser seit 15.1.1942 bei der Dienststelle arbeitete. 115

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Was hat Arno Pötzsch von Krieg und Besatzung wahrgenommen? Wie verhielt er sich? In vorsichtigen Andeutungen und wenigen Sätzen lässt er gelegentlich erkennen, was in seiner Umgebung vorgeht und was ihn besonders belastet. Er sieht „mit Grausen“ das zerstörte Rotterdam (Nr. 3; vgl. 53; 94), die Zerstörung in Hannover (Nr.105) und in seiner Geburtsstadt Leipzig (Nr. 109). Er sorgt sich um die Menschen im bedrohten Cuxhaven: „Wenn nachts die feindlichen Maschinen, nicht mehr einzeln, sondern wie Hornissenschwärme über das Land brausen, um in das Reich einzufliegen, denkt man mit Bangen an die, die das Ziel des Angriffs werden. Möge Cuxhaven von solchem Großangriff bewahrt bleiben!“ (Nr. 75). Die menschliche Not des Hungerwinters 1944/45 im besetzten Land wird mit wenigen Worten anschaulich: Holland „hungert, es friert u. hat kein Licht. Kinder betteln um Brot. Jedermann hackt sich irgendwo Bäume ab“ (Nr. 116; vgl. 118). Am 3. März 1945 wurde Den Haag durch Verbände der britischen Luftwaffe „versehentlich“ bombardiert. Drei Tage danach schildert Pötzsch als Augenzeuge, was an diesem „schrecklichen Katastrophentag“ (Nr. 119) geschah. Das Entsetzen ist seinen Worten noch abzuspüren. Die zahlreichen Beerdigungen gefallener Soldaten, Besuche bei den Hinterbliebenen, die Begleitung von zur Hinrichtung verurteilten Todeskandidaten, all das macht ihm zu schaffen. Über die näheren Umstände verliert er kein Wort. Es bleibt dem Leser überlassen, sich vorzustellen, wie es gewesen sein mag. Wie es Pötzsch dabei erging, ist den sparsam eingestreuten Äußerungen über sein Befinden zu entnehmen: dunkel und rätselhaft erscheint ihm das Leben (Nr. 27), „die Rätselhaftigkeit, die dunkle Unerkennbarkeit u. Unentrinnbarkeit des Lebens“ (Nr. 41) erschüttern ihn. Hinrichtungen lasten schwer auf ihm (Nr. 27; 74), das Übermaß an Arbeit erschöpft ihn (Nr. 27; 99; 110), er fühlt sich todmüde (Nr. 28; 96), spürt körperliche Schwäche (Nr. 38; 41). Die Abendmahlsfeier mit einem Todeskandidaten und seiner Frau im Gefängnis (Nr. 51) erschüttert ihn. Er betreut einen Holländer vor seiner Erschießung und bekommt deswegen Schwierigkeiten (Nr. 82). So „viel schwere Erlebnisse, die Kraft verbrauchen“ (Nr. 59; vgl. 82)! Er lebt aus der Wahrheit von Bibelworten (vgl. Nr. 115) und tröstet andere mit diesen Worten. Aus seinen stets knappen Erlebnisberichten wird erkennbar, unter welchen Bedingungen Pötzsch als Seelsorger arbeitete und wie schwer ihn manche Erlebnisse belasteten: Beerdigungen von Gefallenen, Hinrichtungen meist unschuldig zum Tode Verurteilter, die Begleitung der Hinterbliebenen. Die Bücher, die Käthe Neubauer ihm zusandte, waren ihm Begleiter auf dem Weg (vgl. Nr. 26, 30) und „Therapeutikum“ (Viktor E. Frankl); sie boten in existentiell bedrängenden Situationen geistige Lebenshilfe, Stärkung und Trost. „Ob Sie ahnen, wie sehr Sie mich mit Ihren Büchern im

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Laufe dieser Jahre erfreut und erquickt haben?“ (Nr. 115), fragt er seine Buchhändlerin einmal und fügt hinzu, sie habe „einem Menschen auf seinem Wege beigestanden“ (ebd.). Es ist anzunehmen, dass auch ihre Briefe und ihr „treues Gedenken“ ebenso wie das Gedenken der Freunde und Angehörigen für Pötzsch eine Art Lebenshilfe bedeuteten, zumal die Päckchen nicht nur Bücher, sondern hin und wieder auch persönliche Geschenke wie eine Kerze, ein „Kränzchen“ oder sogar einen Kuchen enthielten. Andererseits ging er fürsorglich und behutsam auf Selbstzweifel seiner Briefpartnerin ein und nahm Anteil am Ergehen ihres kranken Sohnes Frank. Als Marinepfarrer mit einem großen Arbeitsbereich war Pötzsch häufig auf Dienstreise unterwegs. Gelegenheit zum Briefschreiben gab es selten, manchmal nur bei einer Bahnfahrt oder spätabends. Die Briefe an Käthe Neubauer sind oft in großer Eile geschrieben, wofür Pötzsch sich wiederholt bei der Adressatin entschuldigt. Ihm, der kalligraphisch schreiben konnte, musste es peinlich sein, dass die Handschrift seiner Briefe oft schwer leserlich war. Erstaunlich ist, dass er trotz seines viel Zeit und Kraft fordernden Dienstes als Seelsorger überhaupt noch so viel lesen konnte. In einem Brief vom Mai 1944 (Nr. 111) spricht er einmal von „ernsthaften, bücherfreudigen Menschen.“ Pötzsch war selbst ein solcher ernsthafter, bücherfreudiger Mensch, ein Vielleser, dessen Interesse sich auf viele Bereiche erstreckte. Romane, Erzählungen, Gedichte, Literaturwissenschaft, Theologie, Philosophie, Naturwissenschaften, Landeskundliches, Militärgeschichte, Erlebnisberichte von Soldaten, Biographien bedeutender Offiziere und Ärzte, Beiträge zur Ahnenforschung usw. umfasste seine Lektüre. Der deutsch-jüdische Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940), ein passionierter Bücherliebhaber und -sammler, war überzeugt, dass Bücher viel über ihren Besitzer verraten – über seinen Geschmack, seine Interessen und seine Gewohnheiten. Die Bücher, die wir lesen, sagen etwas darüber aus, wer wir sind.116 Was sagen die von Pötzsch gesammelten und gelesenen Bücher über ihn als Leser? Zur Lektüre von Arno Pötzsch In den Briefen an Käthe Neubauer werden Bücher von insgesamt 155 Autoren erwähnt. Viele Namen sind heute vergessen. An erster Stelle stehen Autoren, zu denen Pötzscheine positive Beziehung hatte und deren Bücher ihm viel bedeuteten: Paul Alverdes (11x), Reinhold Schneider (9x), 116

Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln (1931), in: Gesammelte Schriften IV/1, Frankfurt am Main 1980, 388-396.

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Matthias Claudius (8x), Karl Benno von Mechow (7x), Gorch Fock (6x), Adalbert Stifter (6x) und Paul Ernst (6x). Es sind überwiegend konservative deutsche oder deutschsprachige Schriftsteller, die Bindung an die christlichhumanistische Tradition, der Bezug zum Militär und zur Seefahrt sind für ihr Schreiben wesentlich. Aus naheliegenden beruflichen Gründen beschäftigte Pötzsch sich mit biographischen Darstellungen bedeutender Militärs und Staatsmänner v.a. des 19. Jahrhunderts: Freiherr vom Stein (3x), Bismarck (3x) und Moltke (2x). Auch der patriotische Literat und Freiheitskämpfer Ernst Moritz Arndt (1x), der Reformer der Reichswehr von Seeckt (5x) und der Offizier von Rabenau (5x) gehören in diesen Zusammenhang. Eine Reihe weiterer Autoren ist jenen geistigen Strömungen zuzurechnen, die mit dem Sammelbegriff ‚Konservative Revolution‘ bezeichnet werden. Dazu gehören etwa August Winnig (4x), Oswald Spengler (3x),Ernst Jünger (1x) und, bis Anfang der 1920er Jahre, Thomas Mann (1x). Einige zeichneten sich durch eine völkische Weltsicht aus und befürworteten den Nationalsozialismus wie Erwin Guido Kolbenheyer (2x). Seine von Pötzsch geschätzten Romanbiographien entstanden allerdings vor der Zeit des ‚Dritten Reiches‘. Pötzsch dachte über geistige Grundfragen, den Sinn des Lebens und der Welt, über Glaube und Wissenschaft nach. Er teilte die tiefverwurzelte deutsche „Sehnsucht …, Obdach unter einer Weltanschauung zu finden.“ 117 Ein Intellektueller, der sich mit zeitgenössischen Theorien auseinandersetzte, war er ebenso wenig wie die von ihm gelesenen und geschätzten Schriftsteller Reinhold Schneider (9x), Werner Bergengruen (2x), Ernst Wiechert (3x) und Ricarda Huch (1x). Er fühlte sich angesprochen von Erzählern und Lyrikern mit einer ‚feinen‘ Sprache und von Denkern, die ihn durch ihre weltanschaulichen Ansichten überzeugten. Besonders Kultur-, Geschichtsund Naturphilosophen interessierten ihn, neben Spengler etwa Edgar Daqué (4x) und Bernhard Bavink (1x), wie auch Theologen, die zwischen christlichem Glauben und Naturwissenschaftzu vermitteln suchten, z.B. Karl Heim (1x). Sören Kierkegaard (1x) und Albert Schweitzer (2x) waren für Pötzsch sicher weit wichtiger, als die Häufigkeit der Namensnennung erkennen lässt. Schweitzers Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ brachte genau seine eigene Grundhaltung gegenüber dem Leben auf den Begriff, Kierkegaard, mit dem er sich gerade in Holland viel beschäftigte, stand ihm nahe in der

117

Siegfried Kracauer, Propaganda und der Nazikriegsfilm, in: Von Hitler zu Caligari. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt am Main 102017, 338.

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tiefen gedanklichen Aneignung und Durchdringung des christlichen GlauExistenzweise. bens als Existenzweise. Von den den zeitgenössischen zeitgenössischen evangelischen evangelischen Theologen Theologen werden – vor Otto Von (1x), Johannes Johannes Müller Müller (1x), (1x),Friedrich FriedrichRittelmeyer Rittelmeyer(1x), (1x),Helmut Dibelius (1x), Helmut (1x) und undHelmuth Thielicke (1x) Helmuth Schreiner (2x) ––Ethelbert Ethelbert Stauffer Stauffer (4x) und WolfgangBeyer Hermann Wolfgang Beyer (3x) (3x) am am häufigsten häufigsten erwähnt. erwähnt. Pötzsch wünschte sich vergeblich Stauffers ‚Theologie des Neuen Testaments‘ (1941). Dieses Buch will den, „der in der Bibel die Antwort sucht auf die Urfragen des Lebens, … durch die Gedankenwelt des Neuen Testaments“ führen (so die Einleitung). Es entwirft eine neutestamentliche Theologie in „Gestalt einer apokalyptisch geprägten ‚christozentrischen Geschichtstheologie‘.“118 Pötzsch könnte gerade von dieser Gesamtschau angezogen worden sein, die heute als problematisch erscheint, weil sie die Vielfalt der Texte und Traditionen des NT in eine geschichtstheologische Konzeption hineinzwingt. Doch allem Anschein Anschein nach nach hat hat er er das das Buch Buch nicht nicht erhalten. erhalten. Beyer, seit 1931 engagierter Nationalsozialist, zählt zu den völkischen Theologen, die im ‚Dritten Reich‘ Karriere machten. 119 Er war Pötzsch wohl aus Leipzig bekannt, wo er 1936-1940 Kirchengeschichte gelehrt hatte, bevor er sich freiwillig als Kriegspfarrer an die Front meldete. Durch seine Auffassung, Houston Stewart Chamberlain müsse als Erneuerer des Christentums betrachtet werden,120 konnte Pötzsch sich bestätigt fühlen. Sie fand Zustimmung beim protestantischen Bildungsbürgertum und bei nicht wenigen protestantischen Theologen. Dort galt Chamberlain als „völkischer Seher“, in dem Beyer, wie ein Rezensent lobend vermerkte, den Christen entdeckt habe. Zu tadeln sei nur, dass er die Konsequenzen seines völkischen Denkens abschwäche, indem er z.B. am Alten Testament als heiliger Schrift festhalte.121 Chamberlain ist derjenige Autor, der in den Briefen am zweithäufigsten (10x) genannt wird. Pötzsch hat ihn „sehr geschätzt u. viel gelesen“. Er sah 118 Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments. Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments, Tübingen 2002, 16. 119 Dagmar Pöpping, Der schreckliche Gott des Hermann Wolfgang Beyer. Sinnstiftungsversuche eines Kirchenhistorikers zwischen Katheder und Massengrab, in: Gailus / Vollnhals, Volllnhals,aaO. aaO.261-278. 261-278. 120 Vgl. Hermann Beyer, Houston Houston Stewart Stewart Chamberlain Chamberlain und und die innere ErHermann Wolfgang WolfgangBeyer, neuerung des Christentums, Berlin 1939. 121 So ausgerechnet Walter Grundmann in: ThLZ 1940, Sp.210-212, der sich mit dem Ausdruck „völkischer Seher“ auf den NS-Ideologen Rosenberg stützt. Grundmann (1906-1976) war NSDAP-Mitglied und Deutscher Christ. 1939 wurde er Direktor des Instituts zur Erforschung jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, das de facto eine „Entjudung“ der Bibel, des kirchlichen Lebens und der Theologenausbildung betrieb. In dieser Position blieb Grundmann bis 1943.

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in ihm einen „große[n] Anreger, in Problematik u. Polemik vielfach noch nicht ausgewogen, sondern kühn in Neuland vorstoßend; man muß schon recht tief mit der Sache vertraut sein, wenn man mit H.St. Ch. fertig werden will“ (Nr. 78). Dieses positive Urteil verwundert, da Chamberlain von völkisch-nationalen Kreisen wegen seiner Rasselehre und seines Antisemitismus geschätzt wurde. Zwei Vorträge von 1940 verdeutlichen, dass Pötzsch sich für jenen Teil des Werkes von Chamberlain interessierte, der im NSSchrifttum ausgeblendet wurde. Nach Oktober 1943 wird dieser Autor in keinem Brief an Käthe Neubauer mehr erwähnt. Wie ist Pötzsch mit ihm „fertig“ geworden? Kein Wort über die Judenverfolgung In den Briefen fehlt jeder Hinweis auf die Ausgrenzung, Verfolgung und Deportation der Juden in den Niederlanden. Doch Pötzsch hat davon gewusst. Durch seine Kontakte zu Pfarrer Kaetzke muss er schon früh davon erfahren haben, dass die Deutsche Evangelische Gemeinde verfolgten Juden geholfen hat. Er setzte sich für die junge Niederländerin Joke Folmers ein, deren ‚Vergehen‘ es war, Juden versteckt zu haben. Sie überlebte. Später schrieb sie über ihn: „Arno Pötzsch war ein guter Mensch und Pfarrer für die zum Tod verurteilten Holländer … Er hat mit uns geweint und gebetet, auch meine Eltern besucht.“122 Ab dem 12. März 1941 galten Juden nicht mehr als Niederländer. SeyßInquart hatte sie an diesem Tag in einer Rede in Amsterdam unmißverständlich zu Feinden des nationalsozialistischen Reiches erklärt. Bis zum Sommer hatten die Besatzer die jüdische Bevölkerung in Listen und Statistiken erfasst und lokalisiert. Seit Januar 1942 wurden Juden evakuiert und über das Lager Westerbork in Güterzügen in die Vernichtungslager im Osten gebracht, seit dem 29. April mussten alle Juden in den Niederlanden den gelben Stern mit der Aufschrift „Jood“ tragen. Am 3. September 1944 fuhr der letzte Deportationszug von Westerbork nach Auschwitz-Birkenau. Gerüchte, dass die Judentransporte in den Tod führten, bestätigten sich, als Radio Oranje, der Sender der holländischen Exilregierung, am 29. Juli 1942 „im Zusammenhang mit den Judenmorden in Polen erstmals von ‚Gaskammern‘ [sprach].“123 Der Jüdische Rat in Amsterdam beschwichtigte: das sei unglaubhafte Feindpropaganda. Wann erfuhr Pötzsch davon? Wie reagierte er? Juden wie Nichtjuden, weit über den Einflussbereich des 122

Matthes, 90; vgl. Naglatzki, 147. Beuys, Leben mit dem Feind, 208; vgl. Geert Mak, Das Jahrhundert meines Vaters, München 42005, 320. 123

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NS-Regimes hinaus, weigerten sich zu glauben, was geschah. Es lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dass Menschen fabrikmäßig in Massen ausgerottet wurden. Der niederländische Autor Geert Mak kommt zu dem Schluß, viele seiner Landsleute hätten schon früh gewusst, welches Schicksal die Juden am Ende erwartete, es aber wie die meisten Deutschen nicht wissen wollen. Mehr als ein Drittel der niederländischen Kriegstagebuchschreiber habe, einer Untersuchung zufolge, vermutet, ein Massenmord sei im Gange.124 Tagebücher deutscher Zeitzeugen bestätigen, dass man im Herbst 1941 von Judentransporten nach Polen wusste, ein Jahr darauf vom „Schlachthaus“ Auschwitz.125 Am 15. Dezember 1941 notiert der oberhessische Justizinspektor Friedrich Kellner in sein Tagebuch, „daß die Juden einiger Bezirke irgendwohin abtransportiert werden.“ Sein Kommentar: „Diese grausame, niederträchtige, sadistische, über Jahre dauernde Unterdrückung mit dem Endziel Ausrottung ist der größte Schandfleck auf der Ehre Deutschlands.“126 Diesem Land, seinem Vaterland, diesem deutschen Volk suchte Pötzsch als Marineseelsorger im besetzten Holland zu dienen. Für sein Vaterland betete er: …lass sich’s nicht beladen / mit Schuld und mit dem Schaden / der Überheblichkeit.“127 Und sein ‚Morgenlied‘ bezeugt, von wem er sich zuerst und zuletzt zum Dienst befreit und beauftragt wusste: „Gott schenkt sich uns in dieser Welt, / hat uns in ihr zum Dienst bestellt, / ihm Dank und Lob zu leben. / Das ist, du Mensch, deins Lebens Sinn, / dass du dich wiederum gibst hin / dem, der sich dir gegeben.“ 128 In diesem Glauben beerdigte er Gefallene, stand den Hinterbliebenen bei, besuchte Gefangene und begleitete Verurteilte zur Exekution. Den Trostbedürftigen gab er Worte mit, die sich einprägten und in bestimmten Situationen wieder präsent waren. Mit seinen Predigten konnte er Menschen berühren.129 Seine Sprache erreichte einfache Menschen, denn sie sprach ihr Gemüt an, nicht nur den Verstand. „Beim Pfarrer geht ja alles durch das eigene Herz hindurch zu dem andren“ (Nr. 30). Diese Haltung – ein Gott und den Menschen „mit offenem Gemüte“ (Nr. 107) Zugewandt124

Vgl. Mak, Jahrhundert, 318-321. Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1933-1945, 2 Bde., Berlin 41995, Bd.1, 680, 686 (25.10 und 18.11.1941), Bd.2, 259 (17.10.1942). 126 Friedrich Kellner, „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“. Tagebücher 1939-1945, 2 Bde., Göttingen 42011, Bd.1, 211f. 127 Vaterland, Str.5, in: Singende Kirche, Heft 3, Den Haag 1942. 128 Morgenlied, Str.3, in: Singende Kirche, Heft 3, Den Haag 1942 = EG Hessen 644. 129 Mitteilung von Superintendentin i.R. Almuth von der Recke am 2.11.2017. 125

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Sein – strahlte aus und verband sich bei ihm mit ungewöhnlicher Bescheidenheit und Sinn für das Schlichte (ein Lieblingswort von Pötzsch). Er würde am liebsten, gestand er einmal, wieder Dorfpfarrer sein bei „schlichten Menschen“ (Nr. 118), wie er es 1935 bis Anfang 1938 in seiner ersten Gemeinde Wiederau war. Im Oktober 1940 besucht er als Seelsorger den früheren deutschen Kaiser Wilhelm II. auf Schloss Doorn. Ein Brief (Nr. 10) berichtet knapp von dieser Begegnung. Nach dem Tod Wilhelms II. kondoliert Pötzsch der Witwe, Prinzessin Hermine von Preußen: „Eurer Majestät spreche ich meine aufrichtige, herzliche Teilnahme zum Heimgang Seiner Majestät, des Kaisers, aus. Gott hat dem nun Entschlafenen ein schweres und doch auch reiches und gesegnetes Leben gegeben; er gebe ihm nun nach Kampf und Leid den Gottesfrieden der Ewigkeit! Mit tiefer Freude behalte ich in mir das Bild, das sich mir in Doorn eingeprägt hat: das Bild eines wahrlich schwer geprüften Mannes, der doch ganz unverbittert in der Kraft eines echten, starken Gottesglaubers in der schlicht-frommen Weise der Väter seinen Weg ging. Gott schenke und erhalte auch Eurer Majestät angesichts des bitteren Todes die Gewißheit tiefer, letzter Geborgenheit! Seiner Majestät und Eurer Majestät gedenkend (gez. Pötzsch) Marinepfarrer.“130 Seine Briefe zeigen uns einen sensiblen, künstlerischen Mensch mit vielen Begabungen. Arno Pötzsch hatte Talent zum Zeichnen, ursprünglich sogar Zeichenlehrer werden wollen (Abb.19). Er war musisch begabt, konnte ausgezeichnet Klavier spielen und singen. Und er hatte die Gabe, Erlebtes und Erlittenes in poetische Sprache, in Gedichte zu fassen. Gebete sind ihm „zu Gedichten geworden und Gedichte zu Gebeten.“ 131 Wir sehen Pötzsch als Tierfreund (wie Franz von Assisi und Albert Schweitzer) und naturverbundenen Mann, der gern lange Wanderungen unternahm. Was auffällt: sein Interesse an Familienforschung (Peter im Baumgarten, vgl. Nr. 119, wo Pötzsch in einem Sonett seine Beziehung zu dem Ur-UrGroßvater mütterlicherseits in Verse fasst) und Graphologie (zwei Handschriftengutachten). Heimatgefühl verbindet ihn mit dem „schönen Land“ Sachsen (Nr. 45), aus dem seine Vorfahren stammen. Und wir erfahren von seiner Freundschaft mit dem Michaelsbruder Dr. Kurt Reuber, dem Pfarrer und Arzt, der v.a. durch seine Zeichnung der „Stalingrad-Madonna“ bekannt wurde. Mit Reuber verbindet ihn der Bezug zu Albert Schweitzer, die künstlerische Begabung, die Frömmigkeit. Kurz 130

Schreiben vom 6.6.1941, in: Nachlass Pötzsch. Detlev Block, Das Lied der Kirche. Gesangbuchautoren des 20. Jahrhunderts I, Lahr 1995, 23. 131

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vor dem Ende der Schlacht von Stalingrad konnten die Bilder des Freundes in einem der letzten Flugzeuge zusammen mit verletzten Soldaten ausgeflogen werden. Man übergab sie der Frau von Kurt Reuber. „Nachdem Arno Pötzsch diese Bilder des Bruders und Freundes gesehen hatte, schrieb er spontan eine Reihe von vier Sonetten, die Leid und Grauen des Krieges nicht verschweigen und zugleich den Trost ausdrücken, der nur bei Gott zu finden ist.“132 Man kann seine Briefe an Käthe Neubauer charakterisieren, wie Sonja Matthes es in ihrem Lebensbild von Pötzsch getan hat: sie sind „Zeichen der Verbundenheit und des Vertrauens“, „Zwiegespräche der besonderen Art“ und „Zeugnisse der Zeit“.133

132 133

Naglatzki, 148. Matthes, 18.

Briefe an Käthe und Hans Neubauer 1938-1952 Vorbemerkung des Herausgebers Der Text der folgenden Briefe wurde nach Kopien transkribiert. Soweit erforderlich, wurde der Wortlaut mit den Originalbriefen abgeglichen und ergänzt. Bei einigen Briefen war nur eine unvollständige Wiedergabe möglich. Ein Brief und eine Postkarte aus der Nachkriegszeit (Nr.120-121) konnten nach den Originalen ergänzt werden.

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Nr. 1 [Masch.] Cuxhaven, 21.7.1938 Sehr geehrter Herr Neubauer! Mit Ihnen freue ich mich der Geburt Ihres zweiten Sohnes. Möge das Kindlein zur Freude seiner Eltern gesund an Leib und Seele heranwachsen, und möge der Sohn, dem Sie den bedeutsamen Namen Michael gegeben haben, ein Gotteskämpfer um und für die tiefsten Dinge werden! Ihrer lieben Frau wünsche ich von Herzen, daß sie diese Tage gut überstehe und immer stark und froh die Aufgaben Ihres gemeinsamen Lebensbereichs erfüllen könne. Ich grüße Sie und Ihre liebe Frau herzlich! Ihr Arno Pötzsch, P. Nr. 2 [Handschriftl.] o.D. Liebe Frau Neubauer! Der gr. Zinnteller ist noch immer nicht fort; in etwa 2 Wochen wird Gelegenheit sein, ihn mit nach Dtschld. zu geben. Ein kleines, altes Zinnmaß sandte ich heute früh ab. Ein recht schöner alter Messingleuchter (typ. holl. [= holländische] Form) wartet auch auf die Absendung. Krüglein u. Leuchter kosten zusammen 21 Rm [= Reichsmark]. Bitte, senden Sie mir ein Ex. Gorch Fock, Seefahrt ist not!134 Herzlichst! Ihr Arno Pötzsch In üblicher Eile! Nr. 3 [Handschriftl.] Feldpost 30450 24.7.1940 Lieber Herr Neubauer, liebe Frau Neubauer! Fast gleichzeitig erhielt ich Ihre beiden Briefe, die mir die betrübliche Kunde von der Erkrankung Ihres Michael und vom Verzicht auf die Ostsachsenreise brachten. Wie schade! Im Geiste hatte ich Sie schon auf Ihren Wegen durch Dresden, Herrnhut und Oybin begleitet. Meinem Herrnhuter Bekannten, Buchhärd bei Winter, hatte ich noch vor dem Übertritt ins fremde Land, von Osnabrück aus, wo ich einen längeren Aufenthalt hatte, geschrieben und Sie angemeldet; nun muß ich gelegentlich einmal schreiben, daß Sie verhindert wurden. Hoffentlich haben Sie dennoch erfreuliche 134

Erfolgreicher, oft nachgedruckter Roman, zuerst erschienen Hamburg 1913.

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und auch erholsame Urlaubstage verlebt. Das Gohliser Schlößchen 135 mit seiner feinen Musik kenne ich auch. Hoffentlich ist Michael, dessen Geburtstag ich mit guten Wünschen begleitet habe, unterdessen wieder gesund geworden; sonst wünsche ich ihm gute Besserung. Ich bin nun die erste Woche in Holland und | habe schon viele dauerhafte [?] Eindrücke empfangen. Holland ist ein schönes Land, landschaftlich schön und von hoher Wohnkultur, die der Wohlhabenheit des kolonienreichen und friedsamen Landes entspricht. Die soziale Frage hat hier, wo sich die Oberschicht deutlich und betont von der Unterschicht abhebt, ihre besonderen Probleme. Nun, davon später mehr, wenn wir wieder in Cux. beieinander sitzen. Am Sonntag predige ich in Rotterdam, vor dessen zerstörter Innenstadt ich mit Grausen gestanden habe. Die Post an mich ist geöffnet worden, weil Sie zur Feldpostnummer „Ha[a]g/Holland“ hinzugefügt hatten. Bitte, tun Sie das nicht wieder!! Die Feldpostnummer dient ja gerade der Geheimhaltung!! – Besorgen Sie mir doch, bitte, Schillers „Freiheitskampf der Niederlande“. 136 Es gibt da sicher eine brauchbare, etwa mit Anmerkungen u. Verbesserungen versehene kritische Ausgabe (viell. Reclam). Nun wünsche ich Ihnen noch ein paar schöne Urlaubstage u. glückliche Heimkehr nach Cux. Hoffentlich bleibt Cux. weiter von feindl. Fl. [= feindlichen Flugzeugen] verschont; es scheint ja nun zum Endkampf zu kommen, wenn England auf das Friedensangebot des Führers nicht eingeht. | [Auf Seite 1 am Rand: In herzlicher Verbundenheit grüße ich Sie alle! Ihr Arno Pötzsch [Beilage: Spruchkarte mit einem Text von Matthias Claudius.] Wer nicht an Christus glauben will, der muß sehen, wie er ohne ihn raten kann. Ich und du können das nicht. Wir brauchen jemand, der uns hebe und halte, weil wir leben, und uns die Hand unter den Kopf lege, wenn wir sterben sollen; und das kann er überschwänglich nach dem, was von ihm geschrieben steht, und wir wissen keinen, von dem wir’s lieber hätten. Nr. 4 [Handschriftl.] Marinepfarrer Arno Pötzsch, Feldpost 30450

6.8.1940

Liebe Frau Neubauer! 135 Das 1755/56 von dem Leipziger Ratsherrn Johann Caspar Richter in dem nordwestlich von Leipzig gelegenen Dorf Gohlis erbaute Sommerpalais. Seit den 1930er Jahren wurde es für kulturelle Veranstaltungen genutzt. 136 Gemeint ist die „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ (1788).

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Gestern abd. [= abend] erhielt ich Ihre dreifache Sendung. Haben Sie Dank für Brief, Büchlein u. Zeitschriften! Wegen der Briefaufschrift machen Sie sich, bitte, keine Sorgen mehr; nur war eben Ihre Post von der Überwachungsstelle geöffnet worden und es hätten sich leicht Schwierigkeiten ergeben können, da die Feldpostnummer doch gerade den Aufenthaltsort verschweigen und geheim halten soll. Heute vor 3 Wochen fuhren Sie und Ihr Mann nach Lpzg. [= Leipzig] u. fuhr ich nach Holland. Die Zeit ist seitdem im Fluge vergangen. Nur selten bin ich einmal einen ganzen Tag hier am Ort, u. dann gibt es eine Menge schriftlicher Dinge zu erledigen. Meist bin ich unterwegs, um irgend- | wo in Lazaretten oder Siedlungen Besuche zu machen oder Tote zu beerdigen. Die Toten sind entweder die Opfer gegenwärtiger Kriegshandlungen oder sie sind aus vergangenen Kriegshandlungen vom Meer an die Küste getrieben. Ich habe schon recht oft an Gräbern und an Särgen gestanden. Zum Lesen komme ich nicht viel u. doch nehme ich gern etwas Lesbares zur Hand. Der Aufsatz von Moritz Jahn 137 über Börries v. M., den ich auf der Reise las, hat mich sehr erfreut! – Die vielen netten Verteilhefte, die ich in Cux. für die Soldaten kaufte, helfen mir sehr; hier gibt es diese Sachen nicht u. außerdem fehlt mir das Kollektengeld, das ich in Cux. zur Verfügung hatte. Und dabei könnte man hier draußen so gut durch Verteilhefte wirken! – Wenn Ihnen einmal etwas besonders Wertvolles begegnet, machen Sie mich, bitte, darauf aufmerksam oder schicken Sie mir’s zu (aber nur, wenn nicht umfangreich!). Für die Bestellung von Schillers „Freiheitskampf | der Niederlande“ danke ich Ihnen; eingetroffen ist das Buch noch nicht. – Meine Bemühungen, Originale Rembrand[t]s zu sehen, waren bisher vergeblich. Alle wertvolleren Gemälde führen in Luftschutzkellern ein einigermaßen gesichertes, aber trauriges Dasein. – Wie mag es Ihnen und Ihrem Mann jetzt gehen? Ist das Verbleiben in Cux. einigermaßen gesichert? Ich begegne hier oft alten Landesschützen. 138 – Geht es denn meinem Michael wieder gut? – Schade, daß Sie nun nicht nach Ostsachsen gekommen sind! Die Wanderungen hätten Ihnen gewiß viel Freude gemacht. Nun, im Frieden läßt sich das alles einmal nachholen. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir. Ihrer beider Gedenken und die Grüße aus Lpzg. u. Dresden, alles hat mich erfreut. Mit herzlichem Gruß und Gedenken Bin ich Ihr Arno Pötzsch

137

Deutscher Schriftsteller (1884-1979). Infanterieeinheiten der Deutschen Wehrmacht, die v.a. aus Wehrpflichtigen der Landwehr und des Landsturms bestanden. 138

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Nr. 5 [Handschriftl.] Marinepfarrer Arno Pötzsch Feldpost 30450 12.8.1940 Lieber Herr Neubauer, liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für all die schönen Sendungen, von denen jetzt kürzlich etwas eintraf. Die „Illustrierten“ wandern bereits von Hand zu Hand. Das Claudiusbändchen „Der Wandsbecker Bote“139 ist mir eine besondere Freude, da ich den Claudius trotz meiner Vorliebe für ihn bei der entsetzlichen, unvermeidlichen Beschränkung nicht mitgenommen hatte und nun doch vermißte. Auch die kleinen Hefte sind recht schön, das Büchlein „Tod, wo ist dein Stachel“ ist sehr fein und soll in die Hände der Angehörigen der von mir beerdigten Gefallenen kommen. Ich erhielt gestern abd. die 5 Stück u. bitte Sie um weitere Exemplare, 20-30 Stück zunächst. Die Bezahlung, die von hier aus z.Zt. nicht möglich ist, wird später durch m. Cuxhavener Kollektenkasse erfolgen. An diese oder auch an den Ev. Marinestationspfarrer, Wilhelmshaven,140 richten Sie, bitte, Ihre Ansprüche auch für den Fall, daß ich hier draußen [?] bleiben sollte (ich schreibe das nur um der Ordnung willen). Nun etliche Wünsche: Das Buch Schiller, Geschichte des Abfalls, das wegen des zu hohen Gewichts nicht unmittelbar geschickt werden kann, lassen Sie, bitte, kommen. Ferner bitte ich um 10 Stück: Generalleutnant Dr. von Rabenau,141 „Geistige u. seel. Probleme im jetz. Krieg“, Zentralverlag Eher, Bln. [= Berlin] 1940 (bitte, auch selbst lesen! sehr beachtlich!). 10 Stück Peter Schütz, „Der letzte Halt“, Verlag „Die Wehrmacht“, Bln. 1940. Heinrich Hauser,142 „Männer an Bord“, Dtsch. Reihe, Diederichs, Jena, 10 Stck. Rudolf G. Binding,143 „Natur u. Kunst“, Rütten u. Loening, Potsdam, 1 Ex. (feine Deutung des Isenheimer Altars!). 139 Die von Matthias Claudius herausgegebene Zeitung „Der Wandsbecker Bote“ erschien 1771 bis 1775. 140 An der Christus- und Garnisonkirche in Wilhelmshaven war Marinepfarrer Friedrich Ronneberger (1886-1968), seit 1939 als Marinedekan oberster Marineseelsorger im NS-Staat und unmittelbarer Vorgesetzter von Pötzsch. 141 Friedrich von Rabenau (1884-1945), dt. Offizier, im KZ Flossenbürg ermordet. Der erwähnte 30-seitige Sonderdruck erschien im Zentralverlag der NSDAP. 142 Heinrich Hauser (1901-1955) war Schriftsteller, Seemann und Weltenbummler. Der Erzählband „Männer an Bord“ erschien zuerst 1936. 143 Rudolf G. Binding (1867-1938), deutsch-national gesinnter Schriftsteller. Seine Schrift „Natur und Kunst. Führungen und Betrachtungen“ erschien zuerst 1939.

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Eugen Roth, „Ein Mensch“, Alex. Duncker, Weimar.144 (Zur Aufheiterung!) | Sie sehen: auch draußen [?] schweigen die Bücherwünsche nicht, wenn man einmal dem Buch verfallen ist. In holländ. Buchhandlungen konnte ich gelegentlich Inselbücher kaufen u. manche Freude damit bereiten. Das bestellte Bücherpaket bitte ich Sie folgendermaßen zu beschriften: An den Ev. Marinepfarrer Pötzsch (F.P. 30450) Durch den Ev. Marinestationspfarrer Wilhelmshaven Kirchplatz 5 Dann wird das Paket bei Gelegenheit durch Kraftwagen mitgegeben. Gleich muß ich zu einer Besprechung wegen einer Beerdigung. Wieder sind 4 tote Soldaten angetrieben, Minensucher, die kürzlich herbe Verluste hatten. – Ihnen geht es hoffentlich gut! Ich denke oft an Sie beide. Möge Ihnen das gemeinsame Leben erhalten bleiben. Es sind viele, z.T. schon recht bejahrte Landesschützen hier draußen. Letzten Sonntag hatte ich Gottesdienst auf Walcheren145 (in Middelburg), nächsten Sonntag halte ich wieder Gottesdienst im restlos zertrümmerten Rotterdam. Ich grüße Sie herzlichst! Ihr Arno Pötzsch Nr. 6 [Handschriftl.] Feldpost-Nr. 30450 Marinepfarrer Pötzsch 17.8.1940 Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für Ihren lieben langen Brief, der mich sehr erfreute. Leider kann ich ihn nur in Kürze beantworten. Es ist Sonnabend abends – u. erst jetzt komme ich zur Vorbereitung der Predigt, die ich morgen vorm. [= vormittags] in Rotterdam halten soll. Das heißt also nach all der reichen Arbeit u. Unruhe des Tages auch noch Nachtarbeit. – Eben erhielt ich „Dichter schreiben über sich selbst“. 146 Herzl. Dank dafür! 144 Eugen Roth, Ein Mensch. Heitere Verse (zuerst 1935), Weimar 1940. Roth (18951976) war ein populärer Dichter, zumeist von humoristischen Versen. Durch seine Ein Mensch-Gedichte und -Geschichten wurde er rasch zu einem der meistgelesenen Lyriker in Deutschland. Trotz seiner antimilitaristischen Haltung wurde er im Zweiten Weltkrieg eingezogen und auf Lesereise zur Truppenbetreuung geschickt. 145 Halbinsel in der niederländischen Provinz Zeeland. 146 Dichter schreiben über sich selbst (Deutsche Reihe Bd. 100), Jena 1940

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Liebe, besorgen Sie mir 5 Ex. Schomerus „Ethos des Ernstfalls“, Säman-Verlag, Bln.147 Grüßen Sie Ihren Mann herzlichst. Stets Ihr Arno Pötzsch Nr. 7 [Handschriftl.] Feldpost-Nr. 30450 Marinepfarrer Pötzsch 28.8.1940 Liebe Frau Neubauer! Entschuldigen Sie, bitte, daß ich so spät und kurz antworte. Es ist einfach nicht anders möglich. Täglich bin ich unterwegs. Gleich muß ich zum Friedhof fahren, um hier einen Kameraden zu beerdigen, anschließend in Amsterdam einige Flieger, die mit ihren Maschinen verbrannten. Gestern beerdigt, vorgestern beerdigt … Haben Sie Dank für alle Ihre lieben u. schönen Sendungen. Ich erwähne nur das Mutterbüchlein [?] u. das Unsterblichkeitsbändchen, an dem ich viel Freude und Hilfe habe. Auch die Spruchkarten finden gute Verwendung. Das „Ethos des Ernstfalls“ kam schon vor ein paar Tagen. Nun habe ich doch schon mancherlei in der Hand, mit dem sich leben u. arbeiten u. helfen läßt. Für Ihren langen Brief danke ich Ihnen herzlich. Und den verschlossenen Brief habe ich auch gelesen. Ich sollte das recht in der Stunde der Gefahr tun. Aber aus den Erfahrungen, die ich gerade hier draußen mache, weiß ich, daß unser Leben doch immer gefährdet ist und daß der Tod gar manchen schnell überfällt. So les ich denn Ihren Brief und danke Ihnen für Ihr Vertrauen und Ihre Liebe. Wir wissen beide den Weg, den die Bindung an Gott uns gehen heißt, in unseren Ehen. Den Weg wollen wir gehen und darauf geben wir uns die Hand und sehen uns fest in die Augen. Ich grüße Sie herzlich und dankbar! Ihr Arno Pötzsch Nr. 8 [Handschriftl.] Feldpost-Nr. 30450 Marinepfarrer Pötzsch

11.9.1940

147 Vom Ethos des Ernstfalls, Berlin 1938, 21939. Hans Schomerus (1902-1969) war dt. lutherischer Theologe und von 1938 bis 1945 Ephorus und Studiendirektor des Predigerseminars Wittenberg.

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Liebe Frau Neubauer! Ich danke Ihnen sehr herzlich für alle Ihre Sendungen, die mir liebe Grüße u. wertvolle Hilfen sind. Herzlichen Dank auch für das Heidekränzlein [?] u. Ihrer beider Gruß zum schönen Sonntag! Meine persönl. Briefe ruhen ganz; es bleibt einfach keine Zeit dafür. – Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir; oft habe ich auch mit Landesschützen zu tun, im Lazarett oder bei Beerdigungen, u. dann gehen meine Gedanken zu dem Landesschützen Neubauer in Cuxhaven. Wie schön, daß Sie beide beisammen bleiben dürfen! – Senden Sie mir, bitte, noch 10 Schomerus, Ethos des Ernstfalls (Ev. Bund), 10 x Rabenau, Von Geist + Seele des Soldaten (Franz Eher, Bln.). 148 3 x W. v. Scholz, Das Buch des Lachens, (Dtsch. Verlag, Bln.).149 5 x Winnig, Das feste Herz (oder ähnlicher Titel, Feldausgabe).150 Ihre Sendungen (Fortsetzung fehlt) Nr. 9 [Handschriftl.] Evangelischer Marinepfarrer Feldpost 30450 24.9.1940 Liebe Frau Neubauer! Sie haben lange nichts von mir gehört, während ich fast täglich eine Ihrer kleinen, immer erfreuenden Sendungen erhalte. Haben Sie Dank für all diese geistige Kost, die mir oder irgendwelchen Kameraden, je nach Eignung der Schriften, zu gute kommt. Haben Sie herzlichen Dank auch für alles, das mir persönlich zugedacht ist, Dank vor allem auch für Ihre Liebe. Leider muß ich alle persönl. Verbindungen fast völlig ruhen lassen. Es bleibt keine Zeit zum Briefschreiben. Meist bin ich unterwegs, u. während der kurzen Anwesenheit in m. Dienstzimmer gibt es all die dienstl. Schriftsachen zu erledigen. Heute bitte ich Sie um folgende Bestellung: 10 Stück Will Vesper,151 Rufe in die Zeit, (Langen) 1 Rittelmeyer, Ausgewählte Predigten aus der Nürnberger Zeit (aus „Leben aus Gott“) Niemeyer Verlag, Halle, 1934152 148

Erschienen 1940. Der Eher-Verlag war der Zentralverlag der NSDAP. Wilhelm von Scholz, Das Buch des Lachens, Berlin 1938. Scholz (1874-1969) war ein dt. Schriftsteller, der dem NS-Regime früh seine Loyalität bekundete. 1941 wurde er Mitglied der NSDAP, nach dem Krieg als „Mitläufer“ entlastet. 150 August Winnig, Das feste Herz. Eine Gabe deutscher Erzähler, Gütersloh 1939. 151 Will Vesper (1882-1962) war dt. Schriftsteller und Literaturkritiker. Seit 1931 NSDAP-Mitglied, stellte er sich uneingeschränkt in den Dienst nationalsozialistischer Propaganda. 149

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1 Johannes Müller, Von der Wendung des Menschenloses (Dtsche. Verlagsanstalt, StuttgartBerlin)153 Bei Ev. Bund, Bln., bestelle ich selbst (weil sehr eilig) 2 Ex. Beyer, H. St. Chamberlain u. die innere Erneuerung des Christentums. 154 Rechnung lasse ich an Sie gehen. Bitte, übernehmen Sie die beiliegende Rechnung zu Lasten meines Schuldkontos bei Ihnen. Ich habe kein deutsches Geld hier. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir. Ihrer gedenkend grüße ich Sie! Ihr Arno Pötzsch Nr. 10 [Handschriftl.] Feldpost-Nr. 30450 Marinepfarrer Pötzsch 10.10.1940 Liebe Frau Neubauer! Nur kurz ist mein Schreiben, doch grüße ich Sie herzlich. Haben Sie Dank für alle Ihre Sendungen, die mir oft wertvolle geistige Nahrung vermitteln. Für die Zeitschrift „Wartburg“155 bin ich Ihnen sehr dankbar. Was ich nicht selbst brauche, wandert in die Hände von Kameraden. Einiges (H.W. Beyer „H. St. Chamberlain …“ aus dem Ev. Bund (das ich eilig beim Verlag bestellte, Rechnung an Sie), Schomerus „Ethos …“, Heim „Begegnung mit dem Tode“156) gab ich S.M. dem Kaiser, als ich am letzten Sonn-

152 152 Friedrich Rittelmeyer, Ausgewählte Predigten aus der Nürnberger Zeit, Halle 1934. Rittelmeyer (1878-1932) war ev. Theologe und Anthroposoph, seit 1922 leitend in in der der „Bewegung für religiöse Erneuerung“ (Christengemeinschaft) tätig. 153 153 aus Johannes Müllers LeVon der Wendung des Menschenloses. Eine Auslese aus benswerk. Ausblicke Ausblicke Ringsum, Ringsum, Stuttgart-Berlin Stuttgart-Berlin 1939. 1939. Müller Müller (1864-1949) (1864-1949) war protesbenswerk. tant. Theologe, trat für die Germanisierung des Christentums ein und verherrlichte Hitler. 154 154 Hermann WolfgangBeyer,Houston Wolfgang Beyer, HoustonStewart Stewart Chamberlain und die innere Erneuerung Hermann unddie innereErneuerung des Christentums,Berlin Berlin 1939. 1939. Beyer Beyer (1898-1942) (1898-1942) war war dt. dt. evangelischer evangelischer Theologe Theologe und desChristentums, Archäologe und trat für den NS-Staat ein. Er war Mitglied der Deutschen Christen und der SA. Chamberlain (1855-1927), ein in England geborener deutschsprachiger Schriftsteller, seit 1916 deutscher Staatsbürger, gehörte nie einer Kirche an. Er wurde v.a. durch sein Werk „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ (1899) bekannt. Wegen seiner seiner pangermanischen und antisemitischen Einstellung gilt er als einer der wichtigsten intelintellektuellen Wegbereiter des nationalsozialistischen Rassismus. Seit 1917 war war er er an an ParParkinson erkrankt und immer stärker auf fremde Hilfe angewiesen. 155 155 Bundes, Berlin, Die Wartburg. Deutsch-evangelische Monatsschrift, Verlag des Ev. Bundes, erschien seit 1901. 156 156 heutige GeGeKarl Heim, Die Begegnung mit dem Tode. Luthers Botschaft an das heutige schlecht, Hamburg 1940. Heim (1874-1958) war im schwäbischen Pietismus Pietismus verwurzelt verwurzelt

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tag in Schloß Doorn eingeladen war und in ein langes Gespräch über theol. Fragen mit dem alten, aber sehr interessierten Kaiser Wilhelm hatte.157 Über diese Begegnung aber sprechen Sie, bitte, nicht, mit niemand; es besteht ja Gefahr, daß dieser gänzlich unpolitische Besuch politisch mißdeutet wird!! Später läßt sich wohl einmal davon erzählen. Meine heutigen Wünsche: bitte 1 Ex. Hieronimi, „Zwischen Ende und Beginn“, Verl. Moritz Diesterweg, Frankfurt (angezeigt im „Wartburg“Heft).158 Ferner: 10 Ex. „Unser täglich Brot“, die kl. Sammlung Tischgebete aus dem Staudaverlag, Kassel. Ferner den kl. Lexikonband „Schlag nach“, Bibliograph. Institut Lpzg. (wenn zu schwer, dann Aufschrift „Dienstpost, an Evangelischen Marinepfarrer, Feldpost 30450“). Grüßen Sie Ihren Mann herzlichst von mir. Gott behüte Sie alle! Ihr Arno Pötzsch Nr. 11 [Handschriftl.] Feldpost-Nr. 30450 Marinepfarrer Pötzsch 6. Nov. 1940 (19.11.1940) Liebe Frau Neubauer! Wie lange liegt nun Ihr ausführlicher Brief schon da! Aber ich kam nicht zum Antworten. Auch heute früh wird’s nur eine kurze Bestellung. Doch möchte ich Ihnen vorerst herzlichst für Ihren Brief, wie auch für alles andere, das Sie senden, danken. Haben Sie Dank für Ihr Vertrauen! – Ihrem Plan, durch Besorgungen in Holland die Bücher zu verrechnen, stimme ich grundsätzlich gern zu; ob ich Ihnen Gesuchtes u. Gewünschtes beschaffen kann, muß erst abgewartet werden. Es sind immer mehr Dinge auch in Holland unter Marken- u. Kartenzwang gestellt worden. Schreiben Sie mir einmal alle Ihre Wünsche, und ich will sehen, welche ich hier erfüllen kann. Nun aber schnell meine Bücherwünsche: 1) Bannach, Wir fragen die Bibel,159 Furche Verlg. Bln. und suchte als ev. Theologe zwischen christlichem Glauben und Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften zu vermitteln. 157 Der letzte deutsche Kaiser lebte dort seit 1920 bis zu seinem Tod am 4. Juni 1941 im Exil. 158 Das Buch von Martin Hieronimi erschien 1940. In der sowjet. Besatzungszone stand es mit anderen Titeln des Autors auf der Liste der auszusondernden Literatur (Berlin 1946, Nr. 4910-4912; Berlin 1948, Nr. 3293). Hieronimi publizierte u.a. auch die Broschüre: Die Kriegsflotte der Westmächte, Leipzig 1940. 159 Horst Bannach, Wir fragen die Bibel. Die Bibellese in Frage und Antwort, Berlin 1939. Bannach (1912-1980), ev. Theologe, war in der Deutschen Christlichen Studenten-

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2) Schowalter, Geheiligter Kampf,160 Ludwig Ungelenk, Dresden-Lpzg. (Fortsetzung fehlt) Nr. 12 [Handschriftl.]

11. Nov. 1940 (16.11.)

Liebe Frau Neubauer, auf Dienstreise kam ich nicht zum Abschließen des Briefes am 7. Nov. Nun ergänze ich ihn durch folgende Bestellung: 1 W. Busch, Licht vom unerschöpften Lichte,161 Verlag Martin Warnecke 1 W. Jörn, Eins fehlt dir, … Verlagshaus, Stuttgart. W.162 250 Stück Schröder, „Johannes Brackmann“163 Ev. Verlag „Der Rufer“, Hermann Werner Nachf. Gütersloh 20 Stck. Gillhof, Jürn Jakob Swehn, der Amerikafahrer.164 In herzlicher Verbundenheit, stets Ihr Arno Pötzsch Zusatz oben:Am 8. Nov. hatte ich 1000 Soldaten zu einem Gottesdienst vor der Vereidigung in einer wunderschönen alten gotischen Kirche! Ein Lichtblick in dem vielen Dunkel! Nr. 13 [Handschriftl.] Feldpost 30450 13. Nov. 1940 (26.11.) Liebe Frau Neubauer, unmittelbar vor Antritt einer mehrtägigen Dienstreise nach Belgien schreibe ich Ihnen diesen kurzen, aber herzlichen Brief zu Ihrem Geburtstavereinigung (DCSV) aktiv und nach dem Zweiten Weltkrieg Generalsekretär der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland. Er gründete 1962 den Radius Verlag. 160 August Schowalter, Geheiligter Kampf. Ein Buch von der Kraft des Glaubens, Dresden-Leipzig 1939. Schowalter (1870-1940) war ev. Pfarrer in Wittenberg. Sein Bericht „5 Jahre Pfarrer in Tegel“ (Berlin 1934) wurde im NS-Staat verboten. 161 Wilhelm Busch, Licht vom unerschöpften Lichte. Tägliche Andachten, Wuppertal 1938. 162 Wilhelm Jörn (1873-1963) war dt. methodistischer Prediger und Schriftsteller. 163 Gustav Schröder, Johannes Brackmann. Wie ich ihn kennenlernte und wie ich ihn verlor. Ein Lied deutscher Kameradentreue, Gütersloh 1939. 164 Roman von Johannes Gillhof (1861-1930), zuerst erschienen Berlin 1917.

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ge. Ihr Geburtstag wird für mich immer mit der Taufe Ihres Kindleins am Vorabend Ihres Geburtstages zusammen gehören. Was damals über dem schlummernden Kinde von Menschensehnsucht und Herzensunruhe und von den bergenden Händen Gottes zu sagen war, das gilt ja auch Ihnen. Möge Sie, liebe Frau Neubauer, die Gewißheit, unverlierbar in Gottes Händen zu [ruhen], auch durch das neue Jahr geleiten und Sie für sich selbst und für die Ihren fröhlich und stark machen! Grüßen Sie Ihren Mann und die Jungen herzlich von mir. [Fortsetzung unsicher] Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen diese kleinen Süßigkeiten, die es hier in Holland noch gibt, auf Ihren Geburtstagstisch lege. Mögen Sie einen recht frohen Tag mit den Ihren verleben und heiter und getrost die Wanderschaft durch das neue Lebensjahr beginnen! Lesen Sie in dem schönen Band „Anfechtung und Trost im deutschen Gedicht“ 165 Paul Flemmings [sic!] wunderbares Lied: „In allen meinen Taten laß ich den Höchsten raten …“166 Das Lied, das einmal an einem Abend bei Ihnen zu uns sprach, ist mir immer neu eine Quelle der Hilfe, des Trostes und der Kraft. Stets Ihr Arno Pötzsch Bitte, besorgen Sie mir Ehm Welk, Die Lebensuhr des Gottlieb Grambauer, Dtsch. Vlg. Bln. 167 (Recht gut!!) Nr. 14 [Handschriftl.] Feldpost 30450 27. Nov. 1940 Liebe Frau Neubauer! Da ich dauernd unterwegs bin, bin ich nicht eher zu meinem Dank für Ihr Gedenken zu meinem Geburtstage u. für das schöne Buch „Die Urgestalt“ von Daqué168 gekommen (Zusatz: Ihre Sendung traf am 24. Nov. ein.). Daß Sie mich mit beidem herzlich erfreut haben, glauben Sie mir ohne viel Worte. Auf den Daqué freue ich mich sehr, habe ich doch 165

Eine Anthologie von Johannes Pfeiffer (Hrsg.), erschien bei Rowohlt, Berlin 1938. Der Herausgeber Pfeiffer (1902-1970) hat 1931 in Freiburg mit einer Arbeit über „Das lyrische Gedicht als ästhetisches Gebilde, ein phänomenologischer Versuch“ zum Dr. phil. promoviert. 166 Paul Fleming (1609-1640) hat diese 15strophige Ode 1633 in Riga vor einer Reise ins Ungewisse verfasst. Sie wurde wurde von von Adam Adam Olearius Olearius posthum posthum herausgegeben (Teutsche Poemata, Lübeck 1642, 287-290). Im Ev. Gesangbuch sind 7 Strophen abgedruckt (EG 368). 167 Untertitel: Beichte eines einfältigen Herzens. Roman, Berlin 1938. Ehm Welk (1884-1966), dt. Journalist, Schriftsteller, Volkshochschulgründer und Professor. 168 Edgar Daqué (1878-1945) war dt. Paläontologe und Naturphilosoph. Gemeint ist Buch:Die das Buch: Die Urgestalt. Urgestalt. Der Der Schöpfungsmythus Schöpfungsmythus neu neu erzählt, erzählt, Leipzig Leipzig 1940. 1940.

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an seinem Spruchbuch169 viel Freude gehabt. Mein Geburtstag verlief still und ernst (wenn auch ohne die sonst fast täglichen Beerdigungen), wie einem eben in der Einsamkeit der Fremde zumute ist. Meine Ordonnanz hatte mir früh ein Licht, einen Blumenstrauß u. den geschriebenen Liedvers „Gib, daß ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret …“170 ins Dienstzimmer gestellt u. mir damit einen schönen Tagesanfang bereitet. Ich habe Ihnen von Brüssel allerlei eingekauft, das dann hoffentlich Ihre Billigung findet: 10 m reines Handtuchleinen (gibt etwa 12 Handtücher), | 4 reinleinene Bettlaken (die belg. Bettmaße sind anders; die 2 m Breite muß man in Dtschl. als Länge nehmen); 6 leinene Küchentücher. 4 schöne größere Frottiertücher. Alles ist recht gute Qualität, wie sie in Deutschland nicht mehr zu haben ist. In Belgien gibt es diese Dinge noch ohne Bezugsschein, in Holland schon längere Zeit nicht mehr, u. bald werden die Vorräte aufgebraucht sein. Morgen bin ich voraussichtlich wieder in Brüssel u. werde Ihre Sachen dann mitbringen. Kosten etwa 80-100 Rm nach deutschem Geld. Hoffentlich sind Sie damit einverstanden. – An Mantelstoffen habe ich die beiden gefunden, deren Muster beiliegen, beide sind noch recht gut, außen Wolle. Der graue Stoff wirkt im ganzen Stück ziemlich hell, der dunkelblaue ist mit braunen Quadraten ganz unauffällig gemustert. Schreiben Sie mir, bitte, sogleich, ob Sie Mantelstoff, diesen oder anderen, haben wollen. Preis – ich glaube 26 Rm je m. Ich bin ein schlechter | Kaufmann, habe darum den Preis wieder vergessen. Ob ich mit den Schuhen für Michael so Glück habe wie mit der Leinenwäsche, weiß ich noch nicht; ich will versuchen, etwas Passendes zu bekommen. Die Leinensachen sind so gut, daß ich gern selbst zufassen würde, wenn das nur eben keine Geldfrage wäre. – Für jemand anders etwas zu besorgen, ist ja immer etwas schwierig, weil man immer in Sorge ist, daß das Besorgte dem andern dann doch nicht gefällt. Hoffentlich gefällt Ihnen das … von mir Besorgte! In dem Handtuchleinen ist ein Webfehler, auf den ich aufmerksam machte; dafür bekam ich etwa ½ m mehr zugemessen. – Ihnen die schwere Wäsche zu schicken, ist nun freilich nicht so einfach; das kann nur gelegentlich geschehen. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir. Wie schade, daß er nicht freikam! Stets Ihr Arno Pötzsch

169 170

Gemeint ist: Das Bildnis Gottes. Ein Spruch-Brevier, Leipzig 1940. Aus dem Lied „O Gott, du frommer Gott“ von Johann Heermann (1585-1647).

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Nr. 15 [Handschriftl.] Feldpost 30450 I.XII.1940 Liebe Frau Neubauer! Lange habe ich, verstehen Sie, bitte, recht auf die Bestätigung der Ankunft meines kleinen Päckchens für Ihren Geburtstagstisch gewartet, aber obgleich ich doch oft Ihre Sendungen empfange, diese Bestätigung blieb aus. Also noch einmal: nicht auf den Dank (der ja immer nur auf meiner Seite für alle Ihre lieben schönen Gaben liegen kann!), sondern nur auf die Bestätigung habe ich gewartet. Da ich gerade in diesen Tagen hörte, daß auch Sendungen anderer Offiziere nicht am Ziel eingetroffen sind, muß ich annehmen, daß auch das für Sie bestimmte Päckchen verloren gegangen ist. Es war eine Schachtel Pralinen, der ich meinen geschriebenen Glückwunsch beigelegt hatte. Absendung so, daß der Gruß Sie normalerweise am Geburtstag hätte erreichen müssen. Es würde mir noch | heute herzlich leid tun, wenn Sie an Ihrem Geburtstag u. überhaupt ohne ein Zeichen meines Gedenkens geblieben sind. Bitte, schreiben Sie mir, wie sich’s verhielt! Es wäre ja auch denkbar, daß ein Brief von Ihnen, der die Empfangsbestätigung enthielt, nicht bei mir angekommen ist. Ich habe nun ein Wäschepaket für Sie hier liegen, das ich gelegentlich hoffe mitgeben zu können. Es enthält 10 m Handtuchleinen für etwa 1 Dtzd. Handtücher, 6 Küchentücher in Leinen, Leinen für 4 Bettlaken u. 4 Frottiertücher. Kosten 1000 belg. Franken = 80.- Rm, die ich auf m. Büchersendung zu verrechnen bitte. Ich habe in Brüssel einen schwarzen wollenen Mantelstoff zurücklegen lassen, der 65.- Rm kostet. Wollen Sie den haben? Geben Sie, bitte, bald Nachricht, da auch in Belgien die Bezugsscheinpflicht eingeführt wird. Ich grüße Sie u. die Ihren sehr herzlich. Ihr Arno Pötzsch Nr. 16 [Handschriftl.] Feldpost 30450 7.XII.1940 Liebe Frau Neubauer! Als ich gestern abd. von Paris kam, wohin mich der Marinebefehlshaber [entsandt hatte] mit einer dringenden, leider fast aussichtslosen Sache (dem Gnadengesuch eines zum Tode Verurteilten, für den ich mich trotz der Schwere seiner Tat eingesetzt hatte), fand ich unter der vielen Post, die sich in den 4 Tagen meiner Abwesenheit angesammelt hatte, mehreres von Ihnen. Als ich die Postsachen öffnete, wie sie mir in die Hand kamen, geriet ich in allerlei Verstehensschwierigkeiten, aus denen ich mich zunächst gar nicht befreien konnte. Ich fand ein Büchlein u. einen verschlossenen Brief

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„Institut Cornelius“, dazu eine Karte: „Das ist das Versprochene für Ihre Ordonnanz.“ Nun, ich will nicht weiter beschreiben. Zuletzt hellte sich ja doch alles auf. | Mit dem Gutachten des Schriftdeuters haben Sie mich allerdings sehr überrascht. Böse bin ich Ihnen nicht. Sie haben mir damit etwas abgenommen, das ich selbst vorhatte u. doch aus Bedenken und Geldsorgen immer wieder hinausschob. Ich hatte mir durch den Schriftdeuter eine regelrechte Hilfe holen wollen. Ich bin, so seltsam Ihnen das wohl klingt, ein Mensch, der sich gar nichts zutraut, der im gleichen Augenblick, in dem er eine Aufgabe gelöst u. erfüllt hat, wieder hinabsinkt in den quälenden Zweifel an sich selbst u. das Bangen vor der neuen, ihn unlösbar dünkenden Aufgabe. So geht das nun seit Jahrzehnten. Nun wollte ich aus dieser Not heraus von einem mir sachlich, objektiv erscheinenden Schriftkundigen Aufschluß holen über gewisse Anlagen, Fähigkeiten, Wesenszüge. Diese Aufschlüsse finde ich nun in diesem überraschend gekommenen Gutachten in reichem Maße, u. darin liegt zweifellos eine | gewisse Hilfe beschlossen. Andererseits zeichnet die Analyse ein so überaus positives Bild von mir, daß ich sie nur beschämt aus der Hand legen kann. Sie zeigt mir, falls sie richtig ist, die Wesensanlage, die wir Menschen als schicksalsmäßige Gegebenheit tragen, die aber auch unsere Pflichten u. besonderen Aufgaben enthält. Und da sieht mein Leben, und wenn es Gott, der Schöpfer, auch mit guten Anlagen gesegnet hat, nicht anders aus als das Leben anderer Menschen. „Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollen …“ [Röm 3,23]. Seien Sie darum auch nicht bekümmert, wenn Sie an Ihrem Mann einen Wesens- u. Charakterzug sehen, der Ihnen nicht lieb ist. Ich bin überzeugt, er ringt in dem Maße, das ihm gesetzt ist, eben so um die Erfüllung der ihm von Gott gestellten Lebensaufgabe wie Sie und ich. Wir wollen uns auf unsern Wegen halten. – Das zwischen | uns bestehende Vertrauen gebietet mir, Ihnen die von Ihnen veranlaßte Analyse zum Lesen zuzuschicken; ich erbitte sie mit Ihrem nächsten Briefe zurück. Den Brief vom Verlag Druckenmüller 171 füge ich wieder bei. Ich bin freilich noch nicht überzeugt, daß gerade dieses kl. Buch wirklich in die Tiefe der relig. u. kirchl. Fragestellung eindringt u. einführt. Immerhin mag es diesen oder jenen Dienst tun. Merkwürdig ist auch bei diesem Verfasser, daß er wohl sieht u. ausdrücklich anerkennt, wie das Christentum das deutsche Soldatentum beseelt u. geformt hat, aber von der christlichen Substanz, wie sie unsere Väter u. die großen Soldaten unter ihnen im orthodoxen oder pietistischen usw. Gewande besaßen, bleibt bei diesen Kritikern nicht mehr viel übrig; bis zur völligen Säkularisierung ist es immer nur 171

Alfred Duckenmüller Verlag, Stuttgart.

74 ein kleiner kleiner Schritt. Schritt. –– Nun Nun seien seien Sie Sie aber, aber, bitte, bitte, nicht nichttraurig, noch ein traurig, daß ich nicht so begeistert | zustimme. – Auf einen Brief des „Wolfg. Uhle“172 Verlages172 entsinne ich mich gar nicht. Hoffentlich ist er nicht verloren gegangen u. hoffentlich habe ich ihn nicht vergessen! Dem Wolfgang Uhle würde ich auch eine billigere billigere VolksVolks- oder oder Feldausgabe Feldausgabe wünschen. wünschen. Den Mantelstoff hoffe ich Ihnen noch besorgen zu können; ich nehme an, daß der Stoff noch da ist; ich hatte um Rücklegung gebeten. Da Soldatenpäckchen in die Heimat nur bis 1 kg schwer sein dürfen, kann ich Ihre Sachen leider nur bei einer Gelegenheit zuschicken. Bitte, besorgen Sie mir: 1) Reimesch [in Druckbuchstaben wiederholt], „Sachsenehre“,173 Bayreuth, Gauverlag Bayrische Ostmark (3,50) (betr. Siebenbürgen, 5 hist. Erzählg., sehr gut besprochen. 2) Wißmann, „Die Bergpredigt u. Gleichnisse Jesu“174 Töpelmann, Bln., 2,60 Rm 3) Johnsen, „Die Männerarbeit der Kirche“175 Verlag Ungelenk, Dresden. | Vor mir liegt sehr viel Arbeit. Morgen, Sonntag, 2 mal Beerdigungen, erst 4, dann 5 tote Soldaten. Die nächsten Adventsonntage u. die Tage um Weihnachten voller Gottesdienste. Aber Anfang Januar hoffe ich für etwa 10 Tage zu den Meinen nach Sachsen fahren zu können. Dann ist’s gerade ½ Jhr. seit wir uns trennten. Für das Büchlein für m. Ordonnanz (ich begrub kürzlich den Bruder dieses Soldaten, der als Fliegerleutnant bei der Rückkehr vom Feindflug bei Amsterdam plötzlich abstürzte.) [Abschluss des Satzes fehlt] 172 Pötzsch bezieht sich auf den Buchtitel: Gertrud Busch, Wolfgang Uhle, Schwarzenberg 1939, der im Glückauf-Verlag erschien. Untertitel: Dies ist die wahrhaftige Geschichte des Magisters Wolfgang Uhle, Pfarrer zu Breitenbrunn St. Annaberger Inspektion, von ihm selbsten aufgezeichnet und vom Herausgeber dem heutigen Deutsch angeglichen. 173 Fritz Heinz Reimesch, Sachsenehre. Fünf geschichtliche Erzählungen aus Siebenbürgen, Bayreuth 1940. Der in Kronstadt/Siebenbürgen geborene Fritz Reimesch (18921958) war Volkstumsforscher und Journalist. 174 Erwin Wißmann, Die Bergpredigt und die Gleichnisse Jesu im Unterricht, Berlin 1939. Wißmann (1895-1967) war von 1928-1938 Studienrat und Religionsdozent. 1947 wurde er von der verfassunggebenden Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) zum Oberkirchenrat in die vorläufige Kirchenleitung berufen und mit dem Aufbau des Schulreferats der Kirchenverwaltung beauftragt. 175 Helmuth Johnsen, Die Männerarbeit der Kirche, Dresden 1941. Johnsen (18911947) war ev. Pfarrer, völkischer Aktivist, Mitglied der NSDAP und der Deutschen Christen. 1934 wurde er zum Landesbischof der Ev.-Luth. Landeskirche in Braunschweig gewählt und hatte dieses Amt bis 1939 inne.

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Paris, die Riesenstadt, bot auch bei gedrängter Zeit, doch einige sehr schöne, große Eindrücke. Auch Reims – die schöne Kathedrale! Ich grüße Sie sehr herzlich, liebe Frau Neubauer; grüßen Sie auch Ihren Mann, u. Ihnen beiden wünsche ich Kraft für die Arbeit u. einen guten Erfolg. Gott behüte Sie alle! Stets Ihr Arno Pötzsch Nr. 17 [Handschriftl.] Feldpost 30450 21.XII.1940 Liebe Frau Neubauer! Es ist längst Mitternacht vorbei, also längst der 22. Dezember, aber ich will eben noch kurz auf Ihren lieben Brief vom 16. [Dezember] antworten, der heute abd. eintraf. Post von Ihnen habe ich länger nicht erhalten, nur das Bücherpaket („Krieg u. Dichtung“) 176 u. die mancherlei hochwillkommenen Verteilschriften, für die ich herzlichst danke; auch für den Corona-Heftband, der wegen des Aufsatzes von Fritz Ernst-Zürich besondere Bedeutung für mich hat.177 Seit meinem Brief an Sie (mit dem Gutachten) ist kein Brief von Ihnen gekommen, also auch das Gutachten nicht. Nun ist es vielleicht doch verloren. Dann würde ich Sie bitten, von dem Durchschlag, | der sich doch sicher in den Akten des Instituts findet, eine Abschrift festhalten zu lassen. Und wenn Sie schreiben, daß das Gutachten als Sendung ins Feld verloren gegangen ist, werden wir die Abschrift sicher ohne große Kosten bekommen. – Sie fragen, mit welchen Gedanken ich das Gutachten gelesen habe. Nun, ich dachte: „Das ist ja ein Mensch, der mir gleicht oder dem ich ähnlich bin. Sollte ich selbst das sein? Ja, das muß wohl sein! Aber nein, das ist ja ein viel zu schönes Bild von mir.“ So liefen die Gedanken hin und her – bis Ihr Brief, der mir später in die Hände kam, die Gewißheit brachte. – Und nochmals: weil auch mein Alltag dem Schöpfungsbild, dem Urbild, der Urgestalt, wie Daqué sagt, so wenig entspricht, eben | darum legte ich die Analyse beschämt aus den Händen. Wie anders müßte ich sein, wenn u. weil mir Gott dieses Wesen (als Aufgabe u. Verantwortung) mit ins Dasein gegeben hat!

176 Kurt Ziesel (Hrsg.), Krieg und Dichtung. Soldaten werden Dichter – Dichter werden Soldaten. Ein Volksbuch. Leipzig 1940. 177 Die von dem Schweizer Sammler und Mäzen Martin Bodmer seit 1930 herausgegebene Zweimonatsschrift im Verlag R. Oldenbourg. Der Literaturwissenschaftler und Essayist Fritz Ernst (1889-1958) arbeitete bis 1947 als Gymnasiallehrer an der Töchterschule Zürich, ab 1943 war er Professor für Literaturgeschichte an der ETH Zürich. Titel des Aufsatzes nicht ermittelt!

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Am 17. Dz. hat meine Ordonnanz Stelter ein an Sie gerichtetes Paket auf der Urlaubsfahrt mit nach Deutschland genommen. Hoffentlich kommt es gut in Ihre Hände! Es ist ein Wert von 165 Rm, den Webfehler beurteilen Sie, glaube ich, zu positiv. Er ist ja so, daß er hübsch herausgeschnitten werden muß. Also wird er Sie nicht mehr erinnern, wenn Sie „steinalt“ geworden sind. Den zuerst vorgeschlagenen Mantelstoff habe ich dann doch nicht genommen (in Holland)[,] | sondern habe den andren sehr guten in Brüssel gekauft; er ist vornehmer im Aussehen; hoffentlich gefällt er Ihnen. Und hoffentlich sind Sie mit allen diesen Einkäufen zufrieden! Ich glaube, alle ds. [= diese] Dinge sind nicht billiger als in Deutschland, aber sie sind so gut, wie wir sie jetzt in Dtschl. nicht mehr bekommen. Dieser Gruß wird Sie zur Weihnacht nicht mehr erreichen, aber seien Sie gewiß, daß Ihnen und Ihrem Mann viele meiner Gedanken gehören. Mögen Sie nach all der Mühe der Vorweihnachtszeit ein frohes, glückliches Fest mit Ihren Kindern feiern! Und nach dem Fest schenke Ihnen Gott ein gutes gesegnetes Neujahr! In Eile – doch herzlichst Ihr Arno Pötzsch Nr. 18 [Handschriftl.] Marinepfarrer Pötzsch, Feldpost 30450 28.12.1940 Liebe Frau Neubauer, lieber Herr Neubauer! Nun ist der größte Teil der Weihnachtsarbeit getan. Wenn man erst mitten drin ist, geht es immer, auch wenn einem erst vor dem Riesenberge bange werden wollte. 12 Gottesdienste hatte ich in den Weihnachtstagen selbst zu halten; dazu zahlreiche andere zu organisieren. Das bedeute viel, viel Arbeit, Besprechungen usw. Heute fahre ich auf die Insel Schouwen, um auch dort noch Weihnachtsgottesdienste zu halten. Für Ihr liebes Gedenken danke ich Ihnen herzlich. Auf das Buch von den guten Mächten 178 freue ich mich. Haben Sie Dank für alles! – Ich bekam mancherlei Bücher geschickt, so daß selbst hier draußen mitten im Kriege der Eindruck des „Kleinen Buchladens“ entstand. Nur, daß mir eben keine Zeit blieb, meine Päckchen auszupacken u. mich an ihnen zu freuen. Aber das kommt nun hinterher. Auch Dr. Noltings [?] „Daqué“, 179 der ja auf Ihren Rat zurückgeht, war mir eine gr. Freude. Vor Weihnachten kam ich nicht mehr dazu, das Päckchen Süßigkeit an Sie abzuschicken. Als meine Ordonnanz nach Dtschl. fuhr, konnte ich nur | 178 179

Nicht zu ermitteln. Nicht zu ermitteln.

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eben das gr. Paket noch packen; es ist hoffentlich mit allem Inhalte gut angekommen, u. die Stoffe usw. finden hoffentlich Ihre Billigung. 2.-12. Januar hoffe ich [in] Urlaub zu fahren; ich werde da leider nicht lange Zeit in Chemnitz verbringen. Ich möchte nur schlafen u. spazierengehen. Ihnen, liebe Familie Neubauer, wünsche ich von Herzen ein freundliches, helles, auf jeden Fall aber reich gesegnetes neues Jahr. Möge es uns Frieden u. Wiedersehen bringen! Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Es gibt in Holland viele schönen [sic!] alten Dinge, Zinn- u. Messingsachen usw., zu kaufen. Freilich ist schon sehr vieles aufgekauft worden. Soll ich Ihnen einen alten Zinnteller oder Zinnkrug erstehen? Ich könnte mir denken, daß Sie Freude an so etwas haben. Die Sachen sind allerdings nicht mehr billig, doch sind sie eben gediegene alte Stücke (Preis etwa 25-30 Rm für einen großen Zinnteller oder Krug). Ich habe mir auch ein paar Sachen gekauft u. habe m. Freude an ihnen. Stets Ihr Arno Pötzsch In gr. Eile! Nr. 19 [Handschriftl.] 28.12.40. Liebe Frau Neubauer! Das Gutachten ist doch noch angekommen. Und dann kam auch das vergleichende. Für beides danke ich Ihnen, auch für alle Ihre Briefe. Man müßte über alles das reden können, aber es muß dann schon bis zu einer Begegnung aufgehoben werden. Zum Schreiben fehlt mir einfach die Zeit. Auf jeden Fall – ich danke Ihnen. Ihr Arno Pötzsch. Entschuldigen Sie, bitte, ds. in Eile so flüchtig geschriebene Schrift. Nr. 20 [Grußkarte o.D.] Ihnen und den Ihren mit Herzlichem Gruß! Frau Käthe Neubauer Cuxhaven / Nordsee Schillerstr., Kl. Buchladen

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Nr. 21 [Briefumschlag, abgestempelt 1.10.1941] Feldpost Frau Buchhändlerin Käthe Neubauer Cuxhaven / Nordsee Schillerstr. 31 Kl. Buchladen [Briefstempel: Feldpost. | Marinelazarett | Bergen op Zoom] Mar. Pfr. Pötzsch. z.Zt. Mar. Laz. Bergen op Zoom / Holland Nr. 22 [Handschriftl.] Marinepfarrer Arno Pötzsch Feldpost 30450 27.I.1941 Liebe Frau Neubauer! Erst heute komme ich wieder einmal zu ein zum Schreiben. Doch freute ich mich, daß durch den Aufenthalt meiner Frau in Cux. die Verbindung mit Ihnen hergestellt war. Haben Sie Dank für alle Ihre Sendungen, deren Aufzählung ich mir freilich versagen muß. Erhalten habe ich alles; auch die von den Verlagen gesandten Bücher kamen an. Besonderen Dank noch für das Flattichbuch mit dem langen Titel!180 Dank auch für die Rechnung u. Berechnung! Dank für die durch m. Frau bestellten Sendungen, deren erste (Freundesgabekalender; Riehls „Volkscharakter“181) heute abd. eintrafen. Herzl. Dank auch für den schönen Brief aus dem südl. Kloster, der mich interessierte u. erfreute! Und herzl. Dank für alle Ihre geschriebenen Worte. Daß Ihre Vorfahren Zinngießer waren, las ich mit herzlicher Freude; ich habe mit Hochachtungu. gr. Freude die schönen Arbeiten der Zinngießer betrachtet, etliche erstanden (obgl. ich eigentlich kein Geld dazu habe)| u. Anfang Januar mit nach Chemnitz genommen. Ich habe Ihnen nun, da die echten alt Zinnsachen rar u. teuer werden, einen hübschen Zinnkrug (ca 20 cm hoch) [hier ist eine Zeichnung eingefügt] und einen ziemlich großen schönen Zinnteller (ca 30 cm Durchmesser) gekauft. Ich glaube, daß Sie einmal Freude an dieser schlichten, gediegenen Handwerkskunst haben werden. Der Preis ist allerdings ziemlich hoch; der Krug kostet 26 Gulden, der Teller 24 Gulden = 50 Gulden = 66 Rm. Vielleicht 180

Georg Schwarz, Tage und Stunden aus dem Leben eines leutseligen, gottfröhlichen Menschenfreundes, der Johann Friedrich Flattich hieß, Tübingen 1940. 181 Wilhelm Heinrich Riehl, Deutscher Volkscharakter, Jena 1939. Der Autor (18231897), der ursprünglich Pfarrer werden wollte, war dt. Journalist und Kulturhistoriker.

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bereuen Sie nun doch, auf meinen Vorschlag so blindlings eingegangen zu sein? Aber, und das glaube ich trotz einiger Bedenken doch noch eher, ich weiß: Sie werden über der Freude am Schönen so „leichtsinnig“ sein können wie ich es auch war als ich mir schon im Oktober Krug u. Teller, Leuchter u.a. erstand. Seit Jahrzehnten habe ich mir so etwas gewünscht. Und für Sie werden die Gegenstücke im Blick auf die Ahnen besondere Freude bedeuten. Hoffentlich finde ich Gelegenheit zum Absenden! – Mit nochmals herzl. Dank für alle schönen Weih- | nachtsgaben für die Meinen u. mich u. herzlichen Grüßen an Ihren Mann Ihr Arno Pötzsch Nr. 23 [Handschriftl.] Feldpost 30450 15.II.1941 Liebe Frau Neubauer! Es ist mir so leid, daß ich nicht zum Schreiben komme, aber die Zeit reicht einfach nicht. Die Büchersendungen gehen Dank! Daß Daß Sie gehen nach nach u. u. nach nach ein. ein. Vielen VielenDank! Ihnen „Die gr. Zeit der Niederlande“182 noch bekamen, freut mich sehr. Daß Ihnen der Rabenau so gut gefiel, freut mich; er ist wirklich fein!! Ich nehme gern gern noch 10 Exempl.[,] desgleichen 5 Ex. H.W. Beyer Beyer „H.St. „H.St. Chamberlain Chamberlain und und die innere Erneuerung des X-tums [= Christentums]“, Berlin, Verlag des des Ev. Bundes.183 Alle überzähligen Kalender nehme ich gern (f. Soldatenschulen, Wachstuben, Lazarette …). Der „Dtsche [= Deutsche] Almanach“, der eben kam, interessiert mich sehr. Herzl. Dank! Dank für Ihrer beider Gruß aus Hambg. [= Hamburg]!! Ihrem Mann möchte ich zum Geburtstag | schenken: Joh. Müller, „Von der Wendung des Menschenloses“.184 Bitte, besorgen Sie das Buch, setzen Sie es mir auf Rechnung u. überreichen Sie es Ihrem Mann am Geburtstag in meinem Namen. Diese Auswahl aus Joh. Müllers Schriften gibt eine große Lebenshilfe. Sie werden selbst mit Freude hineinschauen – u. so ist’s auch gemeint. In Eile – doch herzlichst – Stets Ihr Arno Pötzsch 182

Emil Lucka, Die große Zeit der Niederlande, Wien 1936. Die Bücher des österreichischen Schriftstellers Emil Lucka (1877-1941) durften nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 nicht mehr erscheinen, er selbst wurde mit Schreibverbot belegt. 183 Vgl. Anm. 154. 184 Vgl. Anm. 153.

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Nr. 24 [Handschriftl.] 20.II.1941 Liebe Frau Neubauer! Ich schreibe im fahrenden Zug – entschuldigen Sie die Schrift! – Heute mitttg. erhielt ich Ihren lieben Brief, dem das Sedanheftchen der Münch. Lesebogen beilag. 185 Ich las das kl. Druckwerk sofort, fand in den Briefen Roons einige sehr feine Stellen, die ich dann sogleich in meine Grabrede bei einer Soldatenbeerdigung in Rotterdam einflocht. Kein Tag dieser Woche ist ohne Beerdigung; Sie ahnen, was das auch für mich bedeutet … Die Münchener Lesebogen, deren Kenntnis ich Ihren wiederholten Sendungen verdanke, gefallen mir recht gut. Bitte, besorgen Sie mir alle Hefte samt Kassetten. | Ferner hätte ich gern 10 Stück von Wiecherts „Treuen Begleitern“,186 5 Ex. Deutsche Tischgebete (Unser tägl. Brot, Joh. StaudaVerlag, Kassel), 5 Ex. Schomerus „Ethos des Ernstfalls“ (Heliandverlag, Bln.).187 Heute vorm. [= vormittag] habe ich den Zinnkrug an Sie abgesandt, er kommt hoffentlich gut an u. entspricht Ihren Erwartungen. Den gr. Zinnteller kann ich, da er zu schwer ist, nur gelegentlich mitgeben, aber diese Gelegenheit hatte ich noch nicht. Die Leuchter, auch die alten, sind gewöhnlich aus Messing. Auch das Kännchen habe ich noch nicht. Die Zinnsachen müssen dann einmal mit Hand in frischem Sodawasser gescheuert werden; dann läßt man sie jahrelang stehen. Hoffentlich machen Ihnen die Sachen dann Freude; doch ich glaube wohl, daß | es so sein wird. – Daß Sie Ihres Mannes Geburtstag in Lpzg. verbringen werden, las ich mit Überraschung. Wie werden sich die Eltern freuen, daß sie den Sohn an diesem Tag wieder einmal daheim haben! Ich wünsche Ihnen allen ein paar frohe, schöne Tage!

185 Sedan – Briefberichte Bismarcks, Moltkes, Roons, hrsg. von Walter Schmidkunz (Münchner Lesebogen Nr. 24), München o.J. Von der Reihe, die im Sinne der NSPropaganda zur Stärkung der „Widerstands- und Angriffskraft unseres Volkes“ an der Front und in der Heimat dienen sollte, erschienen zwischen 1940 und 1945 fast 200 Titel in einer Auflage von 30 Millionen Stück. Vgl. Helga Margarete Heinrich, Die „Münchner Lesebogen“ und ihr Herausgeber Walter Schmidkunz, in: Literatur in Bayern 25/97, 2009, 2-10. 186 Ernst Wiechert, Von den treuen Begleitern. Gedichtinterpretationen, Hamburg 1938. Wiechert (1887-1950), dt. Schriftsteller und Lehrer, zählt zu den Schriftstellern der inneren Emigration während der NS-Zeit. Er wurde von der Gestapo überwacht und im Juli 1938 in das KZ Buchenwald verschleppt, im August nach Protesten aus dem In- und Ausland jedoch wieder freigelassen. 187 Vgl. Anm. 147.

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Daß Sie mich in Cux. versäumen könnten, ist nicht anzunehmen, doch käme ich gern einmal, wenn auch nur zu kurzem Besuch! Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich. Ihrer beider Gruß aus Hambg. hat mich erfreut. Ich spürte die Freude Ihres Mannes, einmal dem Soldatenalltag entronnen und mit der lieben Frau allein und fern dem üblichen Betrieb zu sein. Ich grüße Sie, liebe Frau Neubauer, Ihr Arno Pötzsch Herzl. Dank für die günstige Rechnung!! Nr. 25 [Handschriftl.] Feldpost 30450 5.3.1941 Liebe Frau Neubauer! Mit großem Staunen empfing ich gestern das von mir sehr geschätzte u. oft verschenkte Büchlein „Rufe in die Zeit“ – mit der feinen Widmung von Will Vesper, des Büchleins Verfasser.188 Soll ich das denn behalten? Soll ich’s Ihnen zurückschicken? Es lag nichts Geschriebenes von Ihnen bei. – Auf jeden Fall freue ich mich mit Ihnen, daß Sie Will Vesper hören u. kennen lernen konnten. Gern lernte auch ich diesen Dichter kennen. Nun, die Hauptsache bleibt ja doch, daß man den Dichter aus seinen Werken kennt! Meine Gedanken suchen Sie mit Ihrem Mann auch heute noch in Lpzg. Mögen Sie Tage beglückender Gemeinsamkeit u. reicher u. froher Eindrücke in Ihres Mannes u. meiner Vaterstadt verleben! Bestellen Sie mir, bitte, aus dem Bärenreiterverlag: Volksliedbüchlein für Klavier, Nr. 1499 (2 Ex. = 1 für mich und 1 für meine kleine liebe Kathrin, die jetzt ihre ersten Klavier- | stunden hinter sich hat. Ich habe viel Freude an meinem großen Mädel u. möchte ihr all die Liebe zum Echten, Gediegenen mitgeben, die ich selbst in mir habe. Schnell u. dringend brauche ich 2 Ex. Jochen Klepper, „Der Vater“; 2 Ex. Alverdes, Das Zwiegesicht 189 (gibt es da nur die schön gebundene, leider so teure Lederausgabe?). Ich grüße Sie sehr herzlich. Daß ich immer so sehr eilig schreiben muß, tut mir selbst leid, doch läßt sich’s nicht ändern. Grüßen Sie Ihren Mann herzl. von mir! 188

Will Vesper, Rufe in die Zeit. Sprüche und Gedichte, München 1937. Paul Alverdes, Das Zwiegesicht. Erzählung, München 1937. Alverdes (1897-1979) war ein dt. Schriftsteller. Das literarische Werk des promovierten Kunsthistorikers ist stark vom Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs beeinflusst. 189

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Ihr Arno Pötzsch Nr. 26 [Handschriftl.] Feldpost 30450 Marinepfarrer Arno Pötzsch 21. März 1941 Liebe Frau Neubauer! Zunächst ein paar Bestellungen, damit mir die Zettel nicht wieder aus der Hand kommen: 1) Schäble, „Evangelium im Durchbruch“, 190 Ev. Verlag Emil Müller, Wuppertal-Barmen, Horst Wesselplatz 8. 2) Ringeling, „Der güldene Schein“191 Wichern-Verlag, Bln.-Spandau, 20 Ex. 3)Kulp, „Feldprediger u. Kriegsleute als Kirchenlieddichter“192 Verlag Gustav Schloeßmann, Leipzig. 4) Schade, „Biblische Wörter – neu gehört.“193 Schloeßmann –Lpzg. 5) 25 Ex.: „Tod wo ist dein Stachel“194 Matthias Claudiusheft (Trostbüchlein für Hinterbliebene) Joh. Herrmann-Verlag Zwickau, Sachsen. 6) Ehm Welk, Die Heiden von Kummerow.195 Verlag? 7) „Deutsche Heimat“, Klavierausgabe, gebunden,196 B. Schott’s Söhne, Mainz u. Leipzig Für alle Ihre Sendungen (die schönen Kalender, Zeitschriften u. bestellten Bücher) danke ich Ihnen herzlichst. Alle diese Sendungen bedeuten ja nicht nur für mich selbst immer wieder Bereicherung u. Anregung, sondern 190

Walter Schäble, Evangelium im Durchbruch. Geist und Gestalt, Wuppertal-Barmen o.J. [ca. 1940]. 191 Gerhard Ringeling, Der güldene Schein, Berlin 1940. 192 Johannes Kulp, Feldprediger und Kriegsleute als Kirchenlieddichter (Welt des Gesangbuchs, Heft 23), Leipzig 1941. 193 Gerhard Schade, Biblische Wörter – neu gehört, Leipzig 1941; 7. stark erw. Aufl. Bielefeld 1956. 194 Matthias Claudius, Tod, wo ist dein Stachel? Ein Trostbüchlein. Zum 200. Geburtstag des Dichters, Zwickau o.J. 195 Ehm Welk, Die Heiden von Kummerow, Berlin 1937. 196 L. Andersen, Deutsche Heimat. Die schönsten Volks-, Wander- und Studentenlieder, Mainz u. Leipzig o.J.

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auch Freude u. Hilfe für andre, denen ich die Sachen weitergebe. Und das Buch ist eben ein wirklicher Helfer! Die Neuwerkkalender (Joh. Stauda-Kassel), von denen ich einen größeren Restbestand bestellt hatte, sind nicht eingetroffen. Wahrscheinlich war die ganze Auflage vergriffen. Vor einigen Tagen habe ich in einem Paket an meine Frau, das ich durch Gelegenheit mit nach Deutschland geben konnte, den großen schönen Zinnteller u. den alten Messingleuchter mitgeschickt. Meine Frau wird Ihnen die beiden Dinge nach Cuxhaven schicken, u. ich bin gewiß, daß Sie Freude an ihnen haben werden. Eben bin ich lange aufgehalten worden | u. muß nun schnell schließen. Schade, ich hätte gern wenigstens ein klein wenig länger mit Ihnen geplaudert. Mit herzlichen Grüßen, auch an Ihren Mann, Ihr Arno Pötzsch Nr. 27 [Handschriftl.] Feldpost 30450 17.4.1941 Liebe Frau Neubauer! Tag für Tag vergeht u. ich komme nicht zum Schreiben. Sie ahnen nicht die Fülle der tägl. Arbeit. Ich bin so müde. – Nehmen Sie mit dem Gruß fürlieb. Nur danken möchte ich Ihnen endlich für Ihren u. Ihres Mannes lieben Brief, der mich so erfreute! Dann kamen verschiedene Grüße von Ihnen u. zu Ostern die „Katri“. 197 Haben Sie Dank, tausend Dank für alles! Obgleich ich auch bei den Autofahrten unterwegs arbeite, vorbereite, durchdenke usw., habe ich mir doch die Katri mitgenommen u. lese immer ein Stück – u. denke an meine Kathrin daheim. Und dann kommen mir einmal ein paar heimliche Tränen – weil das Leben so sehr dunkel u. rätselhaft ist. Es ist sehr dunkel. 2 Hinrichtungen aus den letzten Wochen lasten so sehr schwer auf mir. Sie ahnen ja wohl die Schwere gerade dieses Dienstes. – Und immer wieder Särge, Gräber – fast Tag für Tag… – Und doch ist es gut, daß ich den Krieg so, von der dunklen Seite erlebe; so ge197

Auni Nuoliwaara, Kleine standhafte Katri, Leipzig 1940. Das Buch enthält drei Romane für Erwachsene, die vom Lebensweg des armen Mädchens Katri erzählen, das sich als Kuhhirtin und Magd getrennt von ihrer Familie durchschlagen muss. Nach einigen Schicksalsschlägen findet Katri endlich als Frau eines reichen Bauern mit eigenen Kindern Erfüllung. In der deutschen Fassung sind die Bücher zu einem Roman zusammengefasst, seine finnische Autorin (1883-1972) ist heute selbst in ihrer Heimat fast unbekannt. In Japan lieferte der Roman den Stoff für eine Zeichentrick-Serie für Kinder (Katoli, das Wiesenmädchen, 1984).

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hört das zu meinem Leben. Freilich, nun habe ich schier genug erfahren u. ich würde gern die letzten Jahrzehnte – oder Jahre? – in Stille u. Einsamkeit verbringen, in einer ganz kleinen Gemeinde. Aber – wir Menschen bestimmen das ja nicht. – Ihr Brief „An die kleine Kathrin Pötzsch“ ist gut bei mir angekommen; denn er trug die Feldpostnummer 30450; | die 12 Pfennig [?] Briefmarken waren allerdings unnötig. Nun, ich schicke das Briefchen gern weiter ins Kinderkrankenhaus in Chemnitz. Daß Sie Kathrin ein Rosseggerbuch 198 schenken, ist sehr lieb von Ihnen. Haben Sie Dank!! Daß die Zinngefäße ankamen u. Ihnen gefallen, freut mich mit. Entschuldigen Sie, bitte, ds. [= dieses] Geschmier u. die Eile, mit der ich Ihnen schreibe. Ich bin zu müde. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir. Ich danke Ihnen sehr für alles! Ihr Arno Pötzsch Nr. 28 [Handschriftl.] 12. Mai 1941 30450 Liebe Frau Neubauer! Haben Sie von Herzen Dank für alle Ihre Sendungen, Briefe u. Bücher! Ihre Briefe, den sehr besorgten u. alle die mit Teilnahme u. Hilfsbereitschaft erfüllten Briefe, möchte ich so gern ausführlich beantworten, aber Zeit u. Kraft reichen einfach nicht aus. Nun greife ich, todmüde, doch noch zur Feder, nur um Sie nicht wieder Tage, vielleicht Wochen auf Antwort warten zu lassen. Nur darum muß ich bitten: nehmen Sie mit den kümmerlichen Zeilen fürlieb. Ich will ja nur danken, daß Sie mittragend meiner gedenken. An den neuen Büchern habe ich wieder mancherlei Gewinn u. Freude! Den „Seeckt“ von Rabenau199 heben Sie mir, bitte, auf, da er, wie Sie schrieben[,] zu schwer ist. Senden Sie mir, bitte: Otto Dibelius: 1) Bericht von Jesus v. Nazareth 2) Die Jünger 3) Bericht über die Kirche [alle Titel:] Furche-Verlag200

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Gemeint ist wohl ein Buch von Peter Rosegger (1843-1918), der eigentlich Roßegger hieß. 199 Friedrich von Rabenau, Hans von Seeckt. Aus seinem Leben. Unter Verwendung des schriftlichen Nachlasses, Bd.1: 1866-1917, Leipzig 1938; Bd.2: 1918-1936, Leipzig 1940. Hans von Seeckt war Generaloberst und 1920-1926 Chef der Heeresleitung der Reichswehr.

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Für heute mit herzl. Dank u. Gruß! Ihr Arno Pötzsch Ich hoffe, doch wieder einmal zu langsamem Schreiben zu kommen. [An den Rand geschrieben:] Dank für den recht interessanten Brief aus Prag! – Am Muttertag denke ich auch Ihrer in herzlicher Verbundenheit! Nr. 29 [Handschriftl.] 23. Mai 1941 Liebe Frau Neubauer! Bitte, senden Sie mir 1) 10 Ex. Eduard Spranger, „Weltfrömmigkeit“, Verlag L. Klotz-Leipzig201 (Sehr gut! Bitte, lesen, auch wenn es Mühe macht!) 2) 1 Ex. Riethmüller, „Heute, morgen u. am dritten Tag“, Burckhardthaus-Verlag, Berlin202 3) Fritz Müller-Partenkirchen, „Die Hochzeit in Oberammergau“ Verl. Hanns Herziger – Dresden/Lpzg.203 4) Schreiner, Ernst Moritz Arndt, ein deutsches Gewissen, Wichern-Verlag, Bln.-Dahlem.204 Für heute nur dies! Mitten in der Predigtvorbereitung grüße ich Sie herzlich! Ihr Arno Pötzsch 200 Otto Dibelius, Bericht von Jesus aus Nazareth (Die Bücher des neuen Lebens, 1), Berlin 1938; Die Jünger. Nachfolge damals und heute (Die Bücher des neuen Lebens, 7), Berlin 1939; Bericht von der Kirche (Die Bücher des neuen Lebens, 11), Berlin 1941. Dibelius (1880-1967) war seit 1925 Generalsuperintendent der Kurmark und schloss sich 1934 der Bekennenden Kirche an. 1945-1966 war er Bischof der Ev. Kirche in BerlinBrandenburg mit Sitz in Ost-Berlin. 201 Eduard Spranger, Weltfrömmigkeit. Ein Vortrag, Leipzig 1941. Der Verfasser (1882-1963) war dt. Philosoph, Pädagoge und Psychologe. Er stand der nationalsozialistischen Bewegung zunächst positiv gegenüber, wandelte sich dann aber unter dem Eindruck der NS-Diktatur zum überzeugten Demokraten. 202 Otto Riethmüller, Heut und morgen und am dritten Tag. Stätten der Christustaten, Berlin 1937. Riethmüller (1889-1938) war ev. Theologe, seit 1928 Leiter des ev. Reichsverbands weiblicher Jugend im Burckhardthaus Berlin und Mitglied der Bekennenden Kirche. 203 Fritz Müller-Partenkirchen, Die Hochzeit in Oberammergau. Die Vorgeschichte der Passionsspiele (zuerst 1937), Dresden-Leipzig 1941. 204 Helmuth Schreiner, Ernst Moritz Arndt. Ein deutsches Gewissen, Berlin 1935. Schreiner (1893-1962) war dt. ev. Theologe. Er lehrte als Prof. für Praktische Theologie 1931-1937 in Rostock und 1946-1957 in Münster/Westfalen.

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Nr. 30 [Handschriftl.] 26. Mai 1941 Liebe Frau Neubauer! Fast täglich kommt ein Gruß von Ihnen; manchmal sind es 2, 3, 4 Sendungen auf einmal. Haben Sie Dank für alles! Die „Illustrierten“ gehen schnell in andre Hände über. Die kleinen Büchlein sind neben den bestellten Büchern Helfer auf dem eigenen Wege, kommen so aber auch anderen zu gute. Beim Pfarrer geht ja alles durch das eigene Herz hindurch zu dem andren. – Ich habe jetzt eine Entlastung dadurch erfahren, daß das umfangreiche Amsterdam endlich einen eigenen Marinepfarrer erhalten hat. Niemand ahnt, wie erschöpft ich bin; nur die Arbeit, die ja doch getan werden mußte, hat mich weiter getrieben. Nun hoffe ich auch noch einen Hilfspfarrer für den Süden zu bekommen – u. dann bleibt für mich immer noch ein reichlich großes Gebiet, das mich voll in Anspruch nehmen wird. – Gestern habe ich in einer gr. Gemeinde eine Gorch FockPredigt gehalten, die viel Freude gemacht hat. D.h. ich erzählte u. zitierte im Zusammenhang einer Skagerrakgedächtnispredigt viel von Gorch | Fock. Dann wurde ich nach „Seefahrt ist not“ u. „Sterne überm Meer“ gefragt; man wollte, um Gorch Fock kennen zu lernen, die Bücher von mir leihen – aber ich habe sie ja nicht (u. mein „Seefahrt ist not“ aus dem Weltkrieg hielte das Verleihen jetzt nicht mehr durch[ )]. Sollten Sie irgendwo die beiden Bücher noch auftreiben können, dann senden Sie, bitte, beide zu mir heraus. – Daß ich am vorigen Sonntag 24 Stunden in meinem lieben sächs. Dorf war, schrieb ich, glaube ich, noch nicht. Eine Häufung von Todesfällen in einer Familie hatte die Leute zu meiner Frau getrieben, ob ich etwa zur Beerdigung kommen könne. Ich hatte den Toten gut gekannt. Und es gelang auch, den Morgen Urlaub zu erhalten. Einen Tag Hinfahrt, 1 Tag im Dorf u. bei den Meinen, 1 Tag Rückfahrt! Sonnabd. nachm. kam ich an; m. Frau u. Christiane u. Sabine holten mich am Bhf. ab. Dann gingen wir 2 Std. bis zum Dorf u. zur kleinen Wohnung. Es war die einzige Zeit zu einem persönl. Gespräch. Abds. Besprechung mit Hinterbliebenen usw. Sonn- | tag vorm. Beisetzungsfeier, dann Gemeindegottesdienst (die ganze Gemeinde war gekommen!), dann Abendmahlsfeier, dann Kindergottesdienst. Nebenher immer noch Gespräche mit einzelnen Menschen des Dorfes. Dann Mittagessen u. Kaffeetrinken – u. die Zeit war um. Wir fuhren nach Chemnitz, besuchten draußen in der Siedlung meine Schwester. Dort sah ich meine Älteste, Kathrin, noch recht angegriffen von der überstandenen Krankheit, u. die Jüngste, Renate, die jetzt mit Scharlach krank liegt, konnte ich wenigstens von weitem in ihrem Bettchen sehen. Dann Rückkehr in die Stadt, im Hotel übernachtet. Montag früh mit dem 1. Zug über Lpzg. nach Hol-

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land zurückgefahren. Bis Lpzg. fuhren m. Frau, Christiane u. Sabine mit. Und der Abschied fiel uns allen schwer. Erholung konnte diese Reise nicht bedeuten, im Gegenteil: eine große Anstrengung, u. doch freute ich mich von Herzen, die Meinen u. auch mein altes Dorf einmal wiederzusehen. An längeren Urlaub, bei dem ich so gern ein paar Tage auch in Cuxhaven verbringen würde, ist | leider noch immer nicht zu denken. Ich weiß, daß ich von Dr. Nolting zur Taufe erwartet werde, und ich möchte auch gern dieses Kind taufen, aber bis jetzt bin ich noch nicht einmal dazu gekommen, Dr. Nolting für s. Weihnachtsgruß zu danken u. ihm nach des Kindleins Geburt m. Glückwünsche auszusprechen. Das alles ist eben nur möglich u. verständlich, wenn man fortgesetzt bis an die Grenzen der Kraft in Anspruch genommen ist. – Und wenn ich nicht hätte Bücher bestellen wollen, wäre ich gewiß jetzt nicht dazu gekommen, Ihnen zu schreiben. Grüßen Sie, bitte, Ihren Mann recht herzlich. Und grüßen Sie, bitte, auch Herrn Dr. Nolting herzlich von mir; er sei nicht vergessen. Ihr Arno Pötzsch Bitte, 1) Dennert, „Befreier Tod“, Ungelenk, Dresden-A 27205 2) Rubatscher, „Das lutherische Joggele“[,] Salzer, Heilbronn, (1935!, sehr gut besprochen, es sei den umfangreicheren Romanen der Handel-Mazetti206 vorzuziehen).207 Nr. 31 [Handschriftl.] 4.6.41 Liebe Frau Neubauer! Ich bitte um: Jacques Beers,208 Neue geistliche Lieder. 205 Eberhard Dennert, Befreier Tod!, Dresden o.J. [1941]. Der Autor (1861-1942) war zunächst als Lehrer und Heimerzieher tätig, seit 1920 als freier Schriftsteller, Naturforscher und Philosoph. 206 Die österreichische Schriftstellerin Enrica von Handel-Mazetti (1871-1955) schrieb vor allem historische Romane und Novellen. 207 Maria Veronika Rubatscher, Das lutherische Joggele. Roman aus dem Marterbuch der deutschen Seele, Heilbronn 1935. Rubatscher (1900-1987) schrieb katholisch geprägte völkisch-nationale Heimatliteratur über Mythos und Brauchtum der Tiroler Bauernwelt. 208 Der niederländische Komponist Jacques Beers (1902-1947) wurde schon mit 12 Jahren Organist an der kath. Kirche in Zwolle. Nach Studien am Amsterdamer Konservatorium (Klavier und Musikgeschichte) versuchte er, in Paris Fuß zu fassen, wo er 19271940 als Organist an der deutschen ev. Gemeinde sowie als Repetitor und Begleiter von

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Bärenreiter Verlag, Kassel-Wilh. Ausgabe 1283. Herzlichen Dank für alles so freundliche Gedenken! In Eile – Ihr Arno Pötzsch Nr. 32 [Postkarte] 5.6.1941 Liebe Frau Neubauer! Eben überraschte mich Ihr Gorch Fock „Seefahrt ist not“. 209 Wie schön, daß ich dies Buch nun doch noch habe! Und wie lieb von Ihnen beiden, daß Sie es mir zum Skagerraktag210 zugedacht haben! Nun kann ich es doch endlich denen ausleihen, die es nicht kennen. Heute abd. halte ich einen Vortrag über Gorch Fock u. kann nun gleich etwas aus s. Buche vorlesen! Nochmals herzlichsten Dank! Mancherlei Geschicktes ging in den letzten Tagen ein. Herzl. Dank für die Besorgung! – Etwas *) Kaffee habe ich auch; es wird die Enttäuschung wieder wett machen. Mit herzlichem Dank für alles u. herzl. Grüßen, Ihr Arno Pötzsch *) kam nur noch nicht zum Absenden, immer keine Zeit! Bitte, bestellen: Leitenberger, „Der Lehrer“ Sozietätsbuchdruckerei u. Verlag, Frankfurt/Main211 Solisten arbeitete. Daneben studierte er Komposition bei Jean Huré und Nadia Boulanger. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs musste er 1940 nach Amsterdam zurückkehren. Für die deutschen ev. Gemeinden in den Niederlanden vertonte er Lieder von Arno Pötzsch und schrieb mehrstimmige Sätze dazu (vgl. Singende Kirche, hrsg. von Paul Kaetzke, Den Haag 1941/42). 209 Gorch Fock, Seefahrt ist not!, Hamburg 1913, ist ein viel gelesener Roman über den Sohn eines Hochseefischers. Der Autor (1880-1916) kam bei der Seeschlacht am Skagerrak ums Leben. 210 Die Schlacht zwischen der deutschen und der britischen Kriegsflotte fand am 31. Mai 1916 statt. 211 Georg Leitenberger, Der Lehrer, Frankfurt/Main 1937. Hinter dem Pseudonym verbarg sich Gerhard Storz (1898-1983), dt. Pädagoge, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, CDU-Politiker und von 1958 bis 1964 Kultusminister des Landes Baden-

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(soll sehr gut sein!) Nr. 33 [Handschriftl.] 13. Juni 1941 Liebe Frau Neubauer! Eben habe ich ein Päckchen für Sie gepackt: 1 Pfd. Kaffee u. 100 gr. Tee; beides ist schon längst nicht mehr im freien Handel zu haben. – Gestern habe ich, zusammen mit einem Offizier, in einer andren Stadt bei einem Antiquitätshändler gekramt u. einiges sehr Schöne erstanden u. zurücklegen lassen. Für Sie ein Löffelbrett mit 12 alten Zinnlöffeln [Zeichnung im Brief eingefügt]. Man sieht das oft in altholländischen Häusern. Und ich könnte mir wohl denken, daß Sie sich daran freuen würden. Mir gefällt es jedenfalls sehr gut. Das für Sie bestimmte Stück sieht besonders gut aus. Preis 20 Gulden (10 Gulden = 13,30 Rm, also 26,60 Rm). – Ferner gab es da 2 Hellebarden, d.h. die Eisenteile dieser alten Waffen. Ich habe die eine für mich gekauft, bin nun freilich nicht sicher, ob Sie auch daran Gefallen haben würden u. Freude an einem solchen Stück hätten. Das Ihnen zugedachte Stück sieht sehr gut aus; es trägt als Zierrat eine Sonne. Der Preis beträgt freilich 100 Gulden. Aber es ist auch ein gediegenes mittelalterliches Stück. Aber meine ist etwas kleiner u. nicht so schön wie das Ihre. Ich habe aber zur Waffe einen Sturmhut, also einen mittelalterlichen Vorläufer des heutigen Stahlhelms, gekauft u. überhaupt schon viel zu viel gekauft; mein Geld wandert, so weit es nicht in Bücher umgesetzt wird, zu den Antiquitätenhändlern. Und doch habe ich eine riesige Freude an den schönen Dingen, von denen man nur hoffen kann, daß | man sie durch die Kriegszeit hinüber zu retten vermag in friedliche Zeiten. – Die wirklich wertvollen Sachen, auch in altem Zinn, sind recht teuer geworden. Unter 75-100 Gulden bekommt man keinen wirklich alten u. gediegenen Krug mehr. – Wenn Sie bestimmte Wünsche haben, schreiben Sie mir, bitte; ich will dann versuchen, das von Ihnen Gesuchte zu bekommen. Ich bin gestern seit langer Zeit zum ersten Male wieder auf der Suche gewesen, weil der Offizier, der mit mir unterwegs war, meiner Hilfe bedurfte. Teilen Sie mir doch, bitte, einmal mit, wie hoch meine Bücherschuld z.Zt. bei Ihnen ist. Für heute schließe ich – zuerst mit herzlichem Dank für alle Ihre Sendungen, für die Besorgungen u. alle die feinsinnigen Büchergrüße, die zwischendurch angekommen sind; u. mit herzlichen Grüßen, die die Ihren erwidern. Württemberg. Der Pfarrerssohn Storz war überzeugter Humanist und gilt als heimlicher Gegner des Nationalsozialismus.

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Leider ist auch dieser Brief, wie die abscheuliche Schrift verrät, in fliegender Eile geschrieben. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir. Ihnen u. den Ihren, Mann u. „Söhnen“, geht es hoffentlich gut! Gott behüte Sie alle! Ihr Arno Pötzsch Nr. 34 [Handschriftl.] Feldpost 30450 9. Juli 1941 Liebe Frau Neubauer! Nun bin ich schon lange wieder draußen an meinem Standort. Nach gut verlaufener Fahrt kam ich Mitternacht an meinem Ziel an. Die alte Arbeit nimmt mich wieder ganz in Anspruch. Die Cuxhavenfahrt war ein Traum, in dem Freude und Trauer seltsam verschlungen sind … Haben Sie Dank für Ihr Kommen und die Freundlichkeit des Abschiedsmahles, das Sie mir bereitet hatten und das durch meine Schuld etwas hastig verlief. Auch für das Geleit zum Bhf. danke ich Ihnen sehr herzlich. Daß ich die neuen Räume, in denen Sie nun leben, kennen gelernt habe, ist mir eine besondere Freude. Der Brief, der vom Umzug berichtet, traf gestern hier ein; herzl. Dank dafür! In Eile (ich werde gerade zu einer Dienstfahrt weggeholt) bitte ich um Besorgung von 1) Plachte, Die Wiederentdeckung der Kirche, Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 212 2) Gerh. Schade, Biblische Wörter neu gehört, 2. (letzte) Auflage, Schloeßmann, Bln. u. Lpzg. 213 3) Dannenmann, Gegen die Unentschiedenen, Ostwerkverlag, Bln. C 2. 214 4) Fritz Gericke, Der Glaube des Soldaten, (flach!) Truckenmüller, Stuttgart-Bln.215 212 Kurt Plachte, Die Wiederentdeckung der Kirche. Ihr Geheimnis und ihr Wesen dargestellt im Weltbild der Gegenwart, Göttingen 1940. Plachte (1895 -1964) promovierte 1922 bei Cassirer zum Dr. phil. über Fichtes Religionsphilosophie, war nach dem Theologiestudium 1933-1936 Pfarrer in Hamburg-Veddel und schloss sich 1934 der Bekennenden Kirche an. Nach dem Krieg war er Pfarrer in Schwerin und Güstrow. Wie aus seinen Veröffentlichungen zu ersehen ist, stand er der Michaelsbruderschaft nahe. 213 Vgl. Anm. 193. 214 Arnold Dannenmann (1907-1993) war ev. Theologe und Gründer des Christlichen Jugenddorfwerkes Deutschland (CJD). Gemeint ist sein Buch: Gegen die Unentschiedenen. Biblische Wahrheiten für deutsche Jungen, Berlin 1938. 215 Fritz Gericke, Der Glaube des Soldaten, Berlin 1940. Gericke (1897-1958) gehörte seit 1933 der neuheidnischen Deutschen Glaubensbewegung (DG) an und war bis 1935 einer ihrer führenden Vertreter.

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5) Ziesel, Krieg u. Dichtung, Adolf Luser-Verlag, Wien u. Leipzig.216 6) Alverdes, Pfeiferstube (5 Ex.) 217 7) Von Leixner, Letzte Seele (10 Ex.)218 In Eile – herzlichst Ihr Arno Pötzsch Grüßen Sie Ihren Mann! Nr. 35 [Masch.] Marinepfarrer Arno Pötzsch Feldpost 30 450 im August 1941 Liebe Freunde! Der Krieg hat uns durch die erhöhten und andersartigen Aufgaben, die er uns stellt, genötigt, Verzichte in persönlichen Dingen zu bringen. Dazu gehört auch der Briefwechsel mit dem Kreis der Freunde. Mein Briefwechsel ruht bis auf den umfangreichen mit den Angehörigen der von mir beerdigten Soldaten und den schmalen mit der eigenen Familie fast völlig. Dennoch ist keiner der Freunde vergessen. Als sichtbares Zeichen meines Gedenkens und meines Lebens mögen Euch heute die beigefügten Verse, denen der Amsterdamer Organist Jacques Beers die Weisen und Sätze gegeben hat, grüßen. Mitten im Kriege haben wir hier draußen etwas von der Wirklichkeit der Kirche erfahren, wovon das beiliegende Heft ein schlichtes Zeugnis ablegen will. Den Deutschen Evangelischen Gemeinden in den Niederlanden zugedacht, mag es darüber hinaus auch in der Heimat der Gemeinde dienen. Wer von Euch diese Liedblätter, die Euch zunächst als Freundesgabe persönlich grüßen, in andere Hände weitergeben oder in Singkreis und Gemeinde verwenden möchte, kann weitere Stücke gegen einen frei gewählten Betrag, der meiner Soldatenseelsorge zugute kommen soll, durch mich bekommen.

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Vgl. Anm. 176. Paul Alverdes, Die Pfeiferstube, Frankfurt am Main 1929. Hauptfiguren der Erzählung, die autobiographische Züge trägt, sind vier Soldaten im Lazarett, drei Deutsche und ein Engländer. 218 Otto von Leixner, Die letzte Seele. Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert, Leipzig 1907, zahlreiche Nachdrucke München 1921ff. Der Autor (1847-1907), Otto Leixner von Grünberg, war österreichisch-deutscher Schriftsteller, Literaturkritiker und Historiker. 217

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Über alle Trennung hinweg bleiben wir verbunden durch die Gemeinsamkeit des Weges und des Zieles. Gott sei mit uns auf allen unsern Wegen! Euer Arno Pötzsch Nr. 36 [Handschriftl.] Wiederau, 23. August 1941 über Mittweida / Sachsen Liebe Frau Neubauer! Wie gern hätte ich Ihnen, wenn ich schon draußen nicht dazu kam, aus meinem Urlaub geschrieben, aber in meiner Situation hat man weder Initiative, noch Kraft. Seit dem 2. Urlaubstage liege ich krank. Den Wünschen u. Bitten, am Sonntag in Dorf u. Nachbardorf die Gottesdienste, daneben noch eine Taufe, u. hier auch den (sehr erfreulichen) Kindergottesdienst zu halten, hatte ich gerade endgültig zugesagt, da überfiel mich die Krankheit. Am Sonntag morgen war ich mehr tot als lebendig. Aber nun mußte durchgehalten werden, wie wir es als Soldaten doch für uns in Anspruch nehmen. [Entschuldigen Sie, bitte: ich schlief eben ein.] Und es ging! Der Gottesdienst in der eigenen Gemeinde vor allem war wieder ein schönes Erlebnis auch für mich: sie waren eben wieder gekommen, soweit sie überhpt. [= überhaupt] kommen konnten, die ganze liebe Gemeinde. – Um vor den Kindern wenigstens nicht buchstäblich umzufallen, suchte ich im Kindergottesdienst ein schnelles Ende u. setzte mich in der Sakristei hin. Und dann legte ich mich ins Bett (wir Eltern schlafen in dem gleichen Raum, in dem wir vor 6 Jhr. auch schliefen[ )]; damals war dies noch Pfarrhaus, ich habe das Ganze ausbauen lassen, so daß ein Flügel des Jhrhdte. [= Jahrhunderte] alten Bauwerks Kantorwohnung werden konnte. Mein Freund, der Kantor, ist irgendwo Soldat, u. s. Frau hält sich bei s. Eltern auf. Die junge Kantorin stellte uns darum die Wohnung, vor allem das Schlafzimmer, zur Verfügung. Da liege ich nun. Der Arzt, den meine Frau gleich kommen ließ, stellte fest: schwere Grippe, starke Mandelentzündung, hohes Fieber. Praktisch hieß das, von Tag zu Tag deutlicher spürbar: Quälende Schmerzen bei Tag | u. Nacht, darum kein Besuch (trotz der Mittel). Essen überhpt. nicht möglich. Trinken: mühsame Schlucke hin u. wieder. Reden: wer sehr scharf aufpaßt, erkennt manchmal noch etwas aus den gequält hervorgebrachten Lauten. Und mit diesem scheuslichen [sic!] Halsübel bin ich fast 15 Stn. [= Stunden] m. Lebens geplagt worden, oft bis fast zur Verzweiflung. Dann blieb ich 10 Stn. verschont – u. nun ist es wieder da! Ach, ich würde 10 Stn. m. Lebens geben, wenn ich verschont bleiben könnte. – Gestern hat der Arzt einen gr. Abszeß, der sich im Rachen

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gebildet hatte, in einem schmerzhaften Eingriff geöffnet. Voller Erfolg, nur ohne … Wirkung, da sich auf der r. [= rechten] Seite ein gleicher Abszeß gebildet hat, der nur in der Entwicklung noch nicht weit ist. Also müssen wir weiter warten. Einige Tage werden wohl noch vergehen, bis ich wieder aufstehen kann. Und dann wird sich’s zeigen, ob auch noch das Restchen von Kraft, das ich mit in den Urlaub brachte u. hier ergänzen u. erneuern wollte, aufgezehrt ist. Ich sehe aus wie ein von dem Grabe entstiegenes Gespenst. Meine Frau pflegt mich mit Liebe u. Geduld; viel andres ist ja nicht zu tun. Die Kinder dürfen einmal von weitem den Vati begrüßen (der Arzt hatte gleich zu Anfang Diphterieverdacht ausgesprochen, mir eine Serumspritze in die Brust gegeben, im Hals einen Abstrich gemacht, dss. [= dessen] Resultat aber noch nicht vorliegt. Morgen wird die Antw. [= Antwort] wohl von Dresden kommen. Ich bin ungeheuer müde, würde gern wochenlang schlafen – aber auch den Gottesschlaf [?] des Todes, für immer. Zum Schönsten, auf das ich mich mit Spannung freue, gehört ein Glas klares, kaltes Wasser. Es steht schon neben mir | u. wird immer erneuert; ich setze es zuweilen an die Lippen – aber ich kann es nicht trinken. Ja, welche Schönheit u. welche Wohltat – ein Glas Wasser! Solche Erfahrungen sind immer heilsam. Ich lese [vor Müdigkeit in den langen Nächten immer wieder einschlafend, vor Schmerzen immer sogleich wieder aufwachend] mancherlei. Vor allem las ich Kolbenheyer AMOR DEI (= Gottes Liebe), 219 der mir kürzlich in Amsterdam als einziges Ex. in die Hände fiel. Ich nahm an, daß das Buch in Dtschl. nicht zu hbn. [= haben] sein würde, ist doch dsr. [= dieser] Roman so unzeitgemäß wie möglich, seine Hptperson [= Hauptperson] der Philosoph Baruch de Spinoza – ein Jude. Mit Kenntnis holländischer Geschichte u. Kultur u. mit Amsterdamer Verhältnissen, war das Buch äußerst interessant für mich. Nachdem ich vieles aus der recht guten, aber auch nicht anspruchsvollen Bibliothek meines Lehrerfreundes gelesen habe, bin ich jetzt (Sie werden verständnisvoll lächeln!) bei den „humoristischen Plaudereien“ des Hbger. [= Hamburger] Lehrers Otto Ernst 220 (Verlag Stadtmann – Lpzg. [ )] Ach, u.

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Erwin Guido Kolbenheyer, Amor Dei. Spinoza-Roman, München 1908. Kolbenheyer (1878-1962) war ein österreichisch-deutscher Romanautor, Dramatiker und Lyriker. Er vertrat eine völkische Ideologie und unterstützte 1933-1944 den Nationalsozialismus. 220 Otto Ernst (1862-1926), eigentlich Otto Ernst Schmidt, stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Er war zunächst Volksschullehrer in Hamburg, seit 1901 freier Schriftstel-

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dr. [= dieser] Humor, viel guter Humor, tut mir sehr gut in m. Pein. Ich würde mir sogar diese Bände (vorhanden ist hier nur II) später einmal anschaffen. – In Holland liegt noch viel Ungelesenes, gerade auch größere Sachen. Sie haben mir in letzter Zeit viel geschickt, für das ich noch nicht gedankt habe! Ich hol’s von Herzen nach. Beisp.: Oft schon war mir eine Erzählung aus dem Schullesebuch der Kindertage durch den Sinn gegangen: „Kannitverstan“.221 Verfasser war mir entfallen. Nun in Holland hätte ich ds. kl. Geschichte so gern noch einmal wieder gelesen. Da kommt eins Ihrer Bücher; erstes Durchblättern, erster | Blick: „Kannitverstan“ (Joh. Peter Hebel [ )]. Haben Sie Dank für all die vielen schönen Gaben! Ich hätte gern längst geantwortet, aber es blieb keine Zeit. In den Wochen ganz allein im gr. Abschnitt, 2 Amtsbrüder waren zu gleicher Zeit auf Urlaub u. wurden durch mich vertreten. Dazu noch – auch Steller, meine Ordonnanz, auf Urlaub! Ich hatte ihn fahren lassen, weil er außer in der für mich freilich ungünstigsten Zeit keinen Urlaub mehr bekommen hätte. Da trat ich vor m. Ordonnanz zurück. Der gute Junge sollte doch selbstverständlich nach Hause fahren. Für mich aber waren die letzten Monate u. Wochen eben wirklich u. buchstäblich kaum noch tragbar. Heute sende ich Ihnen in 2 Ex. ein Büchlein mit, das ich in den ersten 200 Druckstücken erst unmittelbar vor m. Abreise nach Dtschl. erhielt, den beigefügten Brief gebe ich Ihnen nur zur Kenntnis mit; mit dsm. [= diesem] kurzen allg. Brief222 müssen sich viele abfinden. Möge Ihnen u. Ihrem Mann das schlichte Büchlein ein wenig Freude bereiten, so wie denen, die um sein Entstehen wußten, u. denen, die bisher es sahen. Es sei Ihnen beiden persönlicher Gruß! Ihr Arno Pötzsch Recht herzl. Gruß von m. Frau von Anni, die zur Entlastg. [= Entlastung] m. Frau während des Urlaubs hier ist, von Kathrin u. Christiane, die gerade an der Tür stehen.

ler und schrieb u.a. humoristische Erzählungen. In seiner autobiographischen „Asmus Semper“-Trilogie stellte er das Leben in Ottensen vor der Jahrhundertwende dar. 221 Eine Kalendergeschichte des deutschen Dichters Johann Peter Hebel, die erstmals 1808 im Rheinländischen Hausfreund erschien. 222 Siehe Brief Nr. 37.

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Nr. 37 [Handschriftl.] Wiederau, 29.8.1941 über Mittweida / Sachsen Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für alle Ihre Büchersendungen, die mir auf dem Krankenlager gute Dienste geleistet haben! – Heute müßte ich nach Holl. Zurückgefahren sein, aber ich bin noch nicht reisefähig, wie der Arzt mir bescheinigt hat. Nun warte ich auf den Bescheid meines Kommandeurs u. hoffe auf 1 Woche Nachurlaub. Ich bin ganz ungeheuerlich entkräftet, buchstäblich ein Gespenst. Eben habe ich am Arm meiner Frau meinen ersten kurzen Spaziergang gemacht. Es ist furchtbar mit mir. – Nun packe ich Ihre Löffel ein; der Satz alter Zinnlöffel wird Sie erfreuen! Mit herzlichen Grüßen, auch an Ihren Mann, Ihr Arno Pötzsch Nr. 38 [Handschriftl.] Mar. Pfr. Pötzsch 14.9.1941 30450 Liebe Frau Neubauer! Nun sind Sie wieder in Cuxhaven, nachdem Sie – hoffentlich – noch ein paar schöne Urlaubstage mit Ihrem Mann verleben konnten. Ihrer beider Besuch in Wiederau gehört zu den großen Freuden dieses durch meine Erkrankung leider so sehr beeinträchtigten Urlaubs. Ich werde immer sehr gern an die Stunden des Zusammenseins in Wiederau zurückdenken. Den Weg von Wiederau zum Bhf. Cossen haben Sie hoffentlich gut gefunden! – Am folgenden Tag, dem Mittwoch, fuhr ich mittags mit meiner Frau mit Kathrin und Christiane nach Lpzg. Am Nachm. suchte ich dort einen Fallspezialisten auf, der auch Kathrin untersuchte und für Freitag mittg. [mittags] zum Herausnehmen der r. [= rechts] vergrößerten Rachenmandel bestellte. Über Nacht blieben wir in Lpzg. u. am Donnerstag vorm. [= vormittags] fuhren wir zusammen nach Halle, wo wir uns trennen mußten. Mitternacht war ich im Haag. Als ich mich am Freitag vorm. beim Befehlshaber meldete, sagte er, in dem Zustande dürfe ich noch keinen Dienst tun, und am folgenden Tage, also gestern, wurde ich vom Arzt beim Stabe in das Marinelazarett Bergen op Zoom eingewiesen, wo ich kontrolliert und gestärkt werden soll. In einer Woche etwa hoffe ich dann endlich dienstfä-

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hig zu sein. Heute habe ich den ganzen Tag u. mit gr. Freude Stifterbriefe 223 gelesen; ich danke Ihnen nochmals sehr herzlich für diesen schönen Band! Von dem schönen Buche „Und dennoch blüht die Erde“224 schicken Sie, bitte, | ein Exemplar an meine Frau. Sie kann dann das geliehene Buch zurückgeben und das eigene weiterlesen. Würden Sie mir, da die „Zeitwende“ durch die Papierverordnung ausgefallen ist, den „Eckart“ (Eckartverlag) bestellen? 225 – In der Chemnitzer Ev. Buchhandlung sah ich das Buch „Die Männerarbeit der Kirche“ (Verlag C.G. Ungelenk, Dresden),226 das ich bei Ihnen bestellt hatte, das aber damals nicht lieferbar war. Sollte das Buch nicht geschickt worden sein, würden Sie es dann, bitte, nochmals bestellen? Ferner bitte ich um: Plachte „Die Wiederentdeckung der Kirche“ Verl. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen.227 Das Büchlein Ulrich Sander „Einmal Soldat – immer Soldat“228 las ich mit Freude; es steckt bei dem etwas rauhbeinigen Sander doch immer allerlei Gutes mit drin. Wenn Sie schreiben oder etwas schicken, dann, bitte, an die übliche Anschrift; ich bekomme die Post von dort mitgebracht. Entschuldigen Sie, bitte, die schlechte Schrift, aber im Liegen schreibt sich’s nicht gut. Ihnen, Ihrem Mann und den Kindern alles Gute u. Beste! Um mich, in dem kleinen Krankenzimmer eines riesigen Lazarettbetriebs, ist es sehr einsam. Und in mir auch! Hinter mir Abschied; Frau u. Kinder u. alles, was einem lieb ist, fern; körperliche Schwäche – das gibt keine gute Stimmung. Sie werden’s verstehen! Alles ist grau, wie der regenschwere Himmel draußen … Ihr Arno Pötzsch 223 Gemeint sein könnte Adalbert Stifter, Briefe. Hrsg. von Dr. Friedrich Seebaß, Tübingen 1936. 224 Rose Planner-Petelin, Und dennoch blüht die Erde, Hamburg 1941. Die aus Triest stammende, christlich geprägte Autorin (1899-1969) hieß eigentlich Hedwig Zöckler, geb. Kotz. Sie schrieb Erzählungen, Romane und Novellen, die meist in den Ländern der früheren Donaumonarchie spielen, und war mit dem Verleger Paul Zöckler verheiratet. 225 Pötzsch meint die Zeitschrift „Der getreue Eckart“, die seit 1923 im Wiener EckartVerlag erschien. Die Monatsschrift „Zeitwende“ (München, seit 1925) wurde von dem ev. Pfarrer Friedrich Langenfass begründet. 1941 wurde das Erscheinen eingestellt. 226 Vgl. Anm. 175. 227 Vgl. Anm. 212. 228 Ulrich Sander, Einmal Soldat – immer Soldat, Berlin o.J. [1940]. Der Schriftsteller und Maler Sander (1892-1972) leitete 1933 für kurze Zeit die nationalpolitische Erziehungsanstalt (NAPOLA) Potsdam, überwarf sich aber nach einem Jahr mit dem Erziehungsministerium. Seit 1941 lebte er als freier Schriftsteller an der Ostsee und schrieb von den Nationalsozialisten geförderte Kriegsromane. Er war weder Mitglied der NSDAP noch der SS.

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Nr. 39 [Handschriftl.] Mar. Pfr. Pötzsch, F.P. 30450 20.9.1941 Liebe Frau Neubauer! Nun liege ich schon eine ganze Woche im Lazarett. Mein Allgemeinbefinden hat sich erfreulich gebessert, wurde ich doch auch aufs beste gepflegt u. verpflegt. Nur die Operation hat, weil die entzündlichen Zustände noch immer nicht gewichen sind, immer wieder hinausgeschoben werden müssen. Am Montag oder Dienstag der kommenden Woche wird es dann wohl möglich sein. Hoffentlich verläuft alles gut und so erfolgreich, wie der Arzt es erwartet! Ich habe die Operation schon vor 20 Jahren einmal durchgemacht, doch hat der Arzt damals, absichtlich oder unabsichtlich, Teile des Mandelgewebes stehen lassen; nun muß ich mich der nicht sehr angenehmen Operation nochmals unterziehen. – Mit tiefer Freude habe ich die Stifterbriefe nun zu Ende gelesen, es haben mir oft die Tränen in den Augen gestanden. Dann las ich, ebenfalls mit herzlicher Freude, den Flattich.229 Haben Sie Dank, liebe Frau Neubauer, für diese schönen Gaben, die mich gerade in der Muße u. Schwermut der Krankheit sehr erquickt haben. – Wenn Sie mir die Zeitschrift „Eckart“ bestellen, dann versuchen Sie doch, bitte, alle Hefte des Jahrgangs 1941 noch zu bekommen; ich würde mir den Jahrgang dann binden lassen. Ich würde sogar den Jahrgang 1940 noch gern haben. Immer wieder denke ich mit Freude Ihres überraschenden Besuchs in Wiederau; das war so lieb. Ich grüße Sie und Ihren Mann aufs Herzlichste! Gott behüte Sie alle! Ihr Arno Pötzsch Nr. 40 [Handschriftl.] Mar. Pfr. Pötzsch 26.9.1941 30 450 Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für alle Ihre lieben, teilnehmenden Briefe, für Zeitungen und Bücher! Heute kamen die 3 amerik. [= amerikanischen] Bücher, der fröhliche Band „Lustiges Volk“ und die 2 Eckarthefte in meine Hand. Solche Bücher, wie die des Amerikaners, sind auch mir – wie Ihnen – recht fremd, obgleich eine ganze Menge psychologisch Richtiges u. 229 Gemeint ist der ev. Pfarrer und Erzieher Johann Friedrich Flattich (1713-1797), der durch seine für die ev. Erziehungsarbeit maßgebenden Hausregeln (Pfarrer Flattich’s nachgelassene Regeln der Lebensklugheit im Volkston, Ludwigsburg 1825), seinen Humor und Anekdoten über seine Gemeindearbeit bekannt wurde. Es dürfte sich um das in Anm. 178 erwähnte Buch über Flattich handeln.

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praktisch Nützliches drinsteckt. Im Grunde bleibt eben doch alles vordergründig; die wohlmeinenden Ratschläge reichen nicht bis in die Tiefen, in denen sich unser Ringen mit Leben und Tod, Schicksal u. Schuld [?] vollzieht. Es gibt ja eine Fülle solcher Literatur; ich finde aber gar kein Verhältnis zu ihr. – Die fröhlichen Bände hatten Sie mir schon gesandt; ich las sie während des Wiederauer Krankenlagers mit gr. Freude u. kam durch sie etwas leichter über manche schmerzhafte Stunde hinweg. – Der „Eckart“ bietet eine Fülle wesentlicher Gedanken, Eindrücke u. Anregungen; so etwas macht Freude. – Der Münchener Lesebogen „Luthers letzte Tage“230 war mir eine liebe Überraschung. – Bei der Fahrt nach Holland bekam ich in Lpzg. die feine Novelle „Der spanische Rosenstock“ von Bergengruen geschenkt.231 Bitte, lesen und unbegrenzt anbieten u. verkaufen! Sehr feinsinnig! Eine Liebeslegende! – Leider habe ich mir viel zu wenig zu lesen mit ins Lazarett genommen; ich hatte ja nicht mit so langer Zeit gerechnet u. lese doch von früh bis abends. Was ich heute bestelle, kommt auch nicht mehr rechtzeitig. Die Lazarettbücherei bietet nicht viel u. wenn man etwas Brauchbares bestellt, dann ist es schon aus- | geliehen. – Bestellen Sie mir, bitte: 1) Ganzer, „Das Reich als europäische Ordnungsmacht“, 232 Hanseat. Verl., Hbg. [= Hamburg] 2) Bauer, „Tagebuchblätter aus Frankreich“, Karl Rauch-Verlag, Leipzig.233 Hatte ich eigentlich schon gebeten, ein Ex. „Und dennoch blüht die Erde“ an meine Frau zu senden?234 Wenn ich’s noch nicht tat, dann sei’s hiermit getan. Das Buch gefiel mir so gut, daß ich’s gern besitze und m. Frau kann’s dann zuerst lesen. Heute durfte ich zum ersten mal aufstehen u. draußen im Garten liegen, als mittags die Sonne aus Nebel u. Dunst hervorkam. Bis auf die recht hef230

Luthers letzte Tage. Briefe und Dokumente (Münchener Lesebogen Nr. 61), München 1941. 231 Werner Bergengruen, Der spanische Rosenstock, Tübingen 1940. Der aus Riga stammende Autor (1892-1964), zunächst Journalist, war ab 1927 als freier Schriftsteller tätig. 1936 konvertierte er vom evangelischen zum katholischen Glauben. Er wurde aus der Reichsschrifttumskammer der Nationalsozialisten ausgeschlossen, erhielt aber eine beschränkte Publikationserlaubnis. Bergengruen gehörte zu den konservativen christlichhumanistisch geprägten Autoren, die zum NS-Staat kritische Distanz hielten. So blieb er bei seiner jüdischen Frau und verteilte Flugblätter der „Weißen Rose“. 232 Karl Richard Ganzer, Das Reich als europäische Ordnungsmacht, Hamburg 1941. Ganzer (1909-1943) war ein dt. Historiker, der bereits 1929 Mitglied der NSDAP und der SA wurde. In seinem Pamphlet vertrat er die Idee eines pangermanischen Reiches, das für das deutsche „Reichsvolk“ den „Großraum“ Europa beansprucht. 233 Walter Bauer, Tagebuchblätter aus Frankreich, Leipzig 1941. Der Autor (19041976) war dt. Schriftsteller. Von 1930 bis Kriegsbeginn lebte er in Halle, dann wurde er als Soldat zur Wehrmacht eingezogen. Sein Büchlein enthält Tagebucheintragungen mit Gedichten. 234 Vgl. Anm. 224.

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tigen Wundschmerzen geht es mir gut. Die Operation selbst, die am Montag vorm. zwischen 9 u. 10 h durchgeführt wurde, verlief gut erträglich u. befriedigend; hoffentlich bringt sie den Erfolg mit sich, den der Arzt von ihr erwartet! Nachdem die den Körper immer wieder belastenden Entzündungsherde herausgenommen sind, geht es hoffentlich nun wieder bergauf! In 1 Woche werde ich voraussichtlich das Lazarett verlassen können. Liebe Frau Neubauer, bitte, sprechen Sie nicht von der schlichten Frau, die Sie sind und die mir nicht das Wasser reichen könne, vielmehr ins Mauseloch kriechen möchte. Ins Mauseloch – da möchte ich auch, ach, wie oft, mich gern verkriechen – darin bin ich mit Ihnen einig. Aber im übrigen idialisieren [sic!] Sie mich wieder einmal sträflich; Sie dürfen das nicht tun!! Zum Glück habe ich keine Neigung zu Eitelkeit u. Hochmut, wohl eher zum Gegenteil. Liebe Frau Neubauer, ich bin wahrhaftig nur ein armseliger Mensch, vielleicht viel armseliger als Sie, jedenfalls als Sie ahnen. Und was brauchbar und etwa ein bißchen liebenswert an mir ist – ist das mein Verdienst? Ganz gewiß nicht! Also, bitte, vergrößern Sie mich nicht auf Ihre Kosten! – – Grüßen Sie Ihren Hans! Herzlichst Ihr A. P. Nr. 41 [Handschriftl.] Mar. Pfr. Pötzsch, 30 450

z.Zt. Mar. Lazarett Bergen op Zoom: 30.9.1941

Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für allerlei Post, die gestern von Ihnen kam: Ihr Brief vom 24. Sept., Zeitungen u. Illustrierte, Freiherr v. Stein, 235 Plachte – „Kirche“, Lehmann – „Infanterie“236 u. kl. Beilagen. Das war eine gr. Sendung, mit der ich mich lange beschäftigen konnte u. kann (ich vergaß eben zu nennen, Augustiny, „Schwarze Gret“ (Hanseat.)237 [ )]. Auf alles freue ich mich sehr. Lehmann – „Infanterie“ schätze ich sehr, u. da ich mein Ex. in Cux. habe, freue ich mich über ds. Zuwachs m. Bücher. Sie können ds. Buch, in das Sie nichts hineinschrieben, ruhig berechnen; ich übernehme es 235 Gemeint sein könnte Hermann Kamper, Der Freiherr vom Stein (Geschichte in Erzählungen. Bremer Arbeitshefte, hrsg. von F. Walburg, Heft 57), Weinheim o.J. [ca. 1940]. 236 Friedrich Lehmann, Wir von der Infanterie, München 1929. Das Buch enthält lt. Untertitel „Tagebuchblätter eines bayerischen Infanteristen aus fünfjähriger Front- und Lazarettzeit“. 237 Waldemar Augustiny, Die schwarze Gret. Erzählungen, Hamburg 1941. Der dt. Schriftsteller Augustiny (1897-1979) stammte aus einer schleswigschen Pastorenfamilie und machte sich als norddeutscher Erzähler einen Namen. Er war Mitglied im 1936 gegründeten Eutiner Dichterkreis, der sich überwiegend der Heimatliteratur widmete und sich mit den Zielen des Nationalsozialismus weitgehend identifizierte.

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für m. Soldaten. „Helenes Kinderchen“238 kenne ich, habe es vor vielen Jahren gelesen, besitze es aber nicht; ich schaue gern wieder hinein, um mich zu ergötzen. Ich habe, schon in den schmerzvollen Wochen in Wiederau, gern Heiteres gelesen – aber meine Seele ist doch immer bei den anderen Sachen, beim Ernsten, Schweren.Es hängt wohl mit meiner augenblicklichen körperlichen Schwäche zusammen, daß mir dann oft die Tränen in den Augen gestanden haben, so bei den Briefen Adalbert Stifters, so bei „Und dennoch blüht die Erde“, so bei dem erschütternden „Tsushima“ von Frank Thieß,239 das neu in die Lazarettbücherei kam u. vorgestern u. gestern von mir in atemloser Spannung gelesen wurde. Was mich bis zum Weinen erschüttert, ist im Grunde immer das eine: die Rätselhaftigkeit, die dunkle Unerkennbarkeit u. Unentrinnbarkeit des Lebens, hier der Gestalt im grausigsten, ungeheuerlichsten Menschenlos, dort in der ergreifenden Schönheit von Blume, Klang, Kinderblick … Fasse das einer zusammen, ich kann es nicht, ich kann nur in | einem ungeheuren Schmerz das ewige, verborgene Antlitz Gottes suchen, und wo alle menschlichen Ausdrucksmittel versagen, da weint es aus einem heraus. --- Lesen Sie den Stifter einmal zu Ende; Sie müßten freilich meine Muße dazu haben. Wie schön sind die Briefe des alt Gewordenen an seine Lebensgefährtin! – „Tsushima“ ist kein Frauenbuch; vielleicht sollten Sie es nicht lesen, weil die Härte des Geschehens ungeheuerlich, unmenschlich ist; aber um des menschlich-übermenschlich Großen [willen], das in dsm. Buche geschildert wird, sollten Sie es auch lesen. – Auch den „Seeckt“ von Rabenau240 entdeckte ich unter den neu angeschafften Büchern, ferner den „Moltke“ von Naso, 241 so daß ich jetzt einen guten Lesevorrat habe, den ich kaum bewältigen werde, wenn ich, wie der Arzt mir verhieß, Ende der Woche entlassen – und auf einen „Urlaub zur Wiederherstellung der Gesundheit“ werde. Es scheint also allen Ernstes ein Urlaub bevorzustehen. Aber ich bin noch nicht fort u. wage darum noch kaum davon zu sprechen. Für meinen Hals wie für meinen Gesamtzustand

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John Habberton, Helenes Kinderchen, Berlin 1925; auch als Reclam-Heft, 1941. Habberton (1842-1921) war ein amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Sein Kinderbuch Helen’s Babies (1876) erschien in zahlreichen dt. Ausgaben. 239 Frank Thiess, Tsushima. Der Roman eines Seekrieges, Wien 1936. Thiess (18901977), der sich nach 1945 zum Wortführer der „Inneren Emigration“ machte, wurde vor allem durch diesen Tatsachenroman über die Seeschlacht bei Tsushima bekannt. Die Schlacht zwischen der japanischen Flotte und einem russischen Geschwader endete im Mai 1905 mit einer vernichtenden Niederlage der russischen Seite. 240 Vgl. Anm. 141. 241 Eckart von Naso, Moltke. Mensch und Feldherr, Berlin 1937. Der Autor (18881976) dieses biographischen Romans war dt. Jurist und Schriftsteller, von 1931-1945 Dramaturg der Staatlichen Schauspiele Berlin. Er trat 1933 der NSDAP bei.

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wäre ein Urlaub recht gut. Es soll doch dann in einen langen Winter hineingehen. – Sie werden weiter von mir hören. Daß Sie die Stunden in Wiederau in freundlicher Erinnerung behalten, ist mir lieb. Auch ich denke immer wieder gern an die schönen Stunden zurück. Es hat mir Freude gemacht, Ihnen die kleine Welt zu zeigen, die einst mein Leben u. mein Amt umfaßt hat. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir – auch in Erinnerung an Wiederau! Ich grüße Sie herzlich. Ihr Arno Pötzsch [Zusatz am Rand von S.2: Bitte, bestellen: Paul Ernst 1) Der Scharfrichter 2) Die Zerstörung der Ehe (Verl. Albert Langen, München). 242 Nr. 42 [Handschriftl.] Mar. Pfr. Pötzsch, 30450 3.10.1941 Liebe Frau Neubauer! Diesen Brief schreibe ich wieder im Haag. Heute nachm. wurde ich aus dem Lazarett entlassen; der Arzt hat 3 Wochen Urlaub zur Wiederherstellung der Gesundheit beantragt. Morgen vorm. werde ich mich beim Befehlshaber melden, u. es ist anzunehmen, daß er den vom Arzt empfohlenen Urlaub auch genehmigt. Ich würde dann wohl morgen oder übermorgen nach Dtschl., wahrscheinlich also nach Wiederau fahren. Auf der Fahrt nach dem Haag habe ich heute die Hellebarde mitgebracht. Sie ist wirklich ein herrliches Stück Schmiedearbeit französischer Waffenschmiedekunst. Der Antiquar würde mir dieses Stück heute nicht mehr verkaufen. Alle schönen Stücke hält er heute für sich zurück, weil er Altertümer heute nicht mehr zu kaufen bekommt u. weil ihm am Geld, das entwertet ist u. für das er doch nichts zu kaufen bekommt, nichts gelegen ist. Da er mir das Stück vor Monaten versprochen u. für 100 Gulden verkauft hat, sah er sich, der ein ganz gediegener Mensch ist, an sein Versprechen gebunden. Ich nehme mit Sicherheit an, daß Ihnen die Waffe als ein schöner Zierat [sic!] Ihrer Stube Freude bereiten wird; ich hoffe, sie bald schicken zu können. Im Vergleich zum Sachwert ist der Preis nicht zu hoch (hoffentlich meinen Sie das auch!). Am Schaft ist eine Bruchstelle, die mich aber als unerheblich nie gestört hat.

242 Paul Ernst, Der Scharfrichter, München 1927; Die Zerstörung der Ehe, Darmstadt 1917. Ernst (1866-1933), Sohn eines Grubenaufsehers, war dt. Schriftsteller und Journalist. Für kurze Zeit gehörte er der SPD an.

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Gestern erhielt ich im Lazarett Ihre Sendung „Helenes Kinderchen“. Mit Ruth Schaumanns Bildern ist das ja eine entzückende Ausgabe, die mich sehr überrascht u. erfreut hat!! Die Bachrede von Benz 243 fand ich im Haag vor; ich freue mich sehr darüber u. sehr aufs Lesen! Grüßen Sie Ihren Mann sehr herzlich von mir. Ich grüße Sie – Ihr Arno Pötzsch Nr. 43 [Handschriftl.] 7.10.1941 Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für Ihren an meine Frau gerichteten Brief, der uns beiden eine große Überraschung bedeutete. Wohl haben Sie recht, daß meinem Urlaub jetzt einige Schwierigkeiten entgegenstehen (Betreuung der beiden Kleinen, Annis Abwesenheit …), aber das alles muß nun in Kauf genommen werden. Da das Kantorhaus, das alte Pfarrhaus, in dem Sie uns bei Ihrem Besuch vorfanden, uns jetzt nicht zur Verfügung steht, da der Kantor jetzt ebenfalls auf Urlaub zu Hause ist, wohne ich mit im kleinen Bauernhaus. Für Anni wäre dort jetzt gar kein Platz. Wir wollen versuchen, unsre Kleinen einmal eine Woche im Hohenkirchener Pfarrhaus unterzubringen; wir hoffen, daß das gelingt. Dann könnte ich mit meiner Frau eine Woche nach Thüringen fahren, vielleicht schon am nächsten Sonntag. Zum Glück ist das Wetter jetzt außerordentlich schön, so daß ich die ersten beiden Urlaubstage viel draußen in der Sonne sein konnte; so läßt sich die allzu kleine Wohnung ertragen. – Am Sonnabend meldete ich mich, aus dem Lazarett kommend, beim Befehlshaber zurück u. erhielt die vom Arzt befürworteten 3 Wochen Urlaub z. W. d. G. genehmigt. Noch am Abend trat ich die Reise an u. traf am Sonntag nachm. in Cossen ein, wo mich meine Frau und die beiden Kleinen erwarteten. Für Ihre Hilfsbereitschaft danken wir Ihnen sehr herzlich. Es ist sehr lieb, daß Sie sich mit uns und für uns sorgen. Den- | noch wollen wir, Sie werden auch das verstehen, Ihre Hilfe erst dann in Anspruch nehmen, wenn es wirklich nicht anders geht. Die von Ihnen beigefügten 100.- Rm sind [sind] leider noch keine „Schuld“ bei mir. Noch haben Sie meine Büchlein „Singende Kirche“244 nicht; morgen hoffe ich das Päckchen mit 100 Ex. 243

Richard Benz, Bachs geistiges Reich. Rede zum 22. Bachfest der Neuen BachGesellschaft, Leipzig. München 1935. Benz (1884-1966) war dt. Germanist, Kulturhistoriker und Schriftsteller. Seit 1910 lebte er bis zu seinem Tod als Privatgelehrter in Heidelberg. 244 Singende Kirche. Geistliche Gesänge für die Gemeinde von Marinepfarrer Arno Pötzsch und Organist Jacques Beers. Zur Einführung und zum Geleit. Eine Folge geistli-

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mitgeben zu können. Wenn Sie wirklich alle verkaufen, was ich noch nicht glaube, sind das bei 50 Pf. [?] Stückpreis erst einmal 50.- Rm. Ich werde also die 100.- Rm zunächst sorgfältig aufheben, sie Ihnen später zurücksenden oder sie – im Notfall – im Urlaub zunächst verwenden und später erstatten u. dann vielleicht auch einmal „vereinnahmen“. Die Übersiedlung der Meinen in die freiwerdende hübsche Wohnung einer Kunsthandwerkerfamilie ist doch auch in meinem Sinne. Die Alarmnächte in Cux. waren für meine Frau und die Kinder doch so unerfreulich, daß ich sie gern vor einer Wiederholung bewahren möchte. Für heute Schluß! Wir wollen mit den beiden Großen, die wir in Chemnitz besuchten, einen Sonnenspaziergang machen. Meine Frau schrieb nur in Eile, da sie mit den Kindern zu tun hat. Wir grüßen Sie sehr herzlich. Ihr Arno Pötzsch Nr. 44 [Handschriftl.] Wiederau: 9.10.1941 Liebe Frau Neubauer! Gestern haben Sie mir eine neue Überraschung bereitet: die Post brachte 150 Rm für die Hellebarde. Ich hatte dieses Stück ja ebenso wie die andern Antiquitäten mit Ihren Büchersendungen verrechnen wollen. Nun, wir werden ja noch ins reine kommen. Zunächst danke ich Ihnen herzlich für den Betrag, mit dem Sie uns so freundlich helfen wollten. Heute ist übrigens die Hellebarde an Sie abgegangen. Das Verpacken war nicht ganz einfach. Hoffentlich kommt die alte Waffe gut in Ihre Hände – und hoffentlich gefällt sie Ihnen, so gut wie mir vom ersten Sehen an! Heute abd. bringen wir die Kinder ins Hohenkirchener Pfarrhaus. Ich halte heute abd. in der Nachbargemeinde einen Vortrag; wir bleiben über Nacht dort u. wollen morgen früh eine Woche nach Thür. [= Thüringen] fahren. Die Kinder bleiben während der Woche in Hohenkirchen. Es gibt noch allerlei zu tun, darum schreibe ich nur in gr. Eile u. bitte das zu entschuldigen. Nachdem die 3 ersten Tage der Urlaubswoche sonnige Herbsttage waren, regnet es heute. Hoffentlich bleibt das Wetter in der kommenden Woche freundlich! cher Gesänge für die Gemeinde (Heft 1), Den Haag 1941. Dieses Heft enthielt 8 Lieder. Eine Auswahl von 11 Liedern enthält das kleine Heft Singende Kirche, o.J.

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Mit sehr herzlichen Grüßen, auch an Ihren Mann, zugleich von meiner Frau, Ihr Arno Pötzsch Vorgestern blieb der kurze Brief meiner Frau in Chemnitz liegen; er hat sich ja durch m. Schreiben erledigt. Nr. 45 [Handschriftl.] M. Pfr. Pötzsch Wiederau, 21. X. 1941 Liebe Frau Neubauer! Eben schickte ich mich an, Ihnen zu schreiben, da brachte mir meine Frau von der Post Ihr Einschreibepäckchen, meinen wieder hergerichteten Füllhalter. Ich danke Ihnen sehr herzlich für diese Besorgung! Als mein Füllhalter unbrauchbar wurde, fehlte er mir außerordentlich, als ich den Ihren bekommen hatte, gewöhnte ich mich schnell so an ihn, daß ich mich jetzt schwer von ihm trenne; seine weiche, breite Feder sagte mir sehr zu. Nun gebe ich Ihnen Ihr Eigentum mit herzlichem Dank zurück; Sie hatten sich so selbstlos von ihm getrennt, um mir zu helfen! Die Tage meines Urlaubs sind gezählt … Nach 3 sehr schönen sonnigen Tagen in Wiederau begannen die Regentage – gerade als wir nach Thüringen fahren wollten. Durchnäßt kamen wir am Donnerstag abd. der ersten Woche nach Hohenkirchen, um die beiden Kleinen, Sabine u. Renate, dort abzuliefern. Wir blieben über Nacht im Pfarrhaus[,] trockneten mit Mühe einigermaßen die Sachen u. fuhren am Freitag im Regen los Richtung Thüringen. Unterwegs zeigte sich, daß an Wandertage um Friedrichroda nicht zu denken war, weil es unaufhörlich goß. So fuhren wir von Erfurt über Oberhof nach Eisfeld bei Hildburghausen u. besuchten dort m. überraschten Verwandten. Es folgten 5 Tage Regen mit Ausnahme eines Nachmittags, an dem wir dann auch gleich eine – die einzige – recht schöne Wanderung machten. Danach waren die Eisfelder Tage erfreulich, weil die Verwandten liebevoll sind u. ihr Haus geräumig u. behaglich durchwärmt war; so waren die Regentage dort leichter zu | überstehen als das in den beengten Verhältnissen in Wiederau möglich gewesen wäre. Am Donnerstag (ich schreibe mit Ihrem Halter weiter, weil ich mich noch nicht recht zurückfinden kann) fuhren wir nach Waltershausen, wo wir spät abds. [= abends] ankamen, aber doch eben noch Verwandte kurz besuchen konnten. Am Freitag fuhren wir früh nach Reinhardsbrunn u. gingen auf schönen Waldwegen, wo jeder Schritt von Kindheitserinnerungen begleitet ist, zum Gottesacker über Friedrichroda. Hier habe ich wieder einmal um das Grab der Vorfahren, dieses letzte Stücklein Heimaterde, das mir gehört, kämpfen müssen; sie hatten es eingeebnet, weil es einem Aufmarschplatz vor einem künftigen

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Ehrenmal im Wege war. Da die Grabstelle an der Platzeinfassung liegt, habe ich erreicht, daß die Grabtafel mit den Namen, die entfernt worden war, wieder an ihren Platz gelegt wurde. So bleibt mir doch diese Stätte der Erinnerung, mir und meinen Kindern, die das Heimatgefühl in diesem schönen, schönen Lande behalten sollen. Wiederum auf schönsten, erinnerungserfüllten Waldwegen gingen wir über Schloß Tenneberg, die schöne Geburts- u. Kindheitsstätte meiner Mutter, nach Waltershausen zurück. Es war nur ein Vormittag, aber er hat mich doch wiedersehen lassen, woran mein Herz in immer gleicher Liebe hängt … Über Leipzig kamen wir am Spätabend nach Cossen u. liefen hinüber nach Wiederau. – Der Sonnabend war mit Vorbereitungen ausgefüllt, u. am Sonntag habe ich wieder einmal in meiner alten Gemeinde gedient wie früher: Beerdigung, Gemeindegottesdienst, Abendmahlsfeier, Kindergottesdienst, nachm. Taufgottesdienst in der Kirche, dann weit über Land gegangen u. in einem entlegenen Hause 2 Kinder getauft. Die Familie hatte nicht viel von mir, aber beim Landpfarrer ist das ja oft so. – Gestern vorm. Abendmahl an einem Krankenbett, ein altes 76j[ähriges] Weiblein, ganz, ganz verkrümmt; der Bruder 81 Jahre alt. Ach, welch ein elender, kümmerlicher Raum! .. Und doch: wie schön der schlichte, kindliche Glauben, der dem Heiland sich entgegenstreckt! Es war gleichsam ganz fahl in der Dunkelheit. Und überall, auch hier, darf ich die Liebe spüren auch zu mir. Ich passe viel besser zu den Einfachen und Armen als auf das Parkett der Hochgeborenen u. Reichen. – Gestern nachm. liefen wir mit den beiden Kleinen hinüber nach Wechselburg, kamen im Dunkeln zurück, u. die Kleinen, für die es ein sehr weiter Weg war, plauderten von den Sternen. Und dann sahen wir eine Sternschnuppe, wie ich noch keine sah, schier einen Kometen. – Aus der Schweiz bekam ich jetzt als Korrekturbogen den größeren Teil des Buches „Aus Goethes Freundeskreis, Studien um Peter im Baumgarten“. In wenigen Wochen wird das Ganze vorliegen; es wird ein schönes Buch, wohl auch von Schwerem u. Traurigem. Es ist mir gewidmet in einer sehr schönen Widmung. Hoffentlich lassen sich die Lieferungsschwierigkeiten […?] überwinden. Ich hoffe auf Ihre Hilfe in Übernahme u. Versand; so bald ich weiteres weiß, schreibe ich’s Ihnen. Die beiden großen Beträge, die Sie mir sandten, haben uns während des Urlaubs u. der Thüringer Reise sehr geholfen, u. haben wir – sparsam – nur einen Teil davon verbraucht, so gab uns doch der Betrag Betrag das das Bewußtsein Bewußtsein der Sicherheit. Wir haben ja fremde Hilfe durchaus nicht in Anspruch Anspruch nehnehmen wollen u. haben u. hätten sie immer wieder abgelehnt. Aber Sie Sie haben haben sich nicht abweisen lassen u. haben schließlich durchgesetzt, was Sie beabbeabsichtigten, und mir bleibt zuletzt nichts herznichts anderes anderes übrig, übrig, als als Ihnen Ihnen ganz ganzherz-

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lich für Ihre freundliche u. feinsinnige Hilfe zu danken. Hoffentlich kommen wir nun bald mit der Abrechnung ins Reine! Daß die Hellebarde bei Ihnen eingetroffen ist u. Ihre Zustimmung gefunden hat, las ich heute mit Freude; ja, sie ist ein schönes Stück alter Waffenschmiedekunst! Haben Sie Dank für Ihre lieben Briefe, insonderheit den einen, der wieder so deutlich Ihr gutes Herz enthüllt; Dank auch für die Büchersendungen! – Ich möchte mich einmal stärker mit Paul Ernst beschäftigen, habe aber garnichts in der Hand, was mich erst einmal „einhaken“ lassen könnte. Können Sie mir helfen? Am Sonnabend will ich nach Lpzg. u. am Sonntag mit meiner Frau nach Goslar weiterfahren, um das Häuschen, das meine Frau u. die Kinder alle aufnehmen soll, kennen zu lernen. Montag fahre ich dann weiter, nach Hannover u. nach dem Haag. Dann werden 10 Wochen der Krankheit u. des Krankheitsurlaubs vergangen sein. Ich glaube die Arbeit nun wieder gut leisten zu können. Ich grüße Sie herzlich, liebe Frau Neubauer, u. bitte Sie, auch Ihren Mann recht herzlich von mir zu grüßen. Ihr Arno Pötzsch. Nr. 46 [Handschriftl.] 30450 2. Nov. 1941 Liebe Frau Neubauer! Es ist wie Sie sagen: mit den längeren Briefen ist’s nun vorbei. Es ist schon spät am Abend; ich bin müde von der 3 täg. Dienstreise u. den Diensten des heutigen Sonntags. Nur wenige Zeilen zum Gruß! Sie haben mich nicht wenig überrascht durch den zurückgesandten Füllhalter, der nun mein eigen sein soll. Haben Sie Dank für ds. Verzicht um meinetwillen!! Auch dieses kleine Gerät wird mich nun immer an die liebe Geberin erinnern. – Daß Sie etwas von Paul Ernst für mich haben, freut mich sehr; ich werde die Geschichten mit Spannung lesen u. hoffe, allmählich noch tiefer einzudringen. Können Sie mir das Büchlein „11 preußische Offiziere“ in etwa 10 Ex. schicken: Verfasser Helmut Paulus.245 Für Weihnachten brauche ich

245

Helmut Paulus, Elf preußische Offiziere. Novelle, Dresden 1941. Paulus (19001975) war dt. Romancier und Lyriker, der sich in seiner religiösen Dichtung der „Pflege des Menschlichen“ widmen wollte. In seiner Weltsicht näherte er sich dem Nationalsozialismus, wurde jedoch erst 1940 Mitglied der NSDAP. Die Novelle bezieht sich auf das Schicksal von elf preußischen Offizieren, die am 16. September 1809 in Wesel den Heldentod starben. In seinem letzten publizierten Roman „Die tönernen Füße“ (1953)

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noch etliche Verteilbrieflein dieser u. ähnlicher Art. Auch 1-2 Schweitzer (Albert) Kindheitserinnerungen (Titel lautet wohl „Aus m. Kindheit und Jugendzeit“).246 Heute kam ich in eine Kirche, in der auf allen Plätzen das Heft „Singende Kirche“ lag, u. die Gemeinde sang mit dem Chor zusammen 2 meiner Lieder. – In einem Brief, den ich heute erhielt, bittet eine Gemeinde des Rheinlands um 300 Exemplare. Da freut man sich. Die ersten Korrekturbogen des „Peter“-Büchleins sende ich Ihnen auf Ihren Wunsch zur Einsicht zu.247 Das kl. Buch mit der seltsamen u. traurigen Lebensgeschichte meines Ahnen ist natürlich nur für m. Familie bestimmt. Ich hoffe bald Näheres über die Versandfragen zu erfahren, u. bin | Ihnen dankbar für Ihre Hilfsbereitschaft. Ich hätte das Büchlein dem Verwandtenkreise gern noch zu Weihnachten angeboten. Den Versand usw. lege ich nur zu gern in Ihre Hände. Aufmerksam mache ich Sie auf ein recht gutes Büchlein für Soldaten u. andere: Eduard Schläfer-Wolfram „Der jüngste Kamerad“[,] Friedrich GutschVerlag, Karlsruhe i. Baden.248 Das Buch gehört in eine Schriftenreihe, deren andre Bände ich aber noch nicht kenne. Ist „Die letzte Seele“249 noch zu haben? ----Ihrem Jungen geht es hoffentlich bald wieder besser. Es tut mir so leid, daß er so krank wurde und daß Sie die Sorgen um ihn haben. Grüßen Sie Ihren Mann herzlich von mir. Die beiliegende Karte, die ich einmal für meinen Kindergottesdienst herstellen ließ, gibt wenigstens einigermaßen einen Eindruck von dem romanischen Drachenportal meiner Wiederauer Kirche. Ich grüße Sie herzlich, liebe Frau Neubauer! schildert Paulus das Wiedertäufer-Jahr in Münster/Westfalen 1534/35, unausgesprochen vor dem Hintergrund der Jahre 1933/45 in Deutschland. 246 Albert Schweitzer, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, München 1925; zahlreiche weitere Auflagen. 247 Gemeint ist ein Büchlein über Goethes Pflegesohn Peter im Baumgarten (1761ca.1799), das der Schweizer Literaturwissenschaftler und Essayist Fritz Ernst (vgl. Anm. 175) geschrieben hat: Aus Goethes Freundeskreis. Studien um Peter im Baumgarten. Mit fünfundzwanzig Abbildungen, Erlenbach-Zürich, 1941. Pötzsch war mütterlicherseits ein Ururenkel des Peter im Baumgarten, und Fritz Ernst widmete ihm sein Buch. 248 Eduard Schläfer-Wolfram, Der jüngste Kamerad und andere fesselnde Geschichten, Karlsruhe 1937. 249 Otto von Leixner (Hrsg.), Die letzte Seele. Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert, zuerst Leipzig 1907. Historische Erzählung aus der Sicht des fiktiven Hauptpastors zu St. Johannis in Magdeburg, Johannes Carolus Masius. Zu Leixner vgl. Anm. 216.

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Die Eile des Schreibens nehmen Sie, bitte, nicht übel. Ihr Arno Pötzsch Nr. 47 [Handschriftl.] 30450 7. Nov. 1941 Liebe Frau Neubauer! Heute überraschte mich Ihr Brief vom 4. Nov. als Antwort auf m. Brief u. die Sendung der Korrekturbogen. Haben Sie Dank für den Brief, in dem Ihr Liebfrauenherz es doch wieder nicht lassen kann, mir die freundlichsten Worte zu sagen und daneben doch auch wieder die eigene Mauselochbedürftigkeit anklingen zu lassen. Lassen wir unsern „Streit“ darüber! Wir sind ja doch zuletzt alle nur das, was wir vor Gott sind, nichts anderes; alles andere ist nur „die große Täuschung“. Und vor Gott sind wir alle „arme Sünder“, wie unsre Väter so nüchtern und einfältig zu sagen wußten, und unsere Fähigkeiten sind Gaben, wirklich ganz und gar „Gaben“, auf die wir uns nichts einbilden. Und bis zu dem Lob der Treue („Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über deinem Wenigen getreu gewesen“)250 haben wir alle noch einen weiten Weg! – daß ich mich über die schöne Widmung gefreut habe, darf ich sagen; sie ist inhaltlich u. sprachlich sehr schön. Er muß ein feiner Mensch sein, der Dr. Fritz Ernst; ich möchte ihn gern einmal kennen lernen. – Daß der Schweizer Verleger eine Niederlassung u. Auslieferungsstelle in Lpzg. hat, war mir eine gute Botschaft Ihres Briefes; also wird das Buch leicht nach Dtschl. u. in Ihre Hände kommen. Ich danke Ihnen für die Nachsicht! – Daß Sie die Stifterbriefe zu Ende lasen, freut mich; ich denke gern an ds. Krankenbettlektüre zurück. Die „Kleine Truhe“ Schäfers251 überraschte mich vorgestern, das Paul Ernst-Heft heute; ich freue mich auf beides. – Senden Sie eine größere Sendung ruhig über Wilhelmshaven (Ev. Marinestationspfarrer); ich bekomme sie dann bei Gelegenheit. – Am 11. Nov. siedelt m. Frau mit den Vieren nach Goslar über in das uralte Haus eines ganz mo- | dernen Kunsttöpfers [?] u. Innenarchitekten, der z.Zt. im Felde ist u. uns seine ganz gediegene, spartanisch schlichte Wohnung überläßt. Meine Frau ist glücklich, endlich wieder einen ausreichenden Wohnraum und ihre 4 Kinder um sich zu haben. Nochmals herzlichen Dank für Ihren lieben Brief!

250

Zitat aus Jesu Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14-30, hier V.23). Wilhelm Schäfer, Kleine Truhe, München 1941. Schäfer (1868-1952) war ein populärer völkisch-nationaler Autor in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. 251

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Grüßen sie Ihren lieben Mann u. den kranken Jungen, dem ich von Herzen Besserung u. Genesung wünsche. Ich schreibe mit Ihrem Füller, der nun der meine ist und mich der freundlichen Geberin gedenken läßt. Und nun wollen Sie mich nochmals überraschen! Was mag es wohl sein …? Stets Ihr Arno Pötzsch In etwa 14 Tagen erscheint ein 2. Heft „Singende Kirche“, das diesmal vertonte Tischsprüche u. Tischgebete enthält. Meine bedrückende Schuld Ihnen gegenüber sieht wohl so aus – wir müssen doch einmal abrechnen! –: Bücherschuld lt. Rechnungen Briefeinlage 100.Postanweisung Hellebarde = 100 Gulden = 133. RM 217.- RM

100.150.350.133.-

Nr. 48 [Handschriftl.] 30450 12. Nov. 1941 Liebe Frau Neubauer! Ich schreibe im Zuge, der schaukelt u. schwach beleuchtet ist; entschuldigen Sie die Schrift! Immerhin – es kommt ein Brief zustande! Sie haben mich mit Ihren letzten schönen, reichlichen Büchergaben über Gebühr beschenkt u. verwöhnt! Die Troubadourgeschichten252 las ich mit Freude an 2 Abenden vorm Einschlafen. Recht fein! Gibt es eine einfache, billigere Ausgabe? Dann könnte man das Büchlein mal verschenken. – Dann kamen die „Deutschen Geschichten“, 253 die nun Abend für Abend im Bett gelesen werden sollen; auch wenn ich sehr müde bin, lese ich gern ein paar Seiten vorm Einschlafen. Dank auch für den | neuen Ulrich Sander 254 u. das Spiel von Flandern. Ich freue mich üb. [= über] alles u. auf alles u. danke Ihnen sehrherzlich für alles!! – Unter den heute früh eingetroffenen

252

Paul Ernst, Die Troubadourgeschichten. Mit 5 ganzseitigen Holzschnitten von Ernst von Dombrowski, München 1940. Vgl. Anm. 242. 253 Paul Ernst, Deutsche Geschichten. Nachwort von Hellmuth Langenbucher, München 1934. Der Literaturwissenschaftler Langenbucher (1905-1980) zählte nach 1933 zu den einflussreichen Journalisten und Publizisten der NSDAP. 254 Vgl. Anm. 228.

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Zeitungen war die „Neue Schau“,255 aus der mich einige angezeigte Sachen sehr interessieren: 1) Karl Bernh. Ritter „Fahrt zum Bosporus“ Verlag Hegner, Lpzg.256 2) Bernhard Martin „Und setzet ihr nicht das Leben ein“, 10 Ex. Bärenreiter257 3) Werner Picht „Der soldatische Mensch“ Verl. Fischer Bln.258 4) Otto Heuschele, „Trostbriefe“ Bärenreiter259 Mit herzlichen Grüßen Ihr Arno Pötzsch Nr. 49 [Handschriftl.] Meditation (der Buchhändlerin Käthe Neubauer zum 17. November 1941)260 Du bist nur das allein, was du vor Gotte bist, 255

Die Neue Schau. Monatsschrift für das kulturelle Leben im deutschen Haus, hrsg. von Karl Vötterle, Bärenreiter Verlag, Kassel, erschien seit 1939. 256 Karl Bernhard Ritter, Fahrt zum Bosporus. Ein Reisetagebuch, Leipzig 1941. Ritter (1890-1968) war dt. evangelischer Theologe und Politiker. 1922 gründete er mit anderen die Berneuchener Bewegung. 257 Bernhard Martin, Und setzet ihr nicht das Leben ein. Drei Kriegsbetrachtungen für Front und Heimat, Kassel 1941. Der Verfasser (1889-1983) war ein dt. Volkskundler und Mundartforscher. Er leitete das 1938 neubegründete „Kurhessischen Landesamt für Volkskunde“ und prägte entscheidend die Marburger Volkskunde zwischen 1934 und 1945. Seit 1937 gehörte er der NSDAP an und half dem „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ (RKF), die Umsiedlungspolitik des NS-Regimes vorzubereiten. 258 Werner Picht, Der soldatische Mensch, Berlin 1942. Der Autor (1887-1965) war dt. Soziologe, Verwaltungsbeamter und Schriftsteller. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Pressereferent für das Oberkommando der Wehrmacht in Berlin. Er ist der Vater des Philosophen und Pädagogen Georg Picht (1913-1982). 259 Otto Heuschele (Hrsg.), Trostbriefe aus fünf Jahrhunderten, Kassel 1941. Heuschele (1900-1996) war dt. Schriftsteller und Pädagoge. Seine Sammlung von Trostbriefen wurde bis in die 1970er Jahre nachgedruckt. 260 Käthe Neubauer hatte am 17.11. Geburtstag. Dieses Gedicht war anscheinend einem Geburtstagsbrief beigelegt, der nicht erhalten ist (vgl. Nr. 52). Es wurde ohne Widmung abgedruckt in: Arno Pötzsch, Im Licht der Ewigkeit. Geistliche Lieder und Gedichte, hrsg. von Marion Heide-Münnich, Leinfelden-Echterdingen 2008, 326f. Zuerst erschien es in dem Band: Von Gottes Zeit und Ewigkeit, Hamburg 1947, 68.

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das andre ist nur Schein, der leicht vergänglich ist. Gott schaut den Herzensgrund, er sieht dich wie durch Glas, und alles wird ihm kund und find’t an ihm sein Maß. Acht nicht der Menschen Ehr, fürcht ihren Tadel nicht; Gott ist allein der Herr, der jeglich Urteil spricht. Gott ruhet ganz in sich, ist immer, der er ist; so also will er dich: sei treulich, der du bist. Sei, wie dich Gott gedacht, der dich in Gnaden schuf! Das ist – o Mensch, gib acht – dein einziger Beruf! Bild dich in Gottes Bild, schau Gott ins Angesicht, bis daß sein Friede mild aus deinem Antlitz spricht. Ganz Mensch, ganz Gottes Kind – das sei dein Maß und Ziel! Glaub mir, wer beides find’t, dess‘ Herz ist stark und still. Tracht nur nach dem allein, Mensch, was vor Gott besteht! Wend dich hinweg vom Schein, der doch zum Tode geht. + Marinepfarrer Arno Pötzsch 12. Nov. 1941.

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Nr. 50 [Handschriftl.] 30450 17. Nov. 1941 Liebe Frau Neubauer! Heute feiern Sie nun Ihren Geburtstag. Möge es ein recht freundlicher Tag sein, für Sie selbst und für die Ihren alle! In Gedanken bin ich ein wenig mit in Ihrem Kreise … Meinen Geburtstagsbrief werden Sie bekommen haben. Sie haben mich gestern abd., als ich von Rotterdam (Gottesdienst u. Besuche) zurückkam, durch Ihren Brief vom 13.11. erfreut. Ich kann jetzt nur kurz antworten u. tu’s in der Reihenfolge Ihres Briefes. Daß mir Ihr Mann den Bode261 schickt, bedeutet für mich eine gr. Freude; ich kannte ihn noch nicht, u. doch liegt mir begreiflicherweise daran, zusammenzutragen, was an Berichten über Peter zu finden ist. – Ob Dr. Fritz Ernst mit dem Dichter Paul Ernst verwandt ist, weiß ich nicht; ich will die Frage gelegentlich einmal stellen. Ihre Gedanken um das Lob der Treue sollten nicht in Trauer u. Mutlosigkeit münden, die im Be- | reich des nur Seelischen bleiben, wie auch menschliches Selbstbewußtsein allein auf der menschlichen Ebene liegt. Wir sind es niemals, die sich das Lob der Treue spenden können, weil wir uns nie in einem solchen Zustand wissen können, in dem wir es verdient hätten. Gott gegenüber macht uns diese Einsicht demütig. Demut Gott gegenüber aber ist etwas ganz anderes als irdische Trauer u. Mutlosigkeit. Demut braucht garnicht finster u. trübe zu sein; sie kann ganz heiter, beinah fröhlich sein; sie kann sagen: Lieber Gott, so bin ich nun, ein unvollkommenes Menschenkind, aber eben doch deinKind. Und ich will auch gar nichts anderes sein als dein Kind, das täglich aus deiner freundlichen, väterlichen Gnade lebt. Ich will gar nichts aus mir machen, was ich nicht bin und kann u. lasse mir an deiner Gnade genügen. – Dieses Einfache ist wieder einmal das Größte! Gott wolle es uns schenken! | Ihre Rechnung macht mir zu schaffen. Die Exemplare der Singenden Kirche sind doch keine Posten Ihres Büchergeschäfts. - - Über die Lieder bekomme ich jetzt viele freundliche Zuschriften. Diese einfachen Gesänge haben sich rasch Freunde erworben. Mit den Geldgaben sind meine Ausgaben für das 1. fast gedeckt, so daß ich nun um so leichter das Risiko für das 2. (im Dezember erscheinende) und das 3. Heft übernehmen kann. Das 3. Heft wird wieder Lieder enthalten. – Gestern wurde 261 Gemeint ist Wilhelm Bode, Goethes Leben im Garten am Stern, Berlin 1922 (vgl. Matthes, 79). Der Lehrer und Schriftsteller Bode (1862-1922) publizierte zahlreiche Einzelstudien zu Goethe.

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im Gottesdienst in Rotterdam der „Choral im Kampf“262 als Gemeindelied gesungen – ganz herrlich, das frischest gesungene Lied des ganzen Gottesdienstes! Ich warte auf Nachricht aus der Schweiz. Dr. Ernst habe ich schon mitgeteilt, daß ich die 100 Ex. durch Ihre, des Cuxhavener Buchhändlers, Vermittlung beziehen will. Sobald ich den Fertigstellungsbescheid habe, werde ich entweder Sie um die Bücherbestellung bitten oder Dr. Ernst bitten, | die Auslieferung der 100 Bücher an Sie zu veranlassen. Den Brief an die Angehörigen werde ich hier vervielfältigen lassen, so bald ich die genauen Angaben über den Buchpreis habe. Ich rechne mit 5 RM. Den Briefentwurf u. die Korrekturbogen erbitte ich zurück, da ich um einen Punkt noch einen Briefwechsel führen muß. Sie fragen nach Peter. Er ist mit 33 Jahren verstorben, in Hamburg, angeblich am „Nervenfieber“. Ich vermute, daß er die Überfahrt nach Amerika erwog, in das Land, das seinen Gönner in seiner Erde barg. Er hinterließ seine junge Frau Euphrosyne* [Fußnote auf S. 4 des Briefes: *Euphrosyne heißt: die Freude – u. wie bitter wurde ihr Leben!], die Pfarrerstochter aus Berka, mit 6 kleinen Kindern. Daß Sie Verständnis für den Sohn Karl i. B. haben, freut mich; ich habe es auch! An dieser Stelle entstand m. Briefwechsel mit Dr. Ernst, der in einem Essay über Peter die Anfrage Karls an Goethe mit einer kritischen Bemerkung begleitet und nur kluge | Berechnung geweckt hatte, die möglicherweise hinter Karls Briefe stünde. Das habe ich aus tiefster Überzeugung bestritten! Was Karl und die anderen Kinder Peters vermutet haben, ist Familienüberlieferung gewesen u. geblieben – bis auf mich, der sie zerstört hat. Entstanden ist, entstehen konnte u. mußte die Vermutung einer illegitimen Geburt bei den Kindern Peters, die ihren Vater mit Bewußtsein nicht oder kaum gekannt haben u. nur eben hörten, was für ein seltsames Leben im Kreis der Großen u. unter der Betreuung großer Männer ihr Vater gehabt hat. Alles, was wir heute über Peter wissen, haben seine nächsten Angehörigen, seine leiblichen Kinder, nicht gewußt u. nicht wissen können! Das muß man sich vor Augen halten, um gerecht zu urteilen. Und Dr. Ernst hat mir darin recht gegeben! – So entstand aus der Differenz die Freundschaft zwischen uns. | Die Marineliedblätter habe ich selbst noch nicht. Ich werde die Bestellung wiederholen lassen. Nun muß ich aber schließen; die Tagesarbeit wartet. Ich grüße Sie herzlichst und mit allen guten Wünschen für Sie, Ihren Mann und die Söhnlein. Gott behüte Sie! 262

Zuerst in: Singende Kirche, Heft 1; Singende Kirche. Ausgewählte Lieder, Nr. 3. Abgedruckt in: Im Licht der Ewigkeit, aaO. 184.

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Stets Ihr Arno Pötzsch Gestern bekam ich die ersten Nachrichten aus Goslar. Der Umzug war mit viel Unruhe, Schwierigkeiten u. Mühen verbunden, ist aber nun geschafft, u. m. Frau ist froh, nun im ausreichenden Wohnraum, der freundlich u. warm ist, ihre 4 Kinder um sich zu haben. Ich habe Anni geschrieben, daß sie, so bald sie einmal abkommen kann, nach Goslar fahren möge, um m. Frau zu besuchen. Nr. 51 [Handschriftl.] 30450 19. Nov. 1941 Liebe Frau Neubauer! Heute erhielt ich Ihren Brief vom 15. Nov., der schon mein Geburtstagsbrief ist263 u. den Empfang meines Geburtstagsbriefes für Sie bestätigt. Wir gratulieren uns zeitig in diesem Jahre! Nun, besser, als wenn am Geburtstag noch kein Brief vom andern da wäre! Haben Sie Dank für Ihr herzliches Gedenken u. für Ihre guten Wünsche! Dank für den in der abendlichen Stille geschriebenen Brief u. für Ihr Lichtlein; es soll am 23. leuchten. Die beigefügten Diedrichsbriefe waren allerdings eine Überraschung.264 Sie meinten es gut; ich hätte die Verse nicht weitergegeben, ja, ich fürchte mich vor der Kritik großen Öffentlichkeit. Es sind ja nur kleine Dinge, die ich schaffe, u. ich gebe sie höchstens meinen Freunden. Im übrigen genügt es mir, wenn sie in meinem Tagebuche stehen. Wenn ich einmal tot bin, dann mag einer ein weniges daraus zusammentragen – wenn es sich dann noch lohnt … Ich habe heute wieder ein erschütterndes Stück dieses unsäglich schweren Lebens durchlebt: eine Abendmahlsfeier in einer Zelle des Gefängnisses mit einem zum Tode verurteilten Soldaten und seiner Frau, die nach Holland kommen durfte, um ihren Mann noch einmal zu sehen. Die Frau hatte mich um dieses Abendmahl gebeten. Diese Frau hat zu Hause 6 kleine Kinder. Diese Frau ist 33 Jahre alt und ist in diesen letzten Wochen völlig ergraut, ist eine alte Frau geworden. So ist das Leben; menschlich steht man armselig, als Bettler, in ihm. Daß man Botschafter eines barmherzigen Gottes sein darf, das allein ermöglicht einem das Reden in solcher Finsternis … | Wollen Sie mir besorgen: 263

Pötzsch hatte am 23.11. Geburtstag. Käthe Neubauer hatte Texte von Pötzsch an den Diederichs-Verlag in Jena geschickt (vgl. Matthes, 78). 264

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1) Walter Lotz, „Christliches Hausbuch“, Staudaverlag Kassel,265 Leinenband. 2) Schröder, „Matth. Claudius u. die Religionsgeschichte“ Verl. Ernst Reinhardt, München.266 3) Maltzahn,„Bereitschaft“267 Verlag ? 4) Hans Ehrke, „Der Stumme“268 Verlag ? [mit Bleistift: Westermann] 5) ? [mit Bleistift: Seppänen] „Marku [sic!] u. sein Geschlecht“269 (Kennen Sie das Buch?) Verlag ? [mit Bleistift: Langen Müller] 6) Mechow, „Vorsommer“270 Verlag ? Die Bücher 3-6 wurden mir empfohlen, darum würde ich sie gern kennen lernen. Wenn sie Ihnen als wirklich gut bekannt sind, dann nehme ich sie gern, um hier auszuleihen oder weiterzugeben. Haben Sie Bedenken, bitte ich um Ihre Äußerung. Für heute grüße ich Sie herzlich, wenn auch mit schwerem Herzen, auf dem die Last dieses Tages liegt.

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Walter Lotz, Christliches Hausbuch. Unterweisungen und Betrachtungen für den Tag, die Woche, das Jahr und die verschiedenen Gelegenheiten des Lebens, Kassel 1940. Der Verfasser (1909-1987) war dt. ev. Theologe, ein bedeutender Liturgiker und 19531974 Pfarrer im Ostbezirk der Universitätskirche in Marburg. Seit 1935 gehörte er der Ev. Michaelsbruderschaft an. 266 Christel Matthias Schröder, Matthias Claudius und die Religionsgeschichte, München 1941. Schröder (1915-1996) war ev. Pastor und Literaturwissenschaftler. 267 Irmgard von Maltzahn, Bereitschaft. Erzählungen, Wien 1940. Die Autorin (1893?) gehörte dem rassistischen Jungnordischen Bund an und gab 1933 die nationalsozialistische Zeitschrift „Das Deutsche Mädel“ heraus. Ein Jahr später erschien ihre Propagandaschrift: Deutsche Mädel auf Vorposten, Leipzig 1934. Sie war seit 1949 verheiratet mit dem ostpreußischen Gutsbesitzer Franz Josef von Löbbecke. Auszüge aus den Aufzeichnungen aus ihrem Leben 1900-1945 in: Norbert Buske, Das Kriegsende in Demmin 1945. Berichte. Erinnerungen. Dokumente, Landeskundliche Hefte. Landeszentrale für Politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin, Helms 1995. 268 Hans Ehrke, Der Stumme. Erzählungen, Hamburg 1936. Der Autor (1898-1975) war dt. Schriftsteller und schrieb überwiegend in plattdeutscher Sprache. 269 Unto Seppänen, Markku und sein Geschlecht, München 1938. In dieser Romantrilogie beschreibt der finnische Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker Seppänen (1904-1955) humorvoll das kleinbürgerliche Leben in seiner Heimat. 270 Karl Benno von Mechow, Vorsommer. Roman, 1933. National-konservativer Autor (1897-1960) aus alter Offiziersfamilie.

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Grüßen Sie Ihre Drei! Für das nette Bild Ihres Jüngsten muß ich doch noch eben danken; wie groß ist das Büblein nun schon geworden u. wie freundlich schaut er in die Welt, der sein Kinderherz noch vertrauen darf! Stets Ihr Arno Pötzsch Herzl. Dank f. W. Raabe „Lebensregeln für mancherlei Kostgänger Gottes“271 – ein köstlicher Titel! Nr. 52 [Handschriftl.] 30450 24. Nov. 1941 Liebe Frau Neubauer! Es ist schon recht spät, aber wenn ich nicht wenigstens kurz schreibe, vergeht wieder ein ganzer Tag und vielleicht der folgende auch noch ohne einen Brief an Sie. Die Tage sind so ausgefüllt u. es bleibt eigentlich keine Zeit für mich selbst übrig! Auch der Geburtstag verging im Grunde zu rasch, ohne das ausgiebige besinnliche Verweilen, das man sich an einem solchen Tage wünscht. Am Morgen zündete ich mir Ihr Lichtlein an u. las dann die Geburtstagsbriefe u. öffnete die wenigen Päckchen, an denen Sie einen unerhört großen Anteil hatten. Sie schreiben mir heute, daß ich Sie mit m. Geburtstagspäckchen verwöhnt habe. Ach, liebe Frau Neubauer, wer verwöhnt wohl wen? Was sind m. klein[en] winzigen Dinge gegen Ihre großen Geschenke? Am Freitag war, von Wilhelmshaven kommend, das große Bücherpaket gekommen, dem ich für mich persönlich den Seeckt u. den Ferster272 entnahm. Sie haben mich da wirklich zu reich beschenkt! Ich kann Ihnen nur aufs herzlichste Dank sagen! Wie aber soll ich so umfängliche Gaben je ausgleichen? – Ich freue mich außerordentlich auf alle die Bücher, die bei ihrem Umfange ja freilich viele Abende füllen werden. Da kam gestern noch der ungeheure Kolbenheyersche Paracelsus.273 Ich bin glücklich über alle diese „Neuerscheinungen“ meiner Bücherei. Es sind immer wieder wesentliche, bleibende Dinge, die da in meinen Lebensbereich treten u. das ist so schön! – Auch auf u. über den Bode,274 von dss. [= dessen] Umfang ich keine Ahnung habe, freue ich mich sehr; ich bin voll Spannung im Blick auf die von Ihnen schon gelese271 271 WilhelmRaabe, Raabe,Lebensregeln Lebensregeln für für mancherlei Raabes Wilhelm mancherlei Kostgänger KostgängerGottes. Gottes.Aus Aus Raabes Schrifttumdargeboten dargeboten von von Theodor Theodor Kappstein (Münchner Lesebogen Schrifttum Lesebogen Nr. Nr. 56), 56),München München o.J. o.J. 272 Nicht zu ermitteln! 273 Erwin Guido Kolbenheyer, Paracelsus. Romantrilogie (zuerst 1917-1925), München 1941. 274 Vgl. Anm. 261.

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nen Stellen, die meinen Peter betreffen. | Es ist rührend, wie viel Nachdenken Sie an ihn setzen, der Ihnen doch ein Fremder ist. Ihre Frage ist berechtigt: Hat Peters Frau nichts Gewisses über ihres Mannes Herkunft gewußt, das sie hätte an die Kinder weitergeben können? Ich bin überzeugt, daß sie nichts Gewisses darüber wußte, wie ich auch glaube, daß Peter selbst nicht im Klaren darüber war. Er war, als er in die neue, so ganz andere Atmosphäre versetzt wurde, ein vaterloses Kind von etwa 14, nach Dr. Ernsts Berechnung von noch weniger Jahren. Die Frage, ob der Hans im Baumgarten sein wirklicher oder nur sein Pflegevater gewesen ist, konnte er schwerlich mit Sicherheit entscheiden. Tatsache bleibt, daß alle Kinder Peters, z.B. außer Carl auch Peters Tochter Johanna, die Goethes Patenkind war, unter der Frage nach der Herkunft ihres Vaters, nach dem Geheimnis, das ihren Vater umgab, gelitten haben. Ich breche hier ab; man findet hier nicht leicht ein Ende. Sehr warte ich auf den II. Teil des Ernstschen Buches u. auf das Ganze. – – – Über Gnade sagte mir einmal ein junger chinesischer Mediziner: „Wenn wir etwas erreicht haben, sagen wir nicht: Seht, was ich geleistet habe!, sondern: es war alles Gnade. Wenn wir aber verkehrt gehandelt haben, dann sagen wir: es war meine Schuld.“ Ich könnte es nicht besser sagen! Die Bibel sagt das ungeheure Paradoxon: Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht u. Zittern! u. fährt dann fort: denn Gott ist es, der in euch wirket, beides, das Wollen und das Vollbringen! 275 – Wir sollen uns bemühen, wahrlich, wir sollen’s! | Und wenn wir’s konnten, dann bekennen wir demütig-dankbar die Gnade Gottes! Auch die Herzensunruhe, ja, die Qual der Unruhe ist ja nichts anderes als Gnade! Ungnade, Gnadenlosigkeit – das wäre der Tod, die tödliche Kälte des Nichtmehrfragens. Wahrlich, es ist nicht unser Verdienst, daß wir nach Gott fragen, um Gott uns mühen und quälen müssen. Sie haben ganz recht: in dem Augenblick, in dem wir meinen[,] Gott zu haben (zu besitzen), hätten wir ihn verloren. – Auch ds. Andeutungen muß ich nun abbrechen. Es ist spät nachts geworden. Kann ich noch bekommen „Die Stunde des Christentums“? 276 Und: „Sinnbilder des Lebens in der deutschen Kunst“, Kl. Bücherei, Langen [Müller]277 275

Phil 2,12-13. Diesem Pauluswort ist der Titel von Sören Kierkegaards Schrift „Furcht und Zittern“ (1843) entliehen. 276 Die Stunde des Christentums. Eine deutsche Besinnung, hrsg. von Kurt Ihlenfeld, Berlin 1937. Die Sammlung enthält u.a. Texte von Werner Bergengruen, Ricarda Huch, Jochen Klepper und Rudolf Alexander Schröder. Der Herausgeber Ihlenfeld (1901-1972) war ev. Theologe und Pfarrer. 1933 wurde er in Berlin Verlags- und Redaktionsleiter der Zeitschrift Eckart. In dem von ihm gegründeten Eckart-Kreis sammelte sich eine Bewegung junger Autoren zur Pflege christlicher Literatur.

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Und: Hans Preuß „Das Bild Christi im Wandel der Zeiten“ (neuste Auflage!), Deichertsche Verlagsbuchhandlung Dr. Scholl, Lpzg. 278 Gibt es Totensonette von Rilke in der Inselbücherei? 279 Bitte 2 Ex. Görres, „Von der Last Gottes“, Herder, Freiburg. 280 Auf Ihren Weihnachtstisch möchte ich legen: Seidel-Tönnies „Das Antlitz vor Gott“ (Hoffmann u. Campe-Verlag, Hamburg 1941[ )].281 Bitte, behalten Sie es auf meine Rechnung. Geschenkt bekam ich gestern: Josef Nyirö „Denn keiner trägt das Leben allein“, Hans v. Hugo- Verlag;282 ich darf zur Bestellung raten, obgleich ich noch nicht gelesen habe. Die | Besprechungen sind sehr gut. Diasporaverhältnisse, Verwandtschaft mit „Und dennoch blüht die Erde“.283 Ich grüße Sie sehr herzlich! Grüßen Sie, bitte, Ihren Mann! Stets Ihr Arno Pötzsch

277 277

Kunst, München München 1938. 1938. Hubert Schrade, Sinnbilder des Lebens in der deutschen Kunst, Einhundertsiebenunddreißig Hans Preuß, Das Bild Christi im Wandel der Zeiten. Einhundertsiebenunddreißig Bilder auf 112 Tafeln gesammelt und mit einer Einführung sowie Erläuterungen Erläuterungen verseversehen, Leipzig 1932. Preuß (1876-1951) war lutherischer Theologe und Kirchenhistoriker. Seit 1914 lehrte er als Prof., seit 1923 als Ordinarius an der Universität Erlangen. Erlangen. Er Er rief rief 1932 und 1933 zur Wahl Adolf Hitlers auf und schloss sich den „Deutschen „Deutschen Christen“ Christen“ an. an. 279 279 Rainer (1922), die dielaut lautUntertitel Untertitelals als„Grabmal“ „Grabmal“ RainerMaria Maria Rilkes Rilkes Sonette Sonette an Orpheus (1922), derderjung Wera Ouckama OuckamaKnoop Knoop(1900-1919) (1900-1919)ge-gejungananLeukämie Leukämie verstorbenen verstorbenen Tänzerin Wera widmet sind. widmet sind. 280 Ida Friederike von Görres, Von der Last Gottes. Ein Gespräch über den Menschen und den Christen, Freiburg 1936. Die Autorin (1901-1971), eine geb. Gräfin Coudenhove-Kalergi, war dt. Schriftstellerin, die in mehreren Werken Themen der katholischen Hagiographie behandelte. 281 Heinrich Wolfgang Seidel / Ilse Tönnies, Das Antlitz vor Gott. Die Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen, Hamburg 1941. Seidel (1876-1945) war ev. Pfarrer und Schriftsteller, seit 1907 mit seiner Cousine, der Schriftstellerin Ida Seidel (1884-1974) verheiratet. Ilse Tönnies (1902-?), Dr. phil., war Lektorin, Lyrikerin und Essayistin und arbeitete seit 1936 in der Berliner Redaktion des Verlags Hoffmann und Campe, zuletzt als deren Leiterin. Neben Gedichten veröffentlichte sie Aphorismen unter dem Titel „In den Spiegel geworfen“ (Berlin 1978). 282 Jozsef Nyirö, Denn keiner trägt das Leben allein, Berlin 1941. Der deutsche Romantitel zitiert Friedrich Hölderlins hymnischen Entwurf Die Titanen. Nyirö (18891953) war ein völkischer ungarischer Schriftsteller und rechtsextremer Politiker. In seinem literarischen Werk zeigt er Menschen, die in Harmonie mit der Natur leben. Die Regierung Viktor Orbáns erklärte ihn vor einigen Jahren zum bedeutenden Volksdichter und machte seine Schriften zur Pflichtlektüre an ungarischen Schulen. 283 Vgl. Anm. 224. 278 278

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Nr. 53 [Masch. Rundbrief] Marinepfarrer Arno Pötzsch Feldpost 30 450 im Dezember 1941. Meine Freunde! Dem Liedheft „Singende Kirche“, mit dem ich vor einigen Wochen die Freunde grüsste, lasse ich heute ein 2. Heft, das Tischgebete enthält, folgen. Auf das erste Heft hin habe ich eine Menge sehr lieber Briefe und manches freudig zustimmende Wort, auch manche Gabe für meine Soldatenseelsorge erhalten; ich danke herzlich dafür. Möge auch das 2. Heft, das wie das erste der Gemeinde dienen soll, zu diesem Dienste angenommen werden! Hinter seiner Veröffentlichung steht der gleiche Freundeskreis der deutschen Pfarrer und Gemeinden in den Niederlanden, steht vor allem – seltsam und doch nicht von ungefähr – die durch den Krieg am schwersten betroffene Gemeinde Rotterdam mit ihrem Pfarrer. Die Vertonung der schlichten Verse stammt wieder von dem Amsterdamer Organisten Jacques Beers, dessen 1938 im Bärenreiterverlag erschienenes Büchlein „Neue geistliche Lieder“ vielleicht manchem bekannt ist. Das Tischgebet, einst eine Selbstverständlichkeit, ist den heutigen Menschen nahezu ganz abhanden gekommen, mit der frommen Sitte aber weithin auch die Andacht und Ehrfurcht vor dem täglichen Brot. Ich habe versucht, zunächst für die Tischgemeinschaft meines eigenen Hauses, in der Sprache unserer Zeit und doch im Einklang mit der Einfalt der Tischgebete der Väter der unveräusserlichen Besinnung vor der Gnade des täglichen Brotes einen schlichten Ausdruck zu geben. Vielleicht vermögen die in diesem Büchlein gesammelten Tischworte, die ich, weil sie betend entstanden sind, nur zögernd in andere Hände weitergebe, ein wenig mitzuhelfen, wieder betende Tischgemeinden zu bilden. Das beigefügte Heft bitte ich als persönlichen Gruss zu betrachten. Weitere Hefte stehen gegen einen frei gewählten Betrag, der der Unkostendeckung und darüber hinaus meiner Soldatenseelsorge zugute kommt, zur Verfügung. Ein 3. Heft, zu dessen Herausgabe uns die überraschend freundliche Aufnahme des 1. Heftes in Kirche und Gemeinde ermutigt hat, soll mit einer Reihe von Liedern bald folgen und unsere gemeinsame Veröffentlichung zunächst abschliessen. Während einer längeren Krankheitspause habe ich dem einen oder anderen einen persönlichen Brief schreiben können, wieder ganz im Dienst, kann ich es nicht mehr. Ich bitte, auch diesen vervielfältigten Brief als gültigen Ausdruck unveränderter Verbundenheit anzunehmen. Gott gebe und erhalte uns mitten im Kriege den Frieden des Herzens!

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Mein Advents- und Weihnachtsgruss ist der des Johannesevangeliums: Das Licht scheint in der Finsternis! Euer Arno Pötzsch. [Handschriftlicher Zusatz:] Mit sehr herzlichem Gruß, stets Ihr Arno Pötzsch. Das 2. Heft ist heute erschienen u. zwar erst in beschränkter Zahl; so bald mein Vorrat größer ist, sende ich mehr. Nr. 54[Handschriftl.] 30450 8. Dez. 1941 Liebe Frau Neubauer! Endlich komme ich wieder einmal zum Schreiben! 4 Tage war ich jetzt unterwegs, alle Tage sind völlig mit Arbeit ausgefüllt. Seit meinem Geburtstag habe ich noch keine stille Stunde gehabt. – Haben Sie Dank für Ihre beiden letzten Briefe u. das Kränzlein, das freilich nicht mehr zum Geburtstag, sondern eine Woche darauf u. leider ziemlich zerdrückt in m. Hände kam. – Daß Sie mir eine „Ansichtssendung“ zusammengestellt haben, ist sehr lieb von Ihnen; hoffentlich kommt sie noch vor dem Fest. Ich werde sicher alles behalten u. Weihnachten mit verteilen. – Daß auch Ihr Lachen leer wird, ein schmerzliches Zeichen der Zeit! Das Buch hat in den letzten Jahren manches Fehlende ersetzen können; daß es zur Ware wird, ist freilich bedauerlich. – Wegen meines Weihnachtsbuches für Sie bin ich jetzt ganz im Ungewissen. Über der Fülle der Arbeiten habe ich vergessen, ob ich Ihnen den Titel schon nannte u. Sie bat, das Buch kommen zu lassen. Das Buch heißt „Das Antlitz vor Gott“, von Heinr. Wolfg. Seidel u. Tönnies; Hoffmann u. Campe-Verlag, Hbg. Das Buch ist verwandt mit der kleinen Meditation, die ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag schrieb. Dr. Ernst-Zürich schrieb mir in einem vom 22. Nov. datierten, vor einigen Tagen eingetroffenen Briefe, das Peterbuch werde demnächst ausgeliefert, das geb. Exemplar koste 5,70 RM, das geheftete 4,80 RM. Dr. Ernst bietet mir an, die von mir gewünschten Exemplare mit 35% Autorenermäßigung zu übernehmen, so daß ich nur 65% zu bezahlen hätte. Das wage ich nun freilich nicht anzunehmen; ich kann dem Verfasser dieses Buches, an dem kaum | jemand „verdienen“ wird, unmöglich zumuten, auf jeden „Gewinn“ zu verzichten. Es wäre mir darum ganz lieb, wenn Sie einmal eine Anzahl Ex. bestellen würden, etwa 10 oder 20 Stück (nur gebunden!). Ich würde diese Ex. dann von Ihnen übernehmen, um sie meinen Verwandten abzugeben. Würde das zu einem Stückpreis von 5.- RM möglich sein oder

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müßte dann am vorgeschriebenen Ladenpreis festgehalten werden? – Ich bin nun gespannt, ob die Bücher überhpt [= überhaupt] nach Dtschl. kommen können! Ich nenne Ihnen noch einmal Titel u. Verlag: Fritz Ernst, „Aus Goethes Freundeskreis“, Eugen Rautsch-Verlag, Erlenbach-Zürich. Ich bin jetzt gespannt auf Ihre Antwort u. Ihren Erfolg. – Das Maß meiner Arbeitsfülle können Sie daraus ermessen, daß ich Dr. Ernsts Brief noch nicht beantwortet u. Ihnen noch nicht geschrieben habe, obgl. [= obgleich] nun bereits 1 Woche seit der Ankunft des Schweizer Briefes vergangen ist. – Ich fürchte, daß ich bis nach Weihnachten kaum noch zum Schreiben komme. Das tut mir leid. Seien Sie jedenfalls immer meines steten und herzlichen Gedenkens gewiß. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir. Ihrem großen Sohn geht es hoffentlich wieder besser oder auch ganz gut. Ihr Arno Pötzsch Nr. 55 [Handschriftl.] 30450 17. Dez. 1941. Liebe Frau Neubauer! Heute erhielt ich über W’haven [= Wilhelmshaven] 2 Pakete mit Verteilbüchern (Bertelsmann-Feldausgaben, Hanseatenbücherei, Wiecherts „treue Begleiter“284 u.a. [ )]. Ich bin sehr glücklich, daß ich diese Schätze von Verteilschriften noch rechtzeitig bekommen habe u. behalte selbstverständlich alles, wenn ich auch noch nicht weiß, wie ich’s bezahlen soll; meine Soldatenkasse ist immer leer. Haben Sie Dank für die 2 gr. Pakete, die gerade das Richtige u. Wichtige brachten! Sie fragten kürzlich, ob ich den Bode erhalten habe. Er lag heute nicht bei, also befindet er sich wohl bei einer anderen Sendung oder sandten Sie ihn allein auf die Reise? Jedenfalls hoffe ich, daß er nicht verloren ist, sondern noch kommt; ich bin so gespannt auf seine Nachrichten | über Peter. Die kleinen Klebzettel mit Anschrift oder Absender, die in Holl. [= Holland] sehr beliebt sind, finden vielleicht auch bei Ihnen Verwendung. Ich ließ sie für Sie und Ihren Mann mit anfertigen[,] als ich solche Klebzettel für m. Frau u. mich bestellte. Sollten Sie noch mehr solche Zettel gebrauchen können oder auch welche mit anderem Aufdruck, kann ich sie gern besorgen; in diesem Format sind sie ganz billig. Die beiliegenden Zettel aber bitte ich Sie ohne Rechnung anzunehmen. Mit herzlichem Gruß – in Eile – 284

Ernst Wiechert, Von den treuen Begleitern, Hamburg 1939. Vgl. Anm. 186.

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Ihr Arno Pötzsch Nr. 56 [Handschriftl.] 30 450 25. Dezember 1941 Liebe Frau Neubauer! Den ganzen Tag unterwegs gewesen, Weihnachtsgottesdienste gehalten u. Lazarette besucht! In meinem Quartier erwartete mich Ihr Brief vom 19. Dez., nachdem ich Ihr Päckchen mit Paul Ernst’s Spitzbubengeschichten schon vor etlichen Tagen empfangen, aber natürlich erst in der Hl. Nacht geöffnet hatte. Haben Sie Dank für die Freude, die Sie mir durch Ihr Gedenken u. Ihre Gabe bereitet haben! Die Geschichten werden vorm Einschlafen gelesen. – Daß mit dem Verlust des Bode gerechnet werden muß, ist mir aus Ihrem heutigen Briefe mit großem Schrecken klar geworden. Da Sie bisher nichts Bestimmtes über den Zeitpunkt der Absendung geschrieben hatten, war ich ganz beruhigt u. meinte, das Buch werde demnächst eintreffen. Wenn es nun verloren ist, bin ich sehr traurig; für mich hatte es um seiner Peternachrichten besonderen Wert u. ich freute mich sehr darüber, daß ich es von Ihnen geschenkt bekam. Hatten Sie den Bode allein abgeschickt oder mit anderen zusammen? Wenn doch das Buch, vielleicht nach einer Irrfahrt, doch noch ankäme!! – Heute fand ich ein Päckchen von Frau v. Stosch285 vor. Drinnen neben Weihnachtsgebäck die Familienbriefe des Wandsbecker Boten. 286 Da habe ich mich herzl. gefreut – über v. Stoschs, die meiner so freundlich gedachten, und über Sie, deren freundlicher Rat gerade diese Gabe gewählt und veranlaßt hatte. An Büchern bekam ich vor allem: Steinbach, Anweisung zum Leben287 (von m. Frau; Steinbach hatte in Dresden auf unsrer Dienstkonferenz im August gesprochen); 2) Pfäfflins Ausgabe der Albert Schweitzerwerke288 u. 3) ein wissenschaftl. Buch über den für die Geschich-

285

Vgl. Einleitung, zum Briefwechsel. Möglicherweise Matthias Claudius, Briefe, 2 Bde., Band 1: Briefe an Freunde; Band 2: Asmus und die Seinen, Briefe an die Familie, hrsg. von Hans Jessen und Ernst Schröder, Berlin 1938. 287 Ernst Steinbach, Anweisung zum Leben, München 1941.Steinbach (1906–1984) war dt. evangelischer Theologe, zunächst 1933-1945 als Pfarrer tätig, nach dem Krieg Prof. für Religionsphilosophie, Sozialethik und Christliche Gesellschaftslehre in Tübingen. 288 Albert Schweitzer, Waffen des Lichts. Worte aus den Werken von Albert Schweitzer, ausgewählt von Fritz Pfäfflin, Heilbronn 1940. 286

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te des Christentums bedeutsamen röm. Kaiser Konstantin. 289 Ihre Büchersendungen sind mir sehr hilfreich gewesen; ich | habe manche Freude damit bereiten können z.B. beim Chef des Stabes gestern abd. mit Alverdes Pfeiferstube.290 Ich bin sehr müde; die Augen wollen mir zufallen. Morgen früh noch einmal Weihnachtsgottesdienst auswärts. Diese Tage sind wahrlich anstrengend – u. doch auch sehr schön. Grüßen Sie Ihre „3 Männer“ herzlich wieder. In treulichem Gedenken u. mit dem Wunsch, daß Gott Sie allesamt behüte u. unter seinem Segen führe im ganzen neuen Jahre[,] bin ich Ihr Arno Pötzsch Nr. 57 [Handschriftl.] 26. XII. 1941 Liebe Frau Neubauer! Ihren lieben langen Brief kann ich nur mit einem kurzen beantworten; es gibt zu Weihn. [= Weihnachten] besonders viel zu tun. Daß die Blumenzwiebeln gut in Ihre Hände kamen u. Sie erfreuten, erfreut auch mich. Mögen sie nun schön blühen! Daß Neubauers einmal nicht meine Buchhändler sein könnten, glaube ich nicht; da sehen Sie wohl zu schwarz. Ihre Frage nach den Frontbuchhdlg. [= Frontbuchhandlungen] habe ich nicht übergangen, sondern vergessen. Mir ist überhpt. noch keine Frontbuchhdlg. begegnet, allerdings gibt es in Holland einige dtsch. Buchhdlgen [= Buchhandlungen] u. holländische, die dtsch. Bücher führen, die Buchhdlg. im Haag habe ich auch nicht gesehen u. Moritz Jahn291 nicht gehört; ich komme ja zu nichts für mich selbst. Nur ganz, ganz selten habe ich einmal ein dtsch. Buch hier in Holland gekauft, nur eben jetzt zu Weihnachten, weil ich ein paar klei- | ne Sachen zum Verschenken u. Verteilen brauche u. fürchte, daß ich von Ihnen keine Sendung mehr erhalte. Angekommen ist bisher nur die Sendg. [= 289 289 von Karl Karl Hönn, Hönn, Der Hinweis ist nicht eindeutig. Vielleicht meint Pötzsch das Buch von 2 Konstantin der Große. Leben einer Zeitenwende, Leipzig 21941. 1941. Der Autor (1883-1956) war Althistoriker und Kunsthistoriker. 290 290 Vgl. Anm. 189. 291 291 Hier könnte der Lehrer und Mundartdichter Moritz Jahn (1884-1979) gemeint sein, der sich, obwohl selbst kein Ostfriese, die ostfriesische Mundart vollkommen aneignete. aneignete. Das Lieblingsthema seiner Werke istdasLebenvonSonderlingenundihrScheiternanderGeist das Leben von Sonderlingen und ihr Scheitern an der Gesellschaft. Den Nationalsozialismus er grundsätzlich. Er trat der sellschaft. Den Nationalsozialismus bejahte bejahte er grundsätzlich. Er trat 1933 der1933 NSDAP NSDAP bei,aber wurde zwei Jahreaus später aus derausgeschlossen, Partei ausgeschlossen, und blieb Mitbei, wurde zweiaber Jahre später der Partei und blieb Mitglied im glied im NS-Lehrerbund. 1941 er an von Joseph Goebbels initiierten Weimarer NS-Lehrerbund. 1941 nahm er nahm an dem vondem Joseph Goebbels initiierten Weimarer DichDichtertreffen tertreffen teil. teil.

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Sendung] mit den „11 preuß. Offizieren“ u. den 2 Schweitzer Kindheitserinnerungen u. 3 der Päckchen mit dem Bärenreiterbüchlein „Und setzet Ihr nicht das Leben ein“, 292 dem noch das hübsche Skizzenbuch u.a. beilag. – Die dtsch. Buchhandlung in Amsterdam hat geradezu ungeheure Vorräte an dtsch. Büchern. Ich glaube, dort kauft mancher, um nach Dtschl. zu schicken! So sind die Zeiten geworden! Der Bode ist noch nicht eingetroffen. – Daß Sie den Dr. Ernst, „Aus Goethes Freundeskreis[“] bestellt hbn [= haben], freut mich, u. ich danke Ihnen für den selbstlosen Dienst, den Sie mir u. meinem Verwandtenkreise leisten wollen. Ich bin nun sehr gespannt auf Ihre Nachricht vom Eintreffen der ersten 20 Exemplare. Vielleicht ler- | nen Sie das Peterbuch eher kennen als ich. Ich sende Ihnen dann die Anschriften meiner Verwandten u. danke Ihnen schon jetzt für alle Mühe des Verpackens u. Versendens. Daß Sie m. für Sie bestimmtes Weihnachtsbuch, Seidel-Tönnies „Das Angesicht [sic!] vor Gott“,293 wahrscheinlich nicht mehr bekommen, ist mir sehr, sehr leid; hoffentlich läßt es nicht zu lange auf sich warten. Vom Peterbuch bitte ich Sie ein Ex. als von mir „geschenkt“ anzunehmen; Ihren Namen schreibe ich dann gelegentlich einmal hinein. Die Neue Schau u. das Kleinod [?]habe ich zwiegeteilt erhalten! Kluge Frau! Herzlichen Dank!! Für alles, alles danke ich Ihnen! Alles Gute u. schöne für Weihnachten – dennoch, dennoch! Ich grüße Ihre beiden Ältesten! Stets Ihr Arno Pötzsch Nr. 58 [Handschriftl.] 30 450 28. Dezember 1941 Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für Ihre Karte vom 23. Dez.! Daß das 2. Heft, die Klebezettel usw. Sie erfreut haben, freut auch mich. Zusammen mit Ihrer Mitteilung, daß das Peterbuch erst 1942 nach Deutschland geliefert werde u. „zwar nur bis 10 Ex.“ (auf einmal oder an einen Buchhändler?), erhielt ich das vom Verfasser überreichte Exemplar durch meine Frau zugeschickt. Das mit 25 Bildern ausgestattete Buch sieht sehr gut aus, u. es bedeutete eine ganz große Freude für mich, als ich den schmalen, aber für mich hochwichtigen Band nun vollendet in meinen Hän292 293

Vgl. Anm. 257. Gemeint ist: Das Antlitz vor Gott. Vgl. Anm. 281.

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den hielt. – Ich werde nun an m. Verwandten schreiben u. dann Sie, liebe Frau Neubauer, nach Eingang der Bestellungen bitten, die vorhandenen Exemplare an die noch mitzuteilenden Anschriften zu senden. Mit sehr großer Freude habe ich das in einer Ihrer letzten Sendungen vorgefundene Bändchen von Manfred Hausmann „Einer muß wachen – 6 Versuche“, Verlag Fischer-Bln.,294 gelesen. Hoffentlich können Sie mir da noch 10 Ex. schicken! Sie müssen’s auch selbst lesen! Feine Betrachtungen über Liebe, Ehe usw. Daß Sie mir den Bode nun nochmals besorgen wollen, ist sehr lieb von Ihnen; hoffentlich hat Ihr Bemühen Erfolg! Ich grüße Sie herzlichst, die Ihren mit Ihnen. Gott behüte Sie im neuen Jahre! Ihr Arno Pö. In Eile! Herzl. Dank auch für alles, was Sie den Meinen gesandt haben! M. Frau schrieb heute davon. Nr. 59 [Handschriftl.] 30 450 15. Januar 1942 Liebe Frau Neubauer! Wie lange schon wollte ich Ihnen schreiben, aber es bleibt einfach keine Zeit dazu. Immer Arbeit u. viel schwere Erlebnisse, die Kraft verbrauchen. – Haben Sie Dank für Ihr liebes u. getreues Gedenken! Ich antworte nur eben mit einem „Lebenszeichen“. Der Bode ist nicht mehr gekommen. Von der Feldpost hörte ich, daß in Hbg. und Hannover durch Luftangriffe im November viele Päckchen vernichtet wurden; da wird Ihr Päckchen dazwischen sein. Bücher sind unterdessen nicht eingetroffen. Den Briefwechsel KW II. [= Kaiser Wilhelm II.] – Chamberlain besitze ich nicht; er wird mir sehr wertvoll sein. – Das Zitat 294

Manfred Hausmann, Einer muß wachen. Sechs Versuche, Berlin 1941. Hausmann (1898-1986) war dt. Schriftsteller, Journalist und Laienprediger. Während der NS-Zeit veröffentlichte er eine Reihe von Büchern, Gedichten und Erzählungen. Obwohl er sich von ihrer Ideologie distanzierte, war sein Verhältnis zu den Machthabern ambivalent. 1947 schrieb er an Brigitte Bermann Fischer, die Tochter des Verlegers Samuel Fischer: „Es geht uns dreckig. Aber ich vergesse nie, warum es uns dreckig geht. Und ich vergesse nie, daß auch ich mit daran schuld bin. Bitte glauben Sie mir das! Und bitte denken Sie daran, daß alles, was ich Ihnen schreibe, das Gefühl der Schuld zur Voraussetzung und zum Untergrund hat“ (Brigitte B. Fischer, Sie schrieben mir oder: Was aus meinem Poesiealbum wurde, München 1981, 306).

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über Peter in dem Buch über Frau v. Stein hat mich überrascht u. sehr interessiert. Ich würde das Buch gern | anschaffen. – Das Buch über Vierzehnheiligen,295 das dem Bücherpaket über Wilh. haven beilag (es ist also doch noch ein Paket seit m. letzten Brief gekommen), hat mich sehr erfreut; wie vertraut ist mir das alles! – Kathrin schrieb mir beglückt über den Beschäftigungskalender, den Sie ihr geschickt haben; sie hat schon verschiedenes gebastelt u. soll von mir beim nächsten Urlaub betrachtet werden. Sie schreibt so lieb, die kleine Große! – Daß Sie Frau v. Stosch zu den Claudiusbriefen rieten, war sehr gut; ich freute mich sehr. Denken Sie: mein Geburtstagstisch, der dann Weihnachtstisch wurde, ist ein wüster Haufe; alles nur eben einmal flüchtig angesehen! Keine Zeit, keine Zeit für mich selbst! Ich grüße Sie sehr herzlich u. gedenke ganz getreulich Ihrer, Ihres Mannes u. Ihrer Kinder. Ihr Arno Pö. Nr. 60 [masch. Brief] Marinepfarrer Arno Pötzsch Feldpost 30 450

28. Januar 1942. Frau Käthe N e u b a u e r Cuxhaven Schillerstraße 33

Liebe Frau Neubauer! Mein persönlicher Briefwechsel ruht wieder einmal völlig. Es bleibt einfach keine Zeit für mich selbst. Der deutlichste Beweis dafür ist mir immer mein Geburtstagstisch, der vom November her noch ziemlich unangerührt steht, nur daß dann die Weihnachtssachen darauf kamen und das Ganze einen ziemlich wüsten Haufen darstellt.

295

Um welches Buch es sich handelt, war nicht eindeutig zu ermitteln. Mögliche Titel sind: Richard Teufel, Die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen (Jahresgabe des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 18), Leipzig 1936, oder: P. Theobald Schäfer, Geschichte und Beschreibung der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, Verlag des Franziskanerklosters, Vierzehnheiligen 1936. Pötzsch interessierte sich für das nach Plänen von Balthasar Neumann erbaute Kloster in Franken, weil ein Vorfahr von ihm namens Oesterlin dort Prior gewesen war (vgl. Matthes, 21, 79).

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Ich hoffe, Ihnen in den nächsten Tagen nun endlich einmal etwas Geld schicken zu können; zum Durchrechnen komme ich garnicht, ich schlechter Kaufmann, ich schicke einfach ab und Sie schreiben mir dann, bitte, was noch zu bezahlen ist. Sie sagten mir einmal, daß Ihrer Mutter – oder war es die Mutter Ihres Mannes – sehr viel an gutem Kaffe [sic!] liegt. Ich habe vor einiger Zeit (jetzt ist auch das weit überholt) einmal 1 Pfund Bohnenkaffee für 20 RM erstanden. Das ist sündhaft viel Geld, aber für seltene Dinge werden eben die höchsten Preise bezahlt. Ist es Ihnen recht, daß ich Ihnen diesen teuren Kaffe [sic!] gekauft habe? Zeit zum Überlegen gab es nicht! Wollen Sie ihn nehmen und mit verrechnen? Soll ich ihn schicken? Über das Büchlein von Kommodore Ruge296 habe ich mich sehr gefreut. Ein so ernster Mensch – und im Herzen ein feiner Humor! Das gefällt mir! Auch für die Büchlein über Holland und das große Hollandbuch, das mich heute überraschte, herzlichen Dank! Heute habe ich 100 Hefte „Singende Kirche II“, also die Tischgebete, an Sie abgesandt. So freundlich die „Singende Kirche“ überall begrüßt worden ist – kürzlich an einer hohen Stelle in Berlin –, fürchte ich doch, daß Sie gar keine Verwendung dafür haben, also einfach damit sitzen bleiben und nur Geld hineinstecken, um mir eine Freude zu machen und behilflich zu sein. Nicht wahr, es ist doch so? – – – Nun wird schon das 3. Heft „Singende Kirche“, das 22 Lieder enthalten wird, gedruckt. Damit soll’s | dann vorläufig genug sein. Die Sachen mußten jetzt schnell vorbereitet und herausgebracht werden, da mit einer noch weit größeren Papierverknappung zu rechnen ist, die dann jeden Druck unmöglich machen würde. Meine Frau hat jetzt zwei Peterbücher vom Verfasser zugeschickt bekommen; Dr. Ernst wollte jedem meiner Kinder ein Exemplar schenken. Es scheint also doch nicht so einfach zu sein, in jetziger Zeit das Peterbuch aus der Schweiz nach Deutschland zu bekommen. Ich bin gespannt, wann Sie Ihre ersten 10 Exemplare bekommen werden. Mitte – – Februar – hoffe – ich – 14 Tage – Urlaub – zu bekommen! Da ich ein paar Sachen aus Cuxhaven brauche und außerdem gebeten worden bin, ein Kind zu taufen (Grotewoldt, Adolfstr. 10), werde ich auf einen Tag nach Cuxhaven kommen. Soll ich nun erst noch sagen, daß ich mich freue, 296 Friedrich Ruge (1894-1985) war ein dt. Marineoffizier und Marineschriftsteller, „der eng mit Cuxhaven und Familie Neubauer verbunden war“ (Matthes, 80). Er gehörte zu den hochrangigen Offizieren, die sich vom NS-Staat nicht instrumentalisieren ließen, und lehnte Kriegsverbrechen der Wehrmacht und Waffen-SS entschieden ab. Nach 1945 leitete er den Aufbau der Bundesmarine. Er verfasste zahlreiche Schriften zur Militärund Marinegeschichte. Das gemeinte Büchlein ist: Ottern und Drachen. Lustige Treibminen auch für Landratten, Gütersloh 21942.

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Ihnen und den Ihren dann wieder zu begegnen? … Hoffentlich kommt nichts in den Weg. Im übrigen bin ich äußerst urlaubbedürftig, müde, abgespannt, auch wenig froh. Aber das geht ja unzähligen andern ebenso. Unsre Jüngste, Renate, ist, wie mir meine Frau schrieb, von der Schaukel gestürzt und hat sich ihr Schnäuzchen erheblich verbeult. Nun muß das nimmermüde Plappermäulchen einmal still stehen. Wie aber geht es Ihrem großen Jungen? Ist er nun wieder gesund? Ich habe oft an ihn, wie überhaupt an Sie alle gedacht. Grüßen Sie Ihren Mann und die Söhne (dem Kleinen bin ich ja freilich noch kein Begriff) sehr herzlich von mir. Im Sommer sprachen wir in Sachsen einmal von der „Deutschen Rundschau“.297 Sie wollten so freundlich sein und sie mir bestellen. Die Zeitschrift ist aber noch nicht gekommen. Ich vergaß immer wieder, darnach zu fragen. Würden Sie so freundlich sein u. die Bestellung übernehmen? Sehr gern hätte ich noch den ganzen Jahrgang 1941 nachgeliefert! Herausgeber: Dr. Pechel. Gesamtauslieferung: Leipzig C 1, Lühe & Co., An der Milchinsel (so heißt die Straße, in deren Nähe ich meine Kindheit verlebte). Mit sehr herzlichem Gruß! IhrArno Pö. Nr. 61 [Handschriftl.] Marinepfarrer Pötzsch Feldpost 30450 1. Februar 1942. Liebe Frau Neubauer! In aller Eile nur eben die erstaunliche Nachricht: der Bode ist gekommen! Heute mit der Mittagspost, als sei garnichts geschehen, wohlverpackt, mit deutlich geschriebener Adresse (die Feldpostnummer fürsorglich nochmals geschrieben) – so kam er an! Und ist doch fast 3 Monate unterwegs gewesen, der Herumtreiber! Meine Freude ist groß: über den verloren Geglaubten u. Wiedergefundenen, über Ihre schöne u. wertvolle Gabe, über die interessanten Berichte über Peter (ob historisch genau, ist eine andere Frage), die in dem Buche zu lesen sind. Also, nochmals herzlichen Dank! Auch für Ihren letzten Brief, der den meinen gekreuzt hat! 297

Eine 1874 gegründete literarische und wissenschaftliche Zeitschrift, die seit 1919 von Rudolf Pechel herausgegeben wurde. Konservative Gegner des Nationalsozialismus fanden in ihr ein Sprachrohr. Im April 1942 wurde Pechel verhaftet und die Zeitschrift vom Reichssicherheitshauptamt verboten.

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Stets Ihr Arno Pötzsch Nr. 62 [Postkarte, gestempelt am 16.2.1942] Liebe Frau Neubauer! Ich bin auf der Fahrt nach Dtschl.; heute vorm. hatte ich noch Gottesdienst in Rottr. [= Rotterdam] u. jetzt sitze ich bereits im Fronturlauberzug. Zum Schreiben kam ich leider in den letzten Wochen nicht; Ihren letzten Brief hoffe ich mündlich beantworten zu können. Am 27. komme ich nach Cux., halte nach Möglichkeit dort eine Taufe (bei Grotewoldts) u. am 1. März eine Taufe in Hamburg. Wegen der Hamburger Taufe kam nur dsr. Sonntag (1. März) in Frage. Hoffentlich können wir uns doch am Freitag noch sehen (27./2.)! Ich freue mich darauf! – Ich habe ein paar dringende Bücherwünsche: 1) Sigismund von Radecki, „Die Welt in der Tasche“,298 Verlag? 2) Seeckt, „Gedanken eines Soldaten“, Verl. Hase u. Köhler, Lpzg.299 3) Werner Meinhof[,] „Christlicher Glaube“, Lichtweg Verlag Essen300 (10 Ex.). | Nr. 3 ist gut besprochen, soll sehr gut sein als Konf. geschenk [= Konfirmationsgeschenk]. – Z.Zt. bin ich äußerst abgespannt, hoffe aber, in ein paar Urlaubstagen wieder frischer zu sein. Ich freue mich sehr auf ein Zusammensein mit Ihnen u. Ihrem Mann in Cux.; grüßen Sie ihn herzlich! Stets Ihr Arno Pö. Nr. 63 [Handschriftl.] Mar. Pfr. Pötzsch

z.Zt. Goslar, am 23. II. 1942, Knochenhauerstr. 3.

Liebe Frau Neubauer! Heute erhielt ich über Holland Ihren Brief vom 17. Februar. Herzlichen Dank dafür!! Daß ich auf Urlaub bin, hat Ihnen unterdessen die Karte gemeldet, die ich heute vor einer Woche am Reiseziel, in Goslar, in den Kasten steckte. Am Freitag werde ich in Cux. das Kindlein 298

Sigismund von Radecki, Die Welt in der Tasche. Essays (zuerst 1938), München ca. 1940. Der aus einer baltischen Familie stammende Autor (1891-1970) war Schriftsteller und Übersetzer. 299 Hans von Seeckt, Gedanken eines Soldaten, Leipzig 1935. Generaloberst von Seeckt (1866-1936) war in der Weimarer Republik hauptverantwortlich für die Umgestaltung der Armee im Rahmen der Vorschriften des Versailler Vertrags. Seine „Gedanken“ sind vermutlich aus diversen Vorträgen und Reden hervorgegangen. Vgl. Anm. 197. 300 Werner Meinhof, Christlicher Glaube. Im Zeugnis alter und neuer Bilder, Essen 1941. Meinhof (1901-1940) war ein dt. Kunsthistoriker. Er trat 1933 der NSDAP bei und leitete 1936-1939 das Jenaer Stadtmuseum.

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Grotewoldt, am Sonntag in Hbg. ein anderes Soldatenkind taufen. Am Donnerstag nachm. fahre ich hier ab (16,18 ab Goslar, über HannoverWesermünde) und gedenke nach 22h in Cuxhaven zu sein. Meine Sorge, daß Sie am Freitag etwa zur Messe nach Lpzg. fahren, scheint unbegründet zu sein; Sie schreiben, ich müsse ja wohl sehen, daß aus Ihrer Messefahrt nichts geworden sei. So leid mir das tut, so sehr freue ich mich doch, Ihnen nun ganz gewiß zu begegnen. Am Donnerstag werde ich Sie nicht mehr aufsuchen, aber am Freitag vorm. komme ich bald einmal in den Laden. Über die Bücher sprechen wir dann. Bestellen möchte ich nur noch „Ewiges Soldatentum“301 (ein neuerer Band in der Sammlung Körner). Die erste Urlaubswoche ist im Fluge vergangen. Die Kinder sind wohlauf; meiner Frau, die sehr erkältet war, geht es wieder besser. Ich selbst kam recht erkältet an, da der eine Fronturlauberzug eiskalt gewesen war. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich! Ich freue mich aufs Wiedersehen – und wenn es noch so kurz ist! Stets Ihr Arno Pötzsch Herzl. Grüße von uns allen, auch von unsrer Anni. Nr. 64 [Handschriftl.] Goslar, 3. März 1942. Lieber Herr Neubauer! Wenn ich auch mit leeren Händen komme, möchte ich Ihnen doch noch einmal meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche zu Ihrem Geburtstage aussprechen. Möge der Tag ein freundliches Lebensjahr beginnen; mögen Sie das Jahr unter Gottes Schutz und Geleit durchschreiten, so daß Sie es übers Jahr dankbar in seine Hände zurücklegen können! In das Gedenken schließe ich Ihre liebe Frau und Ihr Haus, Ihre Kinder, vor allem Ihren kranken Jungen, aufs Herzlichste mit ein. Nach der gestern Nachmittag mit erträglicher Verspätung erfolgten Rückkehr nach Goslar versuchte ich Ihnen ein Bild vom Goslarer Goethehaus zu verschaffen; leider gelang das in keinem der zahlreichen Geschäfte. Irgendwann kommt hoffentlich auch dieses Bild; heute sende ich Ihnen ein 301

Pötzsch meint wohl: Ewiges deutsches Soldatentum. Ruhmesblätter aus zwei Jahrtausenden deutscher Geschichte, hrsg. von Ludwig Vogt und Kurt Dümlein, München 1941. Die Sammlung vermittelt „eine Weltsicht, die von Lebenskampf und Heldenmut in unablässiger nationaler Selbstbehauptung aus grauer Germanenzeit bis zum Dritten Reich kündet“ (Thomas Bohrmann / Karl-Heinz Lather / Friedrich Lohmann [Hrsg.], Handbuch Militärische Berufsethik. Band 2: Anwendungsfelder, Wiesbaden 2014, 51).

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paar schöne Aufnahmen von Goslar, wie ich sie gerade noch bekommen konnte. Wenn sie dazu beitragen, Ihnen Lust zu einer Goslarfahrt zu machen, haben sie Ihren Zweck erfüllt. Hoffentlich haben Sie nach erfolgreichen Gängen in Hamburg eine gute Heimfahrt gehabt und dort gute Nachrichten über Franks Ergehen vorgefunden! An Frank, an den ich nach dem Besuch im Krankenhaus noch viel mehr als zuvor denke, werde ich bald schreiben. Unsre Urlaubsbegegnung in Cuxhaven und Hamburg wird mir in lieber Erinnerung bleiben. Haben Sie Dank für alles Schöne, das Sie mir vermittelt haben! Das Requiem wird unvergessen bleiben. – Grüßen Sie Ihre liebe Frau sehr herzlich von mir. Einen herzlichen Gruß Ihr Arno Pötzsch auch an Ihre Hausgenossin! [Zusatz senkrecht:] Meine Frau grüßt Sie mit ebenfalls guten, herzlichen Wünschen! Nr. 65 [Handschriftl.] Goslar, am 5.3.1942. Liebe Frau Neubauer, in großer Eile sende ich Ihnen vor meiner eigenen Abreise noch eins der Peterbücher, damit Sie das Buch endlich in seiner fertigen Gestalt sehen können. Mit herzlichem Gruß, auch an die Ihren, Ihr Arno Pötzsch Um 2 Bücher bitte ich: 1) Sigismund von Radecki, „Die Welt in der Tasche“ (Verlag?)302 2) Seeckt, „Gedanken eines Soldaten“ Hase u. Köhler, Lpzg. Nr. 66 [Handschriftl.] 13. März 1942. Liebe Frau Neubauer! Für 3 liebe Briefe (einschl. Karte von Hbg.), ein Paket u. 1 Päckchen mit Büchern habe ich Ihnen zu danken. Leider muß ich meine Antwort auf 302

Vgl. Anm. 298.

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wenige eilige Zeilen beschränken, doch möchte ich Sie nicht warten lassen. An Frank dachte u. denke ich viel, kam freilich noch nicht dazu, ihm zu schreiben. Ihre Nachricht von dem Rückfall = neue Erkrankung hat mich recht betroffen und besorgt gemacht. Gott behüte Ihren lieben guten Jungen und gebe Ihnen, Mutter und Vater, täglich die Kraft zum stillen, tapferen Tragen der Sorgen! Seien Sie meines fürbittenden Gedenkens, für den Jungen und für Sie selbst, gewiß! Möge der Junge ungeschädigt aus dieser schweren, geduldheischenden Krankheit hervorgehen! Die Meinen traf ich in Goslar wohlauf an u. konnte mich auch in den letzten Tagen noch einmal ausruhen. Daß Sie den Spengler303 bekamen, freut mich sehr!! Vielen Dank!! Auch für alles andere! – Das Peterbuch, das ich sandte, ist eins der Exemplare, die Dr. Ernst meinen Kindern sandte. Sie bekommen von mir das 1. Exemplar der (hoffentlich bald) bei Ihnen eingehenden Sendung; Ihrem Namen schreibe ich dann | gelegentlich einmal hinein. – Als ich nach Holland kam, begegnete mir in der dtsch.-niederlandischen Zeitung eine ausführliche Besprechung des Peterbuches, in der der Verfasser „der bekannte Züricher Literaturhistoriker Prof. Dr. Fritz Ernst“ genannt wurde. Dabei erfuhr ich also, daß Dr. Fritz Ernst Professor an der Züricher Universität ist. Er muß wohl bei großer Klugheit ein sehr bescheidener Mensch sein – und das ist überaus wohltuend u. sympathisch. Die Kritik des Peterbuches ist sehr positiv, die Zeichnung Peters aber gröber; es fehlt die feinsinnige Liebe und Kenntnis, die man bei Dr. Ernst spürt. Daß Gott Ihnen die Krankheit Ihres Ältesten als Strafe geschickt habe, glaube auch ich nicht. Über die Motive Gottes können wir auch wenig sagen! Dagegen sollen wir aus der Sache, die uns traf etwas machen, und da heißt die Regel: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen (Röm. 8). Und ich bin gewiß, daß ein vielfacher Segen von Franks Krankenlager ausgehen wird – auf ihn selbst u. auf seine Eltern! Für Sie habe ich ein Stückchen Seife; ich will es bald abschicken. Leider ist offiziell alles alle. Grüßen Sie die Ihren im Hause! Ihr Arno Pötzsch

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Der Hinweis ist nicht eindeutig. Es könnte Oswald Spengler, Gedanken, hrsg. von Hildegard Kornhardt, München 1941, gemeint sein.

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Nr. 67 [Handschriftl.] 16.3.1942. Liebe Frau Neubauer! In Eile! Herzl. Dank für Ihren Brief vom 11. März! Auf den Welk „Wundersam[e] Freundschaft“, 304 mit dem Sie mich unverdient erfreuen wollen, freue ich mich tatsächlich sehr. Mensch u. Tier – ein Thema, das mich anzieht und quält von Kind auf! Seit Anni Goslar verließ, ruht alle Arbeit auf m. Frau allein. Auf die Dauer würde das nicht gut gehen, aber vorübergehend wird’s schon geschafft. Meine Frau hofft nun doch auf ein Pflichtjahrmädel; ich hatte ihr zugeredet, den Versuch zu wagen. Meine Frau ist in keiner Weise „böse“ gewesen[,] als ich ihr von Cux. berichtete. – Beiliegend ein Bücherzettel! [fehlt!] Das meiste (1-4) fand ich in der ganz ausgezeichneten „Dtsch. Rundschau“ genannt; 5) wurde mir von einem Pfarrer empfohlen[,] 6) wird erst erscheinen, soll aber beachtlich sein. Grüßen Sie Ihren Mann u. Frank, an den ich täglich denke. Grüßen Sie auch Ihre Hausgenossin. Ihr A.P. [Zusatz am Briefkopf:] Mechow, Sizilien305 ist ganz köstlich!! Das postgesandte Büchlein ist auch noch gekommen. Ich las beide – u. beide male mit herzl. Freude! Nr. 68 [Handschriftl.] 25.3.1942. Liebe Frau Neubauer! Von einer Dienstreise zurückkommend, fand ich gestern abd. Ihre beiden Briefe vom 17. u. 18. März. Und auf einer Dienstreise im Zuge nach Belgien, schreibe ich Ihnen heute früh u. danke Ihnen für die Briefe und alles Freundliche, das sie enthalten. Ganz besonders hat mich die Nachricht erfreut, daß es Frank wieder besser geht; meine besorgten Gedanken waren und sind sehr oft bei Ihrem Jungen, dem ich leider noch immer nicht schreiben konnte. Sülzhayn 306 hatte ich mir schon in Goslar auf der Karte angesehen; es liegt ja etwas 304

Ehm Welk, Die wundersame Freundschaft. Das Buch von Tier und Mensch, Leipzig 21941. Zu Ehm Welk vgl. Anm. 167. 305 Karl Benno von Mechow, Novelle auf Sizilien (Die kleine Bücherei Nr. 130), München 1941. Vgl. Anm. 270. 306 In diesem Ort in Thüringen befanden sich bis in die 1950er Jahre mehrere Kureinrichtungen.

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abseits von Goslar, aber ich hoffe, daß Sie doch auf dem Wege noch früher meine Frau in Goslar besuchen können. Für Ihren Jungen kommt hoffentlich eine recht schöne Zeit völliger Genesung. Die Seife bitte ich Ihnen schenken zu dürfen; wahrscheinlich ist nichts weiter aufzutreiben. Was Sie über das Peterbuch, seinen Verfasser u. mich schreiben, ist voll feiner Einfühlung, wie sie nur der Liebe gelingt; ich danke Ihnen dafür. Die Singende Kirche III kommt hoffentlich in 14 Tagen. Ich bekomme jetzt immer Korrekturbogen zugeschickt; durch den größeren Umfang zieht sich alles in die Länge, da die wenigen noch gesunden Betriebe sehr viel zu tun haben. – Dr. Ernst schrieb mir sehr nett über meine Verse, von denen er einmal sagte, sie seien „ohne Makel“. Der Schweninger307 interessiert mich gar nicht in erster Linie als Bismarcks Leibarzt, sondern als Mensch u. Arzt, der als richtiger Arzt in seinem Patienten den ganzen Menschen im Auge hatte (wofür z.B. Erwin Lierk [sic!]308 so leidenschaftlich eintrat!). Den „Börries“309 kenne ich aus den 20er Jahren, besitze ihn auch. Die Hefte der Zeitenwende besitze ich, so viel ich weiß, selbständig ab 1938/39, will darum jetzt nichts weiter davon anschaffen, doch danke ich Ihnen auch für dss. [= dieses] ausführliche Angebot. Daß Annis Verlobter jetzt im Cux. Krankenhaus ist, schrieb mir m. [= meine] Frau. Hoffentlich ist Ferdinand dort in richtiger Behandlung! Und hoffentlich bleibt Anni bei der nun häufigeren Begegnung vorsichtig genug, damit sie nichts überträgt! Die Goethe-Essays hoffe ich bald abschicken zu können; mir fehlt immer die Zeit, etwas einzupacken. Mit freundlichen Grüßen, auch für Ihren Mann, Ihr Arno Pötzsch Nr. 69 [Handschriftl.] 31.3.1942. Liebe Frau Neubauer! Vermutlich sind Sie auf der Reise vom Harz. Hoffentlich können Sie Ihren Frank einmal ganz gesund von seinem Kurorte abholen! – Herzl. Dank für Ihren Brief u. die 2 Bücher (Scholz, Das dtsch. 307 Ernst Schweninger (1850-1924). Pötzsch könnte das Buch von Georg Schwarz, Ernst Schweninger, Bismarcks Leibarzt, Leipzig 1941, gemeint haben. 308 Gemeint ist der Arzt und Publizist Erwin Liek (1878-1935). 309 Börries Freiherr von Münchhausen (1874-1945). Wahrscheinlich spielt Pötzsch auf dessen Balladen (1906) an.

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Gedicht[,]310 u. Boree, Diesseits von Gott311); ich entsinne mich, den Boree in der Hand gehabt zu haben, doch kam ich damals nur zu einem flüchtigen Eindruck. Die unterstrichenen Zeilen habe ich gefunden u. zustimmend gelesen! - - Von den genannten Büchern läse ich gern Ehm Welk „Der hohe Befehl“.312 – Das auf dem Zettel genannte Buch fand ich angeführt in einer Arbeit über Goethe, in der auch unser Peter genannt wurde; das Buch hat … als Quelle über Peter gekannt. Ob es noch zu beschaffen ist? Ich würde mich freuen, wenn es gelänge! Verlag war nicht angegeben. In Eile – aber herzlichst, Ihr A.P. [Zusatz an der linken Seite:] Frohe Ostern Ihnen u. den Ihren! Nr. 70 [Handschriftl.] 23.4.1942. Liebe Frau Neubauer! Sie Tierfreundebuch Sie sind sind nicht nicht vergessen! vergessen! Ihre lieben Briefe, das schöne Tierfreundebuch herzlichen (Ehm Welk)313 u. den Schweninger314 habe ich erhalten. Sehr SehrherzlichenDank für alles!Ich Ichhabe habez.Zt. z.Zt.weder wederdie dieäußere, äußere,noch noch die die innere innere Kraft Kraft zum zum Dankfüralles! Schreiben. Ihr Wort von den guten Gedanken als Engeln, die mich umgeben, ist wahrlich ein gutes Wort. Man kann der Engel sehr sehr bedürfen. bedürfen. Bitte, Bitte, schreiben Sie nichts darüber, fragen Sie auch nichts, sorgen Sie sich sich auch auch nicht. Lassen Sie eben nur die guten Engel Ihrer Gedanken um mich sein. sein. Vielmehr, wir wollen bitten: Dein heiliger Engel geleite uns auf allen ununsern Wegen in Zeit und Ewigkeit. Ihr Arno Pötzsch

310 310 dieser Wilhelm von Scholz, Das deutsche Gedicht, Berlin 1941. Der Herausgeber dieser Gedichtsammlung (1874-1969) war dt. Dramaturg und Schriftsteller, der sich früh mit mit dem NS-Regime arrangierte. Zusammen mit anderen verfasste verfasste er er 1933 1933 „Sechs „Sechs BekenntBekennnisse tnisse zum zum neuen neuen Deutschland“ Deutschland“ als als Antwort an den französischen Nobelpreisträger Romain Rolland, der die Annahme der Goethe-Medaille mit Hinweis auf die Bücherverbrennungen vom Mai 1933 abgelehnt hatte. 311 311 1941. Boree oder oder Borrée Borrée (1886(1886Karl Friedrich Boree, Diesseits von Gott, München 1941. 1964) war Rechtsanwalt, Erzähler und Essayist. 312 312 Ehm Welk, Der hohe Befehl. Opfergang Opfergang und und Bekenntnis Bekenntnis des des Werner Werner Voß, Voß, Berlin hoheBefehl. 1939. Ein historischer Roman aus dem Ersten Weltkrieg über deutsche Kriegsgefangene Kriegsgefangene in Russland. 313 313 Diewundersame wundersameFreundschaft. Freundschaft.Das DasBuch Buchvon vonTier Tierund undMensch, Mensch,Leipzig Leipzig1940. 1940. Die 314 314 Leibarzt Otto v. Bismarcks.

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Nr. 71 [Handschriftl.] 25.4.1942. Liebe Frau Neubauer! Auch heute nur wenige Zeilen! Von Herzen aber Dank für Ihre Briefe samt den beigefügten von Frank! Ich denke so oft an den Jungen und will ihm bald schreiben. Obgleich ich daran denke, einen gr. Teil meiner Bücher (es ist in den fast 2 Jahren eine Bibliothek geworden!!) nach Goslar zu schicken, da hier mancherlei Veränderungen vor sich gehen, bitte ich Sie doch wieder um einiges, das übrigens wert ist, auch von Ihnen gekannt zu werden: 1) Ernst Jünger, „Gärten u. Straßen“ (ein Kriegstagebuch, im „Eckart“ empfohlen!), Verlag Mittler u. Sohn, Bln. 315 2) Reinhold Schneider, „Das Antlitz des Mächtigen“ Verlag Herder, Freiburg316 3) [Reinhold Schneider], „Das Vaterunser“317 4) [Reinhold Schneider], „Nach dem großen Kriege“ 318 (3 u. 4 im Alsatia-Verlag, Kolmar). Ich grüße Sie sehr herzlich, Ihrer treulich gedenkend, Ihr Arno Pötzsch Grüßen Sie Ihren Mann herzlich von mir!

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Ernst Jünger, Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940, Berlin 1942. Jünger (1895-1998) war Schriftsteller, Offizier und Insektenkundler. In seinem Frühwerk vertrat er eine elitäre, antibürgerliche und nationalistische Haltung. 316 Reinhold Schneider, Das Antlitz des Mächtigen, Freiburg 1941. Der aus großbürgerlichem Haus stammende Schneider (1903-1958) war seit 1928 als freier Schriftsteller tätig. Streng katholisch erzogen, verstand er sich als christlicher Dichter. Mit seinem christlich-humanistischer Tradition verpflichteten Werk hat er im Dritten Reich viele Menschen getröstet und gestärkt. Seine seit 1941 verbotenen Schriften wurden illegal in Abschriften und Kleindrucken verbreitet. 317 Reinhold Schneider, Das Vaterunser, Kolmar 1941. Diese geheim gedruckte Kleinschrift wurde bis zu den kämpfenden Soldaten an die Front weitergeleitet und sollte nach Schneider in unchristlichen Zeiten Trost spenden. Etwa 500000 Exemplare wurden davon gedruckt. Der Alsatia-Verlag war zwischen 1940 und 1945 der einzige Verlag im Dritten Reich und im Elsass, der noch religiöse Schriften veröffentlichen durfte. Gerade katholische Gegner des NS-Regimes publizierten hier, neben Schneider z.B. auch Alfred Delp und Theodor Haecker. 318 Reinhold Schneider, Nach dem großen Kriege, Kolmar 1941. Das Bändchen enthält zwei Erzählungen: Die letzte Reise des Kurfürsten Maximilian; Der fromme Herzog.

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Nr. 72 [Handschriftl.] 30.4.1942. Liebe Frau Neubauer! Heute abd. erhielt ich Ihren langen Brief vom 27.4. Sie haben unterdessen meine kurzen Nachrichten bekommen. Sorgen Sie sich nicht um mich, wenn es mir auch vorübergehend einmal nicht gut ging. Gestern erhielt ich den Füllhalter, für dessen Reparierung ich sehr dankbar bin; er ist wieder gut eingeschrieben. Herzlich Dank dafür! Was hat die Reparatur gekostet? Den Welk u. den Schweninger hatte ich unterdessen bestätigt. Auf den Gräf-Goethe319 freue ich mich ungemein, nachdem Sie mir einige recht interessante Angaben mitgeteilt haben. Beim Namen der Ehefrau Peters kann ich mich geirrt haben. Nicht die Gefährtin, sondern deren Mutter (u. dann wieder das eine Enkelkind) trug diesen Namen, der die Freude bedeutete.320 Daß Peter nicht in Weimar gestorben ist, steht leider fest. – Daß Sie dieses Buch, noch dazu eines der nummerierten Exemplare, für mich bekamen, ist mir eine ganz große Freude. So wächst das Material über Peter stetig, wenn auch langsam. Hoffentlich bleiben unser Cuxhavener Pfarrhaus u. alle die Urkunden über Peter u. die anderen Vorfahren erhalten! – Es ist bitter, an die viele sinnlose Zerstörung dieses Krieges zu denken. Wo soll das noch hin? Möge Goslar von dem Schicksal Lübecks, Rostocks, Kiels u.a. Städte verschont bleiben! Ich denke an Sie und die Ihren! Ihr Arno Pötzsch Nr. 73 [Handschriftl.] 8.5.1942. Liebe Frau Neubauer! Gestern von Dienstreise aus Belgien gekommen, heute wieder für mehrere Tage fort. In Eile dazwischen einen Gruß! Sehr herzlichen Dank für das feine Claudiusbüchlein!! Ich fand es gestern abd. vor.

319 Hans Gerhard Gräf (1864-1942) war ein dt. Goetheforscher, der u.a. die Werkausgabe von Goethes Tagebüchern bearbeitete und dessen Briefwechsel mit Christiane Vulpius herausgab. Er edierte das Quellenwerk „Goethe über seine Dichtungen“ (Band 1-9, Frankfurt/Main 1901-1914), das bis heute für die Goetheforschung unentbehrlich ist. Welches Buch von Gräf Pötzsch meint, ist unklar. 320 Gemeint ist der Name Euphrosyna, den Peter im Baumgartens 6. Kind aus der Ehe mit Johanna Friederike Louise Hoffmann, geb. Berka, trug.

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321 In Belgien habe Fleischer321 habe ich ich den den Marinekriegspfarrer MarinekriegspfarrerFleischer bei der Dienststelle Feldpost 12806 in sein Amt eingeführt. Bitte, bestellen Sie auch für ihn 1) den „Eckart“[,] 2) die „Deutsche Rundschau“, wenn möglich, noch ein paar ältere Hefte dazu. Legen Sie für Fl. [= Fleischer] eine Karteikarte an. Fl. war mein mein Amtsnachbar Amtsnachbar in in Sachsen; Sachsen; ich ich zog zog ihn ihn jetzt jetzt nach. nach. Herzlichst – in Eile – Ihr Arno Pö.

Nr. 74 [Handschriftl.] 13. Mai 1942. Liebe Frau Neubauer! In Eile nur wenige Zeilen! Mit ganz großer Freude empfing ich heute Ihre schöne Sendung, das blaue Bilderbuch und die Kornettgeschichte aus Siebenbürgen. Auf beide Bücher freue ich mich sehr! Haben Sie Dank für diese schönen, großen Gaben! Haben Sie Dank auch für Ihre lieben Briefe und Ihr getreues Gedenken! – Ich müßte ausführlicher schreiben, aber ich komme nicht dazu. Zeit und Kraft sind so ganz beansprucht. In nicht ganz einer Woche habe ich 3 Hinrichtungen erlebt. Das kann man kaum aushalten und bewältigen. - - Ich grüße Sie sehr herzlich und in besonderem Gedenken zum Muttertag. Gott behüte Sie und die Ihren alle! Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir. Ihr Arno Pötzsch Einen Füller nehme ich, da Sie darnach fragen, gern! Nr. 75 [Handschriftl.] 2. Juni 1942. Liebe Frau Neubauer! Ich bin sehr viel unterwegs und sehr stark beansprucht gewesen; die ganze vorige Woche war ich auf Dienstreise. Darum kommen mein Dank und meine Antwort so spät. Das geheimnisvoll angedeutete Päckchen im seltsamen Format ist Ende der Woche bei meiner Rückkehr in meine Hände gekommen. Das war in der Tat eine Überraschung, eine freudige, wenn ich mich auch fragen muß: wie können Sie 321 Viktor Fleischer (1905-1966) war ev.-luth. Pfarrer in Sachsen, dann Marinestandortpfarrer in Beverloo (Belgien), nach dem Krieg am Dom St. Afra in Meißen. Er gehört zu Pötzschs Freunden aus der Studienzeit.

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heute noch einen Kuchen verschenken? Es sind doch alle Zutaten so knapp, daß es nur eben für die eigene Familie reicht. Daß mir der Kuchen sehrgut geschmeckt und das Wochenende verschönt hat – ich glaube, Sie kennen mich zu gut, als daß ich das erst mit vielen Worten beteuern müßte! Nur herzlich danken möchte ich Ihnen für die schöne Überraschung, die Sie mir liebevoll bereitet haben. | Daß Sie den Jünger „Gärten u. Straßen“ noch bekamen, freut mich; lesen Sie ihn in Ruhe! Auch darüber, daß Ihr Mann den Gräf-Goethe noch bekommt, freue ich mich. – Für den Füllhalter sehr herzlichen Dank; es ist recht, daß Sie meine Feder wählten; so habe ich für alle Fälle einen Füllhalter im Hintergrunde, wenn der meine (was ich aus mehreren Gründen nicht hoffe) verloren oder entzwei gehen könnte. Da Ihrem Bekannten sehr an der Tasche zu liegen scheint, bin ich selbstverständlich bereit, sie zurückzugeben, muß dann später eben sehen, eine andere geeignete zu bekommen. Ebenso selbstverständlich gebe ich die Mappe zum gleichen Preis zurück, den ich damals bezahlte. Die Frage ist nur, ob die Tasche in Cux. ist. Fragen Sie, bitte, Anni. So viel ich weiß, sind | in dsr. [= dieser] Tasche einmal Weckgläser von Cux. nach Goslar befördert worden; es könnte also sein, daß die Tasche in Goslar ist. Ich werde dann m. Frau bitten, die Tasche an Sie zu schicken. Winnig „Wanderschaft“322 kenne ich garnicht, auch nicht dem Titel nach, würde es wohl gern kommen lassen. Ferner erwähnen Sie Wehner „Erste Liebe“323 („Was sagen Sie dazu?“). Vorläufig kann ich garnichts dazu sagen. Haben Sie mir das Buch gesandt? Bekommen habe ich jetzt nur (außer Zeitungen) das Winnig-Büchlein „In der Höhle“,324 für das ich zugleich herzlich danke; will es bald lesen! Daß Reinhold Schneider nicht zu haben ist, ist sehr schade; das ist einer der wichtigsten Menschen!! Ihnen u. den Ihren allen geht es hoffentlich gut, vor allem auch Ihrem lieben großen Jungen, an den ich immer denke. | Auch Ihrer denke ich oft. Wenn nachts die feindlichen Maschinen, nicht mehr einzeln, sondern wie Hornissenschwärme über das Land brausen, um 322 August Winnig, Das Buch Wanderschaft, Hamburg 1941. Winnig (1878-1956) war ein dt. Gewerkschafter, Politiker und Schriftsteller, der sich nach der Novemberrevolution zum völkischen Nationalisten und Antisemiten entwickelte. Während der NS-Zeit wandelte er sich erneut vom national denkenden Sozialisten zum Vertreter einer christlich-konservativen, an europäischer Kooperation orientierten Haltung. 323 Josef Magnus Wehner, Erste Liebe. Roman aus der Jugendzeit, Hamburg 1941. Wehner (1891-1973) war Schriftsteller und Bühnenautor. Sein größter Erfolg wurde sein dritter Roman „Sieben vor Verdun“(1930), der gezielt gegen den Bestseller von Erich Maria Remarque, „Im Westen nichts Neues“, gerichtet war. Erfüllt von Kriegsbegeisterung, verherrlicht er das deutsche Soldatentum. 1933 trat Wehner in die NSDAP ein. 324 August Winnig, In der Höhle. Erzählung, Gütersloh 1941.

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in das Reich einzufliegen, denkt man mit Bangen an die, die das Ziel des Angriffs werden. Möge Cuxhaven von solchem Großangriff bewahrt bleiben! Gott behüte Sie und die Ihren! Grüßen Sie Ihren Mann! Ihr Arno Pötzsch Nr. 76 [Masch. Rundbrief] MARINEPFARRER ARNO PÖTZSCH Feldpost 30 450

im Juli 1942.

Liebe Freunde! Als abschliessende Veröffentlichung der deutschen Pfarrer und Gemeinden in den Niederlanden sende ich Euch heute das nach mancherlei kriegbedingten Verzögerungen erst vor kurzem erschienene 3. Heft der „Singenden Kirche“, das 22 meiner einfachen, vom Organisten Beers vertonten Lieder enthält. Das 1. Heft mit 8 Liedern und das 2. Heft mit 16 Tischgesängen habt Ihr wohl alle erhalten. (Wer die Sendung nicht erhielt, schreibe es mir.) Das ausserdem beigefügte Begleitheft erzählt Euch ein wenig von der Geschichte der „Singenden Kirche“. Wir haben in einer Reihe von Exemplaren die vier Hefte „Singende Kirche“ zu einem schönen Ganzleinenband zusammenbinden lassen. Dieser schmucke kleine Band (Blauleinen, Goldaufdruck „Singende Kirche“) kostet allerdings etwa 2.50 Rm. Wer daran Interesse hat, mag mir schreiben. Zum Briefschreiben fehlt mir nach wie vor die Zeit, doch bin ich allen Freunden in treuem Gedenken unverändert verbunden. Nehmt die geistlichen Gesänge der „Singenden Kirche“ als einen Gruss von mir entgegen. Ihr findet darin ein Stück meines Lebens widergespiegelt, widergespiegelt auch ein Stück der hintergründigen, ewigen Welt, nach der wir alle immer neu auf der Suche und zu der hin wir gemeinsam, wenn auch in mancherlei Weise und räumlich getrennt auf dem Wege sind. Für viele liebe Briefe und für zahlreiche Gaben, die der Unkostendeckung und der Soldatenseelsorge zugute kommen sollten, danke ich Euch auf diesem Wege. Wer weiter helfen will und kann, darf gewiss sein, dass seine Gabe willkommen ist und meiner Arbeit aufs beste dient. Gott behüte Euch und unser Land! Euer Arno P ö t z s c h

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Nr. 77 [Handschriftl.] 7.7.1942. Meine liebe Frau Neubauer! Sie warten lange auf Post von mir und sind ein wenig unruhig und plagen sich mit Zweifeln, ob mich Ihre Briefe erfreuen …, ob Sie mir genügen … Liebe Frau Neubauer, muß Ihnen der Bruder dort draußen erst sagen, daß alle diese Zweifel und Hemmungen völlig, aber auch völlig unnötig sind! Ich will garnichts erst erörtern, sondern im Geiste Ihre Hand nehmen und in Ihre Augen schauen, so lange, bis alle Ihre Fragen und Hemmungen von Ihnen abfallen und Sie wieder ganz froh und vertrauend werden und wissen: ja, es ist so, wie es immer war. - - Haben Sie Dank für Ihre Briefe u. die hübsche Sendung, die heute den Wieland, den Bismarck, den Gmelin325 u. Meinhof u.a. brachte, nachdem die Goetherede326 schon vorher gekommen war. Herzlichen Dank für alles! Für Ihre Briefe nicht weniger als für die Bücher! Ich bin so überaus in Anspruch genommen, durch Urlaubsvertretung für meine Amtsbrüder, besonders viele schriftliche Arbeiten usw.; ich bin bis an den Rand ausgefüllt. Und ich bin innerlich u. äußerlich etwas müde, immer von etwas Dunklem angefochten, so daß ich nicht so viel schaffe, wie ich als froher Mensch schaffen würde. Aber daran ist nichts zu ändern; Sie sollen auch nichts darüber schreiben, sollen nur eben wissen, daß der andere sich mit Lasten plagen muß. - - Sie wissen doch, daß alles Äußere (Herkunft, Schulbildung, Armut …) nie, nie eine Grenze zwischen einem Menschen u. mir aufrichten können [sic!], wenn nicht der andere sie zwischen sich u. mir errichtet. An der Meditation, die ich für Sie schrieb, habe ich selbst Freude, die Form ist kindlich einfach, aber die Gedanken dsr. Verse sind richtig u. wichtig. Wir sind alle auf dem Wege, du und ich. - Können Ex. lielie- || fern? fern? In In Können Sie Sie mir mir die die „Neue „Neue Schau“ Schau“ statt statt in in einem einem in in 33 Ex. den Mütterschulen, die die ich ich durchs durchs Rote Rote Kreuz Kreuz kennen kennen gelernt gelernt habe, habe, würden würden den Mütterschulen, ds. wichtigen Dienstausrichten ausrichten können. können. Hier Hier sind sind noch noch ds. Hefte Hefte einen einen sehr sehrwichtigenDienst erstaunlich fragende Menschen, Menschen, denen denen ich ich einige einige der der von von Ihnen Ihnen gesandten gesandten erstaunlich fragende 325 Wahrscheinlich Otto Gmelin (1886-1940), ein dt. Schriftsteller, der v.a. historische Romane und Erzählungen schrieb. Wegen seiner völkischen Einstellung wurde er im NSStaat gefördert, ohne der Partei anzugehören. Der genaue Buchtitel war nicht zu ermitteln. 326 Wie aus Brief Nr. 78 hervorgeht, handelt es sich um Wilhelm Schäfer, Goethesche Prüfung. Eine Rede. Dankrede bei Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt am 28. August 1941, München 1942. Schäfer (1868-1952) verherrlichte als Schriftsteller die „deutsche Volksseele“ und unterstützte als konservativ-nationaler Autor die NSKulturpolitik.

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Hefte gab. Menschen am Rande der Kirche, an der Grenze des Christentums könnte man hier vielleicht weiter helfen. Hoffentlich kann Ihnen der Verlag noch 2 Ex. mehr abgeben! Hier draußen steht so viel auf dem Spiele. Können Sie mir „Schuhmacher Sandin“327 schicken? Meiner Frau würde ich zum Geburtstag (31.7.) gern den Roman einer Ärztin, Betina Ewerbeck „Angela Koldewey“ schenken. Verlag „Neues Volk“, Berlin, 5.80 RM.328 Hoffentlich bekommen Sie das Buch und senden es, bitte, in meinem Namen an meine Frau. Was käme in Frage, d.h. was gibt es, wenn das genannte Buch nicht zu haben ist? Man ist ja so abhängig von dem, was zufällig noch da ist. Sehr gern hätte ich das entzückende Bilderbuch „Der kleine Häwelmann“ von Theodor Storm (mit entzückenden Bildern von Else WenzViëtor [ )]. Verlag?329 Den Den schönen schönen Füllhalter, Füllhalter, den den Sie Sie mir mir schickten, habe ich meiner lieben Ältesten geschenkt. Sie hat am 30.6. die Aufnahmeprüfung zur Oberschule bestanden. Nun habe ich ihr den großen Wunsch, einen Füllfederhalter zu besitzen, erfüllt. Sollten Sie nochmals einen bekommen können, nehme ich gern ab! ab! ihn sehr sehrgern Die Rückgabe der Ledertasche war doch eine Selbstverständlichkeit; haben Sie keine Bedenken! Ich grüße Sie sehr herzlich! Ihrer und der Ihren ganz getreulich gedenkend stets Ihr Arno Pötzsch Nr. 78 [Handschriftl.] 14. Juli 1942. Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für Ihren lieben, langen Brief, der mich heute abd. überraschte; ich hatte noch garnicht mit Ihrer Antwort gerechnet. Ich danke Ihnen herzlich für alle Ihre lieben Worte, für alle lie-

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Nicht zu ermitteln. Möglicherweise eine literarische Figur. Betina Ewerbeck, Angela Koldewey. Roman einer jungen Ärztin, Berlin-Wien 1939. Eigentlich Bettina, geb. von Wiedebach und Nostiz-Jänkendorf, verh. Blome (1910-1994), war Ärztin und Schriftstellerin, arbeitete 1941-1945 in der Redaktion von „Die Gesundheitsführung. Ziel und Weg. Monatsschrift des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP“ und schrieb das Drehbuch für den Propagandafilm „Die englische Krankheit“ (1941). 329 Theodor Storm, Der kleine Häwelmann. Bilder von Else Wenz-Viëtor, zuerst Oldenburg 1926; zahlreiche weitere Ausgaben. 328

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bende Fürsorge … Zugleich kam der Raschke, „Die Flöten“,330 mit dem schönen Untertitel; auch dafür den herzlichsten Dank; ich freue mich auf dieses Büchlein! Die Goethesche Prüfung Wilh. Schäfers habe ich erfreut gelesen; vielen Dank dafür! – Lange schon wollte ich fragen: Ist eigentlich jenes Buch, das so viel über Peter im Baumgarten berichtet (Titel u. Verfasser weiß ich nicht mehr), von Ihnen abgeschickt worden oder verrechnen Sie es für mich; angekommen ist es jedenfalls nicht; es wäre doch sehr schmerzlich, wenn es verloren gegangen wäre. – Die schwierige polit. Lage der Schweiz331 scheint die Auslieferung des Peterbuches nach Dtschl. unmöglich zu machen. Schade! – Daß Sie mir die „Neue Schau“ trotz allen Schwierigkeiten verschaffen, ist sehr lieb von Ihnen, und sehr tüchtig! Ich hoffe einen nicht geringen Dienst mit ds. Heften zu tun. Wie haben Sie das geschafft? – Koldewey332 fand ich in der Neuen Schau angezeigt, sehr gut besprochen. Der Schuhmacher Sandin begegnet mir immer wieder in ernsthaften Gesprächen; auch meine Frau, die das Buch hat vorlesen hören, war sehr angetan. Nun würde ich den Sandin gern selbst kennen lernen. Sehr gern auch „Wälder u. Menschen“ von Wiechert333 (gibt es das noch?). – Von Emil Strauß las ich den Schleier334 mit großer Freude; anderes kenne ich nicht. Können Sie mir noch Alverdes „Zwiegesicht“ 335 schicken, auch die Pfeiferstube u. Leixner, „Die letzte Seele“336 [?] | Was Sie mir über Ihre Beschäftigung mit Goethe u. über Goethes Ehe, über Lotte u. Christiane schreiben, hat mich sehr interessiert. – Schreiner, „Aus Gottes Händen“, 337 nehme ich gern; Meinhof, „Xl. [= Christlicher] Glaube“,338 hatte ich (glaube

330 Martin Raschke, Die Flöten. Von der Ahnenschaft des Liedes, Leipzig 1940. Das kleine Prosastück kreist um die antike Sage vom Ursprung der Flöte und des Musizierens. Der aus Dresden stammende Autor (1905-1943) wirkte als Schriftsteller und Publizist und begrüßte 1933 Hitlers Machtergreifung. 1941 wurde er als Kriegsberichterstatter zur Wehrmacht eingezogen und starb in Folge einer schweren Verwundung in Russland. 331 Während des Zweiten Weltkriegs berief sich die Schweiz auf ihre bewaffnete Neutralität und ordnete allgemeine Mobilmachung an. Der größte Teil der Bevölkerung lehnte den Nationalsozialismus und das bedrohliche Dritte Reich ab. Nach der Annexion der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs durch deutsche Armeen sowie dem raschen Sieg über Frankreich befürchteten die Schweizer einen Einmarsch der kriegführenden Staaten. 332 Vgl. Anm. 328. 333 Ernst Wiechert, Wälder und Menschen. Eine Jugend, München 1936. Vgl. Anm. 186. 334 Emil Strauß, Der Schleier. Novelle, München 1935. 335 Vgl. Anm. 189. 336 Vgl. Anm. 218. 337 Helmuth Schreiner, Ehre aus Gottes Händen. Predigten, Berlin 1938. Zu Schreiner vgl. Anm. 204. 338 Vgl. Anm. 300.

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ich) bestellt; auch den Ringeling339 nehme ich gern. – Den Bavink340 habe ich erst angesehen; das Buch ist mir aber sehr wesentlich; nur aus Mangel an Zeit u. Konzentration noch nicht bewältigt. – H.St. Chamberlain wird von mir sehr geschätzt u. viel gelesen; für Sie ist er zu schwer, besser gesagt: zu schwierig. Ch. ist ein großer Anreger, darum in Problematik u. Polemik vielfach noch nicht ausgewogen, sondern kühn in Neuland vorstoßend; man muß schon recht tief mit der Sache vertraut sein, wenn man mit H.St. Ch. fertig werden will. Sie müßten leider nach der Lektüre jemand fragen können; wäre nicht Krieg, wollte ich gerne der „Jemand“ sein. – Wenn Sie zu Frank fahren, grüßen Sie den Jungen herzlich von mir. Kommen Sie dann auch nach Goslar? Hoffentlich! Ich grüße Sie sehr herzlich, auch die Ihren im Hause. Und seien Sie nochmals für alles Liebe bedankt! Ihr Arno P. Nr. 79 [Handschriftl.] 20.7.1942. Liebe Frau Neubauer! Ich schreibe auf der Fahrt nach Belgien. Heute früh habe ich ein Päckchen mit 3 Stück Seife an Sie abgeschickt. Sie hatten einmal um Seife gebeten, und als mir jetzt jemand die Seife anbot, habe ich trotz des hohen Preises zugegriffen (2 x 5.-, 1 x 4.- Rm = 14.- Rm). Hoffentlich sind Sie damit einverstanden! Aber wichtiger ist mir, daß ich Ihnen nun endlich ein erstes gebundenes Stück der „Singenden Kirche“ senden kann; das Erscheinen hat sich immer weiter hinausgezögert; endlich ist das schlichte, aber nett aussehende Buch da!341 Möge es Ihnen Freude machen und eine gute Erinnerung an einen Menschen bleiben, der einmal Ihren Lebensweg kreuzte! Ihrem Mann ist das gleiche Büchlein zugedacht, ich habe aber nur das eine für Sie mit auf die Reise genommen, um es heute Mittag in Brüssel in den Feldpostkasten zu werfen. Ich grüße Sie in herzlichem Gedenken, 339

Möglicherweise Gerhard Ringeling, Die schlimme Brigitt. Novelle, Gütersloh 1942. Ringelings (1887-1951) Romane und Erzählungen spielen überwiegend im mecklenburgischen Fischland und handeln von der Segelschifffahrt. 340 Bernhard Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie, Leipzig 1941. Der Verfasser (1879-1947) war dt. Naturwissenschaftler und Naturphilosoph, der die nationalsozialistische Rassenhygiene (Eugenik) grundsätzlich befürwortete. 341 Vgl. Anhang. Gemeint ist wohl die Ausgabe, die alle Hefte enthält.

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Ihr Arno Pötzsch Nr. 80 [Handschriftl.] 28.8.1942. M. liebe Frau Neubauer! Wie lange will ich Ihnen schreiben! Aber es wird nicht. Sie ahnen nicht, was für eine schwere Woche hinter mir liegt! Ich nenne nur das schreckliche Wort Hinrichtung[,] und Sie wissen, um welch schwere Aufgaben und Eindrücke es da geht. Immer wieder muß ich diesen schwersten aller Dienste leisten u. trage schwer daran – neben all der Fülle anderer wahrlich nicht leichter Aufgaben u. Arbeiten. … Sie haben mir lang u. lieb geschrieben; ich danke Ihnen sehr dafür! Nun sind die ersten 10 Ex. des Peterbuches da. Wie schön! Nehmen Sie das erste Exemplar als Freundesgabe von mir entgegen! Die Widmung schreibe ich Ihnen später hinein! Die anderen Ex. muß ich nun sorgfältig verteilen u. werde an meine Verwandten schreiben. Welches ist der Ladenpreis? Ist der Rundbriefentwurf (gelbes Maschinenpapier) schon in Ihren Händen? Den Schäfer, „Spätlese“,342 habe ich nun beendet – als abdl. [= abendliche] oder nächtl. [= nächtliche] Lektüre vorm Einschlafen. Viel Schönes darin! Herzl. Dank!! Gibt es noch Alverdes, Pfeiferstube; Leixner, Letzte Seele? Ganz dringend suche ich (u.U. antiqu. [= antiquarisch]) Alverdes „Gespräch über Goethes Harzreise im Winter“ 343 (mögl. 3-4 Ex., auch 1 für Ihren Mann – oder für Sie selbst?). Ferner hätte ich gern H.St. Chamberlains Goethedarstellung,344 auch H.St. Chamberlains Aufsätze über England345 (die Sie Anfang des Krieges auf m. Rat hin so zahlreich anschafften; es ist eine 2. Aufl. erschienen, erweitert!). Gibt es wohl noch Jöde, „Der Musikant“, Verlag Kall- | meyer [?]346 – 342

Wilhelm Schäfer, Spätlese alter und neuer Anekdoten, München 1942. Paul Alverdes, Gespräch über Goethes Harzreise im Winter, Hamburg 1938. Goethes viel kommentiertes Gedicht „Harzreise im Winter“ (1777) findet sich in der Frankfurter Ausgabe(Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Dieter Borchmeyer u. a., Frankfurt/Main 1985 ff.), Bd. 1, 322-324. 344 Houston Stewart Chamberlain, Goethe, München 1912. 345 Gemeint ist wohl die Sammlung ausgewählter Schriften zum Weltkrieg: Deutschland – England, München 21940. 346 Fritz Jöde, Der Musikant. Lieder für die Schule, Wolfenbüttel-Berlin 1934. Jöde (1887-1970) war Musikpädagoge und eine führende Gestalt in der Jugendmusikbewegung. Er vertrat den Grundsatz: „Selbst Musizieren ist besser als Musik hören.“ In den ersten Jahren des NS-Regimes hatte er berufliche Schwierigkeiten, 1937 wurde er jedoch 343

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Ich freue mich so, daß Sie in Goslar waren! Nun wissen Sie unsre Kriegsbleibe.347 – Wie oft denke ich an Ihren lieben Jungen u. wie gern, gern wollte ich ihm schreiben, aber ich komme nicht zum notwendig Dienstlichen, geschweige zum Persönlichen. Das tut mir so leid! Aber Tag, Zeit, Kraft haben Grenzen. Eben fällt mir ein, daß ich (in der „Neuen Schau“ angezeigt) brauche: Frhr. [= Freiherr] v. Taube, Alfred de Vigny, „Soldatenknechtschaft u. Soldatengröße“, Verlag Friedr. Stollberg, Merseburg. 348 Herbert Freudenthal, Vermächtnis der Front, Verl. Gerh. Stalling, Oldenburg.349 Pfeiffer, „Requiem“[.] Totenklage im dtsch. Gedicht. Karl Heinz Henssel Verlag, Berlin[.]350 Ich denke Ihrer oft – und gern, Sie wissen das. Mit herzl. Gruß, wenn auch in Eile Stets Ihr Arno Pötzsch Nr. 81 [Handschriftl.] 31.8.1942. Liebe Frau Neubauer, in Eile gebe ich Ihnen diesen Brief351 zur Kenntnis. Ist etwas zu tun? Bitte um Rückgabe! Mit sehr herzlichen Grüßen stets Ihr Arno Pötzsch

Leiter des Jugendfunks München und 1938 Leiter der dortigen HJ-Spielschar. 1940 trat er in die NSDAP ein. 347 Helene Pötzsch und die Töchter wohnten seit Ende 1941 in Goslar, weil Cuxhaven während des Krieges als durch alliierte Bombenangriffe besonders gefährdet galt. 348 Alfred de Vigny, Soldatenknechtschaft und Soldatengröße. Deutsch von Otto von Taube, Merseburg 1936. Dieser Roman des französischen Schriftstellers Vigny (17971863) erschien bereits 1835. Vigny zählt zu den bedeutenderen der französischen Romantiker. 349 Herbert Freudenthal, Vermächtnis der Front. Ein Nachtgespräch vom Kriege, Oldenburg-Berlin 1942. 350 Johannes Pfeiffer(Hrsg.), Requiem. Totenklage und Totengedächtnis im deutschen Gedicht, Berlin 1941. Zum Verfasser vgl. Anm. 165. 351 Der beigelegte Brief liegt nicht vor.

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Nr. 82 [Handschriftl.] Goslar, 5.10.1942. Knochenhauerstr. 3 Liebe Frau Neubauer! Nun bin ich zu Hause, nachdem ich noch bis zuletzt an der Möglichkeit einer Urlaubsreise gezweifelt hatte. Gefahren bin ich schließlich mit großem Kummer, tiefer Sorge u. Bedrückung, schwerster Niedergeschlagenheit, ohne eine Spur von Freude. Ich habe ein paar unsäglich schwere Wochen hinter mir mit bedrückenden Erlebnissen, von denen ich Ihnen einmal erzählen könnte; es sind mir Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Hinrichtung eines Holländers erwachsen, den ich vor seiner Erschießung zu betreuen hatte. Sprechen Sie, bitte, auch über diese Andeutung nicht, zu niemand! Es ist noch immer ungewiß, wie die Sache ausläuft. Jedenfalls habe ich viele Sorgen. Ich bin über dsr. Sache, die mich im Sept. viel Zeit und sehr viel Kraft gekostet hat, auch nicht zum Schreiben gekommen; ich hätte Ihnen sonst längst wieder geschrieben. Jetzt bin ich ziemlich erschöpft, mutlos, freudlos; Sie werden kaum ahnen, wie dunkel es in mir und um mich sein kann. - - Ihnen, liebe Frau Neubauer, möchte ich nur ganz herzlich danken: Ich fand hier in G. zu meiner Überraschung Ihre schöne Büchersendung vor, den Gräf und auch den Nobel, die mich um Peters willen sehr, sehr interessieren; ich danke Ihnen sehr, sehr herzlich dafür! Wenn ich Ihre Hilfe nicht hätte!! Auch für Chamberlains Briefe, 352 den Mechow-Vorsommer, Maku [?] u. Welk danke ich Ihnen herzlichst. Auch für die nach Holland gesandten Bücher, zuletzt die 2 Soldatenbücher, meinen herzlichen Dank, auch für alle Zeitungen usw. Es tat u. tut mir so leid, daß ich Sie so lange auf ein Dankeswort warten lasse u. warten ließ. Es liegt ja nicht am guten Willen, das wissen Sie wohl, nur Zeit u. Kraft reichen immer wieder nicht, vor allem dann, wenn man fort- | während Schweres erlebt. Ich bin oft ganz verzagt und an der Grenze. Aber ich möchte Sie nicht damit bedrücken, daß ich Sie in mein düsteres Gemüt hineinschauen lasse. Schreiben Sie auch nichts davon. Lassen Sie es nur eben geschehen sein; wir kennen uns doch zu gut als daß ich mich Ihnen gegenüber ganz verbergen könnte u. wollte … Die Meinen haben mich hier freundlich empfangen – Sie kennen ja nun das Haus und seine Bewohner – u. es ist mir nur leid, daß ich alles Frohe, das mir entgegenkommt, nicht froher aufnehmen u. erwidern kann. 352

Vermutlich Houston Stewart Chamberlain, Briefe 1882-1924 und Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II., 2 Bde., München 1928.

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Über das Peterbuch habe ich Ihnen, meine ich, auch noch nicht geschrieben. Oder doch? Ihre Nachricht, daß Sie einen größeren Posten des Peterbuches bekommen haben, hat mich damals sehr überrascht u. erfreut. Nun will ich, so bald ich es schaffen kann, an die einzelnen Glieder u. Familien der Nachkommenschaft Peters schreiben u. das Buch anbieten. Den Rundbriefentwurf fand ich unmittelbar vor meiner Abreise in den ersten Druckbogen des Peterbuches, die mir Dr. Ernst seinerzeit zugesandt hatte. Für alle Ihre Bemühungen, all Ihr Entgegenkommen, alle Ihre so ganz persönliche Anteilnahme an dsm. Buche u. am Peter (jemand, der an die Wiederverkörperung glaubt, sagte mir einmal, ich sei der Peter) – danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Wenn dann die Bestellungen eingehen, sende ich Ihnen die Anschriften mit der Bitte zu, die Exemplare dorthin zu schicken. – Denken Sie, ich fand das Peterbuch in einer Amsterdamer Buchhdlg. ausliegen – u. kaufte es sofort; es war aber nur in 1 Ex. vorhanden. Nach Cux. werde ich zu meinem Bedauern nicht kommen können, ich werde Sie also in dsm. Urlaub schwerlich sehen. Das ist mir recht leid! Grüßen Sie Ihren Mann herzlich von mir. Ich grüße Sie selbst recht herzlich Ihr Arno Pötzsch Nr. 83 [Handschriftl.] Goslar: 12.10.1942 Knochenhauerstr. 3. Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für Ihren Brief vom 29.9., der mich jetzt auf dem Umwege über Holland erreicht hat! Dank auch für das Frankbändchen „Das Königsduell“353 u.a.; ich las die kleinen Geschichten mit Freude, auch die bekannten. Pfeiferstube u. Chamberlain „England“354 hatte ich in Holland bekommen, ebenso die beiden Soldatenbücher (Vigny u. Freudenthal). Auch den Brief von Dr. Ernst erhielt ich. Ich sehe, wie mangelhaft meine Bestätigungen immer sind. Bitte, nicht böse sein! Ich möchte immer gleich

353 Hans Franck, Das Königsduell und andere Anekdoten, Wiesbaden 1941. Franck (1879-1964), der zunächst als Volksschullehrer arbeitete, war ein aus Mecklenburg stammender Schriftsteller und Dramaturg, der sich früh zum Nationalsozialismus bekannte. In literarischer Form beschäftigte er sich wiederholt mit dem Leben Johann Sebastian Bachs (z.B. in Die Pilgerfahrt nach Lübeck. Novelle, 1936; J.S. Bach. Die Geschichte seines Lebens, 1960). 354 Vgl. Anm. 345.

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antworten, schreiben, wie ich mich gefreut habe – und dann komme ich doch immer wieder nicht einmal zur einfachen Empfangsbestätigung. Daß Sie 70 Peterbücher bekommen haben, war mir eine ganz besondere Überraschung; ich hatte das nicht für möglich gehalten. Ich will für alle ds. Exemplare das Risiko und wohl auch z.T. die Kosten übernehmen. Ein Teil der Peternachkommen lebt in England und Südafrika, wird also auf lange Sicht nicht erreichbar sein. An die in Dtschl. lebenden Nachkommen Peters will ich nun ein vervielfältigtes Schreiben versenden u. das Buch anbieten (ich fand das Konzept in den ersten Druckbogen von Dr. Ernst wieder). Die Bestellungen mögen direkt an Sie gehen, ebenso die Einzahlungen. Schreiben Sie mir, bitte, einmal das Konto, auf das die Beträge eingezahlt werden sollten. Zu welchem Preis soll ich das Buch anbieten (in dem Betrag sollen Porto u. Verpackung mit enthalten sein)? Daß ich Ihnen von Herzen dankbar bin für Ihre Mithilfe, für alle Mühe, die Sie auf sich genommen haben u. noch nehmen, werden | Sie wissen. Ohne Sie hätte ich die ganze Sache mit dem Peterbuch jetzt überhaupt nicht machen können. Seit Mittwoch ist Anni aus Cuxhaven bei uns, so daß meine Frau nun etwas entlastet ist. Ich genieße die schnell vergehenden Urlaubstage. Selbst bei Regen und Sturm gehen wir in die nahen Harzwälder. Es ist recht schön hier in und um Goslar. Meine Frau hat mir jetzt noch von Ihrem Besuch in Goslar erzählt; ich freue mich, daß Sie hier gewesen sind und die Stadt mit ihrer Umgebung und das Heim meiner Familie kennen gelernt haben. Von Ihrem Frank haben wir schon oft gesprochen; es tut uns so leid, daß der arme liebe Kerl noch immer nicht ganz auskuriert ist. Hoffentlich wird er wieder ganz gesund und kräftig; er ist doch ein so frischer, gesunder Junge gewesen. Die gebundenen Ex. der Singenden Kirche sind sehr knapp, doch hoffe ich Ihnen etwa 20 Stück schicken zu können. Grüßen Sie, bitte, Ihren Mann recht herzlich von mir. (Ich habe mich herzlich an seiner Einschrift in das schöne Ludwig Richterbuch, das Sie beide meiner Kathrin geschenkt haben, gefreut!) Ich grüße Sie sehr herzlich, liebe Frau Neubauer, und bleibe Ihr Arno Pötzsch.

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Nr. 84 [Masch.] Marinepfarrer Arno Pötzsch Feldpost 30 450

z.Zt. Goslar, am 22. Okt. 1942, Knochenhauerstraße 3 Herrn Unitätsdirektor D. Sam. B a u d e r t Herrnhut

Lieber Bruder Baudert!355 Erlaube mir, daß ich Dir als ein Zeichen unveränderlicher Verbundenheit mit der Gemeine mein Büchlein „Singende Kirche“, das kürzlich in seiner endgültigen Gestalt erschienen ist, zusende. Möget Ihr vom Geist der Lieder sagen können, daß es Geist von Eurem Geiste sei! Heute habe ich eine Anfrage, um deren Weiterleitung an die zuständige Stelle ich Euch bitte. Mein Cuxhavener Buchhändler möchte seinen 14jährigen Sohn in eine Herrnhuter Schule geben. Ich kenne die Eltern sehr gut und würde mich ganz besonders freuen, wenn der Junge aufgenommen werden könnte. Frank Neubauer, geb. 12.8.1928, hat 4 Jahre die Grundschule, dann 2 Jahre die Oberschule besucht. Im Sommer 1941 erkrankte er nach einer Erkältung beim Spiel an einer Rippenfellentzündung, hat lange im Krankenhaus gelegen und befindet sich z.Zt. in einem Sanatorium im Harz. Er hat also bisher 1 Jahr mit dieser Krankheit zugebracht. Auf Grund der ärztlichen Aussagen ist zu hoffen, daß der Junge etwa zu Weihnachten entlassen werden kann. Er würde dann wohl am besten in das 2. Oberschuljahr eintreten, um allmählich wieder in den Schulbetrieb hineinzuwachsen. Frank Neubauer ist ein gut begabter, wohlerzogener, feiner Junge, ursprünglich frisch jungenhaft, durch die schwere Krankheit um vieles ernster und reifer geworden. Der Vater ist z.Zt. Soldat, die Mutter, auch Buchhändlerin, versieht allein den umfangreichen Geschäftsbetrieb der anerkannt guten Buchhandlung. Auch um dieser kriegsbedingten Verhältnisse willen ist es dringend zu wünschen, daß der Sohn Aufnahme in einem Schulheim findet. Ich habe den Eltern von Königsfeld und von Niesky erzählt; welcher Ort am besten geeignet ist und in Frage kommt, konnte ich nicht entscheiden. Ich bitte nur sehr darum, die Aufnahme des Jungen zu ermöglichen. Hoffentlich hat die außersächsischen Schulen noch nicht das gleiche 355

Samuel Baudert (1879-1956) war seit 1919 Direktor der Missionsknabenanstalt Kleinwelka und Unitätsdirektor, seit 1929 Bischof der Herrnhuter Brüdergemeine (vgl. Personenlexikon zum deutschen Protestantismus 1919-1949, hrsg. von Hannelore Braun und Gertraud Grünzinger, Göttingen 2006, 28).

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Schicksal wie unser liebes Kleinwelka getroffen! Als alter Welker Lehrer denke ich mit Schmerz an das Ende der Welker Schulheime. – Ab 30.10. bin ich wieder über meine Feldpostnummer zu erreichen; z.Zt. bin ich auf Urlaub. Für die Vermittlung in dieser Sache bin ich Dir sehr dankbar. Deiner und der Gemeinde herzlich und dankbar gedenkend [Unterschrift fehlt] Nr. 85 [Handschriftl.] In Eile! 30 450 30. Okt. 1942. Liebe Frau Neubauer! Ich bin wieder in H. [= Den Haag], mitten in der heute wieder aufgenommenen Arbeit, mitten auch in vielerlei schweren Dingen, über die nicht zu sprechen ist. Meine eigene Sache scheint, nachdem sie noch einmal schwierig wurde, nun allmählich im Sande zu verrinnen; hoffentlich geht sie so aus! Es liegt mir daran, obgleich meine Zeit ganz knapp ist (Gottesdienst vorbereiten u.a.), Sie recht bald zu grüßen u. Ihnen meine Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen u. Ihnen zu danken. Das Paket mit Büchern u. Fotos erhielt ich noch in Goslar u. konnte alles noch durchsehen u. ordnen. Und kaum in H. angekommen, erfreuen Sie mich durch den feinen Claudiusbrief an den Sohn Johannes, 356 durch das Alverdes- | büchlein über Goethes Harzreise357 u. durch Ihre beigefügten Zeilen. Ich habe Ihre Worte mit Bewegung gelesen; sie sind in ihrer Trauer richtig schön, muteten mich erst an wie ein Zitat. Haben Sie Dank für Ihre Liebe, die aus diesen Worten spricht! Seien Sie meiner u. unserer Verbundenheit mit Ihnen gewiß! – – – Über den Offizier, dem ich Ihr erstes Büchlein Alverdes-Harzreise sandte, ist ein furchtbares Schicksal hereingebrochen, u. es wiegt viel, wenn er mir sagte, daß das Büchlein mit dem Gedicht, das er seit Jahrzehnten liebt, ihm eine Freude bereitet habe. Ich danke Ihnen um dieses von mir hochgeschätzten u. verehrten Mannes willen besonders! Bei Ihrem Besuch vergaß ich Sie um Besorgung folgenden Buches zu bitten: Hans Künkel, Das Gesetz deines Lebens (vermutlich Diederichs, Jena).358 356

Gemeint sein könnte Matthias Claudius, Vermächtnis. An meinen Sohn Johannes 1799 (Münchener Lesebogen Nr. 28), München 1940, oder: An meinen Sohn Johannes 1799 – Aus den sämtlichen Werken des Wandsbecker Bothen, Ebenhausen 1936. 357 Vgl. Anm. 343. 358 Hans Künkel, Das Gesetz Deines Lebens. Urformen im Menschenleben (zuerst 1933), Jena 1939. Der Autor (1896-1956) stammte aus einer ostpreußischen Gutsbesit-

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Ich grüße Sie herzlich u. dankbar! Ihr Arno Pö. Nr. 86 [Handschriftl.] 14. Nov. 1942 Liebe Frau Neubauer! Nun steht Ihr Geburtstag vor der Tür. Mit herzlichen Gedanken und guten Wünschen möchte ich Sie grüßen. Möge ein freundliches Jahr für Sie kommen; mögen Sie mit all den Ihren behütet und bewahrt bleiben inmitten all des Schweren, das diese Zeiten über Welt und Menschenleben bringen! Möge auch der Geburtstag selbst Ihnen Freude bringen, ein frohes Herz, ein frohes Beisammensein mit denen, die Sie liebhaben! Hier in Holland gratuliert man an den Geburtstagen nicht nur dem Geburtstagskinde, sondern seinen Angehörigen, und so gratuliere ich heute auch Ihrem lieben Mann, dafür, daß ihm Gott eine so tapfere, tüchtige Frau als Gefährtin zur Seite gegeben hat! – Auf Ihrem Geburtstagstisch liegt nun nur das schmale Bändchen Pleyer, „Tal der Kindheit“.359 Und doch freue ich mich, daß Sie es noch nicht gelesen hatten u. mir so die Gelegenheit gaben, der Buchhändlerin ein Buch zu schenken. Der kleinen Dinge (ich zähle sie auf, damit Sie beim Auspacken nicht erst enttäuscht sind: 1 Kamm, 2 Stückchen Seife), die gleichzeitig mit diesem Buche an Sie abgehen, schäme ich mich fast. In Friedenszeiten Lächerlichkeiten, unmögliche Geschenke, heute Raritäten, über deren Preis man sprachlos ist; also erlauben Sie mir, bitte, daß ich Sie mit diesen Alltagsdingen „beschenke“. – Über Ihren Gruß vom Tage Ihrer Geschäftseinweihung nach der baulichen Erweiterung habe ich mich sehr gefreut; lieb, daß Sie mich teilnehmen ließen, und Sie wissen beide, daß ich an Ihrem Geschäft immer viel Freude und darum auch Interesse habe. Möge der kleine, große Buchladen wirken (Sie kennen diese Worte von der Einsegnung der Mutter bei der Taufe und | ich meine, sie passen auch hier) Ihnen beiden zur Freude, den Menschen zum Segen und Gott zur Ehre! – Daß ich in diesem Zusammenhange wieder an die schöne, schöne, irgendwie ganz besondere u. darum unvergeßliche Taufe Ihres kleinen Michael denke – das wissen Sie. – Der beiliegende Brief aus Niesky/Oberlausitz zeigt Ihnen, daß die Schulfrage für Ihren Frank nicht ganz leicht zu lösen sein wird. Es ist in zerfamilie. Er arbeitete seit 1927 als Gymnasiallehrer und verfasste, philosophische, astrologische und erzählende Werke. 359 Wilhelm Pleyer, Das Tal der Kindheit, München 1940. Pleyer (1901-1974) war ein sudetendeutscher Schriftsteller und Journalist deutsch-nationaler und völkischer Prägung. Der Roman ist der erste Band einer Trilogie mit stark autobiographischen Zügen.

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dem Briefe aber so viel Bereitschaft ausgesprochen, daß ich durchaus hoffnungsvoll bin. Niesky wäre eine sehr gute Stätte für Ihren Frank. Und wenn ich Ihr Einverständnis habe, will ich wieder nach Niesky schreiben u. nochmals alles nur irgendmögliche Entgegenkommen erbitten. Wenn man nur erst übersehen könnte, wann Frank das Sanatorium verlassen kann. Um die Zeit bis zum Wiedereintritt in die Schule zu nützen, könnte ich mir folgende Lösung denken: vielleicht könnte Frank in Niesky von jemand in Pension genommen werden, er könnte sich dort schon einleben, könnte vielleicht hospitieren u. etwas Privatunterricht erhalten, um allmählich den Anschluß an die Schule zu bekommen. Schreiben Sie mir, bitte, bald Ihre Meinung u. senden Sie mir den beiliegenden Brief zurück. Daß ich mit aufrichtigem Interesse Franks weiteren Weg begleite u. begleiten werde, wissen Sie. Ich schreibe Ihnen in Eile (Sie merken es an der Schrift), aber in aller Arbeit gehören Ihnen meine guten Gedanken u. Wünsche. Ich denke gern an Ihren Besuch in G. [= Goslar] zurück. Grüßen Sie Ihren Mann recht herzlich von mir! Ich grüße Sie selbst, liebe Frau Neubauer, Ihr Arno Pötzsch Nr. 87 [Handschriftl.] 27. Nov. 1942. Liebe Frau Neubauer! In Eile, wie so oft, nur wenige Zeilen! Gleich muß ich wieder zur Beerdigung. Die Tage sind ganz ausgefüllt, in den Tagen vor meinem Geburtstag mit sehr viel Schwerem. – Haben Sie Dank für alle Ihre lieben Zeichen freundlichen Gedenkens! Am Tage vor meinem Geburtstag hatte ich Ihren am 17. Nov. geschriebenen Gruß in den Händen, am Tage darauf Ihren Geburtstagsbrief u. das handgeschriebene Blatt Meditation, mit dem Sie mich überrascht haben, u. gestern kam noch das Päckchen mit den beiden Büchern „Die Nachtwachen …“360 u. „Gedanken sind Kräfte“.361

360 Wahrscheinlich: Die Nachtwachen des Bonaventura (zuerst 1804), Weimar 1916; Leipzig 1921. Satirischer Roman, als dessen Verfasser 1987 der romantische Schriftsteller und Braunschweiger Theaterdirektor August Klingemann (1777-1831) ermittelt wurde. 361 Gedanken sind Kräfte. Aussprüche, gesammelt von Maria March, zuerst im Selbstverlag, Berlin-Charlottenburg, ca. 1918 od. 1919, im Zweiten Weltkrieg als Feldpostausgabe verbreitet und bis heute vielfach nachgedruckt.

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Über das 2. Buch, „Gedanken sind Kräfte“, bin ich ganz außerordentlich erfreut. Daß ein wissenschaftlicher Verleger heute ein solches Buch362 herausbringt, ist erstaunlich! Ich habe es begierig durchgelesen u. hätte am liebsten dem Verleger u. dem Herausgeber für diese feine Arbeit seiner Mutter gedankt; leider fehlt es an Zeit zu solchen Briefen. Können Sie mir 20 oder mehr Exemplare vermitteln? Das wäre ein Weihnachtsgeschenk für meine feinsten Offiziere u. Soldaten u. für manchen hungrigen Menschen! Ich bin Ihnen so dankbar dafür, daß Sie mich mit diesem Buche persönlich erfreut u. um meiner Arbeit willen bekannt gemacht haben. Wie schön ist der tägliche Dreiklang von Bibelwort[,] deutschem Wort u. Lied! Hoffentlich kann ich etliche Exemplare bekommen. – Für alles Liebe, für alle guten Worte danke ich Ihnen sehr herzlich. Grüßen Sie Ihren Mann u. auch Ihren großen Jungen, an den ich mit Sorge denke; Gott erhalte Ihnen diesen Sohn! Ihr Arno Pötzsch. Nr. 88 [Postkarte] 29.11.1942. M. l. Fr. N. [= Meine liebe Frau Neubauer]! Nun sende ich Ihnen noch einmal einen Kamm, damit Sie sich nie Ihre langen, schönen, schweren Flechten abschneiden müssen. Ich hatte jemand um Besorgung eines guten Kammes gebeten, u. nun bekam ich gestern diesen, der allerdings noch wesentlich besser als der vom Geburtstag ist. Nach dem sündhaften Preis bitte ich Sie nicht zu fragen; ich freue mich, daß ich einmal etwas schenken kann, das Sie brauchen, wenn es auch nüchterne Dinge des Alltags sind. – Nach Niesky werde ich wieder schreiben u. um Vormerkung Ihres Frank bitten; hoffentlich überwindet Frank diesen neuen Rückfall ins akute Krankheitsstadium bald u. gut! – In den nächsten Tagen erwarte ich von [der] Druckerei den Werbebrief für das Peterbuch; es wird höchste Zeit, daß die Werbung nun ausgeht; der Drucker hat mich lange warten lassen. – Schicken Sie mir, bitte, 1 Peterbuch; ich will es jenem Offizier, der auch Alverdes-Harzreise bekam, zu Weihnachten schenken; | er ist Goethefreund u. -kenner. Er trägt gerade schwer an einem furchtbaren Schicksal, darum wollte ich ihn doppelt (Gedanken sind Kräfte + Peterbuch) erfreuen. – Ist Leixner, Letzte Seele, u. Alverdes, Pfeiferstube u. Zwiegesicht, Gorch Fock „Seefahrt ist not[“] noch zu haben? Ist etwas von dem zu erwarten, was wir in Goslar aus der Liste aussuchten? 362 Die Sammlung enthält für jeden Tag des Jahres ein Bibelwort, dazu passend aus den Bereichen Literatur, Religion und Philosophie einen Prosatext und einen lyrischen Text oder eine Liedstrophe.

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Ich grüße Sie ganz herzlich! Ihr A.P. Nr. 89 [Handschriftl.] 5.12.1942. Liebe Frau Neubauer! In Eile nur wenige Zeilen! Mit großer Verspätung habe ich endlich den Werbebrief aus der Druckerei bekommen. Die Briefe gehen heute noch an alle Verwandten hinaus. Mehrere sind z.Zt. im Felde. Wie der Erfolg sein wird bleibt fraglich. Ihnen bin ich von Herzen dankbar für alle Mühe und für alle herzliche Teilnahme an dem Buch und seiner Geschichte! Senden Sie, bitte, auf meine Rechnung 1 Ex. an meine Schwester: Frau Magdalene Bernd, Chemnitz/Sachsen, Marktsteig 8, u. legen Sie das beigefügte Werbeblatt mit dem Gruß bei. Auf das Buchpäckchen schreiben Sie, bitte, „erst Weihnachten öffnen“. Ich habe mit Bedacht nun doch „5.- RM“ geschrieben; es ist schon richtig so. Sie haben so viel Mühe, u. wenn ich auch grundsätzlich das Risiko tragen will, so tragen Sie es doch praktisch z.Zt. an meiner Stelle. Wenn Sie mir etwas schicken, dann, bitte, nicht nur darauf schreiben „Dienststelle 30450“, sondern „Evang. Marinepfarrer, Dienststelle 30450“, sonst gehen die Sendungen erst an andere Stelle. Mit großer Überraschung empfing ich gestern den prächtigen Geburtstagskuchen. Sehr herzlichen Dank!! Sie sollten sich solch kostbare Zutaten aber nicht entziehen!! Nochmals vielen, vielen Dank!! In Eile, doch herzlichst, Ihr Arno Pötzsch. Nr. 90 [Handschriftl.]

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Liebe Frau Neubauer, ich schreibe im Zuge zwischen Antwerpen u. Brüssel; die Schrift gerät nicht recht, aber zu Hause komme ich überhaupt nicht zum Schreiben. Wie oft habe ich mitten aus Arbeit, Müdigkeit u. Kampf an Sie gedacht, an Ihre Arbeit und Ihre Sorgen … Möge Ihr lieber großer Junge bald wieder gesund werden! Ich denke oft an Frank, wie es auch die Meinen zu Goslar tun! – Haben Sie von Herzen Dank für Ihre Weihnachtsgaben, für Bücher u. Bild – es ist alles in meine Hände gekommen u. alles hat mich sehr erfreut. Daß mir Ihr Mann selbst schrieb, rechne ich ihm hoch an, sagen Sie ihm, bitte, meinen besonderen Dank. Daß Ihnen die Delfter Kachel u. die Holzmodel Freude bereiteten, freut mich mit. – Zum Lesen bin ich noch nicht gekom-

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men, die Zeit von Weihnachten u. Neujahr war überaus arbeitsreich. – Mit den Verteil- | büchern habe ich Freude bereiten können. Das besinnliche Büchlein „Gedanken sind Kräfte“363 haben wertvollste Menschen in die Hand bekommen u. dankbarst aufgenommen. In einem Falle habe ich das Buch in ein fürchterliches Lebensschicksal hineingeben können. – Das Leben ist oft ungeheuerlich schwer, hart, dunkel. Es macht mir viel zu schaffen. – Den kl. Friedemann364 les ich mit herzl. Freude; feines Buch!! Mechows „Vorsommer“365 habe ich wieder verschenkt – u. war noch nicht zum Lesen gekommen. Bitte, besorgen Sie mir den Vorsommer nochmals. Dringend brauche ich: Stauffer, Die Theologie des Neuen Testaments, Stuttgart, Kohlhammer.366 Der Zug fährt in Lüttich ein. Leben Sie wohl! Herzlichst Ihr Arno Pötzsch Nr. 91 [Handschriftl.] 5. II. 1943. Liebe Frau Neubauer! Sie schrieben mir einmal, daß Ihnen das Bildnis meiner Mutter in besonderer Weise gefallen habe. Ich habe nun für mich und meine Kinder das alte Bild neu fotografieren lassen und sende Ihnen einen Abzug davon. Sie dürfen es gern behalten und ich spreche nur die Bitte aus, daß Sie das Bild, falls Sie sich einmal davon trennen wollen, in meine oder meiner Kinder Hände zurückgeben. Ich habe dieses Bild meiner lieben Mutter sehr, sehr gern. – Sie haben mich in diesen Tagen mit einem lieben Brief, der von Heimweh spricht, erfreut; ich danke Ihnen dafür, liebe Frau Käthe. Sie sollen aber nicht traurig sein und sollen sich nicht um mich sorgen – wenn ich auch sehr viel Schweres gerade im letzten halben Jahr erlebt habe. Es war oft sehr dunkel … Auch Ihnen war es oft genug dunkel und schwer. Wieviel Sorge haben Sie schon um Ihren Frank getragen! Gott gebe, daß er Ihnen erhalten bleibt 363

Vgl. Brief Nr. 87. Der kleine Herr Friedemann. Novelle von Thomas Mann (1898). 365 Karl Benno von Mechow, Vorsommer. Roman, 1933. National-konservativer Autor (1897-1960) aus alter Offiziersfamilie. 366 Ethelbert Stauffer, Theologie des Neuen Testaments, Stuttgart-Berlin 1941. Stauffer (1902-1979) promovierte 1929 in Halle, lehrte dort als Neutestamentler und übernahm 1934 eine Professur in Bonn. 1943 erhielt er Redeverbot. Nach Kriegsende lehrte er zunächst wieder in Bonn, dann 1948-1963 in Erlangen. 364

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und eines Tages genesen zu Vater und Mutter zurück kehrt! Wegen der Schule habe ich zunächst nichts weiter unternommen, da alles so sehr ungewiß ist. So bald Pläne gemacht werden können[,] lassen Sie mich’s, bitte, wissen! Daß Annis Verlobter, Ferdinand, nun doch noch sterben mußte, erfuhr ich durch Ihre Zeitung; der Brief meiner Frau mit der Todesanzeige war sehr lange unterwegs u. kam erst später an. Wie hart das alles! Arme, liebe Anni! - Und während so manches harte Einzelschicksal vor uns steht, tobt drüben im Osten dieser ungeheuerliche Kampf und hat sich das Schicksal vieler Tausender bitter vollendet. Was wird aus der Erde, wenn Gott sie sich selbst überläßt? Haben Sie Dank für Goethes Novelle 367 u. die kleinen Erzählungen von Eugen Roth,368 Dank aber vor allem für die überraschende Büchersendung, die heute kam, den Mechow, die 2 Briefsammlungen u. die siebenbürgischen Geschichten von Reimesch. 369 Liebe Frau Neubauer, Sie verwöhnen mich arg; Sie haben mich beschenkt, wie an einem großen Festtag. Sehr, sehr herzlichen Dank für alle und alles Liebe! Ich muß abbrechen, aber zuvor noch etwas bestellen: 1) Dornblüth, Klinisches Wörterbuch, neueste Auflage, Bln. u. Lpzg., Vereinigung wissenschaftlicher Verlage, de Gruyter.370 2) Mauersberger, Vierstimmiges Deutsches Choralbuch. Verl. Merseburger u. Co., Lpzg. (3 Exempl.)[.]371 Herzlichen Dank für die Besorgung! Grüßen Sie Ihren Mann herzlich von mir. Ich grüße Sie in herzlicher Verbundenheit! Ihr Arno Pötzsch Nr. 92 [Handschriftl.] 22. II. 1943. Liebe Frau Neubauer!

367

Nicht zu ermitteln. Gemeint sein könnte: Der Fischkasten. Erzählungen (Reclams Universalbibliothek Nr. 7533), Leipzig 1942. Vgl. auch Anm. 145. 369 Vgl. Anm. 173. 370 Otto Dornblüth, Klinisches Wörterbuch. Die Kunstausdrücke der Medizin, BerlinLeipzig 1937. 371 Rudolf Mauersberger, Vierstimmiges Deutsches Choralbuch. Die Weisen des Melodienbuchs zum Deutschen Evangelischen Gesangbuch, Leipzig ca. 1930. 368

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Nun ist es wieder einmal so weit, daß ich auf Urlaub fahren kann. Wohl hat der Plan schon längere Zeit bestanden, aber erst in diesen Tagen entschied es sich, daß ich auch wirklich fahren kann, heute morgen werde ich in Goslar sein, und daß ich nun gar zu Sabinchens Geburtstag nach Hause komme, ist dem Kind und mir eine besondere Freude. Die 14 Tage werden dann schnell genug vergehen; man weiß das aus der Erfahrung. Darum sind die ersten Urlaubstage die schönsten; man sieht einmal die Schatten nicht und träumt sich[,] daß sie nicht wären, aber bald genug sieht man sie wieder. – Ich hoffe, vielleicht Ende März oder im April einmal einen Tag nach Cux. kommen zu können; mit Sicherheit läßt sich freilich noch nichts sagen. Ich würde mich freuen, wenn ich einmal wieder kommen könnte. – Ihrem Mann u. Ihnen selbst einen sehr herzlichen Gruß! Ihr Arno Pötzsch Nr. 93 [Masch.] Marinepfarrer Pötzsch

z.Zt. Goslar: 5. März 1943, Knochenhauerstr. 3.

Herrn Buchhändler Hans N e u b a u e r Cuxhaven Schillerstraße 33 Lieber Herr Neubauer! Jetzt bin ich ganz traurig, denn ich habe Ihren Geburtstag vergessen. Ich lebe in diesen Urlaubstagen ohne Kalender und ohne rechtes Zeitbewußtsein, erlebe naturhaft Morgen, Mittag und Abend so viel wie möglich draußen in den Wäldern um Goslar und denke kaum an das Datum der Tage (Sie kennen das ja auch: so bald man ans Datum denkt, fängt man an zu zählen und die entschwindenden Urlaubstage zu berechnen), und so nur konnte es kommen, daß ich erst am Tage nach Ihrem Geburtstage daran dachte, daß gestern, am 4. März, Ihr Geburtstag war. Seien Sie mir, bitte, nicht böse. Meine Gedanken sind ja doch nicht nur an einem solchen besonderen Tage bei Ihnen und Ihrer Familie, sondern auch sonst, und meine guten Wünsche gelten Ihnen heute und immer. Sie werden mit mancherlei Fragen, mit ernsten Gedanken, wie sie heute unabwendbar sind, in das neue Lebensjahr eingetreten sein. Was wird das Jahr Ihnen, was unserm Volke, was der Welt bringen? Wie wird übers Jahr alles aussehen? Da kann man dann nur, im Geiste oder leibhaftig, die Hände falten und etwa mit Mörickes Worten beten: Vater, du rate! Lenke du und wende, Herr, dir in die

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Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt!372 Wie anders als in der Gewißheit göttlicher Weltregierung und Lebensführung könnte man das Dasein bewältigen! Daß uns diese Gewißheit bleibe – auch wenn noch härtere Tage über uns kommen! – Ich habe nun nichts bei mir und habe nichts bekommen können, womit ich Ihnen eine Freude hätte machen können. Leid genug ist es mir, daß ich zu spät und auch noch mit leeren Händen zu Ihnen komme. Seien Sie, bitte, dennoch meiner aufrichtigen Freundschaft und bleibenden herzlichen Verbundenheit gewiß. Ihrer lieben Frau danke ich herzlich für die Büchersendungen, die ihrem Besuche folgten. Übrigens entdeckten wir gestern in der dunklen Ecke am Kleiderhaken den Regenumhang Ihrer Frau. Wir senden ihn heute ab. Und wir fügen für das Geburtstagskind ein paar Plätzchen bei. Wenn ich wieder in Holland bin, will ich versuchen, noch einmal eine nette Holzform für die „Springerle“ zu bekommen. Hat Ihre Frau Ihnen dieses hübsche Gebäck schon einmal gebacken? Meine Frau hat es jetzt wieder getan und wieder ist nach dem Rezept, das ich Ihrer Frau eilends aufschrieb, alles wohlgeraten. Nun grüße ich Sie herzlich, auch Ihre Frau, zugleich im Namen meiner Frau, die geschäftig in der Küche steht. Ihr Arno Pötzsch Nr. 94 [Handschriftl.] 31. III. 1943. Liebe Frau Neubauer! Seit Tagen habe ich mir immer wieder vorgenommen, Ihnen zu schreiben[,] und kam dann doch nicht zu dem beabsichtigten Briefe. Ich danke Ihnen herzlich für Ihren letzten Brief, in dem Sie mich so lieb in Ihr Herz sehen ließen. Ich will nichts dazu schreiben, es ist wohl auch nicht not, es zu tun, aber Sie wissen, daß ich Ihrer herzlich gedenke! Und wie oft wurde ich an Sie erinnert – die vielen Bücher im Zimmer sind ja eine einzige, 372 Die zweite Strophe des zitierten Gedichts von Eduard Mörike (1804-1875) ‚Zum neuen Jahr‘ (vom Dichter als „Kirchengesang“ bezeichnet) lautet vollständig: In Ihm sei’s begonnen, / Der Monde und Sonnen / An blauen Gezelten / Des Himmels bewegt. / Du, Vater, du rate! / Lenke du und wende! / Herr, dir in die Hände / Sei Anfang und Ende, / Sei alles gelegt! Es wurde von Hugo Wolf (1860-1903) für Solostimme und Klavier in den Mörike-Liedern vertont, die zweite Strophe findet sich für Chor a cappella von zahlreichen Komponisten vertont, u.a.in ‚Zum neuen Jahr‘ op. 31 von Josef Rheinberger (1839-1901), in den ‚Liturgien‘ op. 6, Nr. 3, von Reinhard Oppel (1878-1941) und in ‚Sechs Mörike-Chorlieder‘, Nr. 1, von Manfred Schlenker (geb. 1926).

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fortlaufende Erinnerung an Sie. – Ich las mit besonderer, großer Freude die Auswahl von Spenglers „Gedanken“, die Sie mir im Febr. schenkten. 373 Ich habe nun trotz m. gr. [= meiner großen] Beanspruchung die „Jahre der Entscheidung“ u. die „Reden u. Aufsätze“ gelesen u. bin gepackt von vielem. Auch die klare | schöne Sprache ist ja schon eine Freude! Ich würde nun sehr gern die Sammlung der „Politischen Schriften“ Spenglers kennen lernen. Wird mir das durch Sie noch zugänglich sein? – Stauffers „Theologie des Neuen Testaments“374 scheint nicht lieferbar zu sein? Oder ist noch zu hoffen u. ist nur die Lieferungsfrist zu lang? – Wie geht es Ihnen und den Ihren? Gott behüte Sie allesamt! Tag- u. Nachtangriffe haben in letzter Zeit viel Unheil u. Leid angerichtet. Vorhin erschreckten mich die schweren Rauchwolken über Rotterdam, das heute mittg. [= mittag] heimgesucht wurde. „Menschen wachen kann nichts nützen, Gott muß wachen, Gott muß schützen …“ heißt es in dem alten Liede.375 Ich grüße Sie sehr herzlich, Ihr A.P. Nr. 95 [Handschriftl.] 1. Mai 1943. Liebe Frau Neubauer! Wenn ich groß ich Ihnen Ihnen so so lange lange nicht nicht schrieb, schrieb, können können Sie Sie ermessen, ermessen, wie wiegroß mein tägliches Arbeitsmaß sein muß. Denn, wie Sie sich denken und mir glauben werden, wenn ich es irgendwie hätte schaffen können, hätte ich Ihnen längst geschrieben. Ich bin Ihnen so dankbar für Ihr treuliches, mitgehendes Gedenken, für Ihre Worte u. für Ihre Sendungen, mit denen Sie mir immer aufs neue eine Freude machen. Zu danken habe ich Ihnen für den Pfarrer im Kur, dem die sehr positive Beurteilung Stifters beilag, für Schröders kl. Buch „Dichtung u. Dichter der Kirche“,376 das mich sehr interessiert, für das Meisterbüchlein (Richter, Thoma, Koch)377 u. viell. noch manches andere, das ich noch nicht erwähnt habe. Eben fällt mir ein: 378 das ich leider noch nicht las, aber nun als nächstes Pfarrfrau Johanne,378 373

Vgl. Anm. 303. Vgl. Anm. 366. 375 Nachtwächterlied: Hört ihr Herrn und lasst euch sagen. Text eines unbekannten Verfassers aus dem 18. Jh., Melodie aus dem Nürnberger Gesangbuch von 1731. 376 Rudolf Alexander Schröder, Dichtung und Dichter der Kirche, Berlin 1936. 377 Kurt Ihlenfeld (Hrsg.), Der Meister. Bekenntnisse von Ludwig Richter, Hans Thoma und Rudolf Koch, Berlin 1937. 378 Gustav Renker, Pfarrfrau Johanne, Gütersloh 1927. Der Journalist und Schriftsteller (1889-1967) wurde vor allem durch seine Berg- und Heimatromane bekannt. Er war überzeugter Pazifist. 374

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lesen werde. „Die guten Gefährten“ von Goes379 fand einmal in einer Frontbuchhandlung in Belgien u. las einige Abschnitte mit wahrer | Freude. Bitte, seien Sie nun nicht enttäuscht, weil ich Ihr schönes Buch schon kenne u. besitze. Ich weiß einen Menschen, der in sehr großer Not ist; der kann die „Guten Gefährten“ gut gebrauchen; dem werde ich mein Exemplar schenken u. schicken, wenn ich das Ihre bekommen habe. Es rührt mich, wie Sie immer an mich denken u. mich mit dem Besten, so weit es heute noch erreichbar ist, versorgen. Haben Sie Dank für diesen guten treulichen, schwesterlichen Dienst! – Leid ist mir, daß Stauffer, „Theologie des Neuen Testaments“ offenbar doch nicht zu beschaffen ist; ich hätte das Buch so gut brauchen können. Würden Sie so freundlich sein u. Pfr. Stange veranlassen, mir aus meiner Bücherei zu senden: Gustav Frenssen, „Dorfpredigten“.?380 Obgleich ich mich von vielen Büchern getrennt habe u. schon für viel Geld die sehr raren Kisten beschafft habe, um noch mehr fortzuschicken, hat man doch noch Bücherwünsche. – Ich breche hier ab, weil die Post fortgeht. Ihr A.P. Nr. 96 [Handschriftl.] 2. Mai 1943. Liebe Frau Neubauer! Das erste Briefblatt mußte ich unvollendet absenden, damit nicht eine neue Verzögerung entsteht. Ich will aber nun schnell (Sie erkennen die Eile aus der Schrift) den Brief zu Ende bringen. Sie schrieben mir vor einiger Zeit ein wenig enttäuscht über eine Absage meiner Frau. Versuchen Sie’s, bitte, zu verstehen. Meine Frau ist so restlos erschöpft, erschöpfter als es den Anschein hat, so daß ihr auch liebe Menschen eine kaum oder nicht zu bewältigende Last bedeuten. Ich lese das seit langem immer wieder bei Besuchen in ihren Briefen. Das schreibt sie mir z.B. am 20.4., nachdem Frau von Dossow, die während des Sanatoriumsaufenthalts meiner Frau unsern Haushalt führen u. die Kinder betreuen wird, nur einige wenige Stunden da war, um uns kennen zu lernen u. das Notwendige mit m. Frau zu besprechen[.] „… Frau v. D. war bei uns. Es ist im Grunde ja schlimm, daß mich so ein Be- | such so viel Kraft kostet, daß 379

Albrecht Goes, Die guten Gefährten. Prosastücke, Stuttgart 1943. Goes (19082000) war dt. Schriftsteller, evangelischer Theologe und bis 1953 als Pfarrer tätig. 380 Gustav Frenssen, Dorfpredigten (zuerst 1902/03), Göttingen 1921. Frenssen (18631945) war zunächst Pastor im Dithmarschen, gab aber schon 1902 seine Stelle auf. Er vertrat als dt. Schriftsteller den völkischen Nationalismus und unterstützte nach Hitlers Machtübernahme die NSDAP.

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ich abends todmüde bin. Vielleicht merkt mir ein Fremder garnicht an, daß ich aufmerksam zuhören u. selber rege im Gespräch nur auf Kosten der restlichen Kräfte sein kann. Dieses Konzentriertsein auf den Besuch macht mich ja immer schon, seit langem, unendlich müde, und das nimmt immer mehr zu. Wie freue ich mich darum auf die Stille im J. [= Jungborn], wo ich keinen Menschen kenne.“ – Das war nun ein unvermeidlicher Besuch, während m. Frau sich jedem andern Besuch z.Zt. entzieht, weil sie’s kräftemäßig jetzt nicht schafft. Bitte, verstehen Sie dies! Ich habe gestern 200.- RM an Sie überwiesen u. werde viell. [= vielleicht] in einiger Zeit nochmals einen Betrag folgen lassen. Das Geld soll bei Ihnen angelegt sein für Bücher, die ich für die Soldaten gekauft habe oder noch kaufen werde. Ich möchte mir ein Guthaben schaffen. Als ich Cux. verließ u., vor nun fast 3 Jahren, nach H. kommandiert wurde, hinterließ ich meinem Nachfolger einen größeren | Kassenbetrag, während ich hier draußen nichts hatte u. mir erst Freunde u. Geber erwerben mußte. Ich muß nun damit rechnen, daß ich – vielleicht im Sommer, vielleicht noch etwas später – nun doch einmal abkommandiert werde, voraussichtlich nach Frankreich. Ich werde dann wieder etwas Neues aufbauen müssen u. werde dann nicht mehr den Rückhalt deutscher Gemeinden haben. Ich kann aber jetzt mit gutem Gewissen einen Teil meines Kasseninhalts für diese späteren Aufgaben sicherstellen u. sehe nicht ein, warum ich das Geld m. Nachfolger hinterlassen soll. Ich bekomme die meisten Beträge doch als Gaben von Menschen, die sich von mir angesprochen fühlen u. die dann zu mir kommen u. mir eine Geldspende zur persönlichen Verwendung in meinem Amt u. Dienst in die Hand drücken. Darum habe ich auch das erste Verfügungs- u. Bestimmungsrecht. Bitte, schreiben Sie mir das Geld gut zur Bücherbeschaffung für meine Soldatenseelsorge! | Was ich persönlich schuldig bin, können wir gelegentlich wieder einmal ausgleichen. Das Stücklein Seife, das ich kürzlich sandte, sollen Sie freundlich von mir entgegen nehmen, aber nicht verrechnen! Ich habe übrigens eine hübsche alte holl. [= holländische] Holzmodel für Sie erstanden, damit Sie nach dem ausgezeichneten Rezept meiner Frau auch Springerle backen können; hoffentlich kann ich Ihnen das schöne alte Backholz, das bei Nichtgebrauch auch die Stube zieren kann, bald zusenden! Wie geht es Ihren sämtlichen Männern? Dem Soldatenmann u. den beiden Jungens? Vermißt der Kleine nun seine Mutter? Und wie geht es unserm lieben Kranken? Daß Sie Ihre Prüfung geschafft haben und doch wohl sicher sind, daß Ihr Geschäft offen bleibt, freut mich sehr herzlich. Mit guten Wünschen und herzlichen Grüßen bin ich IhrArno Pötzsch.

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Nr. 97 [Handschriftl.] 31. Mai 1943. Liebe Frau Neubauer! Sie haben mich heute mit einer Reihe hübscher Reclambüchlein erfreut (Winnigs „Holzfäller Stiegel[“]381 las ich sogleich während der Bahnfahrt) und dafür danke ich Ihnen sehr. Ebenfalls danke ich Ihnen sehr herzlich für das Buch, das Sie fürsorglich und rechtzeitig für meine Frau ausgesucht u. nach Goslar gesandt hatten. Ohne Ihr treuliches Allesbedenken hätte ich nichts zu schenken gehabt. Ich kann Ihnen nur ganz herzlich dankbar sein. Für meine Frau brauche ich übrigens zum 31.7. wieder ein schönes Buch; suchen Sie, bitte, für mich! Nie habe ich in dsr. Art Bücher gekauft, aber heute weiß man abseits vom literar. Leben nicht, was erscheint u. erschienen ist, u. abseits vom Buchladen nicht, was tatsächlich vorhanden ist. Sollte es auch für Christiane (12.7.) u. Kathrin (25.8.) etwas geben? Heute sende ich Ihnen zur Einsicht und mit der Bitte um baldige Rückgabe – eine Deutung meiner Handschrift durch Frau Lucy Weizsäcker, 382 deren Name Ihnen gewiß durch Anzeige | u. Aufsätze in der „Neuen Schau“ gut bekannt ist. Schwester Elisabeth Bick,383 deren Name Ihnen ja nun schon bekannt ist, hatte für sich in einer schwierigen Berufsentscheidung um eine sog. „Beratende Analyse“ gebeten und diese dann als recht hilfreich empfunden. Gemeinsam erbaten wir dann eine solche beratende Analyse für einen anderen Menschen, den wir in einer schwierigen Berufssituation wußten, und eines Tages ging mir selbst eine solche Analyse zu, die ein anderer ohne mein Zutun und Ahnen für mich bestellt hatte. Die kleine Schwester E.B. hat mich also ebenso überrascht wie Sie damals. Und weil Sie mich ja doch ein wenig kennen und die damals angefertigte Analyse gelesen haben, so mögen Sie auch diese Weizsäckersche Deutung lesen. Das beratende Moment ist mir dabei besonders wichtig; am Charakter selbst kann man doch nicht viel ändern, und ist etwas Gutes daran, dann ist das kein Verdienst. Aber die Rat- | schläge sind wertvoll! Meine Bitte werden Sie nun schnell erraten: alle dort genannte Literatur, so weit sie eben zu beschaffen ist, zu beschaffen. Ich besitze, wenn ich mich recht besinne, nur

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Gemeint ist: August Winnig, Stiegel der Holzhauer, Leipzig 1943. Vgl. Anm. 322. Lucy Weizsäcker (?-1964) war eine Cousine Viktor von Weizsäckers. Sie hatte 1928 ein graphologisches Gutachten über die Handschrift Sigmund Freuds angefertigt, das Jahre später in der Zeitschrift ‚Psyche‘ erschien (Psyche 4 [1950], Heft 4, 161-170). Freud hatte ihr die Genehmigung verweigert, die Analyse vor seinem Tod zu veröffentlichen. 383 Elisabeth Bick leitete für ein Jahr eine Mütterschule in Holland. 382

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Kierkegaards Krankheit zum Tode,384 weiß aber auch das nicht ganz genau; notfalls könnten Sie bei Gelegenheit einmal in meinem Arbeitszimmer nachsehen; die Kierkegaardbände stehen dort alle beieinander. Schellings „Mythos u. Offenbarung“ gibt es wahrscheinlich in einer Reihenausgabe (Reclam, Körner oder dergl.). Die genannten Bücher sind alle gewichtig; es eilt also nicht mit allen; wenn ich nur etwas davon bald bekommen könnte, etwa Mstr. [= Meister] Eckehardts „Geistl. Unterweisung“, 385 den Schmidhauser386 u. den Weizsäcker387 – oder was es sonst gibt. Schwester E.B. wird Ihnen gelegentlich das wohl schon angekündigte altholl. [= altholländische] Backbrett senden – als Gruß für Ihre schöne Stube, aber auch für die Küche. Wegen des ungebräuchl. Formats konnte ich es nicht durch Feldpost senden; Schw. E.B. nahm es darum vor einiger Zeit mit nach Dtschl. Würden Sie, bitte, auf meine Kosten der Schwester Elisabeth Bick ein Peterbuch an ihre neue Anschrift senden (Jena, Universitätskinderklinik, Kochstr. 2). Meine Frau ist seit 18.5. im Sanatorium Jungborn; 388 alle ihre Briefe berichten von unsäglicher Müdigkeit, die jetzt, nach dem Aufhören des täglichen Imperativs, erst recht zum Ausbruch kommt. Und wie geht es Ihnen, Ihrem Mann, den Jungen, dem „Kleinen Buchladen“, unserm Cuxhaven…? Mögen Sie gute Nachrichten erhalten und Gutes erleben! Ich grüße Sie sehr herzlich und bleibe getreulich Ihr Arno Pötzsch.

384 Der dänische religiöse Schriftsteller und Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) war ein von Pötzsch hoch geschätzter christlicher Autor. Möglicherweise besaß er einige Bände aus der Werkausgabe von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf (12 Bde., Jena 1909-1922). 385 Gemeint ist wohl die Insel-Ausgabe von: Meister Eckhart, Reden der Unterweisung, Leipzig 1940. 386 Nicht eindeutig. Gemeint sein könnte der Schweizer Philosoph Julius Schmidhauser (1893-1970). 387 Wahrscheinlich der Arztphilosoph und Begründer der psychosomatischen Medizin Viktor von Weizsäcker (1886-1957). 388 Das 1896 gegründete Sanatorium Jungborn bei Stapelburg im Harz galt um die Jahrhundertwende als größte Naturheilanstalt der Welt mit zeitweise bis zu 1000 Tagesgästen. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Kuranstalt in ein Lazarett und Krankenhaus umgewandelt, nach 1945 in ein reines TBC-Krankenhaus. 1964 wurden die Gebäude abgerissen.

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Nr. 98 [Handschriftl.] 7.6.1943. Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für Ihren eben eingetroffenen Brief vom 2.6., in dem Sie mir von dem Planner-Petelin-Buch „Das hl. Band“389 erzählen. Ja, ich habe damals „Und dennoch blüht die Erde“ mit ganz großer Freude gelesen. Wenn ich es noch hier hätte, würde ich es Ihnen gleich schicken; es lohnt sich, dieses Buch zu lesen, und Sie werden auch einmal Freude dran haben. Es tut mir nun wirklich leid, daß Sie, mir meinen Wunsch erfüllend, selbst leer ausgegangen sind! So bald wird das Buch nicht wieder zu haben sein. Nun darf ich mich schon auf „Das heilige Band“ freuen. Vielen Dank dafür! – Daß der Ethelbert Stauffer, „Theol. des NT“[,] nicht zu haben ist, ist überaus schade. Überall wird das Buch gesucht, antiqu. [= antiquarisch] zu kaufen gesucht – u. nirgends ist es zu haben. Nun, dann muß man mit Geduld warten u. hoffen. Ihnen danke ich sehr herzlich für Ihre Bemühungen. Den Brief des Verlags füge ich wieder bei. – Daß die Backform ankam, freut mich; es ist ein besonders hübsches Stück, als Schmuckstück schön u. doch auch praktisch brauchbar. – Daß Sie Schwester Elisabeth Bick das „Peterbuch“ sandten, danke ich Ihnen. Schw. Elisabeth hofft einmal von Jena, wo sie an der Universitätskinderklinik tätig ist, nach Weimar zu kommen, um für mich im Goethearchiv etwas nachzusehen, was den Peter betrifft. – Schwester E.B. habe ich als Mütterschulleiterin in Amsterdam kennen gelernt, aber nun hat sie nach knapp einem Jahr der Weg wieder aus Holland fortgeführt. Wir hatten manches gute, fruchtbare Gespräch; nun ist auch dsr. [= dieser] Lichtschimmer wieder verschwunden. Darf ich Ihnen als einen Gruß und zur Erinnerung das beigefügte Bild senden? Grüßen Sie Ihren Mann herzlich von mir. Mit getreuen guten Wünschen für Ihr Leben und Ihre Arbeit Ihr Arno Pötzsch. Das Büchlein dient wegen des passenden Formats zum Schutz; Sie dürfen’s jemand schenken. [Dem Brief beigefügt ist eine Bildkarte mit einer Zeichnung von Pötzsch „Gekappte Linden im Herbst“, auf der Rückseite findet sich der Text des Gedichts „Herbst“.]

389

Rose Planner-Petelin, Das heilige Band. Roman, Hamburg 1938. Planner-Petelin war das Pseudonym von Hedwig Zöckler. Vgl. Anm. 224.

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Herbst I Ein herbstlich Blatt, vom Wind verweht, hat leis mir heut die Stirn berührt, und ich erschrak, weil ich gespürt den Tod, der durch die Lande geht. Wir sterben beide, du und ich – mahnt leis das Blatt, gelöst vom Baum – ein fallend Laub, verweht im Raum, ruft uns die Erde, dich und mich! II Der Wind wühlt in den Blättern. Der Regen peitscht das Feld. Der Herbst mit schweren Wettern das Sterben lehrt die Welt. Und ich auch lerne, bange, in abgrundtiefer Not, das Sterben, lange, lange, am tausendfachen Tod. III Wenn dann die Blätter fallen, von rauhem Wind verweht, dann spürst du, daß uns allen der Tod am Wege steht. Sieh auch die stillen Hände gebreitet um die Welt, in die an seinem Ende ein jedes Leben fällt.390 Hans und Käthe Neubauer Cuxhaven, im Oktober 1939. Arno Pötzsch, Marinepfarrer

390

Ohne Datierung und mit einer zusätzlichen Doppelstrophe abgedruckt in: HeideMünnich, 390f.

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Nr. 99 [Handschriftl.] 19.6.1943. Liebe Frau Neubauer! Ich sitze im Wartesaal eines Bahnhofs, von dem aus ich in einer Stunde nach Belgien weiterfahren werde; morgen halte ich einen Gottesdienst in Brüssel und werde mittags nach Paris, wohin mich der Mar. [= Marine] Dekan391 zu einer Besprechung gerufen hat, weiterfahren. Nun will ich die kurze Zeit nützen, Ihnen zu schreiben. Sie sollten meine Antwort auf Ihren lieben Brief vom 4.6. längst haben, aber da ich Ihnen doch etwas ausführlicher schreiben wollte und mußte, bei der Fülle der Arbeit aber nicht zum Schreiben kam, mußten Sie bis heute warten. Sie haben mich unterdessen mit noch einem Brief (vom 11.6.) mit dem Buch der Planner-Petelin und den Teilbänden der Thielschen „Preuß. Soldaten“392 erfreut. Haben Sie Dank für alles!! Haben Sie Dank für alle Liebe und Treue, für alles fürsorgliche Begleiten und Bereiten meiner Dinge! Wie seltsam wäre es, wenn ich nach Paris käme u. den russ. Philosophen Berdj. [= Berdjajew] kennen lernen würde.393 Ich weiß erst durch Sie, daß Br. dort lebt. – Daß Sie noch 1 Ex. „Und dennoch blüht die Erde“ be- | kamen[,] freut mich sehr; dieses Buch müssen Sie nun behalten und dürfen es nicht wieder verschenken oder hergeben! Das Buch von den Hausfrauen, 394 das Sie meiner Frau sandten, ist angekommen und hat meiner Frau Freude bereitet; sie hatte es mir gleich bestätigt. – Daß mein Studierzimmer zur Nähstube geworden war, hat mich nicht sonderlich erfreut; so ist es, wenn man selbst nicht da ist. Es ist ganz gut, daß Sie einmal kamen und unverhofft nach dem Rechten sahen. – Den Kierkegaardband „Die Krankheit zum Tode“395 habe ich vorgestern ganz zufällig und überraschend in einer holl. Buchhandlung, in der ich mich einmal nach dtsch. Literatur umsah, gefunden. So habe ich also ds. von Frau W. genannte und mir schon wohlbekannte Buch bereits da. Es ist mir ja manches von dem, was Frau W. mir empfehlend genannt hat, nicht unbe391

Friedrich Ronneberger. Rudolf Thiel, Preußische Soldaten (zuerst 1940), Berlin 1943. Thiel (1899-1981) war zunächst Lehrer, widmete sich aber zunehmend der Tätigkeit eines Schriftstellers. Auf einen Antrag des Reichskirchenministers Hanns Kerrl hin wurde er 1941 vom Lehramt freigestellt und konnte ganz als freier Schriftsteller arbeiten. 393 Der russische Philosoph Nikolai Berdjajew (1874-1948) musste wegen seiner kritischen Haltung zur Sowjetideologie seine Heimat verlassen und lebte seit 1925 bei Paris im Exil. 394 Nicht eindeutig. Vielleicht: Else Boger-Eichler, Von tapferen, heiteren und gelehrten Hausfrauen (zuerst 1937), München-Berlin 31940. 395 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Übers. von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf (Gesammelte Werke Bd. 8), Jena 1938. 392

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kannt, und das ist ja wohl nicht von ungefähr! Bei dem, was am Schluß des Gutachtens gesagt ist, „mehr Lauschen u. Stille, Sammlung vor dem Streit[“] usw., ist es schon so, wie Sie sagen: es ist erschwert durch den tägl. Kleinkrieg, die tägl. Arbeits- | menge, die Zeit und Kraft verschlingt, ohne zu fragen, ob man dann und so noch aus der Tiefe schöpfen kann. Ich habe nun schon 3 Jahre lang kaum etwas ernsthaft arbeiten, gründlich vorbereiten und durcharbeiten können, sondern bin darauf angewiesen, aus dem zu schöpfen, was in mir ist, noch lebt und unter Erlebnissen u. Erfahrungen neu wird. Sie verstehen es gut, wenn ich sage, wie sehr ich oft nach einer schöpferischen Pause verlange, ach, wie sehr! Und Sie verstehen auch, daß das noch lange keine schöpferische Pause ist, wenn ich wirklich einmal, alle 2-3 Monate einmal einen predigtfreien Sonntag hatte und eigentlich nichts tue als Kleinigkeiten, die auch einmal erledigt werden müssen. Nein, eine schöpferische Pause ist solch ein halber oder ganzer Tag noch lange nicht. Selbst ein 14tägiger Urlaub, den man in vielen Monaten einmal erleben darf, wird bei der Stärke und Schwere der Spannung, die aufgelöst werden muß, noch kaum zur schöpferischen Pause. So ist das, | leider! Aber ich bin Frau W. dankbar für den Hinweis; ich werde noch besser auf den Mangel achthaben u. versuchen, ihm zu entgehen, so gut es möglich ist. Das Gutachten ist eine unglaubliche Leistung; ich habe es, als ich es von Ihnen zurückbekam, wieder betroffen und beschämt gelesen, nicht weniger aber auch das, was Sie mir in Ihrem Briefe zu dsm. Gutachten schrieben. Liebe Frau Neubauer, Sie dürfen mich nicht überschätzen! Wenn Frau W. mich richtig sieht, und ich glaube, daß sie mich richtig sieht, so heißt das wohl, daß ich selbständig, eigenständig in meinem theol. u. kirchlichen Denken bin, vielleicht in einer Weise und Richtung, die wesentlich ist, aber es besagt nichts über den Umfang meiner Wirksamkeit u. Wirkung. Meinen Sie nicht, daß mein Weg äußerlich ein anderer u. höherer sein wird als bisher; ich bleibe, will jedenfalls bleiben u. hoffe zu bleiben der kleine, bescheidene Marinepfarrer und würde gern, Sie wissen es, wieder der Pfarrer einer Dorfgemeinde u. der schlichten | Leute lieber als der großen, der Mühseligen und Beladenen lieber als der Selbstgewissen. – Und nun würde ich zu Ihnen am liebsten sagen: Liebe kleine Frau (aber Sie sind gar keine kleine, sondern eine große, stattliche Frau): Was haben Sie da für einen lieb-törichten Satz geschrieben „Ich bin beglückt über dieses alles; aber auch traurig zugleich. Ich fühle mich wieder einmal so furchtbar allein. Muß ich nun auf Ihrem Wege nach oben zurückbleiben?“ Ach, nein! Ich weiß ja von keinem Weg nach oben; ich bleibe, der ich bin, u. es bleibt alles, wie es ist; nichts ändert sich. Und wenn mir Gott das Leben läßt u. wenn er mich in Gnaden bewahrt u. hält (ich habe ds. Halt, dss. Gehaltenwerden in Gnaden so nötig!), dann darf ich in meinen kleinen Bezirken

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weiterhin das verwirklichen, was mir durch Erkenntnis u. Erfahrung zuteil geworden u. anvertraut u. anbefohlen ist. Und da ist niemand, der sich da weniger begnadet u. abseits u. untenstehend fühlen müßte! Haben Sie | also gar keine Sorge, und tun Sie mir die Liebe an, mir verbunden zu bleiben so wie bisher. – Daß Sie der Schwester Elisabeth, mit der ich etwa 1 Jahr lang in einer schönen, fruchtbaren, in vieler Hinsicht anregenden Gemeinsamkeit hier draußen verbunden war, keine Freude waren, ist unschwer zu verstehen. Wie oft hat sie Ihren Namen von mir gehört: „Das Buch habe ich von Frau Neubauer!“ „Da muß ich einmal bei Frau Neubauer anfragen!“ „Wenn es überhaupt noch zu kriegen ist, besorgt mir’s Frau Neubauer“ usw. Ja, was wäre ich – wie oft habe ich das vor meinen Büchern schon gedacht! – ohne Frau Neubauer. Und Schwester Elisabeth hat wohl gespürt, daß ds. Frau Neubauer ein fraulich-mütterlich-liebevoll sorgender Mensch sein müsse – und damit hat sie wohl recht … – In 10 Tagen fährt meine Frau nach Goslar zurück. Es ist ihr zeitweise nicht gut gegangen, doch hoffen wir, daß der Tiefpunkt nun überwunden ist. Nun bin ich gleich in Brüssel. Ich grüße Sie herzlichst! Gott behüte Sie und die Ihren vor allem Schaden! Ihr Arno Pötzsch. Nr. 100 [Handschriftl.] 7.7.1943. Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für alle Ihre Sendungen, für Ihre lieben besorgten Briefe und für die Bücher, wie auch für die Bestellzettel, die mir Ihre – leider vergeblichen – Bemühungen um manches der bestellten Bücher zeigen. – Der Soldatentod Dr. Noltings,396 den mir Frau N. bereits durch eine geschickte Trauerkarte angezeigt hatte, hat mich tief erschreckt und bekümmert; ich kann garnicht sagen, wie sehr. Dr. N. und ich, wir verstanden uns so gut, und ich freute mich immer auf das spätere freundschaftliche Zusammenleben auch mit ihm. Nun ist alles vorbei; vier kleine Kinder müssen den Vater, wieder eine Frau den Mann entbehren. Ach, es gibt so viel Not, und immer neues Leid kommt hinzu, immer mehr Dunkles geschieht. Wenn Sie in meine letzten 14 Tage hineinsehen könnten! …– Auch Sie werden von Dr. Noltings Tod schmerzlich betroffen sein. Und wie mag Sie der Luftangriff, den Cux. erlebt hat, bedrückt haben!397 Es ist wahrlich keine 396

Dr. Walter Nolting war Pötzschs Zahnarzt in Cuxhaven (Mitteilung von Frau Kathrin Schlee am 26.9.2017). Während des Krieges war er Reserve-Offizier-Anwärter des Sanitätsdienstes. 397 Der schwere Bombenangriff durch 30 Flugzeuge der US-Airforce vom 11.6.1943.

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Kleinigkeit, den nahtlos fallenden Bomben preisgege- | ben zu sein. Was mögen die Menschen der westlichen Städte jetzt durchleben und durchleiden! Unvorstellbar! – Sie machen den zweifellos guten Vorschlag, meine Bücher in Sicherheit zu bringen. Ich danke Ihnen herzlich für ds. Fürsorglichkeit. Wie aber soll man so etwas praktisch machen? Ich würde zunächst doch nur Wertvollstes zu sichern versuchen. Freilich – über Nacht kann einmal alles verloren sein! Die Bilder der Vorfahren sind doch von der Wand genommen; ihr Verlust wäre für mich u. m. Familie unersetzlich. Leider ist keine Aussicht, daß ich selbst einmal nach Cux. kommen kann, um nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht können Sie Anni, die vor wenigen Tagen nach Cux. zurückgekehrt ist, einiges bezeichnen, was man besser wegpacken könnte. Heute abd. fand ich, nachdem Sie mich immer neu mit diesem oder jenem erfreut hatten, (bes. Dank für den Planner Petelin „Das hl. Band[“], wenn ich den Dank noch nicht aussprach!) Ihr gro. [= großes] Bücherpaket vor. Sehr herzl. Dank dafür! Paul Ernst „Jugenderin- | nerungen“398 und Nin[c]k „Die beglückende Gefährtin“399 werden m. Frau bestimmt Freude machen. Es geht mir ja ähnlich wie meiner Frau, daß ich immer schon das Biographische, berichtend Erzählende dem Roman vorzog, ohne dabei freilich den Roman beiseitezulassen. Wie manchen Roman läse ich jetzt gern, muß aber bei der wenigen Zeit u. der gro. Abspannung der Kurzgeschichte u. der Novelle den Vorzug geben! Ich versuche immer noch vorm Einschlafen eine kurze Sache [?] zu lesen, noch auf der Bahn lese ich gewöhnlich. Die beiden Kinderbücher sind sehr hübsch und ansprechend; herzl. Dank auch dafür! Vor einiger Zeit fand ich in einer holl. Buchhdlg. ein schönes dtsch. Kinderbuch, mit netten Bildern versehen und bei einer spannenden Weise des Erzählens besonders gut geeignet, Kinder zum Verständnis der Tiere und zur Ehrfurcht vor ds. Geschöpfen Gottes, die der hl. Franziskus von Assisi so schön unsre Brüder u. Schwestern nennt, anzuleiten. Ich schrieb mir den Titel u. Verlag gleich auf – aber der Zettel ist wieder verschwunden. Nun muß ich erst Rückfrage halten. Hoffentlich können Sie einmal einige Exemplare für Ihren Laden bekommen. [Fortsetzung fehlt!]

398

Paul Ernst, Jugenderinnerungen, München 1930. Vgl. Anm. 240. Johannes Ninck, Die beglückende Gefährtin. In vier Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1936. Ninck (1863-1939) war Pfarrer am evangelischen Vereinshaus Winterthur (Stadtmission) und machte sich einen Namen als Schriftsteller. Er arbeitete auch als Graphologe. Vgl. sein Buch: Graphologie. Die Kunst, aus der Handschrift den Charakter abzulesen mit 37 Schriftproben und Autogrammen, Leipzig ca. 1900. 399

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Nr. 101 [Handschriftl.] o.D. [Anfang fehlt] Ferner: Aloys Wenzl „Philosophie als Weg von den Grenzen der Wissenschaft an die Grenzen der Religion“, Felix Meiner, Lpzg.). 400 Gestern fand ich wieder einmal ganz zufällig in einer Amsterdamer Buchhdlg. unsern „Peter im Baumgarten“ ausliegen. Ich habe das Ex. gekauft, um es heute an ein … [?] nach Wittenberg zu schicken. – Hier hätte ich gern noch 2 Ex. u. bitte Sie um gelegentliche Zusendung. Schwester Elisabeth Bick schrieb mir kürzlich von einer Begegnung mit Prof. Vincent in Jena,401 der sich sehr für das Buch interessierte und mir eine Fotokopie von einem Brief Peters vermitteln wollte. Ich schrieb Schw. E., daß sie bei Ihnen die Ex. bestellen solle, die sie braucht. Was sie selbst unbezahlt weiter gibt, soll auf m. Rechnung gehen; denn es ist im Interesse der Sache. Schw. E.B. benötigt, glaube ich, 2-3 Exemplare; sie wird Ihnen wohl schreiben oder schon geschrieben haben. Nun wünsche ich Ihnen, Ihrem Mann und den Buben alles Gute; Gott behüte Sie allesamt! Nochmals herzl. Dank für alles! Ihr Arno Pötzsch. Nr. 102 [Handschriftl.] 16.7.1943. Liebe Frau Neubauer! Heute fand ich in einer holl. Buchhandlung das Büchlein, das ich Ihnen und auch Schwester Elisabeth zugedacht hatte. Vielleicht kennen Sie es längst und in besseren Friedensausgaben. Aber ich war, als mir die 3 Erzählungen begegneten, deren erste köstlich heiter ist[,] während die beiden andern ernst sind und uns an die Grenzen des Menschlichen heranführen, so erfreut und sofort von dem Gedanken beseelt, Sie beide damit zu beschenken, daß ich es nun auch gleich tue. 400

Aloys Wenzl, Philosophie als Weg von den Grenzen der Wissenschaft an die Grenzen der Religion, Leipzig 1939. Wenzl (1887-1967) war promovierter Mathematiker, Philosoph und Psychologe. Er habilitierte sich 1926 in München mit einer Schrift über „Das unbewußte Denken“. Bis 1935 lehrte er, obwohl SPD-Mitglied, an der Universität München, danach als Lehrer an einer Schule, weil er denunziert worden war. 1946 wurde er zum ordentlichen Professor der Philosophie an die Universität München berufen. 401 Der Germanist Ernst Vincent (1887[?]-1961) war Divisionspfarrer a.D. und 19281935 als unbesoldeter ‚Senior’ des Germanistischen Seminars der Universität Jena tätig. Er hatte die Erlaubnis, dort Kolloquien und kleinere Vorlesungen abzuhalten. Weiteres war über sein Leben nicht zu ermitteln.

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Haben Sie Dank für die Bücherhefte, für die ich zahlreiche Abnehmer habe, Dank auch für Ztg. [= Zeitungen] usw. und den Grabenhorst „Späte Heimkehr“.402 Das Büchlein kam eben in meine Hände. Morgen früh fahre ich nach Antwerpen, wo ich am So. Gottesdienste zu halten habe. Ich grüße Sie herzlichst! Ihr Arno Pötzsch. Nr. 103 [Handschriftl.] 22.7.1943. Liebe Frau Neubauer! In dem Büchlein „Sorgenfrei“ von Mechow,403 das ich gerade erhielt, fand ich – wohl als Buchzeichen benutzt – den Rest der Brotkarte u. die andre Karte. Ich sende alles umgehend zurück, damit Ihnen die Marken (vielleicht reicht’s für ein Brötchen?) nicht verloren gehen. Ob der Brief bis zum 25.7., dem Verfallstage [?], bei Ihnen ist, ist allerdings fraglich. Herzlichen Dank für den kl. Mechowband! Herzl. Dank auch für Ztg., Ztschr. usw. Ich schreibe in größter Eile, darum so kurz, und doch grüße ich Sie aufs herzlichste, Ihr A. Pö.

Nr. 104 [Handschriftl.] 1. Okt. 1943. Liebe Frau Neubauer! Wie viele Wochen sind nun schon wieder vergangen, seit ich in Cuxhaven und bei Ihnen war! Die Zeit ist im Fluge vergangen, und die Menge der täglichen Arbeit hat mich noch nicht zu einem Briefe an Sie kommen lassen, obgleich ich Ihnen längst gern geschrieben und für Ihre Sendungen – Briefe, Bücherpakete, Zeitungen u. Zeitschriften, kleine Buchgaben …– gedankt hätte. Nun will ich heute den Dank aussprechen. Sie haben mich mit so vielem erfreut, daß ich im Grunde garnicht weiß, wieich Ihnen für 402

Georg Grabenhorst, Späte Heimkehr, München 1938. Grabenhorst (1899-1997) hatte 1922 in Kiel über das Werk von Gustav Frenssen zum Dr. phil. promoviert und war freier Schriftsteller, nach 1933 Landesleiter der Schrifttumskammer Hannover. Er schrieb Romane, Erzählungen und Gedichte. 403 Karl Benno von Mechow, Sorgenfrei. Erzählung (Die kleine Bücherei), München 1934.

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das alles danken soll. Die Peterbücher sind nun auch gekommen; herzl. Dank dafür! Die 3 kl. Frauenbücher: Lulu v. Strauß u. Torney,404 Ricarda Huch405 u. Helene Voigt-Diederichs406 haben mich schon beim Durchblättern u. Anlesen mit gr. Freude erfüllt; ich freue mich aufs Lesen! Guardinis Versuch über Pascal407 wird mich lange beschäftigen. Auf Bürgels „Weltbild des modernen Menschen“408 freue ich mich auch sehr. Es warten also allerlei wertvolle Dinge auf mich, die ich Ihnen verdanke. – Als Zeichen, daß ich es nicht vergessen habe, sende ich heute ein schwarzes Band für Ihre Armbanduhr mit. Ich besorgte es schon bei meiner Rückkehr, war damals freilich auf vergeblicher Suche nach einem Leder- oder Metallarmband. Schreiben Sie mir, bitte, einmal die Breite, die das Armband haben darf bzw. haben muß! – Die Brotbüchse, die Sie mir freundlichst mit Reiseproviant gefüllt hatten, der mich (auch, unter andrem) bis nach Den Haag an Sie erinnerte, sende ich Ihnen zurück, wenn ich einmal etwas hineinzutun habe. Es ist z.Zt. nicht so einfach, etwas Lohnendes zu bekommen. – Haben Sie vor allem noch einmal Dank für die liebevolle Aufnahme, die Sie mir bei meiner Ankunft u. bei m. Aufenthalt in Cux. gewährten. Auch für mich birgt dsr. Tag viele schöne Erinnerungen; haben Sie Dank für alles! – Sie bewahren jetzt meine Tagebücher auf; ist es im Keller trocken genug? Habe ich Ihnen nicht zu viel Sorge aufgeladen? Grüßen Sie Ihren Mann, die Söhne u. die treue Hilfe Ihres Haushalts. Stets Ihr Arno Pötzsch. 404

Lulu v. Strauß und Torney (1873-1956) war eine dt. Schriftstellerin und Dichterin. 1916 heiratete sie den Verleger Eugen Diederichs. In ihren frühen Bauernromanen entsprach sie den Vorstellungen der Nationalsozialisten von Blut-und-Boden-Literatur; das von ihr miterarbeitete „Volkstestament“ (1941) propagierte einen „arischen Jesus“. 405 Ricarda Huch (1864-1947) war eine dt. Schriftstellerin, Dichterin, Philosophin und Historikerin. Nach der Machtergreifung 1933 verweigerte sie dem NS-Regime die geforderte Loyalitätserklärung, blieb aber wegen ihrer Verbindungen zu Italien von den Nazis unbehelligt. Sie lebte 1935-1947 in Jena und unterhielt in dieser Zeit zahlreiche Kontakte zu Gegnern des NS-Regimes. 406 Helene Voigt-Diederichs (1875-1961) war eine dt. Schriftstellerin. Von 1898 bis 1911 war sie mit dem Verleger Eugen Diederichs verheiratet. Zahlreiche Werke von ihr gehören zur Heimatliteratur. 407 Romano Guardini, Christliches Bewußtsein. Versuche über Pascal, Leipzig 1935. Guardini (1885-1968) war ein katholischer Priester, Jugendseelsorger und Förderer der Quickborn-Jugend. Seit den 1920er Jahren trat er als Religionsphilosoph und Theologe hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg lehrte er zuerst in Tübingen, dann 1948-1964 in München christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie. 408 Bruno H. Bürgel, Das Weltbild des modernen Menschen. Das All. Die Erde. Der Mensch. Der Sinn des Lebens, Berlin 1937. Bürgel (1875-1948) war ein bekannter dt. Schriftsteller und Wissenschaftspublizist.

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Nr. 105 [Handschriftl.] 29.10.1943. Liebe Frau Neubauer! Haben Sie Dank für Ihre beiden lieben langen Briefe vom 20. u. 23. Oktober und für die Sendung mit den 60 Insel-Diederichs-Langen-Büchern. Mit der Erfüllung dsr. wahrlich nicht kriegsmäßigen Bitte hatte ich kaum zu rechnen gewagt. Nun kann ich mancherlei kleine Freuden bereiten; haben Sie von Herzen Dank dafür! Und nun zu Ihren Briefen, die mich als Ausdruck der Liebe und des Vertrauens immer wieder bewegen! Ich habe Ihre Briefe, obgleich ich mich nur schwer von Briefen trenne, jetzt immer sogleich oder doch bald nach dem Empfang dem Feuer übergeben; es ist wohl besser so, auch wenn nichts zu Verbergendes in ihnen steht. – Daß Sie von Goslar nichts hören, darf Sie nicht quälen. Meine Frau kommt nur zum Notwendigsten, zumal sie doch nicht 100%ig leistungsfähig ist u. auch durch die Kur nicht geworden ist. Als die Kinder aus dem Marinekinderheim zurückkamen[,] brachten sie eine vom Arzt als typische Kinderferienkrankheit bezeichnete üble Hautin- | fektion mit, die sich sogleich auch auf unsre sonst so tüchtige Haustochter übertrug, so daß meiner Frau wesentlich mehr Arbeit im Haushalt zufiel. So kommt sie unter Ausnützung aller Zeit u. Kraft immer nur zum üblichen Tagewerk. Und wenn ich im Urlaub dieses häusliche Leben betrachte, muß ich selbst immer wieder feststellen, wie schnell die Tage bei dsm. Tagewerk vergehen, wie Haushalt u. Kinder die Mutter sehr, sehr in Anspruch nehmen und schon fast über Gebühr die Kraft verbrauchen. Die 4 Kinder, die uns wahrlich eine Freude sind, stellen doch zugleich große Anforderungen an die Mutter. – Am 18. Okt. war die Goldene Hochzeit in Alsleben bei Könnern-Bernburg.409 Ich hatte, nachdem der Urlaub zuerst abgelehnt worden war, schließlich doch 3 Tage Sonderurlaub erhalten, 3 kostbare Tage, die aber vom nächsten Jahresurlaub im Frühjahr abzuziehen sind. Schön war das Zusammensein mit den alten Eltern (der Vater 83 Jhr. [= Jahre], die Mutter 79), mit der Familie u. mit meiner | eigenen Frau u. unsern Kindern, die sich königlich freuten, nun doch noch ein wenig dafür entschädigt zu werden, daß sie während meines Urlaubs im August, Sept. um das Zus. sein mit mir gekommen waren. – Wird man sich nun wiedersehen? Monate müssen vergehen bis zum nächsten Urlaub. Was alles kann bis dahin geschehen? Ich sah das zerstörte Hannover … Immer wieder erschrickt man vor dem Ausmaß heute möglicher Zerstörung. Und 409 Alsleben/Saale liegt südlich von Bernburg, westlich von Köthen in Sachsen. Es handelt sich um das Hochzeitsjubiläum von Pötzschs Schwiegereltern. Vgl. Brief Nr. 110.

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wenn das alles erst der Anfang wäre?! … Mit dem sorgenden Denken kommt man nicht weiter. Im Wagnis des Glaubens muß man Gottes Gottes Hand Hand ergreifen. „Dennoch du hältst mich … Und bleibe ich ichstets stetsanandir; dir;denn dennduhältstmich Und mitmi„Dennoch bleibe einander teinander u.u. für für einander einander muß muß man man beten, daß Gott uns behüte – vielleicht nicht vorm Tode, sondern im Tode. Das Bildnis Ihrer Söhne hat mich mich ererfreut. Auch Sie dürfen sich freuen, Vater u. Mutter, daß Sie ds. Söhne Söhne hahaben. – Den „Gött“410 zu besitzen, ist mir durchaus wertvoll. Ich habe| mich seit vielen Jahren immer wieder einmal mit ihm beschäftigt. Durch seine seine Briefe u. Tgb. [= Tagebücher] werde ich ihn wohl am besten besten kennen kennen lernen. lernen. – Sie haben mir einmal das Choralbuch von Mauersberger besorgt. Nun ist auch ds. Choralbuch wieder abhanden gekommen, offenbar an der Orgel. Orgel. Bitte, bestellen Sie mir 5 Exemplare Mauersberger „Choralbuch“. Genauen Genauen Titel u. Verlag weiß ich nicht. – Meine Tagebücher lassen Sie[,] bitte, noch in Ihrer Verwahrung. Absolute Sicherheit gibt es nicht, keinerlei Garantie. Garantie. Ich hoffe, daß sie, die für mich u. m. Kinder natürlich nicht unwichtigen unwichtigen Aufzeichnungen den Krieg überdauern. Wenn das Goslarer Haus in FlamFlammen aufgehen sollte, bleibt bestimmt nichts erhalten. – Daß Sie nach Lpzg. zur Schulung u. dann nach Weimar fahren und und Schwester Schwester Elisabeth Elisabeth sehen sehen können, freut mich sehr. Möge alles recht freundlich gelingen u. u. verlaufen! verlaufen! – Haben Sie die Chamberlain-Grundlagen noch einmal für mich? Ich würde würde sie| doch recht gern für meine Soldatenbücherei haben. Da fällt mir ein: ein: der der 411 Marinedekan fragte mich nach Chamberlain „Worte Christi“.411 Ich besaß ds. kl. Buch, doch hat es mir Ihr Mann ausgespannt. Schicken Sie doch, doch, bitte, das Büchlein einmal an Marinedekan Ronneberger, Ronneberger, Wilhelmshaven, Wilhelmshaven, Kirchplatz 5. 412 gefunden Daß Daß Ihre Ihre lb. lb. [= liebe] Mutter in Ohlstadt412eine gute Wohnung gefunden hat u. damit [?] eine Zufluchtsbleibe auch für Sie, freut mich herzlich. Ja, Ja, seltsame Wege! Soll ich nicht doch noch nach dem Schmuckarmband Schmuckarmband ausausschauen? Solch ein Band hält doch nicht lange – die schöne Büchse wage ich nicht zu behalten.

410

Der Schriftsteller Emil Gött (1864-1908). Seine Tagebücher und Briefe waren gerade in zweiter Auflage erschienen (Straßburg 1943). 411 Houston Stewart Chamberlain, Worte Christi. Mit einer Apologie und erläuternden Anmerkungen, München 1901. Chamberlain entwirft darin das Bild eines „arischen Christus“, indem er Worte Jesu aus den Evangelien aus ihrem jüdischen Kontext herauslöst und mit völkischer Rasselehre in Übereinstimmung zu bringen sucht. Ein Exemplar des Buches wurde 1935 Adolf Hitler geschenkt (vgl. Ambrus Miscolczy, Hitler’s Library, Budapest-New York 2003, 41 Anm. 38). Zum Verfasser siehe Einleitung und Pötzschs Vortrag über Chamberlain. 412 Gemeinde im oberbayrischen Landkreis Garmisch-Partenkirchen.

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Nun einen herzlichen Gruß aus dsr. Abendstunde. Grüßen Sie die Ihren von mir! Ihr Arno Pötzsch [Randbemerkung auf der ersten Seite mit Bleistift: Wie erstaunt war ich, daß eben das tel. Gespräch mit Ihnen zustande kam! Können Sie die „Worte Christi“ nochmals bekommen? 2 Ex.? Nr. 106 [Handschriftl., undatiert] [Anfang fehlt] Sehr erfreut hat mich der Inselband Reinhold Schneider 413 „Elisabeth Tarakanow“. Reinhold Endlich wieder wieder einmal einmal etwas etwas von vonReinhold Tarakanow“.413 Endlich Schneider, diesem so Wesentlichen unter den Schriftstellern unsrer Zeit. Haben Sie noch mehr Exemplare u. etwa noch ein paar für mich? Ferner: Haben Sie Zillich: „Der Urlaub“ u. „Die ewige Kompanie“?414 Und den Band Zillich „Sturz aus der Kindheit“? (Sie müssen daraus lesen u.a.: 415 „Wälder u. Laternenschein“, auch auch „Der „Der Zigeuner“). Zigeuner“). 415 Gestern schenkte mir ein Kollege aus einer neuen Sammlung „Spemanns Sonderausgabe“ (nur außerhalb des Großdeutschen Reichs im Handel) Herbert von Hörner „Die Kutscherin des Zaren“.416 Ich las in der Bahn die Novellen „Der große Baum“ u. „Die letzte Kugel“. 417 Sehr gut, ganz besonders wertvoll „Der große Baum“. Besitzen Sie die Sachen? Wenn nicht, versuche ich, Ihnen ds. billige Sonderausgabe zu verschaffen. Um an den Philosophen Schelling heranzukommen, hätte ich gern die philos. Studie Horst Fuhrmann „Schellings letzte Philosophie“ (Junker u.

413 Reinhold Schneider, Elisabeth Tarakanow (Insel-Bücherei Nr. 540), Leipzig 1941. Vgl. Anm. 316. 414 Heinrich Zillich, Der Urlaub. Erzählung, München 1933; Die ewige Kompanie, in: Südostdeutsche Tageszeitung, 3. Juni 1943, S. 6-7. Zillich (1898-1988) war ein dt. Schriftsteller und Vertriebenenfunktionär, der in seinen Büchern die Auslandsdeutschen im rumänischen Siebenbürgen und ihre Umwelt schilderte. Seit 1941 gehörte er der NSDAP an. Nach dem Krieg leugnete er jede Neigung zum Nationalsozialismus. 415 Heinrich Zillich, Sturz aus der Kindheit, Leipzig 1933. „Wälder und Laternenschein“ (1923) und „Der Zigeuner“ (1931) sind zwei Novellen daraus. 416 Herbert von Hoerner, Die Kutscherin des Zaren. Erzählung, Leipzig 1936. Der Verfasser (1884-1946) war ein baltischer Schriftsteller und Maler. Seit 1928 lebte er in Görlitz. 417 Zwei Novellen von Herbert von Hoerner.

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Dünnhaupt, Bln.).418 Vorgestern in einem Zeitungsaufsatz sehr gut besprochen gefunden. Versuchen Sie, bitte, zu bekommen: Thielicke 1) „Jesus Christus am Schweidewege“[,] 2) „Schuld u. Schicksal“, beides Furche-Verlag, Bln.419 | [Fortsetzung fehlt!] Nr. 107 [Masch.] [handschriftl.] 17.[?]11.1943 Durch so viel Jahre hat euch Gott geleitet, behütet seit des Herzens erstem Schlag. Er hat die Hände segnend ausgebreitet und schenkt euch heute diesen Feiertag. Ihr schaut zurück. Ach, tut’s nicht ohne Danken für alles, alles, das euch Gott gewährt. Hat Gott nicht stets euch in der Zeiten Schwanken das täglich Brot und so viel Guts beschert? Und hat er weise euch nicht zugemessen des Tages Freude und des Tages Last? Und der euch führte, hat er je vergessen nach schweren wegen auch die nötge Rast? Ihr schaut voraus, und ist nach Menschenweise der Weg verhängt mit Schleiern euerm Blick, so seid getrost: auf eurer Lebensreise bleibt Gott bei euch und, wahrlich, nicht zurück! Drum dankt dem Herrn mit offenem Gemüte für seiner Gnade Führung und Geleit! Er ist der Herr! Vertraut euch seiner Güte! Befehlt euch Gott in Zeit und Ewigkeit! 418 418 Horst Fuhrmann, Schellings letzte Philosophie. Philosophie. Die Die negative negativeund undpositive positivePhilosoPhilosophie deutsche Forschungen, Forschungen,Abt. Abt.Philosophie, Philosophie,Bd. Bd. phieim imEinsatz Einsatz des des Spätidealismus (Neue deutsche 36), Berlin 1940. 36), Berlin 1940. 419 Helmut Thielicke, Jesus Christus am Scheidewege. Eine biblische Besinnung, Berlin 1938; Schuld und Schicksal. Gedanken eines Christen über das Tragische, Berlin 1935. Der dt. evangelische Theologe Thielicke (1908-1986) wurde 1936 Prof. für Systematische Theologie in Heidelberg, jedoch 1940 nach Verhören durch die Gestapo abgesetzt. Durch Vermittlung des württembergischen Bischofs Wurm erhielt er daraufhin kirchliche Ämter in Ravensburg und Stuttgart. Nach dem Krieg bekam er eine Professur in Tübingen, 1954 in Hamburg, wo er vor allem als Prediger an St. Michaelis großes öffentliches Ansehen genoß.

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+ Liebe Frau Neubauer! Diese Verse hatte ich meinen Schwiegereltern im Oktober zur Goldenen Hochzeit geschrieben, aber sie gelten doch nicht nur einem Menschenpaar, das auf 50 Jahre gemeinsamer Lebenswanderung zurückblicken kann, sondern sie gelten doch wohl für jeden Menschenweg. Und darum mögen sie auch Sie, liebe Frau Neubauer, auf Ihrer Lebensreise und an dem Wegstein, an dem Sie an Ihrem Geburtstag einen Augenblick besinnlich verweilen, freundlich grüßen. Je mehr wir heutigen Menschen in die Erschütterungen dieser Zeit hineingerissen werden und spüren, daß der vermeintlich feste Boden unter unsern Füßen in Wahrheit bodenlose Tiefe ist, um so mehr lernen wir, dieser Wirklichkeit gemäß zu leben, jedenfalls zu wissen, daß wir auf die bergende Gnade dessen angewiesen sind, dessen Wille – wie der alte Wilhelm Raabe sagte – schweigend über den Erdkreis geht. – Mögen Sie einen freundlichen Tag mit den Ihren haben! Und Gott behüte Sie allesamt in Zeit und Ewigkeit! – Die kleine Kunstschmiedearbeit möge Sie ein wenig erfreuen! Vielleicht ist’s seltsam, einen solchen Fisch als Brosche zu tragen. In der Fischereistadt Cuxhaven wird sie nicht einmal auffallen. Ich möchte Sie auf eine andere Deutung hinweisen. Wenn die Christen der Verfolgungszeit einander erkennen wollten, so zeichneten sie einen Fisch in den Sand. War der andere kein Christ, so sah er in der Zeichnung im Sande nur eine kleine Spielerei, war er aber Christ, so bekannte er sich nun zu dem Zeichen des Fisches, bekannte sich als Christ. Wie aber kommen Fisch und Christ zusammen? Der Fisch heißt auf griechisch ichthys. Den Buchstaben dieses Wortes aber gaben die ersten Christen folgende Deutung: I CH TH Y S

= = = = =

Jesus Christus Theos (bzw. Theou, Genitiv von Theos) = Gott Hyios (griech. geschrieben Yios) = Sohn Soter = Heiland

Mit dem Wort Fisch und dem Fischzeichen bekannte man also: „Jesus Christus, Gottes Sohn, der Heiland“. So mag auch für Sie der Fisch symbolische Bedeutung haben, mag Sie an ihn, der Welt Heiland, erinnern und binden in vielleicht noch sehr schweren kommenden Zeiten, mag Sie erinnern an ihn, in dessen Namen vor nun 5 Jahren, am Vorabend Ihres Geburtstags, Ihr jüngster Sohn in unvergeßlicher Feier die Heilige Taufe empfing. …

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Heute werden Sie, wenn Ihre Pläne sich verwirklichen ließen, in Jena sein und der kleinen Schwester Elisabeth begegnen. Sie scheint mir krank zu sein; jedenfalls haben sich die bösen Folgen ihres Unfalls wieder heftig bemerkbar gemacht. Ich wünsche Ihnen beiden eine freundliche Stunde der Begegnung. Gestern erhielt ich die 20 Büchlein aus dem Hanseat. Verlag. Herzlichen Dank dafür! Ihre Karte, auf der Sie eine offizielle Bücheranforderung erbaten, kam auch erst gestern hier an. Sie hatten diese wohl mit nach Leipzig nehmen wollen.420 Für alle Fälle kann ich ein solches Schreiben ja noch mitschicken. Ich grüße Sie, Ihren Mann und Ihre Söhne, Sie allesamt sehr herzlich! Ihr Arno Pötzsch. Nr. 108 [Handschriftl.] 16.12.1943. Liebe Frau Neubauer! Seit Sie Den Haag verlassen haben, will ich Ihnen schreiben. Aber alle Tage sind in unglaublicher Weise mit Arbeit ausgefüllt. Sie können sich’s schwer vorstellen. In meiner Stube liegt alles durcheinander, weil ich nicht zum Aufarbeiten komme. Jetzt schreibe ich Ihnen von unterwegs, im Zuge, aber auch nur kurz, weil ich die Ansprache für den großen Vereidigungsgottesdienst am Nachmittag noch vorbereiten muß. Nach Weihnachten werde ich ausführlicher schreiben. Ich bin so übermüdet, daß ich die Tagesarbeit auch bei bestem Willen nicht verlängern kann. Vor mir liegt ein großer Berg von Weihnachtsarbeit, etwa 13 Weihnachtsgottesdienste. – Haben Sie Dank für Ihren Besuch u. Ihre Hilfe! Von Jena kommen nur kümmerliche Nachrichten; Schw. Elis. [= Elisabeth] ist immer noch krank. – An Leipzig denke ich mit Trauer. Grüßen Sie Ihren Mann herzlich. Ihr Arno Pötzsch. [Randnotiz:] Dank für den Kierkegaard u. die Grundlagen!

420

Käthe Neubauer hatte Pötzsch etwa 100 Inselbändchen und andere Bücher geschickt, damit er sie als Weihnachtsgaben verteilen konnte. Weil das nicht ausreichte, war sie von Cuxhaven nach Leipzig gefahren, um dort bei Verlagen zusätzlich Hunderte von Büchern als Weihnachtsgaben für deutsche Soldaten in Holland zu besorgen. Von den Behörden wurde ihr erlaubt, die Bücherpakte nach Den Haag zu begleiten (vgl. Matthes, 87f).

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Nr. 109 [Masch.] Pötzsch

z.Zt. Goslar: 23.2.1944, Knochenhauerstr. 3.

Liebe Frau Neubauer! Fast ein Vierteljahr ist vergangen, seit Sie in Holland waren, und in der ganzen langen Zeit haben Sie dann auf Post warten müssen. Ich weiß, wieviel ich Ihnen mit diesem langen Schweigen auferlegt habe; seien Sie gewiß, daß es auch mir nicht leicht geworden ist, Sie so lange warten lassen zu müssen. Frl. Engelenberg könnte Ihnen bestätigen, wie diese lange Zeit mit einem täglichen Übermaß an Arbeit vergangen ist, das Zeit und Kraft immer bis zum Alleräußersten in Anspruch nahm. Selbst nach Hause habe ich kaum noch schreiben können und auch da nur kümmerliche Lebenszeichen, zuweilen alle zehn Tage ein Telegramm mit der kurzen Mitteilung, daß ich gesund bin. Ihnen, liebe Frau Neubauer, danke ich für Ihr treues Aushalten, für Ihre Briefe, mit denen Sie mich immer wieder erfreuten, für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften! Es hat mir besonders leid getan, daß ich Ihnen nicht einmal zu Weihnachten einen Gruß schicken konnte. Nun sende ich Ihnen jetzt noch ein Büchlein für Ihren Mann und erlaube mir, Ihnen wieder ein Stücklein Seife, das ja heutzutage nichts Prosaisches, sondern eine begehrte Kostbarkeit ist, beizufügen. – Haben Sie Dank für Ihre Abrechnung, mit der ich mich freilich noch nicht beschäftigt habe, obgleich ich meine Kasse gern längst in Ordnung gebracht hätte. Und haben Sie Dank für die Unterbringung meiner Tagebücher usw. in der Volksbank; ich bin so froh, daß die mir wichtigen Dinge doch nun einigermaßen gesichert sind, obgleich ich natürlich weiß, daß es heute überhaupt keine Garantien von Sicherheit gibt. – Nach Ihrer Abreise sandte ich Ihnen ein Päckchen und vor einiger Zeit noch einmal eins. Das erste hatten Sie mir bestätigt; hoffentlich ist auch das zweite angekommen! Der Preis ist ja recht hoch (30 Gulden = 40 RM je P.); soll ich trotzdem versuchen, hin und wieder etwas zu schicken? – Nun bin ich auf Urlaub, schon eine Woche, von der niemand weiß, wo sie geblieben ist. Die Familie klagt, daß der Vater den ganzen Tag an der Schreibmaschine sitzt. Ja, ich hatte mancherlei Arbeit mitgebracht, zu deren Erledigung ich nicht mehr gekommen war. Heute in einer Woche fahre ich wieder nach H. zurück. Auf der Herfahrt bin ich einen Nachmittag in Lpzg. gewesen. Ach, wie trostlos! Wieviel Bekanntes, Vertrautes unwiederbringlich zerstört! Und nun sind wieder zwei Angriffe über Leipzig hinweggegangen! … Ihnen, Ihrem Mann u. den Kindern herzliche Grüße, auch von den Meinen! Getreulich IhrArno Pötzsch

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[handschriftlicher Zusatz am Rand:] Eben kam, aus Holland nachgesandt, Ihre Sendung: Alverdes, „Flucht“;421 Schaper, „Die Arche…“;422 Fussenegger, „Eggebrecht“.423 Nr. 110 [Handschriftl.] Goslar: 25.2.1944. Liebe Frau Neubauer! Als mein Brief an Sie fort war, sah ich, daß ich nun doch den Brief von Frl. Engelenberg beizulegen vergessen hatte. Der Brief liegt schon so lange bei mir, seit Anfang Januar!! Immer wieder sprachen wir davon, daß Sie nun endlich Brief und Dank erhalten müssen – aber ich kam nicht zu dem beabsichtigten Briefe, da Arbeitsmaß und -tempo immer gleich blieben. Heute kann ich Ihnen gleich den Empfang des an meine Frau gerichteten Bücherpakets bestätigen. Vielen Dank dafür! Mich interessiert sehr „Die Krise des europäischen Geistes“ von Hazard 424 und der 4. u. 5. Band der mir bisher unbekannten Arbeiten von Mugler,425 auch der Klatt.426 Die Kinderbücher sind uns sehr lieb, und auch alles andere wird wohl seine 421

Paul Alverdes, Die Flucht. Novellen, Potsdam 1935. Edzard Schaper, Die Arche, die Schiffbruch erlitt, Feldpostausgabe, Leipzig 1942. Schaper (1908-1984) war ein dt. Schriftsteller und Übersetzer. Er schrieb Romane und Erzählungen, sein besonderes Interesse galt Menschen in Grenzsituationen. 1932 wanderte er nach Estland aus und lebte in Reval. Nach Ausschluss aus der Reichschrifttumskammer 1936 ging er 1940 nach Finnland; 1944 nahm er die finnische Staatsbürgerschaft an. 423 Gertrud Fussenegger, Eggebrecht (Deutsche Reihe 132), Jena 1943. Fussenegger (1912-2009) war eine österreichische Schriftstellerin. 1933 trat sie der österreichischen NSDAP bei, 1934 wurde sie in München zum Dr. phil. promoviert. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 trat sie erneut der NSDAP bei. 424 Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes 1680-1715, Hamburg 1939. Der Verfasser (1878-1944) war französischer Historiker, Literaturhistoriker und Essayist. Hazard verdankte diesem Buch seine im Jahr 1940 erfolgte Wahl in die Academie française. 425 Edmund Mugler, Gottesdienst und Menschenadel. Viertes Buch: Die katholische Kirche und Meister Eckehart. Die sittliche Idee im Kampfe um ihre Selbstbehauptung innerhalb der israelitisch-jüdischen und christlichen Religionsgeschichte, Stuttgart 1931; Fünftes Buch: Rom und Luther – Franck., Stuttgart 1935. Dr. phil. Mugler (1878-?) war ev. Theologe, aber wegen seiner freien Denkweise aus dem Pfarrdienst entlassen worden, und arbeitete dann bis 1935 als Studienrat für Religion im Gymnasium in Siegen. 426 Vielleicht Fritz Klatt, Griechisches Erbe. Das Urbild der Antike im Widerschein heutigen Lebens, Berlin 1943. Klatt (1888-1945) war ein dt. Reformpädagoge, Schriftsteller und Zeichner. Er war ausgebildeter Zeichenlehrer und hatte mit einer kunsthistorischen Arbeit promoviert. Durch eine Denunziation geriet er nach 1933 in Schwierigkeiten und siedelte 1941/42 nach Wien über. 422

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Verwendung finden. Meine Frau bekommt hier in G. kein einziges Buch, so daß wir ganz auf Ihre freundliche Hilfe angewiesen sind. Nochmals herzlichen Dank! Und herzliche Grüße von uns allen! Ihr Arno Pötzsch Nr. 111 [Masch.] Marineoberpfarrer Pötzsch

Den Haag: 4. Mai 1944. Frau Buchhändlerin Käthe N e u b a u e r Cuxhaven / Nordsee Schillerstr. 33

Liebe Frau Neubauer! Heute möchte ich eine Sache mit Ihnen besprechen, die mir sehr am Herzen liegt und zu deren Gelingen ich Ihre Mithilfe erbitte. Am liebsten würde ich das Gespräch darüber mündlich führen, aber das ist ja im Augenblick nicht möglich. – In Belgien ist z.Zt. ein Büchlein im Entstehen, an dem ich in besonderer Weise interessiert bin: Dr. Reuber, 427 Antlitz und Gestalt des Ostens – Bilder aus der Zeichenmappe eines Arztes. Es handelt sich um den Schöpfer jener Muttergestalt, die unter dem Namen „Die Festungsmadonna von Stalingrad“ nun schon vielen bekannt geworden ist. Von dem in Stalingrad verschollenen Dr. Reuber, mit dem ich befreundet bin, sind etwa 150 Zeichnungen, Köpfe russischer Menschen, hinterlassen worden. Etwa 50 ausgewählte Blätter sind zu einem kleinen Buch, etwa in Größe und Gestalt eines Inselbüchleins, zusammengefaßt und mit einem Geleitwort der Frau des Verschollenen versehen worden. Die Auflage des als Manuskript gedruckten Büchleins ist klein, etwa 2-3000 Stück, und zunächst für den Kreis der Kameraden, Hinterbliebenen und Freunde bestimmt, darüber hinaus für meine Amtsbrüder in der Marineseelsorge und meine Arbeit. Das Büchlein wird inhaltlich und äußerlich sehr fein werden.428 Ich habe nun die Frage, ob Sie bereit seien, den Verkauf und Ver427 Kurt Reuber (1906-1944) war ein dt. Arzt, evangelischer Pfarrer und bildender Künstler. Beeinflusst durch das Beispiel Albert Schweitzers, mit dem ihn eine Freundschaft verband, schloss er ein Theologie- und ein Medizinstudium jeweils mit Promotion ab. 1933 wurde er Pfarrer in Wichmannshausen im Kreis Eschwege, 1939 zur Wehrmacht einberufen. Er nahm als Truppenarzt an der Schlacht von Stalingrad teil. 1943 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft und verstarb dort an Flecktyphus. Sein Freund Arno Pötzsch hielt am 17. Februar 1946 in Wichmannshausen die Trauerfeier für ihn. 428 Acht Monate später, zu Weihnachten 1944, schrieb Pötzsch an anderer Stelle: „Ich habe als Freundesdienst der Weihnachtsmadonna den Weg … bereiten und habe an der Vorbereitung eines Büchleins ‚Menschenantlitz und Gestalt des Ostens‘, das etwa 50

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sand des Büchleins zu übernehmen. Sie würden dann den ganzen Bestand, soweit er für Deutschland in Frage kommt, übernehmen und unter einem noch zu vereinbarenden Gewinnanteil verkaufen. Der Verkauf würde, daran ist trotz des infolge der kleinen Auflage etwas hohen Preises, bei allen ernsthaften, bücherfreudigen Menschen leicht und schnell erfolgen können, aber es muß daran festgehalten werden, daß fürs erste nur ein erweiterter Freundes- und Kameradenkreis bedacht werden kann. Ich will damit zugleich aussprechen, daß ein Mißerfolg ausgeschlossen ist. Der Stückpreis wird beim Verkauf etwa 4,50 / 5,- und 6.- RM für die 3 Ausführungen (Einband) betragen. – Da-| mit das Risiko nicht von Ihnen allein und auf längere Zeit getragen zu werden brauchte, könnte ich dafür sorgen, daß Sie aus dem Freundeskreis von den in der Auflage steckenden 6000 RM etwa die Hälfte oder auch mehr zur vorläufigen Deckung erhalten. Die Hauptschwierigkeit lag und liegt wohl darin, daß die Bücher aus Belgien bezogen werden, also deutsches Geld in ein devisenbewirtschaftetes Land gelangen muß. Ich habe über diese Frage mit der obersten Finanzstelle Belgiens, dem Bankenkommissar beim Militärbefehlshaber Belgiens, Oberstverwaltungsrat Dr. Hofrichter, gestern in Brüssel gesprochen. Er sah keine Schwierigkeiten und zeigte folgenden Weg: Sie, der Buchhändler, müßten mit den Unterlagen, also der belgischen Rechnung (übrigens ein reichsdeutscher Betrieb!) einen Antrag bei der für Cuxhaven zuständigen Devisenstelle – das ist Hamburg – stellen, damit der Betrag durch den Clearingverkehr mit Belgien gezahlt wird. Das ist also die Angelegenheit, deretwegen [sic!] ich Ihnen heute schreibe. Noch ist das alles nicht so weit, das Büchlein ist noch garnicht fertig, eine Rechnung liegt noch nicht vor, es werden noch ein paar Wochen über allem vergehen, aber ich muß Sie doch rechtzeitig von dem Vorhaben in Kenntnis setzen und Sie um Ihre Meinung und Zustimmung befragen. Und diese Frage möchte ich mit diesem Briefe gestellt haben. Das Bild der Weihnachtsmadonna, das den Anstoß zu dem ganzen Büchlein gegeben hat, hat sich zahllose Freunde erworben und hat den Weg bereitet. Die kleine Auflage des Büchleins wird in kurzer Zeit vergriffen sein. Wenn es die Zeitumstände gestatten, wird einmal ein großer Verlag das kleine und in vielfacher Hinsicht so wertvolle Büchlein übernehmen, Zeichnungen Dr. Reubers und ein Geleitwort seiner Lebensgefährtin enthält, mitwirken dürfen. Das kleine Buch, das einem größeren Freundeskreise zugedacht war, ist freilich bis auf wenige Stücke in einem Kriegsgebiet verlorengegangen“ (Die Madonna von Stalingrad. Ein Gedenken vor der Weihnachtsmadonna von Stalingrad. Verse von Arno Pötzsch. Zeichnungen von Kurt Reuber, Hamburg 1946, 5). Vgl. Martha Reuber-Iske (Hrsg.), Antlitz und Gestalt. Handzeichnungen und Aquarelle von Kurt Reuber, Kassel 1951.

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aber zunächst soll ein ganz bescheidener Weg beschritten werden, ein bescheidener Dank und Dienst gegenüber dem in Stalingrad Gebliebenen in ihm zum Ausdruck kommen und was künstlerisch und ethisch so wertvoll und erschütternd ist, einem aufgeschlossenen Menschenkreis schon jetzt zugute kommen. Alle die äußeren Dinge zu bedenken, die ich Ihnen schrieb, ist für mich, den Sie als einen Menschen kennen, der alles andere ist als ein Kaufmann, nicht ganz leicht. Ich stehe aber hinter dieser Sache mit vollem und ergriffenem Herzen und glaube mit einfachem praktischen Verstande alles so gut wie möglich bedacht und ausgeführt zu haben. – Ich habe diesen Brief Ihnen geschrieben, weil ich nicht weiß, ob und wieweit Ihr Mann durch sein Soldatsein noch im Geschäft tätig ist. Ich grüße Sie beide sehr herzlich! Ihr Arno Pötzsch [Zusatz am Rand:] Für die Benachrichtigung des Freundeskreises zwecks Bestellung bei Ihnen würde ich Sorge tragen. Nr. 112 [Masch. Karte] [handschriftl.] 5. Mai 1944. Liebe Frau Neubauer! Eben kam Ihr Jeremias Gotthelf. Wie schön!! Sehr herzlichen Dank! Ich freue mich aufs Lesen, das freilich nur noch hin und wieder in der Bahn erfolgt. Das Büchlein Frauenlob las ich mit großer Freude. Nochmals herzlichen Dank dafür wie für alles!! Sie waren, wie ich eben in einem Briefe von zu Hause las, in Goslar. Hoffentlich hatten Sie ein paar schöne Stunden dort! Stets Ihr Arno Pötzsch. Nr. 113 [Handschriftl. Zettel] 23.5.44, nachm. L. Fr. N. Eben kam Ihr Brief an. Herzl. Dank!! Dank für Ihre Zusage!! Ihr AP.

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Nr. 114 [Handschriftl. Karte] [Ohne Anrede] Sehr herzl. Dank für den Eckart-Band u. Jödes Mutterlied!429 Das Bücherpaket fand ich in dsr. Nacht vor[,] als ich von Brüssel zurückgekehrt war. Ihr Arno Pötzsch 29.5.44. Nr. 115 [Handschriftl.] 25. Sept. 1944 Liebe Frau Neubauer! Endlich wieder ein paar Zeilen, obgleich Sie sie wahrlich längst verdient haben! Ich danke Ihnen für Ihren Brief vom 14.4., der in etwa 10 Tagen und das heißt jetzt „verhältnismäßig schnell“ in meine Hände kam. Herzlichen Dank auch für die letzte Büchersendung, die, wie Fr. Heuser vielleicht erzählt hat, mitten ins Einpacken hineinkam und z.Z. gleich wieder in eine Bücherkiste hineinwanderte. Das schöne Buch mit den Hebelschen Erzählungen430 habe ich hier behalten und mit großer Freude gelesen. Ob Sie ahnen, wie sehr Sie mich mit Ihren Büchern im Laufe dieser Jahre erfreut und erquickt haben? 4 ¼ Jahre haben Sie mit einer mich tief bewegenden [?] Treue durch Ihre Briefe und Ihre Büchergaben und durch die unzähligen Zeitungen und Zeitschriften an meinem Leben und Dienst hier draußen teilgenommen, haben mir an Ihrem wesentlichen Teil die Verbindung zur Heimat erhalten und haben mir manche Kraft zugeführt, deren ich im persönlichen Leben und im Amte [?] bedurfte. Ich danke Ihnen von Herzen dafür. Ich| möchte diesen Dank heute einmal ganz besonders und ausdrücklich aussprechen, könnte es doch sein, daß ich Ihnen den Dank nie mehr von Angesicht zu Angesicht sagen könnte. Haben sich die Kämpfe im niederländischen Raum auch noch nicht bis zu uns an der Küste hingezogen, so kann doch über Nacht auch mein engster Bereich zum Kampfplatz werden oder wir können abgeschnitten werden. Ohne im mindesten in einer Furcht zu leben, will ich doch nicht zögern, gerade Ihnen noch rechtzeitig das Wort dankbarer Verbundenheit zu sagen, auf das Sie so sehr ein Anrecht haben und das Sie immerhin – nicht mehr, das darf ich doch wissen? – ein Stück auf Ihrem weiteren Wege begleiten würde. Sie dürfen wirklich das Bewußtsein haben, einem Menschen auf seinem Wege beiges429

Fritz Jöde, Unser Mutterlied. Ein Hausbuch für alle, Potsdam 1944. Vielleicht Johann Peter Hebel, Schatzkästlein. Auswahl aus den Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes. Einführung und Auswahl von Wilhelm Altwegg (Gute Schriften, Heft Nr. 220), Basel 1944. 430

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tanden zu haben. Wie viele andre Menschen, nahe oder fernstehende Kameraden, an Ihren immer besonders wertvollen, oft ausgesucht feinen Büchergaben Anteil hatten, ist nicht mehr zu ermessen. Seien Sie und auch Ihr Mann, der als Soldat| ja nur noch von ferne an den buchhändlerischen Aufgaben teilnehmen konnte, für das alles aufs herzlichste bedankt! Das Buch „Menschenantlitz und Gestalt des Ostens“431 ist vielleicht verloren. Was habe ich für dieses geliebte Buch getan, gesorgt, gebangt! Hoffentlich kommen wenigstens die etwa 80 Exemplare an, die ich am Tage vor dem Einzug des Feindes aus Brüssel mitbrachte! Diese Bücher sind in einer der Kisten, die vom Haag nach Cux. gegangen sind. Die Kisten sollen möglichst geschützt (in trockenem Keller oder in der Kirche?) aufbewahrt werden. Sollten die übrigen Stücke des Ostbüchleins nicht mehr von Brüssel abgesandt worden sein, sind sie vielleicht nach Kriegsende noch herüberzubekommen. Für alle Fälle gebe ich Ihnen die Anschrift des dtsch. Verlages, der in Brüssel die Herstellung in der Hand hatte: Dr. Bährens, Perleberg/Mark, Wilsnacker Straße 46. Dort, bei der Firma, sind auch erhebliche Einzahlungen geleistet worden. Sie überweisen, bitte, erst, wenn noch eine Lieferung der Bücher erfolgen| sollte. Dr. Bährens und Frau sind zuverlässige Menschen, mit denen Sie, für den Fall, daß ich nicht zurückkäme, wohl alle schwelenden Fragen regeln und klären können. Mit Frau Pfr. Martha Reuber, Wichmannshausen, stehen Sie ja ohnehin in Verbindung. Hoffentlich war nicht alle Vorarbeit vergeblich! – Nun noch ein Wort zum Peterbuch. Eine Anzahl sollte meine Frau noch übernehmen; vielleicht daß meine Töchter einmal Kinder haben werden, denen das Buch dann auch etwas bedeuten würde. Für den Fall meines Todes setzen Sie sich, bitte, mit meinem Verwandten, Fabrikant Herrn Bischoff, Eisfeld, Thür., Neumarkt Nr. 8, in Verbindung, der nach dem Kriege noch einmal bei allen Verwandten, vor allem auch in Südafrika u. England, auf das Büchlein weisen möge. Für den Fall, daß ich es nicht mehr kann, setzten Sie sich, bitte, nach dem Kriege auch mit Prof. Dr. ErnstZürich, dem Verfasser des Buches, in Verbindung. Ich denke seiner in der tiefsten Dankbarkeit. – Ihnen aber danke ich für alle Ihre selbstlose Hilfe an| diesen beiden Büchern. Ich weiß, was Sie für Hilfe geleistet haben! Halten Sie, bitte, die Verbindung mit den Meinen aufrecht, mit meiner Frau und den Kindern, auch mit meiner Mitarbeiterin Frl. Heuser und mit unserer treuen Anni. Und nun meine guten und treulichen Wünsche für Sie: Gott behüte Sie und lasse Sie fest, getrost Ihren rechten und darum oft schweren Weg gehen! Er behüte Ihren Mann und Ihre Kinder und lasse Sie diese ungewöhn431

Vgl. Brief Nr. 111.

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liche Zeit der großen Gefahren überstehen! Unvergeßlich steht vor meinen Augen das Bild der Taufe Ihres Söhnleins Michael. Der Gott, in den hinein wir dort in der abendstillen Kapelle unserer Garnisonskirche das Kind befahlen, der trägt und birgt auch uns – im Leben, im Sterben und über den Tod hinaus. Unsre Grenzen sind nicht seine Grenzen! Ich lebe aus der Wahrheit der großen Bibelworte Psalm 139,1-12.23-24. Ps. 73,23-26,432 die ich als Kind in der Schule gelernt und die ich im Leben als unerschöpflichen Reichtum erfahren | habe. Ich habe mir ds. langen Worte als Trautext geben lassen. Ich habe sie meinen Kameraden in dunkelsten Stunden, oft in letzten Lebensstunden, gesagt. Ich habe sie über offenen Gräbern und über Särgen gesprochen. Es hat mich nicht gewundert, daß mein Freund Dr. Reuber diese Worte seinen Kameraden im Kessel von Stalingrad gesagt und zugesprochen hat und daß sie „wie eine große Plastik“ vor seinen Augen stehen. Was mir auch geschehe, ich werde mich an ds. Worte halten und werde von ihnen, vielmehr freilich von dem, der hinter ds. Worten steht, gehalten werden. Und stehe oder falle ich, so mögen ds. Worte auch über meinem Tode stehen, über Not und Tod und Schuld meines Lebens, über allem! Vielleicht daß auch Ihnen ds. Worte hilfreich sein können. Ich grüße Sie herzlich und bleibe Ihnen, dankbar für alles Liebe und Freundliche, wie bisher verbunden. Ihr Arno Pötzsch. [Zusatz:] Ich bleibe hier in meinem Bereich, so lange Soldaten hier stehen.

432 Ps 139,1-12.23-24: Ein Psalm Davids, vorzusingen. HERR, Du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wissest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. […] Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich's meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege (Luther 1912). Ps 73,23-26: Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich in Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil (Luther 1912).

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Nr. 116 [Handschriftl.] Den Haag 6. Dezember 1944. Liebe Frau Neubauer! Fast 3 Wochen des Weges in Ihrem neuen Lebensjahr haben Sie zurückgelegt, und erst jetzt komme ich dazu, Ihnen zu schreiben. Es ist mir leid, daß Sie vergeblich auf meinen Gruß zum 17. Nov. warten mußten. Daß ich den Tag nicht vergaß, daß vielmehr viele meiner Gedanken bei Ihnen waren, schon am Vorabend, an dem wir einst Ihr Söhnlein tauften, und am Geburtstage selbst, an dem mir Ihr Mann die Freude des telef. Anrufs bereitete, wissen Sie gewiß! Ach ja, ich habe Ihrer gedacht, herzlich und mit vielen guten Wünschen. Man weiß heute, daß man mit leeren Händen vorm andern steht[,] nicht nur leer im Bezug auf die kleinen oder größeren Dinge, die man sich früher schenken konnte, sondern leer vor allem im Bewußtsein der menschlichen Grenzen: ich kann gar nichts für dich tun, du bist einsam wie ich es bin, keiner kann dem andern seine Schicksale abnehmen oder auch nur letztlich mittragen helfen, jeder weiß vom andern, daß er ganz allein durch die schweren Gefährdungen des Daseins hindurchgehen muß, vielleicht morgen schon durch die enge Pforte des Todes hindurchgehen muß – – was bedeuten da noch die gutgemeinten Wünsche, mit denen der Mensch einst so leicht und freigebig umzugehen pflegte? Wünsche sind garnichts! Man kann sich nur Gott befehlen, man kann einander segnen, wie die Alten es taten. Welch eine Macht und Wucht liegt in den Segensworten: [„]Der Herr segne dich und behüte dich … der Herr behüte dich vor allem Übel; er behüte deine Seele, er behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ In diesem | Sinne u. Geiste denke ich Ihrer und grüße Sie. – Als persönliche Gabe lege ich ein paar Verse bei, die im November u. Anfang Dezember entstanden. Ich hätte sie gern in einer ordentlichen Gestalt übersandt, muß mich aber mit diesen Zetteln begnügen. Ich habe keine Zeit, die (geliehene) Maschine schreibt schlecht, das Papier ist alle usw. – Als Buch hätte ich Ihnen gern den „Peter Annemont“ [sic!] von Rüdiger Syberberg (… [unleserlich] Alber-Verlag, München)433 geschenkt. Ein außergewöhnliches Buch! Ich kann es zum Lesen ausleihen, aber nirgends kaufen. – Ihnen danke ich von Herzen für die Freude, die Sie mir an meinem Geburtstage bereitet haben. Der schöne Band „Erdachte

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Rüdiger Syberberg, Peter Anemont (zuerst 1939), München 1941. Syberberg (1900-1978) war ein dt. Schriftsteller, Dramatiker und Erzähler, der in seinen Werken aus evangelischer Sicht religiöse Probleme behandelte. Der Roman erschien 1943 in niederländischer Übersetzung mit dem Untertitel: De avontuurlijke geschiedenis van een simpel mens met een goed hart (Die abenteuerliche Geschichte eines einfachen Menschen mit einem guten Herzen).

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Gespräche“434 (ich hatte mein Ex. mit nach Dtschl. geschickt u. bin nun froh, das Buch wieder hier zu lesen) kam vorm 23. Nov. an, der Geburtstagsbrief erst einige Tage, der vorzügliche Kuchen eine Woche später an. Wie soll ich für alles danken – für Gedenken und Gaben? Sie haben mich sehr erfreut mit allem. Der Kuchen ist eine kaum zu verantwortende [?] Belastung Ihres Haushalts!! Er schmeckte wundergut (was auch Frl. Engelenberg bestätigt!). Herzlichen Dank, liebe Frau Neubauer! – Von Frl. Heuser höre ich zu meinem Bedauern nichts, jedenfalls seit vielen Wochen nichts. Ich kann ja nicht oft schreiben, muß auch m. Frau wochenlang auf einen Gruß warten lassen, aber über häufigere, wenn auch kurze Briefe von Frl. Heuser würde ich mich doch sehr freuen. Sagen Sie das, bitte, mit einem herzl. Gruß Frl. Heuser! Heute habe ich der Buchhdlg. Neubauer 400.RM zur Verrechnung auf m. Konto gesandt. Sie brauchen mir keine Aufstellung herauszuschreiben; ich wollte nur | wieder einmal abzahlen u. zugleich das holl. [= holländische] Geld loswerden, das vielleicht eines Tages seine Gültigkeit verlieren könnte. – Wenn ich nur wüßte, in welcher Kiste die Bücher „Menschenantlitz u. Gestalt des Ostens“ sind? Sie könnten dann doch etwa 50 Exemplare bekommen. Die andern Ex. hätte ich gern Frau Dr. Reuber zugesandt. Es ist ein solcher Jammer, daß die Bücher nicht ein paar Tage früher fertig wurden!! Wie oft habe ich die Reise nach Brüssel gemacht!! Was habe ich gedrängt, immerzu – und nun doch alles vergeblich! Wenn Frl. Heuser die gr. Madonnenbilder zugehen sollten, dann, bitte, ein großes Bild an Propst Leistikow, 435 Braunschweig, Zuckerbergsweg 26, schicken. Der Propst schrieb mir, daß sein Bild beim Bombenangriff auf Braunschweig vernichtet wurde. Nun steht Weihnachten vor der Tür. Mit welchem Bewußtsein geht man dem Fest entgegen! Welch eine Zeit durchleben wir! Ich weiß nicht, ob ich noch einmal zum Schreiben komme. Bleiben Sie allezeit meines Gedenkens gewiß! Grüßen Sie Ihre Kinder, die getreuen Freunde u. Bekannten, Frl. Heuser, Schw. Martha Parpart [?], Bgm. Bleickens. Daß Gottes Güte Sie stets behüte! Ihr Arno Pötzsch. 434

Paul Ernst, Erdachte Gespräche, München 1934. Johannes Leistikow (1901-?) stammte aus Pommern, studierte in Greifswald Theologie und übernahm zunächst im Ostseebad Zinnowitz ein Pfarramt. Er kam 1931 nach Braunschweig und schloss sich den „Deutschen Christen“ an, kandidierte aber bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 bei der Gegenseite „Evangelium und Kirche“. Für kurze Zeit gehörte er dem Braunschweiger Pfarrernotbund an, fand dann jedoch seinen Standort „in der Mitte“. Der biblisch und volksmissionarisch orientierte Leistikow wollte für alle dasein und SA-Männer für die Kirche zurückzugewinnen. 1935-1945 hatte er in Braunschweig das Amt des Propstes inne. 435

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In Eile

Holland würden Sie nicht wiedererkennen; es hungert, es friert u. hat kein Licht. Kinder betteln [um] Brot. Jedermann hackt sich irgendwo Bäume ab. Kein Strom, kein Gas, kein Licht, keine Kerze …436

Nr. 117 [Bildpostkarte] EV. MARINEPFARRER beim Admiral in den Niederlanden

Den Haag 10.1.1945.

Liebe Frau Neubauer! Mit einem sehr herzlichen Gruß sende ich Ihnen das beiliegende Büchlein, das eben vom Drucker kam, noch nachträglich als Weihnachtsgruß; sein Inhalt entstand unmittelbar vor Weihnachten. Ich weiß, das kleine Buch wird Sie erfreuen. – Ihnen danke ich herzlich für Ihre Weihnachtsgabe! Ich denke Ihrer stets in herzlicher Verbundenheit und dankbar für Ihr Mitsorgen und -tragen! Ihr Arno Pötzsch Frl. Engelenberg grüßt Sie herzlich. Nr. 118 [Handschriftl.] 14. Februar 1945. Liebe Frau Neubauer! Als Ihr Mann vor etlichen Tagen endlich einmal bei mir im Haag sein konnte, gab ich ihm diese schöne Ausgabe meines Stalingradbüchleins. Die Gefolgschaft der holländischen Druckerei hat mir diese Ausgabe (nur eine kleine Auflage) aus Dankbarkeit geschenkt, trotz Hunger und Kälte in ihrer Freizeit hergestellt. Sie sollen eines dieser Büchlein haben. – Haben Sie Dank für Ihren lieben Brief, mit dem Sie mein Büchlein beantworteten! Sie haben mich sehr erfreut, wenn ich auch immer wieder sagen muß: sehen Sie in mir immer nur den schlichten Menschen, der nichts anderes ist als die andern und der nicht weniger als Sie an seine Grenzen stößt. Haben Sie Dank für alle Ihre Sendungen, Büchlein, Zeitungen! Kürzlich sagte jemand, als wieder Ihre Sendungen kamen: Was ist das für eine treue Frau, die Ihnen jahraus, jahrein diese Sachen schickt! Ja, das habe ich auch 436

Der Text des Zusatzes ist in bearbeiteter Form zitiert bei Matthes, 95.

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schon oft gedacht! Sie sind wohl der einzige Mensch, der mich trotz meines langen Schweigens immer wieder, unermüdlich, erfreut hat. Dafür werde ich Ihnen allzeit dankbar bleiben. Ich grüße Sie in Eile! Stets Ihr Arno Pötzsch. Nr. 119 [Handschriftl.] 6. März 1945. Liebe Frau Neubauer! Haben Sie wieder einmal Dank für eine Menge schöner u. erfreuender Sendungen! Der feine Kuchen kam an und hat Frl. Engelenberg u. mir sehr gut geschmeckt; das war ein Fest! So etwas gibt es auch noch? Ich fürchte nur, Sie haben mit diesem märchenhaften Backwerk ein allzu großes Opfer gebracht. Auf jeden Fall danke ich Ihnen herzlichst für die überraschende Gabe! Auch für die Zeitungen u. kl. Büchlein [Insel], wie auch für das Cuxhavenbuch, das ich nun nach Goslar weiter gesandt habe, und nun für die jüngste Gabe, das kl. Peter-Hebel-Buch,437 das gestern abd. eintraf, danke ich Ihnen sehr herzlich. Und ganz besonders danke ich Ihnen für Ihre Briefe, obgleich mich der vorletzte vom 19.II., der hier am 3. März, dem schrecklichen Katastrophentag des Haag,438 eintraf, tief bekümmerte. Zu meiner Freude kam gestern abd., zusammen mit dem Hebelbüchlein, Ihr Brief vom 27.II., der die Schatten wieder vertrieb. Sie hatten in Ihrem Briefe vom 19.II. von der Eifersucht geschrieben, die Sie erfüllt, und das hat mich traurig gemacht, da die Eifersucht nichts Schönes ist und Sie obendrein ganz unnötig und unberechtigt quälte. Der Platz, den Sie in meinem Leben haben, wird Ihnen von niemand streitig gemacht. Und daß ich für mancherlei Menschen da bin, da sein muß und dasein darf, gehört zum Wesentlichen meines Lebens. Nun, ich bin gewiß und glaube, daß Sie das alles selbst wissen, längst bedacht und der Eifersucht keinen Raum in Ihrem Herzen vergönnt hatten. Und ob ich Sie brauche? Sie wissen es selbst, wie viele Hilfe ich Ihnen danke – nicht nur damals, als Sie mich mit Büchersendungen verwöhnen konnten[,] sondern auch und gerade jetzt, wo jedes gute Buch, jede kleine wertvolle Schrift zu einer begehrten u. geliebten Kostbarkeit geworden ist. Wie viel und mannigfaltig Sie mir geholfen haben, werde ich immer im Gedächtnis u. im Herzen behalten (Peterbuch! Reuberbuch! 437

Johann Peter Hebel, vgl. Anm. 221. An diesem Tag zerstörten Bomber der britischen Luftwaffe versehentlich (!) das Wohngebiet Bezuidenhout in Den Haag. Dabei kamen über 500 Menschen ums Leben, Zehntausende wurden obdachlos und flüchteten ins Landesinnere. 438

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…). Kann das je durch einen anderen | Menschen ersetzt oder verdrängt werden? – – Doch nun genug davon! Das Menschenherz ist, wie die alte Bibel sagt, ein trotzig und verzagt Ding,439 und das Frauenherz ist ja wohl auch so beschaffen. Die Katastrophe, die ich eben erwähnte, ist ein Angriff schwerer Bomber auf das Stadtgebiet von Den Haag gewesen. Seit etwa 2 Wochen werfen schnelle Kampfflugzeuge in täglichen Angriffen – die Tage sind mit Alarmen ausgefüllt – leichte Bomben. Am Sonnabend früh aber kamen die schweren Maschinen u. warfen ihre Lasten. Im Stadtinneren sind einige Straßenzüge mit z.T. alten, typischen Gebäuden vernichtet worden; ein angrenzendes Stadtviertel (Bezuidenhout) ist fast restlos zerstört. Riesige Brände haben den ganzen Sonnabend (3.III.) u. in der Nacht zum Sonntag gewütet. Es war grauenhaft. Der Sturm hat die Flammen von Haus zu Haus weitergetragen. Mehrere Tausende verloren alles Hab und Gut. Das Stadtviertel ist bis an den Bahndamm, der Bezuidenhout von Voorburg trennt, zerstört. Sagen Sie das, bitte, Frl. Heuser. Ich hatte sie nach diesem Schreckenssonnabend anrufen wollen, aber die Leitungen nach W’haven [= Wilhelmshaven] sind zerstört – so daß ich bis heute nicht durchkommen konnte. – Ich weiß, daß dtsche. Städte Gleiches u. Schlimmeres erlebt haben u. erleben, aber für Den Haag u. für Holland bedeutet das Bombardement u. der Brand von Sonnabend eine Katastrophe ganz großen Ausmaßes. Die dtsche. Kirche ist gerettet. Der Brand kam an dsr. Stelle etwa 50 M. zuvor zum Stehen. Korte Verhout ist vernichtet von Princesse-Schouwbourg bis über Hotel Pollé hinaus, auch die alte Kriegsakademie u. benachbarte Häuser: auf der andern Seite die Banken usw. bis zum dtsch. Theater440(das selbst verschont blieb) u. an der Princessegracht von Verhout | über die Bethlehem Mütterklinik, kath. Kirche bis zum Eckhaus Lasnaric-Straat u. dahinter das Gefängnis – alles verbrannt! (Ich hätte das alles Frl. Heuser schreiben sollen u. wollen, aber da ich Ihnen nun doch kurz berichtete, habe ich diese näheren Angaben nun doch gleich mit niedergeschrieben u. Sie werden so freundlich sein u. Frl. Heuser u. Frau Stelter berichten.) Von Von den den Stalingradbüchlein Stalingradbüchlein geben geben Sie, Sie, bitte, bitte, Frl. Heuser 4, eins Frau Stelter, die übrigen stelle ich Ihnen zur Verfügung, bitte Sie aber, 1 Ex. mit 441 einem herzlichen Bleickens441 u. 1 Ex. an herzlichen Gruß Gruß an an Bgm. Bgm. [= [= Bürgermeister] Bürgermeister]Bleickens Uehlekes zu geben. Ich komme ja leider nicht zum Schreiben. Sonst hätte 439

Es ist das Herz ein trotzig und verzagtes Ding; wer kann es ergründen? (Jer 17,9). Gemeint ist das Deutsche Theater in den Niederlanden. Es war am 1.11.1942 mit einer Galavorstellung eröffnet worden, an der Arthur Seyss-Inquart, Gertrude SeyssInquart und Joseph Goebbels teilnahmen. 441 Max Bleicken (1869-1959) war 1907-1931 der erste Bürgermeister der Stadt Cuxhaven. 440

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ich Bleickens selbst geschrieben; ich denke so oft an sie! – Von dem Stalingradbüchlein, das in den Weihnachtstagen ganz spontan entstand, sind 600 Ex. gedruckt worden. Die Firma hat dann, weil ich für das Personal einige Hilfe vermittelt hatte, kein Geld für den Druck genommen, u. die 10 großen Exemplare sind ein Geschenk des Personals, in der Freizeit für mich hergestellt. – Ende 1944, Anfang 1945 sind außer den Stalingradgedichten noch etwa 60 Gedichte entstanden, davon etwa 35 Sonette. Ich habe sie zu einem Büchlein zusammengefaßt, das auch noch gedruckt werden sollte – aber es fehlt an Kohlen, Strom u.a., so daß der Druck nicht vorangekommen ist, vor allem seit Wochen durch die täglichen Alarme und Angriffe, ganz abgesehen von Hunger u. Kälte, die die Leute vom Betrieb fern hielten. Das Büchlein sollte ganz schlicht heißen „Von meiner Wegfahrt“, nach dem ersten widmenden Sonett „Von meiner Wegfahrt grüßt Euch nun ein Wort, Euch, die Gefährten aus den Wandertagen“. Es ist ein sehr persönliches Büchlein, ein Gruß an meine Freunde, ein Vermächtnis für meine Kinder. Ob der Druck noch zustande kommt, ist ganz frag- | lich; ich fürchte, es gelingt nicht mehr. Die Druckerei hat mir aus Dankbarkeit u. Freundlichkeit versprochen, sie wollten das Büchlein auch nach dem Kriege noch fertigstellen.442 Sollte ich nun nicht nach Hause zurückkehren, dann verfügen Sie, bitte, mit der Haagschen Drukkerij, Direktor Berlott, Den Haag, Z. O. Buitensingel 18/20 die Verbindung aufzunehmen u. das Büchlein nach Dtschl. zu bringen u. meinem Freundeskreis zuzuführen. Das Manuskript liegt bei der Haagschen Druckerei. Niemand, außer Ihnen, weiß um das Büchlein u. den Druckplan! Ich hätte bis zur Fertigstellung geschwiegen, aber ich weiß nicht, ob es zur Fertigstellung kommt u. ob ich sie erlebe. Darum soll wenigstens ein Mensch von der Sache wissen. Frl. Engelenberg hat mich bei der Arbeit gesehen; sie weiß also ein wenig um die Sache. – Ich habe ein Sonett für Peter im Baumgarten geschrieben; ich will es Ihnen hier schon anvertrauen: Von allen Ahnen, die die Kunde nennt, ist keiner mir so tief wie du vertraut. Ich sah [Ms: seh] dein Bild, einst meisterlich geschaut, so, wie im Ahn der Enkel sich erkennt. Eh von der Heimat dich dein Weg getrennt, von stillen [Ms: steilen] Gipfeln, drob der Himmel blaut, von grünen Tälern, drin der Nebel braut, hat, junger Hirt, kein Wahn dein Herz verblend’t. 442

Das Büchlein erschien schließlich 1947 in Hamburg unter dem Titel: Von Gottes Zeit und Ewigkeit. Worte und Lieder einer Wegfahrt.

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Als sie dich fort von deinen Bergen rissen, in fremde Welten, nicht in gutem Wollen, littst du das Los, von dem die Wandrer wissen, warst friedlos-einsam, o ich kenn dein Herz! Verbrannt vom Heimweh, Erdes tiefstem Schmerz, bist in der Fremde du verweht, verschollen. 443 Es ist mir lieb, zu wissen, daß Sie sich einmal um das Büchlein kümmern werden, wenn ich selbst es nicht mehr könnte. Ich hatte auch mit 600 Ex. gerechnet, aber auch mit 200 würde ich notfalls zufrieden sein – nur sind eben dann die Kosten für den Satz recht hoch. Über die Kostenfrage weiß ich noch nichts; ich glaube aber, die Kosten tragen zu können. Daß Justinus Kerner in Ihrem Hause in der Schillerstr. geweilt u. gar gewohnt hat, ist mir ganz neu. Wie kommt der Süddeutsche dorthin?444 Woher haben Sie die Kunde? „Lieblingsdichter“ ist zu viel gesagt; ich kenne Kerner noch viel zu wenig. Aber ich liebe die kleinen feinen Verse, die ich immer wieder sage u. wohl auch bei der Taufe des kleinen Michael gesagt habe: Weiß nicht, woher ich bin gekommen. Weiß nicht, wohin ich werd genommen. Doch weiß ich fest: daß ob mir ist eine Liebe, die mich nicht vergißt!445

443 Der Text einer maschinenschriftlichen Fassung (Ms), die Pötzsch hinterlassen hat, weicht geringfügig von dem im Brief mitgeteilten Text ab. Dort ist noch dieses Biogramm hinzugefügt: „Peter im Baumgarten, Sohn des Hans im Baumgarten u. der Katharina geb. Linder, zu Stein-Meiringen im Kanton Bern, Oberhasli, wurde am 30. August 1761 in der ref. Kirche zu Meiringen getauft. Eltern früher in Gadmen, um 1753/55 nach Stein. Vater Hirt. Mutter + in den 70er Jahren. Baron Heinrich Julius v. Lindau, kurhessischer Lieutnant, lernt Peter i. Baumgarten auf Schweizerreise 1775/76 kennen, + 1777 in Amerika. Herbst 1775-Frühjahr 1777 Philanthropin Marschlins. 12.8.1777 Weimar. 14.8. Goethe an Lavater: „Der Junge ist nun mein!“ ∞ 1786 Joh. Fried. Louise Hoffmann, Bad Berka. 1793 (während 6. Kind Euphrosyne getauft wird) verschollen, 33jährig. Lit.: Joh. Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Dr. Fritz Ernst-Zürich: Aus Goethes Freundeskreis, Studien um Peter i.B.“. 444 Tatsächlich wohnte Georg Reinhold Kerner in den Jahren 1852-1858 im Haus in der Schillerstr. 33. Er war der Neffe des schwäbischen Arztes und Dichters Justinus Kerner (1786-1862). Dieser hatte allerdings auch mit seiner Frau Friederike Ausflüge nach Cuxhaven gemacht. 445 ‚Albumblatt‘ von Justinus Kerner vom 7. September 1859 (nach: Thomas Wolf, Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen mit der Umwelt, Tübingen 2001, 59 Anm. 48).

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Das ist so schön! Und daran wollen auch wir uns immer wieder halten in dieser dunklen und gefährlichen Zeit! Grüßen Sie Frl. Heuser recht herzlich von mir, auch Bezzie Stelter! Ich denke Ihrer oft u. müßte ja auch noch weiter schreiben, aber es ist schon spät in der Nacht u. ich muß zur Ruhe. Gott behüte Sie allesamt! Ihr Arno Pötzsch Nr. 120 [Handschriftl.] z.Zt. Altwiessee am Tegernsee Fischerhäusl: 8.8.1949 Liebe Frau Neubauer! Heute erreichte mich zum 2. Male ein Gruß von Ihnen, nachdem ich in der vorigen Woche das sehr schöne Buch über das geistige Antlitz der Vertriebenen446 erhielt. Sie haben mich also gefunden. Wie sollte es auch anders sein! Haben Sie Dank für alle Ihre Gaben – vor meiner Abreise (ich las unterwegs drinnen) und jetzt in der Urlaubszeit. Ich danke Ihnen wirklich sehr herzlich für Ihr Gedenken und alle Ihre Buchgaben – obgleich ich noch garnicht zum Lesen gekommen bin! Denken Sie, ich habe das große Buch über die Welt und den Menschen, das ich als Lektüre für diese Wochen gedacht hatte, noch nicht gelesen. Ich bin einfach zu müde zum Lesen, zu müde zu allem. Es ist so, als ob jahrelang verdrängte Müdigkeit jetzt auf mich gefallen wäre. Ich bin unvorstellbar müde u. abgespannt, | u. es ist nun das völlig Neue und wohl auch Heilsame, daß ich mich dieser Müdigkeit einmal, zum ersten Mal in meinem Leben, wirklich überlassen darf. Darin liegt ja offenbar die Entspannung. Übrigens sind auch die Bäder, die den wesentlichen Teil der Herz-Kur ausmachen, recht anstrengend. Früh mache ich die Trink- und Badekur, ruhe auf Anordnung des Arztes zuerst 1 Stunde im Badehaus, gehe dann nach Hause in mein bescheidenes Quartier in dem wohl ältesten Häuschen von Wiessee und lege mich wieder hin zum Schlafen u. Ruhen. Erst am Spätnachmittag u. gegen Abend habe ich das Verlangen, ein Stück in die Bergwälder zu gehen. Und dann kommt schon wieder die Nacht. So sind die Wochen wie im Fluge | vergangen, und mit Kummer denke ich daran, daß die kostbare Zeit des Ausruhens viel zu schnell zu Ende gehen wird. Aber ich bin unsagbar dankbar dafür, daß ich diese Wochen der Kur und Entspannung hatte und haben durfte (Abb.20). Die Landschaft ist unsäglich schön. Gestern war ich 446

Gemeint ist: Herbert Krimm (Hrsg.), Das Antlitz der Vertriebenen. Schicksal und Wesen der Flüchtlingsgruppen. In Selbstdarstellungen, Stuttgart 1949.

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durch Menschen der ev. Kirchengemeinde zu einer Autofahrt in die Valepp eingeladen worden, eine einsame Gebirgslandschaft unmittelbar an der oesterreichischen Grenze. So habe ich auch sehr Schönes gesehen! – Etwa am 22.8. werde ich zur Rückfahrt aufbrechen müssen. Grüßen Sie den Hans, dem ich auch schöne Ferientage wünsche, u. die Jungen u. die treue Haushilfe u. die Mitarbeiterinnen im Geschäft u. vor allem auch „Tante Friedel“. Ich grüße Sie herzlich mit recht guten Wünschen. Ihr Arno Pötzsch. Nr. 121 [Postkarte] Wiessee/Tegernsee, 6.8.1952 Lieber Hans u. liebe Käthe, im Fluge gehen die schönen Wochen dieses Sommers dahin, ja, wie schnell! Die eigentliche Badekur ist nun abgeschlossen; sie hat mir samt viel Ruhe u. Schlaf sehr gut getan. In den letzten Wochen hoffe ich nun, einen Teil der alten Wanderwege, die mir nun schon seit Jahren vertraut sind, aufs neue gehen zu können. Ich hoffe sehr, daß ich nach dieser schönen, langen Erholungszeit mit neuen Kräften in die Arbeit zurückkehren u. sie wieder ganz bewältigen kann. Wie geht es Euch und den Söhnen? Ich gedenke Eurer herzlich u. danke Euch für die Nachsendung des Sonntagsblattes u. X [= Christ] u. Welt. Sind Albert Schweitzers Kindheitserinnerungen „Aus m. Kindheit u. Jugendzeit“ wieder zu haben? Würdet Ihr mir 1 Ex. besorgen? – Mit guten Wünschen grüße ich Euch in herzl. Verbundenheit Euer Arno P.

Predigten Zur Predigt am Heldengedenktag Pötzsch wendet sich in dieser Predigt als Seelsorger an die Soldaten. Hier wird nicht der Heldentod glorifiziert, sondern ernst und nüchtern von der Realität des Krieges gesprochen, von Leid, Not und Tod, die er über die Menschen bringt. Der Prediger schaut auf die Hinterbliebenen der Gefallenen, erzählt von Begräbnissen und den vielen Trostbriefen, die er zu schreiben hat. Er spricht seinen Hörern zu, dass sie auch im Sterben und im Tod in Gottes Gegenwart geborgen, dass sie auch im Leiden in Gottes Händen sein werden, und ermutigt sie, ohne Furcht vor dem Schrecklichen zu leben. Wie dieser Prediger sich an die Seite der Trostsuchenden stellt, wie seine Sprache an entscheidenden Stellen Poesie das berührt berührt und und prägt prägt sich sich Poesie wird, wird,das ein (Abb.21). Heldengedenktag (1942)

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Wer Gott fürchtet, dem wird’s wohlgehen und wenn er Trostes bedarf, wird er gesegnet sein. (Sir 1,19). Ps. 139,5-12: Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. + AMEN + Gemeinde! Kameraden! Es wird niemand unter uns sein, der nicht ganz unmittelbar spürte, daß über dem diesjährigen Heldengedenktag ein vertief447 Predigt am Heldengedenktag 15.3.1942, 15Uhr, Rotterdam, Manuskript, 8 Seiten. Zur besseren Lesbarkeit wurden alle Abkürzungen im Text aufgelöst. Fehlende Satzzeichen wurden ergänzt.

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ter, größerer Ernst liegt als über manchen früheren Tagen. Wir sind alle ernster geworden. Gewiß, es ist nicht die lastende Schwermut, die einst im Deutschland der Nachkriegszeit die Menschen unsres Volkes beherrschte, damals als alles Leben unseres Volkes in tiefe, schwere Hoffnungslosigkeit getaucht war und das ungeheure Blutvergießen des Weltkriegs vergeblich gebracht (?) schien. Es geschehen heute zu große, gewaltige Dinge als daß wir uns in [einer] müden Trauer gefangen nehmen lassen könnten. Aber wir können von den großen kühnen Taten und Leistungen, von den erfolgreich bestandenen Kämpfen und vielen (?) erfochtenen Siegen doch auch nicht hören, ohne der schweren harten Opfer zu gedenken, die jene ungeheuren Einsätze zu Wasser, zu Lande und in der Luft auch heute gefordert haben und fordern. Wie wollten wir vor den toten Soldaten bestehen, wenn wir sie und ihr unsägliches Leiden und Sterben über den stolzen Erfolgen und Siegen vergäßen! Wenn wir ihr Sterben vergäßen, nur weil es weit, weit von unsern zwar nicht unbedrohten, aber doch immer vergleichsweise verschonten Gegenden geschehen ist und geschieht, etwa in der Einsamkeit ferner Meere oder in den unermeßlichen Fernen und Weiten des Ostens oder in den Sandwüsten Afrikas? Und dieses Denken an das große Sterben in der Welt, an die große Ernte, die der Tod im Kriege hält, macht ǀ 1 ǀ uns ernster, muß uns ernster machen. Mochten die beiden ersten Kriegsjahre mit ihren schnellen Waffenerfolgen im nächsten Osten und dann im Westen die zahlenmäßig geringen Opfer hinter den unbeschreiblichen Erfolgen fast bis zum Verschwinden zurücktreten lassen, der ¾ jährige Feldzug im russischen Osten hat es der Nation und den Völkern deutlich zum Bewußtsein gebracht, daß Krieg auf Erden doch immer heißt, dem rasenden Ritt der apokalyptischen Reiter aus dem Buch der Offenbarung zu begegnen. Man braucht nur, da uns keine statistischen Gesamtzahlen zur Verfügung stehen, beliebig eine der Tageszeitungen in die Hand zu nehmen, und man steht ergriffen oder auch erschüttert vor der Menge der schwarzumrandeten Anzeigen: Gefallen für Führer, Volk und Vaterland. Da ist heute schon kein Dorf mehr, kein Freundeskreis und keine Familie, wohin nicht wenigstens eine der vielen Todesbotschaften gedrungen ist. Wenn man wie ich an so vielen Soldatensärgen + Soldatengräbern zu stehen hat, wenn man Hunderte Trostbriefe an Hinterbliebene zu schreiben hatte und Hunderte Antwortbriefe empfängt, Briefe, die einem oft erschütternd echt die ganze Tiefe und Größe der Lebensnot und des Menschenschicksals aufdecken, dann ahnt man etwas von der dunklen Rätselhaftigkeit des Todesschicksals auf dieser Erde, dann wird einem (vielleicht stellvertretend für viele andre, die zu diesem Blicke nicht kommen) der Blick in einen ungeheuren Abgrund aufgetan und zugemutet und man spürt etwas, was wir Menschen uns so

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gern verdecken, daß Leben gefährlich leben ist: „quam periculosum est vivere“ (Anselm):448 „Wie gefährlich ist es doch zu leben!“ Als ich kürzlich auf dem Bahnsteig einer deutschen Stadt stand, kam gerade ein Lazarettzug aus dem Osten hereingefahren. Was mich an diesem Bild bis ins Innerste hinein erschütterte, das waren garnicht so sehr die weißen Verbände, die diese Männer um ihre verwundeten und zerfetzten Glieder trugen, sondern das waren die Gesichter, Gesichter mit einem ungeheuren Ernst, mit einer nicht zu beschreibenden Verschlossenheit, mit Augen, die zu sagen schienen: Wir haben Unvorstellbares gesehen. Und als ich an die Wagen herantrat und mit den Männern sprach, ǀ 2 ǀ da gaben sie ein paar kurze Antworten, etwa die: „Wir sind der Hölle entronnen.“ Und als die Rotkreuzschwestern auf dem Bahnsteig ein paar fröhliche Lieder sangen, da sagten die Männer: „Die wollen uns irgendwie froh machen“, und sagten das mit einer solchen Trauer, daß es mir ins Herz schnitt, weil es den 2. Teil des Satzes nur zu deutlich ahnen ließ: [„]als ob wir jemals irgendwie froh werden könnten![“] Nun meine ich nicht, meine Freunde, daß dies das einzige Gesicht des Krieges sei. Ich weiß auch um das fast lächelnde, knabenhafte Sterben mit der Frage auf den Lippen nach dem Schiff, nach den Kameraden, nach Erfolg und Sieg. Und wir wissen alle um so viel frohen Einsatz, um so viel fröhliche Tapferkeit. Aber ich meine, daß unser Heldengedenken [Zusatz darüber: Besinnen] die schweren und schwersten Menschenlagen und -lose mit umspannen müsse, daß wir weder uns noch andre mit der Illusion eines frischfröhlichen Krieges betäuben dürfen, daß wir nur mit der nüchternsten Wirklichkeitsschau den Helden und dem Heldentum unserer Tage gerecht werden können. Wir müssen sie alle vor Augen haben, die irgendwo an den Fronten des Vaterlandes standen und stehen, alle[,] die als Väter und Mütter, Gefährtinnen und Kinder, Geschwister und Freunde um sie leidtragen. Wir wollen in unser Gedenken, weil es zur Wirklichkeit dieses Krieges gehört, einschließen aber auch alle die, die zwar nicht Soldaten sind und doch, wie auch in dieser Stadt [ersetzt durch: diesem Lande], Opfer des Krieges und seiner Waffen geworden sind. Alles aber, was wir als einzelne oder als Volk an Kriegsleid, -not und tod erfahren und als Lebensauftrag in dieser unsrer Zeit empfangen haben, das sei umschlossen und mitgetragen von dem Liebeswort, das über dieser Stunde steht. Es ist eines der herrlichsten in jenem herrlichen alten Bibelbuche, ein Wort, ohne das ich mir ein eignes Leben garnicht denken kann, ein Wort, das wie wohl kein anderes von der Nähe, Allgegenwart Gottes spricht. Nun will ich gleich sagen, daß ich nicht daran denke, uns die Allgegenwart Gottes beweisen und plausibel ǀ 3 ǀ machen zu wollen. Gottes 448

Die Quelle des Zitats war nicht zu ermitteln.

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Gegenwart, Gottes Dasein in dieser Welt ist zu allen Zeiten eine Wirklichkeit gewesen, die mit der begreifenden Vernunft eben nicht zu erfassen war. Nicht von ungefähr sagt jener alte Beter selbst mitten in seinem Lobpreis des gegenwärtigen Gottes, der ihn von allen Seiten umgibt: Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. Aber nun unterscheidet er sich grundsätzlich von den kleinen Geistern, die es zu allen Zeiten gibt. Weil ihm die Existenz Gottes, seine Nähe und Gegenwart etwas Unfaßbares ist und bleibt, fängt er nicht an sie zu leugnen, ihrer resignierend in ungeheurer Vereinsamung zu entsagen oder in eingebildeter Selbständigkeit zu entraten. Er sucht nicht die unfaßbare Größe Gottes mit dem engen Maß seiner kleinen Menschenvernunft zu messen, sondern er weiß und hält glaubend fest mit einem leidenschaftlichen Herzen, daß Gott Wirklichkeit, die letzte, Welt und Leben tragende Wirklichkeit ist, und er beschreibt diese Wirklichkeit, tastend zwar mit menschlichen Bildern, und doch mit wagender Kühnheit; er vollbringt das Wagnis des Glaubens an einen alles wirkenden wirklichen Gott, in dem wir leben, weben und sind.449 „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Es gibt kein Verlorengehen und keine Flucht vor diesem Gott. Welt und Überwelt und Unterwelt, Länder und fernste Meere, Tag und Nacht – das wollen uns die wunderbaren Verse sagen [–] sie alle sind Gottes Raum, die er füllt, weil sie ihm gehören. Goethe hat in einem bekannten Vers versucht, diese Tatsache auszusprechen, ohne daß ihm die Sprachgewalt des Bibelwortes gelungen wäre: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord- und südliches Gelände ruhn im Frieden seiner Hände.450 Die Wirklichkeit Gottes, die Wirklichkeit des Seins in Gottes Händen ist niemals ein lösbares, begreifbares Rechenexempel, sondern die Wirklichkeit Gottes kann nur im Wagnis ergriffen werden; der Mensch kann sich nur im Wagnis von der Wirklichkeit des daseienden, gegenwärtigen Gottes ergreifen und umfassen lassen. ǀ 4 ǀ Was bedeuten diese Aussagen nun für unsre Heldengedenktagsbetrachtung [Zusatz darüber: Besinnung]? Warum stellen wir die Urworte von der Wirklichkeit und Gegenwärtigkeit Gottes über diesen Tag des Gedächtnisses und der Besinnung? Warum scheint es uns so wichtig, die Grundwahrheit unter allen Umständen irgendwie in unsrem Leben und Dasein zu verankern? Wir wollen ein 3faches sagen[,] und ich meine es nicht schlicht genug sagen zu können; ich will gleichsam nur hindeuten auf die mächtigen Bibelworte und auf die Wirklichkeit, die sie bezeugen, will nur an ein paar Erfahrungen erinnern, die Menschen an dieser Stelle gemacht haben.

449 450

Vgl. Apg 17,28. West-östlicher Divan, Moganni Nameh – Buch des Sängers.

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I. Gottes Gegenwart[,] das heißt Geborgenheit im Sterben und im Tode. Wir wissen alle, daß Sterben heißt[,] ganz, ganz einsam sein, mutterseelenallein durch die dunkle enge Pforte des Todes gehen, wo wir auch das Liebste und die Liebsten zurücklassen müssen und unsre Nächsten uns zuletzt doch ganz allein gehen lassen müssen; wo wir das eine, einzige, kostbare , unwiederholbare Leben abstreifen und etwas völlig Unbekanntes leiden und auf uns nehmen müssen. Man muß von dieser Erkenntnis erst einmal durchschüttelt und erschüttert worden sein, wenn man mitreden will vom Tode und vom Sterben, man muß um das leidenschaftliche Aufbäumen des Menschenherzens wissen wider die maßlose Gewalt des Todes. Wahrlich, die wahnwitzige Angst vor dem Tode und dem Sterben ist dem Tode gemäßer als das feige, erbärmliche, unmännliche „So tun als ob“ der Tod nicht wäre und keine Schrecken an sich hätte! Wahrlich, da ist mir (um nur einen zu nennen) Hölderlin lieber, wenn er sagt: „der Gott, zu dem ich betete als Kind, mag es mir verzeihen! Ich begreife den Tod nicht in seiner Welt!“451 Nein, wahrlich, wir begreifen ihn alle nicht, obgleich wir ihn alle leiden müssen! Und wenige Jahre später kann Hölderlin doch sagen: „Mich tröstet der Gedanke, der überall mein ǀ 5 ǀ bester Trost ist, daß nämlich Gott überall ist …“452 und: „Eines denke ich besonders oft, daß der Lebendige, der in uns und um uns ist, von Anbeginn in allen Ewigkeiten mächtiger als aller Tod ist“.453 Das ist wie eine Anwendung unsres Bibelwortes. Der Tod ist unter Gott, Gott ist größer als der Tod! Alle Sterbenseinsamkeit, die Verlassenheit des Todes ist aufgehoben durch die Nähe und Gegenwart Gottes. „Bettete ich mich hinein ins Totenreich, siehe, so bist du auch da!“ „Soldatsein das heißt (so sagt es General von Rabenau) in Zeltgenossenschaft mit dem Tode leben.“ Wir könnten auch sagen: Menschsein, leben auf dieser Erde das heißt[,] mit dem Tode in Zeltgenossenschaft leben. Das heißt ich kann sterben, ich kann fallen, auf tausendfacherlei Weise bedroht und versehrt und verzehrt uns der Tod – aber [unleserlicher Einschub] ich kann nicht aus Gottes Hand fallen. Gottes Hand: der bildhafte Ausdruck für die Gegenwart und Nähe Gottes. [Zusatz: Christus: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände“.] „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt.“454 Um diese Nähe Gottes haben sie gewußt, unsre Väter vor uns, unzählige Soldaten in allen Kriegen, und um diese Nähe Gottes dürfen und müssen wir wissen angesichts des Todes, der uns immer begleitet und bedroht und uns aus diesem Leben reißt, wenn unsre Stunde da ist. „Bettete ich mich im Totenreiche, siehe, so bist du auch da!“ oder wie es in einem der schönsten 451

In einem Brief von 1795 an seinen Freund Neuffer (MA II, 585). Brief an seine Schwester Heinrike Breunlin vom 19.3.1800. 453 Ebd. 454 Anfangsstrophe eines Liedes von Arno Pötzsch (EG 633). 452

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Soldatenbriefe heißt, den uns Gorch Fock von einem Unbekannten aufbewahrt hat: Jener deutsche Matrose hat recht, der seiner Mutter schrieb: Wenn du hören solltest, daß unser Kreuzer gesunken und niemand gerettet sei, dann weine nicht! Auch das Meer, in das mein Leib versinkt, ist doch nur die feste Hand meines Heilands, aus der mich nichts reißen kann! Wahrlich[,] Gottes Gegenwart[,] das heißt Geborgenheit im Sterben und im Tode! II. Gottes Gegenwart aber heißt darum auch Trost im Leide. Wer je des Trostamts hat walten wollen oder müssen, der hat erfahren, daß vor dem wirklichen, ganz großen und tiefen Schmerz alle menschlichen, ǀ 6 ǀ noch so gut gemeinten Trostworte versagen. Auch im Leiden ist der Mensch allein, mutterseelenallein mit all den Geheimnissen und Rätseln seiner unverstehbaren Schicksale, allein mit der bohrenden Frage nach dem Sinn seiner Leiden. Ahnen wir nicht, daß auch in diesem Kriege … [unleserlich] hunderttausendfach das grauenbeladene „Warum?“ gegen den verschlossenen Himmel geschrien wird? Steht es nicht in unzähligen Briefen zu lesen, daß die Vereinsamten es nicht begreifen können, daß ihnen ihr Ein und Alles, der geliebte Gefährte, das einzige, geliebte Kind genommen wurde? Können wir auch nur das Geringste erklären? Begreifen wir, warum hier eine glückliche Ehe zerrissen, dort das Kind den Eltern, und dort Vater und Mutter den Kindern genommen wurde? Wo, meine Freunde, gibt es dann einen Trost als dort, wo wir wissen dürfen: dennoch, wir in und mit allen Leiden, dennoch von Gott umschlossen, dennoch in Gottes Händen. Was mir auch geschieht – du bist da! „Herr, vergangen bist du schier hinter all den Finsternissen, aber dennoch bist du hier, weißt, Verborgener, von mir mehr als ich von dir kann wissen. Du bist da und keine Not kann dein Michumweben enden; nicht dies Leben, nicht der Tod mag uns scheiden, du mein Gott, Herr, ich bin in deinen Händen.“455 Wahrlich, wo Gott nicht unsres Herzens Trost im Leide ist, bleiben alle menschlichen Tröstungen leidige Tröster,456 die mit leeren Händen nicht helfen können. III. Gottes Gegenwart[,] das heißt aber auch Kraft zum Leben, zum Wirken und Wagen. So ernst wir an diesem Tage vom Tode und vom Leide werden wollten, wir sprachen und sprechen davon nicht als gebrochene Menschen, sondern als ganze Menschen, die wir vielleicht nicht alle und allenthalben sind, die wir aber sein können und sein und werden sollten! In Gottes Gegenwart leben, das heißt um die Überwindung und Überwundenheit des Todes und 455 Gedicht von Arno Pötzsch, unter dem Titel „Trost“ in: Singende Kirche, Heft 3, Den Haag 1942, Nr. 22; Heide-Münnich, 443. 456 Vgl. Hiob 16,2.

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aller Todesmächte wissen, ǀ 7 ǀ heißt im Leide getröstet und getrost sein können. Wer sonst könnte wohl so befreit durchs Leben gehen als ein Mensch Gottes? Unser Leben und unser Werk, das uns anvertraut und anbefohlen ist, unser Kampf, der uns verordnet ist, alle Aufgaben unsres Lebenstages, Arbeiten und Feiern, Haben und Entbehren, Gesundsein und Kranksein, Jungsein und Altwerden, [eingefügt: Einsamkeit und Gemeinsamkeit] – alles, was zu unsrem Leben gehört, geschieht, wenn wir’s recht sehen, in der unmittelbaren Nähe und Gegenwart Gottes. Welch ein Segen, wenn wir uns diese Gottbezogenheit aller unsrer Dinge bewußt machen, wenn wir sie so geschehen lassen und vollbringen! Welch ein Friede, welch eine Gewißheit, [eingefügt: Klarheit und Wahrheit] Festigkeit, Stetigkeit kommt dann und käme dann über uns! Dann lernten wir unter Gott Führung und Geleit und in der strengsten Verantwortung [eingefügt: und Verzweiflung] und aus täglicher Gnade und Vergebung heraus leben und ein Leben tiefster Erfüllung gewinnen! Dann würden wir als ganze Menschen im Leben stehen „unverzagt und ohne Grauen“,457 als „Ritter trotz Tod und Teufel“,458 als „Soldaten nach dem Herzen Gottes“,459 als Menschen und Kinder unsres Gottes. Hier stehen wir an der Grenze alles Betrachtens, so viel Zeugnisse wir auch für solches wagende und gelingende Leben in der Gegenwart Gottes heranführen könnten. Hier stehen wir vor der Entscheidung, ob wir es auf die im Bibelwort verkündete [eingefügt: und von Christus offenbarte und verdeutlichte] in der Welt bezeugte Nähe und Gegenwart Gottes wagen wollen – im Leben, im Leiden und im Sterben. Ach, daß wir die Ausweglosigkeit unsres Lebens vor der Wirklichkeit Gottes erkennten und mit dem alten Beter sprächen: „Wo soll ich hingehen vor deinem Geist und wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht?“ AMEN. Der Friede Gottes … Zur Neujahrspredigt An der Jahreswende 1943/44 stellt Pötzsch dem Herzwort des 23. Psalms: „du bist bei mir“ Verse von Friedrich Nietzsche gegenüber, in denen der Mensch als einsamer Wanderer auf der Lebensstraße spricht. In dieser Figur konnten viele Menschen, weit über den Kreis der Hörer hinaus, 457

Strophe 4 des Liedes „Warum sollt ich mich denn grämen“, Text: Paul Gerhardt,

1653. 458

Hinweis auf einen Kupferstich Albrecht Dürers von 1513. Zitat aus unbekannter Quelle. Möglicherweise spielt Pötzsch auf König David an (vgl. Apg 13,22). 459

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sich damals wiederfinden. Mitten in all dem Dunklen und Schweren, das sie in jener Kriegszeit erleben, konfrontiert der Prediger sie mit dem Unbedingten, vor dem die Illusionen zerfallen, und vergewissert sie der göttlichen Vaterliebe: „Du bist bei mir, du, Gott, bist bei uns.“ Dies allein stehe im Leben und in dieser Zeit unerschütterlich fest. Neujahrspredigt (1944)

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Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir. [Ps 23,4] Unter den Dichtungen unseres Volkes mag es wenige geben, die einem so unmittelbar ans Herz greifen wie jene Verse des Philosophen Friedrich Nietzsche: „Noch einmal, eh’ ich weiterziehe und meine Blicke vorwärts sende, heb’ ich vereinsamt meine Hände zu dir empor, zu dem ich fliehe, dem ich in tiefster Herzenstiefe Altäre feierlich geweiht, daß alle Zeit mich deine Stimme wieder riefe!“ Auch wenn wir die leidenschaftlichen Schlußverse: „Ich will dich kennen, Unbekannter, du tief in meine Seele Greifender, mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender, Du Unfaßbarer, mir Verwandter, ich will dich kennen, selbst dir dienen!“461 nicht hinzunähmen, dann spürten wir doch die tiefen Erschütterungen, denen der Wanderer Mensch auf der Lebensstraße ausgesetzt ist. Angerührt vom Unfaßbaren, vom Ewigen, verhält er seine Schritte und hebt in namenloser Einsamkeit seine Hände ins All empor, Gebärde einer unsäglichen 460 Gehalten am 1. Januar 1944 in der Deutschen evangelischen Kirche in Den Haag. Maschinenschrift, 8 Seiten und Titelblatt. 461 Erste und dritte Strophe eines frühen Gedichts, August 1864, später mit dem Titel ‚Dem unbekannten Gott‘ versehen (vgl. Werkausgabe von Colli und Montinari, HKG II, 428).

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Sehnsucht des Herzens. Wann aber begriffen wir wohl tiefer diesen Wanderer Mensch, ja, wann wohl glichen wir ihm tiefer als in der Nacht zwischen den Jahren, wenn ein altes Jahr zu Ende geht und ein neues beginnt. Nicht, daß etwa alle diesem einsamen, vereinsamten Wanderer glichen, der mit weit aufgerissenen Augen und mit einem erschütterten Herzen in das unendliche Dunkel vor sich und um sich schaut und starrt. So einfach und so selbstverständlich ist es nun wieder nicht, obgleich es eigentlich so selbstverständlich sein sollte. Aber wir wissen ja nur zu genau, wie gern der Mensch sich den erschütternden Anrufen jenes Unbekannten, das ihn umgibt, ǀ entzieht und verschließt, wie der Mensch bis hinein in diese schwersten Jahre unseres Daseins die unheimliche, besinnliche Stille dieser Nacht zwischen den Jahren nicht erträgt, sondern mit seinen Nichtigkeiten, mit seinem Rausch erfüllt und vertreibt. Wie viele Menschen wollen unter gar keinen Umständen zur Besinnung kommen, nämlich unter den Erschütterungen, die ihre gesamte Existenz in Frage stellen und umkehren müßten! Wahrlich, wir alle hätten hier etwas zu lernen von jenem Nietzsche, der in seinem Bewußtsein alles andere gewesen ist als ein Christ, der aber den ewigen Gottesgeist anrufen kann als den, der „tief in seine Seele greift, sein Leben wie ein Sturm durchschweift“. Vor diesem Ewigen, Unfaßbaren „stehen wir noch einmal, ehe wir weiterziehen“ in das Unbekannte hinein an der Wende der Jahre. Ach, wie stehen wir an dieser Wende der Jahre! Vielleicht haben wir noch nie in unserem Leben so an einer Jahrwende gestanden wie an dieser von 1943/44. Wir schauen zurück und überschauen ein Unmaß von Schwerem und Dunklem, das wir als einzelne Menschen, als Volk, als Völker, als Welt, in diesem nun vergangenen Jahr erlebt haben. Gewiß, immer schon ist dieser Blick auf das Vergangene ein Blick auf Trauer, Tod und Tränen gewesen, auf viel Not und Leid, auf Mühe und Arbeit, auf Kampf und Schweiß, auf Erreichtes und Nichterreichtes. Aber welche Ausmaße hat das alles in dem verflossenen Jahr angenommen! Welche Unsumme schwerer und schwerster Schicksale ist über zahllose Menschen hinweggegangen, oft so, wie schwere Panzer über lebendige Menschenleiber hinwegrollen! Wie schwer sind wir selbst unmittelbar oder durch unsere Zusammengehörigkeit mit den Schwerbetroffenen von Not und Tod, Schicksal und Schuld der Welt angepackt und mitgerissen worden! Und wenn es uns nicht gepackt und mitgerissen hätte, dann hätten wir uns so schwer der Liebe und der Wahrheit versagt, daß wir wahrlich um nichts beruhigter die Rückschau auf das Vergangene halten könnten. Wenn Zehntausende fallen, Zehntausende sterben, unter Trümmern vergehen, dann sind das Katastrophen, an deren Band wir nicht als müßig unbeteiligte Zuschauer stehen können. Und schauen wir an der Wegwende voraus, wird uns der Blick um nichts leichter und heller. Was wird die Zukunft, was das

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neue Jahr bringen? Vielleicht haben wir nie inbrünstiger diese Frage gestellt! Wie oft haben wir sie in diesen Tagen schon ausgesprochen! Wieviel Leid wird von dem Wanderer ǀ Mensch aus der Vergangenheit ins Künftige mitgetragen, wieviel Einsamkeit und Not Leibes und der Seele ist als feststehendes Lebenslos Unzähligen aufgeladen, Bürde, um die wir bereits wissen! Wieviel Unbekanntes wird kommen! Wieviel schwere und schwerste Schicksale werden über Viele, vielleicht Unzählige – und wer weiß denn, ob wir nicht zu diesen gehören – kommen! Wieviel Sorgen lasten auf uns allen und umschlingen beklemmend die Hoffnungen und Wünsche, die wir als Menschen ganz selbstverständlich für uns und für Andere hegen! Immer glich und gleicht die Zukunft einem dunklen, verschlossenen Tor. Aber wir haben den Eindruck, als sei alles so viel dunkler, verschlossener und drohender als in anderen Zeiten, weil alle Lebensbedingungen und Verhältnisse so viel schwerer geworden sind. Wir wissen, daß wir vor tiefgreifenden, weitreichenden Entscheidungen stehen, daß sich größte, allergrößte Dinge abspielen, daß Ungeheures auf dem Spiele steht, das weit über die persönlichen Interessen und Wege hinausreicht und das doch jedes einzelne Schicksal mit erfaßt und mitbestimmt. Wahrlich, es ist nicht leicht, auf diesem Wege stehen zu bleiben und an der Wegscheide zwischen Vergangenheit und Zukunft Umschau, Rückblick und Ausschau zu halten. Wer hier wirklich steht mit all der Gewißheit des Schweren, Dunklen, des Harten, Unerbittlichen beladen, und in all der Ungewißheit dieses rätselvollen, unverstehbaren, abgründigen Daseins, wie sollte der nicht einsam, vereinsamt seine Hände emporheben, über sich hinaus zu dem empor, zu dem wir fliehen, daß seine Stimme uns wieder riefe! Von jenem Letzten, Ewigen und Unbedingten über uns und allen Dingen bekennt ein anderer Einsamer des Menschengeschlechts, der große dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard einmal in einem sehr tiefen Wort: „Das Unbedingte ist das Einzige, das einen Menschen ganz nüchtern machen kann.”462 Ein sehr tiefes, nachdenkliches Wort: „Das Unbedingte ist das Einzige, das einen Menschen ganz nüchtern machen kann.” Ganz nüchtern wird der Mensch nur vor Gott. Da zerfallen und zerbrechen die Illusionen, die der Mensch mühsam aufbaut und zu erhalten versucht, da sieht er sich und das Leben und die Welt, wie alles wirklich ist, da versinkt jeglicher Schein, auch der bloße fromme Schein, da wird Unwahrheit, und sei sie noch so glänzend? unerbittlich als Lüge enthüllt, da ist jedes falsche Spiel entlarvt, da ist jede Selbsttäuschung, jede Maske sinnlos. Das Unbedingte läßt uns nüchtern werden, völlig nüchtern. Wer vor das 462

Pötzsch hat dies wohl entnommen aus: Sören Kierkegaard, Religion der Tat. Sein Werk in Auswahl, hrsg. von Eduard Geismar, Stuttgart 1930, 250.

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Ange- ǀ sicht Gottes gerufen wird, der kann sich nicht hinter einem Baum verstecken wellen. Und nun bestätigt uns diese Nüchternheit und Ernüchterung eben das, was unser heutiger Text mit den Worten ausspricht: „Wanderung im finstern Tal“, Wanderschaft im Tal der Todesschatten. Das ist die Wahrheit über unser Leben, über die Zeit, über diese in allen Fugen bebende Welt! Leben, das heißt wandern unter den Schatten des Todes, in seiner ständigen Begleitung, unter seiner ständigen Bedrohung, in der ständigen Möglichkeit seines jähen Zugriffs. Ob wir das sehen oder nicht sehen wollen, ändert nichts an der Tatsache, daß es so ist. Wir sind nicht Herren des Lebens. „In einer Stunde geht es zugrunde, sobald die Lüftlein des Todes drein wehn!“463 Leben heißt darum immer, aber heute noch ganz anders als in früheren Zeiten vertraut werden, sich vertraut machen mit dem Tode. Leben heißt „mit dem Tod in Zeltgenossenschaft leben.“464 Der dieses eindrucksvolle Bild und Gleichnis gebraucht, ein Offizier unserer Zeit (General von Rabenau)[,] sagt es zunächst vom Soldatsein im Kriege. Aber wir wissen es längst und haben es erfahren, daß es vom Menschen schlechthin gilt. Unser Lebensschicksal ist Todesschicksal, wahrlich, in einem sehr realistischen und direkten Sinne. Das gehört zur Nüchternheit, dieses Wandern im Schatten des Todes zu sehen und anzuerkennen. Heute noch kann unser oder der Unseren Leben zu Ende sein, vielleicht auf eine grausige Weise; und unserem Sterben fehlt vielleicht all das Feierabendliche, das wir doch noch immer mit dem Sterben unserer Väter verbanden. Leben, das heißt zum anderen, an die engen Grenzen unseres Verstehens gebunden zu sein. Wir verstehen dieses Menschenlos unter den Schatten des Todes nicht. Wir wissen nicht den Sinn der Welt und des Daseins, nicht den Sinn dieses Lebens und dieses ungeheuerlichen Sterbens. Alles Philosophieren über den Sinn bleibt Stückwerk. Wir können uns heiser schreien mit unserem tausendfältigen Warum vor den rätselvollen Schicksalen, vor all dem unschuldigen, bitteren Leiden und Sterben in der Welt, das wir mit Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Einklang bringen möchten, aber eine Antwort des Verstandes werden wir nicht finden. Alles Letzte, alles Woher und Wohin des Daseins bleibt dem Menschengeist Rätsel und Geheimnis. ǀ Leben, das heißt, an die engen Grenzen unseres Wollens und Vollbringens gekettet sein. Wir werden schuldig immer wieder, immer wieder. Wir sehen uns mitgerissen durch die Schuldverkettung mit Anderen, und wir lassen Andere durch uns schuldig werden. Und wiederum ist es die Gegenwart, die uns dieses Schuldverhältnis Aller zu Allen, dieses Schuldigsein, in einem die eigenen Daseinsgrenzen weit überragenden Ausmaße 463 464

Paul Gerhardt, Die güldne Sonne (EG 449,7). Quelle nicht zu ermitteln.

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erkennen läßt. Wer du auch bist, dein Leben ist Schuld, hineingeflochten in die Schuld der Welt. Wenn wir so die Wirklichkeit „Wanderung im finstern Tal“ kurz umschrieben haben, wie sie uns der hellsichtige, nüchterne Blick vor dem Angesichte Gottes nahelegt und aufzwingt, so kehren wir wiederum zu jener einsamen Gebärde dessen zurück, der sich betend an Gottes ewige Wirklichkeit wendet, zu ihr fliehend, weil es keine andere Zuflucht mehr für ihn gibt. Hier nun freilich trennen wir uns von Friedrich Nietzsche, dürfen uns von ihm trennen, weil wir wohl vor dem unfaßbaren, aber doch nicht vor dem unbekannten Gott stehen, und weil wir vor Gott nicht stehen mit jenem titanenhaft trotzigen „Ich will“, sondern mit dem dankbaren „Du hast“. Du, Gott, hast dich offenbart, reichlich und väterlich, in Schöpfung und Geschichte, in Jesus Christus; du hast mich in Gnaden bewahrt und getragen vom Anfang bis heute. Hier dürfen wir nun die ganze Lichtfülle der Weihnachtsbotschaft, wie sie dem Beter des 23. Psalms bei aller Tiefe seiner Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung noch unbekannt war, und wie sie Friedrich Nietzsche nicht mehr wahrhaben wollte, einschalten und einströmen lassen und dürfen mitten im finstern Tal der Todesschatten die großen Worte der Zuversicht aussprechen und wieder neu ins Herz fassen: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir.“ Du bist bei mir, du, Gott, bist bei uns; Gott ist Gegenwart und Nähe, ist kein unbekannter, ferner Gott, sondern ein naher und gegenwärtiger Gott. Gott hat die Welt nicht allein gelassen und läßt die Welt nicht allein[,] und mag sie noch so gottverlassen erscheinen; Gott läßt die Welt nicht allein und auch uns nicht, die wir ein Stücklein dieser Welt sind. Das ist die frohe Botschaft in einer dunklen, zerrissenen Welt, in einer von Schicksalsstürmen geschüttelten und erschütterten Zeit. Das ist die große, tiefe Gewißheit für das kleine, begrenzte Menschenleben wie ǀ für eine ganze Christenheit und Menschheit, soweit sie es nicht verschmäht, an dem „du bist bei mir“ des alten Beters zu lernen und in den Fußspuren Gottes durch die Zeit, durch die Geschichte zu wandern. Dieses „du bist bei mir” des biblischen Beters, das die alten Preußenkönige wieder auf nahmen in dem „Gott mit uns“, das wir noch heute auf den Koppelschlössern unserer Soldaten lesen – das ist mit den Worten Kierkegaards die „göttliche Vaterliebe, das einzige Unerschütterliche im Leben, der wahre archimedische Punkt”.465 Was ist das für ein herrliches, wunderbares Wort! „Die göttliche Vaterliebe, das einzige Unerschütterliche im Leben, der wahre archimedi465 Tagebuchnotiz von 1840: „Ich lernte von ihm [d.h. meinem Vater, M.H.], was Vaterliebe ist, und dadurch bekam ich einen Begriff von der göttlichen Vaterliebe, dem einzigen Unerschütterlichen im Leben, dem wahren archimedischen Punkt“ (Journale und Aufzeichnungen. Notizbücher 1-15 [DSKE 3], hrsg. von Markus Kleinert und Heiko Schulz, Berlin-Boston 2011, NB 6:24, 214).

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sche Punkt.“ Der Punkt also, von dem aus die Welt aus den Angeln zu heben ist. Gottes Liebe das einzige Unerschütterliche im Leben – das wird uns gesagt, das wird uns zugesagt, uns, auf unseren Wegen in Dunkel, Rächt und Todesschatten, trotz dem Tode, trotz der Unverständlichkeit und Rätselhaftigkeit unserer Wege und Schicksale, trotz der Schuld auch, die wir mit uns tragen. Gottes Liebe, Gottes Vaterliebe ist bei uns, das einzige Unerschütterliche im Leben! Der letzte Sinn, der die Welt umschließt, darf mit dem Wort „Gottes Vaterliebe“ umschrieben werden. Und nun wissen wir auch, was dem Beter diese ungeheure Festigkeit und tiefe Gelassenheit gibt, diese tapfere Furchtlosigkeit: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir.“ Gottes Vaterliebe, diese unerschütterliche, nimmt uns die Furcht in der Welt und vor der Welt, nimmt uns die Furcht im Leben und vor dem Leben, die Furcht vor dem Tode und im Sterben. In Gottes Vaterliebe geborgen, fürchten wir kein Unglück, kein Unheil. Das ist die Geborgenheit, in der die Väter sangen: „Es kann mir nichts geschehen, als was Gott hat ersehen und was mir selig ist.“466 Das ist die Geborgenheit, der Paul Gerhardt Ausdruck verleiht in dem Vers: „Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen, wollt ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben.”467 ǀ Das ist die Geborgenheit, in der Luther sein gewaltiges Lied singen konnte: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin, sie habens kein’n Gewinn; das Reich muß uns doch bleiben!“468 Wie oft mögen wir solche Worte gesungen haben, vielleicht nur noch im Schlepptau einer alten Tradition. Heute wissen wir wieder, was hier jedes Wort bedeutet; und dennoch, es gibt die Geborgenheit, aus der heraus ein

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Paul Fleming, In allen meinen Taten (EG 368,3). Warum sollt ich mich denn grämen (EG 370,7). 468 Ein feste Burg ist unser Gott (EG 362,4). 467

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Menschenherz so singen kann. Das ist die Geborgenheit, in der jener Arzt469 seine Weihnachtsmadonna im Bunker und Kessel von Stalingrad geschaffen und nach Hause geschrieben hat: „Der Blick ist nur noch nach oben frei und offen.“ Das ist die Geborgenheit, in der jener Bischof seinen Henkern, vor deren Gewehren er stand, vor dem Sterben zurief: „Lebt wohl, Ihr Toten, ich gehe zu den Lebendigen!“470 Das ist die Geborgenheit, in der unser Herr Jesus Christus lebte und starb und in der auch wir in seiner Gefolgschaft samt unsern Vätern leben und sterben dürfen. In dieser Gewißheit gehen wir, könnten wir jedenfalls gehen, nachdem wir noch einmal vorm Weiterziehen Hände und Herzen inbrünstig auf Gott hin ausgerichtet haben, getrost und fest in das dunkel vor uns liegende Jahr hinein. Wir umfassen die ganze Weite unserer Menschenwege durch die Welt, und wir gedenken zugleich der Unseren in der Heimat, unserer Kameraden und Brüder an den Fronten und in den fernsten Ländern und auf fernen Meeren, aber wir wissen, um es mit Goethes schönem Vers zu sagen: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände.“471 ǀ Und in dieser Gewißheit der weltumspannenden Vaterliebe Gottes dürften wir dann auch für unser Leben ganz schlicht bitten: „Hilf du uns durch die Zeiten und mache fest das Herz!“472 Ja, hilf du uns, du Gott der unerschütterlichen Vaterliebe, hilf du uns durch die Zeiten und mache fest das Herz! Amen

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Pötzschs Freund Dr. Kurt Reuber. Eine wohl aus der russischen Revolution überlieferte Szene. 471 West-östlicher Divan, Buch des Sängers, Talismane. 472 Eleonore Fürstin von Reuß, Das Jahr geht still zu Ende (EG 63,6). 470

Vorträge Zur Auseinandersetzung mit H. St. Chamberlain Houston Stewart Stewart Chamberlains Chamberlains (1855-1927) (1855-1927) Person, Werk und Wirkung Houston sind heute, aus aus gewichtigen gewichtigen Gründen, Gründen, negativ negativ besetzt. besetzt. Deswegen Deswegen ist ist es es bebesindheute, sonders interessant, wie Pötzsch ihn darstellt. Sein Referat ist veranlasst veranlasst durch aktuelle Diskussionen in Offizierskreisen und wurde wahrscheinlich bei Tagungen der Militärpfarrer gehalten, an denen neben neben den den MarinepfarMarinepfarrern überwiegend Heerespfarrer teilnahmen.473 Es widmet sich einem Denker, der seit der Jahrhundertwende eine große Leserschaft aus dem dem völvölkisch-konservativen Bürgertum erreichte und zur Zeit des NationalsoziaNationalsozialismus viel besprochen wurde. Die NS-Presse und Hitlers Chefideologe Rosenberg hatten ihn als Rassetheoretiker, Antisemiten und völkischen völkischen Propagandisten eines starken Deutschland dargestellt und für sich reklaUrteilsmiert.474 Pötzsch liefert nun seinen Pfarrkollegen einen Beitrag zur Urteilsbildung und Besinnung. Er würdigt Chamberlain, indem er sich auf das das konzentriert, was von von der der NS-Presse NS-Presse und undideologischen ideologischenSchriften Schriftenausgekausgeklammert bzw. als als widerständiges widerständiges Element Element konsequent konsequent ignoriert ignoriert wurde: lammert bzw. Chamberlains Verhältnis zum Christentum und zu Jesus Christus. Pötzsch Pötzsch referiert referiert verständnisvoll verständnisvoll seine seine Ansichten über Religion. Die rassistischen und antisemitischen Ausfälle Chamberlains behandelt er milde, milde, übt vorsichtig Kritik am „Rassenfanatismus“ der Nazis und den sog. „Gottgläubigen“. Er lässt nicht im Unklaren, dass Chamberlain Chamberlain die die Germanen Germanen als als kulturschöpferische Rasse betrachtet, die für die Aufrechterhaltung christlichristlicher Kultur gegenüber den Einflüssen des Judentums verantwortlich sei. Und er zeigt sich überzeugt, dass dieser Mann ein Christ sei und Wichtiges Wichtiges zur Erneuerung des Christentums und der Kirche beizutragen habe. Ein zweiter Vortrag führt aus, was Chamberlain sich unter einem aus aus germanigermanischem Wesen erneuerten Christentum vorstellt. Es wäre, meint Pötzsch, im im 473

Vgl. Wendland, 168. Vgl. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 31941, 81ff, wo Chamberlains Beitrag zur Geschichtsbetrachtung darin gesehen wird, dass er alle schöpferischen Werte des Abendlandes den Germanen zugeschrieben und den Begriff des „Völkerchaos“ geprägt habe, gegen das die Träger nordischen Blutes um ein neues Menschentum kämpfen müssten. 474

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deutschen Volk sehr viel erreicht, wenn es sich auf Chamberlains Wegen zu Christus führen ließe. Da dieser Text dem ersten wenig Neues hinzufügt, wird er hier nicht wiedergegeben. Beim Lesen fragt man sich: Was veranlasste einen evangelischen Pfarrer jener Zeit, der kein Nazi, auch kein DC-Mitglied war, so nachsichtig zu sein mit einem Autor, der heftige Polemik gegen das Judentum übte? Wie ist das möglich, nach den Nürnberger Rassegesetzen, nach der Reichspogromnacht? Beachtet man den Kontext der Vorträge, erscheint folgende Erklärung plausibel: Die völkisch-nationalen Ideen des Wahldeutschen Chamberlain, an die der Nationalsozialismus anknüpfte, müssen Pötzsch beeindruckt haben. Andererseits hielt er, wie wir gesehen haben, das Christentum für ein Fundament des Volkslebens, das es gegen Angriffe zu verteidigen galt. Christen wurden diffamiert, sie „seien eben keine rechten ‚Deutschen‘.“475 Mit seinem Referat trat er als Verteidiger des Christentums auf und nahm Chamberlain dafür als unverdächtigen Kronzeugen in Anspruch. Vor Zuhörern, unter denen sicher politisch ‚linientreue‘ Kollegen saßen, wollte er sich keine Blöße geben. In Holland müssen ihm dann mehr und mehr die Augen aufgegangen sein, wozu die NS-Besatzungsmacht fähig war. Dass die biologistische NSRassenpolitik darauf abzielte, den Menschen auf Naturqualität und sozialen Gebrauchswert zu reduzieren,476 war ihm in seiner äußersten Konsequenz – der Ausrottung aller unheilbar Kranken, Behinderten und rassisch ‚Minderwertigen‘ – noch nicht sichtbar geworden. Von Deportationen und Vernichtungslagern konnte Pötzsch 1940 noch nichts wissen, der Völkermord des Holocaust lag für ihn außerhalb des Vorstellbaren. Für uns, die wir die Wirkungsgeschichte der von Chamberlain vertretenen Rasseideologie kennen, ist es unmöglich, nur das in ihm zu sehen, was Pötzsch sah. Wir sehen in ihm einen Wegbereiter Hitlers, 477 der das konservative deutsche Bürgertum verführte, den Nazis zur Macht zu verhelfen, 475

Vgl. Wendland, 161. Vgl. Kurt Nowak, Sozialarbeit und Menschenwürde, in: Theodor Strohm / Jörg Thierfelder (Hrsg.), Diakonie im „Dritten Reich“, Heidelberg 1990, 218. 477 So Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart-Weimar 2015, der freilich auch bemerkt, dass es bei Chamberlain „auch widerständige Überzeugungen [gab], die sich mit der NS-Ideologie kaum in Übereinstimmung bringen ließen, sogar in offenem Widerspruch zu ihr standen – wie seine zutiefst christliche Religiosität, die er selbst als das entscheidende Fundament seiner Weltanschauung betrachtete und über die sich Hitler mehrfach abfällig und ablehnend geäußert hat“ (Vorwort, 2). Zu Religion und Christentum vgl. ebd. 146ff, 453-498. Der Historiker Herfried Münkler erkennt in Chamberlain „das vielleicht wichtigste Brückenglied für nationalkonservativ eingestellte Bildungsbürger zum Nationalsozialismus“ (Verführer der Deutschen, in: DIE ZEIT Nr. 38/2015). 476

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und es in einer selbstgefällig-distanzierten Haltung gegenüber den Kirchen bestärkte. Wie Pötzsch hoffen konnte, das entchristlichte deutsche Volk lasse sich auf den Wegen von Chamberlain wieder an das Christentum heranführen, ist für uns heute nicht nachvollziehbar.478 Sein Verdienst war es jedoch, diejenige Seite von Chamberlains Person und Werk herauszustellen, die nicht in das Bild passte, das die NS-Ideologie von ihm verbreitete. Houston Stewart Chamberlain (1940)

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Vorangestellte Frage nach Veranlassung u. Rechtfertigung. Genügen würde allein die Tatsache, daß H St Ch heute einer der meistgenannten Denker der jüngeren Vergangenheit ist: Jahr für Jahr gedenkt die deutsche Presse – insonderheit am 1. Todestage 9.1. [1927 +] des bedeut. Mannes „als eines gr. Sehers u. Künders der nat. soz. [= nationalsozialistischen] Weltanschauung“ (Völk. Beob. 1939). 9.1.1940 gro. Aufsatz im V.B. von Prof. Dr. Walter Groß, dem Leiter des rassepol. Amtes der NSDAP: Für H. St. Ch. „der universalste Geist um 1900“ = Ausspruch von Rosenberg. Von Rosenbg. auch der Ausdruck, daß Ch. „einer der grö. und treusten geist. Führer der Dsch. [= Deutschen]“ sei. In s. „Mythus [des] 20.o [= Jahrhunderts]“ spricht R. von dem „verehrungswürdigen Ch.“ (S. 430). Hitler nennt ihn in s. [Buch] „[Mein] Kampf“ im posit. [= positiven] Sinne. Prof. Groß: „Wer wirklich teilhaben will am Aufbau einer dsch. [= deutschen] Kultur, für den ist auch heute noch das Lebenswerk Ch’s eine notwendige u. unendlich beglückende Schule der Selbstbesinnung u. der Ehrfurcht vor den geist. Werken unsrer Kultur.“ Aus persönl. Erfahrg.: daß schon 2x, Winter 1939 u. 40, im Offz. [= Offiziers-] Korps Cux. 1 Vortrag üb. Ch. gehalten worden ist. Das alles könnte Rechtfertigung genug sein, sich mit diesem Mann zu beschäftigen; denn zweifellos hat man es bei ihm mit einer überragenden geist. Erscheinung zu tun. Aber damit [ist] doch noch nicht hinreichend begründet, daß wir uns hier auf [einer] theol. Kon478 478 Nach völkischem völkischem Verständnis Verständnis ließ ließ sich sich das das Konzept Konzept einer einer ‚artgemäßen‘ ‚artgemäßen‘ deutschen Nach Religion nicht mit dem traditionellen Christentum verwirklichen. Dieses musste musste entweentweder germanisiert oder abgelehnt werden Das kann ebensowenig Pötzschs Pötzschs Absicht Absicht gewegewesen sein wie eine deutsch-christliche Umdeutung Jesu zum heroischen Arier, der das Leiden mit mannhaftem Vertrauen überwand. Vgl. Uwe Puschner, Weltanschauung Weltanschauung und und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion, in: in: zeitenblicke 5 (2006), Nr.1, 1-27, hier: 12, 20-22 (in: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/ 5 (2006), Nr.1, 1-27, hier: 12, 20-22 (in: Puschner [eingesehen am 29.9.2018]). http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Puschner [eingesehen am 29.9.2018]). 479 479 Das folgende, folgende, 15 15 Seiten Seiten umfassende umfassende Referat Referat wurde wurde gehalten gehalten auf auf der der Theologischen Theologischen Das Konferenz zu Cuxhaven am 31.1.1940, das zweite (hier nicht abgedruckte) Referat Referat am am 6.3.1940 und 10.3.1940. Pötzschs handschriftlicher Text wird in der originalen Form wiedergegeben. Die von ihm verwendeten Abkürzungen werden, soweit nötig, aufgeschlüsselt.

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ferenz mit ihm befassen. Was mich veranlaßt, hier über H. St. Ch. zu sprechen, ist die Tatsache, daß dieser Denker sich überraschend eingehend, umfangreich, wahrhaft u. tief mit Xtum [= Christentum], X [= Christus], xl. [= christlicher] Kirche, xl. Theologie beschäftigt u. auseinandersetzt, ja, so eingehend, daß ihm nicht leicht ein anderer „Laie“ (wie wir den Nichttheologen, den „X [= Christen] ohne Predigtamt“ [Stapel] zu nennen pflegen[ )], an die Seite gestellt werden kann. Das also ist die Tatsache, die die Beschäftg. mit Ch. in diesem Kreise rechtfertigt. Dazu kommt: daß die eben erwähnte Tatsache, also H. St. Ch’s eingehende, fortgesetzte u. ǀ 1 ǀ unaufhörliche Beschäftigung mit dem Xtum u. s. trotz aller Kritik zuletzt doch positive Einstellg. zum Xtum im polit. Schrifttum u. Vortrag, in Pressewürdigung u. polit. Unterricht restlos verschwiegen wird u. unter den Tisch fällt. Der Verdacht ist zwingend, daß hier aus abweichenden Stellungnahmen heraus das Christliche bei Ch. den „vergängl. u. überholten Einzelbehauptungen“ (Groß) zugerechnet wird, die für uns heute nicht mehr verbindlich sind. Hier liegt nun das Problem, um dss. [= dessen] Lösung wir uns zu bemühen haben: Wie steht Ch. zum Xtum? Welche Bedeutg. hat es in s. Leben u. Denken? Anerkennt er im Xtum Werte für unser Volk, s. Geschichte u. s. Zukunft? Wir haben damit aus dem Gesamtthema „H. St. Ch.“ ein Teilstück herausgenommen: „H. St. Ch. u. das Xtum.“ Anmerkend sei gesagt, daß der Schaffensumfang Ch.‘s ohnehin in einem kurzen Referat nicht zu bewältigen ist; denn Ch. hat (umfassender Geist!) eine erstaunl. Zahl umfangreicher Werke veröffentlicht: über Kant, Goethe, Richard Wagner. Politisches: Politische Ideale, Kriegsaufsätze; das 2bändige Werk „Grundlagen des 19. o [= Jahrhunderts]“; sehr umfangreichen Briefwechsel (allein mit Cosima Wagner ein starker (?) Band!) [KW II = Kaiser Wilhelm II.]. Dazu die rel. Schriften: Mensch u. Gott u. Worte Xi [= Christi] mit einer Apologie: nicht nur die ausgesprochen xrel. xl. [= christlich-religiösen, christlichen] Schriften lassen sich in Kürze kaum bewältigen. (Man könnte eine ganze Anzahl Einzelreferate herausarbeiten z.B. H. St. Chs Stellg. [= Stellung] zu J.X. [= Jesus Christus], zu Paulus, zur xl. Sündenidee. Übrigens würde keine solche Ab. [= Arbeit] den Bearbeiter unbefruchtet lassen; denn immer wirkt dsr. [= dieser] selbständige u. eigenwillige Denker, im Zus. [= Zusammen] klang oder im Widerspruch, anregend. [ ) ] Ich benutze im Folgenden eine 1939 erschienene Schrift des Lpzg. [= Leipziger] Theol. professors Hermann Wolfgang Beyer „H. St. Ch. u. die innere Erneuerung des Xtums“, die wohl das Beste ist, das bisher zu dsm. [= diesem] Thema veröffentlicht worden ist. 480 Daneben benutze ich H. St. 480

Damit hat Pötzsch seinen Pfarrkollegen gegenüber die folgenden Ausführungen durch eine wissenschaftliche Autorität legitimiert. Er erwähnt nicht, dass Beyer in seinem

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Ch.[s] Schriften selbst, so weit sie mir zur Verfügung standen u. so weit ich sie bei einer kurzen Vorbereitungszeit u. starken Beanspruchung verarbeiten konnte. ǀ 2 ǀ I Der Mann u. s. Lebensweg Eigenartig der Mensch, eigenartig s. Lebensweg, eigenständig s. Denken, eigenwillig s. Lebensbewegung. Am 9.9.1855 in Portsmouth als Sohn eines engl. Marineoffz. geboren, verliert er bald nach s. Geburt die geistvolle kluge Mutter u. wächst im Hause s. Großmutter, die, obgl. Engländerin von Geburt, in Frankreich lebt, in Versailles auf. Von s. Ahnen her hat er normann. [= normannisches] u. kelt. [= keltisches], schott. [= schottisches] u. skandinav.-dsch. Blut in s. Adern. Nun als Kind lernt er franz. Sprache u. Wesen, kommt 11jhg. [= jährig] nach dem Tode der Gr. mutter für kurze Zt. nach Engl. zurück, fühlt sich dort fremd, ist kränklich, verträgt auch das engl. Klima nicht, kommt nach Dschl. u. erlebt als 14j. den Ausbruch des dsch. französ. Krieges in Bad Ems (zufäll. Augenzeuge der berühmten Unterredg. [= Unterredung] zw. Kö. Wilh. u. Benedetti). 481 Ch. nimmt mit begeisterten Zügen ds. Stück dsch. Geschichte u. dann weiter dsch. Wesen, dsch. Sprache, Philos., Musik u. Dichg. [= Dichtung] in sich auf. Dschl. wird ihm Wahlheimat, dem beinahe Wurzellosen echte, wirkl. Heimat. 20 Jahre lebt er so in Wien, mit pflanzenphysiolog., also naturwissenschftl., u. biol. Arbeiten beschäftigt. Der Rassegedanke der Naturwissenschaft wird von Ch. zum ersten Mal auf die Geschichte angewandt u. führt damit eine ganz neue Geschichtsschau herauf. Der d[eut]schen Art, Buch gleich zu Beginn Chamberlain zum Propheten Adolf Hitlers stilisiert hat: „Dieser Mann (d.h. Ch., MH) hat die Sicherheit seines in Vergangenheit und Zukunft schauenden Blicks (...) bewiesen. Als Deutschland in tiefster Not war, hat er an seine Wiedergeburt geglaubt. Als unser Volk vor Jahrzehnten anfing, Demokratie und Parlamentarismus für Ideale zu halten, hat er verkündet, daß Deutsche nur in einem Führerstaat wirklich Großes zu leisten vermöchten. Bereits vor dem Weltkrieg hat er die Entfernung des Judentums aus dem staatlichen und geistigen Leben Deutschlands gefordert und für möglich gehalten. 1923 hat er mit sicherem Gefühl in dem ihn aufsuchenden Adolf Hitler den Führer erkannt (...) Dieser Mann war Houston Stewart Chamberlain“ (Houston Stewart Chamberlain und die innere Erneuerung des Christentums, Berlin 1939, 4). Dass Pötzsch einer solchen Lobeshymne zustimmte, ist nicht anzunehmen. Sie war aber dazu geeignet, jeden Zweifel an der politischen Unbedenklichkeit seiner Darlegungen zu entkräften. 481 Pötzsch meint die Unterredung zwischen König Wilhelm I. von Preußen und dem französischen Botschafter Graf Benedetti am 13. Juli 1870. Dieser forderte von Wilhelm I. die Garantie, auf die Kandidatur eines Hohenzollern für den spanischen Thron auf alle Zeiten zu verzichten, was der König höflich ablehnte. Die telegrafische Unterrichtung des Kanzlers von Bismarck in Berlin und dessen Veröffentlichung in einer für die Franzosen provozierenden Kurzfassung (sog. „Emser Depesche“) führte zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870/71.

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dem dsch. Wesen sieht er dabei bes. Werte anvertraut u. bes. Aufg. [= Aufgaben] gestellt: er ist überzeugt von der dsch. Sendg. für die Welt. Er selbst bekennt, daß ihn 3 D[eut]sche zum D[eut]schen gem. h[a]b[e]n: Wagner, Kant, Goethe. Die d[eut]sche Sendg. ist aber abhängig von einer dsch. Besinnung u. Wendg. [= Wendung], Revolution oder „Neugeburt“ von innen heraus. Wo soll das beginnen? Ch. denkt an Bayreuth, wo er s. geistg. Heimat u. nach der Trennung von s. 1. Frau Anna geb. Horst nach 28j. Ehe u. durch die Heirat mit Eva Wagner, der Tochter Richard W’s auch die äuß. [= äußere] Heimat gefunden h[a]t (9.1.1927 †). Er hofft die dsch. Erneuerung von KW II [= Kaiser Wilhelm II.] Briefwechsel!! hofft sie vom Weltkrieg; 1918 grausam enttäuscht, ohne aber den Gl. [= Glauben] an Dschl. zu verlieren. Hofft sie von Ad. Hitler, der 1923 den schwer gelähmten 68jhg. besucht. Zitat S. 12. Ch. schrieb damals, nach dem Besuch Ad. Hitlers bei Ch. in Bayreuth: ǀ 3 ǀ „Mein Gl. an das D[eut]schtum h[a]t nicht einen Augenblick gewankt, jedoch hatte m. Hoffen – ich gestehe es – eine tiefe Ebbe erreicht. Sie h[a]b[e]n den Zustand m. Seele mit einem Schlage umgewandelt. Daß D[eut]schland in der St[un]de seiner höchsten Not sich einen Hitler gebiert, das bezeugt sein Lebendigsein; desgl. [= desgleichen] die Wirkungen, die von ihm ausgehen; denn d[ie]se 2 Dinge, die Persönlichk[ei]t u. ihre Wirkung, gehören zusammen.“ ǀ 3a ǀ II Rasse als Geschichtsmacht Man könnte H. St. Ch., wie es viell. auch schon geschehen ist, mit den Profeten Israels vergleichen u. ihn einen Profeten der Dsch. nennen u. zwar durchaus in dem rechten, relig. Sinn ds. Wortes. Das wird allerdings erst nach einer Gesamteinsicht in das Denken u. Wirken Ch’s mögl. sein. Zunächst scheint das Wort Profet nur bildl. gleichnishafte Bedeutg. zu h[a]b[e]n. Gerade unter dem Gesichtspunkt des Rassischen scheint das so zu sein u. Ch. lediglich zum polit. Prof. der D[eut]sch[e]n zu werden. Worum geht es hier? Ch. gewinnt die Überzeugung von der dsch. Sendung, zu deren Erfüllg. [= Erfüllung] eine rein unermüdliche Ruhe in unsrem Volke gewesen ist, aus einer eigentüml. Geschichtsschau. Er h[a]t sie niedergelegt in s. bedeutendsten Buch, den „Grundlagen des IX[X]. Jhrds [= Jahrhunderts]“. Dies Buch enthält nicht eine Aneinanderreihg. von Geschichtstatsachen u. Daten, sondern eine Schau, die das Ganze aller geschichtl. Wirklichk[ei]t durchdringen, verstehen u. deuten will. Welches sind nun aber die Grundwirklichk[ei]ten, die die geschichtl. Existenz bestimmen, fördern oder auch hemmen? Hier h[a]t Ch. Erkenntnisse gehabt, die s. Zt. (die Grundlagen erschienen 1899 in 1. Aufl.) weit vorauseilen. Die Geschichtsschau Ch.[s], der z[ei]tlebens geistesgeschichtl. Probleme erarbeitet h[a]t, wurzelt im Natur-

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wissenschaftl. Ch. ist, wir erwähnten es eingangs, von Haus aus Biologe, Pflanzen[-] Physiologe, h[a]t in Genf u. Wien auf ds. Gebiet gearbeitet (Arbeit über Wurzeldruck (?), Aufsteigen der Säfte in d. Pflanzen) u. h[a]t, wie Goethe, innerste Neigung zur Natur behalten, so daß er einmal sagen konnte: „In letzter Zt. h[a]be ich die Beschäftigung mit Spinnen wieder aufgenommen; mein Traum wäre, Semiten u. Arier u. Römlinge u. Protestanten u. Bülowianer u. Bebelisten (?) ganz zu vergessen, um stille Tage in Betracht[un]g der ewigen Natur zuzubringen.“ Als Naturwissensch[a]ftl[er] erkennt Ch. die naturhafte Bestimmth[ei]t des Menschen als entscheidend auch für s. geist. Eigenart; er erkennt die Rasse als die Urkraft allen geschichtl. Handelns. ǀ 4 ǀ Von s. Vorläufern in dr. [= dieser] Erkenntnis unterscheidet er sich aber dadurch, daß er nun gerade nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet, also nicht mit dem Rassegedanken dem Rassenmaterialismus verfällt. Hier unterscheidet er sich aber auch von so manchem Rassendenken der Geg[en]wart, die sich zwar auf Ch. beruft, aber, päpstlicher als der Papst, einen Absolutismus des Blutes, des reinen Blutes u. des nord. Blutes aufrichtet. Ch. sagt z.B.[,] daß die gewaltige Schöpferkraft, die das Europa der letzt. 1000 J[a]hre entfaltet h[a]t, auf der Mischung (!) kelt., german. u. slaw. [= slawischen] Blutes beruhe; daß die ganz reine Rasse von der Gefahr der Zukunft bedroht sei; daß rass. Reinheit als solche noch nicht die Begabung eines gn. [= genialen?] Menschen ausmache. Den Rassenfanatismus, der das reine nord. Blut absolut setzt, finden wir bei Ch. nicht. In dem Eindringen des jüd. Blutes, das in sich wieder ein Blutgemisch u. zwar ein dem unsern wesensfremdes (es gibt wesensnahe u. wesensfremde Blutverbindungen) ist, sieht Ch. allerdings den Krebsschaden u. gro. Gefahr für das, was wir heute „d[eut]sch[e]s u. artverwandtes Blut“ nennen. Die Forderung der Besinnung auf die „arische Weltanschauung“, der Hinkehr zum Arischen [Ch. sagt: „Nicht darauf kommt es an, ob wir Arier sind, sondern darauf, daß wir Arier werden!“] wird nach Ch. erfüllt: 1) durch Reinhalt[un]g unsres Blutes u. Denkens von fremdrassigen Mächten, die uns heute bedrängen[,] 2) dadurch, daß wir uns kraft ds. Willens zur Reinheit der anderen Macht entschließen (?), die neben der Rasse das Menschentum gestaltet, das ist die Idee. Hier wird deutlich, daß der Naturwissenschaftler Ch. nicht dem Rassenmaterialismus u. Rassenmechanismus verfallen ist. Er weiß: „Rassisches Sein ist natürliches Leben.“ Aber er weiß auch, daß das natürl. L[e]b[e]n s. Tiefe u. s. Prägung erhält im Ringen um jene andere Wirklichk[ei]t, die wir Geist, Idee, Ideal nennen. Von ds. Voraussetzungen, dm. [= diesem] Ansatz aus schaut Ch. nun die Geschichte des Menschen, der nicht Mensch an sich, sondern der rassisch bestimmte Mensch ist, an. ǀ 5 ǀ

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III Geschichtl. Grundlegung Ch. sieht die abendländ. Entwicklung auf einer 3fach. Grundlage, auf den 3 geschichtl. u. geschichtsmächtigen Erscheinungen des Griechentums, des Römertums u. (nun nicht des Xtums, sondern) des Jesus X [= Christus] beruhen. I bei den Griechen ist es die Sehnsucht nach Schönh[ei]t, ihr Künstlertum, das lebenerzeugend, befruchtend, bestimmend[,] weil unüberboten u. unüberbietbar, auf Europa eingewirkt h[a]t. [HinzugefügteNotiz: Gehe nicht weiter darauf ein.] II die gr. schöpferische u. der hellen. Kunst adäquate Leist[un]g der Römer ist ihr einzigartiges Rechts- u. Staatsdenken, von dem alle Völker Europas, auch das d[eut]sche, lernen müßten. III die 3. gr. Erscheinung, die sich für die abendländ. Entwicklg. als geschichtsmächtig, auch das d[eut]sche geistige Sein formend erwiesen h[a]t, ist die Gestalt J. X., den Ch. feierlich die „unvergleichlichste Erscheinung aller Z[ei]ten“ nennt. Zitat: „Die Geburt J. Xi ist das wichtigste Datum der gesamten Geschichte der Menschh[ei]t (!) [.] Keine Schlacht, kein Reg. [= Regierungs] antritt, kein Naturphänomen, keine Entscheidg. besitzt eine Bedeutg., welche mit dem kurzen Erdenl[e]b[e]n des Galiläers verglichen werden könnte; eine fast 2000jhr. Geschichte beweist es, u. noch immer h[a]b[e]n wir kaum die Schwelle des Xtums betreten.“ Schon ds. Worte u. die Art, wie Ch. von ds. JX. spricht, lassen erkennen, daß Ch. hier nicht nur eine sachl., nüchterne Feststellg. – viell. sogar wider Willen – macht, sondern daß er sich (feierlich u. leidenschaftl.) zu dsm. J.X. bekennt, dss. weltgeschichtlicher Bedeutg. keine polit. Revolution gleichkommen kann. Im Blick auf die 3fache Grundlage der abendländ. u. dsch. Entwicklg. sagt Ch.: „In Kunst u. Philosophie [das die Leistg. der Griechen!] wird sich der Mensch als intellektuelles Wesen, in der Ehe u. im Recht [Römer!] als gesellschaftliches Wesen, in X als sittl. [= sittliches] Wesen seiner selbst im Geg[en]satz zur Natur bewußt.“ Hochbedeutsam: auch für den Denker Ch. selbst, in X wird sich der Mensch, also der naturbestimmte, rassebestimmte Mensch seiner selbst als sittl. ǀ 6 ǀ d.h. also als selbständiges, freies Wesen im Geg[en]satz zur Natur bewußt! Wenn Ch. 2 so grundlegende u. grundverschiedenen Aussagen macht wie die von der Todfeindsch[a]ft zw. Germanentum u. Judentum u. von der unvergleichlichen positiven Bedeutung J Xi.[,] entsteht die Frage, wie Ch. selbst mit dem rass. Problem „J. von Nazareth“ fertig geworden ist. Ch. h[a]t hier sehr eingehend nachgedacht u. geforscht. Ergebnis: 1) „Niemand kann mit voller Gewißh[ei]t sagen, was für ird. [= irdische] Blutströme in dsm. Mann aus Galiläa vorhanden waren, wo das Judentum selbst schon

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rassisch ganz uneinheitl. zus[ammen]gesetzt, aber im besonderen Galiläa die Stätte mannigfach verschiedenster Einflüsse war.[“] [Richtig!] Ch. wagt als einer der ersten den Satz, es spräche vieles dafür, daß J. rassisch kein reiner Jude war. „Auf die Frage nach der Rassenangehörigk[ei]t der Familien Josephs u. der Maria will ich hier nicht eingehen [in Mensch u. Gott, S. 90][,] 1) weil sie unlösbar ist, 2) weil wir gut daran tun, das Geheimnis der Geburt unseres Heilands zu verehren.“ 2) Es kommt ihm entscheidend gar nicht darauf an, wie man ds. Frage beantwortet. Wichtig ist für Ch. die Tatsache, daß innerhalb der israel. jüd. Geschichte ein Mann erstanden ist, der nicht die von den Vertretern der jüd. Relig. anerkannte Vollendg. dr. Religion, sondern ihre Verneinung war, als solche empfunden u. als Verneiner konsequent abgelehnt, ausgestoßen u. verworfen wurde. Man wird die umfangreichen Erörterungen Ch’s über Jesus X u. das Judentum, über den Messiasbegriff mit dem Urteil abschließen dürfen, daß Ch. den Geg[en]satz zw. Jesus u. denen, die ihn ablehnen u. verwerfen, zu ausschließlich u. einseitig unter dem Gesichtswinkel Jesus u. die Juden, J.X.: Judentum sieht. Ch. übersieht, daß die Gefahren der jüd. Rel. u. Frömmigkeit auch andere Völker u. Rel., also auch uns bedrohen, u. daß J. die Schäden nicht nur in s. Volke, sondern damit überall, also auch bei uns, bekämpfte. Seine Hochschätzg. J. Xi. wird aber davon nicht berührt. Zitat S. 24: ǀ 7 ǀ „J. von Nazareth steht außerhalb aller Z[ei]tschranken; nichts an ihm veraltet; er ist immer von heute: dadurch erweist sich s. Wesen als ein übermenschliches u. außerweltliches.“482 ǀ 7a ǀ IV Religion Ich lasse hier beiseite die komplizierten Fragen nach dem philos. Ort, von dem das Denken Ch’s über Gott u. Relig. s. Ausgang nimmt. Ch. ist hier ein Mensch des 19. o mit s. Grenzen; die Wurzeln s. Denkens liegen bei Kant, im Frühidealismus u. im Naturwissensch[a]ftsdenken des 19. o. Wichtig wird uns Ch. an der Stelle, wo er, damit über Kant hinausgehend, an der Grenze des menschl. Denkens, an der Grenze der menschl. Gotteserkenntnis nicht mit Kant praktische Postulate ersinnt, um dem gewohnten Gottesbegriff irgendwie zur Wirklichk[ei]t zu verhelfen, den Satz ausspricht: „Gott ist der unfaßbarste, leerste Begriff, den es gibt.“ 483 Nämlich der Begriff Gott, wenn er allein vom Menschen aus gedacht wird. Mit ds. Satz hebt Ch. die ganze sog. „Gottgläubigkeit“ unserer Zt. aus dem Sattel. Was sie alle nicht wahrhaben wollen, daß sie mit all ihrer „Gottgläubigkeit“ vergeblich nach einem Schatten haschen, das h[a]t Ch. erkannt u. 482

Mensch und Gott, Kap. 6, Abschnitt V. Brief an den Verleger Lehmann, München, vom 12.2.1904, in: Briefe 1882-1924, Bd. 1, München 1928, 113. 483

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h[a]t die Konsequenzen daraus gezogen (oder ist die denkmächtige Erkenntnis dem Ergriffenwerden nachgefolgt?): Er schaut, wo es ganz in der Tiefe um Gott geht, auf die menschl. Gestalt J. X. u. begegnet hier dem unbegreiflichen, unfaßbaren Gott. Beyer: „Mit frischer Bewußth[ei]t, auf dem Grund einer eingehenden philos. Besinnung, tut hier also ein Mann, der alle Bildung unserer Zt. in sich trägt, was einst die alten Xen [= Christen] ganz unbefangen u. unbeschwert taten: er erkennt in dem Menschen Jesus den, in dem er Gott u. sich selbst in ihrem wirklichen Sein schaut.“ Darum kann Ch. bekennen: „Ich weiß, daß die Sonne am Himmel steht; fester u. gewisser u. inhaltreicher ist aber m. Gl. [= Glaube] an Jesum Xtum als m. Heiland.“ Ds. J. X. kennt Ch. aus den Evg. [= Evangelien], mit deren Entsteh[un]g[s]gesch[ichte], Kanongeschichte, T[e]xtgeschichte er sich ausführlich beschäftigt h[a]t („Mensch u. Gott“, u. „Apologie“ vor s. „Worte Xi“). Er liebt die Evg. (Zitat S. 31 unten) u. veranstaltet eine Ausgabe der Worte Xi, um s. Z[ei]tgenossen einen ganz neuen Zugang zu der einzigartigen Erscheinung J. Xi zu vermitteln. ǀ 8 ǀ Zitat: „Jhrhdte [= Jahrhunderte] lang ist alles Denkbare geschehen, um d[a]s Buch als Buch zu entfärben, zu fälschen, zu verderben. Und nichtsdestoweniger h[a]t es wie kein zweites gewirkt u. wirkt es noch heute auf jedes reine Gemüt. Das kommt daher, weil d[ie]ses Buch mehr als ein Buch ist; weil d[ie]ses „Mehr“ solche unvergleichliche Gewalt in sich birgt, daß die Willkür kurzsichtiger Menschen nur die Oberfläche aufritzen u. verunstalten konnte, unfähig aber blieb, dem Grundstock etwas anzuhaben.“484 ǀ 8a ǀ Was bedeutet ihm J. X.? Oder: Warum bedeutet im J. X. so viel? Ch. nennt ihn den Heiland. Die tiefste Aussage über J. X. aber will er machen mit dem Begriff des Mittlers, der Ch. schon aus dem arischen Denken geläufig ist. J. X. ist der Mittler zw. Gott u. Mensch, „die Offb. [= Offenbarung] Gottes auf Erden.“ Zitat S. 31: „Wir h[a]b[e]n die Menschen gesehen, wie sie voll Sehnsucht die Arme nach einem Mittler ausstreckten u. dsn aus ihrer Phantasie zu gestalten suchten; sie kamen nie ans Ziel, Phantasiebild blieb Phantasiebild; nie gelangten sie zum Glauben. Nun aber war der Mittler erschienen! Vor seinem bloßen Antlitz blieben alle guten Menschen erschüttert stehen[.] Sein Auge drang bis in die letzten Tiefen ihrer Seele, dort Kräfte weckend oder spendend – wer könnte das entscheiden? – , von denen sie bisher nichts geahnt; u. als dann sich sein Mund zu Worten öffnete, dergleichen nie gehört worden waren, glaubten sie Gott reden zu hören. Es genügte ein „Steh auf u. folge mir nach“ – u. die Welt mit ihren

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Lebenswege meines Denkens, München 1919, 295.

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Sorgen u. Hoffnungen, mit ihren Leiden u. Freuden war vergessen.“ 485 Mit dem Mittler, der die Aufg. h[a]t, der Menschen Augen zu entschleiern, damit sie die Wirklichk[ei]t Gottes sehen, war der Wendepunkt aller Religion herbeigeführt. Die Botschaft J. Xi besteht nach Ch. aus den 2 reinen Gottesgedanken: 1) Gott ist unser Vater[,] 2) Gottes Reich ist gegenwärtig, was er – im Anschluß an die lutherische Übersetz[un]g der umstrittenen Stelle (Lk. 17,21) – mit „inwendig in sich“ deutet. Die Vertreter der reinen Innerlichk[ei]t u. Gottesimmanenz, des „Gottes in der eigenen Brust“ 486 finden aber in Ch. insofern keine Stütze[,] als Ch. eben nicht wie sie überlegen auf J. X. verzichtet, sondern den Mittler braucht u. in Anspruch nimmt. Im Mittler erkennt er Gott, Gott ist in X, ja Ch. kann sagen: Gott ist Christus. Es fällt schwer, an ds. Stelle auf die Fülle erstaunlicher Worte Ch’s über J. X. zu verzichten. „Das Mittlertum J. Xi zw. Mensch u. Gott, (u.) dies blieb u. bleibt der relig. Angelpunkt j[e]d[e]s wahren Xtums.“ ǀ 9 ǀ V Das Xtum in der Geschichte Kurz: Ch. sieht u. [zwar] sieht mit sehr scharfen Augen, daß das geschichtl. Xtum nicht einf[ach] die geradlinige Fortsetz[un]g der geschichtl. Person J. X. ist, sondern daß hier erhebl. Spannungen bestehen (u. s. [= siehe] Zitat S. 36 Mitte). Wie h[a]t es dazu kommen können, daß zw. Grundlage u. Verwirklich[un]g des Xtums solche Spannungen entstehen konnten? Die Entsteh[un]g[s]z[ei]t des Xtums ist, w[e]g[en] des Ztntes [= Zeitpunktes] in der Erfüll[un]g der Z[ei]ten, denkbar ungünstig gewesen. Das Xtum geriet in das „Völkerchaos“, das für jene ersten Jhrhdte nach der Z[ei]tenwende kennzeichnend ist. 1) Die xl. Lehrbild[un]g wird vom Judentum her u. vom Griechentum her mit fremden Gedankengut belastet. Übrigens h[a]t Ch. ein durchaus positives Verhältnis zu Paulus (ganz anders als Lagarde u. s. heutigen Nachsprecher! [ )] Paulus, „der wunderbare Mann“, der eine unjüdisch beflügelte Seele h[a]t, nur leider „angekettet an eine jüd. Rabbinatserzieh[un]g[“] „mag stammen woher er will, sein Wirken (?) liegt uns offen 485 Mensch und Gott. Betrachtungen über Religion und Christentum, München 1921, Kap. 5, III. 486 Anspielung auf Timm Kröger, Dem unbekannten Gott. Novellen, Bd. 6, Braunschweig 1914, Nachdruck Hamburg o.J. Aus dem Bibelwort: „Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan!“ (Mt 7,7) wird das Gebot entnommen, „der Andacht an Gott nachzugehen“, und dies sei „auf den in der eigenen Brust wohnenden Gott zu beziehen“ (Nachdruck, 204). Kröger (1844-1918) war Jurist und Schriftsteller und konnte von den Nationalsozialisten als Fürsprecher der „Gottgläubigen“ in Anspruch genommen werden, die keiner anerkannten Religionsgemeinschaft angehörten.

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vor Augen, u. ds. Grundwesen u. Grundergebnis besteht darin, daß er das Xtum als neue Erscheinung aus dem Judentum losriß u. ausschied.“ Hier sagt H St. Chamberlain, der M[ei]st[e]r, wesentlich andere Dinge, als Alfred Rosenbe[r]g, der Ch. Schüler u. Verehrer. 2) Daß die kirchl. Gemeinschaftsbild[un]g, in die das Xtum einging, die röm. kath. K. [= Kirche] gewesen ist, ist eine beklagenswerte Entwickl[un]g. Ch. kennt Luther u. die reformat. Tat zu wenig, als daß er von daher zu einem gereifteren, sachlich richtigeren Urteil über die Kirche gekommen wäre; er wirft oft die luth. Kirche mit der kath. in einen Topf u. verwirft die eine mit der anderen. ǀ 10 ǀ VI Wege zur Erneuerung des Xtums Ch. hat, wie schon gesagt, von J. X. unendlich viel, vom Xtum aber sehr wenig gehalten. Aber weil er von X sehr viel hielt, konnte er vom Xtum noch sehr viel erhoffen, nämlich dann, wenn es sich u. je enger es sich an X selbst ausrichtete. Ch. konnte sagen: „Das Xtum geht noch auf Kinderfüßen, kaum dämmert seine Mannesreife unserem blöden Blick.“487 Aber eben darum bedurfte das Xtum einer tiefgehenden Erneuerung, einer Fortsetz[un]g der Reformation M. Luthers. Und Ch. begeht, eben infolge s. unwandelbaren Bind[un]g an J. X., nicht den Fehler, den ein kürzlich erschienenes Buch „Die endlose Reformation“488 begeht, indem es alle die seit Luther erfolgten Substanzverluste der xl. Kirche für fortschreitende Reformation hält – bis zuletzt vom Xtum nichts mehr übrig bleibt. Ch. geht es wirklich um das Xtum als Fortführ[un]g u. Fernwirkung des J. X. Es geht ihm ebenso leidenschaftl. um die innere Erneuerung des Xtums wie es ihm leidenschaftl. um die Erneuerung des dsch. Wesens geht, u., das darf schon hier gesagt werden, er schaut ds. doppelte Erneuerung letztlich in eines zusammen. Ch. sieht Xtum u. Germanentum in einer eigentüml. schicksalhaften Bezogenh[ei]t aufeinander. Das Xtum fand in den german. Völkern gleichs[am] s. berufensten Bekenner. Der Vorzug der Xianisierung der Germanen bedeutet etwas völlig anderes als die Durchdringung des Rassenchaos des Mittelmeerraumes vom Xtum[;] dort, im mittelmeerischen Raum untergehende, altgewordene Völker, hier, im Germanentum, junges, gesundes, kraftvolles, bildungsfähiges Volkstum. Hier konnte das Xtum nicht einf[ach] auf die Dauer in jüd., griech. u. röm. Denkformen hängen bleiben, sondern hier mußte ein eigenes Verständnis der Tatsache J. X. zu einer eigenen Gestalt des Xtums im german. Raum führen; den D[eut]sch[e]n ist hier der stärkste u. härteste Anteil an dsr. Aufg. zugewie487 488

Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 1899, Bd. 1, 190. Gemeint ist Friedrich Parpert, Die endlose Reformation, München 1939.

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sen. Hier stehen wir in der Bewegung u. Entwickl[un]g noch mitten drin. Ch. nötigt uns hier, die Frage der Ju- ǀ 11 ǀ daismen, des Dogmas u. der Romanismen im Lehrgebäude der xl. Theologie erneut durchzudenken. Eine Fülle von Problemen sehen wir durch Ch. vor uns hingestellt; Ch. müht sich um das richtige Verständnis u. die richtige Verwend[un]g der Bibel, um den Begriff des Gl. [= Glaubens], um die Gottesanschauung, um Sünde u. Gnade u. Erlösung. Ich stelle hier das eingehend nicht dar. Wir mögen hier in manchem oder vielem nicht mit ihm gehen können; wir sehen, daß es heute keine xl. Selbstverständlichk[ei]ten mehr gibt (es muß alles neu ergriffen u. mit neuen Worten gesagt werden, wenn es der Mensch der Gegenwart verstehen u. auf- u. annehmen soll [ )]. Der Ruf nach der Lebendigk[ei]t u. Wirkungsmächtigk[ei]t ist wieder ein ernst zu nehmender Ruf, den wir Xen nicht mit der Meinung abtun dürfen, daß wir ja alles besitzen u. verstehen, was wir für unsere Seligk[ei]t brauchen. Wenn wir, im Geg[en]satz zu Ch., beh[au]pten wollten, das Xtum, so wie es sich in den 2000 Jhr. s. Geschichte herausgeformt h[a]t, sei nun schlechthin richtig u. endgültig, wir würden damit dem Xtum u. dem Herrn X einen schlechten Dienst erweisen. Den einen Dienst kann uns der gr. Anreger H. St. Ch. auf j[e]d[en] Fall leisten: daß er uns zur Besinnung, zur Kritik, zur Selbstkritik u. zu neuer u. rechter Erfass[un]g des Einen J. X. nötigt. Um ihn, X, kreist sein Denken, um ihn müht er sich unablässig, in X wurzelt s. innerstes Leben. In seinem Studierzimmer h[a]tte er an der Wand über dem Schreibtisch den Heilandskopf von Leonardo da Vinci hängen u. er gesteht in einem vertrauten Briefe, daß er nicht zu schaffen u. zu streiten vermöchte „ohne den beständig nahen Anblick des Gottmenschen“. 489 In den „Grundlagen“ formuliert er: „Sein wie X war, leben wie X lebte, sterben wie X starb, das ist das Reich Gottes, das ist das ewige Leben.“ 490 Und in einem Briefe an den Kaiser legt er, als Gegengabe des Denkers an den Krieg (?) in 4 bedeutsamen Sätzen ǀ 12 ǀ s. Glaubensbekenntnis fest: 1. Ich glaube an J. X. 2. Ich gl[aube], daß in ihm alles, was uns Sterblichen von dem unerforschlichen Geheimnis des Göttlichen zugänglich ist, Gestalt gefunden h[a]t. Daß Gott ist u. was Gott ist, weiß ich durch ihn allein. 3. Aus Xi Leben u. aus seinem Tod erhoffe ich für mich u. alle, durch Gottesgnade, die Erlösung. 4. Ich erkenne keine Kultur als gleichberechtigt an, die nicht Gott in X verehrt; die Feinde Xi sind meine Feinde; ich will nicht erlauben, daß sie m. Kinder erziehen, m. Jünglinge ausbilden, m. Staat mitregieren, die xl. Kultur durchseuchen; zwar erkenne ich es als eine 489 An Kaiser Wilhelm II. vom 20.2.1902, in: Briefe 1882-1924 und Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II., Bd. 2, München 1928, 148-165. 490 Grundlagen, aaO. 201.

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Pflicht der Menschlichkeit an, sie zu dulden, ihre antixl. [= antichristlichen] Bestrebungen aber will ich mit Wort u. Tat u., wo es nottut, mit Gesetz u. Schwert bekämpfen; für X will ich mein Leben geben. + Nach allem, was wir gesehen h[a]b[e]n, ist es überh[au]pt keine Frage, sondern eine eindeutig erwiesene Tatsache, daß Ch. Christ war u. sein wollte. Es ist ferner deutlich zu erkennen, daß für Ch. der Xusglaube nicht am Rande, an der Peripherie s. Denkens, sondern in der Mitte, im Zentrum, steht; darum ist es eine unerlaubte Unterlassung, in einer Darstell[un]g oder Würdigung Ch.‘s zu verschweigen, welche Bedeutung X in s. Leben h[a]t. Wohl ist es Ch’s Überzeugung, daß das Xtum des Germanentums bedürfte u. bedarf, um zu s. vollen Entfaltung zu kommen; er spricht mit enthusiastischem Erwählungsbewußtsein vom Germanischen u. Deutschen: ǀ 13 ǀ „mit Dschl. steht alles auf dem Spiel, alles, was das Leben lebenswert macht“.491Aber in Ch. Denken ist auch das andere ebenso sichtbar: daß die german. Menschen[,] die D[eut]schen des Xtums bedurften u. bedürfen, um zur Erfüll[un]g ihres geschichtl. Auftrags zu gelangen. So sind sie beide, Germanentum u. Xtum, aufeinander angewiesen. Und doch könnte sich dsr. Satz, der wie eine Gleich[un]g u. Gleichsetz[un]g der beiden Größen, Germanentum u. Xtum aussieht, nur auf die äuß[ere]Gestalt des Xtums beziehen: das Xtum bedurfte des german. Geistes, um zu s. stärksten, edelsten, reinsten, vollkommensten Ausprägung zu kommen. Nicht aber bedurfte u. bedarf der, der dem Xtum vorausging, X selbst, des Germanentums. Er „J. von Nazareth, der Mittler zw. Gott u. Mensch, der uns schon vor 2000 Jhr. die vollkommene Religion gebracht h[a]t“ 492 – ein Ausspruch Ch’s – bedarf niemandes, sondern: alle, auch die Germanen, bedürfen seiner! Hier gibt es keine Gleichsetz[un]g, etwa german. Rasse u. J. X., sondern nur die Entgegensetz[un]g: hier X. u. dort alle die anderen. Wer so von X spricht, wie es Ch. getan, der kann ds. Sachverhalt unmöglich übersehen h[a]b[e]n. Und darum: Ist J. X., wie es H. St. Ch. bekannt h[a]t, der einzigartige Mittler zw. Gott u. Mensch, die einzige Stelle, an der der unanschauliche Gott uns menschl. anschaubar wird, dann sind die Völker u. die einzelnen, die dem Gottesoffenbarer J. X. begegnet sind, auch u. gerade die Germanen um der besonderen Erlebnistiefe willen gefragt: H[a]b[e]n die german. Völker, h[a]b[e]n die D[eut]schen sich mit letzt[em] Ernst u. vollem (?) Einsatz ihrer tiefsten Geisteskräfte dem Ruf u. der Berufung des X erschlossen, h[a]b[e]n sie X so ernst genommen, wie er genommen werden 491 492

Briefe 1882-1924, Bd. 1, München 1928, 246. Mensch und Gott, 105.

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mußte, nehmen sie, die D[eut]schen, nehmen wir, die wir auch D[eut]sche sind u. uns im Geg[en]satz zu vielen andern D[eut]schen sogar Xen nennen, dsn X so radikal ernst? Gerade wenn man ǀ 14 ǀ das Xzeugnis Ch’s ganz ernst nimmt, dss [= dieses] besondere, starke, überwältigende Xzeugnis eines der reichsten Geister unserer Zt., dann fallen einem die gr. Fragen u. Mahnungen ein, die Luther in den bekannten Satz vom fahrenden Platzregen493 u. Luthers Z[ei]tgenosse Johann Walther in das erschütternde Lied „Wach auf, wach auf, du d[eut]sches Land“ 494 kleidet. Und insofern steht Ch. als Profet im Vollsinne des Wortes vor dem d[eut]schen Volke. Hier mag noch einmal ein Wort Ch’s stehen u. die zuletzt ausgesprochenen Gedanken u. das Referat beschließen. Ich entnehme es jenem schönen Aufsatz „Die Zuversicht“ aus den Schriften zum Weltkrieg. Dort heißt es: „Zu seiner besonderen Aufgabe, zu seiner ‚Bestimmung‘, kann D[eut]schl[and] unmöglich die überschwengliche Kraft gewinnen, wenn es sich nicht – u. sei es auch in verschiedenen Abstufungen u. Gleichnissen – zu J. X. bekennt. … Wer auf die höchste Religion (Ch. meint: J. X.) verzichtet, verzichtet auf die höchste Kraft.“495 ǀ 15 ǀ Zum Vortrag über das Ältestenamt Bei den Vorarbeiten zu diesem Vortrag richtete Pötzsch eine Anfrage nach geeigneter Literatur zum Thema an den ihm persönlich bekannten Michaelsbruder Prof. Dr. Wilhelm Stählin in Münster. Dieser antwortete ihm am 21.7.1942: „Lieber Bruder Pötzsch! Euer schmuckes Büchlein habe ich mit Freude erhalten und danke Euch herzlich dafür. Es ist ein schöner Beitrag zu der großen Aufgabe neuer Gemeindelieder(wenn gleich die meisten Melodien für die Gemeinde ja nicht ganz leicht zu singen sein werden) und ein erfreuliches Beispiel jener friedvollen Zusammenarbeit zwischen den Völkern, die jetzt so sehr selten geworden ist. Leider kann ich Eure Frage wegen Literatur über das Ältesten-Amt nicht erfüllen. Ich besitze selbst darüber gar nichts, kann auch trotz Suchens in allen 493 In einem Schreiben an die Ratsherren der deutschen Städte mahnt Luther 1524: „Liebe Deutsche, kauft, weil der Markt vor der Tür ist; sammelt ein, weil es scheint und gut Wetter ist; braucht Gottes Gnade und Wort, weil es da ist! Denn das sollt ihr wissen, Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist. (…) Ihr Deutschen dürft nicht denken, dass ihr ihn ewig haben werdet; denn Undank und Verachtung wird ihn nicht lassen bleiben. Drum greift zu und haltet zu, wer greifen und halten kann!“ (WA 15, 32). 494 EG 145. 495 Die Zuversicht, München 1915, 25f.

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möglichen Büchern nicht einmal den Titel irgend einer Spezialuntersuchung darüber entdecken. Damit ist nun keineswegs gesagt, daß es nichts dergleichen gibt, aber ich weiß es eben nicht. Für die sachliche Erörterung schien mir das Wichtigste, herauszuarbeiten, daß die ‚Ältesten‘ des Neuen Testaments nicht ‚Gemeindevertreter‘ sind, sondern eher die von den Aposteln eingesetzten und verantwortlich gemachten Vertreter der Apostel in den einzelnen Gemeinden. In der geschichtlichen Entwicklung sollte (und könnte) man wohl zeigen, warum die Ansätze zu einer Wiedererneuerung des Ältesten-Amtes auf lutherischem Boden ganz verkümmert sind und warum auch auf reformiertem Boden dann im 19. Jahrhundert aus den verantwortungsvollen ‚Ältesten‘ die Gemeindevertreter geworden sind. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Euch so wenig dienen kann. Aber ich wüßte nicht, wo ich mit Erfolg suchen könnte. Mit herzlichem Gruß und treuen Wünschen für Eure ArbeitEuer (gez.) Wilhelm Stählin.“496

Tatsächlich gab es zu dieser Zeit kaum Fachliteratur zum Thema, die Pötzsch hätte heranziehen können. In seinem Vortrag arbeitet er, Stählins Ratfolgend, die Geschichte des Ältestenamts von den Ältesten als Vertretern der Apostel bis hin zu ihrer Umwandlung in Gemeindevertreter nach Vorbildern der parlamentarischen Demokratie und des Vereinswesens heraus. Eine echte Erneuerung, das zeigt Pötzsch abschließend mit sieben Thesen, kann nur gelingen, wenn man beim Verständnis der Kirche ansetzt und die verlorene geistliche Dimension des Ältestenamtes wiedergewinnt. Geeignete Gemeindeglieder sollen mit dem „Botschafterdienst der Wortverkündigung“ beauftragt werden. Das Amt der Ältesten in der Gemeinde (1942)497 [Einleitung] [Anrede an die Zuhörer] [Sie sind] gekommen als Glieder und Abgesandte der deutschen evangelischen Gemeinden in den Niederlanden. [Ein] Teil von Ihnen bekleidet in der heimatlichen Kirchengemeinde ein Amt. Namen? Kirchenrat! Älteste? Kirchenvorsteher? Vertrauensleute. In der Soldatenkirche gibt es diese Einrichtung überhaupt nicht, aber in meiner früheren sächsischen Dorfgemeinde: Kirchgemeindevertreter und engeren Kreis = Kirchenvorstand. Erfahrungen: Schwer zu finden, die zur Übernahme solchen Amtes bereit sind[.] Klagen: Kirchenvorsteher, die sich nie oder kaum in der Kirche sehen lassen; kaum zu Zusammenkünften 496

Masch. Brief, bisher unveröffentlicht. Manuskript eines z.T. nur in Stichworten formulierten Vortrags, 16 Seiten, gehalten vor den Gemeindeältesten und Vertrauensleuten der deutschen evangelischen Gemeinden in den Niederlanden in Den Haag am Sonntag, 2.8.1942, 15:30 Uhr. Die von Pötzsch verwendeten Abkürzungen wurden aufgelöst. 497

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ihres Vorstandskollegiums [kommen]; oder: vielleicht ganz tüchtig in Bauoder Geldfrage[n], aber damit Mittätigkeit erschöpft. Als 1933 die ersten Spannungen in der Kirche auftraten, schon brachen die kirchlichen Körperschaften auseinander. Wieviel endgültiges Fernbleiben der Kirchengemeindevertreter, ja sogar Kirchenmusiker… Freilich, diese trüben Erfahrungen, die zwar sehr häufig, [waren] nicht die einzigen! Viel treue Kirchväter: Sonntag für Sonntag im Gottesdienst, vorbildliche Männer und Frauen, treueste Mitarbeiter des Pfarrers und Stützen der Gemeinde, Berater des Pfarrers, ja, mancher [war der] Seelsorger seines Seelsorgers. Als ich vor über 2 Jahren nach Holland kam, gewann ich bald Einblick in die kirchlichen Verhältnisse der holländischen und deutschen Gemeinden und einen recht erfreuenden Eindruck von den Kirchengemeindevertretern oder Kirchenräten, wie sie hier heißen: Sonntag für Sonntag in großer Zahl versammelt, großes Interesse am kirchlichen Leben, Bänke der Kirchenvertreter gefüllt. Holländische Kirchen die ganzen Bibeln, aufgeschlagen und mitgelesen. Kollektieren. Mitarbeit. Ein offenbar noch reiches Gut, in Ordnung. Niemals Grund zur Beruhigung oder Selbstehrung oder Selbstgerechtigkeit!! Immer vor Gott als „arme Sünder“. „Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Fehle!“ (Ps. 19,13). „Und wenn Ihr alles getan habt, was Ihr zu tun schuldig seid, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte, wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren“ [Lk 17,10] (allenfalls, bestenfalls!). ǀ 1 ǀ Wenn wir uns heute gemeinsam auf das Amt des Kirchenältesten besinnen wollen, kann es uns nicht zuerst um ein Vergleichen und Abwägen der einzelnen Gemeindevertretungen in den verschiedenen Kirchen und Kirchengemeinden und Kirchengebieten gehen, sondern um eine grundsätzliche Besinnung auf das Amt des Ältesten in der Gemeinde. Und wenn wir dem Amte eine neue Lebendigkeit, Würde, Sinnerfüllung wünschen und erbitten, wenn wir Fehlentwicklungen aufhalten und Erneuerung anbahnen wollen, dann scheint es mir gut und notwendig, daß wir uns zunächst einmal mit der Entstehung des Amtes beschäftigen. Wir würden dabei wohl die wichtigsten Grundgedanken und Grundlinien für das Amt heute erkennen. I Die biblisch-neutestamentlichen Grundlagen des Ältestenamts. Müssen in die Anfangszeit der christlichen Kirche hinabsteigen. Christliche Kirche ist eine geschichtliche Erscheinung, nicht immer da, sondern entstanden. Entstanden, weil einer da war, der sie entstehen ließ: Jesus Christus. Wir wissen, daß er bis zu seinem 30. Lebensjahr als ein Unbekannter in der Verborgenheit gelebt hat (Lk. 3,23) und daß er dann 3 Jahre

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(manche Theologen nehmen nur 1 Jahr an) öffentlich gewirkt, gelehrt, für Gott geworben hat. Wir wissen, daß Jesus nicht allein blieb, sondern daß er eine Anhänger- und Nachfolgerschaft gewann: einen weitesten, unumgrenzten Kreis, einen engeren Kreis, dem etwa 70 angehörten, einen engsten Kreis von 12 Jüngern (Schüler, μαθητης), mit denen der Herr in Lebensgemeinschaft lebte und die er als seine Boten und Gesandten (αποστολος) bezeichnete, Männer, die seine Arbeit und [seinen] Auftrag fortsetzen, übernehmen sollten (Lk. 6,13 lesen!). (Innerhalb dieses engsten Mitarbeiterkreises engster Vertrautenkreis (3): Petrus, Jakobus, Johannes, unter denen Petrus und Johannes ihm die Nächsten waren). Als Jesus gekreuzigt und der Jünger Judas Ischarioth durch Verrat und Selbstmord ausgeschieden war, wurde die Zwölfzahl der Jüngerschaft wieder hergestellt durch Zuwahl des Apostels Matthias [durch Gebet und Los! Acta 1,23-26]. Daß mit dieser Jüngerberufung ein Amt und Auftrag gemeint war, nicht nur eine vorübergehende Lebensgemeinschaft, die mit dem Tode Jesu zerfiel, so wie Ehe zer- ǀ 2 ǀ fällt und aufhört, wenn ein Partner gestorben und nicht mehr da ist, geht aus mancherlei Äußerungen hervor: [„]Ich will Euch zu Menschenfischern machen! [Mt 4,19] Arbeiter in die Ernte! [Mt 9,37f] Arbeiter im Weinberg! [Mt 20,1-16] Gleichwie mich der Vater gesandt hat, also sende ich Euch (Joh. 20,21). Geht hin (in alle Welt) und lehret = macht zu Jüngern alle Völker und lauft hin …“ [Mt 28,18-20] Wichtig: Nachfolger, Jünger, Christ sein heißt also: einen Auftrag empfangen, Auftrag übernehmen! Und zwar jeder und alle!! Wer Christus begegnet ist, der ist damit grundsätzlich für alle Zeit aus dem Schlafe gescheucht und zum Dienste gerufen. Christsein heißt aktiv werden! Christsein heißt fortan immer im Dienst sein! Immer, ohne Urlaub und Ferien, ohne Altersgrenze – bis in den Tod! Es gibt in den Vereinen und selbst in den sog. Sportvereinen, die auch menschlich, leiblich in Bewegung setzen, eine seltsame Erscheinung: da gibt es „passive“ Mitglieder[,] d.h. solche, die bloß dem Namen nach dazugehören, ihren Beitrag zahlen, aber nicht aktiv mitmachen. Die können z.B. Sonntag für Sonntag auf dem Fußballplatz stehen und zuschauen, wie die anderen ihre Wettkämpfe austragen, sie selbst aber stehen am Rande, rufen vielleicht zu, freuen sich mit, werden immer behäbiger, außerhalb jedes Kampfes und Einsatzes. Das gibt es (leider auch in der Kirche!) grundsätzlich in der Kirche nicht! Wer Christus begegnet ist, der ist ihm nicht nur persönlich, sondern zum Dienst verfallen, weil auch Christus gekommen ist, daß er diene und gebe sein Leben (als Lösegeld) für viele. Was ich erfuhr, was mir widerfuhr von Christus, das muß ich weitergeben an die, welche noch nicht hörten und noch nichts erfuhren von Christus. Darum gibt es das Christsein grundsätzlich nicht in der Vereinzelung,

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Isolierung (Insel der Seligen, auf der ich mein Christentum für mich selbstgenießerisch allein lebe), sondern nur in der Gemeinschaft, in der Gemeinde. Wo Christus ist, da braucht es den Jünger, und wo der Jünger ist, da wird Gemeinde. „Ohne Gemeinschaft statuiere ich kein Christentum“ [Zinzendorf].498 Es kann keinen Christen geben, der nicht zugleich aktiver Missionar sein müßte. Das alles ist nicht zuerst theoretisch ausgedacht und darum „zur bestmöglichen Ausbreitung des Christentums“ organisiert und propagiert worden, sondern ǀ 3 ǀ das alles ist wachstümlich so da, das Empfangen unddas Empfangene weitertragen müssen ist das konstruktive, konstitutive (begründende) Element. „Wie mich mein Vater gesandt hat, also sende ich Euch[.] Ich bin das Licht der Welt undIhr seid das Licht der Welt.[“] Wer das Heil erfahren hat, muß das erfahrene Heil bezeugen und andre zum Heile führen helfen. So hat es sich grundsätzlich in und mit der Nachfolgerschaft Jesu Christi verhalten, so hat die frohe Botschaft ihre Kreise gezogen, so ist die Urgemeinde und älteste Kirche, so ist die christliche Kirche entstanden und so lebt sie fort, so lange Gott [sie] hier in der Welt stehen lassen und gebrauchen will. Die Jüngerschaft, das Priestertum aller Gläubigen, stellt alle Gläubig Gewordenen in Dienst, Männer und Frauen, Ältere und Jüngere, Näherstehende und Fernerstehende, Jünger im engeren und engsten Sinne und Jünger im weiteren und weitesten Sinne. Durch die Dienstverpflichtung stehen zunächst einmal alle in seinem Reich! Und eine Kirche, in der nicht immer alle ihre Glieder zum Dienst in seinem Reiche stehen, verfällt der Verkümmerung, Entartung, Auflösung. Es darf in der christlichen Kirche jeder wissen, daß er mit allen zum Dienste gerufen ist. Es gibt kein Vorrecht des Dienstes, also etwa des Pfarrers, das andre vom Dienste ausschließt. Es sind alle zum Dienste verpflichtet, alle berufen als Arbeiter im Reiche Gottes mitzutun! Das heißt nur eben freilich nicht, daß alle berufen wären, einer wie der andere den gleichen, gleichgearteten Dienst zu tun, sondern die Kirche ist ein lebendiger Organismus, ein Leib, wie es in einem schönen Bild und Gleichnis einmal heißt: d.h. es gibt viele Glieder und viele Funktionen, alle wichtig, alle sich ergänzend, alle im Dienst am Ganzen geeint. Also alle sind im Dienst geeint, aber keine Gleichmacherei! Daß jeder einzelne auf seinen Platz und Posten gestellt und eingesetzt werde, das ist die Aufgabe der kirchlichen Ordnung und Gliederung! Kein endgültiges System, Schema! Gewiß werden ǀ 4 ǀ manche Ämter in langen Zeiten, vielleicht immer, 498 Zinzendorf 1736 zu Leutnant von Peistel: „…ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft“ (zit. nach: Hans Joachim Wollstadt, Geordnetes Dienen in der christlichen Gemeinde, Göttingen 1966, 120).

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sich gleich bleiben, andere werden sich wandeln, vielleicht ausfallen, andere hinzukommen und neu entstehen, so wie es das fließende Leben und der lebendige Körper der Kirche erfordert. Aus der Entstehungszeit der christlichen Kirche, so weit wir sie im NT erfahren können, nur das Notwendigste vergegenwärtigen: Als die Gemeinde wächst und wächst, sind die Apostel die selbstverständlichen Leiter der Gemeinde, und als die Gemeinde immer mehr an Umfang zunimmt und die Liebestätigkeit, die Unterstützung der unbemittelten Gemeindeglieder, die Verteilung der Kollektenerträge, die größeren Abend- und Liebesmahle vor eine neue Aufgabe stellt, da wird ein neues Amt geschaffen: es werden Almosenpfleger bestellt (durch Wahl [Los?], Gebet und Handauflegung). Lesen Acta 6,2-6. Das Amt der „Diakonen“ (διακονοι) ist also nicht geschaffen, weil eine geordnete Kirchenverfassung auch Diakonen, dienende Brüder für eine geordnete Liebestätigkeit aufweisen muß, sondern aus der praktischen Notwendigkeit erfolgte eine weitere Entfaltung des einen vorhandenen Amtes. Das Bild um diese Zeit ist also schon folgendes: an der Spitze der Gemeinde stehen die Apostel, vor allem Petrus und Johannes und Jakobus (zuerst Jakobus, der Jünger, also der Bruder [des] Jüngers Johannes, später nach dessen Hinrichtung Acta 12 der andere Jakobus, der Bruder unsres Herrn Jesus Christus, von dem uns hauptsächlich Acta 15 erzählt wird.[ )] [Dieser Jakobus gilt als einer der größten Beter, seine Knie sollen hart geworden sein wie die Knie eines Kamels vom steten knienden Beten; er wurde um das Jahr 62 von der Zinne des Tempels herabgestürzt und mit Walkerholz erschlagen; er [litt] also ein ähnliches Schicksal wie sein Bruder Jesus]. ǀ 5 ǀ Neben den Aposteln begegnen uns Profeten und Lehrer, als neue Apostel Paulus und Barnabas, die großen Missionare, die nun schon zur 2. Generation, also nicht mehr zu den Begleitern und Augenzeugen Jesu gehört haben. Hier begegnen uns auch zum ersten Mal die Ältesten, die von den Aposteln in den Gemeinden, wohl als Vertreter der Apostel, eingesetzt werden (Acta 14,23). Wir erfahren nichts über die Entstehung des Ältestenamts, wissen nur, daß es ein Vor-bild, [einen] Vor-läufer hatte in der israelitischen Gemeinde und dort wohl ein Vorsteheramt war („Schriftgelehrte und Älteste“). Inhaltlich ist der Auftrag, das Amt der Ältesten kein anderes als das der Apostel, also das der Verkündigung und der Seelsorge und wohl auch der Liebestätigkeit. Also nicht etwas grundlegend Neues, sondern nur Einsatz neuer Kräfte (ältere erfahrene Männer) in der einen, gleichen Aufgabe! Wenn wir einen Schritt weitergehen zu den sog. Pastoralbriefen, so erfahren wir, daß das Ältestenamt nun schon zur festen Einrichtung geworden ist. Paulus befiehlt, daß „die Städte hin und her mit Ältesten“ besetzt

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werden (Tit. 1,5), daß diese Ältesten wohl mancherlei Gemeindeaufgaben erfüllen, eine Reihe von ihnen aber mit Sicherheit [„]das Amt der Verkündigung, im Wort und in der Lehre“ (1. Tim. 5,17), vor allem aber erfahren wir, wie dieses Amt und wie diese Amtsträger gedacht sind; „sei ein Vorbild“ wird den mit Verantwortung für die Gemeinde betrauten Männern immer wieder zugerufen, und darum sollen Sie alle, weil wir’s jetzt nicht tun können, die beiden ǀ 6 ǀ Timotheusbriefe und den Titusbrief zu Hause mit aller Sorgfalt einmal lesen! Wenn wir noch einmal kurz zusammenfassen, so können wir sagen: das, was die Menschen jener entstehenden christlichen Kirche bewegt[,] ist dies: diese Menschen wollen leidenschaftlich Christen sein, leidenschaftlich die Sache ihres Herrn betreiben; daraus ergibt sich alles, was sie gestalten! Es gibt, auch wenn wir meinen, einige voneinander unterschiedene Ämter erkennen und nennen zu können, es gibt im Grunde keine Ämter, sondern nur das Amt, verschiedene Funktionen des einen Amtes, das alle Glieder der Gemeinde mit tragen und das besonders berufene, besonders befähigte und von Gott mit besonderer Gnade und besonderen Gnadengaben ausgerüstete und darum mit besonderer Verantwortung und Verpflichtung beladene Jünger, Apostel, Bischöfe (auch dieser Name),Älteste oder wie auch immer sie heißen, in der Hand haben. Amt und Auftrag haben nur den einen Sinn, das eine Ziel: Gottes Reich, Gottes Reich zu bauen, den Herrschaftsanspruch Jesu Christi auf der Erde und über die Erde hin erfüllen zu lassen. Das und das allein war entscheidend. An gesetzliche Ordnungen, weil Gott oder Christus ihre Errichtung befohlen oder eingesetzt hätten, an Kirchenverfassung und Organisation hat niemand gedacht. Die ganze Gemeinde stand … [unleserlich] mündig und mitverantwortlich gleichberufen und gleichgefordert, mit den besonderen Amtsträgern zusammen, ǀ 7 ǀ nicht abseits, nicht passiv, nicht als behandeltes Objekt bevormundet daneben. Alle sind Träger des Amtes, nur daß eben nicht alle gleicherweise mitreden und mithandeln können. Keinesfalls sind die Ältesten (Presbyter) Gemeindevertreter, demokratische Abgeordnete der Gemeinde, die nun gegenüber dem Amt und dem Amtsträger (Apostel) die Rechte und Belange der Gemeinde zu vertreten, zu verfechten, zur Geltung zu bringen und durchzusetzen hätten. Die Gemeinde der Urkirche will nichts neben dem Amt und gegen das Amt, vielmehr: sie will nichts anderes als das Amt, nichts anderes als was die Apostel wollen: Jesus Christus, daß er verkündigt werde. ǀ 8 ǀ

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II Das Amt der Christenheit (insbesondere das Ältestenamt) in der Geschichte. So interessant es wäre, hier die Entwicklung in fast 2000 Jahren Kirchengeschichte zu verfolgen, [so müssen wir uns doch] auf wenige Sätze beschränken: 1) Die Entwicklung in der katholischen Kirche Die katholische Kirche, die etwa im Laufe des 2. und 3. Jahrhunderts entsteht, weist also zunächst das von allen, von der Gesamtgemeinde getragene Amt der Christenheit auf und zugleich die ganze Mannigfaltigkeit der Entfaltung dieses Amtes: es gibt viele tätige Menschen und viele kamen für die von ihnen ausgeübte Tätigkeit. Von der sich bildenden katholischen Kirche aber entsteht nun eine ganz bestimmte Reihenfolge und Rangordnung: Aus dem Ältestenamt „Presbyter“ wird der Priester, aus den Bischöfen, die nichts anderes waren als die Ältesten [Bischof επι-σκοπος heißt nichts weiter als Auf-seher][,] werden Vorgesetzte, Aufseher der Priester und Gemeinden. Von dieser Entwicklung gleich bis zum Ende zu zeigen: während ursprünglich alle Presbyter = Priester gleich waren, maßen sich die Priester-Bischöfe der großen Städte (Rom, Alexandria, Antiochien, Jerusalem) Vorrangstellungen an; dann nimmt der Bischof von Rom für sich in Anspruch, der erste, später der oberste Bischof zu sein (weil Christus den Petrus (in Rom gekreuzigt) angeblich zum Apostelfürsten und Stellvertreter eingesetzt habe: Du bist Petrus und auf diesen Fels… Mt. 16,18); daraus wird in jahrhundertelangen Kämpfen das Papsttum, das im Dogma von der unfehlbaren Lehrautorität im vatikanischen ǀ 9 ǀ Konzil von 1870 seinen höchsten Anspruch durchsetzte. – Von …[unleserlich]bildet sich in der ältesten katholischen Kirche folgende Ämterordnung heraus: Bischof – Presbyter (Priester) Diakon (Liebestätigkeit, rechter Hand des Bischofs), Subdiakone (Unterdiakone) } = clerus maior Ferner: Akoluth (persönlicher Adjutant des Bischofs) Exorzist: Teufelsbeschwörer besonders für Aufnahme von Heidenchristen clerus minor Lektor: gottesdienstliche Lesung Ostiarier: der Türhüter Andere Ämter: der Vorsänger (cantor), Witwen, Diakonissen. In der katholischen Kirche verschwinden praktisch alle diese Ämter, wenn auch der werdende Priester die Weisen dieser unteren Ämter noch durchlaufen mußte; [sie sind] praktisch nicht mehr da. Alles konzentriert sich auf die Hierarchie = heilige Rangordnung Priester, Bischof, Papst. Ihnen gegenüber steht die ganze geführte, unmündige Masse der Laien. Allerdings hat es die katholische Kirche verstanden, in den Orden, Bruder-

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und Schwesternschaften die Laien wieder zum Dienst heranzuziehen. Aber der Unterschied zwischen Geistlichen und Laien, zwischen Amtsträgern und Kirchenvolk besteht in aller Schärfe und grundsätzlich. 2) Die Reformation Dr. Martin Luthers hat grundsätzlich den christlichen, altkirchlichen Grundsatz des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen wieder erneuert, wieder zur Geltung gebracht: Alle, die zum Heil berufen sind, alle, die das Heil erfahren, sind auch zum ǀ 10 ǀ Dienst der Heilsbotschaft berufen und verpflichtet. Zwischen dem lutherischen Priester (Pfarrer) und Gemeindeglied klafft nicht mehr die unüberbrückbare Kluft von Geistlichen und Laien, sondern der Pfarrer übt nur aus praktischen Gründen, weil nicht alle die verantwortliche Ausübung des Predigtamts und der Sakramentsverwaltung in der Hand haben können, nicht alle für diese umfangreichen Aufgaben und Vorbereitungen fähig und frei sind und freigestellt werden können, praktisch stellvertretend das Amt der Christenheit aus – durch besondere Berufung, besondere Gnadengaben, durch ein besonderes von Gott in Dienst und Pflicht genommen sein. Wiederum wendete sich der Pfarrer wie in neutestamentlichen Zeiten an eine mündige, gleicherweise mit ihm berufene und verpflichtete Gemeinde, der gegenüber er, als Pfarrer, keine Vorrechte und keinen Vorrang hatte. Befähigte Männer traten zur besseren Bewältigung der umfangreichen Aufgaben an die Seite des Pfarrers. Hilfsdienste übernahm der Küster, der vielfach auch Kantor war und die Kinderzucht mit ausübte. Und doch ist auch die lutherische, reformatorische Gemeinde nicht vor Fehlentwicklungen verschont geblieben. Sie war zwar nicht mehr und wurde nicht wieder die ausschließende „Priesterkirche“ der katholischen Zeit, aber sie wurde weithin zur „Pastorenkirche“[,] d.h. zu einer Kirche, in der fast nur noch der Pastor, der Pfarrer das Amt der Christenheit in der Hand hatte, oft als ein hervorragender Gemeinderegent, oft überlastet, isoliert und sich isolierend. ǀ 11 ǀ Die Mitarbeiter des Pfarrers, die Gemeindeältesten, verloren ihre eigentliche kirchliche, geistliche Bedeutung, oder hatten sie nie recht in der lutherischen Kirche gewonnen. Und als die größer werdenden Gemeinden, vor allem im vorigen (19.) Jahrhundert die Mitarbeit von Gemeindekräften unerläßlich machte[n] (als jene großen und übergroßen Gemeinden entstanden, z.B. Großstädte), da wurden die Ältesten nach dem Ideengut dieses 19. Jahrhunderts geprägt, d.h. sie wurden eine Art Vereinsvorstand, Vertreter der Gemeinde in einem System, das dem demokratischparlamentarischen System der Politik, ähnlich und nachgebildet war. Die Presbyter, Ältesten des Neuen Testaments sind niemals Gemeindevertreter, sind allenfalls die von den Aposteln eingesetzten und verantwortlich gemachten Vertreter der Apostel und sind damit eigentlich Christusvertreter, Christusstellvertreter, aber niemals Gemeindevertreter etwa gar gegenüber

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dem Botschafter[-]Amt! Es hat gewiß sehr ordentliche, aktive, tätige Gemeindevertreter gegeben, die vorbildliche Christen und tüchtige Fachleute in Bau-, Kassen-, Verwaltungsfragen waren, aber der grundsätzliche Verzicht auf den geistlichen Charakter des Ältestenamts, auf alles das, was das Ältestenamt in neutestamentlicher Zeit grundsätzlich war, ließ das Ältestenamt im 19. Jahrhundert notwendig verkümmern, einschlafen, entarten. Kirchgemeindevertreter ǀ 12 ǀ sind eben dann oft nichts anderes als die traurigen Abbilder ihrer traurigen Gemeinden, die sie vertreten, während sie aktive Apostel, Jünger, verantwortliche Mitträger am Amt der Christenheit sein sollten. An die Stelle der Berufung und Vollmacht von oben war das bißchen Berufung und Vollmacht von unten, vom Menschen her getreten. Wer im bürgerlichen Leben einigermaßen Qualität bewies, der wurde der gegebene Mann auch für die Kirchgemeinde, wodurch manches Brauchbare für die Kirchenvorstandssitzungen (Baufragen usw.) herauskam, aber wenig für das innere Leben der Gemeinde. Wie viele Kirchgemeindevertreter waren höchst seltene Gäste in Gotteshaus und Gottesdienst! Wie viele haben beim ersten Aufbrechen der Kirchennot im letzten Jahrzehnt schnellstens ihr sog. „Amt“ niedergelegt, wie viele sind „aus der Kirche ausgetreten“ wie man eben seinen Vereinsposten niederlegt und aus dem Verein austritt! Wir werden damit nicht aburteilen und richten wollen über viele unsrer Brüder und Schwestern, die in unsrer Kirche landaus, landein, das Amt des Kirchgemeindevertreters, des Ältesten, des Kirchenvorstehers innehatten, wahrlich nicht, wir wollen nur erkennen, daß auch hier die Kirche einer falschen Entwicklung nicht gewehrt hat und erlegen ist; daß auch an dieser ǀ 13 ǀ Stelle wieder die Not der Kirche zu sehen und mit Händen zu greifen ist, wie an jeder andern Stelle kirchlichen Lebens und kirchlicher Gestaltung heute (ich brauche nur an die Probleme der Kirchenleitung, Kirchenregiment, oder kirchlicher Kultus, kirchliche Verkündigung, kirchliche Ethik zu rühren). Es gibt heute in der Kirche kein Gebiet, von dem wir sagen könnten und dürften: hier ist es gesund und in Ordnung. Wir sehen uns nur überall zur Selbstbesinnung genötigt und zur Buße gerufen, auch in der Frage des Amtes der Christenheit, in der Frage der Ältesten in der Gemeinde heute. 3) In der reformierten Kirche ist, aufs Ganze gesehen, die Bedeutung und Mitarbeit der Ältesten größer geblieben, obgleich die Begründung des Ältestenamtes hier etwas zu gesetzlich ist (die Gemeindeämter sind da, weil sie biblisch geboten, von Christus eingesetzt und verlangt sind), obgleich in dem Aufsichtscharakter, den das Ältestenamt gegenüber dem Pfarramt hatte, neben etwas Richtigem auch etwas Gefährliches lag, und obgleich auch in der reformierten Kirche die Gemeindeältesten keineswegs[,] auch wenn sie es meinen[,] den neutestamentlichen Ältesten ent-

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sprechen, sondern vorwiegend im 19. Jahrhundert zu Gemeindevertretern wurden wie in der lutherischen Kirche. ǀ 14 ǀ III Das Amt der Ältesten in der Gemeinde – heute! Wir stehen am Ende unsres Überblickes. Ich will auf die Frage „Was nun?“, die wir uns zwangsläufig stellen müssen, nicht mit neuen Ausführungen antworten; denn es ist alles, was zu sagen war, bereits gesagt. Ich will aus dem gesamten Stoff nur noch etwas wiederholend wenige Thesen als ganz einfache Sätze herausziehen: 1. Wir müssen davon ausgehen, daß die Kirche kein Verein ist, sondern die Gemeinschaft der von Gott zum Heil Herausgerufenen (εκ-καλειν, εκκλησια). (Es sollten darum alle vereinsmäßigen Begriffe: Mitglied, Mitgliedsleistung, Vorstand … in der Kirche vermieden werden. Die Menschen der Kirche sind Glieder am Leib der Kirche, nicht Mitglieder eines Vereins). 2. Wer herausgerufen ist, muß weiterrufen. Der Jünger steht unter dem Ruf: Siehe, ich sende Euch …! 3. Das Weiterrufen ist das Amt der Christenheit; es wird von der Gesamtheit der Kirche verwaltet. Darin bewährt sich das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. 4. Aus praktischer Notwendigkeit ergibt sich, im Zusammenhang mit besonderen Be-gabungen (Be-gnadung) und besonderen Verpflichtung[en], die besondere Amtsträgerschaft einzelner Glieder (Pfarrer, Gemeindeälteste, Lehramt, Diakonie u.a.). Das eine Amt entfaltet sich zu einer Mehrzahl oder auch Vielzahl von Ämtern. 5. Alle Ämter der Kirche, sie können geschichtlich nachweisbar sein oder sie können ganz neu entstehen, haben ihre Begründung von oben her, nicht von den Menschen her. Menschen können nur als Mittler und Handlanger Gottes in Erscheinung treten, mitwirken, beauftragen und einsetzen. ǀ 15 ǀ 6. So wie das Heil, obgleich es den Frieden des Herzens gewährt und verbürgt, kein ruhiger, satter, unverlierbarer Besitz ist, sondern vielmehr das Gewissen in heilsamer Unruhe erhält, so ist auch das Amt der Christenheit kein Ruhekissen, auf dem wir, unserer Würde auf menschliche Weise froh und sicher, ausruhen könnten. Heil und Amt, Gabe und Aufgabe hängen tief innerlich zusammen; es kann mit ihnen alles verloren gehen. Hier sind wir zur Wachsamkeit und zur Sorge gerufen. 7. Der fast ganz vergessene und verloren gegangene geistliche Charakter des Ältestenamtes muß heute nicht nur aus grundsätzlichen Erwägungen heraus wieder sichergestellt werden, sondern zugleich aus praktischen Gründen: weil die Lage des abendländischen Christentums in der Gegenwart erfordert, daß die Glieder der Gemeinde (nach dem Maß ih-

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rer Begabungen) weit stärker wie bisher mit spezifisch geistlichen Aufgaben, also mit dem Botschafterdienst der Wortverkündigung, betraut werden (z.B. in den durch Krieg oder kirchlichen Notstand verwaisten Gemeinden Lesegottesdienste, Andachten, Kindergottesdienst, Jugendund Konfirmandenunterweisung, Beerdigungen). [Psalm 84!] ǀ 16 ǀ

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Zum Vortrag über Religion Die sprichwörtliche Gretchenfrage aus dem ersten Teil von Goethes Faust-Tragödie nimmt Pötzsch hier als Thema eines Vortrags. Religion, das bedeutet für ihn, dem Wortsinn des lateinischen ‚religio‘ gemäß, Rückbindung. Der Mensch muss rückgebunden sein, einen festen Halt haben, um die schwere Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten zu können. Es ist die Frage, die Pötzsch seit je quälte, aber zugleich auch die Frage, die seinen Zuhörern in dem vom Krieg gezeichneten Land zu schaffen macht. Die Antwort auf diese Daseinsfrage findet sich, so der Vortrag, nicht durch Nachdenken und Erforschen des Weltalls, sondern indem wir „die alte Bibel aufschlagen“. Von Psalmworten lässt Pötzsch sich auf Gott, „die letzte Wirklichkeit“, hinweisen, die in Jesus Christus offenbar werde. Wie hältst Du es mit der Religion?(1946/47) 499 Als im Morgengrauen [des] 5. Dezember 1757 die Heere Friedrichs; des Großen bei dem Dorfe Leuthen zum bevorstehenden Kampf antraten, begann eine Gruppe von Männern einen Choral zu singen, in den bald das ganze Feldlager einstimmte. O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter Gaben, ohn den nichts ist, was ist, von dem wir alles haben: Gesunden Leib gib mir, und daß in solchem Leib ein unverletzte Seel und rein Gewissen bleib. Gib, daß ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret, wozu mich dein Befehl in meinem Stande führet. Gib, daß ich’s tue bald zu der Zeit, da ich soll, und wenn ich‘s tu, so gib, daß es gerate wohl.500

499

Manuskript eines volksmissionarischen Vortrags, gehalten am 27.7.1946 in Hersthausen bei Stade und am 5.12.1947 in Otterndorf, 8 Seiten + Beilage. Der Text wurde nicht bis ins Einzelne ausformuliert.

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[Der] König [steht zusammen mit einer] Gruppe seiner Offiziere. General fragt: Majestät, sollen wir nicht verbieten, daß Soldaten singen? Der König: Laß Er sie singen! Meint Er nicht, daß ich mit solchen Männern siegen werde? Nach der Schlacht [erklingt] „Nun danket alle Gott“.501 Der König in tiefem Sinnen hinwegreitend vom Schlachtfeld zu seinem Begleiter: Mein Gott, welche Kraft enthält doch die Religion! Erlebnis des Königs: Singen nicht aus Tradition, sondern Kraft. Gebundene Menschen, Auswirkung auf das Leben. [handschriftlicher Zusatz: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden“? Der Generalfiskal502 berichtet 1740 dem König, daß Kinder evangelischer Eltern aus dem Militär in katholischer [Religion] erzogen und zur Konversion veranlaßt wurden. König schrieb am Rand der Eingabe: „Die Religionen müssen alle relegieret503 werden und muß der Fiskal nur das Auge darauf haben, daß keine der andern Abbruch tue. Denn hier muß ein jeder nach seiner Facon selig werden.“ Damit [hat er] grundsätzlich die Facon = Konfession = christliche Kirche, Bekenntnis anerkannt und geschützt!!] Aktennotiz an Minister: Schaffe Er mir Religion ins Land, sonst schere Er sich zum Teufel. (Christliche Religion.) Nach dem Tode [von] Reitergeneral Hans-Joachim von Ziethen: Mein alter Ziethen hat doch Recht gehabt und den schönsten meiner Siege gäbe ich dafür, wenn ich die Armee wieder so fromm und gottesfürchtig sehen könnte wie sie zur Zeit meines Vorgängers und noch im Siebenjährigen Kriege gewesen ist. Das sagt derselbe König, der seine frommen Generale manchesmal in der Tafelrunde (franz. Geist Voltaire) verspottet hat. Friedrich und Ziethen: „Ei, Ziethen, Er muß uns auch noch sagen, wie ihm die Mahlzeit an Gottes Tisch bekommen ist. Hat Er seinen Herrgott gut verdaut? Ziethen: Majestät, ich habe Ihnen in schweren Tagen getreulich gedient und mein Christenglaube hat mir dazu die Geduld und den Mut gegeben und jederzeit erhalten und Sie selbst haben in schweren Zeiten, wenn Ihnen alles verloren schien, an mein Gottvertrauen sich angelehnt und es damals nicht verachtet. Was gibt Ihnen ein Recht, mir mein Heiligstes zu verspotten …?“ König tief erschüttert, entließdie Gesellschaft. 500

Die ersten beiden Strophen eines Kirchenlieds von Johann Heermann 1630 (EG

495). 501

Kirchenlied von Martin Rinckart 1636 (EG 321). Höchster preußischer Finanzbeamter. 503 D.h. ausgeschlossen. 502

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Friedrich und Schmettau. Hat Er gute Nachrichten von Seinem Beichtvater aus Berlin? Spöttereien. Schmettau: „Euer Majestät sind sehr viel witziger als ich und auch sehr viel gelehrter, überdies sind Sie mein König. Der geistige Kampf zwischen Ihnen und mir ist also in jeder Rücksicht ungleich. Dennoch können Sie mir meinen Glauben nicht nehmen, und gelänge es Ihnen auch, nun, so hätten Sie mir zwar unermeßlich geschadet, aber zugleich doch auch sich selber nicht unbedeutend mit.“ Blitzen des Unwillens in des Königs Augen: „Was soll das heißen, Monsieur Schmettau, ich sollte mir schaden, wenn ich Ihm seinen Glauben nähme? Wie meint Er das?“ Schmettau: „Eure Majestät glauben jetzt einen guten Offizier an mir zu haben, und ich hoffe, Sie irren sich nicht. Könnten Sie mir aber meinen Glauben nehmen, da hätten Sie ein erbärmlich Ding an mir, ein Rohr im Winde, darauf nicht der mindeste Verlaß wäre [handschriftlich: weder bei Beratschlagungen noch in der Schlacht.“] Beachtlich: Mein alter Ziethen hat doch Recht gehabt. Mein Gott, welche Kraft enthält doch die Religion! Mit tiefer Dankbarkeit und Freude solche Rückblicke in Glaubens- und Frömmigkeitsgeschichte unserer Väter. Aber das genügt nicht. Wir selbst sind gefragt, müssen selbst entscheiden. Von Erinnerungen, noch dazu an die Erlebnisse anderer, kann man nicht leben. Frage aus Goethes Faust, Gretchen: Wie hast du es mit der Religion? Wie hältst Du es mit der Religion? Mancher hat bestimmte Antwort bereit: Wie meine Väter. Wie meine Mutter mich als Kind gelehrt. Mancher aber unsicher. Unklare Antwort, keine Antwort. Viel Unsicherheit, Tasten, Fragen, Suchen. Vom Wort ausgehen. Religio – religare = binden, zurückbinden. Der Mensch muß rückgebunden sein. Matthias Claudius: Etwas Festes muß der Mensch haben, [handschriftlich: dran er zu Anker liege, etwas, das nicht von ihm abhange, sondern davon er abhängt.] Etwas Festes, daran er mit seinem Leben vor Anker gehen kann. Bild erläutern. 504 [handschriftlich: Der Anker muß das Schiff halten; denn, wenn das Schiff den Anker schleppt, so wird der Kurs mißlich, und Unglück ist nicht weit.] Tiefstes, allgemein menschlichstes Verlangen nach dem Festen, dem Halt, Fundament. Die Versuche: Besitz, Geld, Hab und Gut, Reichtum, Vermögen. Gegenwartserfahrung: vernichtet, kein Halt. Liebste nächste Menschen: vernichtet, tot, kein Halt; oder entzweit durch Selbstsucht, Lieblosigkeit. Einsam und allein, kein Halt. Gesundheit, Freude, Wohlergehen: Schwankend zerbrochen. Das Menschenherz ist ein trotzig und verzagt 504

Welches Bild Pötzsch benutzte, war nicht zu ermitteln.

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Ding, wer will es ergründen?505 Illusion: Der Mensch braucht nur in sich selbst hineinzugreifen, da findet und hat er Gott. Erschütternde Erfahrungen der Gegenwart. Der Mensch ist Gott. Prof. Bergmann: „Nicht nur Tiere und Pflanzen kann man züchten, sondern auch den Gottmenschen.“ 506 Mensch überfordert, an Anmaßung, Hochmut, Selbstgefühl zerbrochen. Rauhe Wirklichkeit hat ihm Schleier, Flittermantel, Binde von den Augen gerissen. [Er ist das] Geschöpf, das sich mit seiner Vernunft nicht einmal die einfachsten Fragen des Nachdenkens über sich selbst beantworten kann. Woher? Wohin? Warum? Wozu? Was ist der Sinn? Der Mensch in der unübersehbaren, endlosen Zeit. Nicht Anfang, nicht Ende, Millionen Jahre hinter sich, unmeßbare Zeit vor sich. Menschendasein weniger als Pulsschlag und Sekunde im rasenden Ablauf der Zeit, über der Zeit grauenvolles Schweigen. Der Mensch im unendlichen Raum. Ganz gewiß Schönheit und Sternennacht. Aber wenn nur darauf angewiesen? Stärkste astronomische Geräte haben [den] Blick geweitet in unvorstellbaren Raum. Vor einigen Jahren ein blasser, halbmondähnlicher Nebel entdeckt. Ein bis dahin unbekanntes Weltall in Entfernung 500 Millionen Lichtjahre; Lichtstrahl je Sekunde 300.000 km. 9.461 Billionen km = Lichtjahr. Es gibt tausende von Weltallen, schätzungsweise 45 Milliarden Sterne, schwindelnde Ausmaße. Menschendasein weniger als Stäublein und Hauch. Weder von der unmeßbaren Zeit noch vom unwägbaren Raum [ist die] Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. umso dringender. beantworten. Keine Keine Lösung Lösung der der Daseinsfragen. Daseinsfragen. Nur Nurumso Etwas Festes muß der Mensch haben. Augustinus: (4. Jahrh.) nos fecisti 507 Flucht …507 Flucht vor vor der Unruhe in die Dumpfheit, den Stumpfsinn, in die sogenannte Abwechslung und Zerstreuung [ist] keine Lösung, nur Verschiebung und Ausweichen. Es bleibt die brennendste Frage: Wie hältst Du es mit der Religion? Hat dein Leben einen Sinn? Einen Ort, in dem es ruht? Ein Fundament, das es trägt? Und nun können wir nichts anderes und nichts Besseres tun als uns von unsern Vätern an die Hand nehmen zu lassen und die alte Bibel aufzuschlagen. Nicht, weil wir zu dumm und schwachköpfig wären, sondern weil wir mit all unserer Klugheit und Forschung im Allerletzten keinen Schritt weitergekommen sind als sie. Die Menschen der Erde und der Zeiten sind sich eben auf das Allerletzte gesehen merkwürdig gleich geblieben. Was bedeu-

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Fast wörtliches Zitat von Jer 17,9. Der Pfarrerssohn Ernst Bergmann (1881-1945) wirkte als nationalsozialistischer deutschreligiöser Professor für Philosophie in Leipzig. Er forderte eine „artgerechte“ germanische Religion und „die völlige Ausrottung des Judentums“. 507 Fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te (Du hast uns zu dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es in dir ruht). Confessiones 1,1. 506

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ten schon angesichts des unendlichen Raums und der unendlichen Zeit die paar Unterschiede innerhalb unserer Räume und Zeiten! Emanuel Geibel: Studiere nur und raste nie, du kommst nicht weiter mit deinen Schlüssen. Das ist das Ende der Philosophie: zu wissen, daß wir glauben müssen.508 Glauben – die Rückbindung vollziehen lassen, das Leben auf die Rückbindung hin wagen. Die Rückbindung, die wir ja garnicht machen können, nur einfach anerkennen. Wir Stümper können uns weder das Leben geben noch dem Tod entziehen noch sonst letztlich über unser Leben verfügen. Wir können wirklich nur die letzten Wirklichkeiten, die über uns walten, anerkennen, gehorsam und demütig anerkennen. Die letzte Wirklichkeit: Gott, anerkennen. Was das heißt und wie das aussieht, mag uns eines der gewaltigsten Bibelworte sagen; Als Kind [habe ich es] in der Schule gelernt, nicht verstanden, nur geahnt, [es] hat mich begleitet, als Trauspruch und Lebensleitwort gewählt, im Amt und Dienst an Kranken- und Sterbebetten, im Gefängnis, an Gräbern[.] – Es hat mich nicht gewundert, daß in einem Briefe aus dem Kessel von Stalingrad zu lesen steht, daß einer in einer besonders dunklen Stunde seinen Kameraden diese Worte zur Aufrichtung gesagt habe. Und dann schreibt er noch, daß diese Worte nun wie eine große Plastik für immer vor seinen Augen stehen. 509 Welche sind’s? Aus dem 139. und 73. Psalm. Wir wollen sie hören: Der 139. Psalm Von Gottes Allwissenheit und Allgegenwart 1 Ein Psalm Davids, vorzusingen. HERR, Du erforschest mich und kennest mich. 2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. 3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. 4 Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht alles wissest. 5 Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. 6 Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. 7 Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? 8 Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. 9 Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, 10 so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. 11 Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. 12 Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. 23 Erforsche

508 509

Emanuel Geibel, Sprüche, in : Werke Bd.1, Leipzig-Wien 1918, 320. Pötzschs Freund Kurt Reuber (vgl. Brief Nr. 119).

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mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich's meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.

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Der 73. Psalm 23 Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, 24 du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich in Ehren an. 25 Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. 26 Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.

Zwei Gedankenreihen sind es, die zum echten Gottesglauben gehören. Zunächst der eine Gedankenkreis: An die letzte Wirklichkeit rückgebunden sein, das heißt, um eine Wirklichkeit wissen, die uns befiehlt und vor der wir verantwortlich sind. Mögen Zeit und Raum noch so groß und unermeßlich sein: Wir gehen nicht darin unter wie der Sand im Meer oder wie in einem großen Brei. Wir sind verantwortlich für jeden Gedanken, für jedes Wort, für jede Tat und für jedes Unterlassen in unaufhebbarer, grenzenloser Verantwortung. [handschriftlich: Adam, wo bist du? Kain, wo ist dein Bruder Abel?] In jedem Augenblick steht über uns Gottes Befehl: Du sollst oder du sollst nicht. Der Reichtum der 10 Gebote! Nicht Menschenerfindung, sondern Gottes Ordnung. Wo mißachtet, da Zerfall, Chaos, Untergang, Tod. Gegenwart! Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten!510 Menschen auf der Flucht vor Gott. Die Rede von der Selbstverantwortung. Wie schnell entlassen wir uns – im Augenblick der Versuchung, oft schon, wenn wir allein sind und kein menschliches Auge uns sieht. Zwei Lehrbuben in der Werkstatt. Der Meister ist fort. Mein Meister ist immer da. Beispiel: Soldat Laugisch.511 Die Worte der Verantwortlichkeit im 139. Psalm … Der zweite Gedankenkreis. Zur echten Religion gehört die Rückbindung als Geborgenheit. Beispiel: Die Hand Gottes von Auguste Rodin. 512 Nicht Schicksal, nicht Verhängnis, nicht Zufall, sondern Gottes Hand. Geborgenheit von Leben und Tod und Schicksal und Schuld. Lebensgeschichte, Volksgeschichte, Weltgeschichte. Schweizer Inschrift: confusione hominum et providentia Dei Helvetia regitur.513 Die Worte der Geborgenheit im 139. Psalm… [handschriftlich: + 73. Psalm / Damit zu Ende?] (Abb.22) 510

Gal 6,7. Person war nicht zu ermitteln. 512 Rodins Plastik inspirierte Pötzsch zu seinem Lied „Du kannst nicht tiefer fallen“. 513 Durch der Menschen Wirrungen und die göttliche Vorsehung wird die Schweiz regiert. 511

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Wie kann uns das alles gewiß werden? Durch Jesus Christus, den vollmächtigsten Offenbarer Gottes unter allen seinen Verkündern. Jüngste Vergangenheit hat es gelehrt, daß es eben nicht so ist, daß jeder nach Belieben Gott gleich nahe stünde und über Gottes Wesen und Wirklichkeit Aufschluß geben könnte und daß man nur in das eigene Herz hineinzuschauen und in die eigene Brust hineinzugreifen brauche, sondern dorthin gehen, wo die tiefsten Wirklichkeiten offenbar und anschaubar sind, [in] Christus. So mündet alles echte Fragen „Wie hältst du es mit der Religion?“ bei Jesus Christus. Auch heute! Von der Beantwortung = von der richtigen Beantwortung dieser Frage hängt die Richtigkeit, das Gelingen, die Erfüllung, das Vollbringen unseres Lebens ab. Im persönlichen Leben – Familie – Kirche – Volksgemeinschaft – Staat – Völkerwelt. Krisis im Volk, Abendland und Welt. [handschriftlich: Christus – Pantokrator hält die Weltkugel in seiner Hand514 = 1) Erfüllung des Du sollst-Gesetzes in der Liebe 2) Erfüllung der Gewißheit der Geborgenheit im todüberlegenen Leben!]Gesundung und Genesung unserer Zeit, unseres Lebens, Kraft zum Bestehen und zum Bewältigen, Freudigkeit und Zuversicht, Hilfsbereitschaft: Alles hängt an dieser einen Frage „Wie hältst du es mit der Religion?“ und der Antwort, die wir geben.

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Bildtypus des Heilands der Welt (Salvator mundi), wie er z.B. von Albrecht Dürer (ca. 1505, Metropolitan Museum of Art, New York) und Leonardo da Vinci (um 1500, Louvre Abu Dhabi) dargestellt wurde.

Singende Kirche Zur Liedersammlung „Singende Kirche“ Die in den Heften der „Singenden Kirche“ (1941/42) gesammelten Lieder und Tischgesänge, die Pötzsch in Den Haag drucken ließ, sind ein bedeutsames Zeugnis dafür, wie er als Marinepfarrer in Holland seine Erfahrungen in geistlicher Lieddichtung für die dortigen Deutschen Evangelischen Gemeinden verarbeitete. Der letzten Ausgabe der „Singenden Kirche“ von 1942, die die Hefte 1-3 enthält, wurden einführende Texte des Herausgebers Paul Kaetzke, 515 des Rotterdamer Pfarrers Hans Fischer,516 des Lieddichters Arno Pötzsch und des Kirchenmusikers Jacques Beers 517 sowie ein Text aus „Das Evangelische Deutschland“ (Nr. 11 vom 15. März 1942) über den „Choral im Kampf“ vorangestellt (S.3-14).Das dritte Heft hat außerdem ein Nachwort von Arno Pötzsch. Die Einführungen waren ursprünglich in einem separaten Begleitheft zusammengefasst. Von dem ultramarinblauen Ganzleinenband mit Goldaufdruck, der die Hefte 1-3 und das Begleitheft umfasst, wurde anscheinend nur eine geringe Stückzahl hergestellt.518 Nach Kriegsende war er bereits vergriffen. 519

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Paul Kaetzke (1901-1968) war dt. evangelischer Pfarrer und hatte gute Kontakte zu den Herrnhutern. Er kannte Pötzsch schon aus der Zeit, als er Pfarrer in Zschernitz gewesen war. Von 1936-1966 wirkte er in der Deutschen Evangelischen Gemeinde (DEG) in Den Haag. Während der NS-Zeit sympathisierte er mit Ideen der Bekennenden Kirche und half politisch Verfolgten in den Niederlanden, indem er sie auf dem Dachboden und in einem Raum hinter der Kirchenorgel versteckte. 516 Hans Fischer (1906-1970) war dt. evangelischer Pfarrer. Er wirkte 1934-1940 in der „Nederduitsch Hervormde Gemeente“ Amsterdam, dann seit 1940 bis zu seinem Tod in der Deutschen Evangelischen Gemeinde (DEG) in Rotterdam, die er im Sinne der Bekennenden Kirche führte. Nach Kriegsende war er auch für die Kriegsgefangenenseelsorge zuständig. Anlässlich des 90-jährigen Bestehens der DEG 1952 hielt Martin Niemöller einen Festgottesdienst in Rotterdam. 517 Vgl. A. G. Soeting, ‘Musicien d'avenir’. Leven en werk van Jacques Beers, in: Biografie Bulletin 18 (2008), 36-38; ders., Jacques Beers (1902-1947), ein unbekannter niederländischer Kirchenmusiker, in: I.A.H. Bulletin Nr. 39 (2011), 217-228. 518 Vgl. Pötzschs Rundbrief vom Juli 1942 (Nr. 78) und den Brief vom 12.10.1942 (Nr. 85). 519 Vgl. Pötzsch, Von Gottes Zeit und Ewigkeit, 6.

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Singende Kirche

Das mir vorliegende Exemplar, das Frau Elsa Plath, Uetersen, mir freundlicherweise zur Einsicht überließ, ist mit der handschriftlichen Widmung versehen: „Herrn Konteradmiral Plath / Holland, im Kriegsjahr 1943, / Arno Pötzsch, Marinepfarrer.“ Der Beschenkte, Joachim Plath (18931971), stammte wie Pötzsch aus Sachsen. Er war bis Ende Februar 1943 als Divisionschef für die Minensuchflottille Niederlande/Belgien verantwortlich. Da die Hefte schwer zugänglich sind, werden hier außer außer dem dem VerzeichVerzeichnis aller darin enthaltenen Lieder auch Pötzschs Einführung (Vom Werden der „Singenden Kirche“) und sein sein Nachwort Nachwort im im Wortlaut Wortlaut wiedergegeben. wiedergegeben. Kirche“)und Die 30 Lieder und 16 Tischgebete, die in Heft 1 bis 3 der „Singenden „Singenden KirKirche“ abgedruckt sind, werden in der originalen Reihenfolge jeweils jeweils mit mit anTitel und Incipit aufgeführt.520 Soweit bekannt, sind die Gesangbücher angegeben, in die einzelne Lieder später aufgenommen wurden. Liederverzeichnis Singende Kirche. Eine Folge geistlicher Gesänge für die Gemeinde von Marinepfarrer Arno Pötzsch und Organist Jacques Beers. [Heft 1], Den Haag 1941. 1. Tauflied Wir bringen dieses KindeleinEKG Sachsen 420 2. Morgenlied Vergangen ist die finstre Nacht521 3. Choral im Kampf Ich steh, Herr Gott, in deiner Hut 4. Abendmahlslied Du hast zu deinem AbendmahlEKG Hessen-Nassau 421; EKG Brandenburg 424; EG Hessen 227; Ev. Gesang- und Gebetbuch f. Soldaten, Ausgabe 1961, 40 5. Abendlied Nun sich der Tag zum Ende neigtDer Turmhahn, 1963, G161 6. Gott Du, Gott, du bist das Leben 520

Die Lieder werden in alphabetischer Folge aufgeführt bei Matthias Biermann, „Das Wort sie sollen lassen stahn“. Das Kirchenlied im „Kirchenkampf“ der evangelischen Kirche 1933-1945 (APLH 70), Göttingen 2011, 361f. 521 Zugleich Anfangszeile eines Gedichts von Eichendorff aus dessen Erzählung ‚Das Marmorbild‘: „Vergangen ist die finstre Nacht, / Des Bösen Trug und Zaubermacht, / Zur Arbeit weckt der lichte Tag; / Frischauf, wer Gott noch loben mag!“

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7. Das Letzte Ohne dich, das ist kein Leben! 8. Unverloren (Abb.23) Du kannst nicht tiefer fallenEG 533; Ev. Gesang- und Gebetbuch f. Soldaten 149; LebensrhYthmen 116; RG Schweiz 698. Singende Kirche. Tischgebete für die Gemeinde von Marinepfarrer Arno Pötzsch und Organist Jacques Beers. [Heft 2], Den Haag 1941 1. Heilig ist das Brot der Erden 2. Für diese Speise, diesen Trank 3. Was lebt, das lebt vom täglich Brot (das dank ihm recht) 4. Wer von Gottes Brot gegessen 5. a. Keiner rief sich selbst ins Leben [1. Weise] b. Keiner rief sich selbst ins Leben [2. Weise] 6. Wir leben allezeit 7. Wir bitten dich ums täglich Brot 8. Wir leben und wir essen 9. Herr, du hast gnädig uns beschert 10. Was lebt, das lebt vom täglich Brot (doch niemand lebt vom Brot allein) 11. Wir sagen, lieber Vater, Dank 12. Wir falten unsre Hände 13. Brot ist Gnade 14. Brot und Blut und Leib und Leben 15. Das braune Brot, das Gott uns gibt 16. Der du den Tisch bereitet hast Singende Kirche. Geistliche Gesänge für die Gemeinde von Marinepfarrer Arno Pötzsch und Organist Jacques Beers. [Heft 3], Den Haag 1942 1. Morgenlied Nun ist vorbei die finstre Nacht EKG Hessen-Nassau 454; EG Hessen 644; RG Schweiz 577. 2. Das Wort Es ist ein Wort ergangen EG Rheinland-Westfalen-Lippe/reformierte Kirche 590; EG Baden/Elsass-Lothringen/Pfalz 586; EG Württemberg S. 1055 (nur Text); RG Schweiz 256; EmK 196; BrG 386 u.a. Der Text entstand schon 1935. 3. Weihnacht Verschlossen war das Himmelszelt

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4. Glaubenslied Ich glaub an GOTT, der alles schafft 5. Christus Der da sprach: Es werde Licht! 6. Bekenntnis Das soll mir keiner wehren 7. Ostern Lass, Herr Christ, uns auferstehn 8. Wegfahrt Gib, Herr, mir dein Geleite 9. Trauung Wir stehn vor deinem Angesicht NAK-Gesangbuch 318 10. Aufbruch Herr Gott, in deinem Namen 11. Soldat vor Gott Herr Gott, wir sind Soldaten 12. Vaterland Herr Gott, in deine Hände 13. Beichte In Scham und Trauer steh ich hier 14. Abendmahl Du hast zu deinem Abendmahl 15. Tod Dein dunkler Bote, Herr und Gott 16. An Särgen Die Wegfahrt ist zu Ende 17. Totengedächtnis Herr Gott, vor deinem Angesicht 18. Jahrwende Das Jahr geht hin. Nun segne du EG Rheinland 551 19. Jahresanfang Ein neues Jahr bricht an 20. Wanderschaft Wir wandern unsre Lebenszeit 21. Allgegenwart Wo geh ich hin vor deinem Angesicht? 22. Trost Herr, vergangen bist du schier

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Vom Werden der „Singenden Kirche” (1942) Zu den erstaunlichen Tatsachen der Menschengeschichte gehört ohne Zweifel das Lied der Kirche, zu den erstaunlichen, weil es nach seinem tiefsten Gehalt immer ein Lied und ein Singen ist dennoch und trotz, trotz allen möglichen Erfahrungen, die nach menschlicher Meinung alles andere sind als Grund und Anlass zum Singen. Ob wir an die Märtyrer der alten Kirche oder die des 20. Jahrhunderts denken – man erinnere sich etwa der jungen baltischen Märtyrerin Marion von Klot, die ihren Mitgefangenen und der evangelischen Christenheit das Lied „Weiss ich den Weg auch nicht, du weisst ihn wohl“522 ins Herz gesungen und wert gemacht hat –, ob wir der Kampfzeit der Reformation oder der Notzeit des 30-jährigen Krieges gedenken – die Christen haben gesungen! Das, was sie singen machte, war allezeit das Wissen um die bergende Wirklichkeit ihres Gottes, um den Sieg ihres Herrn Jesus Christus; und diese Wirklichkeiten waren immer mächtiger als die Not, stärker als der Tod, grösser als die Schuld, beständiger als das über Menschen und Zeiten hinstürzende Schicksal. Und diese Wirklichkeiten bezeugt das Lied der Kirche als Verkündigung, in Anbetung und Lobpreis und selbst noch in der aus der Not geborenen Bitte, mit der Gebärde der Sehnsucht. Man mag sich das Paradoxe des Christlichen, die Spannung, wie sie auch und gerade in den Liedern und im Singen der Kirche zum Ausdruck kommt, etwa durch die erstaunlichen Worte zum Bewusstsein bringen, die jener russische Bischof seinen Henkern, vor deren Gewehren er stand, zurief: „Lebt wohl, ihr Toten, ich gehe zu den Lebendigen!“523 Dieses Wissen um todüberlegenes Leben, um ein alle Finsternisse durchbrechendes Licht, um die lebensmächtige Wirklichkeit Gottes ist der Urgrund, aus dem das Lied der Kirche erwächst. Eine stumme, verstummte Kirche widerlegt immer sich selbst. Als der evangelischen Kirche der Gegenwart in einem lange nicht erlebten Ausmasse das Wagnis des gefährlichen Lebens, der ungesicherten Existenz zugemutet und aufgetragen wurde, da erwachte in dieser zu tiefer Selbstbesinnung genötigten Kirche ein neues Lied, ein erneuertes Singen. In dieser Zeit schrieb ich meinen ersten Choral, in der leidenschaftlichen Erregung des Herzens ein Notlied, „Herr Gott, der Kirche dich erbarm“. In der Zeitschrift, in der dieses Notlied zuerst erschien, fand es ein Kirchenmusiker, Wolfgang Pahlitzsch, und er gab den Worten die Weise. In dieser Ge522

Hedwig von Redern schrieb 1901 dieses Gedicht. Mit der Melodie von John Bacchus Dykes wurde es zum Lieblingslied der baltischen Adligen Marion von Klot (18971919), die es im Zentralgefängnis von Riga jeden Abend für ihre Mitgefangenen sang. Mit 32 anderen Gefangenen wurde sie von Soldaten der Roten Armee erschossen. Das Lied ist u.a. abgedruckt im EG Rheinland 650. 523 Wahrscheinlich aus der russischen Revolution überliefert.

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stalt hat das Lied, weitergesagt und weitergesungen, den Weg in die Gemeinde gefunden. Einige andere Lieder gingen, auf die einfachste Weise immer wieder abgeschrieben und vervielfältigt, den gleichen stillen Weg wie das erste Lied. Nur hin und wieder erfuhr ich, wie von Kindern in der Fremde, dass die Lieder irgendwo aufgetaucht seien und gesungen würden; einige fand ich hier und da in einer Liedsammlung wieder. Hier muss ich eines jungen Kirchenmusikers gedenken, Wolfgang Hiltschers, 524| 7 | der meinen Worten ein paar schöne Weisen geschenkt hat und der aus seinem jungen Schaffen nun durch den frühen Soldatentod imOsten herausgerufen worden ist. – Wir standen schon im Kriege, als mir ein neues Gesangbuch einer deutschen evangelischen Kirche des Auslandes zugesandt wurde, das drei meiner Lieder mit neuen Weisen einheimischer Kirchenmusiker jenes Landes enthielt Dieses neue Gesangbuch wurde die unmittelbare Veranlassung zu den Liedheften „Singende Kirche” im Raume der Niederlande; denn es veranlasste Hans Fischer, den Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Rotterdam, zu der Frage, oh ich etwa noch mehr solcher Lieder hätte. Da gab ich ihm zusammen mit einem Taufliede für seinen Sohn Hans Michael, zugleich als schlichten Dank für ihn und seine Gemeinde, eine Anzahl neuer Lieder, die fastalle im Kriege, zumeist in jüngster Zeit, und unter dem Kriegserlebnis entstanden waren. Acht dieser Lieder, denen der Amsterdamer Organist Jacques Beers unterdessen schlichte, das Wort auslegende Welsen gegeben hatte, wurden im Sommer 1941 von Pfarrer Kaetzke, dem deutschen evangelischen Pfarrer in Den Haag, für die deutschen evangelischen Gemeinden in den Niederlanden in dem ersten Liedheft „Singende Kirche“ zusammengefasst und herausgegeben. Der Titel „Singende Kirche” schien uns der bezeichnendste, verpflichtendste Name zu sein. Der grössere Teil der Lieder erschien nach mancherlei kriegbedingten Verzögerungen erst im Frühjahr 1942 im 3. Heft der „Singenden Kirche“, kam aber gerade noch zurecht, die deutsche evangelische Gemeinde in Rotterdam am Gedenktage ihres 80 jährigen Bestehens zu grüssen. Zwischen den beiden Liedheften war als 2. Heft der „Singenden Kirche” eine Folge von 16 vertonten Tischgebeten erschienen. Diese Gesänge, von denen ihr Verfasser nur zu gut weiss, dass sie „Stückwerk” sind, wollen in aller Schlichtheit in unserer Sprache und für unsere Zeit die Wirklichkeit des uns in Christus offenbaren Gottes bezeugen, so wie vergangene Geschlechter es in ihrer Zeit und auf ihre Weise 524

Der u.a. in Leipzig wirkende Komponist Wolfgang Hiltscher (1913-1941) schrieb 1940 eine Weihnachtskantate, der der Choral „Der Tag, der ist so freudenreich“ zugrunde gelegt ist, und vertonte Pötzschs Tauflied „Wir bringen dieses Kindelein“ (HeideMünnich, 275).

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getan haben; wenn ihnen in der grossen singenden Kirche im Himmel und auf Erden das bescheidenste Räumlein angewiesen und vergönnt würde, dann wäre ihnen genug getan. Die Wirklichkeit Gottes, die da dennoch ist und über Bitten und Verstehen umfängt, will das Tauflied verkünden, das ein Menschenkind ins unbegriffene, unbegreifliche Leben hineingeleitet, das Trauungslied, das ein Menschenpaar auf seinem Wege in das Wagnis der engsten Lebensgemeinschaft auf Erden begleitet, das Morgenlied (I), das nach einer Nacht entstand, in der feindliche Flieger ihre todbringenden Lasten abgeworfen hatten. Dass die Lieder vom Tode angesichts des Todes und an den Gräbern entstanden sind, dort, wo wir heute die bergende Nähe Gottes verkünden dürfen, hat mancher gespürt und in seinen Briefen an mich ausgesprochen. In schlichter Selbstverständlichkeit und doch zugleich mit ringendem Gewissen, wissend um Schuld und Gnade, steht der mit Leib und Leben seinem Volk und Vaterland verpflichtete soldatische Mensch vor der Wirklichkeit Gottes, in ihr die Kraft seines Wagens und Tragens suchend und findend. Beicht- und Abendmahlslied, Glaubens- und Bekenntnislied, die Lieder von Weg und Wanderschaft, Abendlied und Trostlied – sie alle bezeugen den allmächtigen, barmherzigen Gott, in dem wir leben, weben und sind – dennoch und trotz allem!| 8 | Auch die Tischgebete wollen diesem Zeugnis dienen. Das Tischgebet, einst eine Selbstverständlichkeit, ist dem heutigen Menschen fast ganz abhanden gekommen, mit der frommen Sitte aber weithin auch die Andacht und die Ehrfurcht vor dem täglichen Brot. Ich hatte versucht, zunächst für die Tischgemeinschaft meines eigenen Hauses in der Sprache unserer Zeit und doch im Einklang mit der Einfalt des Tischgebets der Väter der unveräusserlichen Besinnung vor der Gnade des täglichen Brotes einen schlichten Ausdruck zu geben. Nur mit innerer Scheu habe ich das, was betend entstanden war, in andere Hände weitergegeben (das gilt auch von den Liedern); der Notstand des verloren gegangenen Tischgebets und der heisse Wunsch, dass wieder singende, betende Gemeinden entstehen mochten, liessen mich die Bedenken überwinden. Es bleibt nun nicht mehr viel zu berichten übrig. Aber das Schönste! Die Lieder werden gesungen – und das ist das Schönste, das einem Liede widerfahren kann! Zuerst wurden die neuen Lieder in den Niederlanden gesungen, bald darauf auch in vielen Gemeinden der Heimat; einige der Lieder haben sich im Fluge die Herzen gewonnen, wie zahlreiche Briefe bezeugen. Unvergesslich wird mir selbst jener von Pfarrer Fischer gehaltene Gottesdienst bleiben, in dem ich die Rotterdamer Gemeinde zum ersten Male den „Choral im Kampf“ singen hörte. Nachdem Orgel und Chor die notwendigsten Hilfen gegeben hatten, gehörte dieses Lied bald zum sicheren Bestand dieser singfrohen Gemeinde. Es ist wohl nicht von ungefähr, dass

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gerade die deutsche evangelische Gemeinde in Rotterdam die neuen Lieder zuerst gesungen und sich zu eigen gemacht hat, hat doch keine andere Gemeinde im Bereiche der Niederlande so wie diese die Schrecken und Zerstörungen des Krieges, den Tod als schier tägliche Bedrohung, das Licht der Sonne an jedem Morgen als kostbares Geschenk, das tägliche Brot samt allem, was Luther uns bei der 4. Bitte des Vaterunsers bedenken lehrte, als immer neue Gnade eines wunderlich-wunderbaren Gottes erfahren. In dieser Gemeinde haben die Lieder der „Singenden Kirche“ mithelfen dürfen, das durch den Krieg tief in Mitleidenschaft gezogene Gemeindeleben neu zu erbauen und zu festigen. Zuletzt ein Wort über die Tischgebete! Sie sind einigen Schwierigkeiten begegnet, etwa der Meinung, die Tischgesänge seien zu schwer, oder gar der verwunderten Frage: „Kann man denn Tischgebete auch singen? Gibt es das denn?“ Dazu ist zu sagen, dass es immer schon neben dem gesprochenen Tischgebet das Tischlied gegeben hat. Ein Blick in die Gesangbücher kann davon überzeugen. In den Herrnhuter Gemeinen habe ich so manches gesungene Tischgebet kennen gelernt; und schliesslich darf an unser schönes Lied „Nun danket alle Gott“ erinnert werden, das längst bevor es zum Soldatenchoral von Leuthen wurde, ein schlichter Tischgesang war, den der protestantische Pfarrer Martin Rinckart in der Notzeit des 30 jährigen Krieges für die Tischgemeinschaft seines Hauses gedichtet hatte. Und sind die neuen Tischgesänge „zu schwer”? Mehr als die Hälfte der 16 Tischlieder ist so einfach, dass in meinem eigenen Hause auch das jüngste Maidlein, das vierjährige, solch einfachen Tischgesang fest und sicher mit seinen Geschwistern singt. Wo man nicht dreistimmig singen kann, da singe man einstimmig und beginne etwa mit den Tischsprüchen 11 oder 6 oder 9, und geht‘s mit dem Singen durchaus nicht, dann spreche man getrost die Worte; die Hauptsache bleibt ja doch, | 9 | dass man bete! Vielleicht finden wir am ehesten einen Zugang zu den kurzen Sätzen, wenn wir sie als Stücke eines liturgischen Handelns verstehen. Manches der Worte könnte in der Liturgie, etwa einer Abendmahlsfeier oder des Erntedanktages, Verwendung finden. Die liturgische, betende Haltung eines echten Vor-Gott-stehens setzen diese Worte voraus, auch wenn sie nicht im Kirchenraum und am Altar, sondern mit gefalteten Händen am häuslichen Tische und vielleicht vor dem kargesten Mahle gesungen oder gesprochen werden. Alles liturgische Handeln aber erfordert Uebung, die Zucht einer festen Ordnung. Darum ist es für die Tischgesänge schwerer als für die Lieder, dienend und helfend Eingang in unseren Häusern und Gemeinden zu finden. Durch Gemeindesingstunden, aufFreizeiten, in festgefügten Kreisen können wir helfen, die Tischsprüche heimisch und vertraut zu machen. Es geht nicht darum, die Gemeinden mit Neuem, Fremdartigem zu belasten, sondern darum, dass neues Lied und

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neues Gebet zum Dienste angenommen werde, wo – wahrlich! – solcher Dienst bitter nötig geworden ist. Steht nicht fremd, gewaltig, fordernd, als ein Mass, von dem wir bekennen müssen, dass wir alle es nicht erreichen, das Wort jenes alten Frommen vor uns: „Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, so lange ich bin“?525 „Ach, wir ein jeder Puls ein Dank und jeder Odem ein Gesang!”526 Arno Pötzsch | 10 | Nachwort (1942) Die Liedhefte „Singende Kirche“ sind aus der kriegbedingten Begegnung zwischen den deutschen Pfarrern und Gemeinden in den Niederlanden und dem im gleichen Raume arbeitenden Marinepfarrer hervorgegangen. Es sollte in diesen den deutschen Gemeinden übergebenen Liedern ein schlichter Dank für die in aussergewöhnlicher, schicksalgefüllter Zeit den deutschen Soldaten und mir und meinen Mitarbeitern in Kirchen und Gottesdiensten, Häusern und Pfarrhäusern gewährten Heimatrechte abgestattet werden. Indem die deutschen Gemeinden die vom Amsterdamer Organisten J. Beers trefflich vertonten geistlichen Gesänge veröffentlichten, bahnten sie ihnen einen Weg, der bald weit über den Bereich der Niederlande hinaus führte, und liessen die „Singende Kirche“ zur Gabe einer auslanddeutschen Kirche an die Heimatkirche werden. Für diese Wegbereitung gebührt ein besonderer Dank der Deutschen Evangelischen Gemeinde Rotterdam und ihrem Pfarrer Hans Fischer, die in frohem, gemeinsamem Singen die neuen Lieder dem Wiederaufbau ihres im Kriege besonders schwer heimgesuchten Gemeindelebens dienstbar gemacht und unermüdlich nahe und ferne Freunde zum Mitsingen ermuntert haben; der Deutschen Evangelischen Gemeinde Rotterdam sei darum das vorliegende 3. Heft der „Singenden Kirche“ zugeeignet. Mögen die schlichten Gesänge die Gemeinde, die am Pfingstfest dieses Jahres 1942 auf 80 Jahre ihres Bestehens zurückblickt, ein Stück auf ihrem Wege begleiten und über alles Erinnern hinaus in ihr und durch sie mit erweisen helfen, dass lebendige Kirche immer singende Kirche ist! Das Lied der Kirche aber ist der Lobpreis ihres Herrn! ARNO PÖTZSCH

525 526

Ps 104,33. Aus dem Lied von Johann Mentzer „O dass ich tausend Zungen hätte“ (EG 330, 2).

Zeittafel 23.11.1900

Arno Pötzsch wird als zweites Kind seiner Eltern Oscar und Auguste Pötzsch, geb. Oesterlein, in Leipzig geboren. Sein Vater ist Angestellter und Verkäufer, seine Mutter Krankenschwester. Er hat eine Schwester, Magdalene.

1915

Lehrerseminar in Bautzen, Abbruch der Ausbildung wegen Krankheit. Vergeblicher Versuch, Zeichenlehrer zu werden.

1917

Der Vater stirbt im Alter von 63 Jahren und hinterlässt eine unversorgte Familie.

ab 1917

Arbeiter in einer Granatenfabrik, Kriegsfreiwilliger bei der Marine, Dienstzeit an Bord des Kriegsschiffes SMS Ostfriesland.

1918-1920

Kriegsende und Revolution. Landarbeiter, Schriftsetzer, Religionsseminar in Leipzig. Lebenskrise

1921ff

Rettende Kontakte zur Brüdergemeine Herrnhut, Leben in Herrnhut bei Familie Winter, Erzieher in Kleinwelka

1923-1924

15monatiger Dienst beim 10. Infanterieregiment in Löbau in der vergeblichen Hoffnung, Offizier zu werden

1925

Mittlere Reifeprüfung (das „Einjährige“) in Bautzen

1925-1927

Missions- und Bibelschule Herrnhut mit Abschluss

1927-1928

Erneut Erzieher in Kleinwelka (für Stipendium)

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Zeittafel

1928-1930

Besuch des Sozialpädagogischen Seminars in Leipzig mit Abschluss, Tätigkeit in den Wohlfahrtsämtern Zittau und Leipzig sowie als Gerichtshelfer in Halle, Jugendamt-Fürsorger in Görlitz und Leipzig (jugendliche Erwerbslose)

Sommer 1930

Ehe mit Helene Bosse, Fürsorgerin in der Blindenfürsorge und Inneren Mission Leipzig. Dem Ehepaar werden vier Töchter geboren: Kathrin, Christiane, Sabine und Renate. Reifeprüfung am Gymnasium für Hochbegabte

1931

Anerkennung als Fürsorger

1930-1934

Hebräisch-, Griechisch- und Lateinprüfung, Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Leipzig, nach 8 Semestern 1. theologisches Examen. Erste geistliche Gedichte.

Frühjahr 1935

Die erste Pfarrstelle im sächsischen Wiederau/Ephorie Rochlitz

1936

Ordination zum Pfarrer in Wiederau, 2. theologisches Examen. Tod der Mutter in Chemnitz

Januar 1938

Vom evangelischen Feldbischof Dr. Dohrmann für die Wehrmachtsseelsorge benannt und als Marinepfarrer in das Standortpfarramt Cuxhaven mit Helgoland berufen, in der Cuxhavener Garnisonkirche auch Gottesdienste und Amtshandlungen für die Zivilgemeinde übernommen

1939-1945

Zweiter Weltkrieg

Mai 1940

Nach Einmarsch der Deutschen in Holland zum Stab eines Marinebefehlshabers kommandiert, Marinepfarrer, seit 1944 Dienstaufsicht führender Marineoberpfarrer in den Niederlanden und z.T. in Belgien. Pötzschs Aufgaben sind Gottesdienste, Beerdigungen, Begleitung von zum Tod Verurteilten, Schriftwechsel

Zeittafel

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mit den Hinterbliebenen, Gefängnis- und Lazarettbetreuung. Wegen Bombardierungsgefahr kehrt die Familie nach Wiederau zurück und findet anschließend bis zum Kriegsende eine Bleibe in Goslar. 1941-1942

Geistliche Gedichte werden vertont und erscheinen als Privatdruck in Den Haag unter dem Titel „Singende Kirche“ in drei Heftfolgen, dann mit einem Begleitheft in einem Band.

1945

Nach dem Einmarsch der Engländer Internierung in Funnix/Ostfriesland. Seelsorgliche Aufgaben an den Internierten, ab Oktober seelsorgliche Begleitung der Minenräumboote (ehemalige deutsche Marine unter englischem Kommando) an der Elbmündung und der Nordsee. Diese gefährliche Arbeit dauert bis Ende 1947.

1946-1952

Bei Nölke in Hamburg erscheinen die Sonette „Die Madonna von Stalingrad“ (1946) und „Brot ist Gnade – Tischgebete“ (1946). Im Evangelischen Verlag Herbert Reich, Hamburg-Bergstedt, folgen Gedichtbände: „Von Gottes Zeit und Ewigkeit – Worte und Lieder einer Wegfahrt“ (1947), „Gottes Gabe täglich Brot – Tischgebete und Tischgesänge“ (1948), „Mensch in Gottes Fährte – Geistliche Gedichte und Lieder“ (1952). „Das Cuxhavener Christgeburtspiel“ (Bärenreiter Verlag, Hamburg 1952), „Der Tag hat sich geneiget. Vom getrosten Alter“ (Verlag Johannes Kiefel, Wuppertal-Barmen 1955).

1946

Am 17. Februar Rede zum Gedenken an den Pfarrer, Arzt und Künstler Kurt Reuber in der Dorfkirche zu Wichmannshausen. Die Schwester Magdalene stirbt im Alter von 47 Jahren an Tuberkulose. Pötzsch hält in Cuxhaven selbst die Trauerfeier

März 1948

Einführung durch Landesbischof Schöffel als Gemeindepfarrer in der vertrauten Cuxhavener Kirche

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Zeittafel

1948ff

Gemeindepfarrer an der Garnisonkirche, die 1950 den Namen Petri-Kirche erhielt. Daneben Leiter des Ev. Hilfswerks Cuxhaven, Bemühungen um soziale Randsiedler und Flüchtlinge, „Weihnachtsfeier der Einsamen“ an Heiligabend, Initiative bei der Errichtung der Kriegsgräber-Gedenkstätte auf dem Friedhof Cuxhaven-Brockeswalde und den Ausbau des Soldatenfriedhofs

19.4.1956

Unerwarteter Tod im Alter von 55 Jahren nach einer Blinddarmoperation in Cuxhaven

1960ff

Posthum erscheinen, hrsg. von Helene Pötzsch: „Gnade und Wagnis – Geistliche Lieder und Gedichte“ (Reich Verlag, Hamburg 1956), dann im Verlag Junge Gemeinde, Stuttgart, „Was Leben ist, weiß Gott allein – Geistliche Lieder zum Kirchenjahr“ (1962), „Dennoch in Gott geborgen – Geistliche Gedichte“ (1962) und „Wer kann’s ergründen? – Gedichte zum Tageslauf und Jahreskreis“ (1963), die letzten drei Bände auch als Sammelband unter dem Titel „Sein Wort geht durch die Zeiten“ (1963).

1979

Tod von Helene Pötzsch

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1. Arno Pötzsch als junger Matrose, 1917

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2. Helene Pötzsch, geb. Bosse, ca. 1930

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3. Arno Pötzsch in der Uniform des Marinepfarrers, ca. 1940

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4. Ehepaar Pötzsch mit Töchtern, März 1940

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5. Arno Pötzsch, undatiertes Foto, ca. 1938

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6. Seitentür des Gefängnisses in Schevenigen („Oranjehotel“), durch die die Todeskandidaten nach draußen geführt wurden, um auf der Waalsdorpervlakte nördlich von Den Haag erschossen zu werden. Foto: 2008

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7. Marinepfarrer Pötzsch. Gemälde von G. van der Velde, 1941

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8. Jacques Beers, undatiertes Foto

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9. Garnisonkirche Cuxhaven und Pfarrhaus

10. Garnisonkirche, Innenraum, zur Zeit von Arno Pötzsch

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11. Arno Pötzsch, undatiertes Foto, ca. 1950

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12. Arno Pötzsch in seinem Amtszimmer, ca. 1938

13. Mann im Rad, Bildpostkarte, 1954

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14. Garnisonkirche,Innenraum, Garnisonkirche, Innenraum,Oktober Oktober2017 2017 14.

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15. Grab von Arno und Helene Pötzsch auf dem Friedhof Cuxhaven-Brockeswalde, Oktober 2017

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16. Aart van der Poel, ca. 1945

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17. Hotel De Wittebrug, Den Haag, Anfang der 1960er Jahre. Hier hatte Pötzsch sein Büro.

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18. Käthe Neubauer, ca. 1940

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19. Gekappte Linden. Zeichnung von Arno Pötzsch, ca. 1932

20. Zur Kur in Bad Wiessee, ca. 1954

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21. Heldengedenktag 1942. Anfang des Predigtmanuskripts

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22. Wie hältst du es mit der Religion?, 1946/47. Letzte Seite des Manuskripts

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23. Du kannst nicht tiefer fallen. Erstdruck in „Singende Kirche“, 1941

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24. Vorsatzblatt der Lutherbibel von Pötzsch

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25. Arno Pötzsch, ca. 1954

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Bildnachweise Nr.1-5, 9-13, 18-25: Nachlass Arno Pötzsch, Unitätsarchiv Herrnhut Nr.6: Wikipedia, Foto: P.L. van Till, nl.wikipedia Nr.7: Privatbesitz Schipper. Foto: Heymel Nr.8: Nederlands Muziek Instituut, Den Haag Nr.14, 15: Foto Heymel Nr.16: Ministerie van Defensie, Fotosammlung des Nederlands Instituut voor Militaire Historie (NIMH) Nr.17: Privatarchiv Heymel

Bibliographie Im Folgenden wird nur Literatur zu Pötzsch und zur Besatzung der Niederlande aufgeführt. Alle weiteren Titel sind in den Anmerkungen nachgewiesen.

A. Zu Arno Pötzsch Detlev Block, Das Lied der Kirche. Gesangbuchautoren des 20. Jahrhunderts I: Arno Pötzsch, Otto Riethmüller, Rudolf Alexander Schröder, Lahr 1995, 11-54 Arno Pötzsch, Sagt, dass die Liebe allen Jammer heilt. Geistliche Lieder und Gedichte. Mit einer Einführung in Leben und Werk hrsg. von Detlev Block, Stuttgart 2000 Sonja Matthes, In Gottes Hand. Arno Pötzsch. Ein Lebensbild, Hannover 2000 Aart van der Poel, Vijand – Vriend – Broeder. Arno Pötzsch in Nederland 19401945, Voorburg 2003 Bert van Gelder, Deutsche Betreuung in dem holländischen Polizeigefängnis der SIPO/des SD in Scheveningen während des Krieges, in: Militärseelsorge 43 (2005), 101-118 Marion Heide-Münnich (Hrsg.), Arno Pötzsch. Im Licht der Ewigkeit. Geistliche Lieder und Gedichte, Leinfelden-Echterdingen 2008 Michael Heymel, Der Pfarrer und Dichter Arno Pötzsch. Bericht über ein Symposium im Kloster Kirchberg, in: Hessisches Pfarrblatt 2/2016, 56-59 Meinem Gott gehört die Welt. Quatember 80 (2016), Heft 3: Themenheft mit drei Aufsätzen zu Arno Pötzsch von Frank Lilie und Herbert Naglatzki

B. Zur Besatzung der Niederlande Ger van Roon, Zwischen Neutralismus und Solidarität. Die evangelischen Niederlande und der deutsche Kirchenkampf 1933-1945, Stuttgart 1983 Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940-1945 (Studien zur Zeitgeschichte Bd. 25), Stuttgart 1984 Aart van der Poel, Sjaloom Papa, Kampen 1995 Geert Mak, Das Jahrhundert meines Vaters, München 42005 Johannes Koll, Arthur Seyss-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940-1945), Wien 2015 Barbara Beuys, Leben mit dem Feind. Amsterdam unter deutscher Besatzung 19401945, zuerst München 2012, dtv 34890, München 2016

Danksagung Christian Hählke, seinerzeit Pfarrer in Höchstenbach im Westerwald, wies mich vor Jahren auf den Nachlass von Arno Pötzsch hin, der gesichert und erforscht zu werden verdiene. Damals fehlte mir die Zeit, um dem Hinweis nachzugehen. 2016 nahm ich an einer Tagung der Michaelsbruderschaft im Kloster Kirchberg teil, die mir eine intensive Begegnung mit dem Dichter und Pfarrer vermittelte. Durch sein Morgenlied „Nun ist vorbei die finstre Nacht“ kannte ich ihn schon seit langem. Ich bin dankbar, dass ich – inzwischen vom regelmäßigen Pfarrdienst ‚entpflichtet‘ – endlich den Winken folgen konnte, die mich auf Pötzschs Tätigkeit als Marinepfarrer in den Niederlanden aufmerksam machten. Diese fünf Jahre von 1940 bis 1945, für ihn vermutlich die schwersten seines Lebens, ließen sich mit Hilfe von Quellen, die bisher kaum oder überhaupt nicht ausgewertet worden waren, genauer dokumentieren. Daraus entstand das Porträt eines Seelsorgers, der seinem Volk und Vaterland dienen wollte, als Offizier der Besatzungsarmee des NS-Regimes diente und den Leidtragenden und Hilfesuchenden mit dem Trost des Evangeliums beizustehen suchte. Eine Reihe von Personen und Institutionen haben mich bei der Vorbereitung dieses Buches unterstützt. Zuerst danke ich den Töchtern von Arno Pötzsch, Sabine Schipper (Bad Rothenfelde), Kathrin Schlee (Mörlenbach), Christiane Unger (Scharnhorst) und Renate Groß (Weinheim), die mir Einsicht in wertvolle Dokumente aus ihrem Privatbesitz gewährt und in Kopie zur Verfügung gestellt haben. Für ihre Unterstützung danke ich sodann der Abteilung Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg, der Deutschen Dienststelle (WASt) Berlin, dem Ev. Zentralarchiv Berlin (EZA) und der Stadtbibliothek Cuxhaven. Dr. Stephan Huck, Leiter des Deutschen Marinemuseums, und Pastor Frank Morgenstern (beide Wilhelmshaven) machten mich auf den Nachlass von Marinedekan Ronneberger aufmerksam. Informationen zur Biographie von Pötzsch und zur Würdigung seines Wirkens in Cuxhaven nach Kriegsende hat mir Superintendentin i.R. Almuth von der Recke (Bremen) zugänglich gemacht. Kirchenarchivdirektor Holger Bogs (Darmstadt), Pastor Manfred Gruhn (Cuxhaven) und Pastor Harald Storz (Göttingen) halfen mir mit Hinweisen und Auskünften weiter. Der Evangelische Militärbischof in Berlin, Dr. Sigurd Rink, war so freund-

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Danksagung

lich, ein Geleitwort beizusteuern. Die Nordkirche, die Ev.-Lutherische Landeskirche Sachsens und die Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat haben den Druck mit Zuschüssen gefördert. Ihnen allen sage ich herzlichen Dank. Last not least danke ich Frau Lektorin Susanne Fischer von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt für die Betreuung des Buchprojekts und meinem Sohn Christian Heymel für seine wertvolle Hilfe beim Erstellen der Druckvorlage. Wiesbaden, im Dezember 2018

Michael Heymel