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German Pages 183 [186]
Michael Bordt Aristoteles’ ›Metaphysik XII‹
WERKINTERPRETATIONEN
Michael Bordt
Aristoteles’ ›Metaphysik XII‹
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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ISBN-13: 978-3-534-15578-5 ISBN-10: 3-534-15578-1
Inhalt Vorwort Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1 Das philosophische Projekt
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Kapitel 2 Die Veränderung – Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Kapitel 3 Die Veränderung – Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
Kapitel 4 Die Identität und Verschiedenheit der Prinzipien – Teil I . . . . . . .
59
Kapitel 5 Die Identität und Verschiedenheit der Prinzipien – Teil II
72
. . . . . .
Kapitel 6 Die Existenz und Eigenschaft der unbeweglichen ousia – Teil I
. . .
85
Kapitel 7 Die Existenz und Eigenschaft der unbeweglichen ousia – Teil II . . .
99
Kapitel 8 Die Anzahl der unbeweglichen ousiai . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Kapitel 9 Die Vernunft und ihre Objekte
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Kapitel 10 Die Teleologie der Welt und die Probleme alternativer metaphysischer Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Abkürzungen der Werke von Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Vorwort Es gibt keinen zweiten Text in der antiken Philosophie, den ich so spannend finde wie das zwölfte Buch der Aristotelischen Metaphysik. Die Beschäftigung damit begleitet mich, seit ich angefangen habe, Philosophie zu studieren. Friedo Ricken hat mich 1984 mit dem zwölften Buch in einer Vorlesung zur antiken Philosophie vertraut gemacht; Michael Frede hat im Herbst 1995 in Oxford ein Seminar darüber gehalten, und im Anschluss daran hat sich eine Lesegruppe gebildet, in der u. a. Edmund Hussey, Verity Harte, Jonathan Beere, Lesley Brown, Lindsay Judson und Michael Frede über ein Jahr den Text genau studiert haben. Ich habe das zwölfte Buch dreimal unterrichtet, einmal zusammen mit Oliver Primavesi, bei einer anderen Gelegenheit vor einer kleinen Gruppe in Schweden, in der Martin Kowarsch mir geholfen hat, das schwierige vierte Kapitel ein wenig besser zu verstehen. Nie hat der Text etwas von seiner Tiefe, seiner Frische, aber leider auch von seinen Schwierigkeiten verloren. Es gibt zum zwölften Buch sehr gute Fachliteratur, und gerade in den letzten zehn Jahren hat unser Verständnis um das zwölfte Buch große Fortschritte gemacht. Am wichtigsten ist ohne Zweifel ein von Michael Frede und David Charles herausgegebene Kommentarband zum zwölften Buch. Der Band ist aus dem 10. Symposion Aristotelicum entstanden, das im August 1996 in Oxford stattgefunden hat. Verschiedene Philosophen kommentieren in diesem Band jeweils eines der zehn Kapitel des zwölften Buches. Die Art der Kommentierung bringt es mit sich, dass teilweise ganz unterschiedliche Interpretationen des zwölften Buches vertreten werden. Demgegenüber argumentiere ich im vorliegenden Buch für eine bestimmte Gesamtsicht des zwölften Buches, ohne aber die davon abweichenden Positionen zu kurz kommen zu lassen. Der Oxforder Kommentarband wäre nicht möglich ohne ein älteres Buch zur gesamten Aristotelischen Metaphysik, das auch heute noch von unschätzbarem Wert ist. Gemeint ist der 1924 in Oxford erschienene zweibändige Kommentar zur Metaphysik von William Ross. Wer Aristoteles’ Metaphysik studieren möchte, wird sinnvollerweise mit Ross beginnen, selbst dann, wenn einige Auffassungen von Ross, insbesondere diejenigen, die das zwölfte Buch betreffen, teilweise als überholt gelten können. Die vorliegende Einführung möchte dabei helfen, sich den Text des zwölften Buches zu Eigen zu machen. Meiner Übersetzung des griechischen Textes liegt diejenige von Hermann Bonitz aus dem Jahr 1890
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Vorwort
zugrunde, die ich allerdings (mit Ausnahme längerer Passagen im achten Kapitel) oft stark verändert habe. Die Übersetzung ist zu Beginn des jeweiligen Kapitels gegliedert gedruckt, der auf die Übersetzung folgende Kommentar bezieht sich auf die jeweiligen Gliederungspunkte in der Übersetzung. Der Kommentar zielt darauf, den Originaltext zu verstehen, und möchte vor allem inhaltliche Fragen klären, aber auch zeigen, wie man sich einem Aristotelestext nähern sollte, was für Fragen man an ihn stellen sollte und was bei seiner Interpretation methodisch zu beachten ist. Das Buch ist also nicht für den Aristotelesexperten geschrieben, sondern für denjenigen, den interessiert, worum es in der Aristotelischen Metaphysik eigentlich geht. Meine Hoffnung ist, dass auch diejenigen, die sich schon einige Zeit mit Aristoteles beschäftigt haben, in dem Band noch Anregungen finden werden. Da das Buch auch für Anfängerinnen und Anfänger verständlich sein soll, habe ich an vielen Stellen darauf verzichtet, auf Parallelstellen aus anderen Büchern der Metaphysik oder anderen Werken von Aristoteles aufmerksam zu machen. Ich habe stattdessen versucht, das, was zum Verständnis eines jeweiligen Abschnittes des zwölften Buches an Hintergrundwissen notwendig ist, zu referieren. Der Kommentar von Ross bietet eine Fülle von Parallelstellen an, auf die ich den interessierten Leser an dieser Stelle ausdrücklich verweisen möchte. Ich habe auch darauf verzichtet, genauer die Fragen zu diskutieren, die Aristoteles’ Umgang mit der philosophischen Tradition betreffen; an manchen Stellen setzt sich Aristoteles mit Auffassungen auseinander, die einige Vorsokratiker oder Platon seiner Meinung nach vertreten haben. Inwiefern Aristoteles seine Vorgänger dabei sachgemäß interpretiert oder inwiefern er sie durch sein eigenes systematisches Interesse schon verzerrt darstellt (und dann vielleicht auch zu Unrecht kritisiert), wird in dem vorliegenden Band nicht wirklich diskutiert. Eine weitere schmerzhafte Einschränkung besteht darin, dass auf die reiche Wirkungsgeschichte des zwölften Buches nicht eingegangen wird. Das Buch hätte sein bescheidenes Ziel erreicht, wenn es den Lesenden hilft, die ausgesprochene Kühnheit und Kraft des Textes selbst wertschätzen zu lernen – eine Kühnheit und Kraft, die man sonst vielleicht noch in den großen Dramen Shakespeares oder den späten Streichquartetten von Beethoven finden mag. Ich bin Michael Frede, Christoph Horn, Martin Kowarsch und Anna Schriefl dankbar dafür, dass sie das Manuskript kritisch gelesen und mich vor manchen Fehlern bewahrt haben. Meinen Eltern danke ich für die sorgfältige Korrektur der Endfassung. München, im April 2006
Michael Bordt S.J. ([email protected])
Einleitung 1. Was ist Metaphysik? Was ist die Wirklichkeit? Was ist eigentlich alles wirklich? Was gibt es alles? Wie ist die Wirklichkeit konstituiert? Was müssen wir verstehen, wenn wir die Wirklichkeit als Ganze verstehen wollen? Welche Begriffe müssen wir gebrauchen, wenn wir die Wirklichkeit adäquat erfassen wollen? Oder, mit Goethes Faust: Was ist es, das „die Welt im Innersten zusammenhält“? Es sind solche und ähnliche Fragen, die einen Philosophen, der Metaphysik betreibt, bewegen, und auf die er Antworten zu formulieren sucht. Metaphysische Fragen sind keine neuen Fragen, sondern so alt wie die Philosophie selbst. Zwar stammt der Begriff Metaphysik wohl erst aus dem 1. Jh. v. Chr., der Sache nach beginnt aber die abendländische Philosophie mit Fragen, die später dann innerhalb der Metaphysik abgehandelt worden sind. Dabei sind von Anfang an zwei Grundintuitionen leitend. Die erste Grundintuition ist, dass unsere Wirklichkeit nicht einfach dadurch beschrieben werden kann, dass man aufzählt, was es alles in ihr gibt, sondern dass unsere Wirklichkeit strukturiert ist, und es die Aufgabe ist, diese Struktur der Wirklichkeit zu beschreiben. Die zweite Grundintuition, die allerdings seit der Neuzeit nicht mehr von allen Metaphysikern geteilt wird, besteht darin, dass sich die Vielfalt der Dinge in unserer Wirklichkeit von einem einzigen Prinzip oder von einigen wenigen Prinzipien her verstehen lässt. Den ersten Versuch, die Fülle der Wirklichkeit zu strukturieren und von einem Prinzip her zu verstehen, finden wir bei Hesiod (ca. 700 v.Chr.). Hesiod konzipiert eine Weltentstehungslehre, an deren Anfang das Chaos steht. Aus dem Chaos entwickelt sich die ganze Fülle der Wirklichkeit. Zunächst gebiert das Chaos Gaia, die Erde, dann zeugt Gaia zusammen mit Uranos, dem Himmel, verschiedene Kinder, zu denen beispielsweise Okeanos, das Meer, und Mnemosyne, die Erinnerung, gehören. Diese Kinder zeugen wiederum andere Kinder, die für bestimmte Naturphänomene oder auch seelische Phänomene stehen, und so wird durch eine Art großen Stammbaum, an dessen Anfang Chaos als einziges Prinzip steht, die ganze Wirklichkeit geordnet und strukturiert. Thales (ungefähr 100 Jahre nach Hesiod), den Aristoteles als ersten Philosophen bezeichnet, knüpft an Hesiods Projekt an, die Fülle der Wirklichkeit von einem einzigen Prinzip her zu verstehen. Er meint aber, dass das Wasser (und damit nicht das Chaos) der Ursprung oder das Prinzip der gesamten Wirklichkeit sei. Spätere
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Philosophen haben ihm widersprochen: Nicht das Wasser, sondern die Luft oder das Seiende oder die Atome seien das Prinzip oder die Prinzipien aller Wirklichkeit. Den ohne Zweifel wichtigsten Beitrag zur Metaphysik vor Aristoteles hat Platon (428/7–347), Aristoteles’ Lehrer, geleistet. Platon hat auf die Frage nach der Beschaffenheit unserer Wirklichkeit eine Antwort gegeben, die unter dem etwas missverständlichen Namen ,Ideenlehre‘ bekannt geworden ist.1 Platon zufolge ist unsere sichtbare Wirklichkeit gar nicht die eigentliche Wirklichkeit, sondern vollständig von einer nicht sinnlich wahrnehmbaren und nur durch Denken zu erfassenden Wirklichkeit abhängig. In diesem nur durch das Denken zu erfassenden Wirklichkeitsbereich gibt es Dinge, die er mit verschiedenen Namen bezeichnet: die Formen oder die Ideen oder die Naturen usw. Es ist die Aufgabe des Philosophen (bzw. des Metaphysikers), diesen Wirklichkeitsbereich zu erforschen. In einer extrem vereinfachten Form könnte man sagen, dass es Platon zufolge beispielsweise einen gesunden Menschen nur dann geben kann, wenn es die Idee des Menschen und die Idee der Gesundheit gibt. Die Ideen oder Formen sind bei Platon noch einmal hierarchisch geordnet. Was an der Spitze der Hierarchie steht, wird nicht immer einheitlich bezeichnet (obwohl es der Sache nach vielleicht ein und dieselbe Idee sein kann): Manchmal nennt er es die Idee des Guten, in anderen Dialogen die Vernunft, das Schöne oder das Eine. Wir werden im zwölften Buch immer wieder sehen, dass und wie sich Aristoteles mit Platons metaphysischer Konzeption auseinandersetzt. Seine Hauptkritik ist, dass die obersten Prinzipien keine Ideen sind. Über aller Kritik übersieht man aber leicht, wie viel Aristoteles im zwölften Buch mit Platon gemeinsam hat. Auch Aristoteles wird annehmen, dass das oberste Prinzip das Gute ist, und dass das Gute als Vernunft verstanden werden muss. Auch wenn die verschiedenen Philosophen also unterschiedliche Antworten auf die Frage geben, wie das erste Prinzip oder die ersten Prinzipien zu bestimmen sind, ist doch allen die Überzeugung gemeinsam, dass sich die Vielfalt der Wirklichkeit von einem oder wenigen Prinzipien her verstehen lässt. In diesem Kontext stehen auch die Überlegungen, die Aristoteles im zwölften Buch seiner Metaphysik entwickelt.
2. Das zwölfte Buch im Kontext der Metaphysik Wenn sich jemand einen Roman kauft, der, ähnlich wie die Aristotelische Metaphysik, in vierzehn größere Bücher gegliedert ist, wird er kaum auf die Idee kommen, nur das zwölfte Buch lesen zu wollen. Der vorliegende Kommentar beschäftigt sich aber ausschließlich mit dem zwölften Buch, das mit dem griechischen Buchstaben Λ, Lambda, abgekürzt wird.2 Wie sinnvoll ist es, lediglich einen Teil der Aristotelischen Metaphysik aus
Einleitung
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dem Ganzen herauszunehmen und für sich zu studieren? Müsste man nicht zunächst die vorhergehenden elf Bücher lesen? Die Frage beantwortet sich zu einem Teil schon, wenn wir zur Kenntnis nehmen, um was für eine Art von Buch es sich bei der Metaphysik des Aristoteles handelt. Die Metaphysik ist kein einheitliches Werk, sondern eine Sammlung von vierzehn verschiedenen Büchern, die mehr oder weniger durch ein gemeinsames philosophisches Forschungsprogramm miteinander verbunden sind. Dabei sind die vierzehn Bücher selbst uneinheitlich. Das zweite und das elfte Buch sind nicht von Aristoteles selbst, sondern von seinen Schülern verfasst worden. Drei Bücher sind eigenständige Schriften: Das fünfte Buch ist eine Art Lexikon, in dem 30 verschiedene Begriffe der Aristotelischen Philosophie erläutert werden. Das zehnte Buch ist eine eigenständige Abhandlung über das Eine und damit verwandte Begriffe, und auch unser zwölftes Buch ist eine eigenständige Schrift. Selbst dann, wenn alle anderen dreizehn Bücher der Metaphysik verloren gegangen wären und wir nur das zwölfte Buch hätten, würden wir nicht vermuten, dass das zwölfte Buch ein Teil eines umfassenderen Projektes gewesen ist. Es ist also sowohl sinnvoll als auch möglich, das zwölfte Buch aus sich heraus zu verstehen.3 Auch wenn Lambda eine eigenständige Schrift ist, steht das Buch mit einem guten Grund an zwölfter Stelle innerhalb der vierzehn Bücher der Metaphysik. Dazu muss man zunächst zur Kenntnis nehmen, wie diese vierzehn Bücher überhaupt zu einem Werk verbunden worden sind. Dass wir heute die vierzehn Bücher zusammen zu der Metaphysik des Aristoteles vereinigt finden, ist das Verdienst von Andronikos von Rhodos, der im 1. Jh. v. Chr. gelebt und die Schriften des Aristoteles herausgeben hat. Von Andronikos stammt vermutlich auch der Titel der Schrift, Metaphysik.4 Der griechische Ausdruck für ,Metaphysik‘ ist ,ta meta ta physika‘ und bedeutet wörtlich ,die nach den physikalischen ‘. Manche Forscher haben gemeint, der Titel sei lediglich bibliographisch zu verstehen: In antiken Bibliotheken hätten die vierzehn Bücher der Metaphysik offenbar im Regal hinter den Büchern der Physik (die Aristoteles ebenfalls geschrieben hat) gestanden. Die meisten Interpreten nehmen aber mit gutem Grunde an, dass selbst dann, wenn dieses so gewesen wäre, es dafür einen sachlichen Grund gibt: Die Metaphysik baut auf der Physik auf, und in unserer Interpretation des zwölften Buches der Metaphysik werden wir diesem Zusammenhang auf Schritt und Tritt begegnen. Dass die Anordnung der vierzehn Bücher innerhalb der Metaphysik, wie wir sie heute vor uns haben, auf Andronikos von Rhodos zurückgeht, ist unbestritten. Das bedeutet aber nicht, dass nicht schon Aristoteles selbst zumindest einige Bücher in einen sachlichen Zusammenhang stellen wollte. Aus einem Kommentar zur Metaphysik aus dem 6. Jahrhundert n.Chr. erfahren wir, dass Aristoteles ein Werk geschrieben hat, das man als
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eine Art Grundstock der Metaphysik betrachten kann. Dieses Werk hat Aristoteles zur Begutachtung einem Schüler geschickt, und dieser hat gemeint, man könne das Werk nicht in seiner vorliegenden Form einem breiten Publikum zugänglich machen. Aristoteles, so erfahren wir, hatte nicht die Zeit, das Werk noch einmal gründlich zu überarbeiten, und seine Schüler, die nicht gewagt hätten, an den Schriften etwas zu verändern, hätten die Lücken, die sie im Werk empfanden, nach dem Tod von Aristoteles durch andere Schriften von ihm ausgefüllt.5 Auch wenn der MetaphysikKommentar, aus dem wir diese Informationen haben, beinahe 1000 Jahre nach Aristoteles verfasst worden ist, ist es trotzdem möglich, dass das, was der Verfasser uns überliefert, der Wahrheit entspricht. Wie dem auch sei: Für seine Version spricht die Tatsache, dass sich durch viele der vierzehn Bücher tatsächlich so etwas wie ein roter Faden hindurchzieht, und es ist plausibel anzunehmen, dass dieser rote Faden auf Aristoteles zurückgeht. Dieser rote Faden beginnt mit dem ersten Buch,6 dem Buch Α (Alpha), einer Art Einleitung in das gesamte Projekt. Aristoteles fragt im ersten Buch u. a. danach, was eigentlich die erste Philosophie ist. Die erste Philosophie, d. h. das, was dann später ,Metaphysik‘ genannt werden wird, wird u. a. auch als theologische Wissenschaft bezeichnet, weil sie Gott zum Objekt hat und weil sie diejenige Wissenschaft ist, die Gott selbst ausführt. Im dritten Buch, dem Buch Β (Beta), zählt Aristoteles 14 (oder 15) Schwierigkeiten auf, die die erste Philosophie lösen können muss. Das erste und das dritte Buch sind durch Querverweise miteinander verbunden. Außerdem kann man feststellen, dass die Reihenfolge der Schwierigkeiten, die im dritten Buch erwähnt werden, eine Art Gliederung für einige weitere Bücher der Metaphysik bildet. Es ist plausibel anzunehmen, dass sich auch das vierte Buch der Sache nach an das dritte Buch anschließt. Die erste Philosophie wird dort als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem charakterisiert. Wie sich das sechste Buch, in dem u. a. die Wissenschaft vom Seienden als Seiendem als theologische Wissenschaft bestimmt und verschiedene Bedeutungen des Wortes ,seiend‘ untersucht werden, zu dem roten Faden verhält, ist nicht ganz deutlich. Viel klarer ist, dass das siebte, achte und neunte Buch (die Bücher Ζ, Η und Θ, d.h. Zeta, Eta und Theta) zusammengehören. Im Zentrum dieser drei Bücher steht der Begriff der ousia, d. h. des Wesens oder der Substanz. Die drei Bücher werden deshalb auch Substanzbücher genannt. Die erste Philosophie ist vor allem eine Untersuchung der ousia. Die Bücher dreizehn und vierzehn gehören zusammen und enthalten vor allem eine Platonkritik auf dem Hintergrund dessen, was Aristoteles selbst in den Büchern als seine eigene Theorie dargelegt hat. Dass das Buch Lambda, obwohl es eine eigenständige Schrift ist, innerhalb der Metaphysik gut aufgehoben ist, liegt an zwei Gründen. Erstens ist
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der Begriff der ousia auch der zu klärende Begriff von Lambda. Die Fragestellung, die Lambda beantworten will, entspricht der Frage, die auch in den Substanzbüchern angegangen wird und von der auch schon im ersten und dritten Buch die Rede ist. Zweitens füllt das, was Aristoteles in Lambda schreibt, eine gewisse Lücke des durch die restlichen Bücher der Metaphysik skizzierten Projekts aus. Wenn Aristoteles nämlich in den anderen Büchern der Metaphysik das philosophische Projekt skizziert, um das es bei der Untersuchung der ousia geht, dann wird deutlich, dass eine Untersuchung der ousia zwei Dinge umfasst: erstens eine Untersuchung der wahrnehmbaren ousia, und daran anschließend und darauf aufbauend eine Untersuchung der nicht wahrnehmbaren ousia. Ein vollständiges Verständnis der ousia umfasst also ein Verständnis beider Arten von ousia. Nun hat sich Aristoteles in den anderen Büchern der Metaphysik, vor allem in den Substanzbüchern, zwar ausgiebig mit der wahrnehmbaren ousia beschäftigt, eine Analyse der nicht wahrnehmbaren ousia steht aber noch aus. Es ist nun aber genau diese Untersuchung, die wir im zwölften Buch finden. Insofern ist es sinnvoll, dass das zwölfte Buch hinter den Substanzbüchern steht. An dieser Stelle ist allerdings eine Einschränkung zu machen. Das zwölfte Buch der Metaphysik fügt sich nämlich nicht so nahtlos in die anderen Bücher der Metaphysik ein, wie es unser Überblick zunächst vermuten lässt. Vor allem zwei Gründe sind dafür verantwortlich. Der erste Grund ist, dass (nach einem ersten, einleitenden Kapitel) die Kapitel 2–5 von Lambda die wahrnehmbare ousia zum Thema haben. Damit überschneiden sich die Kapitel 2–5 von Lambda mit den Ausführungen zur wahrnehmbaren ousia der Substanzbücher. Diese Überschneidungen sind teilweise nicht spannungsfrei, denn das, was Aristoteles in Lambda zur sinnlich wahrnehmbaren ousia sagt, ist nicht in allen Fällen identisch mit dem, was wir u. a. aus den Substanzbüchern zur wahrnehmbaren ousia erfahren. Wenn Aristoteles Lambda lediglich als Ergänzung dessen hätte schreiben wollen, was er in den Substanzbüchern bereits gesagt hat, wären große Teile der Kapitel 2–5 eigentlich überflüssig. Aristoteles kann Lambda also nicht nur geschrieben haben, um noch etwas zu ergänzen, was er in den Substanzbüchern noch nicht ausgeführt hat. Der zweite Grund ist, dass die Ausführungen in den Kapiteln 6–10 zur unbewegten ousia nicht in allen Fällen dem entsprechen, was wir aus den vorhergehenden Büchern eigentlich erwarten würden. Aus dem, was wir diesen Stellen entnehmen können, bekommen wir ein etwas anderes Bild davon, was Ausführungen über die unbewegte ousia eigentlich leisten können müssen. Auch an diesen beiden Gründen wird deutlich, dass Lambda ein gegenüber den restlichen Büchern der Metaphysik weitgehend selbstständiger
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Traktat ist, dessen Ziel es nicht ist, einfach nur der Schlussstein einer Theorie der ousia zu sein, indem die nicht wahrnehmbare ousia verhandelt wird. Es geht Aristoteles in Lambda vielmehr um eine umfassende Konzeption der ousia, die sowohl die wahrnehmbare als auch die nicht wahrnehmbare ousia umfasst. Die Konzeption in Lambda ist ein eigener Entwurf. Eine Antwort auf die spannende Frage, wie weit dieser Entwurf mit dem übereinstimmt, was Aristoteles vor allem in den Substanzbüchern entwickelt, übersteigt leider die Grenzen des vorliegenden Kommentars. Diese Frage ist auch deswegen schwer zu beantworten, weil ganz unklar ist, wann Aristoteles eigentlich Lambda verfasst hat. Sowohl die These, Lambda sei eine ganz frühe Schrift, die noch die Abhängigkeit von Platon zeige, als auch die These, Aristoteles habe Lambda in großer Eile kurz vor seinem Tod geschrieben, weil er gesehen habe, dass in seinem Werk eine Lücke klafft, die er noch vor seinem Tod schließen wollte,7 werden in der Forschung von ernstzunehmenden Forschern vertreten.
3. Eine Warnung zum Schluss Lambda ist schwer zu verstehen. Das liegt nicht nur daran, dass die Probleme, mit denen Aristoteles ringt, außerordentlich komplex sind. Es liegt auch an der äußeren Form dieses Buches. Es ist kein zur Veröffentlichung geschriebener Traktat, sondern – wie übrigens sämtliche überlieferten Schriften von Aristoteles – eher ein Manuskript, das Aristoteles vielleicht für eine Vorlesung geschrieben hat. Es gibt nun einige seiner Vorlesungsmanuskripte, die relativ klar und verständlich sind und vielleicht auch kurz vor der Veröffentlichung standen. Andere Manuskripte gleichen streckenweise eher ausführlicher kommentierten Stichwortsammlungen. Leider gilt das auch von Lambda. Wichtige Argumente sind oft nur angedeutet und einige für ein Gesamtverständnis der unbewegten ousia wichtige Fragen bleiben ohne Antwort. Viele Aussagen sind außerordentlich voraussetzungsreich. Manche Sätze sind so komprimiert – oft fehlt ein Verb –, dass jedes Wort wichtig ist. Aber es kommt noch schlimmer: Manche Sätze sind schon in der Antike nicht ganz klar verstanden worden, so dass die verschiedenen griechischen Manuskripte ein und denselben Satz ganz unterschiedlich wiedergeben8. Uns Lesern und Leserinnen bleibt nichts weiter übrig, als geduldig zu versuchen, den schweren Text zu verstehen. Dabei kann uns vielleicht aber die Gewissheit motivieren, dass wir es in Lambda immerhin mit der Krönung der Aristotelischen Metaphysik zu tun haben. Kaum eine andere Schrift von Aristoteles hat eine derartige Wirkung auf die Geschichte der Philosophie und auch auf die Theologie gehabt. Und da mag es sich doch lohnen, die Mühe des Begriffs auf sich zu nehmen!
Kapitel 1 Das philosophische Projekt9 1. Der Text „(1.1) [1069a18] Über die ousia geht die theoretische Untersuchung (theōria); denn von den ousiai werden die Prinzipien (archē) und die Ursachen (aition) gesucht. (1.2) [a19] (1.2.1) Denn sowohl wenn das All wie irgend etwas Ganzes ist, ist die ousia ein erster Teil, als auch wenn es in einer Abfolge vorliegt, ist in diesem Falle die ousia ein Erstes, darauf folgt das Wie-Beschaffen oder Wieviel. (1.2.2) [a21] Zudem sind diese nicht einmal als uneingeschränkt (haplōs) seiende Dinge anzusprechen, sondern als Qualitäten und Bewegungen, wie auch das Nicht-Weiße und das Nicht-Gerade; denn wir sagen ja doch auch von diesen, dass sie sind, z. B. ,es ist nicht weiß‘. (1.2.3) [a24] Ferner ist nichts von dem übrigen selbstständig abtrennbar (chōriston). (1.2.4) [a25] Auch legen die Alten durch die Tat Zeugnis dafür ab; denn von der ousia suchten sie Prinzipien, Elemente und Ursachen. (1.3) [a26] Die jetzigen 10 nun setzen das Allgemeine in höherem Maße als ousia; denn die Gattungen, von denen sie sagen, dass sie in höherem Maße Prinzip und ousia sind, weil sie ihre Untersuchung vor allem begrifflich führen, sind etwas Allgemeines; die alten hingegen setzten die Einzeldinge , wie Feuer und Erde, aber nicht den allgemeinen Körper. (1.4) [a30] Es gibt drei ousiai; (1.4.1) [a30] zunächst die sinnlich wahrnehmbare, die alle anerkennen, von der die eine vergänglich ist, wie die Pflanzen und die Lebewesen, die andere aber ewig ist. Von ihr müssen die Elemente gefunden werden, mögen es nun eines oder mehrere sein. Die andere ist die unbewegliche , und von dieser behaupten einige, dass sie selbstständig abgetrennt ist, wobei die einen diese in zwei Bereiche scheiden, die anderen die Ideen und die mathematischen Dinge als eine einzige Natur setzen, und wiederum andere von diesen nur die mathematischen Dinge annehmen. (1.4.2) [a36] Jene gehören der Physik an, denn sie sind der Bewegung unterworfen, diese aber einer anderen Wissenschaft, falls sie mit jenen kein gemeinsames Prinzip hat.“
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2. Überblick Der erste Satz des Kapitels gibt das Thema des gesamten Traktats an: Der Traktat ist eine Untersuchung über die ousia. Wer nach der ousia fragt, der fragt danach, was die grundlegenden Bestandteile unserer Wirklichkeit sind. Eine Antwort auf diese Frage ist dabei unter den Philosophen nicht kontrovers: Die sinnlich wahrnehmbaren Einzeldinge wie konkrete Pflanzen, Menschen und Tiere werden von allen Philosophen als ousia anerkannt. Das bedeutet, dass alle Philosophen der Auffassung sind, dass wahrnehmbare Einzeldinge grundlegende Bestandteile der Wirklichkeit sind. Mit dieser Auffassung erübrigen sich keinesfalls alle weiteren Fragen über die Wirklichkeit. Im Gegenteil: Mit der Annahme der wahrnehmbaren ousia ist erst ein Ausgangspunkt erreicht, von dem aus man weitere Fragen nach der Konstitution der Wirklichkeit stellen kann. Es fragt sich nämlich, was die Prinzipien und Ursachen sind, von denen her wir diese wahrnehmbaren Einzeldinge verstehen können. Da diese Prinzipien und Ursachen die konkreten Einzeldinge konstituieren, konstituieren sie in einem grundsätzlicheren Sinn als die konkreten Einzeldinge die Wirklichkeit und sind selbst folglich ebenfalls ousiai (ousiai ist der Plural von ousia), und sogar in höherem Maße ousiai, als es die konkreten Einzeldinge sind. Das erste Kapitel gliedert sich in zwei Teile (1.1)–(1.2) und (1.3)–(1.4). Der erste Teil klärt, was es heißt, nach der ousia zu fragen. In (1.1) stellt Aristoteles die Behauptung auf, dass eine Untersuchung der Konstitution der gesamten Wirklichkeit die ousia und die Prinzipien und Ursachen der ousia als ihr Objekt haben muss. Diese Behauptung wird in (1.2) in vier Punkten begründet. Erstens ist unabhängig davon, welche Auffassung man von der Wirklichkeit als Ganzer hat, die ousia immer das Erste dieser Wirklichkeit (1.2.1). Zweitens kommt nur der ousia ein uneingeschränktes Sein zu (1.2.2). Drittens ist nur die ousia selbstständig abtrennbar (1.2.3), und viertens macht auch ein Blick in die Geschichte der Philosophie deutlich, dass diejenigen Philosophen, die vor Aristoteles nach den Prinzipien und Ursachen der Wirklichkeit gefragt haben, nach der ousia gefragt haben, auch dann, wenn sie sich selbst nicht so ausgedrückt haben (1.2.4). Im zweiten Teil diskutiert Aristoteles, was für Dingen der Status einer ousia zukommt. In (1.3) referiert Aristoteles dazu, welchen Dingen andere Philosophen den Status einer ousia zugesprochen haben. Die Platoniker, so erfahren wir, haben angenommen, dass die nicht wahrnehmbaren Gattungen in höherem Maße ousiai sind. Für sie hängt die Existenz eines konkreten Einzeldings von der Existenz einer Gattung oder mehrerer Gattungen ab. Die Philosophen vor Aristoteles haben angenommen, dass die Einzeldinge wie Feuer und Erde, d. h. die Elemente, die selbst Einzeldinge
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sind und die komplexeren Einzeldinge konstituieren, in höherem Maß der Status einer ousia zukommt. Aristoteles systematisiert die verschiedenen Antworten auf die Frage, was alles eines ousia ist, in (1.4). Erstens gibt es die sinnlich wahrnehmbare und vergängliche ousia, die die konkreten vergänglichen Einzeldinge umfasst, zweitens die wahrnehmbare und ewige ousia, die die Himmelskörper umfasst, und drittens die nicht wahrnehmbare ewige ousia, zu der die unterschiedlichen Philosophen verschiedene Auffassungen haben. Ob und wie diese drei Arten von ousia miteinander zusammenhängen, bleibt im ersten Kapitel offen; wir erfahren nur, dass wenn es kein gemeinsames Prinzip der wahrnehmbaren und der nicht wahrnehmbaren ousiai gibt, die wahrnehmbaren ousiai Gegenstand der Physik und die nicht wahrnehmbaren ousiai Gegenstand einer anderen Wissenschaft sind. Spätestens im achten Kapitel wird allerdings deutlich werden, dass und wie die drei Arten von ousiai miteinander zusammenhängen: Die ewigen wahrnehmbaren ousiai (die Himmelskörper also) sind Prinzip für die vergänglichen wahrnehmbaren ousiai, die nicht wahrnehmbaren ewigen ousiai sind sowohl Prinzip für die ewigen wahrnehmbaren als auch, vermittelt durch diese, für die vergänglichen wahrnehmbaren ousiai. 3. Interpretation11 (1.1) Die Untersuchung, die Aristoteles im Buch Lambda führt, wird von ihm im ersten Satz dieses Traktats als ,theōria‘ bezeichnet. Diese Wortwahl macht schon deutlich, worum es Aristoteles im Folgenden gehen wird. Unter einer theōria versteht Aristoteles nicht irgendeine Art von Untersuchung (beispielsweise eine ethische oder empirische Untersuchung), sondern eine bestimmte Form der theoretischen Untersuchung. Das Charakteristische für eine theōria ist, dass sie auf ein theoretisches Wissen letztlich um die Gesamtheit der Wirklichkeit und ihrer Prinzipien zielt.12 Diese theoretische Untersuchung hat als ihr Objekt die ousia. Zunächst ein paar Worte zum Wort ousia selbst. Wie unklar es ist, was eine ousia ist, zeigt sich schon an den verschiedenen Übersetzungen des Wortes. Rolfes übersetzt ,ousia‘ beispielsweise mit ,Substanz‘, Bonitz mit ,Wesenheit‘, Seidl wechselt zwischen ,Wesen‘ und ,Substanz‘ und Gadamer übersetzt ,ousia‘ mit ,Sein‘. Die Übersetzung des griechischen Wortes war bereits in der Antike ein Problem, als man das Griechische ins Lateinische übersetzt hat. Je nach Kontext übersetzten die Autoren ,ousia‘ entweder mit ,essentia‘ oder mit ,substantia‘. Manche Autoren kannten offenbar keinen sachlichen Unterschied zwischen essentia und substantia, andere Autoren übersetzten ,ousia‘, wenn es in einem logischen Kontext stand, mit ,substantia‘,
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und wenn das Wort in einem metaphysischen Kontext stand, mit ,essentia‘.13 Der grammatischen Form nach leitet sich ,ousia‘ vom Verb einai ab, das ,sein‘ bedeutet. Das Wort ousia besteht aus zwei Wortteilen, dem Partizip ,on‘, das ,seiend‘ bedeutet, und dem Suffix ,-ia‘, das das Partizip zu einem abstrakten Nomen macht. Das Wort ousia müsste also wörtlich mit ,Seiendheit‘ übersetzt werden. Diese Übersetzung ist aber viel zu abstrakt für das, was ,ousia‘ an vielen Stellen bezeichnet; in der griechischen Umgangssprache bedeutet ,ousia‘ beispielsweise so viel wie ,Besitz‘ oder ,Vermögen‘, und damit ist vor allem der Grundbesitz eines griechischen Haushaltes gemeint. Platon ist, soweit wir wissen, der erste Grieche, der ,ousia‘ in einer philosophischen Bedeutung verwendet hat. Die ousia von einem Einzelding, z. B. von einem bestimmten Menschen, ist bei Platon u. a. das, was dieses Einzelding unabhängig von seinen wechselnden Eigenschaften eigentlich ist. Hier bietet es sich an, ,ousia‘ mit ,Wesen‘ zu übersetzen. Ein bestimmter Mensch kann beispielsweise schwarze oder blonde Haare haben – diese Eigenschaften sind für das, was die ousia, also das Wesen dieses Menschen ausmacht, nicht von Bedeutung. Auch von den unveränderlichen Ideen sagt Platon an einigen Stellen seiner Dialoge, sie seien ousiai. Man kann vermuten, dass der alltagssprachliche und der philosophische Gebrauch von ,ousia‘ insofern zusammenhängen, als beide Gebrauchsweisen etwas über die Stabilität und die Verlässlichkeit sagen. Der Grundbesitz ist das, wovon ein Haushalt verlässlich lebt. Philosophisch ist die ousia das, was (umgangssprachlich gesprochen) der Kern einer Sache ist und was das Wesen einer bestimmten Sache ausmacht. Dieser Kern und das Wesen sind stabil und verändern sich nicht. In der vorliegenden Übersetzung und im Kommentar bleibt ,ousia‘ unübersetzt. Der Grund dafür ist nicht, dass Festlegungen vermieden werden sollen, sondern dass eine Übersetzung eher dem Verständnis dessen, worum es der Sache nach geht, im Wege steht. Wir werden nämlich gleich sehen, dass für die Aristotelische Auffassung die Annahme charakteristisch ist, ein Prinzip einer ousia sei selbst eine ousia. Es gibt also die ousia einer ousia. Wenn wir ousia aber mit ,Substanz‘ oder mit ,Wesen‘ übersetzen, lässt sich das Verhältnis zwischen dem Prinzip und dem, dessen Prinzip es ist, nicht mehr deutlich machen, denn wir können nicht sinnvoll von der Substanz einer Substanz oder dem Wesen eines Wesens sprechen. Zurück zum Text! Der erste Satz von Lambda besteht aus zwei Teilsätzen und ist zunächst verwirrend. Im ersten Teilsatz kündigt uns Aristoteles an, seine theoretische Untersuchung sei eine Untersuchung über die ousia. Im zweiten Teilsatz heißt es demgegenüber, man suche die Prinzipien und Ursachen der ousiai. Was, so möchte man fragen, soll denn nun untersucht werden? Die ousia oder die Prinzipien und Ursachen der ousiai? Unklar ist ferner, wie wir die Begründung im zweiten Teilsatz verstehen sollen.
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Warum begründet die Tatsache, dass wir von den ousiai die Prinzipien und Ursachen suchen, die Behauptung, die theoretische Untersuchung sei eine Untersuchung der ousia? Bei einer Antwort auf diese Fragen lassen sich drei Aspekte voneinander unterscheiden. Erstens bedeutet die Untersuchung einer bestimmten Sache für Aristoteles oft nichts anderes, als nach den Prinzipien und Ursachen dieser Sache zu fragen. Das gilt nicht nur für die theoretische Untersuchung in Lambda, sondern auch für viele andere Arten von Untersuchungen, selbst wenn Aristoteles auch andere Untersuchungsmethoden kennt. In der Physik und im zweiten und dritten Kapitel von Lambda untersucht Aristoteles beispielsweise die Dinge, die sich verändern. Diese Untersuchung besteht darin, eine Antwort auf die Frage zu finden, was für Prinzipien und Ursachen wir annehmen müssen, wenn wir Dinge, die sich verändern, und d. h. die Veränderung der Dinge, verstehen wollen. Es ist also nicht eine Sache, die ousia zu untersuchen, und eine ganz andere Sache, die Prinzipien und Ursachen der ousiai zu untersuchen. Die ousia zu untersuchen bedeutet vielmehr, die Prinzipien und Ursachen der ousia zu untersuchen. Es gibt gar keine andere sinnvolle Möglichkeit, die Untersuchung der ousia zu führen, als nach ihren Prinzipien und Ursachen zu fragen. Zweitens ist eine Untersuchung der ousia noch in einem anderen Sinn eine Untersuchung der Prinzipien und Ursachen der ousia. Wenn eine ousia das ist, was unsere Wirklichkeit konstituiert, dann sind natürlich auch die Prinzipien und Ursachen der ousia etwas, das unsere Wirklichkeit konstituiert. Die Prinzipien und Ursachen einer ousia müssen also der Sache nach selbst ousiai sein. Drittens muss man sich vergegenwärtigen, dass Aristoteles nicht der erste Philosoph ist, der eine theoretische Untersuchung der Prinzipien der gesamten Wirklichkeit führt. Eine theoretische Untersuchung der gesamten Wirklichkeit ist so alt wie die Philosophie selbst und zu dieser Untersuchung gehörte von Anfang an, dass nach den Prinzipien und Ursachen der gesamten Wirklichkeit gefragt wurde. Nun ist es aber nicht so, dass alle Philosophen, die nach der gesamten Wirklichkeit und ihren Prinzipien fragten, tatsächlich nach der ousia gefragt haben. Einige Vorsokratiker haben beispielsweise nach der Natur (gr. hē physis) oder nach dem Seienden (gr. to on) gefragt; Platon würde wohl darauf verweisen, dass wir, wenn wir die Prinzipien der gesamten Wirklichkeit untersuchen wollen, nach den Ideen fragen müssen. Aristoteles ist sich dessen bewusst [vgl. (1.2.4)]. An einer anderen Stelle in der Metaphysik erklärt er ausdrücklich, dass die Frage nach dem Seienden als Frage nach der ousia verstanden werden müsse.14 Es sind die ousia und deren Prinzipien und Ursachen, die die Objekte der theoretischen Untersuchung sein müssen.
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(1.2) Wichtig für das Verständnis des gesamten zweiten Abschnittes ist die Tatsache, dass Aristoteles in (1.1) nicht lediglich das Thema der folgenden theoretischen Untersuchung angekündigt hat. Aristoteles hat vielmehr in dem ersten Satz vom Lambda behauptet, dass die theōria, d. h. eine theoretische Untersuchung der letzten Prinzipien der Wirklichkeit, als ihren Gegenstandsbereich tatsächlich die ousia hat und es folglich die Prinzipien und Ursachen der ousiai sind, die gefunden werden sollten. Aristoteles’ Behauptung bedarf einer Begründung, und diese Begründung wird im Folgenden mit dem ,denn‘ eingeleitet. Durch die Partikel ,zudem‘, ,ferner‘ und ,auch‘ zu Beginn von (1.2.2), (1.2.3) und (1.2.4) wird deutlich, dass das ,denn‘ nicht nur einen Zusammenhang zwischen (1.2.1) und (1.1) herstellen, sondern dass das ,denn‘ für alle vier folgenden Fälle (1.2.1)– (1.2.4) gelten soll. Die folgenden vier Punkte sollen also begründen, warum wir uns in der theōria mit der ousia beschäftigen und warum eine Untersuchung der ousia genau die Art von Untersuchung ist, die wir anstellen müssen, wenn wir über die Wirklichkeit als Ganze nachdenken wollen. (1.2.1) Der erste Grund dafür, die ousia zu studieren, besteht darin, dass die ousia das Erste der Wirklichkeit ist, und wenn man wie Aristoteles die Prinzipien der gesamten Wirklichkeit untersuchen möchte, dann muss man natürlich vor allem untersuchen, was das Erste in der Wirklichkeit ist. Um diese Priorität der ousia zu erläutern, unterscheidet Aristoteles zwei Möglichkeiten voneinander, das All, d. h. die Gesamtheit der Wirklichkeit, zu konzipieren: Entweder ist das All so wie irgendetwas Ganzes, oder es liegt in einer Abfolge vor. Selbst dann, wenn die genaue Bedeutung der Alternative zwischen dem Ganzen und der Abfolge noch unklar ist, lassen sich drei für die Untersuchung in Lambda wichtige Punkte festhalten. Erstens ist eine Untersuchung der ousia offensichtlich immer eingebettet in eine Untersuchung der gesamten Wirklichkeit. Eine Untersuchung über die ousia zu führen, bedeutet nicht lediglich Teilgebiete der Wirklichkeit in den Blick zu fassen, sondern in einer bestimmten Hinsicht die gesamte Wirklichkeit zu erforschen. Zweitens ist diese gesamte Wirklichkeit nicht unterschiedslos und gleichförmig. Wenn man die gesamte Wirklichkeit so wie ein Ganzes auffasst, dann hat dieses Ganze Teile, die voneinander unterschieden werden können. Wenn andererseits die gesamte Wirklichkeit eine Abfolge von verschiedenen Stufen oder Schichten der Realität ist, dann gibt es etwas, das an erster Stelle steht, etwas anderes, das an zweiter Stelle steht usw. Beide Alternativen, die Wirklichkeit zu beschreiben, gehen also davon aus, dass die gesamte Wirklichkeit strukturiert ist, auch wenn sie unterschiedliche Antworten auf die Frage geben, wie diese Struktur genauer beschrieben werden muss. Drittens ist deutlich, dass unabhängig davon, wie die
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Struktur zu bestimmen ist, die ousia in dieser Struktur stets den ersten Platz hat. Entweder ist die ousia der erste Teil eines Ganzen oder sie nimmt den ersten Platz in der Abfolge ein. Welche Auffassung mit dem ersten Fall beschrieben wird, bei dem das All wie ein Ganzes aufgefasst wird, bleibt leider für uns Interpreten unklar. Einen interessanten Vorschlag zur Interpretation hat ein antiker Aristoteleskommentator, den man Pseudo-Alexander nennt,15 gemacht. Pseudo-Alexander weist darauf hin, dass Aristoteles nicht einfach sagt, dass das All ein Ganzes sei, sondern eher einen Vergleich anstellt: das All sei wie irgendetwas Ganzes und die Konstitution des Universums werde mit der Konstitution einer Ganzheit lediglich verglichen. Pseudo-Alexander verdeutlicht diesen Vergleich an einem eigenen Beispiel. Sokrates ist ein ganzer, aber Sokrates ist nicht nur Sokrates, er ist auch beispielsweise kahlköpfig, gebildet usw.16 Wenn wir diesen Sokrates als Ganzen und als Einheit sehen, dann ist klar, dass sein Sokratessein ein Teil dieses Ganzen ist, und zwar der primäre Teil des Ganzen. Er ist wohl deswegen der erste Teil, weil ohne diesen Teil Sokrates nicht das wäre, was er ist, nämlich Sokrates. Über diesen Teil hinaus gibt es aber noch andere Teile, die dann aber nicht primäre Teile des Ganzen sind. Welche Philosophen Aristoteles zufolge vertreten haben, dass das All wie ein Ganzes ist, ist nicht deutlich.17 Es gibt Interpreten, die angenommen haben, dass Aristoteles mit der These, das All sei wie ein Ganzes, seine eigene Auffassung meint,18 aber diese Interpretation hat, wie eine Interpretation des achten und des zehnten Kapitels von Lambda zeigen wird, eher wenig für sich. Der zweite Fall, demzufolge das All in einer Abfolge vorliegt, ist durch den Zusatz „darauf folgt das Wie-Beschaffen oder das Wieviel“19 ein wenig deutlicher als der erste Fall. Die Rede vom ,Wie-Beschaffen‘ und vom ,Wieviel‘ verweist uns auf Aristoteles’ Kategorienschrift. Die Kategorienschrift ist ein Werk, das Aristoteles sicherlich vor Lambda geschrieben hat.20 In dieser Schrift werden zehn Kategorien voneinander unterschieden.21 Was Aristoteles im Einzelnen dazu geführt hat, genau diese zehn Kategorien zu unterscheiden, ist im Detail umstritten. Eine zumindest für die beiden vorliegenden Kategorien plausible Interpretation ist aber, dass sich Aristoteles an verschiedenen Frageformen orientiert hat. Das griechische Wort, das in der vorliegenden Übersetzung mit ,Wie-Beschaffen‘ übersetzt worden ist und das der Name einer Kategorie ist, lautet poion; das Wort, das mit ,Wieviel‘ übersetzt worden ist und das eine andere Kategorie bezeichnet, poson. Diese Wörter sind, je nachdem, wie sie im Griechischen akzentuiert werden, entweder Fragepronomina (,Wie beschaffen?‘ bzw. ,Wieviel?‘) oder Indefinitpronomina (,irgendwie beschaffen‘ bzw. ,von irgendeiner Größe‘). Wir fassen die Wörter als Fragepronomina auf. Wenn jemand fragt, wie beschaffen etwas ist, dann erhält er kate-
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gorial andere Antworten, als wenn er fragt, wieviel etwas ist. Man kann beispielsweise auf ein Beet voller Tulpen weisen und fragen, wie beschaffen diese Tulpen der Farbe nach sind. Man erhält als Antwort dann ein Farbprädikat, z. B. ,gelb‘. Man kann ebenso fragen, wie viele Tulpen auf dem Beet blühen. Man erhält dann als Antwort eine Zahl. Es ist aber ausgeschlossen, auf die Frage nach der Beschaffenheit von etwas mit einer Zahl und auf die Frage nach der Anzahl von etwas mit einem Farbprädikat zu antworten. Insofern gehören die möglichen Antworten auf die Frage nach der Beschaffenheit und die Frage nach dem Wieviel zwei unterschiedlichen Kategorien an. Aristoteles arbeitet schon in der Kategorienschrift nicht nur mit dem Fragepronomen, sondern gebraucht auch das abstrakte Nomen zu ,poion‘, das auf griechisch ,poiotēs‘ heißt und von Aristoteles als terminus technicus gebraucht wird. Deswegen bietet es sich an, ,poiotēs‘ als terminus technicus nicht mit ,Wie-Beschaffenheit‘, sondern mit ,Qualität‘ zu übersetzen. Erst nach Aristoteles werden die Namen für die Kategorien dann ausschließlich als termini technici verwandt, so dass man von Substanz (für ousia), Qualität, Quantität, Relation usw. spricht.22 Wir werden uns im Kommentar aber der Einfachheit halber der Gepflogenheit anschließen, die Kategorien mit lateinischen Ausdrücken wiederzugeben und beispielsweise statt von der Kategorie des Wie-Beschaffen von der Kategorie der Qualität sprechen. Weil anzunehmen ist, dass die Konzeption der ousia aus der Kategorienschrift auch die Konzeption der ousia in Lambda beeinflusst hat (sei es, dass Aristoteles an sie anknüpft, sei es, dass er sie ablehnt), sei noch kurz darauf eingegangen, was Aristoteles in der Kategorienschrift unter der ousia versteht. Die ousia ist die erste Kategorie. Aus der Kategorienschrift geht deutlich hervor, welche Dinge in die Kategorie der ousia fallen: Es sind erstens und vor allem sinnlich wahrnehmbare Einzeldinge, denen der Status einer ousia zukommt. Aristoteles nennt zwei Beispiele: ,Ein konkreter Mensch‘ und ,ein konkretes Pferd‘. Über die Einzeldinge hinaus fallen zweitens auch die Arten und Gattungen der Einzeldinge, also die Gattung der Menschen und die Gattung Pferde oder Lebewesen (als eine Gattung), in die Kategorie der ousia. Die konkreten Einzeldinge bilden die so genannte erste ousia, die Arten und Gattungen die zweite ousia. Die Kategorie der ousia ist in einer wichtigen Hinsicht von allen anderen Kategorien unterschieden. Es gibt Quantitatives und Qualitatives und Dinge in den anderen Kategorien überhaupt nur dann, wenn es etwas in der Kategorie der ousia gibt, das dann durch eine bestimmte Qualität und Quantität bestimmt ist. Es gibt beispielsweise die Farbe Rot nur dann, wenn es ousiai gibt, die rot sind. Rot kann als Farbe nur dadurch wirklich sein, dass es als eine Eigenschaft die Eigenschaft von etwas ist, das ein sinnlich wahrnehmbares Einzelding ist.
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Diese Wirklichkeitsauffassung aus der Kategorienschrift muss natürlich nicht die Wirklichkeitsauffassung sein, die Aristoteles im zwölften Buch der Metaphysik vertreten möchte. Sie ist aber ein Beispiel dafür, was es heißen könnte, dass das All wie eine Abfolge ist. Ross meint in seinem Metaphysikkommentar, dass Speusippos, ein Zeitgenosse von Aristoteles und der Nachfolger von Platon in der Leitung der von Platon gegründeten Akademie, die Ansicht vertreten habe, dass das All eine Abfolge sei. Aristoteles meine mit der zweiten Wirklichkeitsauffassung folglich Speusippos. Dafür spreche, dass Aristoteles selbst im zehnten Kapitel von Lambda [vgl. (10.2.12)(ii)] auf Speusippos’ Theorie anspiele und eine solche Theorie kritisiere. Auf ein Problem dieser Deutung hat Frede aufmerksam gemacht23: Es sei plausibler anzunehmen, dass Aristoteles mit der zweiten Wirklichkeitsauffassung nicht nur Speusippos gemeint habe, sondern viel allgemeiner eine Art von Theorie beschreiben möchte, die zwar Speusippos, aber auch andere Philosophen und vielleicht sogar Aristoteles selbst vertreten hätten. (1.2.2) Das Argument, das Aristoteles in (1.2.2) dafür vorträgt, warum man die ousia studieren soll, wenn man das Ganze der Wirklichkeit studieren will, ist sowohl sachlich als auch sprachlich eng mit dem Argument in (1.2.1) verbunden. Das Pronomen ,diese‘ im ersten Satz bezieht sich sicherlich auf das Qualitative und das Quantitative im zweiten im (1.2.1) genannten Fall, vielleicht im ersten Fall auch auf die Teile, die nicht der erste Teil sind. Worum es der Sache nach geht, ist folgendes: Es gibt offensichtlich einerseits Dinge, denen der Status der ousia zukommt und denen das Sein uneingeschränkt zugesprochen werden kann, und andererseits Dinge, denen nicht der Status der ousia zukommt und denen das Sein nur eingeschränkt zugesprochen werden kann. Zu denjenigen Dingen, denen das Sein nur eingeschränkt zugesprochen wird, gehören beispielsweise die Qualitäten. Nehmen wir als Beispiel das Kranksein. Krank kann etwas nur dann sein, wenn es etwas anderes gibt, dem das Sein uneingeschränkt zukommt, d. h. wenn es eine ousia gibt, die krank ist. Ebenso kann etwas nur rot sein, wenn etwas aus der Kategorie der ousia rot ist. Einer Qualität kommt das Sein nur dann zu, wenn es eine ousia gibt, der die Qualität zugesprochen werden kann. Die Einschränkung in Bezug auf das Sein besteht also in der Abhängigkeit von dem Sein von etwas anderem, nämlich (zumindest als letztem Glied der Analyse) dem Sein einer ousia. Bei der ousia selbst gibt es diese Einschränkung nicht. Sokrates kommt sein Sokratessein nicht eingeschränkt oder vermittelt über etwas anderes zu. Sein Sein ist ein Sein in uneingeschränktem, oder, wie man das griechische Wort ‚haplōs‘ auch übersetzen könnte, in unqualifiziertem Sinn. Das Sokratessein kommt ihm zu, insofern er das ist, was er ist.
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Sein im uneingeschränkten Sinn kommt also nur den Dingen in der Kategorie der ousia zu. Den Dingen in den anderen Kategorien kommt das Sein nur eingeschränkt zu: Sie sind etwas nur, insofern sie es an einer ousia sind. In ähnlicher Weise, allerdings noch komplizierter vermittelt, kommt auch dem Nicht-Weißen und dem Nicht-Geraden nur in abgeleiteter Weise Sein zu. Dem Nicht-Weißen kommt ein Sein zu, insofern eine ousia beispielsweise rot ist. Der Farbe Rot kommt das Sein dann eingeschränkt zu (insofern es Farbe an einer ousia ist), dem Nicht-Weißen kommt das Sein zu, insofern der ousia eine andere Farbe als das Weiß eingeschränkt zukommt. Aristoteles wählt diese Beispiele wohl vor allem deswegen, weil es bei dem Nicht-Weißen noch weniger sinnvoll ist als bei dem Roten zu fragen, ob ihm unqualifiziertes Sein zukommt. Wer ein Platoniker ist, wird vielleicht noch der Auffassung sein, dass der Farbe Rot ein unqualifiziertes Sein zukomme und dass die Idee des Roten eben im unqualifizierten Rotsein bestehe. Aber auch ein Platoniker wird zögern, dem Nicht-Weißen oder dem Nicht-Geraden ein eigenes, unqualifiziertes Sein zuzusprechen. (1.2.3) Die Behauptung, dass die ousia selbstständig abtrennbar ist, wird von Aristoteles nicht weiter begründet, und so ist es nicht ganz eindeutig, was Aristoteles mit der Behauptung genauer meint. Das griechische Wort, das je nach Kontext entweder mit ,selbstständig abtrennbar‘ oder mit ,selbstständig abgetrennt‘ übersetzt werden muss, ist ,chōriston‘. Es leitet sich vom Verb chōrizein ab, das ,abtrennen‘ bedeutet. Aristoteles ist der erste Philosoph, der das Wort in einer philosophisch relevanten Bedeutung gebraucht, und zwar in vor allem zwei Kontexten.24 Der erste Kontext ist derjenige der Kritik an Platon. Platon, so der Vorwurf von Aristoteles, habe die Ideen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt abgetrennt. Das bedeutet modern gesprochen, dass er den Ideen eine von der wahrnehmbaren Welt unabhängige Existenz zukommen lässt. Der zweite Kontext, in dem Aristoteles von ,chōriston‘ spricht, ist seine eigene Konzeption der ousia. Ein Kriterium für die ousia ist, dass sie selbstständig abtrennbar ist. Dabei unterscheidet Aristoteles zwischen zwei Formen der Abtrennbarkeit, die begriffliche Abtrennbarkeit und die Abtrennbarkeit ohne weitere Qualifikationen. Im ersten Kapitel des achten Buches der Metaphysik meint er beispielsweise, dass die ousia, insofern sie die Form eines aus Form und Materie konstituierten Einzelgegenstandes ist, begrifflich abtrennbar ist, und dass die ousia, insofern mit ihr der Einzelgegenstand gemeint ist, ohne weitere Qualifikationen abtrennbar ist.25 Es gibt andere Stellen in den Werken von Aristoteles, in denen er die nicht weiter qualifizierte Abtrennbarkeit mit einer räumlichen Abtrennbarkeit identifiziert.26 Ohne weitere Qualifikationen selbstständig abtrennbar ist ein Einzelding demzufolge dann, wenn es
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eine eigene Stelle im Raum einnimmt, d. h. in Bezug auf den Ort von anderen Dingen unterschieden ist. Die Behauptung in (1.2.3), die ousia sei selbstständig abtrennbar, lässt sich am besten im Sinne der räumlichen Abtrennbarkeit verstehen. Wenn Aristoteles schreibt, dass nur die ousia und „nichts von dem übrigen“ selbstständig abtrennbar ist, dann meint er damit, dass nichts von den Dingen, die in andere Kategorien als die der ousia gehören (also die Qualitäten, Quantitäten usw.), selbstständig abtrennbar ist. Die Dinge in den anderen Kategorien sind nicht selbstständig abtrennbar, weil sie nicht für sich eine Stelle im Raum einnehmen können. Sie können sich zwar an einer Stelle im Raum befinden, aber nur deswegen, weil sie Eigenschaften an einer ousia sind, der es an sich zukommt, eine Stelle im Raum einzunehmen. Die zugrunde liegende Intuition ist offenbar, dass es Dinge gibt, die selbstständig abtrennbar sind, wie beispielsweise Menschen, Tiere und Pflanzen. Ihnen kommt eine eigene, unabhängige Existenz zu. Wenn man freilich weitere Überlegungen anstellt, dann wird schnell deutlich, dass auch Menschen, Tiere und Pflanzen nicht wirklich so selbstständig abtrennbar sind, wie man zunächst annehmen möchte. Der Baum ist auf den Erdboden und die Luft angewiesen, ein Mensch stammt von seinen Eltern ab und braucht Nahrung usw. So mag man fragen, ob es vielleicht eine ousia gibt, die ohne diese Einschränkungen selbstständig abtrennbar ist und die demzufolge nicht von irgendetwas abhängt. (1.2.4) Es ist Aristoteles’ Überzeugung, dass die Frage nach der ousia eine Frage ist, mit der die Philosophie begonnen hat. Wenn auch die so genannten Vorsokratiker nicht wörtlich davon gesprochen haben, dass sie die ousia suchen (der Terminus selbst kommt erst bei Platon in philosophischer Bedeutung vor), sondern davon gesprochen haben, das Seiende (gr. to on) oder die Natur (gr. hē physis) bestimmen zu wollen, so ist es doch der Sache nach so, dass sie – in Aristotelischer Terminologie – die Prinzipien, Elemente und Ursachen der ousia gesucht haben. Was Aristoteles in (1.2.4) nur andeutet, wird im ersten Kapitel des siebten Buches der Metaphysik näher ausgeführt.27 Dort legt er dar, dass die Frage nach dem Seienden als die Frage nach der ousia verstanden werden muss. Sein Forschungsprojekt steht also in Kontinuität mit dem, was die früheren Philosophen interessiert hat, die nach den Prinzipien und Ursachen der Wirklichkeit gefragt, diese Frage aber anders ausgedrückt haben. (1.3) Mit (1.3) beginnt ein neuer Abschnitt, in dem sich Aristoteles der Frage zuwendet, welchen Dingen oder welchen Arten von Dingen bei den verschiedenen Philosophen der Status einer ousia zukommt.28 Die in (1.3) erwähnten jetzigen Philosophen sind die Platoniker. Sie vertreten Aristoteles’ Auffassung nach, dass die nicht wahrnehmbaren Gattungen in höherem Maße ousiai sind. Sie sprechen den Gattungen eher den Status einer
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ousia zu, weil sie ihre Untersuchungen vor allem begrifflich führen. An diesen Ausführungen sind mehrere Punkte interessant. Erstens behauptet Aristoteles nicht, dass die Platoniker ausschließlich den Gattungen den Status einer ousia zukommen lassen. Wir werden in (1.4.1) sehen, dass es Aristoteles zufolge bestimmte Dinge gibt, die alle Philosophen (also auch die Platoniker) für eine ousia halten: die konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzeldinge. Die Platoniker sind offenbar der Auffassung, dass zwar auch die konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzeldinge ousia-Status haben, es aber dennoch Dinge gibt, denen in größerem Maße der Status einer ousia zukommt, die Gattungen eben. Sie kommen dazu, weil sie sich in ihren Untersuchungen nicht so sehr an den natürlichen Phänomenen, sondern an den Begriffen orientieren. Damit ist folgendes gemeint: Wir können beispielsweise fragen, was die Ursache dafür ist, dass es Menschen gibt. Jemand, der sich an den natürlichen Phänomenen orientiert, würde darauf antworten, dass es Menschen gibt, weil Menschen Menschen zeugen. Jemand, der sich an den Begriffen orientiert, würde meinen, es gibt konkrete Menschen, weil es die Gattung ,Mensch‘ gibt, die Prinzip und Ursache dafür ist, dass es Menschen gibt. So kommt man Aristoteles zufolge zu der Auffassung, dass es die Gattungen sind, denen in höherem Maße der Status einer ousia zugesprochen werden muss. Die alten Philosophen, gemeint sind die so genannten Vorsokratiker, setzen eher die Einzeldinge, und d. h. die Elemente, als ousia. Wenn in diesem Zusammenhang von Elementen die Rede ist, dann sind damit Feuer, Wasser, Luft und Erde gemeint. Einige Vorsokratiker sind, selbst wenn sie es nicht so ausdrücken, davon überzeugt, dass alles, was es gibt, auf eines oder mehrere dieser Elemente zurückgeführt werden kann, so dass eines oder mehrere Elemente die eigentlichen Prinzipien der Wirklichkeit sind. Dabei verstehen sie unter den jeweiligen Elementen nicht die für uns Menschen nicht sichtbaren Atome oder Molekülverbindungen. Die Elemente sind vielmehr selbst auch Einzeldinge, eben beispielsweise konkretes Wasser (oder auch alles Wasser, was es überhaupt gibt). Aristoteles nennt als Beispiele Feuer und Erde, und wir wissen, dass zwei Philosophen, Hippasus und Heraklit, angenommen haben, dass das Feuer das letzte Prinzip von allem sei; die Erde wird beispielsweise von Empedokles als ein Prinzip (neben anderen) angenommen. Ähnlich wie schon bei der Diskussion darüber, ob das All ein Ganzes oder eine Abfolge ist, geht es Aristoteles offensichtlich nicht darum, Auffassungen einzelner Philosophen zu diskutieren, sondern einen Theorietyp zu charakterisieren. Auch die Vorsokratiker nehmen an, dass wahrnehmbare Einzeldinge ousiai sind. Sie sind aber auch der Auffassung, dass die Ursachen und Prinzipien der wahrnehmbaren Einzeldinge, die selbst wieder wahrnehmbare Einzeldinge sind, in höherem Maße ousiai sind. Im Unterschied zu den Platonikern
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sind diese Prinzipien nicht abstrakte Entitäten wie der allgemeine Körper29, sondern die materiellen konstitutiven Elemente der Einzeldinge wie beispielsweise Feuer oder Erde. (1.4.1) Die folgende Einteilung dessen, was alles als ousia angenommen wird, ist auf den ersten Blick verwirrend. Uns wird angekündigt, dass es drei Arten von ousiai gibt. Aufgezählt werden im Text aber zunächst nur zwei Arten von ousiai, erstens die sinnlich wahrnehmbare und zweitens die unbewegliche ousia. Zu den drei Arten von ousiai kommt Aristoteles dadurch, dass er innerhalb der wahrnehmbaren ousia noch einmal zwischen wahrnehmbaren ousiai, die vergänglich sind, und wahrnehmbaren ousiai, die ewig (also nicht vergänglich) sind, unterscheidet. Zur ersten Art gehören alle wahrnehmbaren, vergänglichen Einzeldinge, wie konkrete Menschen, Tiere und Pflanzen. Zur zweiten Art gehören die wahrnehmbaren, ewigen Einzeldinge. Später in Lambda wird deutlich werden, dass damit die Himmelskörper gemeint sind, die Aristoteles zufolge weder entstanden sind noch vergehen werden. Das Universum ist für Aristoteles ewig, es hat keinen zeitlichen Anfang und kein zeitliches Ende. Ein Problem bei der Interpretation von (1.4.1) besteht darin, dass alle griechischen Handschriften einen Text bringen, der der Sache nach unbefriedigend ist. Es geht um das Problem, worauf sich der Zusatz „die alle anerkennen“ eigentlich bezieht. Die Handschriften gehen davon aus, dass sich der Zusatz ausschließlich auf die vergänglichen wahrnehmbaren Einzeldinge bezieht. Wenn wir den Handschriften folgen wollten, müssten wir den in Frage stehenden Satz wie folgt übersetzen: „Es gibt drei ousiai; zunächst die sinnlich wahrnehmbare, von der die eine ewig ist, die andere aber vergänglich, die alle anerkennen, wie die Pflanzen und die Lebewesen“. Dieser Lesart zufolge wäre unter allen Philosophen unkontrovers, dass wahrnehmbare, vergängliche Einzeldinge den Status einer ousia haben. Umstritten wäre, ob wahrnehmbaren, ewigen Einzeldingen (also den Himmelskörpern) der Status einer ousia zukommt. Es ist nun auffällig, dass ab dem 4. Jh. bei Themistius, der eine Paraphrase von Lambda geschrieben hat, und bei einigen Aristoteleskommentatoren eine Tradition beginnt, in der der Zusatz „die alle anerkennen“ sowohl auf die vergänglichen als auch auf die ewigen wahrnehmbaren Einzeldinge, die damit beide den Status einer ousia haben, bezogen wird.30 Die vorliegende Übersetzung folgt dieser Tradition. Nun wäre es sicherlich schwer rechtfertigbar, wenn man sich gegen alle überlieferten Handschriften allein auf Paraphrasen, Übersetzungen und Kommentatoren berufen würde. Es gibt aber einen Grund, gegenüber den Handschriften selbst skeptisch zu sein. Die Handschriften fügen nämlich dem Satz: „Es gibt drei ousiai; zunächst die sinnlich wahrnehmbare, von der die eine ewig ist, die andere aber vergänglich, die alle anerkennen, wie die Pflanzen und die Le-
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bewesen“ noch einen weiteren Zusatz hinzu: „von denen die andere ewig “. Dieser Zusatz fügt sich syntaktisch nicht in den Satz ein und ist auch der Sache nach fehl am Platz. Das lässt die Annahme zu, dass wohl der ganze Satz in den Handschriften verderbt ist und keiner Handschrift zu trauen ist. Für die Deutung, die den Handschriften folgt, scheint allerdings zunächst zu sprechen, dass Aristoteles zu Beginn des sechsten Kapitels [vgl. (6.1.2)] ein eigenes Argument für die Ewigkeit der Kreisbewegung des Fixsternhimmels (und insofern auch ein Argument für die Ewigkeit der Fixsterne selbst) bringt. Wenn nun die Ewigkeit der Himmelskörper von allen Philosophen anerkannt ist, dann, so könnte man meinen, ist ein solches Argument eigentlich unnötig. Zweitens wissen wir aus anderen Texten von Aristoteles, dass er sich bewusst gewesen ist, dass die Ewigkeit des Universums und somit die Ewigkeit der Himmelskörper kontrovers diskutiert worden ist; Aristoteles ist beispielsweise der Auffassung, Platon habe die Ansicht vertreten, dass das Universum einen zeitlichen Anfang hat. Aristoteles kann also unmöglich der Auffassung gewesen sein, dass die Ewigkeit der Himmelskörper unbestritten gewesen ist. Für die Übersetzung, die sich an den Kommentatoren orientiert, spricht, dass Aristoteles im zweiten Kapitel von Lambda [vgl. (2.5)] sagt, dass es Dinge gibt, die eine Materie ausschließlich für die Ortsbewegung, nicht aber für das Entstehen und Vergehen haben. Damit können nur die ewigen Himmelskörper gemeint sein. Sie sind nicht entstanden und vergehen nicht, aber sie bewegen sich entlang klar definierbarer Bahnen. Weil Aristoteles die ewigen wahrnehmbaren ousiai ohne jedes weitere Argument innerhalb einer Abhandlung über die wahrnehmbaren ousiai ganz allgemein behandelt, liegt es nahe, ihm die Auffassung zuzuschreiben, auch die ewigen wahrnehmbaren ousiai seien in ihrem Status als ousia nicht kontrovers. Ein weiterer Grund dafür, die Lesart der Kommentatoren zu akzeptieren, besteht darin, dass Aristoteles an verschiedenen anderen Stellen in der Metaphysik eindeutig davon ausgeht, dass die Himmelskörper zu den allgemein anerkannten ousiai gehören.31 Aber wie, wenn diese Deutung richtig sein sollte, lassen sich die Argumente für die Deutung, die den Handschriften folgt, entkräften? Es erscheint mir am plausibelsten, zwischen zwei verschiedenen Behauptungen zu unterscheiden. Die erste Behauptung ist, dass alle Philosophen anerkennen, dass die Himmelskörper ousiai sind. Die zweite Behauptung ist, dass alle Philosophen anerkennen, dass die Himmelskörper ousiai sind und dass diese Himmelskörper ewig sind. Aristoteles stellt in (1.4.1) nur die erste, nicht aber die zweite Behauptung auf. Er selbst ist zwar der Überzeugung, dass man zwischen wahrnehmbaren vergänglichen und wahrnehmbaren ewigen ousiai unterscheiden muss, beispielsweise
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weil die ewigen wahrnehmbaren ousiai nur eine Materie für die Ortsbewegung haben und sich damit in relevanter Hinsicht von den vergänglichen wahrnehmbaren ousiai unterscheiden. Er ist sich aber bewusst, dass er diese Annahme begründen muss. Das Argument für diese Auffassung findet sich zu Beginn des sechsten Kapitels [vgl. (6.1.2)]. Die Unterscheidung der drei Arten von ousiai rekapituliert also nicht nur, was für Arten von ousiai von den Philosophen tatsächlich angenommen werden, sondern enthält auch eine Behauptung, für die Aristoteles in Lambda noch wird argumentieren müssen. Die Unterscheidungen der Arten der ousiai ist darüber hinaus deswegen kompliziert, weil Aristoteles der wahrnehmbaren ousia in seiner Aufzählung nicht, wie man es erwarten würde, die nicht wahrnehmbare ousia gegenüberstellt, sondern die dritte Art von ousia dadurch charakterisiert sein lässt, dass sie unbeweglich ist. Der Sache nach ist das kein Problem, denn Aristoteles ist zu Recht der Meinung, dass alles, was nicht wahrnehmbar ist, unbeweglich sein muss. Seine Überzeugung ist, dass sich alles, was wahrnehmbar ist, bewegt; alles, was sich bewegt, verändert sich, und diese Veränderung muss sich an einem Körper vollziehen, der eben als Körper sinnlich wahrnehmbar ist [vgl. dazu auch den Kommentar zu (2.1)]. Wenn etwas nicht wahrnehmbar ist, hat es also keinen Körper, und was keinen Körper hat, kann sich auch nicht bewegen. Die dritte Art der ousia ist, anders als die beiden ersten Arten, unter den Philosophen in zweifacher Hinsicht umstritten. Erstens ist umstritten, ob es überhaupt eine unbewegliche ousia gibt, denn nicht alle Philosophen nehmen an, dass es unbewegliche ousiai gibt. Zweitens ist unter denen, die eine unbewegliche ousia annehmen, umstritten, wie diese zu bestimmen ist. Aristoteles zählt mehrere Auffassungen auf: Einige (und damit sind, wie die Beispiele zeigen, an dieser Stelle die Platoniker gemeint, obwohl Aristoteles selbst in Lambda für diese Auffassung argumentieren wird) behaupten, die unbewegliche ousia sei selbstständig abgetrennt [vgl. zu diesem Kriterium (1.2.3)]. Von denjenigen, die abgetrennte unbewegliche ousiai annehmen, gibt es einige, die zwei Bereiche von ousiai unterscheiden,32 andere, die meinen, die Ideen und die mathematischen Gegenstände seien der Sache nach eine einzige Natur,33 wieder andere nehmen an, dass nur die mathematischen Gegenstände abgetrennte ousiai sind.34 Wie dem auch sei – es ist deutlich, worin die Aufgabe besteht, wenn man etwas über die unbewegliche ousia sagen möchte: Es kann nicht nur darum gehen zu untersuchen, ob es überhaupt unbewegliche ousiai gibt, sondern auch darum zu zeigen, wie die unbeweglichen ousiai zu bestimmen sind, falls sie denn überhaupt existieren. Wie wir in Lambda sehen werden, wird Aristoteles gemeinsam mit Platon und den Platonikern die Vorsokratiker kritisieren, weil es tatsächlich unbewegte ousiai gibt und die unbewegten
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ousiai die Prinzipien der bewegten ousiai sind. Gegen Platon und die Platoniker wird Aristoteles aber dafür argumentieren, dass diese unbewegten ousiai keine Ideen, sondern vielmehr Intellekte sind. (1.4.2) Aristoteles macht im ersten Kapitel keinerlei Aussage darüber, ob die drei Arten von ousiai der Sache nach miteinander zusammenhängen, oder ob jede ousia für sich ganz unabhängig von den anderen beiden Arten existiert. Wenn alle drei Arten von ousiai ganz unabhängig voneinander sind, dann stellt sich die Frage, welche Wissenschaft sich jeweils mit einer der Arten der ousiai beschäftigt. Wir würden annehmen, dass es mindestens zwei Wissenschaften geben muss, wobei die eine Wissenschaft die wahrnehmbare ousia und die zweite Wissenschaft die unveränderliche ousia untersucht. Wenn sich herausstellen sollte, dass die vergänglichen wahrnehmbaren und die ewigen wahrnehmbaren ousiai ebenfalls ganz unabhängig voneinander sind, dann müsste man vielleicht sogar drei verschiedene Wissenschaften annehmen, die jeweils die für ihre Wissenschaft charakteristische ousia als ihr Objekt haben. Der Frage danach, welche Wissenschaft für die Erforschung der ousia verantwortlich ist, wendet sich Aristoteles in (1.4.2) zu. Der Satz, in dem Aristoteles die verschiedenen Arten von ousiai den unterschiedlichen Wissenschaften zuordnet, bietet erhebliche Probleme. Zunächst scheint er ganz unproblematisch zu sein: Die ersten beiden Arten der ousia gehören zur Physik. Ob die dritte Art der ousia zur Physik oder zu einer anderen Wissenschaft gehört, hängt davon ab, ob es ein Prinzip gibt, das sowohl ein Prinzip der beweglichen als auch ein Prinzip der unbeweglichen ousiai ist. Wenn Aristoteles von einer anderen Wissenschaft spricht, dann meint er damit eine Wissenschaft, die ausschließlich diejenigen ousiai, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind, erforscht. Seinem eigenen Sprachgebrauch nach ist damit die erste Philosophie oder die theologische Wissenschaft gemeint; der Sache nach geht es um die Metaphysik. Das Problem beginnt aber mit der Frage, ob es denn ein Prinzip gibt, das sowohl ein Prinzip der sinnlich wahrnehmbaren als auch der nicht sinnlich wahrnehmbaren ousiai ist. Viele Interpreten des zwölften Buches der Metaphysik haben diese Frage verneint. Ihnen zufolge gehören die sinnlich wahrnehmbaren ousiai, die in den Kapiteln 2–5 abgehandelt werden, zur Physik, und die nicht sinnlich wahrnehmbaren ousiai zur Theologie. Dass die Interpreten meinen, die nicht sinnlich wahrnehmbaren ousiai seien die Objekte der Theologie, hängt damit zusammen, dass Aristoteles außerhalb von Lambda an einigen Stellen seiner Metaphysik von einer theologischen Wissenschaft spricht und Aristoteles im siebten Kapitel für eine nicht sinnlich wahrnehmbare ousia argumentiert, die tatsächlich mit Gott identifiziert wird. Dieses Vorgehen hat der Auffassung
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Vorschub geleistet, Aristoteles entwerfe in den Kapiteln 6–10 seine eigene Theologie. Das Problem einer solchen Deutung besteht darin, dass das zwölfte Buch in zwei unterschiedliche wissenschaftliche Abhandlungen zerfallen würde. Vor allem wird man dieser Deutung zufolge die Kapitel 2–5 schnell überspringen können, denn eine Analyse der sinnlich wahrnehmbaren ousiai bekommen wir viel ausführlicher in anderen Schriften von Aristoteles, nicht zuletzt in den Substanzbüchern der Metaphysik. Was dieser Deutung zufolge wichtig ist, ist die Aristotelische Theologie in den Kapiteln 6–10. Die Forschungsgeschichte des zwölften Buches macht denn auch deutlich, dass es vor allem diese Kapitel sind, die das Interesse der Forscher auf sich gezogen haben. Die Kapitel 2–5 sind demgegenüber so gut wie vollständig von den Interpreten vernachlässigt worden. Gegen eine solche Deutung des zwölften Buches spricht vor allem eines: Im achten Kapitel, aber nicht nur dort [vgl. z. B. (6.2.3)], wird deutlich werden, dass es Aristoteles zufolge nicht nur eine einzige unbewegliche ousia gibt, die das unbewegt Bewegende der Sphäre der Fixsterne ist, sondern dass mehrere unbewegt Bewegende angenommen werden müssen.35 Es gibt zwar ein einziges oberstes unbewegt Bewegendes, das das letzte Prinzip der gesamten Wirklichkeit ist, aber es gibt noch weitere unbewegt Bewegende, die, wie unsere Interpretation ergeben wird, in einer ontologischen Abhängigkeit zu dem ersten und obersten unbewegt Bewegenden stehen. Das bedeutet aber, dass das erste und oberste unbewegt Bewegende erstens ein Prinzip der unbewegten ousiai (i.e. der anderen unbewegt Bewegenden) und zweitens auch ein Prinzip der sinnlich wahrnehmbaren ewigen ousiai (nämlich der Fixsterne) ist. Vermittelt über die Fixsterne ist das erste unbewegt Bewegende auch drittens das Prinzip der wahrnehmbaren vergänglichen ousiai. Es gibt Aristoteles zufolge also ein gemeinsames Prinzip der drei Arten von ousiai. Dieses gemeinsame Prinzip ist das erste, oberste unbewegt Bewegende. Die Bedingung, die Aristoteles in (1.4.2) nennt, ist also offenbar erfüllt. Bedeutet das aber nun notwendig, dass die Untersuchung der nicht sinnlich wahrnehmbaren ousia in den Bereich der Physik fällt? Ein solches Ergebnis scheint der Text zunächst nahe zu legen. Dieses Ergebnis wäre aber merkwürdig, weil sich die Physik, wie wir aus (1.4.2) ja ebenfalls erfahren, mit denjenigen Dingen beschäftigt, die der Bewegung unterworfen sind, und die Dinge, die nicht der Bewegung unterworfen sind, nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Physik fallen. Warum sollte also eine Untersuchung der unbewegten ousiai zur Physik gerechnet werden? Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist folgende Überlegung: Wir können uns mit Dingen, die der Bewegung unterworfen sind, auf zweierlei Weise beschäftigen. Wir können sie einmal untersuchen, insofern sie
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Kapitel 1
Dinge sind, die der Bewegung unterworfen sind, und in diesem Fall wäre die Physik tatsächlich die angemessene Wissenschaft. Wir können sie aber auch untersuchen, insofern ihnen der Status einer ousia zukommt. Etwas zu untersuchen, insofern es eine ousia ist, gehört aber nicht in den Zuständigkeitsbereich der Physik, sondern einer anderen Wissenschaft, eben der Metaphysik, oder, wie Aristoteles es selbst sagt, der ersten Philosophie. Wenn wir uns diese Interpretation zu Eigen machen, dann verfolgt das zwölfte Buch ein einheitliches Ziel: Es geht um eine umfassende Untersuchung der ousia. Dabei werden in den Kapiteln 2–5 die sinnlich wahrnehmbaren ousiai, und in den Kapiteln 6–10 die nicht sinnlich wahrnehmbaren ousiai abgehandelt. Der erhebliche Vorteil dieser Interpretation besteht darin, dass die sachliche Einheit des zwölften Buches gewährleistet bleibt. Es ist ein und dasselbe Forschungsprojekt, das in dem ganzen zwölften Buch durchgeführt wird. Diese Deutung verträgt sich auch mit dem Text von (1.4.2). Crubellier hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Konditionalsatz „falls sie mit jenen kein gemeinsames Prinzip hat“ nicht nur auf den zweiten Teilsatz („diese aber einer anderen Wissenschaft“), sondern bereits auf den ersten Teilsatz beziehen kann („jene gehören der Physik an“).36 Qua ousiai gehören diejenigen Dinge, die der Bewegung unterworfen sind, eben nicht der Physik an, weil es ein Prinzip gibt, das sowohl den Dingen, die der Bewegung unterworfen sind, als auch den Dingen, die nicht der Bewegung unterworfen sind, gemeinsam ist. Wir können die Dinge, die der Bewegung unterworfen sind, in ihrem ousia-Status gar nicht verstehen, wenn wir sie lediglich innerhalb der Physik betrachten.
Kapitel 2 Die Veränderung – Teil I 1. Der Text „(2.1) [1069b3] Die sinnlich wahrnehmbare ousia ist der Veränderung unterworfen. (2.2) [b3] (2.2.1)Wenn nun die Veränderung von den Gegensätzen oder den Dingen, die in der Mitte liegen, ausgeht, aber nicht von allen Gegensätzen (denn auch die Stimme ist etwas Nicht-Weißes), sondern von dem Konträren: so muss notwendig etwas zugrunde liegen, das sich in den konträren Gegensatz verändert, denn die konträren Gegensätze verändern sich nicht. (2.2.2) [b7] Ferner, beharrt etwas, die konträren Gegensätze aber beharren nicht. (2.2.3) [b8] Also gibt es noch etwas Drittes neben den konträren Gegensätzen, die Materie. (2.3) [b9] Wenn es nun also vier Arten von Veränderungen gibt, nämlich in Bezug auf (i) das Was, in Bezug auf (ii) das Wie-Beschaffen, (iii) das Wieviel und (iv) das Wo, und (i*) uneingeschränktes Entstehen und Vergehen in Bezug auf ein Dieses ist, (iii*) Vermehrung aber und Verminderung in Bezug auf das Wieviel, (ii*) Umwandlung aber in Bezug auf die Affektion, (iv*) Ortsbewegung aber in Bezug auf den Ort ist: so dürfte demnach die Veränderung bei jeder Art ein Übergang in den jeweiligen konträren Gegensatz sein. (2.4) [b14] (2.4.1) Notwendig muss sich also die Materie verändern, indem sie zu beiden Gegensätzen die Möglichkeit hat. Da aber ja das Seiende zweierlei ist, so verändert sich alles aus dem, was der Möglichkeit nach seiend ist, in das, was der Wirklichkeit nach seiend ist, z. B. aus dem Weißen der Möglichkeit nach in das Weiße der Wirklichkeit nach. In gleicher Weise verhält es sich bei der Vermehrung und Verminderung, (2.4.2) [b18] so dass etwas nicht nur aus Nichtseiendem in akzidentellem Sinne werden kann, sondern alles auch aus Seiendem wird, nämlich aus solchem, was der Möglichkeit nach ist, der Wirklichkeit nach aber nicht ist. (2.4.3) [b20] Dies ist gemeint mit dem Einen des Anaxagoras – denn besser wird es so ausgedrückt als ,es war alles beisammen‘ – sowie mit der Mischung des Empedokles und des Anaximander, wie auch mit der Lehre des Demokrit: ,Es war alles beisammen‘, nämlich der Möglichkeit nach, nicht aber der Wirklichkeit nach. Sie dürften also im Grunde die Materie gemeint haben.
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Kapitel 2
(2.5) [b24] Alle Dinge aber, die sich verändern, haben eine Materie, nur jeweils verschiedene; auch die ewigen ousiai, welche nicht dem Entstehen, wohl aber der Bewegung unterworfen sind, haben eine Materie, nicht aber für Entstehung, sondern nur für ein Woher – Wohin. (2.6) [b26] Man könnte eine Schwierigkeit sehen, aus welchem Nichtseienden die Entstehung hervorgeht, da das Nichtseiende in drei verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. Wenn also etwas der Möglichkeit nach ist, ist es aber dennoch nicht aus dem ersten besten, sondern Verschiedenes aus Verschiedenem. Und es reicht nicht zu entgegnen: ,Alle Dinge waren beisammen‘; denn sie unterscheiden sich in Bezug auf die Materie. Weshalb sind denn sonst unendlich viele Dinge entstanden und nicht bloß eines? Denn die Vernunft ist nur eine, so dass wenn die Materie auch nur eine einzige wäre, jenes in Wirklichkeit würde, was die Materie der Möglichkeit nach ist. (2.7) [b32] Es gibt also drei Ursachen und drei Prinzipien: zwei bilden den konträren Gegensatz, von denen der eine ein Begriff und eine Form, der andere Beraubung , ist, das dritte ist Materie.“
2. Überblick Ohne es näher zu begründen, beginnt Aristoteles sein im ersten Kapitel skizziertes Projekt der theoretischen Untersuchung der ousia mit einer Untersuchung der sinnlich wahrnehmbaren ousia. Die Analyse der wahrnehmbaren ousia mit ihren zwei Arten, den vergänglichen und den ewigen ousiai, erstreckt sich über die Kapitel 2–5. Während im zweiten und dritten Kapitel gefragt wird, was die Prinzipien sind, die wir annehmen müssen, um die wahrnehmbaren ousiai zu verstehen, steht in dem vierten und fünften Kapitel die Frage nach der Identität und der Verschiedenheit der in den Kapiteln zwei und drei diskutierten Prinzipien wahrnehmbarer ousiai zur Diskussion. Ein Grund dafür, eine Untersuchung der ousia mit der wahrnehmbaren ousia zu beginnen, dürfte darin liegen, dass unstrittig ist, dass wahrnehmbaren Dingen der Status einer ousia zukommt [vgl. (1.4.1)]. Weiter ist unstrittig, dass es eine wesentliche Bestimmung dieser ousiai ist, der Bewegung bzw. der Veränderung unterworfen zu sein [vgl. (1.4.2)]. Weil es für sinnlich wahrnehmbare Einzeldinge wesentlich ist, der Veränderung unterworfen zu sein, muss man, wenn man die sinnlich wahrnehmbaren ousiai verstehen möchte, Veränderung verstehen und folglich fragen, welche Prinzipien man annehmen muss, um Veränderung verstehen zu können. Eine derartige Analyse der Veränderung hat also vornehmlich das Ziel, die Prinzipien der wahrnehmbaren ousiai zu ermitteln. Dass man
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eine Untersuchung der wahrnehmbaren ousiai so führen muss, dass man nach den Prinzipien der ousiai fragt, ist zwischen den Philosophen auch nicht weiter kontrovers: Im ersten Kapitel hatte Aristoteles darauf hingewiesen, dass die Elemente, d. h. die Prinzipien dieser ousia gefunden werden müssen [vgl. (1.4.1)]. Das zweite und dritte Kapitel verfolgen das Ziel, diese Prinzipien der wahrnehmbaren ousiai durch eine Analyse der Veränderung zu bestimmen. Eine erste Zusammenfassung dieser Untersuchung findet sich im letzten Satz des Kapitels [vgl. (2.7)], wenn Aristoteles sagt, dass zum Verständnis der sinnlich wahrnehmbaren ousia drei Ursachen und Prinzipien angenommen werden müssten: die Form, der Mangel an Form (d.h. die Formberaubung37) und die Materie. Das zweite Kapitel beginnt mit der Feststellung, dass die sinnlich wahrnehmbare ousia der Veränderung unterworfen ist (2.1). Damit ist das Thema für das zweite und dritte Kapitel vorgegeben. Es folgen zwei größere Teile, ein Teil mit den Abschnitten (2.2) und (2.3), und ein zweiter Teil mit den Abschnitten (2.4)–(2.6). Eine Zusammenfassung der Diskussion in (2.7) leitet zum dritten Kapitel über. In dem ersten Teil [(2.2) und (2.3)] wird für eine kategorienübergreifende Grundstruktur von Veränderung argumentiert. In (2.2) zeigt Aristoteles, dass drei Prinzipien zum Verständnis von Veränderung angenommen werden müssen: Zwei konträre Gegensätze und die Materie. Einerseits muss sich im Prozess der Veränderung etwas verändern, andererseits muss etwas beharren. Das, was sich verändert und was beharrt, kann nicht das Gegensatzpaar selbst, sondern nur die Materie sein. In (2.3) stellt Aristoteles die vier möglichen Arten von Veränderung vor, nämlich in der Kategorie der ousia, der Qualität, der Quantität und des Ortes. In jedem dieser Fälle ist die Veränderung als ein Übergang in den jeweiligen konträren Gegensatz zu verstehen. Ein Problem der Interpretation besteht darin, dass Aristoteles mit zwei unterschiedlichen Begriffen der Materie arbeitet. Im Fall der Veränderung der ousia, dem Entstehen oder Vergehen eines Einzeldings, ist es die Materie des aus Form und Materie konstituierten Einzeldings selbst, die sich verändert bzw. beharrt. Im Fall der Veränderung innerhalb der drei anderen Kategorien (Qualität, Quantität, Ort) ist die Materie demgegenüber identisch mit dem Einzelding selbst und nicht lediglich mit dessen Materie. Der zweite Teil [(2.4)–(2.6)] behandelt die Materie als eines der drei Prinzipien ausführlicher. Dazu wird ein neues Modell, Veränderung zu verstehen, eingeführt, das nicht mehr mit den Problemen des zweifachen Materiebegriffs belastet ist. Veränderung ist in allen vier Kategorien der Übergang von etwas, das der Möglichkeit nach etwas ist, in etwas, das der Wirklichkeit nach etwas ist. Aus Seiendem der Möglichkeit nach, d. h. aus Materie, wird Seiendes der Wirklichkeit nach. Aristoteles untersucht hier-
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Kapitel 2
bei mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad Probleme des Materiebegriffes. Während die Analyse von (2.4) für alle vier Arten der Veränderung gültig ist, gilt (2.5) einem speziellen Fall der Ortsveränderung, nämlich der Bewegung der ewigen Himmelskörper. Die Besonderheit der Himmelskörper besteht darin, dass diese ausschließlich der Ortsveränderung unterliegen. Von (2.6) an wird bis zum Ende des dritten Kapitels die Veränderung innerhalb der ersten Kategorie, der ousia, thematisiert. Aristoteles fragt, aus welcher Art von Nichtseiendem das Entstehen einer ousia möglich ist. Diese Frage zielt auf die Materie als dem Nichtseienden der Wirklichkeit nach ab. Ausgeführt wird ferner, dass nicht alle Dinge ein und dieselbe Materie haben können oder aus einer solchen entstanden sind, sondern dass die verschiedenen Dinge in unserer Welt im Regelfall aus verschiedener Materie entstehen. Das Schlusssatz (2.7) ist mehr als eine einfache Zusammenfassung, weil Aristoteles für die beiden konträren Gegensätze genauere Bezeichnungen einführt. Der erste Gegensatz wird als Begriff und Form bestimmt, der zweite als Formberaubung. Diese Bezeichnungen gelten im eigentlichen Sinn jedoch nur für die im weiteren Verlauf der Diskussion im dritten Kapitel entscheidende erste Art von Veränderung, die Veränderung der ousia. In einem weiten Sinn lassen sich die drei Begriffe aber auch auf alle anderen Arten der Veränderung anwenden.
3. Interpretation (2.1) Der erste Satz des Kapitels nennt den Ausgangspunkt der Untersuchung, die sich über das zweite und dritte Kapitel erstreckt: Die sinnlich wahrnehmbare ousia ist der Veränderung unterworfen. Der Veränderung unterworfen zu sein, ist eine wesentliche Eigenschaft der sinnlich wahrnehmbaren ousia. Dass die wahrnehmbaren ousiai wahrnehmbar sind, ist keine Eigenschaft, die den wahrnehmbaren ousiai an sich zukommt, sondern eine Eigenschaft, die ihnen nur zukommt, insofern es, zumindest prinzipiell, Wahrnehmungssubjekte (z. B. Menschen) gibt, die diese ousiai wahrnehmen können. Wenn Aristoteles daran interessiert ist, eine wesentliche Eigenschaft aller wahrnehmbaren ousiai zu untersuchen, (d. h. nicht nur eine Eigenschaft zu untersuchen, die allen wahrnehmbaren ousiai faktisch zukommt, sondern eine Eigenschaft zu untersuchen, die etwas über das Wesen der wahrnehmbaren ousiai aussagt,) dann kann seine Untersuchung nicht die Tatsache, dass diese ousiai wahrnehmbar sind, zum Gegenstand haben. Damit die wahrnehmbaren ousiai Wahrnehmungsobjekte für mögliche Wahrnehmungssubjekte sind, müssen die ousiai an sich bestimmte Bedin-
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gungen erfüllen. Eine wesentliche Bedingung ist dabei, einen materiellen Körper zu haben. Ein erster, noch eher intuitiver Zugang zum notwendigen Zusammenhang zwischen einem Wahrnehmungsobjekt und der Veränderung ist folgender: Unsere Welt ist so beschaffen, dass alles, was man wahrnehmen kann, einen im Raum ausgedehnten Körper hat. Nichts von dem, was einen Körper, der räumlich ausgedehnt ist, hat, ist aber unveränderlich, denn das Material, aus dem die Körper bestehen, verändert sich (selbst dann, wenn es mit bloßen Augen nicht immer zu beobachten ist). Für Aristoteles ist, wie später deutlich werden wird, der Zusammenhang zwischen Wahrnehmbarkeit und Veränderung noch etwas abstrakter: Jede sinnlich wahrnehmbare ousia ist aus Materie und Form konstituiert. Die Materie ist dabei das Prinzip der Möglichkeit der aus Form und Materie konstituierten ousia. Somit verfügt jede wahrnehmbare ousia notwendig über ein Prinzip der Möglichkeit, d. h. es ist der Möglichkeit nach etwas anderes als es zu einem gegebenen Zeitpunkt faktisch ist. Das bedeutet aber, dass die Materie dafür verantwortlich ist, dass sich die wahrnehmbare ousia verändert. Eine Untersuchung der Prinzipien der Veränderung ist also keine Untersuchung, die lediglich eine unbedeutende Eigenschaft der wahrnehmbaren ousia erfasst, sondern Aristoteles zufolge die Art von Untersuchung, die geführt werden muss, wenn wir die wahrnehmbare ousia verstehen wollen. Dennoch bleibt ein Problem bei Aristoteles, und zwar nicht nur in Buch Lambda, leider ganz ungeklärt. Warum ist er der Auffassung, dass die Prinzipien der Veränderung einer wahrnehmbaren ousia die Prinzipien dieser ousia selbst sind? (2.2) Das Ziel der beiden folgenden Argumente (2.2.1) und (2.2.2) ist es zu zeigen, dass wir drei Prinzipien annehmen müssen, wenn wir Veränderung verstehen wollen. Aus dem zehnten Kapitel wird deutlich [vgl. (10.2.2)], dass sich Aristoteles damit gegen die Auffassung richtet, Veränderung ließe sich durch die Angabe von lediglich zwei Prinzipien verstehen. Dieser von ihm kritisierten Auffassung zufolge ist es ausreichend, die jeweiligen Gegensätze anzugeben, innerhalb derer sich die Veränderung vollzieht. Wenn beispielsweise grüne Blätter im Herbst braun werden, lässt sich Aristoteles zufolge diese Veränderung nicht einfach dadurch beschreiben, dass Grünes zum Braunen wird. Wir müssen etwas drittes, die Materie, angeben, die zu Beginn des Veränderungsprozesses grün und am Ende des Veränderungsprozesses braun ist. Eine Schwierigkeit des Abschnittes besteht darin zu verstehen, warum Aristoteles in (2.2.1) sagen kann, dass sich die Materie verändert [vgl. auch (2.4.1)], in (2.2.2) aber sagt, dass sie beharrt. (2.2.1) Bevor Aristoteles sein Argument gegen die Annahme von zwei Prinzipien vorträgt, präzisiert er den Begriff des Gegensatzes. Nicht jeder mögliche Gegensatz kommt als ein Gegensatz, innerhalb dessen sich Ver-
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änderung vollziehen kann, in Frage. So steht die Stimme beispielsweise zwar in einem Gegensatz zum Weißen, denn die Stimme ist nicht weiß (also etwas Nicht-Weißes). Aber es kann nichts geben, das sich vom Weißen zur Stimme hin verändert. Veränderung kann es nur innerhalb von konträren Gegensätzen einer Gattung geben. Gegensätze sind dann konträr, wenn sie, etwas ungenau gesprochen, die extremen Gegensätze innerhalb einer Gattung sind. Eine solche Gattung bilden beispielsweise die Farben. Die konträren Gegensätze innerhalb der Gattung der Farben sind für Aristoteles weiß und schwarz. Sie sind die Extreme des Farbspektrums, und alle anderen Farben liegen zwischen diesen Extremen. Wenn Aristoteles davon spricht, dass eine Veränderung auch von „den Dingen, die in der Mitte liegen“, ausgehen kann, dann differenziert er seine Behauptung, dass Veränderung ausschließlich zwischen konträren Gegensätzen möglich ist; in dem Farbspektrum gehören die Farben grün, rot und gelb beispielsweise zu den Farben, die „in der Mitte“, d. h. im Zwischenraum zwischen den Extremen schwarz und weiß, liegen. Aristoteles’ Analyse umfasst also auch Veränderungen von gelb zu schwarz oder, wie wir ergänzen können, von gelb zu rot. Das Argument in (2.2.1) für die Annahme eines dritten Prinzips, der Materie, beruht auf folgender Überlegung. Wenn beispielsweise ein grünes Blatt braun wird, dann verändern sich nicht eigentlich die Gegensätze selbst, d.h. die Farben Grün und Braun. Die Farben bleiben dieselben, auch nach der Veränderung der Farbe des Blattes. Es muss also etwas Drittes über die beiden Gegensätze hinaus geben, das sich verändert. In unserem Beispiel ist es das Blatt selbst. Das Blatt ist zu einem Zeitpunkt t1 grün gewesen und ist nun zu einem späteren Zeitpunkt t1+n braun geworden. (2.2.2) Das Argument in (2.2.2) für die Annahme eines dritten Prinzips ist zunächst verwirrend. Während Aristoteles in (2.2.1) behauptet hat, dass es etwas geben muss, das sich im Prozess der Veränderung verändert, behauptet er nun in (2.2.2), dass es im Veränderungsprozess etwas geben muss, das beharrt. Die Konklusion beider Argumente in (2.2.3) lässt zudem keinen Zweifel daran, dass es in beiden Fällen um ein und dieselbe Sache, nämlich die Materie, geht, von der es im ersten Argument heißt, sie verändere sich, und von der im zweiten Argument angenommen wird, sie beharre. Das Problem löst sich, wenn wir beachten, dass das zweite Argument (2.2.2) den Prozess der Veränderung aus einer anderen Perspektive betrachtet.38 Während das erste Argument die Veränderung unter der Rücksicht betrachtet hat, dass sich etwas, in unserem Beispiel das Blatt, tatsächlich verändert hat, obwohl sich die Gegensätze selbst nicht verändert haben, betrachtet das zweite Argument die Veränderung unter der umgekehrten Rücksicht, dass etwas, in unserem Beispiel das Blatt, beharrt und
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sich im Veränderungsprozess gerade nicht verändert. Dass das Blatt beharrt und sich nicht verändert, kann man leicht verstehen: Das Blatt bleibt durch den Veränderungsprozess hindurch das, was es ist, nämlich ein Blatt. Dass die Gegensätze nicht beharren bedeutet, dass das Grüne am Blatt tatsächlich verschwindet und das Braune erscheint. Beide Perspektiven, die Veränderung zu beschreiben, ergänzen sich gegenseitig.39 Die Einführung der beiden Perspektiven provoziert die Frage, ob Aristoteles mit zwei unterschiedlichen Begriffen der Materie arbeitet, und wir werden in der Interpretation des nächsten Abschnitts sehen, dass sich dieselbe Frage auch noch aus einem weiteren Grund stellt. In der ersten Perspektive ist die Materie identisch mit dem offenbar nicht weiter differenzierten Einzelding. Es ist das Blatt, das sich verändert. In der zweiten Perspektive ist die Materie nicht mehr identisch mit dem Einzelding, sondern mit dem, was wir als einen Träger dieser Eigenschaften bestimmen könnten. Beides, das nicht weiter differenzierte Einzelding in der ersten, und der Träger der Eigenschaften, die sich verändern, in der zweiten Perspektive, wird von Aristoteles ,Materie‘ genannt. Dass Aristoteles diese beiden Materiebegriffe, allerdings in Bezug auf einen anderen Kontext, tatsächlich unterschieden hat, sei im Zusammenhang mit der Interpretation des nächsten Abschnitts erläutert. Bezogen auf (2.2) stellt sich aber die Frage, was Aristoteles der Sache nach veranlasst haben mag, überhaupt die beiden Perspektiven einzuführen, unter denen Veränderung beschrieben werden kann. Ein Grund dürfte vielleicht darin liegen, dass jeweils eine Perspektive für sich allein genommen zu unerwünschten ontologischen Konsequenzen führt. Wenn man lediglich die erste Perspektive einnimmt, dann wäre eine Welt, in der sich alles, was wahrnehmbar ist, in steter Veränderung befindet, die Konsequenz. In einer solchen Welt hätte man streng genommen gar nicht mehr die Möglichkeit, davon zu sprechen, dass sich ein Blatt verändert, weil diese Ausdrucksweise bereits voraussetzt, dass das Blatt eine gewisse Beharrlichkeit und Konstanz besitzt und vor und nach der Veränderung dasselbe ist. Wenn man lediglich die zweite Perspektive einnimmt, dann wäre die Konsequenz eine Ontologie, in der die Veränderung in keinem Fall als eine Veränderung des Dinges selbst, sondern nur seiner Eigenschaften verstanden werden kann. Ein Einzelding besteht dann aus einem unveränderlichen Träger und seinen wechselnden Eigenschaften. Eine derartige Annahme provoziert aber die Frage, was denn überhaupt ein solcher unveränderlicher Träger sein soll. Und was würde dafür sprechen, überhaupt noch von einem Träger und seinen Eigenschaften zu sprechen, als vielmehr die Dinge selbst nur noch als eine Kombination verschiedener Eigenschaften aufzufassen? (2.3) Aristoteles untersucht in (2.3) zunächst, innerhalb welcher Kate-
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gorien es überhaupt Veränderung geben kann. Seine Behauptung ist, dass es Veränderung nur in der Kategorie der ousia, der Qualität, der Quantität und des Ortes gibt.40 Die erste Art der Veränderung, die Veränderung der ousia, besteht im Entstehen und Vergehen eines Einzeldings, z.B. eines bestimmten Menschen. Wie alle vier Arten von Veränderung und überhaupt alle Kategorien [vgl. die Interpretation zu (1.2.1)], so wird auch diese Veränderung mit einem Fragepronomen eingeführt: Das Entstehen und Vergehen ist eine Veränderung des Was. Damit ist folgendes gemeint. Aristoteles geht von einer Frage aus, in der das Fragepronomen ,was‘ vorkommt. Eine solche Frage ist die Frage ,Was ist das?‘. Die Frage zielt darauf, was etwas seinem Wesen nach ist. Was als eine mögliche Antwort auf diese Frage gegeben werden kann, ist weniger einfach zu sagen. Deutlich ist, dass Aristoteles in seinen frühen Schriften, vor allem in der Topik41 und in den Kategorien42, diese Frage mit einem Ausdruck beantwortet, der für ein Einzelding oder aber dessen Art bzw. Gattung steht: ,Das ist Sokrates‘ oder ,Das ist ein Mensch‘43. Aus den frühen Schriften geht deutlich hervor, dass wir die ,Was ist das?‘-Frage sowohl mit einem Namen für ein Individuum als auch mit einem Art- oder Gattungsbegriff beantworten dürfen. Was für Typen von Antworten Aristoteles auf die ,Was ist das?‘-Frage in der Metaphysik zulässt, ist umstritten. Es gibt Interpreten, die der Auffassung sind, in der Metaphysik nähere sich Aristoteles einer platonischen Position an und vertrete, dass im eigentlichen Sinn nur Art- und Gattungsbegriffe als Antworten auf die ,Was ist das?‘-Frage genannt werden können. Diese Position bedeutet der Sache nach, dass das, was ein Einzelding seinem Wesen nach ist, durch einen Art- oder Gattungsbegriff adäquat beantwortet wird. Andere Interpreten nehmen die gegenteilige Position ein und meinen, dass eigentlich ausschließlich Namen von konkreten Einzeldingen mögliche Antworten auf die ,Was ist das?‘-Frage sein können.44 Wir werden im vierten und fünften Kapitel sehen, dass in Bezug auf das Buch Lambda die zweite Interpretation dem Text gerechter wird. Damit ist natürlich nicht schon ausgemacht, dass diejenige Position, die Aristoteles in Lambda vertritt, auch diejenige Position ist, die den anderen Büchern der Metaphysik zugrunde liegt. Schon im Kontext des zweiten Kapitels ist aber deutlich, dass die zweite Antwort mehr für sich hat, denn die richtige Antwort auf die Frage ,Was ist das?‘ gibt in (2.3) genau dasjenige an, was dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Nun sind aber nur konkrete Einzeldinge dem Entstehen und Vergehen unterworfen; Arten und Gattungen lassen sich zwar in einer Darwinschen, nicht aber in einer Aristotelischen Welt, in der Arten und Gattungen ewig sind, als etwas verstehen, das entsteht oder vergeht. Analog zu der ,Was ist das?‘-Frage werden auch die drei weiteren Arten der Veränderung mit Fragepronomen eingeführt. Die Veränderungen der Qualität erfragt man mit ,Wie beschaf-
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fen ist es?‘, die Veränderung der Quantität mit ,Wieviel (oder wie groß) ist es?‘, die des Ortes mit ,Wo ist es?‘. In Bezug auf diese vier Arten der Veränderung wiederholt sich nun das Problem, das uns schon bei der Interpretation des Materiebegriffs in (2.2) begegnet ist. Um dieses Problem detaillierter nachvollziehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass der Begriff der Materie in der Aristotelischen Metaphysik ein Begriff ist, der in den meisten Kontexten komplementär zum Begriff der Form gebraucht wird. Ein konkreter Einzelgegenstand ist Aristoteles zufolge vor allem durch zwei konstituierende Prinzipien bestimmt: Form und Materie. Die Form gibt das Sein des konkreten Einzelgegenstands an. Die Form des Sokrates ist beispielsweise das Sokratessein, die Form einer Kugel aus Erz das Kugelsein. Die Materie eines konkreten Einzelgegenstandes ist das dem Einzelgegenstand inhärente Prinzip der Veränderung dieses Einzelgegenstandes. Das Problem ist nun folgendes. Je nachdem, ob es sich bei einer Veränderung um eine Veränderung der ousia oder um eine Veränderung innerhalb der drei anderen Kategorien, d. h. der Qualität, Quantität oder des Ortes, handelt, ändert sich das, was unter der Materie zu verstehen ist. Im Fall einer Veränderung der Qualität, der Quantität oder des Ortes ist die Materie identisch mit dem Einzelgegenstand selbst. Unser Beispiel vom Blatt, das seine Farbe verändert, kann dieses deutlich machen. In dem Beispiel ist das dritte Prinzip der Veränderung, die Materie, ja nichts anderes als der Einzelgegenstand selbst, der sich verändert (bzw., aus der zweiten Perspektive von (2.2.2) betrachtet, der beharrt und an dem sich die Veränderung vollzieht). Die Materie ist hier also nicht ein konstituierender Teil des Einzelgegenstandes, des Blattes, sondern das Blatt selbst, d. h. das aus Form und Materie konstituierte Einzelding. Anders ist es aber im Fall der ersten Art von Veränderung, dem uneingeschränkten Entstehen und Vergehen eines Einzelgegenstandes. Aristoteles nennt das Entstehen hier ,uneingeschränkt‘, um es von dem Entstehen beispielsweise einer neuen Farbe an einem Gegenstand abzugrenzen. Beim Entstehen und Vergehen vollzieht sich die Veränderung nicht an dem Einzelgegenstand, sondern tatsächlich ausschließlich an der Materie eines Einzelgegenstandes, der neben dieser Materie auch durch das Prinzip der Form konstituiert ist. Wir müssen also, je nach Art der Veränderung, einen engen und einen weiten Begriff der Materie unterscheiden. Beim engen Begriff der Materie, mit dem wir bei der Veränderung der ousia arbeiten, ist der Begriff der Materie identisch mit der Materie eines aus eben dieser Materie und Form zusammengesetzten Einzelgegenstandes. Beim weiten Begriff der Materie, mit dem wir in den übrigen drei Arten der Veränderung arbeiten, ist die Materie identisch mit dem Einzelgegenstand selbst.
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Neben Passagen im Werk von Aristoteles, in denen er ebenso wie im zweiten Kapitel von Lambda die der Sache nach notwendige Unterscheidung im Materiebegriff nicht ausdrücklich macht, gibt es andere Passagen, in denen er die beiden Begriffe der Materie genau unterscheidet.45 Dass diese Unterscheidung in Lambda nicht gemacht wird, muss nicht bedeuten, dass Aristoteles sie nicht der Sache nach für wichtig gehalten oder dass er zu der Zeit, in der er Lambda geschrieben hat, noch nicht die Notwendigkeit dieser Unterscheidung gesehen hat. Wir können auch vermuten, dass er wegen der Kürze des Traktats in Lambda 2–5 nur diejenigen Differenzierungen ausdrücklich machen wollte, die für seine Untersuchung unbedingt notwendig sind. (2.4) (2.4.1) Vielleicht auf Grund der in (2.2) angesprochenen Schwierigkeit des Materiebegriffs vertieft Aristoteles seine Analyse dessen, was die Materie ist, im Folgenden durch die Einführung des Begriffs der Möglichkeit. Ganz unabhängig davon, was für eine Art von Veränderung vorliegt (d. h. unabhängig davon, ob die Materie identisch mit dem Einzelgegenstand oder mit einem konstituierenden Teil des Einzelgegenstandes ist), ist die Materie das Prinzip der Möglichkeit zur Veränderung. Wenn Aristoteles schreibt, dass das Seiende zweierlei ist, dann meint er damit, dass es das Seiende entweder der Möglichkeit oder der Wirklichkeit nach gibt. Die Veränderung besteht dann darin, dass etwas, das zu einem Zeitpunkt t1 der Möglichkeit nach F ist, zu einem späteren Zeitpunkt t1+n der Wirklichkeit nach F ist. So ist ein Blatt zum Zeitpunkt t1 der Möglichkeit nach braun (weil es noch grün ist) und zum Zeitpunkt t1+n dann der Wirklichkeit nach braun. Dass die Materie zu beiden Gegensätzen die Möglichkeit hat bedeutet, dass ein Gegenstand, der zum Zeitpunkt t1 die Eigenschaft F hat, der Möglichkeit nach zum selben Zeitpunkt die Eigenschaft nicht-F hat, und wenn er zum Zeitpunkt t1+n die Eigenschaft nicht-F hat, zu diesem Zeitpunkt der Möglichkeit nach die Eigenschaft F hat. (2.4.2) Mit der Einführung der Begriffe der Möglichkeit und der Wirklichkeit löst Aristoteles eine Schwierigkeit, mit der sich, vor allem durch Parmenides provoziert, einige Vorsokratiker und auch Platon herumgeschlagen haben. Wie ist es überhaupt möglich, dass etwas wird? Wenn etwas Seiendes wird, dann wird es entweder aus Seiendem oder aus Nichtseiendem. Aus Seiendem kann es nicht werden, denn es ist ja immer schon, aus Nichtseiendem kann es nicht werden, denn aus Nichts wird nichts.46 Aristoteles kann demgegenüber erstens behaupten, dass etwas aus Seiendem wird, nämlich aus Seiendem der Möglichkeit nach, als auch, dass etwas aus Nichtseiendem wird, nämlich Nichtseiendem der Wirklichkeit nach. Etwas, das zum Zeitpunkt t1 der Wirklichkeit nach nicht F ist, ist zum Zeitpunkt t1+n der Wirklichkeit nach F. Auch dann, wenn Aristoteles in (2.4.2) lediglich ein Argument andeutet,
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ist es wahrscheinlich, den in Frage stehenden Satz im Sinne der doppelten Unterscheidung von Seiendem und Nichtseiendem auf der einen Seite und Wirklichkeit und Möglichkeit auf der anderen Seite zu interpretieren. Der Schluss von (2.4.2) ist dabei klarer als der Anfang. Dass etwas aus Seiendem wird, bedeutet, dass es aus etwas wird, was der Möglichkeit nach ist. Warum Aristoteles aber meint aus (2.4.1) schließen zu können, dass etwas nicht nur aus Nichtseiendem in akzidentellem Sinn wird, ist nicht deutlich. Vielleicht meint Aristoteles mit dem Ausdruck ,Nichtseiendes in akzidentellem Sinn‘, dass ein a, das zum Zeitpunkt t1+n F ist, zum Zeitpunkt t1 nicht F (d. h. nicht-F seiend) ist, und dass es a zum Zeitpunkt t1 zukommt, auf akzidentelle Weise nicht F zu sein.47 Von systematischem Interesse ist, dass wir zwei Möglichkeiten haben, die Veränderung mit Hilfe der Begriffe ,Möglichkeit‘ und ,Wirklichkeit‘ zu beschreiben. Die erste Möglichkeit besteht darin zu sagen, dass alles vom Seienden (der Möglichkeit nach), die zweite, dass alles vom Nichtseienden (der Wirklichkeit nach) ausgeht. Deswegen meint Aristoteles auch, dass alles „auch aus Seiendem“ (nämlich der Möglichkeit nach) wird.48 (2.4.3) Aristoteles sichert die Analyse von (2.4.1) und (2.4.2) dadurch ab, dass er sich auf vier prominente Vorsokratiker beruft. Die vier Vorsokratiker lösen Aristoteles zufolge das Problem, das nichts aus nichts entstehen kann, durch die Annahme, es sei alles beisammen. Das bedeutet, dass sie der Auffassung sind, irgendwie sei alles immer schon da, müsse aber erst noch in Erscheinung treten. Zwar haben weder Anaxagoras noch Empedokles noch Anaximander noch Demokrit wörtlich von der Materie gesprochen, aber Aristoteles ist offenbar der Meinung, dass wenn man ihre Gedanken klarer ausdrücken wollte zu dem Ergebnis kommen müsste, dass sie die Materie, die das Prinzip der Möglichkeit ist, angenommen haben.49 (2.5) Aristoteles diskutiert hier ein Spezialproblem seiner Veränderungslehre, das sich in Bezug auf die ewigen Himmelskörper stellt. Bei denjenigen sinnlich wahrnehmbaren ousiai, die nicht ewig sind (die also entstehen und vergehen), lässt sich sowohl eine Materie, die dem Entstehen und Vergehen zugrunde liegt (d. h. die Materie im engen Sinn), als auch eine Materie, die den anderen Formen der Veränderung zugrunde liegt (d. h. die Materie im weiten Sinn) unterscheiden. Bei den Himmelskörpern ist das in relevanter Hinsicht anders. Weil sie ewig sind, entstehen und vergehen sie nicht. Sie können keine Materie haben, die dem Entstehen und Vergehen zugrunde liegt. Sie haben aber auch keine Materie, die der Veränderung der Qualität oder der Quantität zugrunde liegt, weil ihre einzige Form der Veränderung die Ortsveränderung ist, d. h. die Bewegung, mit der sie am Himmel ihre Bahnen entlang ziehen. Folglich haben sie nur eine bestimmte Art von Materie, nämlich eine Materie, die der
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Ortsbewegung zugrunde liegt.50 Für den Gesamtzusammenhang in Lambda ist an diesem Abschnitt die Tatsache wichtig, dass Aristoteles offensichtlich seine Analyse im zweiten Kapitel (und damit auch seine gesamte Analyse der sinnlich wahrnehmbaren ousiai in den Kapiteln 2–5) nicht nur für vergänglichen, sondern auch für die ewigen wahrnehmbaren ousiai führt.51 (2.6) Der erste Satz von (2.6) bereitet zwei Schwierigkeiten. Erstens wird nicht gesagt, welche drei Arten des Nichtseienden gemeint sind. Aristoteles unterscheidet an anderen Stellen der Metaphysik52 zwischen erstens Nichtseiendem der Formen der Kategorien nach, zweitens Nichtseiendem der Möglichkeit bzw. der Wirklichkeit nach, und drittens dem nicht wahr Seienden, d. h. dem Falschen. Zweitens ist unklar, warum dieser erste Satz überhaupt an dieser Stelle im zweiten Kapitel steht, und ob er nicht vielmehr zum Abschnitt (2.4.2) gehört, in dem ja bereits von dem Nichtseienden die Rede gewesen ist. Einige Interpreten haben vorgeschlagen, den Satz zu streichen53 oder haben gemeint, er sei durch die Schreiber der Manuskripte versehentlich an eine falsche Stelle gesetzt worden und gehöre eigentlich zu (2.4.2). Nun ist in (2.4.2) tatsächlich von Nichtseiendem die Rede, allerdings nur von Nichtseiendem in akzidentellem Sinn. Gegenüber (2.4) fällt in (2.6) aber auf, dass nicht mehr von allen vier Arten der Veränderung, sondern ausschließlich vom Entstehen und Vergehen einer ousia die Rede ist. Der erste Satz des Kapitels [vgl. (2.1)] kündigt ja die Veränderung der wahrnehmbaren ousia als Thema das Kapitels an. Nur in diesem Fall der Veränderung sind die dabei beteiligen Prinzipien tatsächlich die Prinzipien einer ousia, die zu klären Aristoteles angetreten ist. Mit (2.6) beginnt Aristoteles offenbar, sich ausschließlich dem Entstehen und Vergehen, d. h. der Veränderung des Einzeldings, der ousia, zuzuwenden, und dieses Thema behandelt er bis zum Ende des dritten Kapitels. Während in (2.4.2) also vom Nichtseienden in Bezug auf alle vier Arten der Veränderung die Rede war, ist in (2.6) ausschließlich von der Veränderung der ousia, d.h. vom Entstehen und Vergehen, die Rede. Wenn man sich diese Interpretation zu Eigen macht, kann auch erklärt werden, warum Aristoteles ein bestimmtes Argument, das er in (2.4.3) schon einmal aufgeführt hatte, nun noch ein zweites Mal, allerdings in einer bezeichnenderweise anderen Formulierung, anführt. In (2.4.3) war sowohl in Bezug auf Anaxagoras als auch in Bezug auf Demokrit davon die Rede, dass alles beisammen war. In (2.6) heißt es demgegenüber bezeichnenderweise, dass alle Dinge (gr. chrēmata) beisammen waren. Es geht Aristoteles also offenbar in (2.6) ausschließlich um die Veränderung der Dinge selbst. Der erste Satz von (2.6) steht also tatsächlich aus einem bestimmten Grund an genau dieser Stelle im zweiten Kapitel.
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Damit ist aber noch nicht beantwortet, aus welchem Nichtseienden die Entstehung hervorgeht. Innerhalb von Lambda findet man auf diese Frage keine Antwort, aber wie die Antwort auf die Frage lauten muss, lässt sich aus einer parallelen Stelle im letzten Buch der Metaphysik erschließen.54 Es ist das Nichtseiende der Wirklichkeit nach. Aristoteles schreibt an der besagten Stelle, dass das Entstehen aus dem der Möglichkeit nach Seienden, aber der Wirklichkeit nach nicht Seienden hervorgeht. Der Mensch werde beispielsweise aus dem, was nicht der Wirklichkeit nach, aber doch der Möglichkeit nach ein Mensch sei. Damit gilt die Analyse, die Aristoteles in (2.4.2) für die Veränderung der akzidentellen Eigenschaften eingeführt hat, ausdrücklich auch für die ousia. Eine weitere Aussage in (2.6) ist, dass die Materie als Ursache und Prinzip des Entstehens einer ousia nicht ein unqualifizierter Urstoff, ein erstes Bestes, ist, so dass alles, was es gibt, aus dieser einen Materie hervorgeht, sondern vielmehr alles, was entsteht bzw. vergeht, aus einer bestimmten Materie hervorgeht.55 Was Aristoteles damit meint, wird deutlicher, wenn man ein Beispiel aus dem siebten Kapitel des neunten Buch der Metaphysik hinzunimmt. Aristoteles führt dort aus, dass etwas, das der Möglichkeit nach etwas ist, bestimmten Kriterien genügen muss. Er fragt, wann etwas der Möglichkeit nach ein Mensch ist, und kommt zu dem Ergebnis, dass weder die Erde noch das Sperma der Möglichkeit nach ein Mensch ist. Es ist erst der Fötus, dem es zukommt, der Möglichkeit nach ein Mensch zu sein. Die Materie des Menschen ist also weder die Erde noch das Sperma, sondern der Fötus des Menschen.56 Mit der These, dass eine Materie als Prinzip angenommen werden muss, kritisiert Aristoteles den schon in (2.4.3) erwähnten Anaxagoras. Anaxagoras hatte angenommen, dass die Vernunft das Prinzip ist, das erklärt, warum alle Dinge so sind, wie sie sind. Diese Vernunft ist eine Einzige. Anaxagoras übersieht, dass man die Vielfalt der Dinge nicht aus einem einzigen Prinzip erklären kann. Deswegen kann die Vielfalt nicht aus der Vernunft erklärt werden. Wir brauchen also ein anderes Prinzip, das (evtl. zusammen mit der Vernunft) die Vielfalt der Dinge erklären kann. Dieses Prinzip ist die Materie. Anderenfalls, wenn die Materie, wie Aristoteles schreibt, auch nur eine Einzige wäre, würde alles, was der Möglichkeit nach ist, der Wirklichkeit nach sein, so dass es gar keine Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit mehr gäbe. (2.7) Die Konklusion, die Aristoteles aus der Untersuchung des zweiten Kapitels zieht, ist in einer Hinsicht überraschend. Dass das dritte Prinzip die Materie ist, ist unproblematisch. Dass die beiden konträren Gegensätze nun aber einerseits als Begriff bzw. Form, andererseits als Formberaubung bestimmt werden, kommt für uns unerwartet. Nun gibt es eine Art der Veränderung, in der die konträren Gegensätze tatsächlich die Form
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und die Formberaubung im eigentlichen Sinn sind, nämlich die erste Art der Veränderung, das Entstehen und Vergehen. Aristoteles konzentriert sich offenbar auf das Einzelding, das dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Diese Orientierung am Einzelding ist durch (2.6) vorbereitet und ist auch innerhalb des Projekts, das Aristoteles in Lambda verfolgt, sinnvoll. Immerhin sind die Einzeldinge die unumstrittenen Kandidaten für die ousia. Allerdings kann in einem weiteren Sinn auch von Materie, Form und Formberaubung in den anderen Kategorien gesprochen werden. So ist Aristoteles beispielsweise in Bezug auf die Farben der Auffassung, dass die Form das Weiße, die Formberaubung das Schwarze und die Materie der Körper57 ist. In Bezug auf die Gesundheit ist die Form das Gesunde, die Formberaubung das Kranke und die Materie der Körper [vgl. (4.4) und (4.5.2)]. Mit diesem weiten Verständnis von Form, Formberaubung und Materie sind allerdings Schwierigkeiten verbunden, denn es ist nicht immer plausibel, was sinnvollerweise als Form und was als Formberaubung gelten kann. Im Beispiel der Gesundheit ist es verständlich, das Gesunde als die Form und das Kranke als die Formberaubung zu verstehen. Ob man aber beispielsweise ,in Oxford sein‘ als Form oder Formberaubung auffassen kann, wird eher von persönlichen Präferenzen abhängen. Um zu verstehen, warum Form und Formberaubung die konträren Gegensätze bei der Entstehung und dem Vergehen sind, muss man sich von der Vorstellung lösen, dass die Form eines Einzeldings nichts weiter als das ist, was ein konkretes Einzelding seinem Sein nach jeweils ist. Nehmen wir als Beispiel einen jungen Mann, Martin. Lassen wir ihn Philosophie studieren und ihn sich mit den schwierigen Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach seinem Beruf und seiner Zukunft herumschlagen. Die Form von Martin beschreibt nun nicht das, was Martin jetzt gerade ist, sondern das, was Martin einmal sein wird, wenn er sein Martinsein vollkommen entfaltet hat. Martin befindet sich also noch in der Veränderung von der Formberaubung (denn noch hat er ja nicht die Form erreicht, ihm fehlt noch etwas an der Form) hin zum Erreichen seiner Form. Dabei entwickelt sich auch nicht die Form, denn die Form steht von Anfang an fest: Sie ist das, was Martin eigentlich seinem Wesen nach ist und was sich erst noch zeigen wird.58 Es ist Martin, der sich entwickelt, von der Formberaubung hin zu seiner Form. Das Beispiel von Martin kann noch ein Zweites deutlich machen. Man hat manchmal gefragt, warum Aristoteles in Lambda eigentlich nicht die Zielursache mit in seine Untersuchung der Prinzipien und Ursachen aufgenommen hat. In anderen Kontexten, am ausführlichsten in der Physik, ist stets von vier Ursachen die Rede, der Form, der Materie, der Zielursache und der Bewegungsursache. Die Bewegungsursache wird ausführlich
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im dritten Kapitel behandelt. Dass die Zielursache aber nicht erwähnt wird, liegt zum einen daran, dass durch die Formursache in wichtiger Hinsicht die Zielursache mitgegeben ist. Bei Lebewesen sind die Form und die Zielursache identisch. Die Form von Martin beschreibt das Ziel, auf das hin er sich entwickelt. Es mag noch einen wichtigen zweiten Grund dafür geben, dass Aristoteles die Zielursache nicht eigens aufführt. Der zweite Teil der Untersuchung in Lambda wird ergeben, dass es eine einzige letzte Zielursache für jede Art der Veränderung gibt, nämlich die unbewegte, erste, ewige ousia. Man kann vermuten, dass Aristoteles die Einführung der Zielursache nicht vorwegnehmen wollte (zumal er sie, wie wir gesehen haben, der Sache nach gar nicht einführen muss), um sie dann neu im zweiten Teil von Lambda einführen zu können.
Kapitel 3 Die Veränderung – Teil II 1. Der Text „(3.1) [1069b35] Danach , dass weder die Materie entsteht noch die Form, ich meine aber die letzten. Denn bei jeder Veränderung verändert sich (i) etwas und (ii) durch etwas und (iii) in etwas. Dasjenige, (ii*) wodurch es sich verändert, ist das erste Bewegende; das, (i*) was sich verändert, ist die Materie; das, (iii*) in das es sich verändert, ist die Form. Man müsste also ins Unendliche fortschreiten, wenn nicht nur das Erz rund würde, sondern auch das Runde und das Erz würde. Also muss notwendig ein Stillstand kommen. (3.2) [1070a4] Danach , dass jede ousia aus einem Synonymen entsteht (es sind nämlich sowohl die natürlichen Dinge ousiai als auch die übrigen). Entweder nämlich durch Kunstfertigkeit oder durch Natur oder durch Zufall oder spontan. Die Kunstfertigkeit nun ist ein in einem Anderen befindliches Prinzip, die Natur Prinzip in dem Ding selbst; denn ein Mensch erzeugt einen Menschen. Die übrigen Ursachen aber sind Beraubungen dieser . (3.3) [a9] Es gibt nun drei ousiai: einerseits die Materie, insofern sie ‚ein Dieses‘ (tode ti) dem Anschein nach ist (denn das, was durch Berührung und nicht durch natürliches Zusammenwachsen ist, ist Materie und Zugrundeliegendes), andererseits die Natur, ‚ein Dieses‘ (tode ti) und ein bestimmter Zustand, in dem etwas ist; drittens ferner die daraus hervorgehende einzelne ousia, wie Sokrates oder Kallias. (3.4) [a13] (3.4.1) Bei manchen Dingen nun gibt es das ‚ein Dieses‘ (tode ti) nicht neben der zusammengesetzten ousia, z. B. die Form eines Hauses, wenn nicht die Kunstfertigkeit . Auch findet bei diesen nicht Entstehen und Vergehen statt, sondern in anderer Weise kommt einem Haus ohne Materie und Gesundheit und allem im Bereich der Kunstfertigkeit ,ist‘ und ,ist nicht‘ zu. (3.4.2) [a17] Wenn überhaupt , dann bei den natürlichen Dingen. Daher hatte Platon nicht schlecht gesagt, dass es so viele Formen gibt, wie es natürliche Dinge gibt, sofern es überhaupt Formen gibt, aber nicht von diesen Dingen wie Feuer,
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Fleisch, Kopf; denn dies alles ist Materie, und zwar die letzte Materie der ousia im eigentlichen Sinne. (3.5) [a21] (3.5.1) Dasjenige nun, was bewegende Ursachen sind, besteht schon vorweg. Dasjenige aber, was als Begriff (logos) Ursache ist, besteht zugleich. Denn dann, wenn der Mensch gesund ist, ist auch die Gesundheit vorhanden, und die Gestalt der ehernen Kugel und die eherne Kugel selbst bestehen zugleich. Ob aber auch nachher etwas noch verbleibt, das ist zu untersuchen. In manchen Fällen steht dem nämlich nichts im Wege; z. B. ist die Seele vielleicht von dieser Beschaffenheit, nicht die gesamte, sondern die Vernunft; denn dass die ganze Seele verbleibt, ist wahrscheinlich unmöglich. (3.5.2) [a26] Offenbar ist also nur, dass man deshalb in keiner Hinsicht der Annahme der Ideen bedarf; denn ein Mensch erzeugt einen Menschen, der einzelne den einzelnen. In ähnlicher Weise verhält es sich bei den Kunstfertigkeiten; denn die Heilkunst ist der Begriff (logos) der Gesundheit.“
2. Überblick Das dritte Kapitel gliedert sich in zwei Teile.59 Der erste Teil, (3.1)– (3.3), vertieft die Analyse der ersten Art der Veränderung, d. h. das Entstehen und Vergehen einer ousia, mit deren Analyse Aristoteles explizit am Ende des zweiten Kapitels in (2.6) begonnen hat. Neu gegenüber dem zweiten Kapitel ist vor allem, dass die Bewegungsursache in die Analyse der Veränderung mit eingeführt wird. Im zweiten Teil, (3.4)–(3.5), wendet sich Aristoteles der Frage zu, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen die Form- und die Bewegungsursache selbstständig existieren. Die drei Abschnitte des ersten Teils sind einzelne Nachträge zur Untersuchung der Veränderung einer wahrnehmbaren ousia. Schon der Ausdruck ,meta tauta‘, mit dem der griechische Text sowohl in (3.1) als auch in (3.2) beginnt, und der mit ,nach diesen Dingen ‘ bzw. einfacher ,danach ‘ übersetzt wird, macht deutlich, dass Aristoteles in (3.1) und (3.2) zwei weitere Aspekte zur Diskussion der Veränderung einführen möchte, die miteinander nicht unmittelbar zusammenhängen. In (3.1) erklärt Aristoteles, dass weder die Materie noch die Form eines konkreten Einzeldings entstehen (oder vergehen). Es ist ausschließlich das wahrnehmbare Einzelding, das dem Entstehen und Vergehen unterliegt. In (3.2) unterscheidet Aristoteles vier Fälle der Entstehung einer ousia (im Sinne eines wahrnehmbaren Einzeldings) voneinander, die Entstehung durch Kunstfertigkeit, durch Natur, durch Zufall und durch Spontaneität, und zeigt, dass die Bewegungsursache in allen vier Fällen dieser ousia synonym ist. Ein Ergebnis der Diskussion der Verände-
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rung der wahrnehmbaren ousiai findet sich in (3.3): Aristoteles unterscheidet drei ousiai voneinander, das sinnlich wahrnehmbare Einzelding, dessen Materie und dessen Form. Die beiden Abschnitte (3.4) und (3.5), die den zweiten Teil des Kapitels bilden, gehören der Sache nach eng zusammen. Aristoteles diskutiert in Auseinandersetzung mit Platon, welche der bisher genannten ousiai selbstständig existieren können. In (3.4) untersucht er die Form, in (3.5) zusätzlich zur Form auch die Bewegungsursache, die in (3.1) eingeführt worden ist und die, weil sie entweder eine Form oder ein Einzelding sein muss, ebenfalls eine ousia ist. In Bezug auf die Form unterscheidet er zwischen der Form von Artefakten und der Form von natürlichen Dingen. Bei Artefakten kommt der Form unter einer Einschränkung keine selbstständige Existenz zu. Die Einschränkung besteht in der Annahme, dass die Kunstfertigkeit des Herstellenden die Form des Artefakts ist. Ohne sich auf eine eindeutige Position festzulegen, meint Aristoteles, dass bei den natürlichen Dingen die selbstständige Existenz der Formen vielleicht möglich sei, wie schon Platon behauptet habe. In (3.5) wird die Frage nach der Möglichkeit einer selbstständigen Existenz der Bewegungs- und Formursache von einer anderen Perspektive her zu beantworten versucht. Diese Perspektive ist die der zeitlichen Abfolge. Wenn eine Ursache erstens bereits besteht, bevor das entsteht, dessen Ursache sie ist, und wenn sie zweitens bestehen bleibt, obwohl das, dessen Ursache sie ist, nicht mehr existiert, kann man von einer selbstständigen Existenz der Bewegungs- und der Formursache sprechen. Diese selbstständige Existenz anzunehmen bedeutet aber nicht, deswegen schon Platonische Ideen zu akzeptieren. Man mag sich fragen, warum Aristoteles in seiner Analyse der Veränderung der wahrnehmbaren ousia ausgerechnet diese Punkte anspricht. Man würde vor allem meinen, dass die Abschnitte (3.4) und (3.5), die zusammengenommen die Hälfte des gesamten Textes des Kapitels einnehmen, nicht unmittelbar für ein Verständnis der Veränderung relevant sind. Dass die Frage nach der selbstständigen Existenz der Form- und der Bewegungsursache bereits im dritten Kapitel angesprochen ist, liegt aber wahrscheinlich daran, dass diese Fragestellung für das gesamte Projekt von Lambda von großer Bedeutung ist. Das Buch Lambda zielt ja u. a. auf ein Verständnis des Zusammenhangs der drei Arten von ousia, die im ersten Kapitel voneinander unterschieden worden sind. Im sechsten und siebten Kapitel wird sich zeigen, dass die dritte ousia selbstständig abgetrennt ist und Bewegungsursache für die gesamte Wirklichkeit ist. Es ist innerhalb dieses Projektes also sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass nicht nur die erste Bewegungsursache von allem selbstständig abgetrennt ist, sondern
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jede Bewegungsursache abgetrennt von dem, dessen Bewegungsursache sie ist, existiert.60 3. Interpretation (3.1) Dass weder die letzte Materie noch die letzte Form, d.h. die Materie und die Form eines konkreten Einzeldings am Ende seines Veränderungsprozesses, entstehen können, ergibt sich aus der Art und Weise, wie Aristoteles im zweiten Kapitel die Veränderung beschrieben hat. Materie und Form sind dort als Begriffe eingeführt worden, die jede Veränderung, und damit auch das Entstehen, verständlich machen sollen. Die Erklärung des Entstehens setzt somit voraus, dass wir mit den Begriffen Materie und Form arbeiten. Wenn die letzte Form, nennen wir sie Form1, selbst entstünde, dann müssten wir folglich eine Form2 und eine Materie2 einführen, die uns verständlich machen, warum die Form1 entsteht. Mit der Form2 und Materie2 wären aber kein Endpunkte in der Analyse der Veränderung gegeben, denn wir könnten wiederum fragen, wie denn die Form2 (und auch die Materie2) entstanden sind. Wir bräuchten also eine weitere Form3 und eine weitere Materie3, die uns erklären, wie die Form2 entstanden ist (und eine Form4 und Materie4, die erklären, wie Materie2 entstanden ist) usw. Die Annahme, dass die letzte Form und die letzte Materie entstehen, führt also in einen infiniten Regress. Es ist folglich nicht möglich, dass die Form1 entsteht; sie ist plötzlich da, dann nämlich, wenn der Prozess der Entstehung des konkreten Einzeldings ein Ende gefunden hat. Das Beispiel der ehernen Kugel (d. h. einer Kugel aus Erz), das in (3.1) nur angedeutet aber viel ausführlicher an einer anderen Stelle innerhalb der Metaphysik diskutiert wird, veranschaulicht diesen Sachverhalt.61 Wer eine eherne Kugel herstellt, der stellt genau genommen weder die Materie, das Erz, noch die Form einer Kugel her, sondern formt das Erz zu einer Kugel. Die Kugelform ist am Ende des Prozesses da, als Form eines aus Materie und Form zusammengesetzten Einzelgegenstandes, eben der ehernen Kugel. Was in diesem Prozess entsteht, ist eine eherne Kugel, d. h. ein konkreter Einzelgegenstand, nicht aber die Kugelform selbst. Für ein genaues Verständnis der Herstellung einer ehernen Kugel ist es nicht mehr ausreichend, lediglich mit den drei Prinzipien und Ursachen zu arbeiten, die am Ende des zweiten Kapitels aufgezählt worden sind. Wir müssen ein weiteres Prinzip annehmen, eine Bewegungsursache, durch die sich etwas verändert, d. h. konkret: durch die ein bestimmter Klumpen Erz zu einer ehernen Kugel wird. Wenn Aristoteles in (3.1) von einem ‚ersten Bewegenden‘ spricht, dann meint er wohl an dieser Stelle diejenige Bewegungsursache, die unmittelbar für die Entstehung des konkreten Einzeldinges verantwortlich ist. Die Bewegungsursache spielt, wie wir gleich
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sehen werden, auch bei der Erklärung des Entstehens eines Lebewesens eine zentrale Rolle; es ist, gemäß den biologischen Annahmen von Aristoteles in Bezug auf die Zeugung, der Vater, der die Bewegungsursache für ein Kind ist. (3.2) Die Bewegungsursache wird nun näher differenziert, je nachdem für welche ousia sie Bewegungsursache ist. Vier Arten des Entstehens einer ousia werden voneinander unterschieden: (1) etwas entsteht durch Kunstfertigkeit, d. h. etwas wird hergestellt; (2) etwas entsteht durch die Natur; (3) etwas entsteht durch Zufall; (4) etwas entsteht spontan. Wir würden uns schwer tun zu verstehen, worin genau der Unterschied zwischen einem zufälligen und einem spontanen Entstehen besteht; glücklicherweise erklärt uns Aristoteles, dass der Zufall die Beraubung der Kunstfertigkeit und die Spontaneität die Beraubung der Natur darstellt. Wenn wir verstanden haben, wie Aristoteles das Entstehen im Fall einer Kunstfertigkeit und das Entstehen durch die Natur konzipiert, ist zu hoffen, dass auch verstanden werden kann, was Aristoteles mit dem Zufall und der Spontaneität meint. Aristoteles vertritt die These, dass jede ousia aus etwas, das der ousia synonym ist, entsteht. Um diese These nicht misszuverstehen ist zu beachten, dass Aristoteles einen anderen Begriff der Synonymität hat als wir heute. Für uns sind zwei Namen synonym, wenn sie ein und denselben Gegenstand benennen. Für Aristoteles sind nicht Namen, sondern Dinge synonym, und zwar dann, wenn sie zur selben Art gehören und dadurch dann auch denselben Artnamen haben. Für den zweiten Fall, das Entstehen von einer ousia durch die Natur, bringt Aristoteles ein Beispiel. Es ist ein Mensch, der einen Menschen zeugt. Wenn auch der Vater und der Sohn zwei unterschiedliche Individuen sind, so gehören sie doch zur selben Art, zur Art des Menschen. Sie sind also synonym. Spontaneität liegt dann vor, wenn in der Natur etwas gezeugt wird, ohne dass jemand die Absicht hat, zu zeugen. Aristoteles meint, dass Lebewesen manchmal aus einem Samen, manchmal aber auch ganz ohne Samen entstehen können.62 Aus anderen Schriften wissen wir, dass Aristoteles offenbar meinte, manche Insekten könnten beispielsweise aus faulender Erde spontan entstehen. Im Fall der Kunstfertigkeit, d.h. bei der Erklärung der Herstellung eines Artefakts, ist die Erklärung notgedrungen etwas komplizierter. Wir wären zunächst gewillt anzunehmen, als Bewegungsursache dafür, dass beispielsweise aus den konkreten Ziegelsteinen und den Brettern ein Haus entsteht, könnten nur die Maurer und Handwerker in Frage kommen. Ein Handwerker und ein Haus sind aber nicht synonym. Sie gehören nicht zu ein und derselben Art. Die eigentliche Bewegungsursache dafür, dass ein Haus entsteht, sind
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Aristoteles zufolge aber nicht die konkreten Maurer und Handwerker, die am Hausbau beteiligt sind. Die Bewegungsursache ist vielmehr der Plan des Hauses, der in der Seele des Architekten ist. Es ist die geistige Vorstellung des Architekten von dem Haus, die die Bewegungsursache für das konkrete Haus ist. Dieser Plan ist nicht lediglich eine Art bildlicher Vorstellung davon, wie das Haus äußerlich ausschauen soll, sondern setzt ein detailliertes Wissen darum, wie man Häuser bauen muss, voraus. Die eigentliche Bewegungsursache ist im Fall der Kunstfertigkeit also tatsächlich in einem anderen, nämlich in der Seele des Architekten, und sie ist synonym mit dem Artefakt, das entsteht, weil das Haus in der Seele des Architekten und das konkrete Haus synonym sind. Dieses Beispiel macht auch verständlicher, warum Aristoteles behaupten kann, der Zufall sei die Beraubung der Kunstfertigkeit. Die Kunstfertigkeit zielt darauf, ein Artefakt herzustellen, und Bewegungsursache für diesen Herstellungsprozess ist das Wissen um das herzustellende Artefakt in der Seele des Herstellenden, selbst wenn er nicht der unmittelbar Herstellende ist (das sind die Handwerker). Beim Zufall nun entsteht das Artefakt zwar, aber ohne das dafür eigentlich notwendige Wissen. Um die zufällige Herstellung eines Artefakts zu erklären, berufen wir uns nicht auf das Wissen des Menschen (also beispielsweise auf das Haus in der Seele des Architekten, das auch ein Wissen darum, wie ein Haus herzustellen ist, impliziert), sondern darauf, dass es der Zufall gewesen ist, der zur Herstellung des Artefakts geführt hat. An einer anderen Stelle der Metaphysik bringt Aristoteles das Beispiel eines kranken Menschen, dessen Arzt weiß, dass sich durch gezielt ausgeführte Massagen der Körper an bestimmten Regionen erwärmen muss, damit der Kranke gesunden kann. Der Kranke kann aber auch ohne das Wissen des Arztes, also zufällig, gesund werden, beispielsweise dadurch, dass er sich ohne zu wissen, dass er Wärme braucht, in die Sonne begibt und von selbst gesund wird.63 (3.3) Wenn Aristoteles im Folgenden drei Dingen den Status einer ousia zuspricht, erstens der Form, zweitens der Materie und drittens dem konkreten, aus Form und Materie zusammengesetzten Einzelding, dann ist diese Unterscheidung der ousiai nicht identisch mit der Unterscheidung der drei ousiai am Ende des ersten Kapitels [vgl. (1.4)]. Im ersten Kapitel hat Aristoteles zwischen (a) wahrnehmbarer und (b) unbeweglicher ousia unterschieden, wobei (a) wiederum in (a1) vergänglicher und (a2) ewiger ousia unterschieden wurde. Die Unterscheidungen in (3.3) sind Unterscheidungen innerhalb von (a). Der sinnlich wahrnehmbaren ousia aus dem ersten Kapitel entspricht das konkrete, aus Form und Materie zusammengesetzte Einzelding aus (3.3), das seinerseits wiederum in Materie und Form analysiert wird.
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Kapitel 3
Die drei ousiai in (3.3) unterscheiden sich natürlich auch von den drei Ursachen und Prinzipien, die in (2.7) aufgeführt worden sind. Zwar entspricht der Form und der Materie aus (2.7) die Form und die Materie in (3.3), die Formberaubung, die in (2.7) erwähnt wird, ist aber keine ousia, auch wenn sie auf eine ousia, nämlich die Form, bezogen ist.64 Dass das konkrete und sinnlich wahrnehmbare Einzelding eine ousia ist, wissen wir bereits aus dem ersten Kapitel [vgl. (1.4.1)]. Als zwei Beispiele für eine solche ousia nennt Aristoteles in (3.3) zwei Menschen, Sokrates und Kallias. Von dieser ousia wird gesagt, dass sie aus zwei weiteren ousiai hervorgeht. Damit ist gemeint, dass ein sinnlich wahrnehmbares Einzelding zwei ontologische Konstituenten hat: Die Materie, die der Möglichkeit nach eine ousia ist,65 und die Form, die in den Substanzbüchern als die eigentliche ousia bezeichnet wird. Wenden wir uns zunächst der Bestimmung der Materie, dann der Bestimmung der Form zu. Die Beschreibung der Materie ist kompliziert und voraussetzungsreich. Wir erfahren erstens, dass die Materie dem Anschein nach ‚ein Dieses‘ ist,66 zweitens, dass sie durch Berührung und nicht durch natürliches Zusammenwachsen ist, und drittens, dass sie Zugrundeliegendes ist. Dabei erläutert die Tatsache, dass die Materie dem Anschein nach ‚ein Dieses‘ ist offenbar, dass der Materie der Status einer ousia zukommt. Wir müssen zunächst zu verstehen versuchen, was Aristoteles mit dem Ausdruck ,tode ti‘ meint, der mit ,ein Dieses‘ übersetzt worden ist. Die genaue Deutung und somit auch die Übersetzung des Ausdrucks ist umstritten.67 In der Kategorienschrift bezeichnet der Ausdruck ,tode ti‘ an vielen Stellen einen konkreten Einzelgegenstand.68 Die Kategorienschrift kennt allerdings die Unterscheidung von Form und Materie nicht. In (3.3), wie auch sonst innerhalb der Bücher der Metaphysik, ist es nicht mehr nur der konkrete Einzelgegenstand, sondern vor allem auch die Form des Einzelgegenstandes, die ein tode ti genannt wird. Für den Ausdruck sind zwei Deutungen möglich, die jeweils einen unterschiedlichen Akzent in den Ausdruck hineintragen, ohne dass sie sich der Sache nach gegenseitig ausschließen. Die erste Möglichkeit ist, den Ausdruck mit ,ein Dieses‘ zu übersetzen, wobei ,Dieses‘ für einen Artbegriff wie beispielsweise ,Mensch‘ steht. Die Alternative ist, den Ausdruck mit ,dieses Etwas‘ oder ,dieses bestimmte Etwas‘ zu übersetzen, wobei dann nicht das Demonstrativpronomen ,Dieses‘, sondern das ,Etwas‘ für den Artbegriff steht. Dass die Materie ein ,ein Dieses‘ dem Anschein nach ist, kann zweierlei bedeuten, je nachdem, ob man ,ein Dieses‘ als Einzelgegenstand oder als Form versteht. Im ersten Fall wäre gemeint, dass jemand, der ein konkretes Einzelding sieht, meinen könnte, die materiellen Bestandteile des Einzeldings seien das, was der konkrete Einzelgegenstand eigentlich ist. Diese Interpretation ist zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich, da ,ein Die-
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ses‘ gleich darauf in (3.3) als Ausdruck für die Form verwendet wird. Dass die Materie ein ,ein Dieses‘ dem Anschein nach ist, sollte man also eher wie folgt verstehen: Die Materie erweckt den Anschein, das zu sein, was das Einzelding eigentlich ist. Weil das Einzelding eigentlich die Form ist, erweckt die Materie also den Anschein, die Form, also das ,ein Dieses‘ zu sein. In einem Abschnitt des neunten Buches der Metaphysik meint Aristoteles, die Materie sei ein ,ein Dieses‘, aber nicht der Wirklichkeit, sondern nur der Möglichkeit nach.69 Was Aristoteles freilich genau meint, wenn er sagt, die Materie sei das, was durch Berührung und nicht durch natürliches Zusammenwachsen ist, ist nicht ganz klar. Ross folgt in seinem Kommentar der Interpretation von Alexander. Alexander meint, dass die Teile einer Sache (beispielsweise die Ziegel eines Hauses), die Materie der Sache (also des Hauses) sind, wenn man sie nicht unter dem Aspekt der organischen Einheit, die erst durch die Form (des Hauses) zustande kommt, sondern lediglich als Teile, die in bloßer Berührung zueinander stehen, betrachtet.70 Aber warum, so möchte man fragen, müssen sich die Teile tatsächlich berühren? Dass die Materie das Zugrundeliegende ist, ist demgegenüber wieder leichter zu verstehen. Wir wissen bereits aus dem zweiten Kapitel, dass die Materie als dasjenige beschrieben werden kann, an dem sich jede Veränderung vollzieht. Die Materie ist also das, was jeder Veränderung zugrunde liegt, und in Bezug darauf wird sie in vielen Stellen der Metaphysik auch ein Zugrundeliegendes (hypokeimenon) genannt. Auch für die Form, die in (3.3) nicht wörtlich erwähnt wird [vgl. aber die Erwähnung der Form in (3.4.1)], werden verschiedene Ausdrücke verwendet. Aristoteles spricht erstens von der Natur, zweitens von dem ,ein Dieses‘ und drittens davon, dass diese ousia ein bestimmter Zustand ist, in dem etwas ist. Unter der Natur einer Sache versteht Aristoteles an anderen Stellen seiner Werke vor allem das, was eine wahrnehmbare und somit der Veränderung unterworfene Sache ihrem Wesen nach ist. Insofern ist der Begriff der Natur spezifischer als der allgemeinere Begriff der Form, der ohne Bedeutungsunterschied von veränderlichen und unveränderlichen Dingen ausgesagt werden kann. Dass die Form ,ein Dieses‘ ist, ist im Zusammenhang mit der Erklärung der Materie gerade dargestellt worden (s. o.). Dass die Form ein bestimmter Zustand ist, in dem etwas ist, lässt sich unter Rückgriff auf das in der Interpretation zu (2.7) eingeführte Beispiel verständlich machen. Die Form von Martin wurde dort als der Endzustand eines Prozesses verstanden, der dann erreicht ist, wenn Martin durch eine Entwicklung hindurch zu demjenigen geworden ist, der er seinem Wesen nach ist. Die Veränderung innerhalb der ersten Kategorie, der ousia, zielt auf das Erreichen der Form. Insofern kann die Form selbst als der Zustand beschrieben werden, zu dem etwas wird.
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Kapitel 3
Es ist überraschend, dass Aristoteles in (3.3) die Bewegungsursache, die in (3.1) eingeführt worden ist, nicht eigens erwähnt. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass in (3.3) nicht die für ein vollständiges Verständnis der Veränderung der ousia notwendigen Prinzipien und Ursachen aufgezählt werden. Insofern ist (3.3) keine abschließende Zusammenfassung der Analyse der Veränderung. Weil die Bewegungsursache selbst, wie in (3.2) ausgeführt wurde, aber sowieso entweder ein Einzelding oder eine Form ist, kommt ihr qua Einzelding oder Form in jedem Fall der Status einer ousia zu. (3.4) Aristoteles untersucht, in welchen Fällen das ,ein Dieses‘, also die Form, neben der aus Form und Materie zusammengesetzten ousia existieren kann. Der Sache nach ist das die Frage danach, ob die Form, oder in welchen Fällen die Form selbstständig abtrennbar ist. Er unterscheidet dabei zwischen der Form in Bezug auf Artefakte (3.4.1) und in Bezug auf natürliche Dinge (3.4.2). (3.4.1) Bei den Artefakten gibt es die Form des jeweiligen Artefakts nicht unabhängig von dem konkreten Artefakt. Die Form eines Hauses ist da, wenn das Haus fertig gebaut ist. Sie ist nicht mehr da, wenn das Haus zerstört ist. Aristoteles macht allerdings eine Einschränkung, die aufgrund der Kürze des Textes nur schwer zu verstehen ist. Aristoteles schreibt lediglich: „wenn nicht die Kunstfertigkeit“. In der Übersetzung haben wir den Satz ergänzt und verstehen ihn so, dass Aristoteles sagt, dass es einen Fall gibt, bei dem man davon sprechen kann, dass die Form unabhängig vom Artefakt ist, nämlich dann, wenn man die Kunstfertigkeit als Form des Hauses bezeichnet. Gemeint ist damit folgendes: Die eine Form des Hauses existiert in zwei verschiedenen Weisen, zum einen als Form des konkreten Hauses, zum anderen als Form in der Seele, genauer im Verstand, des Architekten. Insofern kann man sagen, dass die Form des Hauses auch unabhängig vom konkreten Haus in der Seele des Architekten existiert. Der Architekt versteht die Form, und dieses Verständnis ist identisch mit der Fertigkeit, ein Haus bauen zu können.71 Der zweite Satz des Abschnitts ist mehrdeutig, weil unklar ist, auf was sich das Demonstrativpronomen ,diesen‘ bezieht. Es könnte sich erstens auf die Form einer zusammengesetzten ousia und zweitens auf die Form in der Seele eines kunstfertigen Menschen, eines Architekten oder, am Beispiel der Gesundheit, eines Arztes, beziehen. Wenn Aristoteles die erste Möglichkeit gemeint hätte, dann würde er aber nur wiederholen, was er in (3.1) bereits gesagt hat. Insofern ist es plausibler, den Satz im zweiten Sinne zu verstehen. Mit dem ,Haus ohne Materie‘ ist dann nicht die Form des konkreten Hauses in Abstraktion von der Materie, sondern das Haus in der Seele des Architekten gemeint. Wie den Formen in der Seele der kunstfertigen Menschen ,ist‘ und ,ist nicht‘ zugesprochen wer-
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den kann, wird leider nicht näher erläutert. Vielleicht will Aristoteles nicht mehr sagen als er in (3.1) sagt, d. h. dass auch diese Formen nicht entstehen und vergehen, sondern plötzlich da sind, wenn sich der Architekt über alle Details des zu bauenden Hauses hinreichend Gedanken gemacht hat. (3.4.2) Im Folgenden legt sich Aristoteles nicht auf die These fest, dass es die Form im Fall der natürlichen Dinge unabhängig von den natürlichen Dingen gibt. Er lässt die Frage offen. Wenn überhaupt, so meint er, dann gebe es die Form unabhängig von dem konkreten Einzelding ausschließlich bei natürlichen Dingen. In (3.5.1) wird Aristoteles präzisieren, dass es überhaupt nur einen einzigen Fall gibt, in dem die Form vielleicht unabhängig vom konkreten Einzelding existiert, nämlich den der Seele. Der Schluss des Abschnitts (3.4.2), der mit „aber nicht von diesen Dingen wie Feuer, Fleisch, Kopf“ beginnt, ist schwer zu verstehen. Ein Problem besteht darin, dass die griechischen Handschriften in einer wichtigen Hinsicht voneinander abweichen.72 Der wesentliche Unterschied besteht in der Frage, ob das ,nicht‘ im Ausdruck „aber nicht von diesen Dingen wie Feuer, Fleisch, Kopf“ zum ursprünglichen Text dazu gehört hat. Es gibt ein durchaus verlässliches Manuskript, nämlich J, das das ,nicht‘ im griechischen Text aufführt, und diesem Manuskript schließt sich unsere Übersetzung an.73 Gemeint ist wohl folgendes: Zunächst stimmt Aristoteles Platon zu, dass, falls es überhaupt Formen unabhängig von einem konkreten Einzelding gibt, dieses bei natürlichen Dingen der Fall ist. Dann, in dem uns interessierenden Teilsatz, bringt er Beispiele für Dinge, die keine unabhängigen Formen zulassen, weil sie Materie sind. Der Satz wäre dann wie folgt zu verstehen: Selbst dann, wenn man Platon zugestehen würde, dass es selbstständig existierende Formen für natürliche Dinge gibt, muss noch geklärt werden, was alles als ein natürliches Ding gelten kann. Wie immer man diese Frage entscheidet, Feuer, Fleisch und Kopf sind zwar keine Artefakte, sondern natürliche Dinge in einem sehr weiten Sinn. Sie gehören aber nicht zu den möglichen Kandidaten für natürliche Dinge mit selbstständig existierenden Formen, weil sie keine aus Materie und Form zusammengesetzten Einzeldinge, sondern lediglich Materie sind. Das Feuer ist dabei eines der natürlichen Elemente (insofern könnten die Platoniker zur Auffassung neigen, es gäbe eine Idee des Feuers), das Fleisch besteht zum Teil aus Feuer, der Kopf74 (der offenbar stellvertretend für andere Körperteile steht) besteht auch aus Fleisch.75 Dass die Materie jeweils die letzte Materie der ousia im eigentlichen Sinn ist, bedeutet wohl, dass das Feuer die letzte Materie [d. h. im Sinn von (3.1) die unmittelbar das Einzelding konstituierende Materie] für das Fleisch und das Fleisch die letzte Materie für den Kopf ist.
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Kapitel 3
(3.5) (3.5.1) In diesem Abschnitt untersucht Aristoteles, in welchem zeitlichen Verhältnis die Bewegungs- und die Formursache zu der aus der Materie und Form zusammengesetzten wahrnehmbaren ousia stehen. Die Bewegungsursache muss zeitlich vor der konkreten ousia existieren. Damit etwas etwas anderes bewegen kann, muss es vor dem, was bewegt werden soll, existieren und kann nicht gemeinsam mit ihm oder sogar nach ihm entstehen. Die Formursache aber besteht zugleich mit der konkreten ousia, dessen Formursache sie ist. Dann und nur solange es eine eherne Kugel gibt, gibt es auch die Kugelform dieser Kugel. Dass die Form nicht vor der konkreten ousia entstehen kann, bedeutet nicht schon, dass sie nicht vielleicht das Zugrundegehen der konkreten ousia überdauern kann. Aristoteles deutet an, dass ein Teil der Seele, die Vernunft (und damit nicht diejenigen Teile der Seele, die für die Ernährung bzw. das Wachstum oder die Wahrnehmung verantwortlich sind), vielleicht die Zerstörung der konkreten ousia, d. h. des aus Seele und Körper konstituierten Menschen, überdauern kann. Da nur Menschen sowohl eine Vernunft als auch einen Körper haben, der vergeht, diskutiert Aristoteles hier der Sache nach die Frage, ob der Mensch bzw. ein Teil der menschlichen Seele unsterblich ist. Dass er zumindest die Möglichkeit offen lässt und meint, vielleicht könne die Vernunft das Vergehen des konkreten Einzeldings, d. h. eines Menschen, überdauern, dürfte ein wichtiges Argument gegen diejenigen Aristotelesinterpreten sein, die Aristoteles eine Position zuschreiben, der zufolge kein Teil der menschlichen Seele unsterblich sein kann.76 (3.5.2) Auch dann, wenn erstens die Bewegungsursache stets vor dem Ding, dessen Bewegungsursache sie ist, existieren muss, und wenn es zweitens vielleicht sehr spezielle Fälle geben mag, in denen die Form das konkrete Einzelding überdauert, ist Aristoteles zufolge noch kein zwingender Grund dafür gegeben, Platonische Ideen dafür anzunehmen, dass konkrete ousiai entstehen.77 Die Ursache dafür, dass es einen konkreten Menschen gibt, ist nicht die Idee des Menschen, sondern ein konkreter Mensch. Ebenso ist es nicht die Idee der Gesundheit, die die Ursache dafür ist, dass jemand gesund wird, sondern die Kunstfertigkeit eines Arztes, d. h. genauer, das medizinische Wissen des Arztes, die Heilkunst. Die Heilkunst ist der Begriff der Gesundheit in dem Sinn, dass das Wissen um die Gesundheit, die Ursache für die Gesundheit eines konkreten Individuums ist. Dieses Wissen um die Gesundheit ist die Form [und ,logos‘ ist ein anderer Ausdruck für die Formursache, vgl. (2.7)] in der Seele des Arztes.
Kapitel 4 Die Identität und Verschiedenheit der Prinzipien – Teil I 1. Der Text „(4.1) [1070a31] Die Ursachen und die Prinzipien sind in einem Sinn bei Verschiedenem verschieden, in einem anderen Sinn dagegen, wenn man nämlich im allgemeinen und der Analogie nach von ihnen spricht, bei allen dieselben. (4.2) [a33] (4.2.1) Man könnte nämlich im Zweifel sein, ob die Prinzipien und die Elemente für die ousiai und für die Dinge, die zu den Relativa gehören, dieselben sind oder nicht, und in gleicher Weise bei jeder der übrigen Kategorien. (4.2.2) [a35] Doch es würde zu Ungereimtheiten führen, wenn sie für alle dieselben sein sollten; denn dann würden die Dinge, die zu den Relativa gehören, und die ousiai aus denselben hervorgehen. Was sollte nun das sein, woraus beide hervorgingen? Denn außer der ousia und den anderen Kategorien gibt es nichts Gemeinsames. Das Element aber geht dem voraus, dessen Element es ist. Nun ist aber weder die ousia Element der Dinge, die zu den Relativa gehören, noch eines von diesen ein Element der ousia. (4.2.3) [b4] Ferner, wie wäre es überhaupt möglich, dass alle Dinge dieselben Elemente haben? Denn keines der Elemente kann mit dem aus den Elementen Zusammengesetzten identisch sein; z. B. mit BA ist weder B noch A identisch. Also für die intelligiblen Elementen, wie z. B. dem Einen oder dem Seienden , denn diese kommen ja auch jedem von dem Zusammengesetzten zu. Also ist keines von den Elementen ousia oder Relatives; dies müsste es aber doch notwendig sein, . (4.2.4) [b9] Also hat nicht alles dieselben Elemente. (4.3) [b10] Oder vielmehr, wie gesagt, in gewissem Sinne hat alles dieselben , in gewissem Sinne aber nicht; z. B. bei den sinnlich wahrnehmbaren Körpern ist vielleicht Form wie das Warme und in anderer Weise das Kalte, die Beraubung, als Materie aber dasjenige, was als erstes an sich der Möglichkeit nach dieses ist; ousiai aber sind sowohl diese, als auch was aus ihnen hervorgeht und wovon dies die Prinzipien sind, oder was noch sonst aus Warmem und Kal-
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tem zu Einem geworden hervorgeht, z. B. Fleisch oder Knochen; denn das Gewordene ist notwendig von ihnen verschieden. (4.4) [b16] Bei diesen gibt es also die gleichen Elemente und Prinzipien, bei anderen andere; von allen Dingen ist es aber nicht möglich, das so zu sagen, wohl aber der Analogie nach, wie wenn jemand sagen würde, dass es drei Prinzipien gebe: die Form, die Formberaubung und die Materie. Jedes von diesen Prinzipien ist aber für jede besondere Gattung der Dinge ein anderes, z. B. bei der Farbe weiß, schwarz, Fläche, Licht, Finsternis, Luft; hieraus entstehen Tag und Nacht. (4.5) [b21] (4.5.1) Da nun aber nicht nur das Ursachen sind, was in den Dingen enthalten ist, sondern auch das, was von außen kommt, wie das Bewegende, so sind offenbar Prinzip und Element verschieden. Beides sind aber Ursachen, und in diese wird das Prinzip geteilt. Was aber etwas bewegt oder zur Ruhe bringt, ist eine Art von Prinzip, so dass es der Analogie nach drei Elemente aber vier Ursachen und Prinzipien gibt. (4.5.2) [b26] In Verschiedenem aber ist auch die Ursache eine verschiedene, und auch die erste bewegende Ursache ist für anderes eine andere. Z.B. Gesundheit, Krankheit, Körper: das Bewegende ist die Heilkunst. Form, eine bestimmte Unordnung, Ziegelsteine: das Bewegende ist die Baukunst. (4.6) [b30] Da nun aber das Bewegende bei den natürlichen Dingen für den Menschen z. B. der Mensch ist, in den vom Gedanken ausgehenden aber die Form oder deren Gegenteil, so wird es wohl in gewisser Weise nur drei Ursachen geben, eigentlich aber vier. Gesundheit ist nämlich gewissermaßen die Heilkunst, und eine Form des Hauses ist die Baukunst, und ein Mensch zeugt einen Menschen. Außerdem gibt es neben diesen das, was als Erstes von allen alles bewegt.“
2. Überblick Die Kapitel vier und fünf gehören der Sache nach zusammen.78 In (4.1) wird die These der beiden Kapitel vorgestellt, am Ende des fünften Kapitels [vgl. (5.7)] wird diese These als bewiesen und geklärt angenommen: Die Ursachen und Prinzipien sind bei verschiedenen sinnlich wahrnehmbaren Dingen zwar verschieden, wenn man aber allgemein und der Analogie nach von ihnen spricht, sind sie bei allen wahrnehmbaren Dingen dieselben. Die beiden Kapitel beschäftigen sich also mit der Frage, inwiefern die Prinzipien der verschiedenen wahrnehmbaren Dinge einander identisch sind. Um die These angemessen zu verstehen ist es zunächst wichtig, drei verschiedene Identitätsbegriffe voneinander zu unterscheiden.79 Die erste Form der Identität ist die numerische Identität. Prinzipien (für verschiede-
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ne Dinge) sind dann numerisch identisch, wenn es sich bei den Prinzipien der Zahl nach um ein und dasselbe Prinzip handelt; so ist mein Vater beispielsweise die Bewegungsursache sowohl für mich als auch für meine Geschwister. Meine Bewegungsursache ist also numerisch identisch mit der Bewegungsursache meines Bruders und meiner Schwester. Eine zweite Form der Identität liegt dann vor, wenn man allgemein über die Prinzipien spricht. Man spricht dann allgemein über die Prinzipien, wenn man die Art oder die Gattung nennt, zu der das Prinzip gehört. Auch wenn ich beispielsweise eine andere individuelle Form habe als alle anderen Menschen, so haben doch alle Menschen dieselbe Artform, das Menschsein, eben weil wir Menschen sind. Wir haben auch alle dieselbe Gattungsform, weil wir alle Lebewesen sind. In Bezug auf die Art und die Gattung, die beide etwas Allgemeines sind, ist unsere Form also identisch. Die dritte Form der Identität liegt dann vor, wenn man in analoger Weise über die Prinzipien spricht. Die Identität in Bezug auf die Analogie ist eine noch allgemeinere Form der Identität als die Identität in Bezug auf die Gattung, weil sie erstens die einzelnen Gattungen übergreift: Die Art und Weise, wie sich beispielsweise meine Form zu meiner Materie verhält, ist identisch mit dem Verhältnis von Form und Materie bei Dingen in anderen Kategorien als der ousia, z. B. den Farben. Viel wichtiger ist aber die zweite Art der analogen Identität, die die Arten der wahrnehmbaren vergänglichen und der wahrnehmbaren ewigen ousia umgreift. Die Art und Weise, wie sich beispielsweise meine Form zu meiner Materie verhält, ist identisch mit der Art und Weise, wie sich die Form und die Materie eines Himmelskörpers, also einer ewigen wahrnehmbaren ousia, zueinander verhalten, auch dann, wenn die Materie der Himmelskörper eine andere Art von Materie ist als die Art von Materie, die vergänglichen ousiai zugrunde liegt. Angesichts der vielen Schwierigkeiten, die mit einer Interpretation der Details der beiden folgenden Kapitel verbunden sind, kann leicht übersehen werden, warum Aristoteles überhaupt die Frage stellt, in welcher Hinsicht die Prinzipien verschieden und in welcher Hinsicht sie dieselben sind. Es geht der Sache nach um die Frage, ob es überhaupt eine Wissenschaft der Prinzipien, und damit eine erste Philosophie bzw. Metaphysik, geben kann.80 Was immer die erste Philosophie ist, es ist klar, dass sie nicht ein Wissen um die einzelnen Dinge sein kann, denn dafür sind die Einzelwissenschaften zuständig. Das Wissen, das sich jemand durch die erste Philosophie erwirbt, ist ein Wissen um das Allgemeine. Insofern muss auch das Wissen um die Prinzipien ein Wissen um etwas Allgemeines sein. Aber was soll das heißen? Die sachliche Schwierigkeit, die hinter dieser Frage steht, ist folgende. Wenn sich herausstellen sollte, dass jedes Ding seine eigenen individuellen
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Prinzipien hat, und wenn sich ferner herausstellen sollte, dass es keine Hinsicht gibt, unter der die verschiedenen Prinzipien ,dieselben‘ genannt werden können, dann gäbe es keinen gemeinsamen Gegenstand, den eine Wissenschaft von den Prinzipien überhaupt untersuchen könnte. Es bliebe nichts weiter übrig als zu konstatieren, dass beispielsweise das Ding a die Prinzipien A, B und C hat, das Ding b die Prinzipien D und E, das Ding c die Prinzipien F, G, H und I usw., und es nichts gibt, was den Prinzipien gemeinsam ist (streng genommen dann nicht einmal die Tatsache, dass sie Prinzipien sind). Aus einer derartigen Auffassung würde folgen, dass unsere Welt in Dinge a, b, c usw. zerfällt, die unverbunden ohne jeden Zusammenhang nebeneinander existieren. Ein Wissen um das Allgemeine und damit eine erste Philosophie wäre nicht möglich, denn was man wissen könnte, wären nur jeweils partikuläre Prinzipien. Ein zunächst attraktiver Ausweg aus diesem Problem ist die Konzeption Platons. Für Platon ist die Frage nach der Möglichkeit einer allgemeinen Wissenschaft, die die Prinzipien als Objekte hat, sehr einfach zu beantworten: Weil einige oberste Prinzipien, z. B. das Seiende und das Eine, allgemeine Prinzipien aller Dinge sind, besteht – aristotelisch ausgedrückt – die erste Philosophie als die Wissenschaft der Prinzipien in der Erforschung dieser allen Dingen gemeinsamen Prinzipien. Für Aristoteles ist aber klar, dass er diesen Ausweg nicht einschlagen will, weil mit ihm große sachliche Schwierigkeiten verbunden sind, auf die Aristoteles u. a. in (4.2.3) eingeht. Wir können das vierte und fünfte Kapitel von Lambda als einen Versuch verstehen, eine Wissenschaft vom Allgemeinen zu skizzieren, die auf der einen Seite die These vermeidet, dass jedes Einzelding seine eigenen partikulären Prinzipien hat und es keine Weise gibt, auf eine allgemeine Art über diese Prinzipien zu sprechen, auf der anderen Seite aber nicht Platons Auffassung teilt, die Prinzipien aller Dinge seien numerisch identisch. Aristoteles geht einen Mittelweg zwischen einer Ontologie, in der jede Sache ihre eigenen Prinzipien hat, ohne dass es eine relevante Hinsicht gibt, unter der die Prinzipien dieselben sind, und einer Ontologie, in der alle Dinge viele numerisch identische Prinzipien haben. Seine Lösung ist, dass es eine allgemeine Weise gibt, von jeweils individuellen Prinzipien zu sprechen. Die meisten Dinge haben zwar eigene Prinzipien, aber weil sie der Art, der Gattung oder der Analogie nach dieselben sind, ist es möglich, etwas auf allgemeine Weise über partikuläre Prinzipien zu wissen. Wir brauchen nicht die partikulären Prinzipien jedes Einzeldings zu verstehen (das wäre auch unmöglich!), aber wir müssen ein allgemeines Wissen um partikuläre Prinzipien erreichen. Mit der Frage nach der Identität und Verschiedenheit der Prinzipien knüpft Aristoteles auch an das Ende des ersten Kapitels an [vgl. (1.4.2)]. Dort hat sich gezeigt, dass das Projekt einer ersten Philosophie davon ab-
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hängt, dass die sinnlich wahrnehmbaren Dinge und die unbeweglichen Dinge zumindest ein identisches Prinzip haben. In dem vierten und fünften Kapitel klärt Aristoteles nicht nur, was die identischen Prinzipien der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, der vergänglichen und der ewigen, sind und in welchem Sinne jeweils davon die Rede ist, dass sie identisch sind, sondern macht an zwei markanten Stellen darüber hinaus darauf aufmerksam, dass es eine erste Bewegungsursache gibt, die numerisch identisch für alle Dinge ist. Damit weist die Untersuchung der Frage, ob es gemeinsame Prinzipien der Dinge gibt, bereits auf die Fragestellung hin, der sich Aristoteles in den Kapiteln 6–10 zuwendet, denn der zweite Teil von Lambda verfolgt u. a. das Ziel, für eine ousia zu argumentieren, die die numerisch identische Bewegungsursache für alles ist, was sich bewegen und d. h. verändern kann [vgl. (7.4.4)]. Dass eine Untersuchung der Frage, inwiefern die Dinge dieselben Prinzipien haben, sehr schnell sehr komplex wird, liegt u. a. daran, dass diese Frage ein ganzes Bündel von anderen Fragen umfasst. Wir können beispielsweise fragen, ob alle Dinge dieselben Prinzipien haben, oder ob es nur einige Dinge gibt, die dieselben Prinzipien haben, oder ob es ein Prinzip gibt, das ein Prinzip einiger oder vielleicht sogar aller Dinge ist. Ein Problem in der Interpretation des vierten und fünften Kapitels besteht darin, dass die Antworten, die Aristoteles auf diese Fragen gibt, nicht immer so klar sind, wie man es sich wünschen würde. Einerseits erweckt er den Eindruck, er argumentiere für die These, die Prinzipien seien bei verschiedenen Dingen verschieden und nur allgemein oder der Analogie nach dieselben, andererseits deutet er aber an zwei Stellen an, dass es Fälle gibt, in denen verschiedene Dinge tatsächlich numerisch dieselben Prinzipien oder dasselbe Prinzip haben. So lässt Aristoteles erstens in (4.3) offen, ob die These, dass einige Dinge numerisch identische Prinzipien haben, wahr ist; zweitens wird am Ende von (4.6) eine erste Bewegungsursache erwähnt, die, wie sich im siebten Kapitel zeigen wird, ein und dieselbe Bewegungsursache für alle Dinge ist. Der Sache nach zeigt Aristoteles also nicht nur, dass verschiedene Dinge verschiedene Prinzipien haben und nur allgemein oder der Analogie nach gesprochen verschiedene Dinge dieselben Prinzipien haben, sondern er deutet auch an, dass einige Dinge dieselben Prinzipien haben können und alle Dinge eine identische letzte Bewegungsursache haben [vgl. auch die Auflistung der Prinzipien am Ende des vorliegenden Kommentars zu (5.7)]. Das vierte Kapitel ist wie folgt gegliedert. Nachdem Aristoteles das Kapitel in (4.1) mit der These eröffnet hat, widerlegt er in (4.2) zunächst die Auffassung, dass alle Dinge dieselben Prinzipien haben. Weder die materiellen Dinge [vgl. (4.2.2)] noch die intelligiblen Dinge [vgl. (4.2.3)] haben alle dieselben Prinzipien. Diese These wäre allerdings nur dann richtig,
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wenn man die Frage nach der Identität der Prinzipien als Frage nach der numerischen Identität der Prinzipien versteht. In (4.3) untersucht Aristoteles zunächst, ob die These wahr sein könnte, der zufolge nicht alle, wohl aber manche Dinge numerisch identische Prinzipien haben. Auch wenn aus dem Text nicht eindeutig hervorgeht, welche Auffassung Aristoteles vertreten möchte, so spricht doch, auch unter Berücksichtigung von Texten außerhalb des zwölften Buches der Metaphysik, vieles dafür, dass er der Auffassung gewesen ist, manche Dinge könnten numerisch identische Prinzipien haben. Es gibt allerdings eine Hinsicht, unter der man die These vertreten kann, dass tatsächlich alle Dinge dieselben Prinzipien haben: wenn wir von den Prinzipien der Analogie nach sprechen [vgl. (4.4)]. So hat beispielsweise jedes wahrnehmbare Ding mindestens drei Prinzipien: Die Form, die Formberaubung und die Materie. Diese Prinzipien sind insofern der Analogie nach für alle wahrnehmbaren Dinge dieselben, als die Art und Weise, wie sich Form, Formberaubung und Materie bei jedem Ding zueinander verhalten, identisch ist. Die Untersuchung ist bisher ohne Berücksichtigung der Bewegungsursache geführt worden, die in (4.5) eingeführt wird. Einmal abgesehen davon, dass die Bewegungsursache der Analogie nach bei verschiedenen Dingen identisch ist, ist die Bewegungsursache ein besonderer Fall. Denn erstens kann, wie wir gesehen haben, ein und dieselbe Bewegungsursache auch für verschiedene Dinge numerisch identisch sein. Zweitens ist ein und dieselbe Bewegungsursache aber in einem sehr speziellen Fall auch numerisch identisch für alle Dinge, nämlich insofern vom ersten Bewegenden die Rede ist (auf den der letzte Satz des vierten Kapitels anspielt). Inwiefern man sagen kann, dass die Bewegungsursache mit der Formursache identisch ist, klärt Aristoteles in (4.6).
3. Interpretation (4.1) Das Problem, das Aristoteles im vierten und fünften Kapiteln behandelt, ist folgendes: Wir wissen bereits, dass die verschiedenen ousiai und auch die verschiedenen Dinge in den Kategorien (z. B. Farben, Größen usw.) unterschiedliche Ursachen und Prinzipien haben. In (2.5) beispielsweise hat uns Aristoteles darauf aufmerksam gemacht, dass verschiedene Dinge eine verschiedene Materie haben. In den folgenden Kapiteln vier und fünf differenziert Aristoteles nun diese Behauptung. In einer Hinsicht sind die Ursachen und Prinzipien dieselben, nämlich dann, wenn man entweder im allgemeinen oder der Analogie nach von ihnen spricht.81
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(4.2) Der folgende Textabschnitt gliedert sich in vier Teile. In (4.2.1) wird die These vorgestellt, die im Folgenden widerlegt wird. Die Widerlegung besteht aus zwei Argumenten. Das erste Argument wird in (4.2.2), das zweite Argument in (4.2.3) vorgetragen. In (4.2.4) bringt Aristoteles die Schlussfolgerung aus beiden Argumenten. (4.2.1) Ohne eigens darauf aufmerksam zu machen, spricht Aristoteles im ersten Satz von (4.2.1) nicht mehr wie noch in (4.1) von den Prinzipien und Ursachen, sondern von den Prinzipien und Elementen einer Sache, um dann im folgenden meistens nur noch von den Elementen zu sprechen. Später im Kapitel, in (4.5.1), erfahren wir, dass der Begriff des Elements enger als der Begriff der Ursache ist. Elemente sind ausschließlich die internen Ursachen, nicht aber die externe Ursache, also die Bewegungsursache. Das Wort ,und‘ in dem Ausdruck ,die Prinzipien und die Elemente‘ wird man also explikativ auffassen müssen (im Sinne von: ,die Prinzipien und zwar die Prinzipien, insofern sie die Elemente sind‘). Dass Aristoteles die folgende Diskussion auf die Elemente beschränkt, liegt daran, dass er zunächst die Bewegungsursache aus der Diskussion heraushalten möchte, denn zumindest das unbewegt Bewegende wird sich als ein numerisch identisches Prinzip herausstellen, das Bewegungsursache für alles ist, was es gibt. Aristoteles untersucht im Folgenden, ob es Elemente gibt, die Elemente von allem sind, was es überhaupt gibt. Damit untersucht Aristoteles eine These, die Platon vertreten hat, und die in (4.2.3) auch explizit erwähnt wird, wenn Aristoteles von den intelligiblen Dingen, dem Einen oder dem Seienden spricht. Platon hat Aristoteles zufolge angenommen, dass es oberste Gattungen oder Ideen wie beispielsweise das Seiende oder das Eine gibt, die Elemente für alle Dinge sind. Aristoteles kann sich dabei u. a. auf Platons Sophistes berufen. Im Sophistes werden beispielsweise das Seiende, das Identische, das Verschiedene, die Ruhe und die Bewegung als oberste Ideen bestimmt, an denen alles, was ist, teilhat. Die Untersuchung der Frage, ob die Elemente aller Dinge dieselben sind oder nicht, wird anhand eines Beispiels geführt. Aristoteles fragt, ob die Elemente für die Dinge in der Kategorie der ousia und die in der Kategorie des Relativen dieselben sind oder nicht. Die ousia und das Relative sind zwei der zehn Kategorien, die Aristoteles in der Kategorienschrift erwähnt. Wenn Aristoteles am Ende von (4.2.1) schreibt „in gleicher Weise bei jeder der übrigen Kategorien“, dann macht er dadurch deutlich, dass er seine Untersuchung zwar anhand eines Beispiels von zwei Kategorien führt,82 das Ergebnis aber für alle Kategorien gültig sein soll. In dem Beispiel wird der Einfachheit halber angenommen, dass es über die Kategorie der ousia und der Kategorie des Relativen hinaus keine anderen Kategorien gibt. Der griechische Ausdruck, der mit das ,Relative‘ übersetzt
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worden ist, ist ,pros ti‘ und heißt wörtlich ,in Bezug auf was?‘ oder ,in Bezug auf (irgend)etwas‘83. In der Kategorienschrift zählt Aristoteles Ausdrücke wie ,doppelt‘, ,halb‘ und auch ,größer‘ zu den Relativa. Auch Ausdrücke wie ,ist Vater von‘, ,ist befreundet mit‘ usw. gehören zu den Relativausdrücken. (4.2.2) Die Form der Begründung der These ist die einer reductio ad absurdum. In (4.2.2) werden alle drei Fälle durchgegangen, die möglich wären, wenn es wahr wäre, dass die Elemente der ousia und des Relativen dieselben wären. Jede Möglichkeit wird widerlegt und daraus folgt, dass die Elemente in den verschiedenen Kategorien nicht dieselben sein können. Es ist hilfreich, sich zunächst deutlich zu machen, dass bei zwei Kategorien überhaupt nur folgende drei Fälle möglich sind: Entweder ist erstens das Element aller Dinge ein transkategoriales Element, d. h. ein Element, das weder zur Kategorie der ousia noch zur Kategorie des Relativen gehört, oder es ist zweitens ein Element, das eine ousia und Element für die Relativa ist, oder es ist drittens ein Element, das ein Relativum und Element der ousia ist. Die erste Möglichkeit ist diejenige, dass das gemeinsame Element der ousia und des Relativen weder in die Kategorie der ousia noch in die Kategorie des Relativen gehört, sondern ein Element jenseits beider Kategorien ist. Aristoteles widerlegt diese Möglichkeit mit dem Hinweis darauf, dass die Kategorien ja alles Seiende umfassen und es deswegen nichts geben kann, was jenseits der Kategorien ist. Die zweite und dritte Möglichkeit besteht in der Annahme, dass entweder das Relative ein Element der ousia oder die ousia ein Element des Relativen ist. Beide Möglichkeiten werden ausgeschlossen. Dass das Relative kein Prinzip einer ousia sein kann, ist unmittelbar verständlich; es ist ausgeschlossen, dass eine Relation wie beispielsweise ,ist größer als‘ ein Prinzip ist, das Einzeldinge konstituiert. Ein Prinzip einer ousia kann nichts anderes als eine ousia selbst sein.84 Ebenso wenig ist aber die ousia ein Element, d. h. ein konstitutives Prinzip für die Relativa. Zwar sind die Relativa ontologisch von der ousia abhängig, d. h. dass die Existenz von Relativa von der Existenz von ousiai abhängt; das bedeutet aber nicht, dass die ousia ein Element (also Form, Formberaubung oder Materie) der Relativa sein kann. (4.2.3) Der Sache nach hätte Aristoteles seine Argumentation mit (4.2.2) abschließen können. Mit der Widerlegung der drei Möglichkeiten ist bereits gezeigt, dass die Annahme, alles hätte dieselben Elemente, falsch ist. Die Schwierigkeit bei der Interpretation von (4.2.3) besteht darin deutlich zu machen, dass Aristoteles an dieser Stelle nicht nur in etwas anderen Worten noch einmal sagt, was er in (4.2.2) bereits gesagt hat.85 Das muss nicht bedeuten, dass er ein völlig neues Argument oder
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neue Argumente dafür bringt, dass nicht alles dieselben Elemente hat. Crubellier hat darauf aufmerksam gemacht, dass Aristoteles in (4.2.3) von den intelligiblen Dingen spricht und als Beispiel das Eine und das Seiende erwähnt.86 Das lege nahe, an einen bestimmten Kontext zu denken, auf den hin die Argumentation von (4.2.2) noch einmal angewandt werde. Der Kontext sei derjenige der Philosophie Platons. Aristoteles richtet sich demnach gegen folgenden möglichen Einwand eines Platonikers: Die reductio ad absurdum in (4.2.2) habe lediglich gezeigt, dass es im Falle von materiellen Dingen keine Elemente gebe, die Elemente aller materiellen Dinge seien. Im Fall der intelligiblen Dinge sei es aber anders: Das Seiende und das Eine seien Elemente aller Dinge, weil man von allem sagen könne, dass es sei und dass es eines sei. Wie Aristoteles’ Gegenargument genau zu verstehen ist, ist ob der Kürze der Argumentation nicht deutlich. Ich schlage folgende Interpretation vor. Gegeben seien verschiedene Dinge in verschiedenen Kategorien, die man als AB, AC, AD usw. abkürzt. Der Buchstabe ,A‘ repräsentiert dabei das Element des Seienden (bzw. analog dazu das Element des Einen). Alles, was ist, ist etwas Seiendes (bzw. eines). Die Buchstaben ,B‘, ,C‘, ,D‘ usw. stehen jeweils für Dinge in verschiedenen Kategorien. So könnte ,B‘ beispielsweise für ,Sokrates‘, ,C‘ für ,Rot‘, ,D‘ für ,in München‘ usw. stehen. ,AB‘ stünde also für das Sokratessein, AC für das Rotsein usw. Aristoteles’ Argument wäre nun folgendes: Wenn A das Seiende (bzw. das Eine) als ein Element ist, kann weder ,AB‘, ,AC‘, ,AD‘ usw. als Ganzes ein Seiendes (bzw. Eines) sein. Nun sind ,AB‘, ,AC‘, ,AD‘ aber als Ganzes jeweils ein Seiendes (bzw. Eines), also ist es falsch zu sagen, dass das Seiende (bzw. das Eine) ein Element von ,AB‘, ,AC‘, ,AD‘ usw. ist. Ein Problem dieser Interpretation sei aber nicht verschwiegen. Der Aristotelestext erweckt den Eindruck, dass das Argument dafür, dass keines der Elemente mit dem aus den Elementen Zusammengesetzten identisch sein kann, ein Argument ist, das unabhängig von der Frage nach den intelligiblen Elementen ist. Wie ein derartiges Argument aber zu rekonstruieren ist, und warum noch einmal folgt, dass keines von den Elementen ousia oder Relatives sein kann, lässt auch die vorgeschlagene Interpretation offen.87 (4.3) Wenn sich auch die Behauptung, dass alle Dinge dieselben Elemente haben, als falsch erwiesen hat, so ist dennoch die Möglichkeit offen, dass zumindest einige Dinge numerisch identische Elemente haben. Der erste Satz von (4.4) macht wahrscheinlich, dass Aristoteles tatsächlich diese These vertreten möchte. Man wird (4.3) folglich so interpretieren müssen, dass deutlich wird, inwiefern einige Dinge dieselben Elemente haben können. Ferner wird man diesen Abschnitt so auslegen müssen, dass die Rede von ,denselben‘ Elementen nicht in einem allgemeinen oder
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analogen Sinn zu verstehen ist, denn der analogen Redeweise wendet sich Aristoteles erst in (4.4) und der allgemeinen Redeweise in (5.4) zu. Seine These ist also, dass einige Dinge numerisch identische Elemente haben. Das Problem der Interpretation des Abschnitts besteht darin, dass das Beispiel, das Aristoteles wählt, kaum zu dem, was wir sonst von Aristoteles wissen, passt. Er fragt danach, was die Prinzipien von sinnlich wahrnehmbaren Körpern sind, und meint, die Form sei wie das Warme, die Formberaubung das Kalte und die Materie das, was der Möglichkeit nach beides, d. h. warm und kalt, ist. Nun vertritt Aristoteles tatsächlich im Zusammenhang mit seiner Lehre von den Elementarqualitäten, dass das Warme die primäre Qualität des Feuers und das Kalte die primäre Qualität für das Wasser ist. Man könnte also zwar sagen, dass das Warme konstitutiv für das Feuer und das Kalte konstitutiv für das Wasser ist, aber es bleibt dennoch ganz unklar, wie diese Qualitäten als Form und Formberaubung eines sinnlich wahrnehmbaren Körpers in eine Analyse eingehen könnten. Für das Verständnis des Beispiels ist es wichtig zu beachten, dass Aristoteles sich durch das einschränkende ,vielleicht‘88 auch nicht auf die Annahme festlegt, die Form eines sinnlich wahrnehmbaren Körpers sei tatsächlich das Warme und die Formberaubung tatsächlich das Kalte. Er sagt auch nicht, die Form sei das Warme, sondern lediglich, die Form sei wie das Warme. Ferner ist die Art, wie das Kalte die Formberaubung ist, auch nicht identisch mit der Art, wie das Warme die Form sein kann (wobei leider offen bleibt, worin diese andere Art und Weise besteht). Es geht Aristoteles wohl lediglich darum, die Struktur deutlich zu machen, die gegeben ist, wenn man davon sprechen möchte, dass etwas dieselben Prinzipien und Elemente hat. Für diese Interpretation spricht auch, dass Aristoteles nicht nur die Materie, die Form und das aus Materie und Form zusammengesetzte Einzelding als ousiai bezeichnet, sondern überraschenderweise auch der Formberaubung den Status einer ousia zuspricht [vgl. (3.3), wo Aristoteles nur die Form, die Materie und das aus beiden konstituierte Einzelding als ousia bestimmt, obwohl von der Formberaubung bereits im zweiten Kapitel ausführlich die Rede war]. Wenn überhaupt, dann könnte man höchstens davon sprechen, dass die Formberaubung sehr vermittelt eine ousia ist, insofern sie nämlich auf die Form, die eine ousia ist, bezogen ist. Der in (4.3) diskutierte Fall zeigt also die Bedingungen auf, unter denen die Elemente dieselben sind. Gegeben ist ein sinnlich wahrnehmbarer Körper, Aristoteles spricht von Fleisch oder Knochen, und dieser sinnlich wahrnehmbare Körper wird durch die Form, das Warme, und die Formberaubung, das Kalte, bestimmt. Aufgrund der Analyse des zweiten Kapitels wissen wir, dass wir noch ein drittes Element, die Materie, brauchen, die der Möglichkeit nach beides, d. h. warm und kalt, sein kann. Aus diesen
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drei Elementen, die ousiai sind, gehen andere ousiai hervor, z. B. Fleisch oder Knochen. Alles, was durch diese drei Elemente konstituiert wird, hat nun dieselben Elemente. Wann sind aber nun tatsächlich diese in (4.3) skizzierten Bedingungen erfüllt, die gegeben sein müssen, wenn man davon sprechen möchte, dass die Elemente numerisch identisch sind? In (4.3) gibt Aristoteles darauf leider keine klare Antwort, aber hilfreich für einen Antwortversuch ist das Beispiel der Farben, das Aristoteles am Ende des folgenden Abschnitts (4.4) gibt. In (4.4) spricht Aristoteles davon, dass die Prinzipien für unterschiedliche Gattungen jeweils andere sind. Daraus kann man folgern, dass innerhalb ein und derselben Gattungen die Prinzipien numerisch identisch sein können. Das Beispiel dafür in (4.4) ist dem Beispiel von (4.3) analog. So gilt für alle Farben, dass die Form weiß, die Formberaubung schwarz und die Materie eine Fläche ist. Dieses Beispiel lässt sich allerdings nicht zu der These verallgemeinern, dass in Bezug auf jede Art bzw. Gattung die Prinzipien numerisch identisch sind. Wir werden noch sehen, dass Aristoteles in (5.5) davon spricht, dass die Ursachen und Elemente bei Einzeldingen, die zu derselben Art gehören, verschieden sind, weil sie bei jedem Einzelding numerisch andere sind. So ist beispielsweise meine Form und Materie verschieden von der Form und Materie jedes anderen Menschen. Es ist also nicht ganz klar, für welche Fälle Aristoteles numerisch identische Prinzipien innerhalb von Gattungen anzunehmen bereit gewesen ist. (4.4) Es gibt noch eine andere Möglichkeit, davon zu sprechen, dass Dinge dieselben Elemente haben, und zwar die Möglichkeit der Analogie. Alles, was ist (also nicht nur die ousiai), hat in einem analogen Sinn die folgenden drei Prinzipien: Form, Formberaubung und Materie. So, wie sich die Form von a zur Materie von a verhält, so verhält sich die Form von b zur Materie von b usw. Was nun konkret jeweils die Form, die Formberaubung und die Materie ist, hängt vor allem davon ab, zu welcher Gattung das Ding gehört, das durch die drei Prinzipien konstituiert ist. Aristoteles gibt zwei Beispiele: Im ersten Beispiel ist das Ding eine Farbe, die Materie ist die Fläche, weiß ist die Form, schwarz ist die Formberaubung. Im zweiten Beispiel ist das konstituierte Ding Tag und Nacht, die Materie die Luft, Licht ist die Form, Finsternis die Formberaubung. (4.5) (4.5.1) Die folgenden zwei Abschnitte (4.5) und (4.6) erweitern die Frage nach der Identität der Prinzipien über Materie, Form und Formberaubung hinaus auf die Bewegungsursache, die, anders als die drei zunächst genannten Ursachen, keine interne, sondern eine externe Ursache ist. Dass wir in unserer Analyse der sinnlich wahrnehmbaren ousia etwas Bewegendes brauchen, wissen wir bereits aus dem Anfang des dritten Kapitels [vgl. (3.1)]. Dass das Bewegende eine Ursache ist, wissen wir aus
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Kapitel 4
(3.5). In (4.5) diskutiert Aristoteles nun, was für eine Art von Ursache die Bewegungsursache ist. Deutlich ist zunächst nur, dass sie kein Element sein kann, denn ein Element ist eine Ursache, die den Dingen inhärent ist. Soviel ist klar. Es ist der Sache nach auch deutlich, dass nicht jede Bewegungsursache notwendig gleich ein Prinzip sein muss. Aus diesem Grund sagt Aristoteles nicht schlechthin, die Bewegungsursache sei ein Prinzip, sondern sie sei „eine Art von Prinzip“. Das griechische Wort für ,Prinzip‘ ist archē und kann in philosophischen Kontexten auch mit ,Anfang‘, ,Beginn‘ oder ,Ursprung‘ übersetzt werden. Mit dem Begriff der archē ist nicht die Vorstellung irgendeiner Ursache, sondern die einer ersten Ursache verbunden. In einer kausalen Kette von mehreren verursachten Bewegungen (wenn ich z.B., um eine rote Billardkugel zu bewegen, das Queue bewege, das Queue eine weiße Kugel bewegt und die weiße Kugel schließlich eine rote Kugel bewegt), könnte man zwar von jedem Glied der Kette sagen, es sei eine Bewegungsursache für das, was von ihr angestoßen wird; aber nur von der ersten Ursache ließe sich behaupten, sie sei auch das Prinzip der Bewegung bzw. der Bewegungskette. Eine marginale Schwierigkeit in der Interpretation von (4.5.1) besteht darin, dass nicht gleich deutlich ist, worauf sich das Demonstrativpronomen ,diese‘ in dem Satz „Und in diese wird das Prinzip geteilt“ genau bezieht. Das Demonstrativpronomen muss sich auf ,beides‘ in „Beides sind aber Ursachen“, und d. h. auf Prinzipien und Elemente beziehen. Es gibt also zwei Arten von Prinzipien: Es gibt zum einen Prinzipien, die Elemente sind, zum anderen Prinzipien, die nicht näher spezifiziert werden, die aber keine Elemente sind. Insofern sind Prinzipien und Elemente nicht einfach miteinander identisch. Der ganze Abschnitt lässt sich dann wie folgt paraphrasieren: Weil es sowohl interne als auch externe Ursachen gibt, so zeigt sich, dass Prinzip und Element verschieden voneinander sind. Man muss also zwei Arten von Prinzipien voneinander unterscheiden: Es gibt zum einen Prinzipien, die interne Ursachen, und d.h. Elemente sind, und zweitens Prinzipien, die externe Ursachen, und d. h. keine Elemente sind. Der entscheidende Punkt des Abschnitts besteht dann in der Annahme, dass die Bewegungsursache zwar eine Art von Prinzip (und natürlich auch eine Ursache) ist, aber eine andere Art von Prinzip als ein Element.89 (4.5.2) Aristoteles hat im vierten Kapitel bisher geklärt, inwiefern wir sagen können, dass die internen Prinzipien, d. h. die Form, die Formberaubung und die Materie, für die wahrnehmbaren Dinge dieselben sind. Jetzt wendet er sich mit dieser Frage der Bewegungsursache zu. Die erste bewegende Ursache, und d. h. an dieser Stelle, diejenige Ursache, die unmittelbar auf die ousia oder auf ein Ding innerhalb der anderen Kategorien
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wirkt, ist je nachdem verschieden, um was für ein Ding es sich jeweils handelt. Aristoteles bringt zwei Beispiele: Ein Kranker wird gesund und ein Haus wird gebaut. Im ersten Beispiel ist die Form die Gesundheit, die Formberaubung die Krankheit, die Materie der Körper und die Bewegungsursache die Heilkunst, d. h. das für den Arzt spezifische Wissen. Im zweiten Beispiel ist die Form die Form des Hauses, die Formberaubung die Unordnung (das Haus hat einfach noch nicht seine endgültige Form erreicht), die Materie sind die Ziegelsteine und die Bewegungsursache ist die Baukunst. Man wird also nur der Analogie nach davon sprechen können, dass alles dieselbe erste Bewegungsursache hat. Dass dieses noch nicht Aristoteles’ letztes Wort zur Bewegungsursache ist, wird im nächsten Abschnitt deutlich werden. (4.6) In (4.6) diskutiert Aristoteles, ob man davon sprechen kann, dass die Form- und die Bewegungsursache ein und dieselbe Ursache sind. Es ist nicht vollkommen eindeutig, ob Aristoteles dafür argumentieren möchte, dass in manchen Fällen tatsächlich nur drei Ursachen zu unterscheiden sind (weil die Form- und die Bewegungsursache identisch sind), oder ob er darauf hinweist, dass es zwar Fälle gibt, bei denen es oberflächlich betrachtet so ausschaut, dass man nur drei Ursachen zu unterscheiden hat, aber auch in diesen Fällen vier Ursachen voneinander unterschieden werden müssen. Wegen der Beispiele, die Aristoteles bringt, und weil der Abschnitt (4.6) mit der Erwähnung des unbewegt Bewegenden am Ende des Abschnitts eher auf eine Unterscheidung der Ursachen als auf eine Identifikation hinausläuft, neigen wir der zweiten Interpretation zu.90 Zu der (falschen) Annahme, es gäbe eigentlich nur drei Ursachen, kommt jemand demzufolge dann, wenn er beispielsweise die Form des Hauses mit der Form in der Seele des Baumeisters identifiziert. Aus (3.2) wissen wir zwar, dass die Form des Hauses und die Form in der Seele des Baumeisters synonym sind; das bedeutet aber nicht, dass sie dieselbe Ursache sind. Analog dazu wäre das Beispiel der Gesundheit zu analysieren. Eine weitere falsche Annahme wäre, aus der Tatsache, dass ein Mensch einen Menschen zeugt, zu schließen, dass Form- und Bewegungsursache identisch sind. In diesem Fall begeht man den Fehler, dass man die Frage nach den Ursachen lediglich auf eine allgemeine Art und Weise beantwortet. Das Kapitel schließt ausgesprochen unerwartet mit einem Hinweis auf die erste Bewegungsursache. Dieser Hinweis bezieht sich nicht auf „die erste bewegende Ursache“, von der in (4.5.2) die Rede gewesen ist, sondern auf das erste unbewegt Bewegende schlechthin, weil es alles bewegt. Das erste unbewegt Bewegende existiert neben den anderen, letzten Bewegungsursachen (bzw., wenn man die griechische Präposition ,para‘ anders übersetzen möchte: ,über diese hinaus‘).
Kapitel 5 Die Identität und Verschiedenheit der Prinzipien – Teil II 1. Der Text „(5.1) [1070b36] Da nun einige Dinge selbstständig abtrennbar sind, andere nicht, sind jene ousiai. Und aus folgendem Grund sind die Ursachen von allen Dingen dieselben: weil ohne die ousiai die Affektionen und die Bewegungen nicht existieren können. Demnach wären diese vielleicht Seele und Körper, oder Vernunft, Streben und Körper. (5.2) [1071a3] Ferner sind auf eine andere Weise die Prinzipien der Analogie nach dieselben, nämlich als Wirklichkeit und Möglichkeit; aber auch diese sind andere und sind auf andere Weise in Anderem. Bei einigen Dingen ist dasselbe einmal der Wirklichkeit, ein andermal der Möglichkeit nach, z.B. Wein oder Fleisch oder Mensch. Auch dies fällt unter die früher erwähnten Ursachen. Der Wirklichkeit nach ist nämlich die Form, selbst wenn sie selbstständig abtrennbar ist, und das aus beiden Hervorgehende, die Formberaubung aber ist z.B. Finsternis oder Krankes. Der Möglichkeit nach aber ist die Materie; denn diese ist dasjenige, das beides zu werden vermag. (5.3) [a11] Auf andere Weise gibt es eine Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit nach und der Möglichkeit nach bei den Dingen, die nicht dieselbe, sondern eine andere Form haben, wenn ihre Materie nicht dieselbe ist. So sind die Ursache eines Menschen die Elemente, Feuer und Erde als Materie, und die eigentümliche Form und ferner irgendeine andere äußere Ursache, z. B. der Vater, und darüber hinaus die Sonne und die Ekliptik, weder als Materie noch als Form noch Beraubung oder Gleichartiges, sondern als Bewegendes. (5.4) [a17] Ferner muss man sehen, dass man einige allgemein aussagen darf, andere nicht. Die ersten Prinzipien von allen Dingen sind also dasjenige, was der Wirklichkeit nach ein erstes ,Dieses‘ ist, und ein anderes, welches es der Möglichkeit nach ist. Jene gibt es nun also nicht als das Allgemeine. Prinzip der einzelnen Dinge ist nämlich das Einzelne. Ein Mensch im allgemeinen ist zwar Prinzip eines Menschen, aber es gibt keinen Menschen im allgemeinen, sondern Peleus ist Prinzip des Achilleus, dein Prinzip ist dein Vater, und dieses bestimmte B ist Prinzip dieses bestimmten BA, generell aber ist B Prinzip des BA schlechthin.
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(5.5) [a24] Ferner, wenn die der ousiai die Ursachen und Elemente aller Dinge sind, wobei aber verschiedene Dinge verschiedene Ursachen und Elemente haben, wie gesagt worden ist; von Dingen, die nicht zu derselben Art gehören, wie z. B. von Farben, Tönen, ousiai und Quantität, außer durch Analogie; und die in derselben Art sind verschieden, nicht der Art nach, sondern insofern sie bei jedem Einzelding andere sind, wie eben deine Materie und dein Bewegendes und deine Form etwas anderes ist als die meinige, obgleich sie der allgemeinen Redeweise (logos) nach dieselben sind. (5.6) [a29] Fragt man also, was die Prinzipien oder Elemente der ousiai, der Relativa und der qualitativen Dinge sind, ob sie dieselben sind oder verschiedene, so ist offenbar, dass, wenn man die Mehrheit der Bedeutungen berücksichtigt, sie dieselben für ein jedes sind; scheidet man sie aber, dann sind sie nicht dieselben, sondern andere und nur in gewissem Sinne dieselben für alles. (5.6.1) [a33] In gewissem Sinne nämlich, der Analogie nach, sind es dieselben: Materie, Form, Formberaubung, das Bewegende, und in gewissem Sinne sind auch die Ursachen der ousiai Ursachen von allem, weil mit ihrer Aufhebung das übrige mit aufgehoben wird; ferner ist die erste Ursache der vollendeten wirklichen Tätigkeit (entelecheia) nach. (5.6.2) [a36] In anderem Sinne aber sind die ersten Ursachen verschiedene, nämlich die Gegensätze, welche weder als Gattungen ausgesagt, noch auch in verschiedenen Bedeutungen gebraucht werden, und dasselbe ist wahr für die materiellen Prinzipien. (5.7) [b1] Was es also für Prinzipien und wie viele Prinzipien es für die sinnlich wahrnehmbaren Dinge gibt, und inwiefern sie dieselben sind, inwiefern verschieden, ist hiermit erörtert.“
2. Überblick Das fünfte Kapitel, vielleicht das schwierigste Kapitel von Lambda, führt die Untersuchung des vierten Kapitels fort.91 Dass die genaue Deutung der einzelnen Abschnitte des fünften Kapitels schon in der Antike ein Problem gewesen ist, zeigt sich daran, dass häufiger noch als in den anderen Kapiteln die Handschriften an für die Interpretation entscheidenden Stellen voneinander abweichen. So kann die Interpretation einiger Abschnitte des Kapitels nur mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Deutlich ist aber, dass in diesem Kapitel gegenüber dem vierten Kapitel drei neue Themen angesprochen werden. Erstens legt Aristoteles dar, dass es noch einen weiteren Sinn gibt, unter dem die Prinzipien und Ursachen der verschiedenen Dinge identisch sind
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[vgl. (5.1)]: Die Prinzipien und Ursachen der wahrnehmbaren ousiai sind die Prinzipien und Ursachen von allen Dingen, d. h. auch der Qualitäten, Quantitäten usw. Ohne die ousiai gibt es keine Dinge in den anderen Kategorien, ohne die Prinzipien der ousiai gibt es keine ousiai, und so kann es ohne die Prinzipien der ousiai auch keine Dinge in den anderen Kategorien geben. Diese Feststellung erleichtert die allgemeine Untersuchung der Prinzipien und Ursachen erheblich, denn anstatt fragen zu müssen, was die Prinzipien und Ursachen in den verschiedenen Kategorien jeweils sind, kann Aristoteles seine Untersuchung ganz auf die Prinzipien der ousia konzentrieren. Zweitens erläutert Aristoteles die Identität und Verschiedenheit der Prinzipien anhand der Begriffe ,Wirklichkeit‘ und ,Möglichkeit‘, die bereits in (2.4) eingeführt worden sind. Im Abschnitt (5.2) legt er dar, dass es noch eine andere Art analoger Identität gibt als diejenige, die in (4.4) und (4.5) dargestellt worden ist. Die analoge Identität besteht darin, dass ein und dieselbe ousia das, was sie ist, unter einer Hinsicht der Wirklichkeit nach, unter einer anderen Hinsicht aber der Möglichkeit nach sein kann. So ist beispielsweise ein Glas Wein der Wirklichkeit nach der Wein, der er ist. Der Möglichkeit nach ist der Wein aber Teil von dem Fleisch eines Menschen, denn der Mensch kann den Wein trinken und damit seinen Körper nähren. Das Fleisch wiederum ist der Wirklichkeit nach das, was es ist; der Möglichkeit nach aber ist das Fleisch ein Mensch. Das Verhältnis von Wein (der Möglichkeit nach) zu Fleisch (der Wirklichkeit nach) ist nun analog identisch mit dem Verhältnis von Fleisch (der Möglichkeit nach) zum Menschen (der Wirklichkeit nach). Der Abschnitt (5.3) thematisiert die Bewegungsursache unter dem Aspekt der Wirklichkeit und Möglichkeit, wobei die Wirklichkeit mit der Form und die Möglichkeit mit der Materie identifiziert wird. Aristoteles unterscheidet zwei Bewegungsursachen voneinander. Eine Bewegungsursache dafür, dass ein Kind entsteht, ist der Vater, eine andere Bewegungsursache ist die Sonne bzw. die Ekliptik, denn die Sonne ist durch die Stellung zur Erde u. a. Ursache für die Jahreszeiten und damit auch für das Entstehen und Vergehen der Lebewesen. Aristoteles führt aus, dass sich beide Bewegungsursachen sowohl der Form als auch der Materie nach voneinander unterscheiden. Wenn man wie Aristoteles in (5.3) als Materie des Vaters Erde und Feuer annimmt, dann ist die Materie des Vaters mit der des Kindes identisch. Die Materie der Sonne aber, die Feuer ist, ist von der des Kindes verschieden. Drittens erklärt Aristoteles, inwiefern die Prinzipien allgemein gesprochen identisch sind. Die These des vierten Kapitels, dass die Prinzipien im allgemeinen und der Analogie nach dieselben sind, ist bisher ja nur insofern behandelt worden, als untersucht worden ist, inwiefern die Prinzipien
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der Analogie nach dieselben sind, auch wenn die Analogie eine Form von Allgemeinheit ist. Inwiefern sie aber in Bezug auf die Art und die Gattung dieselben sind, ist Thema der Abschnitte (5.4) und (5.5). Es gibt eine Art und Weise, allgemein von den Prinzipien zu sprechen, nämlich so, dass nicht das jeweils konkrete Prinzip benannt wird, das den Gegenstand konstituiert, sondern mit dem Artbegriff geantwortet wird, unter den das konkrete Prinzip fällt. In dem Satz vom Menschen, der einen Menschen zeugt, wird beispielsweise auf allgemeine Weise von der Bewegungsursache gesprochen. Es gibt nicht so etwas wie einen Menschen im Allgemeinen, der einen Menschen im Allgemeinen zeugen könnte, sondern nur einen jeweils konkreten Vater, der ein jeweils konkretes Kind zeugt. Systematisch viel wichtiger ist allerdings, dass Aristoteles in (5.4) und (5.5) vor allem deutlich macht, dass sich die Prinzipien der einzelnen wahrnehmbaren ousia zwar auf allgemeine Weise aussagen lassen, aber keine allgemeinen Prinzipien sind. Das, was Aristoteles in (5.4) für die Bewegungsursache darlegt, wird in (5.5) für die Form und die Materie gesagt. Jedes Einzelding hat seine ihm eigene Form und Materie, selbst wenn man auf allgemeine Weise von ihnen sprechen kann. Die beiden Abschnitte sind für ein Verständnis der Ontologie im zwölften Buch insofern wichtig, weil sie klar darlegen, dass die traditionelle Auffassung, die Individualität eines Lebewesens bestünde bei Aristoteles lediglich in dessen Materie, aber nicht in dessen Form, zumindest für das zwölfte Buch nicht zutrifft. In (5.6) fasst Aristoteles den Gedankengang des vierten und fünften Kapitels zusammen. (5.7) beschließt die Untersuchung der Prinzipien der sinnlich wahrnehmbaren ousiai aus den Kapiteln 2–5.
3. Interpretation (5.1) Im ersten Satz des Abschnitts (5.1) unterscheidet Aristoteles zwischen Dingen, die selbstständig abtrennbar sind und Dingen, die nicht selbstständig abtrennbar sind. Dass alles, was selbstständig abtrennbar ist, eine ousia ist, wissen wir bereits aus dem ersten Kapitel [vgl. (1.2.3)]. Diese Behauptung impliziert nicht, dass Dinge, die nicht selbstständig abtrennbar sind, keine ousiai sein können. Wir wissen bereits, dass die Form eines Einzeldings und die Materie als Prinzip der Möglichkeit zur Veränderung eines Einzeldings eine ousia ist; dennoch ist die Annahme, die Form und Materie müssten so wie das Einzelding selbstständig abtrennbar sein, nicht zutreffend.92 Aristoteles behauptet also lediglich, dass das, was selbstständig abtrennbar ist, auf jeden Fall eine ousia sein muss. Aber warum begründet die Tatsache, dass Dinge selbstständig abtrennbar sind, ihren Status als ousia?
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Diese Frage wird leider im Abschnitt (5.1) nicht in voller Klarheit beantwortet, aber eine mögliche Antwort deutet der zweite Satz des Abschnitts an, und unter Zuhilfenahme von einigen Annahmen, die Aristoteles bereits in Lambda eingeführt hat, lässt sich vielleicht folgende Antwort vermuten [vgl. dazu ausführlicher die Interpretation zu (1.2.3)]: Ohne diejenigen Dinge, die selbstständig abtrennbar sind und d. h. einen eigenen Platz im Raum einnehmen, kann es keine Eigenschaften und keine Bewegungen geben. Eigenschaften und Bewegungen sind Beispiele für Dinge, die nicht abtrennbar sind. Damit sie existieren können, muss es etwas anderes geben, an dem sie existieren können. Dieses andere muss aber etwas sein, das selbstständig abtrennbar ist. Es ist ein Erstes, an dem die Eigenschaften und Bewegungen existieren können. Das, was ein Erstes ist, ist aber in jedem Fall eine ousia. Der zweite Satz des Abschnitts (5.1) enthält ein Problem. Der Satz, der in der vorliegenden Übersetzung mit „Und aus folgendem Grund93 sind die Ursachen von allen Dingen dieselben“ übersetzt worden ist, wäre, wenn man übersetzt, was in allen Manuskripten steht, wie folgt zu übersetzen: „Und aus folgendem Grund sind diese auch Ursachen aller Dinge“. Dieser Satz ist verständlich, wenn wir unter den Dingen, für die die ousiai Ursachen sind, Dinge aus den anderen Kategorien verstehen. Genau das sagt ja auch der die Behauptung begründende Satz: „weil ohne die ousiai die Affektionen und Bewegungen nicht existieren können“. Gemeint wäre damit folgendes: Damit es Gesundheit oder eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen geben kann, muss es etwas geben, das gesund ist oder sich bewegt. Nun kann aber das, was gesund ist oder sich bewegt, nur ein Einzelding, eben eine ousia sein. Deswegen gibt es ohne eine ousia keine Affektionen und Bewegungen, und deswegen sind die ousiai Ursachen aller anderen Dinge. Dass Aristoteles diese Auffassung für richtig hält, ist nicht zu leugnen. Es ist nun aber bezeichnend, dass sich alle wichtigen modernen Editoren der Metaphysik dazu entschlossen haben, von der überlieferten Lesart der Manuskripte abzuweichen und ein einziges Wort mit anderen Akzenten zu versehen.94 Diese andere Akzentsetzung ändert allerdings den Sinn des Wortes nicht unerheblich. Statt „Und aus folgendem Grund sind diese auch Ursachen aller Dinge“ heißt es nun (wie in der vorliegenden Übersetzung): „Und aus folgendem Grund sind die Ursachen von allen Dingen dieselben“ (wobei mit den Ursachen die Ursachen der ousiai gemeint sind, wie der folgende ,weil‘-Satz deutlich macht).95 Warum haben sich moderne Editoren für diesen Eingriff entschlossen, dem auch wir mit unserer Übersetzung folgen? Erstens bringt Aristoteles in der Zusammenfassung des Kapitels (5.6.1)
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die These, dass in gewissem Sinn die Ursachen der ousiai Ursachen von allem seien, weil mit ihrer Aufhebung das übrige mit aufgehoben werde.96 Es ist also deutlich, dass Aristoteles nicht nur die schwächere These vertreten wollte, die ousiai seien Ursache aller Dinge, sondern die stärkere These vertreten wollte, dass die Ursachen der ousiai Ursachen aller Dinge sind. In der stärkeren These ist die schwächere These enthalten, denn wenn die Ursachen der ousia Ursachen aller Dinge sind, dann sind auch die ousiai selbst Ursachen aller Dinge. Da der gesamte Abschnitt (5.6) aber eine Zusammenfassung ist, stellt sich die Frage, an welcher Stelle im vierten und fünften Kapitel behauptet und begründet worden ist, dass die Ursachen der ousiai die Ursachen aller anderen Dinge sind. Als eine solche Stelle kommt nur (5.1) in Betracht. Zweitens sind die Beispiele, die Aristoteles im letzten Satz von (5.1) bringt, viel leichter zu interpretieren, wenn wir sie nicht als konkrete ousiai verstehen müssen (was die erste Lesart nahe legen würde), sondern wenn wir sie als Ursachen von ousiai verstehen können. ,Seele‘ und ,Körper‘ sind bei Aristoteles standardmäßig Beispiele für die Form und die Materie eines Lebewesens. Insofern ist es plausibler, diese Beispiele als Beispiele für Ursachen einer konkreten ousia und nicht als Beispiele für eine konkrete ousia zu verstehen.97 Drittens passt die These, die Ursachen der ousiai seien die Ursachen aller Dinge, besser in den Kontext des vierten und fünften Kapitels von Lambda. Das gemeinsame Thema beider Kapitel ist ja die Identität und Verschiedenheit von Prinzipien und Ursachen. Innerhalb eines derartigen Diskussionskontextes fügt sich die Behauptung, die Ursachen der ousiai seien die Ursachen aller anderen Dinge, problemloser ein als die Behauptung, die ousiai seien Ursachen für die Dinge in den anderen Kategorien. Die These, dass die Ursachen der ousiai die Ursachen aller anderen Dinge sind, ist der Sache nach von großer Bedeutung für das philosophische Projekt, das Aristoteles in Lambda entwickelt. Wenn die Ursachen der ousiai nicht nur die Ursachen der ousiai, sondern die Ursachen von allem sind, was es überhaupt gibt, dann kann sich eine Untersuchung der Prinzipien und Ursachen aller Dinge auf eine Untersuchung der Prinzipien und Ursachen der ousiai beschränken. Wir müssen nicht über die Ursachen und Prinzipien der ousiai hinaus die Ursachen und Prinzipien der anderen Dinge betrachten und differenzierte Überlegungen darüber anstellen, was jeweils Form, Formberaubung und Materie beispielsweise innerhalb der Gattung der Farben oder der räumlichen Größen sind. (5.2) In (4.4) haben wir eine Art und Weise kennen gelernt, in der die Prinzipien der Analogie nach dieselben sind: Die Art und Weise, wie sich die Form, die Formberaubung und der Stoff in verschiedenen Gattungen jeweils zueinander verhalten, ist der Analogie nach dieselbe. In (5.2) führt
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Aristoteles nun eine zweite Art und Weise ein, wie die Prinzipien der Analogie nach dieselben sind: als Wirklichkeit und als Möglichkeit. Das Verständnis der Art der Analogie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit hängt von dem Verständnis des Beispiels ab, das Aristoteles gibt. Wein oder Fleisch oder Mensch müssten als Beispiele dafür verstanden werden, dass dasselbe einmal der Wirklichkeit nach, ein andermal98 der Möglichkeit nach ist. Der Rest des Abschnitts ist als eine Art Erläuterung zu verstehen: Die Form99 und das aus Form und Materie zusammengesetzte Einzelding (d.h. das, was aus Form und Materie hervorgeht) ist stets der Wirklichkeit nach, die Materie aber lediglich der Möglichkeit nach. Wie lassen sich nun die Beispiele als Beispiele dafür, dass dasselbe einmal der Wirklichkeit nach, ein andermal der Möglichkeit nach sein kann, verstehen? Code vertritt die Auffassung, ein und derselbe Mensch könne aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Zum einen sei der Mensch ein Mensch der Möglichkeit nach (insofern man seine Materie meint, die der Möglichkeit nach eine ousia ist), zum anderen ein Mensch der Wirklichkeit nach.100 Eine Schwierigkeit dieser Interpretation sehe ich darin, dass Aristoteles die Beispiele in (5.2) mit der Einschränkung einführt, dass lediglich „in manchen Fällen“ dasselbe einmal der Wirklichkeit nach, ein andermal der Möglichkeit nach ist. Codes Unterscheidung gilt aber zumindest in Bezug auf jedes Einzelding, denn jedes Einzelding kann aus der Perspektive der Möglichkeit und der Perspektive der Wirklichkeit betrachtet werden. Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, dass nicht erklärt werden kann, warum Aristoteles ausgerechnet die drei Beispiele von Wein, Fleisch und Mensch bringt. Eine alternative Interpretation bestünde darin, die drei Beispiele wie folgt aufeinander zu beziehen: Wein ist zum einen Wein der Wirklichkeit nach – wenn wir beispielsweise ein Glas mit Wein vor uns stehen haben –, zum anderen Fleisch der Möglichkeit nach, denn ein Mensch, der Wein trinkt, nährt dadurch das Fleisch in seinem Körper und aus dieser Perspektive ist der Wein, wie jedes Lebensmittel, der Möglichkeit nach Fleisch. Das Fleisch aber wiederum ist der Möglichkeit nach ein konkreter Mensch. Die Beispiele wären also so aufeinander zu beziehen, dass das erste Beispiel sowohl das, was es ist, der Wirklichkeit nach ist, als auch jeweils die Materie, also das Möglichkeitsprinzip, für das zweite Beispiel ist. Der Vorteil dieser Interpretation ist vielleicht, dass diese Art der Analogie eine andere ist als diejenige, die wir aus dem vierten Kapitel bereits kennen. Außerdem kann erklärt werden, warum Aristoteles ausgerechnet die drei Beispiele Wein, Fleisch und Mensch bringt: So wie sich Wein der Möglichkeit nach zum Fleisch der Wirklichkeit nach verhält, so verhält sich Fleisch der Möglichkeit nach zum Menschen der Wirklichkeit nach.
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(5.3) Der Abschnitt (5.3) ist schwer zu interpretieren.101 Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass unklar ist, worauf sich die ersten Worte des Abschnitts „auf andere Weise“ beziehen. Es liegt zunächst sicherlich nahe, die Unterscheidung in (5.3) als eine weitere Unterscheidung von analoger Identität von Wirklichkeit und Möglichkeit zu verstehen. Der Gedankengang wäre dann folgender: In (5.2) hat Aristoteles angekündigt, dass sich jeweils andere Prinzipien (als Wirklichkeit und Möglichkeit) der Analogie nach auf andere Weise in Anderem finden. In (5.3) trägt Aristoteles nun eine gegenüber (5.2) andere Weise der analogen Identität von Wirklichkeit und Möglichkeit vor. Keinem mir bekannten Interpreten ist es aber gelungen, das, was Aristoteles in (5.3) sagt, überzeugend als einen weiteren Fall der Analogie zu interpretieren. Ein Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist, den Ausdruck ,auf andere Weise‘ nicht auf die Frage der analogen Identität und Verschiedenheit zu beziehen, sondern ihn so zu verstehen, dass Aristoteles auf eine andere Art und Weise, wie sich Wirklichkeit und Möglichkeit zueinander verhalten, aufmerksam machen möchte. Unter dieser Voraussetzung lässt sich (5.3), auch wenn Details unklar bleiben werden, besser verstehen. In jedem Fall hängt die Interpretation des Abschnitts (5.3) von einem Verständnis der Beispiele ab, die Aristoteles gibt, denn die These selbst, die Aristoteles im ersten Satz von (5.3) bringt, ist nur unter Zuhilfenahme der Beispiele zu verstehen.102 Die Beispiele sind dafür ausführlicher und relativ klar. Schauen wir uns also zunächst die Beispiele an, um dann die These näher verstehen zu können. Ein konkreter Mensch, z. B. Sokrates, hat eine bestimmte Materie, die im letzten Glied einer Analyse die Elemente Feuer und Erde enthalten müsste. Er hat zweitens eine ihm eigentümliche Form, sein Sokratessein. Drittens erwähnt Aristoteles zwei Bewegungsursachen, und zwar erstens die unmittelbare Bewegungsursache, den Vater (von Sokrates), und zweitens die Sonne und die Ekliptik103, die ebenfalls Bewegungsursachen sind. Es ist für heutige Leserinnen und Leser erstaunlich, dass Aristoteles meint, die Sonne und die Ekliptik seien Bewegungsursachen. Aristoteles ist aber, wie auch aus anderen Werken hervorgeht, der Auffassung, dass u.a. die Sonne und die Ekliptik für das Entstehen und Vergehen der Lebewesen verantwortlich sind. Weil die Sonne bzw. die Bahn, die die Sonne auf der Ekliptik innerhalb eines Jahres zurücklegt, verantwortlich für die verschiedenen Jahreszeiten ist, und weil das Entstehen und Vergehen vieler Pflanzen und Lebewesen von den Jahreszeiten abhängt, ist die Sonne Bewegungsursache für das Entstehen und Vergehen der Pflanzen und Lebewesen. Wir können diesen Gedanken nachvollziehen: Im Frühling blüht bei uns die Natur auf, im Herbst stirbt die Natur ab und viele Lebewesen paaren sich nur in bestimmten Jahreszeiten.
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Wenn Aristoteles in (5.3) zwei Bewegungsursachen, den Vater und die Sonne, voneinander unterscheidet, so möchte man gerne wissen, wie sich die beiden Bewegungsursachen zueinander verhalten. Ich werde im Folgenden eine Interpretation vorschlagen, der zufolge Aristoteles in (5.3) diese Frage mit Hilfe der Begriffe von Möglichkeit und Wirklichkeit bzw. Materie und Form beantwortet. Die letzte, also unmittelbare Bewegungsursache für Sokrates ist sein Vater, die Bewegungsursache für seinen Vater aber dessen Vater (also Sokrates’ Großvater) usw. Diese Kette der Bewegungsursachen führt aber in keinem Fall zu der Sonne und der Ekliptik. Die Art und Weise, wie die Sonne bzw. die Ekliptik Bewegungsursachen sind, ist offenbar eine andere als diejenige, wie der Vater, Großvater, Urgroßvater usw. Bewegungsursachen sind. Zunächst sei festgehalten, dass die Beispiele, die Aristoteles in (5.3) bringt, tatsächlich Beispiele für die im ersten Satz aufgeführte These sind. Die These bezieht sich erstens auf Dinge, die nicht dieselbe Materie haben. Dabei ist auffällig, dass Aristoteles als Materie „Feuer und Erde“ nennt, d. h. nicht diejenige Materie angibt, die die letzte konstituierende Materie eines Einzelgegenstandes ist. Ein Grund dafür könnte vielleicht sein, dass dann, wenn man als Materie die Elemente „Feuer und Erde“ nennt, sowohl der Vater als auch sein Kind dieselbe Materie hätten. Die Sonne dagegen besteht, wie wir aus anderen Werken von Aristoteles wissen, seiner Auffassung nach ausschließlich aus Feuer. In (5.3) unterscheidet Aristoteles also die Materie des Vaters und Kindes auf der einen Seite von der Materie der Sonne auf der anderen Seite. Der Vater und das Kind unterscheiden sich freilich darin, dass sie, wie Aristoteles sagt, nicht dieselbe eigentümliche Form haben. Aber auch die Sonne und der Vater erfüllen die zweite Bedingung der These: Sie haben beide nicht dieselbe Form. Die beiden Bewegungsursachen, die Sonne und der Vater, unterscheiden sich dadurch voneinander, dass im Fall der Sonne die Materie eine andere ist, als die Materie desjenigen, dessen Bewegungsursache die Sonne ist, denn die Materie der Sonne ist von der Materie des Kindes unterschieden. Anders im Fall des Vaters. Die Materie des Vaters ist, zumindest wenn man als Materie „Feuer und Erde“ nennt, dieselbe Materie wie die Materie des Kindes. Sowohl die Sonne als auch der Vater sind aber als Bewegungsprinzipien Prinzipien, die der Wirklichkeit nach existieren müssen. Sie haben eine verschiedene Form und eine verschiedene Materie, wobei nur die Materie der einen Bewegungsursache identisch mit der Materie dessen ist, dessen Bewegungsursache sie ist. Für die Frage nach der Identität und Verschiedenheit der Prinzipien bedeutet das, dass das, was der Möglichkeit nach existiert (die Materie) in einem Fall, nämlich im Fall des Vaters, identisch mit dem ist, dessen Bewegungsursachen der Vater und die Sonne sind. Das, was der Wirklichkeit
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nach existiert, ist aber in beiden Fällen verschieden. Diese Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit gilt allgemein in Bezug auf Entstehen und Vergehen von Lebewesen, sofern man immer voraussetzt, dass als Materie die Elemente Feuer und Erde genannt werden. (5.4) Mit (5.4) wendet sich Aristoteles der bereits in (4.1) angekündigten Untersuchung der Frage zu, wie man von den Prinzipien und Ursachen auf allgemeine Weise sprechen kann. Der Schwerpunkt in (5.4) liegt aber eher auf einer Darlegung dessen, was nicht allgemein ist. Dafür unterscheidet er zwischen zwei Weisen, ein und dasselbe Prinzip auszusagen.104 Das Prinzip kann entweder allgemein ausgesagt werden oder nicht. Wenn man das Prinzip allgemein aussagt, sagt man es nicht als ein erstes Prinzip aus.105 Unter den ,ersten‘ Prinzipien versteht Aristoteles an dieser Stelle diejenigen Prinzipien, die er in anderen Kontexten, z. B. in (3.1), auch die letzten Prinzipien nennt, d. h. diejenigen Prinzipien, die ein Einzelding konkret konstituieren. Wie die Beispiele am Ende des Abschnitts deutlich machen, kann man die Bewegungsursache eines konkreten Menschen auf zweierlei Weise ausdrücken. Wir können erstens die Ursache auf eine allgemeine Weise aussagen und behaupten, dass ein Mensch einen Menschen zeugt; dadurch, dass wir von ,einem Menschen‘ sprechen, meinen wir aber nicht notwendig, dass es tatsächlich so etwas wie einen allgemeinen Menschen gibt. Erst dann, wenn ich eine konkrete Person angebe, habe ich die eigentliche Bewegungsursache genannt. Es sind diese Prinzipien, die in dem zur Diskussion stehenden Abschnitt ,erste Prinzipien‘ genannt werden. Das, was Aristoteles über die Bewegungsursache sagt, gilt auch für die anderen Ursachen. Ein Vater und sein Kind haben auch die gleiche Form und die gleiche Materie, allerdings nicht die erste (bzw. letzte) Form und Materie, sondern die Form und Materie, wenn man allgemein, d. h. der Art oder der Gattung nach, von ihnen spricht. Ein wenig verwirren könnte, dass Aristoteles im zweiten Satz des Abschnitts davon spricht, dass die ersten Prinzipien ein erstes ‚Dieses‘ (gr. todi) sind. Aristoteles benutzt das Wort ,todi‘ in der Metaphysik vor allem dann, wenn er über die Form von etwas spricht. Im dritten Kapitel von Lambda beispielsweise hat er mit dem Ausdruck ,ein Dieses‘ (gr. tode ti) auf die Form Bezug genommen [vgl. (3.3)]. Auch die Tatsache, dass das Prinzip, das er nennt, der Wirklichkeit nach ein Erstes ist, legt zunächst nahe, an die Form zu denken, denn dass das erste ‚Diese‘, das der Möglichkeit nach ist, die Materie sein muss, ist unbestritten. Die Beispiele, die Aristoteles bringt, sind allerdings Beispiele für Bewegungsursachen und nicht für Formen. Die Verwirrung klärt sich, wenn beachtet wird, dass Aristoteles den Plural gebraucht und davon spricht, dass die ersten Prinzipien jeweils ‚ein
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Dieses‘ der Wirklichkeit nach sind. Der Plural deutet darauf hin, dass Aristoteles sowohl die Form als auch die Bewegungsursache meint und von beiden sagt, sie seien ein ,Dieses‘. Aristoteles gebraucht den Ausdruck ,todi‘ offenbar nicht in der spezifischeren Bedeutung von ,tode ti‘, sondern in einer allgemeineren Bedeutung, in der ‚ein Dieses‘ sowohl die Form als auch ein Einzelding (und die Bewegungsursache ist ein Einzelding) umfasst. (5.5) Das Verständnis des ersten Satzes in Abschnitt (5.5) ist dadurch erschwert, dass die griechischen Manuskripte voneinander abweichen und je nachdem, was für einer Lesart man sich anschließt, der Satz einen anderen Sinn ergibt106. Die der vorliegenden Übersetzung zugrundeliegende Lesart geht davon aus, dass sich Aristoteles in dem ersten Satz auf das bezieht, was er in (5.1) bereits gesagt hat, nämlich dass die Ursachen der ousiai die Ursachen aller anderen Dinge sind. Im zweiten Teil des Abschnitts betont Aristoteles, dass selbst dann, wenn die Ursachen der ousia die Ursachen aller anderen Dinge (d. h. der Dinge in den anderen Kategorien) sind, die Dinge in den anderen Kategorien auch eigene Ursachen haben. So ist beispielsweise innerhalb der Art der Farben die Form das Weiße, die Formberaubung das Schwarze und die Materie die Fläche [vgl. (4.4)]. Zwischen verschiedenen Gattungen sind die Prinzipien nur analog dieselben. Wir haben in (4.3) und (4.4) gesehen, dass Aristoteles der Auffassung sein könnte, innerhalb bestimmter Gattungen (z. B. der Gattung der Farben) seien Form, Formberaubung und Materie numerisch identisch. Aus (5.5) wird nun deutlich, dass selbst dann, wenn die Identität der Prinzipien in einigen Gattungen möglich sein sollte, diese Identität im Fall der ousia nicht gegeben ist. Jedes Einzelding hat seine ihm eigene Form, Materie und Bewegungsursache. Der Abschnitt (5.5) ist für die Konzeption der Aristotelischen Prinzipienlehre im zwölften Buch der Metaphysik von großer Bedeutung, weil Aristoteles an dieser Stelle eindeutiger als in anderen Büchern der Metaphysik die These vertritt, dass die Formen von Einzeldingen individuell sind. Ein traditionelles Verständnis der Aristotelischen Metaphysik geht demgegenüber davon aus, dass das, was ein Individuum zu dem Individuum macht, das es ist, nicht die Form, sondern lediglich die Materie ist. Der traditionellen Interpretation zufolge ist beispielsweise die Person Sokrates durch eine menschliche Seele, die die gleiche bei jedem Menschen ist, und seiner für ihn spezifischen Materie charakterisiert. In (5.5) betont Aristoteles demgegenüber, dass ein Mensch nicht nur eine für ihn spezifische Materie, sondern auch eine für ihn spezifische Form hat107. (5.6) Die folgende Zusammenfassung schließt die Diskussion um die Prinzipien und Elemente der sinnlich wahrnehmbaren ousiai ab108. Die
Identität und Verschiedenheit der Prinzipien – Teil II
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Frage „was Prinzipien und Elemente der ousiai, des Relativen und des Qualitativen sind“ – wobei das Relative und Qualitative wiederum nur als Beispiele für die anderen Kategorien stehen –, ist im zweiten und dritten Kapitel von Lambda beantwortet worden. Die Frage, „ob sie dieselben sind oder andere“ und in welchem Sinn sie dieselben sind, ist in dem vierten und fünften Kapiteln beantwortet worden. (5.6.1) Im ersten Teil der Zusammenfassung erfahren wir, in welcher Hinsicht die Prinzipien dieselben sind. Sie sind der Analogie nach dieselben, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens sind Form, Formberaubung, Materie und Bewegungsursache der Analogie nach für jedes Ding dieselben. Diese Analogie bedeutet, dass wir bei jedem Ding von diesen vier Ursachen sprechen können. Was aber jeweils die bestimmte Form und die bestimmte Materie usw. für eine Sache ist, kann von Ding zu Ding verschieden sein. Zweitens sind die Ursachen der ousiai Ursachen von allen anderen Dingen. Mit dem Hinweis auf die erste Ursache ist (als eine Art Vorgriff auf den zweiten Teil von Lambda) das unbewegt Bewegende gemeint [vgl. auch den letzten Satz des vierten Kapitels in (4.6)]. Das unbewegt Bewegende, von dem in (5.6.1) als erster Ursache die Rede ist, ist nicht der Analogie nach, sondern der Wirklichkeit nach für alle Dinge dieselbe. (5.6.2) Im zweiten Teil fasst Aristoteles zusammen, in welcher Hinsicht die Ursachen voneinander verschieden sind. Die genaue Bedeutung ist umstritten,109 weil nicht deutlich wird, was Aristoteles unter den Gegensätzen versteht. Es erscheint wenig plausibel, hier an Gegensätze wie schwarz und weiß oder wie gesund und krank zu denken, weil es Aristoteles in der Zusammenfassung darauf ankommt zu sagen, inwiefern die ersten Ursachen verschieden sind. Da die Gegensätze im zweiten Kapitel [vgl. (2.7)] mit der Form und der Formberaubung identifiziert worden sind, wird man den Sinn von (5.6.2) eher darin sehen können, dass die Form, die Formberaubung und die Materie von verschiedenen Individuen verschieden sind. (5.7) In (5.7) erklärt Aristoteles, dass die Untersuchung der Prinzipien der sinnlich wahrnehmbaren ousiai abgeschlossen ist. Im zweiten und dritten Kapitel ist deutlich geworden, welche Prinzipien es gibt und wie viele es sind. Im vierten und fünften Kapitel ist geklärt worden, inwiefern die Prinzipien dieselben und inwiefern sie verschieden voneinander sind. Der Übersicht halber seien die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung des vierten und fünften Kapitels mit den wichtigsten Referenzstellen noch einmal zusammengefasst110: 1. Es gibt eine erste Bewegungsursache, die eine numerisch identische Bewegungsursache für alle Dinge ist [vgl. (4.6) und (5.6.1)]. 2. Es kann innerhalb klar abgegrenzter Arten bzw. Gattungen (z. B. Farben oder Töne) numerisch identische Prinzipien geben [vgl. (4.3) und (4.4)].
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3. Die Prinzipien der ousia sind die Prinzipien aller anderen Dinge [vgl. (5.1)]. 4. Jede wahrnehmbare ousia hat in der Regel111 verschiedene Prinzipien [vgl. (5.4) und (5.5)]. 5. Zwischen erstens Dingen in verschiedenen Kategorien und zweitens zwischen den vergänglichen und den ewigen wahrnehmbaren ousiai sind die Prinzipien der Analogie nach dieselben [vgl. (4.4)]. 6. Wenn man von den Prinzipien auf eine allgemeine Weise spricht, haben alle wahrnehmbaren Dinge dieselben Prinzipien [vgl. (5.4) und (5.5)].
Kapitel 6 Die Existenz und Eigenschaft der unbeweglichen ousia – Teil I 1. Der Text „(6.1) [1071b3] (6.1.1) Da es nun drei ousiai gab, zwei natürliche und eine unbewegte, so müssen wir nun von dieser sprechen und zeigen, dass es notwendig ist, dass es irgendeine ewige unbewegliche ousia gibt. (6.1.2) [b5] Denn die ousiai sind die Ersten von den Dingen, die sind, und wenn alle vergänglich sind, so ist alles vergänglich. Es ist aber unmöglich, dass Bewegung entsteht oder vergeht, denn sie war immer, und ebenso wenig Zeit, denn das Früher und Später ist selbst nicht möglich, wenn es keine Zeit gibt. Die Bewegung ist also ebenso kontinuierlich wie die Zeit, da diese entweder dasselbe ist oder eine Eigenschaft von Bewegung. Bewegung ist aber nicht kontinuierlich außer der Ortsbewegung, und von dieser die Kreisbewegung. (6.2) [b12] (6.2.1) (i) Wenn es nun etwas gibt, das zwar fähig ist zu bewegen oder hervorzubringen, aber das nicht in wirklicher Tätigkeit ist, so findet keine Bewegung statt; denn es ist möglich, dass das, was nur die Möglichkeit hat, auch nicht in wirklicher Tätigkeit ist. (ii) Also nützt es auch nichts, wenn wir ewige ousiai annehmen, so wie diejenigen, die Ideen annehmen, sofern in ihnen nicht irgendein Prinzip enthalten ist, das die Möglichkeit hat zu verändern. (iii) Aber auch dies genügt nicht, noch die Annahme irgendeiner anderen ousia zusätzlich zu den Ideen; denn sofern die ousia sich nicht in wirklicher Tätigkeit befindet, findet keine Bewegung statt. (6.2.2) [b17] Ferner, wenn es sich in wirklicher Tätigkeit befindet, seine ousia aber Möglichkeit ist, wird auch dann keine ewige Bewegung stattfinden; denn was der Möglichkeit nach ist, kann auch nicht sein. Also muss ein solches Prinzip vorausgesetzt werden, dessen ousia wirkliche Tätigkeit ist. (6.2.3) [b20] Ferner, diese ousiai müssen dementsprechend ohne Materie sein; denn sie müssen ewig sein, wenn denn überhaupt irgend etwas ewig sein soll. Also müssen sie wirkliche Tätigkeiten sein. (6.3) [b22] (6.3.1) Doch hier entsteht eine Schwierigkeit. Denn das, was wirklich ist, meint man, ist alles möglich, das, was möglich ist, ist aber nicht alles wirklich, so dass demnach die Möglichkeit das Frühere wäre. Aber
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wenn dieses so wäre, so gäbe es nichts von den Dingen, die sind, denn es ist möglich, dass etwas zwar der Möglichkeit nach ist, aber doch noch nicht ist. (6.3.2) [b26] Stimmt man freilich der Ansicht der Theologen bei, welche alles aus der Nacht hervorgehen lassen, oder der der Naturphilosophen, welche behaupten, dass alle Dinge beisammen waren, so kommt man auf dieselbe Unmöglichkeit. Denn wie soll etwas bewegt werden, wenn nicht eine Ursache in wirklicher Tätigkeit vorhanden wäre? Denn die Materie kann sich ja doch nicht selbst in Bewegung setzen, sondern dies tut die Baukunst, und ebenso wenig kann die Menstruation oder die Erde sich selbst bewegen, sondern das tut das Saatgut und das Sperma. (6.3.3) [b31] Darum setzen einige eine ewige wirkliche Tätigkeit voraus, z. B. Leukippos und Platon; denn sie behaupten, es existiere immer Bewegung. Aber warum dies so ist, und welche Bewegung es ist, warum sich dies so, jenes anders bewegt, davon geben sie keinen Grund an; denn es bewegt sich ja nichts so, wie es sich eben trifft, sondern es muss immer etwas zugrunde liegen, wie sich ja jetzt etwas von Natur auf diese Weise, durch Gewalt aber oder durch Wirkung der Vernunft oder durch etwas anderes auf eine andere Weise bewegt. Ferner, welche Art von Bewegung ist die erste? Denn darauf kommt gar sehr viel an. Für Platon aber ist es gar nicht möglich zu erklären, welches Prinzip er manchmal meint, nämlich das sich selbst bewegende; denn die Seele ist später und gleichzeitig mit dem Himmel, wie er sagt. (6.3.4) [1072a3] Die Ansicht nun, dass die Möglichkeit der Wirklichkeit vorausgehe, ist gewissermaßen richtig, gewissermaßen auch nicht; auf welche Weise, ist bereits gesagt worden. Dass aber die Wirklichkeit das Frühere ist, dafür zeugen Anaxagoras (denn der Geist ist Wirklichkeit) und Empedokles mit seinen Prinzipien, Liebe und Hass, und diejenigen, welche eine ewige Bewegung annehmen, wie Leukippos. Also gab es nicht eine unendliche Zeit Chaos oder Nacht, sondern immer dasselbe, entweder im Kreislauf oder auf eine andere Weise, sofern die Wirklichkeit der Möglichkeit vorausgeht. (6.4) [a9] Wenn nun dasselbe immer [im Kreislauf] besteht, so muss etwas immer bleiben, das in gleicher Weise in wirklicher Tätigkeit ist. Soll aber Entstehen und Vergehen vorhanden sein, so muss etwas anderes existieren, das immer in anderer und wieder anderer Weise in wirklicher Tätigkeit ist. Es muss also in der einen Weise in Beziehung auf sich selbst, in der anderen Weise in Beziehung auf anderes in wirklicher Tätigkeit sein, und dies also in Beziehung auf ein verschiedenes oder auf das erste. Notwendig aber auf dieses ; denn dies ist wieder sich selbst wie jenem anderen Ursache der Bewegung. Doch ist das erste wohl besser; denn es war ja Ursache der immer gleichen Bewegung, der verschiedenen Bewegung Ursache war das andere; dass aber immer diese Verschiedenheit stattfindet, davon sind offenbar beide . So verhalten sich
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denn auch die Bewegungen. Was braucht man also noch andere Prinzipien zu suchen?“ 2. Überblick Mit dem sechsten Kapitel beginnt der dritte Teil von Lambda, der die Kapitel 6–9 bzw. 6–10 umfasst. Aufbauend auf der Interpretation der wahrnehmbaren ousiai aus den Kapiteln 2–5 wendet sich Aristoteles der Untersuchung der nicht wahrnehmbaren, ewigen und unbeweglichen ousiai zu. Dabei kommt es ihm in den folgenden zwei Kapiteln nicht nur darauf an zu zeigen, dass es ewige, unbewegliche ousiai geben muss, sondern vor allem darauf, genauer zu bestimmen, was diese ousiai eigentlich sind und welche weiteren Eigenschaften ihnen zugesprochen werden können. Im ersten Kapitel haben wir bereits gesehen, dass verschiedene Philosophen unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten haben, wie diese unbeweglichen ousiai zu bestimmen sind [vgl. (1.4.1)]; es kann Aristoteles folglich nicht nur daran gelegen sein, die Existenz dieser ousiai zu beweisen. Er muss vielmehr auch zeigen, was diese ousiai sind. Im siebten Kapitel wird deutlich werden, dass die Aristotelische Argumentation in der Annahme gipfelt, die ersten ousiai seien Intellekte, d. h. Vernunfttätigkeiten. Damit wendet sich Aristoteles gegen die Auffassung der Platoniker, die ersten ousiai seien Ideen oder mathematische Gegenstände. Im sechsten Kapitel erfahren wir noch nicht, dass die ewigen ousiai unbewegt sein müssen. Wir erfahren aber, dass es eine ousia geben muss, die Prinzip einer ewigen, wahrnehmbaren ousia ist, die sich in einer kontinuierlichen Kreisbewegung befindet. Das Prinzip muss die Ewigkeit und Kontinuität der Kreisbewegung gewährleisten. Dazu muss das Prinzip erstens selbst ewig sein. Zweitens muss das Prinzip nicht nur der Möglichkeit nach die Bewegung gewährleisten, sondern in Wirklichkeit bzw. in wirklicher Tätigkeit sein. Dass diese wirkliche Tätigkeit des Prinzips nicht als eine Verwirklichung einer ursprünglicheren Möglichkeit dieses Prinzips verstanden werden darf, führt zu einer Präzisierung: Das Prinzip darf nicht lediglich in wirklicher Tätigkeit sein, sondern muss selbst wirkliche Tätigkeit sein. Drittens argumentiert Aristoteles dafür, dass das Prinzip ohne Materie ist. Auch wenn die Details des sechsten Kapitels oft schwer zu verstehen sind, so ist die Gliederung des Kapitels doch relativ klar. Zunächst möchte Aristoteles beweisen, dass es eine wahrnehmbare ewige ousia geben muss (6.1). Dazu setzt er bei dem Begriff der Bewegung an. Bewegung müsse ewig sein, weil sie mit der Zeit identisch oder eine Eigenschaft der Zeit sei, und die Zeit selbst ewig sei. Die Zeit sei aber nicht nur ewig, sondern auch kontinuierlich. Es müsse also eine Bewegung geben, die ebenso wie die Zeit ewig und kontinuierlich sei. Nur eine Kreisbewegung könne diese beiden
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Kriterien erfüllen. Daraus folgert Aristoteles, dass es eine ousia geben muss, die sich in ewiger und kontinuierlicher Kreisbewegung bewegt. Mit dieser These ist der Ausgangspunkt für die folgende Argumentation geschaffen. Ausgehend von der Überlegung, dass jede Bewegung ein Prinzip, das die Bewegung verursacht, braucht, diskutiert Aristoteles in (6.2), wie das Prinzip der ewigen und kontinuierlichen Kreisbewegung zu bestimmen ist. Weil das Prinzip gewährleisten muss, dass die Bewegung ewig und kontinuierlich ist, reicht es nicht zu behaupten, dass das Prinzip der Möglichkeit nach ewige und kontinuierliche Bewegung verursachen können muss. Wenn das Prinzip nur der Möglichkeit nach Bewegung verursachen könnte, dann wäre es durchaus möglich, dass das Prinzip zu einem bestimmten Zeitpunkt diese Möglichkeit einmal nicht verwirklicht, d. h. aufhören würde, Bewegung zu verursachen. Weil diese Möglichkeit ausgeschlossen werden muss, argumentiert Aristoteles in Auseinandersetzung mit den Platonikern dafür, dass das Prinzip selbst Wirklichkeit bzw. wirkliche Tätigkeit sein muss, ohne dass diese Wirklichkeit als Verwirklichung einer ursprünglicheren Möglichkeit verstanden werden darf. Ferner muss dieses Prinzip ohne Materie sein, weil alles, was Materie hat, der Möglichkeit nach etwas anderes ist als das, was es gerade ist. Die Behauptung, es gäbe ein Prinzip, das wirkliche Tätigkeit ist, ohne dass diese Wirklichkeit als Verwirklichung einer ursprünglicheren Möglichkeit verstanden werden kann, provoziert folgenden Einwand (6.3): Es ist widersprüchlich zu behaupten, dass es etwas gibt, das in wirklicher Tätigkeit ist, ohne dass diese wirkliche Tätigkeit als Verwirklichung einer Möglichkeit verstanden wird, denn alles, was wirklich ist, muss doch zuvor möglich sein! Aristoteles widerlegt diesen Einwand und argumentiert für die ontologische Priorität der Wirklichkeit vor der Möglichkeit. Damit zeigt er, dass der Begriff einer ousia, die wirkliche Tätigkeit ist, ohne dass diese Wirklichkeit als Verwirklichung einer ursprünglicheren Möglichkeit verstanden werden muss, widerspruchsfrei ist. In einem komplizierten Schlussabschnitt (6.4) möchte Aristoteles zeigen, dass es nur zweier Prinzipien bedarf, wenn man die Verschiedenheit aller Bewegungen verstehen möchte. Das erste Prinzip garantiert die ewige Kontinuität, das zweite Prinzip das Entstehen und Vergehen der Dinge (und abhängig davon auch alle anderen Arten von Bewegung bzw. Veränderung).
3. Interpretation (6.1) (6.1.1) Kapitel sechs beginnt mit einem Neuanfang, der auf die Unterscheidungen der drei Arten von ousiai im erste Kapitel von Lambda [vgl. (1.4)] zurückgreift. Die These, die Aristoteles beweisen möchte, ist
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folgende: Es ist notwendig, dass es eine ewige und unbewegliche ousia gibt. Wenn Aristoteles dabei von der ousia im Singular spricht, dann meint er nicht, dass er zeigen möchte, dass es überhaupt nur eine einzige ewige und unbewegte ousia gibt. Später im sechsten Kapitel [vgl. (6.2.3)] wird ganz deutlich, dass er von mehreren ousiai ausgeht, die ewig und unbeweglich sind. Der Singular steht, wie an vielen Stellen auch sonst in Lambda, für den Artbegriff. Es gibt also nicht nur sinnlich wahrnehmbare vergängliche und sinnlich wahrnehmbare ewige ousiai, sondern auch unbewegliche (und d.h. auch: sinnlich nicht wahrnehmbare) ewige ousiai. (6.1.2) Aristoteles beginnt seine Argumentation für eine ewige, unbewegliche ousia mit einem Beweis dafür, dass es eine ewige wahrnehmbare ousia gibt.112 Dass Aristoteles überhaupt die Existenz einer ewigen wahrnehmbaren ousia beweist, obwohl sie im zweiten Kapitel [vgl. (2.5)] vorausgesetzt worden ist, lässt sich im Sinn eines Nachtrags verstehen. Im ersten Kapitel hat Aristoteles erklärt, dass alle Philosophen den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen den Status einer ousia zusprechen. Wir haben von dieser Behauptung die Aristotelische Annahme unterschieden, dass die Himmelskörper tatsächlich ewig sind. Diese Behauptung wird nicht von allen Philosophen geteilt. Dass es tatsächlich ewige wahrnehmbare ousiai gibt, wird in (6.1.2) bewiesen. Es ist allerdings auffällig, dass Aristoteles an keiner einzigen Stelle im sechsten Kapitel erwähnt, was denn diese ousiai sind, die ewig und wahrnehmbar sind, obwohl wir aus (2.5) schließen können, dass die Himmelskörper gemeint sein müssen. Streng genommen ist aber auch weder in (1.4) noch in (2.5) von den Himmelskörpern die Rede gewesen. Warum Aristoteles nicht von den Himmelskörpern oder dem Fixsternhimmel spricht, wird aus dem Beginn des siebten Kapitels deutlich [vgl. (7.1.2)]: Aristoteles will die gesamte Argumentation im sechsten Kapitel als eine rein begriffliche Argumentation verstanden wissen. Der Gedankengang in (6.1.2) ist folgender: Erstens wiederholt Aristoteles noch einmal aus dem ersten Kapitel, dass die ousia von dem Seienden das Erste ist [vgl. (1.2.1)]. Wenn alle ousiai vergänglich sind, d. h. dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind, dann ist alles, d. h. alle Dinge in den anderen Kategorien, ebenfalls vergänglich, weil alle Dinge in den anderen Kategorien von der ousia abhängig sind. Nun wird sich aber zeigen, dass es etwas gibt, nämlich eine bestimmte Art von Bewegung, die ewig sein muss. Bewegung kann es aber nur geben, wenn es eine ousia gibt, die bewegt ist. Weil Bewegung ewig ist, muss es eine ewige ousia geben. Die Wahrheit der These, dass es eine ewige ousia gibt, hängt folglich davon ab, ob es eine ewige Bewegung geben kann. Aristoteles bringt nun zweitens ein Argument dafür, dass es eine ewige Bewegung geben muss. Das Argument beruht darauf, dass die Zeit ewig
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ist, und weil die Bewegung entweder dasselbe wie die Zeit oder eine Eigenschaft der Zeit ist, ist auch die Bewegung ewig. Drittens stellt Aristoteles fest, die Ewigkeit der Bewegung könne nur durch eine Kreisbewegung gewährleistet sein, weil nur die Kreisbewegung ohne Anfang und ohne Ende sei. Aristoteles’ Argumentation provoziert zwei kritische Nachfragen.113 Erstens ist nicht deutlich, was Aristoteles genau meint, wenn er sagt, dass das Früher und Später nicht möglich ist, wenn es keine Zeit gibt. Ein Problem besteht darin, dass Aristoteles ja nicht lediglich zeigen muss, dass es Zeit gibt, sondern zu beweisen ist, dass die Zeit ewig ist. Vielleicht ist sein Argument folgendes: Es ist widersprüchlich zu behaupten, die Zeit habe einen Anfang (oder ein Ende), denn es ist immer möglich zu fragen, was denn früher als dieser Anfang (oder später, nach dem Ende) gewesen sei (bzw. sein werde). Ein solches Argument wäre freilich nicht sehr schlagkräftig, denn wenn die Zeit tatsächlich einen Anfang hat, dann macht der Begriff des Anfangs eben deutlich, dass man nicht mehr sinnvoll fragen kann, was vor diesem Anfang gewesen ist. Zweitens könnte man einwenden, dass die Ewigkeit der Bewegung der Sache nach nicht nur durch eine stetige Kreisbewegung ohne Anfang und Ende garantiert ist, sondern beispielsweise auch schon durch die Bewegung auf einer Ellipse, die als solche ja auch keinen Anfang- und keinen Endpunkt hat.114 Dieser Einwand lässt sich allerdings entkräften. Die Pointe in (6.1.2) ist nämlich nicht lediglich, dass es ewige Bewegung gibt, sondern dass es ewige Bewegung gibt, die kontinuierlich sein muss. Aristoteles geht in (6.1.2) von der Kontinuität der Zeit aus und behauptet, dass die Bewegung entweder mit der Zeit identisch oder eine Eigenschaft der Zeit sein muss. Wie immer wir diese Behauptung verstehen wollen, deutlich ist doch, dass die Kontinuität der Zeit auch für die Bewegung gelten muss. Im achten Kapitel von Physik VIII argumentiert Aristoteles detailliert dafür, dass nur die Kreisbewegung eine kontinuierliche Bewegung ist, weil alle anderen Bewegungen, z. B. der Bewegung auf einer Ellipse, zusammengesetzte Bewegungen sind. Die Bewegung auf einer Ellipse ist beispielsweise aus einer Kreisbewegung und der Bewegung auf einer Strecke zusammengesetzt, und die Bewegung auf einer Strecke ist nicht kontinuierlich. Dadurch ist auch die Bewegung auf einer Ellipse keine kontinuierliche Bewegung im strengen Sinne mehr. Aus demselben Grund reicht es auch nicht hin anzunehmen, dass es immer verschiedene Dinge geben wird, die in Bewegung sind. Die Kontinuität der Bewegung wäre nicht gewährleistet. Die Konklusion des Arguments, dass es eine ewig bewegte sinnlich wahrnehmbare ousia gibt, steht nicht ausdrücklich im Aristotelischen Text, muss aber der Sache nach ergänzt werden. Dass diese Konklusion nicht im
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Text steht, zeigt wieder einmal, dass einige Teile von Lambda am besten als auszuarbeitende Skizze einer Argumentation zu verstehen sind. (6.2) Aristoteles hat in (6.1.2) gezeigt, dass es eine wahrnehmbare ewige ousia gibt, die in kontinuierlicher Bewegung ist. Damit ist noch nicht gezeigt, dass es eine nicht wahrnehmbare ousia gibt. Der Beweis für diese ousia und die Bestimmung weiterer Eigenschaften dieser ousia zieht sich bis zum Ende des siebten Kapitels hin. Wir haben in (6.1.2) gesehen, dass die Konklusion der Argumentation (nämlich die Existenz einer ewigen und bewegten ousia) nicht im Aristotelischen Text steht, sondern ergänzt werden muss. Analog dazu sagt Aristoteles zu Beginn von (6.2) ebenfalls nicht ausdrücklich, dass alles, was bewegt ist, ein Prinzip der Bewegung braucht [vgl. dazu ausdrücklich (7.2)]. Diese These muss der Sache nach aber ergänzt werden. Eine ewige und kontinuierliche Bewegung kann es nur geben, wenn es ein Prinzip gibt, das ein Prinzip für die Ewigkeit und Kontinuität der Bewegung bzw. für die Ewigkeit und Kontinuität der bewegten ousia ist. Das Prinzip, das die kontinuierliche Ewigkeit der sinnlich wahrnehmbaren ewigen ousia garantieren soll, wird im Folgenden vor allem in Auseinandersetzung mit den Platonikern, die ewige Ideen angenommen haben, näher spezifiziert. Dabei arbeitet Aristoteles wiederum mit dem Begriffspaar ,Wirklichkeit‘ (gr. energeia) und ,Möglichkeit‘ (gr. dynamis), das uns aus dem Ende des zweiten [vgl. (2.4)] und aus dem fünften Kapitel [vgl. (5.2)–(5.3)] bereits bekannt ist. Weil der Begriff der energeia für die Argumentation im sechsten und siebten Kapitel außerordentlich wichtig ist, er aber oft missverständlich ist und auch die Übersetzung dieses Begriffs problematisch ist, seien einige grundsätzliche Anmerkungen zu diesem Begriff vorausgeschickt. Der Begriff der energeia wird von Aristoteles meistens in Zusammenhang mit dem Begriff der dynamis gebraucht. Während aber das Wort dynamis ein Wort der griechischen Alltagssprache ist und dort oft ,Kraft‘ oder auch ,Macht‘ bedeutet, hat Aristoteles das Wort energeia als einen terminus technicus mit großer Wahrscheinlichkeit selbst geschaffen. Das Wort ,energeia‘ setzt sich aus der Präposition ,en‘ (d. h. ,in‘) und ,ergon‘ (d. h. Tätigkeit, Werk, Aufgabe) zusammen. Die Endung ,-ia‘ macht deutlich, dass es sich beim Ausdruck ,energeia‘ (genau wie bei dem Wort ,ousia‘) um ein Abstraktum handelt. Wörtlich bedeutet ,energeia‘ also etwa das ,in Tätigkeit Sein‘. Dieser Aspekt der Tätigkeit, des ,am-Werkseins‘, geht in der Übersetzung verloren, wenn man ,energeia‘ nur mit ,Wirklichkeit‘ übersetzt (auch wenn es Kontexte, wie z. B. das zweite und fünfte Kapitel von Lambda gibt, in denen man sinnvoll ,dynamis‘ mit ,Möglichkeit‘ und ,energeia‘ mit ,Wirklichkeit‘ übersetzen kann). Das wird besonders im sechsten und sieb-
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ten Kapitel von Lambda deutlich. In diesen Kapiteln gebraucht Aristoteles an einigen Stellen das Verb zum Substantiv ,energeia‘, nämlich ,energein‘. Zwar könnte man ,energein‘ mit ,in Wirklichkeit sein‘ übersetzen, aber diese Übersetzung würde die spezifische Bedeutung des Verbs nicht angemessen zum Ausdruck bringen. Wenn Aristoteles nämlich von ,energeia‘ spricht, dann meint er nicht die Wirklichkeit im Sinne der Existenz oder Realität, sondern stets die Wirklichkeit im Sinne der Aktualität, d. h. der Tätigkeit, des ,am-Werkseins‘ von etwas. Wenn etwas ,in energeia‘ ist (ein Ausdruck, den Aristoteles häufig verwendet), bedeutet das nicht, dass dasjenige, das in energeia ist, in unserer Realität existiert, sondern dass es sich in einem bestimmten Zustand befindet, nämlich in dem seiner Aktualität. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass das, was eine Sache ihrem Wesen nach ist, wesentlich in der Aktualität, d. h. der wirklichen Tätigkeit, der Sache besteht. Die energeia eines bestimmten Menschen besteht beispielsweise nicht darin, dass es diesen Mensch wirklich gibt, d. h. dass er existiert, sondern darin, dass er auf eine bestimmte Weise existiert, nämlich so, dass sein Wesen, und d. h. vor allem seine Vernunft, aktualisiert ist. Wir übersetzen deswegen ,energein‘ stets mit ,in wirklicher Tätigkeit sein‘, und an einigen Stellen entsprechend auch das Substantiv ,energeia‘ mit ,wirkliche Tätigkeit‘. Der Nachteil dieser Übersetzung liegt freilich darin, dass die Gegenüberstellung zu ,dynamis‘ durch diese Übersetzung nicht so deutlich wird und ,energeia‘ nicht konsistent mit einem einzigen Wort übersetzt wird. Der Vorteil liegt darin, dass das, was Aristoteles der Sache nach meint, durch die Übersetzung besser verständlich wird. Wenn von dem Prinzip, das die ewige Kreisbewegung garantiert, gesagt wird, es sei in energeia, dann ist damit nämlich nicht lediglich gemeint, dass es existiert; dieses Verständnis würde aber nahe gelegt, wenn man ,energeia‘ mit ,Wirklichkeit‘ übersetzen würde. Aristoteles möchte sagen, dass das Prinzip kontinuierlich in wirklicher Tätigkeit sein muss. Die Art und Weise, wie das erste Prinzip wirklich ist, besteht darin, dass es wirklich tätig ist, d. h. nicht nur der Möglichkeit nach tätig ist. Insofern kann Aristoteles beispielsweise am Ende des Abschnittes (6.2.3) auch sagen, dass ein Prinzip vorausgesetzt werden muss, dessen ousia wirkliche Tätigkeit ist, oder am Ende des Abschnitts (6.2.3) schließen, dass die ersten Prinzipien wirkliche Tätigkeiten sind und dann mit (6.3) zur Frage übergehen, ob nicht doch in allen Fällen die Möglichkeit der Wirklichkeit ontologisch vorgeordnet ist. (6.2.1) (i) Um die ewige und kontinuierliche Kreisbewegung zu garantieren, müssen wir ein Prinzip annehmen, dass als Bewegungsursache erstens in der Lage ist, ewige Kreisbewegung zu bewirken und zweitens in wirklicher Tätigkeit sein muss. Es ist also nicht nur ein Prinzip, das die Möglichkeit hat, ewige Bewegung zu verursachen, sondern das der Wirklichkeit nach so beschaffen ist, dass es die Bewegung tatsächlich ver-
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ursacht. Wenn das Prinzip lediglich der Möglichkeit nach Bewegung verursachen würde, dann könnte man zwischen zwei Fällen unterscheiden: (a) Das Prinzip verwirklicht diese Möglichkeit und verursacht tatsächlich Bewegung; (b) Das Prinzip verwirklicht diese Möglichkeit nicht und verursacht keine Bewegung. Weil die Kreisbewegung aber ewig ist, muss (b) ausgeschlossen werden. Es muss ewig in wirklicher Tätigkeit sein. (ii) In der Auseinandersetzung mit den Platonikern wird in (ii) und (iii) das in (i) skizzierte Argument genauer entfaltet. Es reicht nicht hin, wie die Platoniker Ideen als Prinzipien zu postulieren und zu behaupten, dass diese Ideen ewig seien. Die Ewigkeit des Prinzips oder der Prinzipien garantiert nicht die ewige Kreisbewegung, die durch das Prinzip erklärt werden soll. Diese ewigen Prinzipien müssen vielmehr als ein Veränderungsprinzip konzipiert werden. Ein Veränderungsprinzip ist ein Prinzip, das die Möglichkeit hat, in einem anderen Veränderung, d.h. bezogen auf den vorliegenden Fall: ewige und kontinuierliche Kreisbewegung, hervorzurufen. (iii) Es kann ferner auch nicht genügen, lediglich anzunehmen, dass das Prinzip Bewegung verursachen kann. Wenn wir ohne weitere Zusatzannahmen lediglich behaupten, dass das Prinzip die Möglichkeit hat, Bewegung zu verursachen, dann ist nicht ausgeschlossen, dass das Prinzip diese Möglichkeit nicht verwirklicht. Wir müssen also hinzufügen, dass sich das Prinzip selbst in wirklicher Tätigkeit befindet. Eine Lösung kann ebenfalls nicht darin bestehen, eine weitere ousia zusätzlich zu den Ideen anzunehmen, die dann – so muss das unvollständige Argument wohl ergänzt werden – das Prinzip der Bewegung sein soll, wenn man von diesem Bewegungsprinzip nicht ausdrücklich sagt, dass es wirkliche Tätigkeit ist. (6.2.2) Das gesuchte Prinzip wird im Folgenden weiter spezifiziert. Es reicht nicht hin zu sagen, dass sich das Prinzip in wirklicher Tätigkeit befindet, denn die wirkliche Tätigkeit könnte immer noch als die Verwirklichung einer ursprünglicheren Möglichkeit verstanden werden [vgl. die in (6.2.1)(i) aufgeführte Variante (a)]. Ein so bestimmtes Prinzip könnte nicht die Ewigkeit der Bewegung garantieren, weil nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, dass die Möglichkeit auch einmal nicht verwirklicht ist. Wir müssen also ein Prinzip annehmen, das sich nicht im Zustand einer verwirklichten Möglichkeit befindet, sondern das seinem Wesen nach ausschließlich wirkliche Tätigkeit bzw. Wirklichkeit (im Unterschied zur Möglichkeit) ist. (6.2.3) In (6.2.2) hat Aristoteles ausgeschlossen, dass das Prinzip als Verwirklichung einer ursprünglicheren Möglichkeit verstanden werden kann. Wenn aus dem Prinzip aber jede Möglichkeit ausgeschlossen wird, dann bedeutet das, dass dieses Prinzip keine Materie haben kann. Die Begründung dafür ist, dass die Materie das Prinzip der Möglichkeit ist. Alles,
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was eine Materie hat, ist stets auch etwas der Möglichkeit nach. Wenn eine Tischfläche faktisch weiß ist, ist sie der Möglichkeit nach jede andere Farbe, also blau, rot, schwarz usw. [vgl. auch (2.4.2)]. Das Prinzip, das die kontinuierliche und ewige Kreisbewegung erklären kann, ist ein Prinzip ohne Materie. Hieraus lässt sich nun ferner schließen, dass das Prinzip selbst nicht sinnlich wahrnehmbar sein kann. Denn alles, was man sehen kann, hat in irgendeiner Form eine Oberfläche, die man sehen kann, und diese Oberfläche kann qua Fläche Träger verschiedener Eigenschaften, also Möglichkeiten, sein.115 Alles, was man sehen kann, ist also stets durch Materie und Form konstituiert. Was ausschließlich Form ist, kann nicht sinnlich wahrnehmbar sein. Ein Problem besteht darin, dass Aristoteles die Materielosigkeit der gesuchten Prinzipien mit der These zu begründen scheint, dass sie ewig sind. Diese Begründung ist aber nicht einsichtig, denn wir wissen ja bereits aus Kapitel 2, dass es ewige ousiai gibt, die keinesfalls ohne Materie sind, sondern eine Materie für ihre Ortsveränderung haben [vgl. (2.5)]. Vielleicht kann man den Zusammenhang zwischen der Materielosigkeit und der Ewigkeit wie folgt verstehen: Für dasjenige, was keine Materie hat, gibt es auch keine Hinsicht, unter der es sich verändern kann. Das bedeutet aber, dass das, was keine Materie hat, auch nicht dem Entstehen und Vergehen unterworfen sein kann. Das wiederum bedeutet aber, dass, wenn überhaupt irgend etwas ewig ist, diejenigen ousiai, die keine Materie haben, ewig sein müssen. Wenn Aristoteles an einen derartigen Zusammenhang gedacht hätte, dann hätte er allerdings kaum schreiben können, „denn sie müssen ewig sein […]“. Das griechische Wort gar, das mit ,denn‘ übersetzt worden ist und an dieser Stelle kaum anders übersetzt werden kann, ist für eine solche Interpretation eine ernsthafte Schwierigkeit. Der letzte kurze Satz in (6.2.3) ist aus zwei Gründen nicht einfach zu verstehen. Erstens ist es nicht möglich, das ,also‘ auf die Zeile unmittelbar zuvor, d. h. auf die Ewigkeit der ousiai zu beziehen. Die gesuchten ousiai sind nicht deswegen wirkliche Tätigkeiten, weil sie ewig sind, sondern weil sie ohne Materie sind. Zweitens, was soll es heißen, dass die ousiai wirkliche Tätigkeiten sind?116 Dass diese ousiai in wirklicher Tätigkeit sein müssen, wissen wir schon. Wenn diese wirkliche Tätigkeit nun aber so verstanden werden muss, dass sie nicht mehr die Verwirklichung einer Möglichkeit ist, dann ist das Sein der ousia selbst dadurch charakterisiert, dass sie diese wirkliche Tätigkeit ist. In (6.2.3) wird aus den zu bestimmenden ousiai jede Möglichkeit ausgeschlossen. Die ousiai sind also – mit der Tradition gesprochen – reine Form ohne jede Materie. Diese Form selbst ist aber die wirkliche Tätigkeit. Deswegen sind die ousiai wirkliche Tätigkeiten. Wichtig für eine Gesamtinterpretation von Lambda ist der Plural, den Aristoteles in (6.2.3) gebraucht, wenn er von den ousiai spricht. Interpre-
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ten, die der Auffassung sind, dass es Aristoteles in Lambda vor allem darauf ankommt, das eine unbewegt Bewegende zu beweisen und darüber hinaus das achte Kapitel, in dem Aristoteles fragt, wie viele unbewegt Bewegende wir denn annehmen müssen, für einen späteren Einschub halten, übersehen leicht, dass Aristoteles an keiner Stelle in Lambda davon ausgeht, dass es überhaupt nur eine einzige unbewegte ousia gibt. Wenn er beispielsweise im ersten Satz des sechsten Kapitels und an vielen anderen Stellen von der ewigen unbewegten ousia im Singular spricht und meint, es gäbe eine unbewegte ousia, dann gebraucht er den Singular, um auf die Art zu referieren. Dabei wird er sich erst im achten Kapitel der Frage zuwenden, wie viele Exemplare diese Art umfasst. (6.3) Im Folgenden diskutiert und löst Aristoteles eine Schwierigkeit, die mit seiner Auffassung verbunden ist, dass das Prinzip oder die Prinzipien, die für die ewige Kreisbewegung verantwortlich sind, ihrem Wesen nach wirkliche Tätigkeiten bzw. Wirklichkeiten sind. Das Problem besteht darin, dass man leicht einwenden kann, alles, was wirklich sei, müsse vorher möglich gewesen sein. Die Möglichkeit, so der Einwand, gehe der Wirklichkeit voraus und nicht umgekehrt.117 Der Abschnitt gliedert sich im mehrere Teile: In (6.3.1) wird der Einwand vorgestellt und das Gegenargument skizziert: Wenn es wahr wäre, dass die Möglichkeit das Frühere, d. h. das ontologisch Primäre wäre, dann würde nichts existieren. Zu diesem Ergebnis müsste man kommen, wenn man, wie in (6.3.2) ausgeführt wird, der Ansicht von bestimmten Theologen und Naturphilosophen folgen würde. Andere Philosophen [vgl. (6.3.3)] haben demgegenüber richtig erkannt, dass die Möglichkeit nicht das Primäre ist, und haben behauptet, dass es eine ewige wirkliche Tätigkeit geben muss. Freilich ist deren Bestimmung dieser ewigen wirklichen Tätigkeit zu unspezifisch. Dass Aristoteles aber mit seiner Auffassung nicht allein steht, zeigt er in (6.3.4). Schon Anaxagoras und Leukippos haben behauptet, dass die Wirklichkeit der Möglichkeit vorausgeht. (6.3.1) Das Argument gegen die These der Priorität der Möglichkeit vor der Wirklichkeit ist knapp formuliert: Wenn die Möglichkeit das Frühere wäre, würde nichts von den Dingen, die sind, existieren, denn es ist möglich, dass etwas zwar sein kann, aber doch nicht ist. Damit dieses Argument ein Gegenargument ist, ist zunächst zu ergänzen, dass ja ganz offensichtlich Dinge existieren. Also, so wäre zu folgern, kann das Mögliche nicht das Frühere sein. (6.3.2) Glücklicherweise wird aus (6.3.2) deutlicher, wie Aristoteles das Argument in (6.3.1) verstanden hat. Die Priorität der Möglichkeit vor der Wirklichkeit bedeutet der Sache nach, dass alles, was es gibt, überhaupt nur der Möglichkeit nach existiert, und nichts wirklich existiert. Wenn er in (6.3.1) also davon spricht, dass die Möglichkeit früher ist als die Wirklich-
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keit, dann versteht er, wie auch sonst an vielen Stellen in seinem Werk, ,früher‘ nicht lediglich in einem temporalen Sinn. Etwas ist dann früher, wenn es ontologisch primär ist, d. h. wenn die Existenz anderer Dinge von ihm abhängt. Wenn nun diejenigen Prinzipien, von denen alles Seiende abhängt, ausschließlich der Möglichkeit nach wären, dann würde nie etwas tatsächlich wirklich werden. Damit etwas tatsächlich wirklich werden könnte, bräuchte man nämlich ein neues Prinzip, dass die Dinge, die der Möglichkeit nach sind, in die Wirklichkeit überführt. Dieses neue Prinzip selbst darf natürlich nicht nur der Möglichkeit nach sein, denn wenn es nur der Möglichkeit nach wäre, dann würde es überhaupt nicht in der Lage sein, die Dinge von der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu überführen. Eben diesen Irrtum, nämlich zu behaupten, dass die Möglichkeit früher ist, begehen aber die Theologen, d. h. diejenigen, die wie beispielsweise Hesiod in mythologischer Weise über die Welt sprechen, und die Naturphilosophen – wobei wir nur von Anaxagoras wissen, dass er behauptet hat, alle Dinge seien beisammen.118 (6.3.3) Damit also überhaupt etwas existieren kann, muss man ein Prinzip voraussetzen, das nicht der Möglichkeit nach ist, sondern in ewiger wirklicher Tätigkeit ist. Wer wie Platon und der Atomist Leukippos behauptet, dass es immer Bewegung gebe, der nimmt faktisch ein solches Prinzip an.119 Allerdings bleiben bei Platon und Leukippos vor allem vier Fragen ungeklärt120: Warum ist das erste Prinzip in Bewegung? Was für eine Art von Bewegung ist es? Warum bewegen sich die Dinge unterschiedlich? Welche Art von Bewegung ist die erste? (6.3.4) Die These, dass die Möglichkeit der Wirklichkeit vorausgeht, ist nicht in jeder Hinsicht falsch. Die Interpreten sind sich zwar nicht einig, auf welchen Text sich Aristoteles bezieht, wenn er schreibt, er habe bereits gesagt, in welchem Sinne die These richtig und in welchem Sinne sie falsch sei.121 Der Sache nach ist aber deutlich, dass es einen Aspekt gibt, von dem aus betrachtet die Möglichkeit tatsächlich der Wirklichkeit vorausgeht, nämlich den Aspekt der Zeit. Im neunten Buch der Metaphysik führt Aristoteles aus, dass es zur Entstehung eines individuellen Menschen etwas zeitlich Früheres geben müsse, das der Möglichkeit nach dieser Mensch ist, und das sei der Same, aus dem der konkrete Mensch wird. Allerdings gibt es auch hier einen anderen Aspekt, den der Art nämlich, unter dem etwas, das der Wirklichkeit nach ist, zeitlich früher sein muss: Es muss einen Menschen geben, der einen anderen Menschen zeugen kann.122 (6.4) (6.4) gehört zu denjenigen Abschnitten des Buches Lambda, die schwer zu interpretieren sind. Deutlich ist zunächst nur soviel: Aristoteles will offensichtlich eine Antwort auf die Frage geben, wie viele Ursachen angenommen werden müssen, um verschiedene Arten von Bewegungen erklären zu können. Damit beantwortet er eine der Fragen, die Platon und
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Leukippos offen gelassen haben [vgl. (6.3.3)]. Deutlich ist ferner, dass die Lösung in der Annahme zweier Prinzipien besteht, die beide in wirklicher Tätigkeit sein müssen. Das erste Prinzip erklärt die kontinuierliche Kreisbewegung. Das zweite Prinzip erklärt, warum es immer Entstehen und Vergehen gibt. Das erste Prinzip muss gleichmäßig in wirklicher Tätigkeit sein, das zweite Prinzip muss in unterschiedlicher Weise in wirklicher Tätigkeit sein. Die Schwierigkeit des Abschnitts besteht darin, dass unklar ist, von welchen Prinzipien Aristoteles eigentlich spricht. Worauf bezieht sich das ,etwas‘ in dem ersten Satz, von dem es heißt, dass es gleichmäßig in wirklicher Tätigkeit bleiben muss? Bezieht es sich, wie Elders123 meint, auf das Prinzip, das die Fixsternsphäre bewegt, oder, wie die meisten anderen Interpreten124 annehmen, auf die Fixsternsphäre selbst? Ein starkes Argument für die zweite Interpretation ist der vorletzte Satz des Abschnitts, in dem Aristoteles davon spricht, dass sich die Bewegungen (und nicht die Prinzipien der Bewegungen) so verhalten, wie er es dargestellt hat. Für diese Interpretation spricht ferner, dass es sehr nahe liegend ist, bei den beiden Prinzipien an die Bewegung des äußeren Himmels, d. h. derjenigen äußersten Himmelssphäre, auf der die Fixsterne sich bewegen, und an die Bewegung der Sonne entlang der Ekliptik zu denken. Schon im fünften Kapitel [vgl. (5.2.2)] hat Aristoteles ja darauf hingewiesen, dass es über die unmittelbare Bewegungsursache für einen Menschen, einen Vater, weitere Bewegungsursachen, die Sonne und die Ekliptik, gibt, die für das Entstehen und Vergehen verantwortlich sind. Dass die Bewegung der Sonne in unterschiedlicher Weise wirklich tätig ist, liegt daran, dass die Sonne ja nicht nur entlang der Ekliptik zieht, sondern auch noch eine ganz andere Bewegung, nämlich den täglichen Umlauf, vollzieht. Deswegen kann von dieser Bewegung gesagt werden, sie wirkt in einer Weise in Beziehung auf sich selbst (und damit ist wohl die Bewegung entlang der Ekliptik gemeint125), in anderer Weise in Bezug auf anderes (und damit ist wohl die tägliche Umlaufbewegung gemeint). Ein Problem dieser Interpretation besteht darin, dass im Text weder vom Fixsternhimmel noch von der Sonne die Rede ist. Mehr noch: Zu Beginn des siebten Kapitels [vgl. (7.1.2)] wird deutlich werden, dass Aristoteles der Auffassung ist, seine Argumentation im sechsten Kapitel sei ausschließlich eine begriffliche Argumentation, die ganz unabhängig davon gültig sei, was in unserer Welt tatsächlich der Fall ist, d. h. ob es einen ewige Fixsternhimmel und Himmelskörper usw. überhaupt gibt. Vielleicht werden wir dem Abschnitt am ehesten gerecht, wenn wir auf die beiden Arten der wahrnehmbaren ousia zurückgreifen.126 Wir wissen, dass es wahrnehmbare vergängliche ousiai gibt, die dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Im sechsten Kapitel ist ferner gezeigt worden,
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dass es wahrnehmbare ewige ousiai gibt, deren Ewigkeit und Kontinuität dadurch gewährleistet ist, dass sie sich in einer Kreisbewegung befinden. Dass mit dieser Kreisbewegung die Bewegung der Himmelssphäre gemeint ist, ist bisher an keiner Stelle explizit gesagt worden. Wenn Aristoteles also in den ersten beiden Sätzen davon spricht, dass es etwas gibt, das immer als dasselbe besteht, wird man an die wahrnehmbare ewige, wenn er davon spricht, dass Entstehen und Vergehen vorhanden sein soll, an die vergängliche ousia denken. Nun erklärt die ewige wahrnehmbare ousia noch nicht, dass es immer Entstehen und Vergehen gibt. Dazu bedarf es eines zweiten Prinzips, das das Entstehen und Vergehen erklären kann.
Kapitel 7 Die Existenz und Eigenschaft der unbeweglichen ousia – Teil II 1. Der Text „(7.1) [1072a19] (7.1.1) Da es nun aber möglich ist, dass so verhält, und wenn sie sich nicht so verhielte, alles aus der Nacht und dem Beisammen aller Dinge und dem Nichtseienden hervorgehen würde, so lösen sich demnach diese . (7.1.2) [a21] Und es gibt etwas, das sich immer in unaufhörlicher Bewegung bewegt, diese Bewegung aber ist die Kreisbewegung. Und dieses ist nicht nur durch das begriffliche Argument, sondern auch durch die Sache selbst deutlich, so dass der erste Himmel wohl ewig sein dürfte. (7.2) [a23] Also gibt es auch etwas, das bewegt. Da aber dasjenige, was bewegt wird und bewegt, ein Mittleres ist, so muss es auch etwas geben, das ohne bewegt zu werden, selbst bewegt, das ewig, eine ousia und Wirklichkeit ist. (7.3) [a26] (7.3.1) Es bewegt aber so wie das Objekt des Strebens und das Objekt der Vernunft: sie bewegen, ohne bewegt zu werden. Von diesen sind die ersten dieselben. Denn Objekt des Begehrens ist dasjenige, was als gut erscheint, das erste Objekt des Willens ist das, was gut ist. Wir erstreben aber vielmehr etwas, weil wir es für gut halten, als dass wir es für gut hielten, weil wir es erstreben, denn Prinzip ist die Vernunfttätigkeit. (7.3.2) [a30] Die Vernunft wird von dem Objekt der Vernunft bewegt, Objekt der Vernunft aber an sich ist die eine der beiden Reihen der Zusammenstellung (systoichia); in ihr nimmt die ousia die erste Stelle ein, und unter dieser die einfache, der wirklichen Tätigkeit nach existierende (Eines aber und Einfach ist nicht dasselbe; denn das Eine bezeichnet ein Maß, das Einfache aber ein bestimmtes Verhalten), aber auch das Gute und das um seiner selbst willen Erstrebbare findet sich in derselben Reihe, und das erste ist immer das Beste oder dem analog. (7.3.3) [b1] Dass aber das Ziel zu den unbewegten Dingen gehört, macht die Unterscheidung deutlich; denn es gibt ein Ziel für etwas und um etwas willen; jenes ist unbeweglich, dieses nicht. (7.3.4) [b3] Jenes bewegt wie ein Geliebtes, und durch das Bewegte bewegt es die anderen Dinge.
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(7.4) [b4] (7.4.1) Wenn nun etwas bewegt wird, so ist es möglich, dass es sich auch anders verhält, so dass, wenn die erste Ortsbewegung die wirkliche Tätigkeit ist, sich das, was bewegt wird, insofern es in Bewegung ist, auch anders verhalten kann, nämlich dem Ort, wenn auch nicht der ousia nach. Nun gibt es aber etwas, das ohne bewegt zu werden selbst bewegt und in wirklicher Tätigkeit existiert; bei diesem ist also auf keine Weise möglich, dass es sich anders verhält. (7.4.2) [b8] Denn Ortsbewegung ist die erste unter den Veränderungen, und unter ihr die Kreisbewegung; diese aber wird von diesem bewegt. (7.4.3) [b10] Also ist es notwendig seiend, und insofern es notwendig ist, existiert es auf schöne Art und Weise, und ist so ein Prinzip. Notwendig nämlich wird in mehreren Bedeutungen gebraucht, einmal als das gegen den eigenen Handlungsimpuls mit Gewalt Erzwungene, dann als das, ohne welches das Gute nicht sein kann, drittens als das, was nicht anders möglich ist, sondern uneingeschränkt ist. (7.4.4) [b13] Von einem solchen Prinzip also hängen der Himmel und die Natur ab. (7.5) [b14] (7.5.1) Die Art zu leben (diagōgē) ist aber so, wie die beste für uns in einer kurzen Zeit, (denn so ist sie bei ihm immerwährend, denn für uns ist das unmöglich), da seine wirkliche Tätigkeit auch Lust ist. Deshalb ist auch Wachen, Wahrnehmen, Vernunfttätigkeit sehr lustvoll, und durch diese erst Hoffnungen und Erinnerungen. (7.5.2) [b18] Die Vernunfttätigkeit an sich aber geht auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste. Sich selbst aber denkt die Vernunft im Ergreifen des Objektes der Vernunft; denn sie wird ein Objekt der Vernunft, indem sie es berührt und denkt, so dass Vernunft und Objekt der Vernunft dasselbe werden. Denn die Vernunft ist das aufnehmende Vermögen für die Objekte der Vernunft und die ousia. Sie ist in wirklicher Tätigkeit, indem sie hat, so dass dieses noch mehr als jenes das ist, was die Vernunft Göttliches zu haben scheint, und die theoretische Untersuchung (theōria) ist das Lustvollste und Beste. (7.5.3) [b24] Wenn sich nun so gut, wie wir zuweilen, Gott immer verhält, so ist es bewundernswert, wenn aber noch besser, dann noch bewundernswerter. So verhält er sich aber. Und Leben kommt ihm zu; denn die wirkliche Tätigkeit der Vernunft ist Leben, jene aber ist die wirkliche Tätigkeit. Ihre wirkliche Tätigkeit an sich ist aber bestes und ewiges Leben. Gott, sagen wir, ist das ewige, beste Lebewesen, so dass Leben und kontinuierliche Ewigkeit Gott zukommen; dieses ist nämlich Gott. (7.6) [b30] Alle diejenigen aber, welche, wie die Pythagoreer und Speusippos, annehmen, das Schönste und Beste sei nicht im Prinzip enthalten – weil ja auch bei den Pflanzen und Tieren die Prinzipien zwar Ursachen sind, das Schöne und Vollkommene aber erst in dem daraus Hervorgehen-
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den sich findet –, haben keine richtige Ansicht; denn der Same geht aus anderem, ihm selbst vorausgehenden Vollendeten hervor, und das erste ist nicht der Same, sondern das Vollendete. So würde man z. B. vom Menschen sagen, dass er früher sei als der Same, nämlich nicht von dem Menschen, der aus diesem Samen wird, sondern von einem anderen, aus welchem der Same hervorgegangen ist. (7.7) [1073a3] Dass es also eine Art von ousia gibt, die ewig, unbewegt, von allen sinnlich wahrnehmbaren Dingen selbstständig abtrennbar ist, ist aus dem, was gesagt worden ist, klar. (7.8) [a5] Es ist aber auch erwiesen, dass diese ousia keine Größe haben kann, sondern unteilbar und unzerteilbar ist. Denn die unendliche Zeit hindurch bewegt sie, nichts Begrenztes aber hat eine unbegrenzte Kraft. Da nun jede Größe unbegrenzt oder begrenzt sein muss, so kann sie eine begrenzte Größe aus dem angegebenen Grunde nicht haben, eine unbegrenzte Größe aber darum nicht, weil es überhaupt keine unbegrenzte Größe gibt. Aber es ist auch ferner erwiesen, dass sie keiner Affektion und keiner Qualitätsveränderung unterworfen ist; denn alle übrigen Bewegungen folgen erst der Ortsbewegung nach. Von diesem also ist offenbar, warum es sich so verhält.“ 2. Überblick Das siebte Kapitel führt die Untersuchung der dritten Art der ousia fort. Im sechsten Kapitel hat Aristoteles eine rein begriffliche Argumentation für die Existenz eines Prinzips einer ewigen Kreisbewegung entwickelt, das ewig, wirkliche Tätigkeit bzw. Wirklichkeit und ohne Materie ist. Im siebten Kapitel argumentiert er ausgehend von der ewigen Kreisbewegung der Sphäre des Fixsternhimmels dafür, dass dieses Prinzip unbeweglich bzw. unbewegt sein muss. Damit stellt sich aber die Frage, wie denn ein unbewegtes Prinzip Bewegungsursache für die Sphäre des Fixsternhimmels sein kann. Welche Antwort Aristoteles auf diese Frage gibt, ist unter den Interpreten umstritten. Im vorliegenden Kommentar wird dafür argumentiert, dass Aristoteles vertreten wollte, die Sphäre des Fixsternhimmels werde dadurch bewegt, dass sie das unbewegt Bewegende anstrebt. Dieses Streben bewirkt die ewige Kreisbewegung der Fixsternsphäre. Mit dieser Auffassung, wie das unbewegt Bewegende Bewegungsursache des Fixsternhimmels sein kann, stellen sich allerdings neue Probleme, auf die Aristoteles weder in Lambda noch in anderen Werken in wünschenswerter Klarheit eingeht. Das größte Problem besteht dabei in der Frage, wie es möglich sein soll, dass die Sphäre des Fixsternhimmels überhaupt etwas anstrebt. Über die Eigenschaften ewig, wirkliche Tätigkeit, ohne Materie und un-
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bewegt zu sein hinaus, führt Aristoteles noch eine weitere Eigenschaft an: Die gesuchte ousia ist notwendig seiend, weil es nicht möglich ist, dass sie sich anders verhält. Das siebte Kapitel kulminiert in dem Satz, dass von einem solchen Prinzip der Himmel und die Natur, d. h. unsere ganze Wirklichkeit abhängt. Damit wird deutlich, dass das unbewegt Bewegende nicht nur die Bewegungsursache für die Sphäre des Fixsternhimmels ist, sondern vermittelt durch die Bewegung des Fixsternhimmels auch die letzte Bewegungsursache für alles andere ist. Zwei unterschiedliche Weisen, wie der erste ousia Bewegungsursache ist, lassen sich dabei voneinander unterscheiden. Erstens bewegt das unbewegt Bewegende den Fixsternhimmel, die Rotation des Fixsternhimmels ist aber auch eine der Bewegungsursachen für die Ekliptik und damit für die Bewegung der Sonne, und die Bewegung der Sonne entlang ihrer Bahn ist Bewegungsursache für das Entstehen und Vergehen von allem Leben im sublunaren Bereich. Zweitens beruht die Art und Weise, wie die erste ousia Bewegungsursache ist, wesentlich auf der Charakterisierung der ousia als Aktualität bzw. wirkliche Tätigkeit (energeia). Alles, was lebt, strebt danach, der ersten ousia so ähnlich wie möglich zu werden. Das gelingt den Dingen in dem Maße, in dem sie ihre eigene Aktualität entfalten, d. h. das werden, was sie ihrem Wesen nach sind. Es ist dieses Streben danach, selbst in Aktualität bzw. wirklicher Tätigkeit zu sein, in dem die erste ousia ihre Kraft als Bewegungsursache entfaltet. Dabei werden wir sehen, dass nicht nur alles, was lebt, sondern in einer gewissen Hinsicht auch die unbelebte Natur bis hin zu den Elementen das unbewegt Bewegende als Bewegungsursache hat. Worin aber besteht die wirkliche Tätigkeit der ersten ousia selbst? Sie führt das bestmögliche Leben überhaupt. Weil sie das bestmögliche Leben führt, wird sie auch mit Gott identifiziert, denn ein Gott ist in der griechischen Religion das Wesen, das das bestmögliche Leben führt. Das bestmögliche Leben besteht aber im Denken, d. h. in der Ausübung der Vernunft (nous). An dieser Stelle wird deutlich, was diejenigen unbewegten ousiai eigentlich sind, die im ersten Kapitel von Lambda als dritte Art der ousia eingeführt worden sind. Sie sind weder Ideen noch mathematische Gegenstände, sondern Intellekte. Aristoteles spricht im Zusammenhang mit der Bestimmung der dritten Art der ousiai als Intellekte folgendes Problem an: Wenn das Denken selbst das Wesen dieser ousiai ist, diese ousiai aber die obersten Prinzipien sind, was denken diese ousiai dann? Seine Antwort, dass die Vernunft und das Objekt der Vernunft in diesem Fall identisch miteinander sind und die Vernunft sich selbst denkt, wird im siebten Kapitel nur knapp, im neunten Kapitel von Lambda dafür ausführlicher erläutert. Das Kapitel ist wie folgt gegliedert. In (7.1) knüpft Aristoteles ausdrücklich an das sechste Kapitel an. Nicht nur die begriffliche Argumen-
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tation, sondern auch ein Blick in die Welt selbst macht deutlich, dass es etwas gibt, das sich in ewiger und kontinuierlicher Kreisbewegung bewegt, nämlich die Sphäre des Fixsternhimmels. (7.2) beweist, dass die gesuchte ousia unbewegt ist. Um einen infiniten Regress zu vermeiden, muss die Bewegungsursache selbst unbewegt sein. In (7.3) erläutert Aristoteles, dass das unbewegt Bewegende dadurch Bewegungsursache ist, dass es von der Sphäre des Fixsternhimmels angestrebt wird. Das Streben bewirkt die ewige Kreisbewegung des Fixsternhimmels um seine eigene Achse. In (7.4) erfahren wir, dass die erste ousia notwendig seiend ist, in (7.5) erläutert Aristoteles, dass die erste ousia das bestmögliche Leben führt. Weil das bestmögliche Leben im Denken und in der Ausübung der theōria besteht, muss die erste ousia ein Intellekt sein. Die wirkliche Tätigkeit der ersten ousia besteht also in der Aktualität der Vernunft, die, für den Fall der ersten ousia, mit dem Objekt der Vernunft identisch ist. Weil ein Wesen, das das bestmögliche Leben führt, Gott sein muss, wird die erste ousia ferner mit Gott identifiziert. Drei Nachträge schließen das Kapitel ab: In (7.6) entkräftet Aristoteles den Einwand, dass das Beste nicht im ersten Prinzip enthalten sein kann, in (7.7) fasst er die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammen: Es gibt eine Art von ousia, die ewig, unbewegt und von allen sinnlich wahrnehmbaren Dingen selbstständig abtrennbar ist. In (7.8) führt Aristoteles aus, dass die erste ousia keine Größe haben kann und nicht den Affektionen und Qualitätsveränderungen unterliegt. 3. Interpretation (7.1) Der Abschnitt (7.1) schließt sich unmittelbar an das sechste Kapitel an. Wie schon beim Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel, so ist auch die Kapitelgrenze zwischen dem sechsten und siebten Kapitel ein wenig willkürlich von den Renaissanceherausgebern der Metaphysik gezogen worden.127 Weil aber (7.1.2) sowohl die Argumentation des sechsten Kapitels abschließt als auch die neue Argumentation einleitet, belassen wir die Kapitelgrenze, wo sie gesetzt worden ist. (7.1.1) Der Abschnitt ist nicht ganz leicht zu verstehen. Aristoteles spricht von Schwierigkeiten, die sich lösen. Welche Schwierigkeiten sind aber gemeint?128 Klar ist zunächst nur, dass Aristoteles sich offenbar auf Schwierigkeiten bezieht, die im zweiten Teil des sechsten Kapitels [d. h. in (6.3) und (6.4)] diskutiert worden sind. In diesem Teil werden aber mehrere Schwierigkeiten angesprochen: Erstens die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man wie Aristoteles die Priorität der Wirklichkeit vor der Möglichkeit behauptet [vgl. (6.3.1)], zweitens die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man die Priorität der Möglichkeit vor der Wirklichkeit be-
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hauptet [vgl. (6.3.2)] und drittens die Schwierigkeit, die mit der Frage verbunden ist, wie viele Prinzipien man braucht, um sowohl die ewige Kreisbewegung als auch das Entstehen und Vergehen zu erklären [vgl. (6.4)]. Einen Hinweis auf die Frage, auf welche der drei Schwierigkeiten sich Aristoteles in (7.1.1) bezieht, gibt er durch die Beispiele: Alles würde „aus der Nacht oder dem Beisammen der Dinge oder dem Nichtseienden hervorgehen“. Diese Beispiele verweisen uns auf den Abschnitt (6.3.2). In (6.3.2) werden Schwierigkeiten aufgeworfen, die dann entstehen, wenn man die Priorität der Möglichkeit vor der Wirklichkeit behauptet. Es sind diese Probleme, die durch Aristoteles’ These der Priorität der Wirklichkeit vor der Möglichkeit gelöst werden. (7.1.2) Der Abschnitt (7.1.2) unterscheidet zwischen zwei Weisen eine Untersuchung zu führen. Die Unterscheidung findet sich ähnlich auch an anderen Stellen in den Werken von Aristoteles.129 Die erste Weise der Untersuchung ist eine begriffliche Argumentation (gr. logos), die zweite Weise besteht darin, dass man sich mit den Sachen selbst beschäftigt (gr. ergon). Aus (7.1.2) geht hervor, dass Aristoteles offenbar der Auffassung ist, die bisherige Argumentation für eine ewige Kreisbewegung im sechsten Kapitel sei eine rein begriffliche Argumentation gewesen. Von dem Fixsternhimmel war im sechsten Kapitel ja tatsächlich noch nicht explizit die Rede. Dass es aber etwas gibt, das sich in ewiger Kreisbewegung befindet, wird nicht nur durch die begriffliche Argumentation, sondern auch dadurch deutlich, dass man sich die Welt anschaut und sieht, dass es tatsächlich eine immer wiederkehrende Kreisbewegung gibt, nämlich den Fixsternhimmel. Dass die Kreisbewegung der Sphäre der Fixsterne unaufhörlich, d. h. ewig, ist, ist natürlich nicht beobachtbar. Das begriffliche Argument kann aber mit dem, was sich beobachten lässt, verbunden werden, und so folgert Aristoteles vorsichtig, dass der erste Himmel, d. h. die Sphäre der Fixsterne, wohl ewig sein dürfte. (7.2) Die wenigen Zeilen in (7.2) enthalten die These und das Argument dafür, dass die ewige ousia, die das Prinzip der Kreisbewegung des ersten Himmels ist, unbewegt ist. Es ist überraschend, dass Aristoteles ein Argument für die Unbewegtheit überhaupt für notwendig hält. Er hätte beispielsweise im Anschluss an die Behauptung in (6.2.3), das erste Prinzip müsse ohne Materie sein, ausführen können, dass das Prinzip auch unbewegt sein müsse, weil etwas, das keine Materie habe, keine Möglichkeit zur Veränderung habe; da Bewegung eine Form von Veränderung sei, sei es folglich unmöglich, dass sich das erste Prinzip bewege. Aristoteles wählt, wie wir sehen werden, statt dessen ein anderes Argument, um die Unbewegtheit des ersten Prinzips zu zeigen. Allerdings bedarf das Argument in hohem Maße der Erläuterung. Der Text macht den Eindruck, dass er weniger ein Argument, als vielmehr den Hinweis auf eine Argumentation
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enthält, die in anderen Kontexten ausführlicher dargestellt worden ist und auf die Aristoteles verweisen kann.130 Das genaue Verständnis des Abschnitts ist ferner noch dadurch erschwert, dass der griechische Text der Manuskripte offensichtlich verderbt ist;131 der Sinn des Abschnittes dürfte aber dennoch deutlich sein132 und ist unter den Interpreten auch nicht umstritten: Der erste Himmel befindet sich in ewiger Kreisbewegung. Da jede Bewegung verursacht ist, gibt es also etwas, das den ersten Himmel bewegt. Das, was etwas bewegt, aber zugleich auch selbst bewegt wird, ist stets etwas Mittleres. Wir können dabei an eine Kette von Bewegungen denken, wie sie beispielsweise beim Billardspiel gegeben ist. Eine rote Kugel wird z. B. dadurch bewegt, dass sie durch eine blaue Kugel angestoßen wird. Die blaue Kugel ist etwas Mittleres, weil die blaue Kugel selbst bewegt worden ist, z. B. von der weißen Kugel, und dadurch, dass sie bewegt worden ist, die rote Kugel überhaupt erst bewegen konnte. Die weiße Kugel ist wiederum etwas Mittleres, weil sie durch das Queue bewegt worden ist. Das Queue ist wiederum etwas Mittleres, weil es durch eine Hand oder einen Arm bewegt worden ist usw. Der entscheidende Punkt ist, dass eine Kette von verursachten Bewegungen (d. h. von ,mittleren‘ Bewegungen) nicht in der Lage ist, die Bewegung tatsächlich zu erklären. Wir haben beispielsweise die Bewegung der roten Kugel nicht verstanden, wenn wir lediglich sagen, sie sei von einer blauen Kugel angestoßen worden. Wir haben die Bewegung auch nicht verstanden, wenn wir von einem Arm berichten, der eine bestimmte Bewegung ausgeführt hat, vermittels derer dann als letztes Glied einer Bewegungskette die rote Kugel bewegt worden ist. Die letzte Ursache der Bewegung darf selbst nicht mehr bewegt sein, sondern muss ein unbewegter Ausgangspunkt der Bewegung (und d.h. kein Mittleres) sein. Das Argument, das Aristoteles vorträgt, um die Unbewegtheit des ersten Prinzips zu zeigen, ist also kein Argument, das darauf beruht, dass das erste Prinzip keine Materie haben kann, sondern ein Argument, das einen infiniten Regress von bewegten Bewegern ausschließt. Ein Grund dafür, dass Aristoteles ein neues Argument einführt, dürfte vielleicht der Kontext sein, in dem das Argument steht. Es geht Aristoteles im siebten Kapitel darum, ausgehend von der Welt, wie sie faktisch ist, eine Argumentation für ein unbewegt Bewegendes zu entwickeln. Mit der Annahme, dass das erste Prinzip ein unbewegt Bewegendes für den ersten Himmel ist, ist ein Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen im siebten Kapitel gegeben. Dieser Ausgangspunkt wird am Ende von (7.2.2) mit den Ergebnissen der Untersuchung des sechsten Kapitels verbunden, wenn Aristoteles uns daran erinnert, dass das Prinzip „ewig, eine ousia und wirkliche Tätigkeit“ sein muss.
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(7.3) Die wenigen Zeilen in (7.3) sind ebenso entscheidend für eine Gesamtinterpretation von Lambda wie auch in den Details umstritten. Weil es bei der Interpretation um zentrale Fragen der Metaphysik und des Verständnisses der Bewegung der Sphäre des Fixsternhimmels geht, seien einige grundsätzliche Überlegungen den Ausführungen über die Unterabschnitte (7.3.1)–(7.3.4) vorangestellt. Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung, dass es eine ousia geben muss, die unbewegt ist, aber dennoch Ursache für die ewige Bewegung der Fixsterne sein soll, führt ganz natürlich zu der Frage, wie es denn überhaupt möglich sein soll, dass diese erste ousia, obwohl sie unbewegt ist, Bewegung verursachen kann. Welche Antwort Aristoteles auf diese Frage gibt, ist unter den Interpreten strittig. Es lassen sich zwei Interpretationen voneinander unterscheiden, eine Standardinterpretation und eine, wie wir es nennen wollen, revisionäre Interpretation, die die Standardinterpretation in Zweifel zieht. Die Standardinterpretation, die auch in diesem Kommentar vertreten wird, versteht den Abschnitt (7.3) so, dass Aristoteles meint, der Fixsternhimmel werde dadurch in Bewegung gesetzt, dass er das unbewegt Bewegende anstrebe. Dass es überhaupt prinzipiell möglich ist, von etwas Unbewegtem dadurch bewegt zu werden, dass man das Unbewegte anstrebt, ist leicht nachzuvollziehen: Ich kann beispielsweise nach der Gerechtigkeit streben, d. h. ich kann danach streben, ein gerechter Mensch zu sein. Das Streben nach der Gerechtigkeit bewegt mich, erklärt viele meiner Handlungen, Gedanken und Emotionen, ohne dass sich dadurch der angestrebte Wert, die Gerechtigkeit selbst, ändern würde. Oder denken wir an einen jungen Mann, der zwar unsterblich verliebt, aber auch viel zu schüchtern ist, um seiner Angebeteten einzugestehen, daß er verliebt ist. Sein Streben, d. h. sein Verliebtsein, wird ihn in Bewegung setzen, ohne dass sich das Objekt seiner Liebe irgendwie verändern muss; die Frau muss nicht einmal wissen, dass sie geliebt wird. Die Standardinterpretation behauptet nun, dass die Art und Weise, wie der Fixsternhimmel von der ersten ousia in Bewegung gesetzt wird, ein analoger Fall zu diesen Fällen ist, in denen etwas Unbewegtes Bewegungsursache ist. Gegen diese Interpretation wird eingewandt, dass Aristoteles lediglich einen Vergleich bringen wollte und die Rede davon, dass etwas wie ein Geliebtes angestrebt wird [vgl. (7.3.4)], nichts weiter als eine Metapher sei.133 Aristoteles möchte nicht sagen, dass das unbewegt Bewegende faktisch auf diese Art und Weise bewegt, sondern nur, dass es auf dieselbe Art bewegt, in der die Objekte der Vernunft und des Begehrens bewegen, nämlich ohne bewegt zu werden. Das unbewegt Bewegende bewege nicht dadurch, dass es angestrebt werde, sondern sei Bewegungsursache im Sinne der Weitergabe eines Bewegungsimpulses. Die Besonderheit des unbewegt Bewegenden bestehe jedoch darin, dass es sich, um diesen Bewe-
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gungsimpuls an die Sphäre des Fixsternhimmels abzugeben, nicht selbst bewegen müsse. Der Abschnitt (7.3) habe die Funktion, darauf hinzuweisen, dass es tatsächlich Fälle gebe, in denen etwas Unbewegtes etwas anderes bewegen könne, behaupte aber nicht, dass der Fixsternhimmel tatsächlich so bewegt werde. Die Stärke der revisionären Interpretation besteht in zwei Punkten. Erstens weist sie zu Recht darauf hin, dass Aristoteles in (7.3) Vergleiche und Metaphern gebraucht. So spricht er in (7.3.4) davon, dass das Unbewegte so wie (gr. hōs) etwas Geliebtes (oder wörtlicher: wie etwas erotisch Angestrebtes) bewegt. Das bedeutet sicherlich nicht, dass die Sphäre des Fixsternhimmels das unbewegt Bewegende im wörtlichen Sinn liebt (bzw. erotisch begehrt). Zweitens stellt sich für die revisionäre Interpretation folgendes Problem nicht, das sich für die Standardinterpretation stellt: Es ist unklar, wie denn die Sphäre der Fixsterne überhaupt etwas erstreben können soll. Man möchte meinen, dass etwas nur dann erstreben kann, wenn das, was strebt, eine Seele hat oder wenn es eine Vernunft (nous) ist. Von einer Seele des Fixsternhimmels oder von der Vernunft des Fixsternhimmels ist aber nicht nur in Lambda, sondern auch in den übrigen Werken von Aristoteles keine Rede. Zwar kennt Platon eine Weltseele und meint, dass die Gestirne, weil sie bewegt sind, beseelt sein müssen. Aristoteles führt aber in De caelo aus, dass Gestirne keine Seelen haben.134 Darüber hinaus ist es eher unwahrscheinlich, dass er vertreten wollte, die Sphäre der Fixsterne hätte zwar eine Vernunft, aber keine Seele. Aber selbst wenn man dieses unterstellt, entsteht ein Problem: Wie aus dem siebten Kapitel ebenfalls noch deutlich werden wird, ist das unbewegt Bewegende selbst eine Vernunft. Ein Interpret wäre gezwungen anzunehmen, dass eine Vernunft (nämlich die der Sphäre der Fixsterne) eine Vernunft (nämlich die erste ousia) anstrebt. Wie aber soll das zu verstehen sein? Auch wenn diese beiden Argumente zunächst gute Argumente gegen die Standardinterpretation zu sein scheinen, so lassen sich doch beide Argumente weitgehend entkräften. Gegen das erste Argument ist einzuwenden, dass Aristoteles in (7.3) weit über einen Vergleich hinausgeht. Wenn Aristoteles lediglich einen Vergleich hätte bringen wollen, hätte ein einfacher Hinweis auf die Möglichkeit, dass ein nicht bewegtes Ziel etwas anderes in Bewegung setzen kann, vollkommen ausgereicht. Tatsächlich aber zeigt Aristoteles in (7.3) wesentlich mehr. Aristoteles beantwortet in (7.3) nämlich nicht lediglich die Frage, wie die erste unbewegte ousia den ersten Himmel bewegen kann. Seine Antwort auf diese Frage führt vielmehr zu einer differenzierteren Bestimmung dessen, was die erste ousia selbst ist. Auch wenn die Details der Argumentation nicht immer hinreichend deutlich sind, so ist doch klar, dass Aristoteles beispielsweise dafür argumentie-
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ren möchte, dass die erste ousia als das letzte Objekt des Strebens mit dem letzten Objekt der Vernunft identisch sein muss. Die ausführlichen Überlegungen in (7.3) lassen sich nicht verstehen, wenn wir sie nicht auf die erste ousia beziehen und den ganzen Abschnitt lediglich als einen Vergleich lesen. Das zweite Argument ist schwerer zu entkräften, weil Aristoteles zu den aufgeworfenen Fragen keine eindeutige Position einnimmt. Auf die für die Kohärenz seiner Auffassung wichtige Frage, wie denn die Sphäre der Fixsterne etwas anstreben können soll, gibt er keine klare Antwort. Die Tatsache, dass Aristoteles keine Antwort gibt, ist aber nicht schon ein Argument für die revisionäre Interpretation. Denn es ist zu unterscheiden zwischen Fragen, die Aristoteles nicht beantwortet, weil sie sich ihm schlicht und einfach nicht stellen, und Fragen, die er zwar faktisch nicht beantwortet, aber eigentlich der Sache nach hätte beantworten müssen, weil Antworten auf diese Fragen der Sache nach notwendig für ein vollständiges und vor allem kohärentes Verständnis der in (7.3) diskutierten Problematik sind. Drei Indizien für eine Skizze einer möglichen Antwort seien aufgeführt. Ein erstes Indiz stammt aus der Metaphysik von Theophrast, dem Nachfolger von Aristoteles in der Leitung der von Aristoteles gegründeten Schule. Theophrast diskutiert, welche Art von Strebevermögen gemeint ist, wenn man sagt, dass die Sphäre des Fixsternhimmels etwas anstrebt.135 Daraus lässt sich plausibel machen, dass vielleicht schon Aristoteles selbst vertreten hat, die Sphäre der Fixsterne strebe nach dem unbewegt Bewegenden. Es gibt als zweites Indiz eine Stelle in Aristoteles’ Schrift De caelo, in der er (allerdings in Bezug auf die Planeten, die Sonne und den Mond) schreibt, man solle sich die Gestirne nicht als unbeseelte Körper vorstellen, sondern über sie so wie über Wesen denken, die an Handlungen und Leben teilhaben.136 Man wird diese Stelle aber nicht unmittelbar als einen Beweis dafür nehmen können, dass Aristoteles vertreten habe, die Sphäre der Fixsterne hätte eine Seele. Der Text macht hinreichend deutlich, dass Aristoteles lediglich einen Vergleich bringt und lediglich sagt, die Fixsterne seien so wie Wesen, die handeln und leben. Dass Dinge, die streben, nun aber nicht notwendig eine Seele haben oder vernunftbegabt sein müssen, legt eine Passage aus De Generatione et Corruptione nahe (unser drittes Indiz). In dieser Passage spricht Aristoteles davon, dass die Natur in allen Dingen immer das anstrebt, was für sie besser ist. So strebt die Natur in den vier Elementen danach, die vollkommene Kreisbewegung des Himmels nachzuahmen; ihr gelingt diese Nachahmung dadurch, dass die vier Elemente beständig ineinander übergehen.137 An dieser Passage ist interessant, dass Aristoteles offensichtlich
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hinsichtlich der vier Elemente bereit gewesen ist, davon zu sprechen, dass die Natur in diesen Elementen etwas anstrebt und sich dieses Streben in der Nachahmung der Kreisbewegung des ersten Himmels durch die Elemente zeigt. Nun schreibt Aristoteles an keiner Stelle, dass die Elemente selbst eine Seele oder eine Vernunft haben, und es wäre auch ganz unplausibel, eine solche Annahme zu machen. Vielleicht kann man analog also davon sprechen, dass auch die Sphäre der Fixsterne etwas anstreben kann, ohne dass sie aber eine Seele haben muss. Damit kommen wir zu einem weiteren Problem in (7.3): Warum bewirkt das Streben, dass sich die Sphäre des Fixsternhimmels ewig im Kreis dreht? Aristoteles gibt in seinen Schriften keine klare Antwort auf diese Frage, aber auch hier hilft die bereits erwähnte Passage aus De Generatione et Corruptione weiter. So, wie die Elemente durch den Übergang ineinander die Kreisbewegung des Himmels nachahmen, so ahmt die Kreisbewegung des Himmels das kontinuierliche wirkliche Tätigsein (energeia) der ersten ousia nach. Da die Himmelskörper auf der Sphäre aber Materie haben (wenn auch nur eine Materie zur Ortsbewegung), ist der Sphäre in dieser Nachahmung eine natürliche Grenze gesetzt. Sie kann nicht ganz genauso werden wie die erste ousia. Aber sie kann etwas anderes. Sie kann auf ihre Weise nachahmen, in Aktualität bzw. wirklicher Tätigkeit zu sein. Nur besteht die Aktualität der Sphäre der Fixsterne in etwas anderem als in der Aktualität der ersten ousia. Die Art und Weise der Sphäre der Fixsterne, soweit es ihr möglich ist, fortwährend in wirklicher Tätigkeit zu sein und so das fortwährende in-energeia-Sein der ersten ousia nachzuahmen, besteht darin, dass sie sich ewig im Kreis dreht. Die ewige Kreisbewegung der Fixsternsphäre ist also zu verstehen als die größtmögliche Nachahmung der ersten ousia. Insofern bewirkt das Streben zur ersten ousia die Kreisbewegung des Fixsternhimmels. Dass sich der Fixsternhimmel ausgerechnet im Kreis dreht, hängt mit einer weiteren Eigenschaft der ersten ousia zusammen. Die erste ousia ist, wie wir noch sehen werden, die Tätigkeit des Denkens selbst, d. h. Vernunft in ewiger Aktualität. Die Kreisbewegung ist nun diejenige Bewegung, die der klarste Ausdruck der Vernunft selbst ist. Die Vernunft selbst kann man ja nicht sehen, aber dass Dinge vernünftig sind, zeigt sich u. a. daran, dass sie mathematisch beschreibbaren Regeln folgen. Je einfacher diese Regeln sind, desto vernünftiger ist dasjenige, das den Regeln folgt. Weil die Kreisbewegung eine einfache Bewegung ist und einer einfachen Regel folgt, ist sie der reinste Ausdruck der Vernunft selbst. Die systematische Bedeutung dieses Modells erlaubt es Aristoteles, auf der einen Seite Bewegung tatsächlich bis zu einem letzten, ersten Prinzip der Bewegung zurückzuführen, nämlich auf den Fixsternhimmel. Andererseits aber ist mit dem Fixsternhimmel nicht einfach ein willkürlicher End-
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punkt einer kausalen Kette erreicht. Die Bewegung des Fixsternhimmels selbst ist noch einmal verursacht, allerdings ist die Art der Verursachung keine Verursachung im herkömmlichen, kausalen Sinn, denn es wird kein Bewegungsimpuls weitergegeben. Die erste ousia bewegt dadurch, dass sie Zielursache ist. Eine nahe liegende Vermutung ist, dass Aristoteles in den Kapiteln 2–5 die Zielursache deswegen nicht erwähnt hat, weil er sie im siebten Kapitel im Kontext des Beweises für ein unbewegt Bewegendes an hervorgehobener Stelle einführen wollte. (7.3.1) Die Frage, wie etwas, das unbewegt ist, etwas anderes bewegen kann, wird von Aristoteles beantwortet: Ein Objekt des Strebens und ein Objekt der Vernunft bewegen, ohne selbst bewegt zu sein. So kann mich beispielsweise die Lust auf eine Tafel Schokolade dazu bewegen, zum Einkaufen zu fahren. Das Nachdenken über die erste ousia bewegt meine Vernunft, obwohl sich die erste ousia dadurch nicht ändert, dass ich über sie nachdenke. Wenn Aristoteles hier von einem Objekt des Strebens und einem Objekt der Vernunft spricht, dann ist deutlich, dass er von etwas spricht, das als ein Ziel angestrebt und gedacht wird. Ein unbewegt Bewegendes ist dadurch Bewegungsursache, dass es angestrebt wird, d. h. in klassischer Aristotelischer Terminologie, dass es Zielursache ist. Dass etwas, das unbewegt ist, etwas anderes bewegen kann, gilt für viele Fälle und ist nicht nur für die erste ousia charakteristisch. Da wir es aber in unseren Überlegungen nicht mit irgendeinem beliebigen Objekt, sondern mit der ersten ousia zu tun haben, stellt Aristoteles im folgenden weitere Überlegungen an, die ausgehend von der Tatsache, dass die erste ousia ein unbewegt Bewegendes ist, zu einer weiteren Charakterisierung der ersten ousia führen. Da sie die erste ousia ist, muss sie nicht nur das letzte Objekt des Strebens und das letzte Objekt der Vernunft sein, sondern das Objekt des Strebens muss mit dem Objekt der Vernunft identisch sein. Deswegen schreibt Aristoteles im zweiten Satz des Abschnitts, dass die jeweils ersten Objekte des Strebens und der Vernunft miteinander identisch sind. Die Begründung dieser Identität zieht sich bis zum Ende von (7.3.3) hin. Die Begründung beginnt mit einer Unterscheidung innerhalb des Strebens. Es gibt verschiedene Formen des Strebens, eine Form ist das Begehren, eine andere das Wollen. Die Unterscheidung ist aus anderen Werken von Aristoteles geläufig: Das Wollen ist vollkommen vernunftgeleitet, das Begehren nicht. Folglich ist das Objekt des Begehrens das, was nur gut erscheint (d. h. etwas, das jemand für gut hält). Das Objekt des Wollens ist demgegenüber das, was tatsächlich gut ist. Festzustellen, ob etwas tatsächlich gut ist oder nicht, ist aber eine Aufgabe der Vernunft. Beim Wollen spielen also zwei Faktoren eine Rolle: Erstens die Vernunft, die feststellt, dass etwas tatsächlich gut ist, und zweitens das Streben in der Form des
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Wollens, das sich auf das, was tatsächlich gut ist, richtet. Das Streben folgt also der Vernunft – insofern kann Aristoteles sagen, dass das Prinzip des Strebens die Vernunfttätigkeit ist. Der nicht ausdrücklich ausgeführte Sinn der Unterscheidung zwischen Wollen und Begehren liegt offenbar darin zu zeigen, dass nicht jedes Objekt des Strebens identisch mit dem Objekt der Vernunft ist, sondern, wenn überhaupt, nur das Objekt des vernunftgeleiteten Wollens mit einem Objekt der Vernunft identifiziert werden kann. (7.3.2) In (7.3.1) ist gezeigt worden, dass das Streben auf einem Vernunfturteil beruht. Zu beachten ist freilich, dass sich die Vernunft nicht autonom aus sich selbst heraus ihre eigenen Objekte schafft, sondern der Vernunft bestimmte Objekte vorgegeben sind. Die Tatsache, dass sich die Vernunft nicht ihre eigenen Objekte schafft, sondern selbst ein Strebevermögen ist, das nach den für sie spezifischen Objekten strebt, ist uns heute sicherlich zunächst eher fremd, ist aber für die antike Philosophie alles andere als eine Besonderheit.138 So lässt sich beispielsweise Platons Konzeption der Idee des Guten in der Politeia gar nicht verstehen, wenn wir meinen, die Vernunft sei autonom. Platon geht davon aus, dass der menschlichen Vernunft ein Objekt vorgegeben ist, nämlich die Idee des Guten. Nur dann, wenn die Vernunft tatsächlich dieses Objekt anstrebt, d. h. das anstrebt, was sie ihrer eigenen Natur nach anstreben soll, ist es dem Menschen möglich, ein seiner wahren Natur nach gutes und gelungenes Leben zu führen. Von der Voraussetzung, dass das Denken ein Strebevermögen ist, das eigene Objekte hat, geht auch Aristoteles in unserem Abschnitt aus. Aristoteles nimmt Bezug auf „eine der beiden Reihen der Zusammenstellung (systoichia)“. Eine systoichia ist eine Liste von Gegensatzpaaren. Auf der einen Seite dieser Liste stehen jeweils positive Ausdrücke (und diese Reihe ist hier gemeint), auf der anderen Seite steht die jeweilige Verneinungen davon, wie beispielsweise ,Seiendes‘ – ,Nichtseiendes‘; ,Einheit‘ – ,Vielheit‘ usw139. Dass in einer systoichia nicht einfach nur Gegensätze aufgelistet werden, sondern diese Gegensätze selbst hierarchisch geordnet sind, macht Aristoteles deutlich, wenn er davon spricht, dass in der systoichia die ousia die erste Stelle einnimmt. Wir können also an eine recht ausführliche Liste denken, die vielleicht auch Gegensätze wie ,gesund‘ – ,krank‘ oder ,gerade‘ – ,ungerade‘ umfasst. Solche Gegensätze können freilich nicht an den obersten Stellen der Liste stehen, weil durch diese Wörter keine ousiai bezeichnet werden, sondern lediglich Eigenschaften, die eine ousia haben oder auch nicht haben kann. Nun wäre es ein Missverständnis, wenn man meinen würde, dass der oberste Gegensatz auf der Liste das Gegensatzpaar ,ousia‘ – ,nicht-ousia‘ sei. Aristoteles meint vielmehr, dass die ousia selbst noch einmal hierarchisch geordnet ist, denn unter den verschiedenen ousiai nimmt diejenige
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ousia, die einfach ist und die sich in wirklicher Tätigkeit befindet, ihrerseits die erste Stelle ein. Aus dem, was wir aus dem sechsten Kapitel wissen, ist hinreichend deutlich, dass damit die erste ousia gemeint sein muss. Die Reihenfolge, in der die Ausdrücke in einer systoichia aufgelistet werden, sagt etwas über die ontologische Priorität aus, in der die Dinge, die durch die Ausdrücke bezeichnet werden, zueinander stehen. Ganz oben auf der Liste stehen Ausdrücke, die ousiai bezeichnen. Innerhalb der ousiai stehen die einfachen ousiai, und wir können dabei an die Prinzipien der sinnlich wahrnehmbaren ousiai denken, wiederum an erster Stelle. Die Ordnung der Ausdrücke innerhalb einer systoichia spiegelt also die Ordnung der Dinge in der Wirklichkeit wieder. Wenn Aristoteles nun fortfährt zu sagen, dass sich auch das Gute und das um seiner selbst willen Erstrebbare in dieser Liste finden, dann stellt er eine Verbindung zwischen den Objekten der Vernunft und den Objekten des Strebens her, von denen im vorhergehenden Abschnitt (7.3.1) die Rede gewesen ist. Dass Aristoteles einen Zusammenhang zwischen den Objekten der Vernunft und den Objekten des Strebens herstellen möchte, ist leicht verständlich: Noch hat er ja kein Argument für seine These vorgetragen, dass die ersten Objekte des Strebens und die ersten Objekte der Vernunft dieselben sind. Sein Argument ist nun, dass das Schöne und das um seiner selbst willen Erstrebbare identisch mit dem ersten Objekt der Vernunft sein muss, oder analog zu ihm ist. Was das erste Objekt der Vernunft ist, ist nicht schwer zu verstehen: Es muss das erste Prinzip der gesamten Wirklichkeit sein, die erste ousia, von der wir bisher wissen, dass sie unbewegt, ewig und wirkliche Tätigkeit ist. Dieses erste Prinzip muss nun entweder das Beste oder dem Besten analog sein. Es ist leider nicht ganz deutlich, wie Aristoteles am Ende des Beweises für die Identität des ersten Objekts der Vernunft mit dem ersten Objekt des Strebens diese Identität genau versteht. Er selbst erwähnt zwei Möglichkeiten, ohne sich zwischen ihnen zu entscheiden. Entweder sei das erste Prinzip das Beste, oder es sei dem Besten analog. Laks vertritt die Auffassung, dass beide Fälle problematisch seien, weil beide Fälle keine strikte numerische Identität zum Ausdruck brächten. Der erste Fall drücke keinen Identitätssatz, sondern einen prädikativen Satz aus; dieser prädikative Satz lautet dann „das erste Prinzip ist das Beste“; der zweite Fall spricht lediglich von Analogie, die von Aristoteles, wie wir im vierten und fünften Kapitel schon gesehen haben, als eine Form der Identität verstanden wird, die sich aber von der numerischen Identität unterscheidet. Man wird aber Laks gegenüber darauf hinweisen können, dass der erste Fall zwar sprachlich tatsächlich durch einen prädikativen Satz und nicht durch einen Identitätssatz zum Ausdruck gebracht wird, der Sache nach aber doch eine numerische Identität intendiert ist, weil es überhaupt nur ein
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Objekt geben kann, das das Beste ist. Der Superlativ ,das Beste‘ (ariston) lässt sich nicht von mehreren Objekten, sondern nur von einem einzigen Objekt aussagen. Weil nur das erste Objekt der Vernunft, die gesuchte ousia, das beste Objekt sein kann, fällt das erste Objekt der Vernunft mit dem ersten Objekt des Strebens zusammen. Wer für diese Lösung optiert, steht allerdings vor der Schwierigkeit erklären zu müssen, warum Aristoteles dann überhaupt noch den zweiten Fall, in dem das erste Prinzip der Vernunft nur analog das Beste ist, erwähnt.140 (7.3.3) Um seinen Beweis abzuschließen, geht Aristoteles noch auf einen Einwand ein. Jemand könnte einwenden, ein angestrebtes Ziel sei nie etwas Unbewegtes. Aristoteles verweist auf „die Unterscheidung“, und damit dürfte vielleicht der Titel eines Handbuches gemeint sein, das seine Schüler gekannt haben und in dem offenbar zwischen Zielen, die beweglich sind, und Zielen, die unbeweglich sind, unterschieden worden ist.141 Die Unterscheidung besteht darin, dass man das Ziel einer Handlung aus zweierlei Perspektiven beschreiben kann. Man kann zum einen beschreiben, wem die Handlung zugute kommen soll. Ein Arzt kann seine Tätigkeit beispielsweise dadurch beschreiben, dass er sie mit dem Ziel ausführt, konkreten Menschen zu helfen. Seine Tätigkeit ist dann für jemanden, d. h. für die Menschen da, sie soll den Menschen zugute kommen. Das Ziel des Arztes ist in diesem Fall natürlich nicht unbewegt, denn die Menschen verändern sich. Der Arzt kann seine Tätigkeit aber auch anders beschreiben und sagen, Ziel seines Handelns sei die Herstellung der Gesundheit. Dieses Ziel, die Gesundheit, ist aber tatsächlich unbewegt. Es macht keinen Sinn zu sagen, dass sich die Gesundheit selbst, insofern sie das Ziel der Handlung ist, verändert. Insofern gibt es ein Ziel, das unveränderlich ist und der Einwand, kein Ziel könne unveränderlich sein, ist widerlegt. (7.3.4) Aristoteles zieht nun die Folgerung aus seinen Überlegungen. Die erste unbewegte ousia bewegt den ersten Himmel „wie ein Geliebtes“. Für das Verständnis der Überlegungen zur Bewegung ist wichtig, dass Aristoteles nicht nur der Auffassung ist, die erste unbewegte ousia sei Bewegungsursache für den ersten Himmel, sondern darüber hinaus meint, durch das Bewegte (d. h. den ersten Himmel) bewege die erste ousia auch „die anderen Dinge“. Die Auffassung ist offenbar diejenige, dass in einer noch zu spezifizierenden Hinsicht die erste ousia nicht nur unmittelbare Bewegungsursache für den ersten Himmel, sondern auch letzte, wenn auch durch die Bewegung des ersten Himmels vermittelte, Bewegungsursache für alle anderen Dinge ist [vgl. genauer dazu (7.4.4)]. (7.4) In (7.4) zeigt Aristoteles, dass und in welchem Sinn das erste Prinzip notwendig seiend ist. Dafür wird in den ersten beiden Unterabschnitten die Wirklichkeit (energeia) im Sinne der wirklichen Tätigkeit des
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ersten Prinzips mit der wirklichen Tätigkeit der Sphäre der Fixsterne verglichen und gezeigt, dass es eine Hinsicht gibt, die Ortsveränderung nämlich, unter der sich die Sphäre der Fixsterne anders verhalten kann. Diese Hinsicht ist bei dem unbewegt Bewegenden nicht gegeben. Es ist, wie der dritte Unterabschnitt deutlich macht, notwendig in dem Sinn, dass es sich unmöglich auf eine andere Art und Weise verhalten kann. (7.4.1) Wie der griechische Text des ersten Satzes genau zu rekonstruieren ist, ist umstritten.142 Der Gedankengang selbst ist aber relativ klar. Aristoteles diskutiert, ob es eine Hinsicht gibt, in der sich die Sphäre des Fixsternhimmels und das unbewegt Bewegende anders verhalten können. Diese Diskussion ist wohl deswegen notwendig, weil man fälschlicherweise annehmen könnte, dass sich sowohl die Sphäre der Fixsterne als auch das unbewegt Bewegende unmöglich anders verhalten können. Um aber zu zeigen, dass lediglich das unbewegt Bewegende sich in einem umfassenden Sinn unmöglich anders verhalten kann, argumentiert Aristoteles, dass sich alles, was in Bewegung ist, insofern es in Bewegung ist, auch anders verhalten kann. Die Fixsterne können sich zwar, insofern sie Fixsterne sind, ihrer ousia nach nicht anders verhalten; weil sie aber zu den Dingen gehören, die der Bewegung unterliegen, können sie sich anders verhalten. (7.4.2) Begründet wird die These, dass sich das erste Bewegende nicht anders verhalten kann, mit der Priorität der Ortsbewegung vor Veränderungen in allen anderen Kategorien.143 Jede Form von Veränderung [vgl. dazu (2.3)] impliziert die Ortsveränderung, aber nicht umgekehrt. Insofern ist die Ortsveränderung die ontologisch erste unter allen Veränderungen. Unter den Ortsveränderungen ist die Kreisbewegung die ontologisch erste,144 denn ohne die ewige Kreisbewegung könnte es gar keine anderen Formen von Veränderung geben. Wenn das unbewegt Bewegende nun für die Ortsbewegung des ersten Himmels verantwortlich ist und selbst nicht der Ortsbewegung unterworfen ist, dann – so sind die Ausführungen von Aristoteles offenbar zu ergänzen – kann es keine Hinsicht geben, unter der das unbewegt Bewegende der Veränderung unterworfen ist. (7.4.3) Das erste Bewegende ist also anders als der Fixsternhimmel notwendig, weil es nicht möglich ist, dass es sich anders verhält. In (7.4.3) wird diese Art der Notwendigkeit von zwei anderen Arten abgegrenzt. Die erste Art der Notwendigkeit, das gegen den eigenen Trieb mit Gewalt Erzwungene, meint etwas, das uns in dem, was wir wollen, objektiv entgegensteht. Die zweite Art, eine Notwendigkeit, ohne die das Gute nicht sein kann, bezieht sich auf Dinge, die man notwendigerweise tun muss, damit man etwas Gutes erhält; so ist die bittere Medizin zu nehmen beispielsweise notwendig, damit man wieder gesund wird.145 Die dritte Art der Notwendigkeit ist dann gegeben, wenn sich das, was notwendig ist, in kei-
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ner Hinsicht anders verhalten kann, sondern so sein muss, wie es tatsächlich ist. Es ist diese dritte Bedeutung, in der die Notwendigkeit in (7.4.1) vom unbewegt Bewegenden ausgesagt worden ist. (7.4.4) Mit diesem Satz kommt die Argumentation und Untersuchung der Eigenschaften der gesuchten ousia zu einem Abschluss. Wir haben gefunden, was wir gesucht haben: Das Prinzip, von dem der Himmel und die Natur, d. h. alles, was es überhaupt gibt, abhängt. Alles hängt von diesem Prinzip ab, weil es die letzte Ursache jeder Form von Bewegung ist, und es ohne Bewegung keine sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit geben kann. Es mag überraschen, dass Aristoteles in (7.4.4) nicht nur von dem Himmel, sondern auch von der Natur, d. h. wohl von den Dingen in der sublunaren Welt spricht. Bereits in (7.3.4) haben wir gefragt, was Aristoteles eigentlich unter den ,anderen Dingen‘ verstanden wissen will, von denen es heißt, dass „durch das Bewegte [i.e. der Fixsternhimmel] die anderen Dinge“ bewegt werden. Schon in (4.6) ist davon die Rede gewesen, dass durch das erste Bewegende alles bewegt wird. Im zehnten Kapitel wird noch deutlicher werden, dass Aristoteles der Auffassung ist, dass nicht nur die Himmelssphären und Himmelskörper, sondern die gesamte natürliche Welt an einem unbewegt Bewegenden als ihrem ersten Prinzip hängt.146 Nun ist bereits in (4.6) und (5.3) davon die Rede gewesen, dass es über die ,innerweltlichen‘ Bewegungsursachen (z. B. Kind, Vater, Großvater usw.) noch eine weitere Bewegungsursache gibt, die Sonne bzw. die Ekliptik, und auf Grund der Ausführungen im siebten Kapitel können wir ergänzend von der Sphäre des Fixsternhimmels und dem unbewegt Bewegenden sprechen. In welcher Weise ist aber das unbewegt Bewegende nun tatsächlich eine relevante Bewegungsursache? Mit dieser Frage stehen wir wieder vor einem ähnlichen Problem, wie es uns bereits in (7.3) begegnet ist. Aristoteles sagt in Lambda nichts dazu, und in gewisser Weise müssen unsere Antworten Vermutungen bleiben. Allerdings sind wir bereits auf einige Stellen in den Werken von Aristoteles aufmerksam geworden, in denen er davon spricht, dass Dinge in der Natur die Kreisbewegung der Sphäre der Fixsterne und d. h. auch das unbewegt Bewegende imitieren.147 Was aber ahmen die Dinge nach, wenn sie das unbewegt Bewegende nachahmen? Wir haben im Zusammenhang mit den Ausführungen in (7.3) gesehen, dass für Aristoteles der kontinuierliche Übergang der Elemente ineinander die Ewigkeit der Kreisbewegung des Fixsternhimmels nachahmt. In eine ähnliche Richtung weisen andere Passagen aus seinen Werken. Im achten Kapitel des neunten Buches der Metaphysik spricht Aristoteles beispielsweise davon, dass es die energeia, d. h. die wirkliche Tätigkeit des ersten Bewegers ist, die durch die Bewegung der Elemente nachgeahmt wird.148 In einer Passage in De anima wird die Fortpflanzung der Tiere und Pflanzen wie folgt erklärt: Es gibt in allen
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Lebewesen ein Streben nach dem Ewigen und Göttlichen. Alles, was lebt, tut das, was es seiner Natur nach tut, um des Göttlichen willen. Bei den Lebewesen zeigt sich dieses Streben nach dem Ewigen u.a. in dem Streben nach Fortpflanzung. Durch die Fortpflanzung wird nämlich die Ewigkeit der jeweiligen Art garantiert, und durch die Ewigkeit der Art haben die Lebewesen so, wie es ihnen in ihren durch die Natur gegebenen Grenzen möglich ist, an der Ewigkeit des Göttlichen selbst teil.149 Die Auffassung, die sich aus diesen Textstellen ergibt,150 ist folgende. Der erste Beweger ist in ewiger wirklicher Tätigkeit, aus der jede Möglichkeit ausgeschlossen ist. Er ist seinem Wesen nach Aktualität. Alles, was ist, strebt danach, selbst die seiner eigenen Natur gemäße Aktualität zu erreichen. Das Streben zur eigenen Aktualisierung, durch die die Wirklichkeit des ersten Bewegers nachgeahmt wird, ist eine Bewegungsursache dafür, dass beispielsweise ein Lebewesen sich überhaupt vermehren will. Es erhält durch die Vermehrung seine Art, die dann ewig ist, und in dieser Ewigkeit der Art die Ewigkeit des unbewegt Bewegenden nachahmt. (7.5) Im fünften Abschnitt des siebten Kapitels wird die wirkliche Tätigkeit der ersten ousia als Vernunfttätigkeit bestimmt. Die erste ousia ist also ein Intellekt. Weil die Vernunfttätigkeit die beste und lustvollste Tätigkeit ist, und Gott derjenige ist, der das beste und lustvollste Leben führt, wird die erste ousia ferner mit Gott identifiziert. Der Abschnitt (7.5) ist u. a. deswegen nicht einfach zu verstehen, weil die Vernunfttätigkeit der ersten ousia durch die Vernunfttätigkeit des Menschen erklärt wird. Aristoteles kann so vorgehen, weil es keinen kategorialen Unterschied zwischen der Vernunfttätigkeit des Menschen und der Vernunfttätigkeit der ersten ousia gibt. Sowohl für den Menschen als auch für die erste ousia ist die Vernunfttätigkeit ferner die beste und lustvollste Tätigkeit überhaupt. Es gibt freilich einen Unterschied zwischen der Vernunft des Menschen und der Vernunfttätigkeit der ersten ousia. Die Vernunft des Menschen ist nämlich ein Vermögen, das nicht immer tätig ist. Die Vernunft der ersten ousia ist demgegenüber kein Vermögen, sondern stets die wirkliche Tätigkeit, d. h. die Aktualität der Vernunft. Die Tätigkeit des ersten Prinzips ist kontinuierlich und ewig, aber Menschen können nicht beständig ihre Vernunft aktualisieren, sie müssen schlafen, sie werden, wenn sie viel denken, unkonzentriert, müssen eine Pause einlegen, werden angestrengt und müde. Wenn die Vernunft des Menschen aber aktualisiert ist, gibt es keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen der aktualisierten Vernunft des Menschen und der Vernunft der ersten Prinzipien.151 (7.5.1) Der erste Satz beginnt mit einer Überraschung. Das Prinzip, das wir im sechsten Kapitel und dem ersten Teil des siebten Kapitels untersucht haben, lebt auf eine bestimmte Art und Weise. Das griechische Wort
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,diagōgē‘, das mit ,die Art zu leben‘ übersetzt worden ist, bezeichnet eigentlich die Art und Weise, wie ein gereifter griechischer Mann sein Leben verbringt, ein Mann, der seine Muße auf rechte Weise zu gebrauchen weiß.152 Der Mann hat es nicht mehr nötig, sich um irgendwelche Geschäfte des Alltags zu kümmern, sondern kann sich ganz der theoretischen Untersuchung, der theōria, hingeben [vgl. (1.1)].153 Die Überraschung, die mit der Annahme verbunden ist, dass das erste Prinzip auf eine bestimmte Art und Weise beschäftigt ist, ist vielleicht weniger groß, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das erste Prinzip seinem Wesen nach dadurch gekennzeichnet ist, dass es wirkliche Tätigkeit ist. Das erste Prinzip ist also aktiv tätig. Aristoteles schreibt, dass „seine wirkliche Tätigkeit auch Lust“ sei. Es ist nicht ganz deutlich, wie dieser Satz zu verstehen ist, weil er syntaktisch unklar ist. Wir würden erwarten, dass Aristoteles geschrieben hätte, seine Tätigkeit sei lustvoll. Vielleicht ist die Bemerkung, die wirkliche Tätigkeit sei auch Lust, wie folgt zu verstehen: Wir wissen vielleicht, was alles lustvoll ist, aber wir wissen noch nicht, was Lust eigentlich ist. Was Lust ist, wird paradigmatisch an der wirklichen Tätigkeit des ersten Prinzips deutlich, denn in diesem Fall erscheint Lust in ihrer reinsten und vollsten Form. Aristoteles ist der Überzeugung, dass für einen Menschen eine Tätigkeit umso lustvoller ist, je mehr ein Mensch in wirklicher Tätigkeit, d. h. in Aktualität, lebt. Lust ist stets etwas, das die wirkliche Tätigkeit begleitet. Je ungestörter und ungehinderter es möglich ist, in wirklicher Tätigkeit zu sein, desto größer ist die Lust. Wenn wir tätig sein wollen und es uns gelingt, ganz bei dem sein zu können, was wir gerade tun und tun wollen, und nicht dadurch abgelenkt werden, dass uns beständig ganz andere Dinge durch den Kopf gehen oder wir von Telefonaten gestört werden usw., dann ist die Lust das, was unsere Tätigkeit begleitet. Wir können Aristoteles zufolge also Lust nie unmittelbar anstreben. Wir können anstreben, etwas ungehindert zu tun, und wenn uns das gelingt, dann stellt sich Lust ein und begleitet unsere Aktivität. Dabei ist die Lust eines Menschen umso größer, je mehr sich in der Tätigkeit das verwirklicht, was der Mensch seinem Wesen nach ist. Weil die Vernunft dasjenige ist, was das Wesen des Menschen vor allem konstituiert, besteht in der ungehinderten Vernunfttätigkeit die größte Lust. Die erste ousia ist dazu in der Lage, ein Leben der ungehinderten Vernunfttätigkeit zu führen. Deswegen wird am Leben der ersten ousia paradigmatisch deutlich, was Lust in der Vollform ist. Die Behauptung, dass die wirkliche Tätigkeit Lust ist, wird von Aristoteles durch den Hinweis auf drei Phänomene unserer Lebenswelt begründet. Weil die wirkliche Tätigkeit durch Lust begleitet wird, sind für uns Menschen Wachen, Wahrnehmen und Vernunfttätigkeit, d. h. die aktive
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Ausübung der Vernunft, lustvoll154. Dass dabei die Vernunfttätigkeit die lustvollste Tätigkeit ist, macht der nächste Abschnitt deutlich. (7.5.2) Der Abschnitt (7.5.2) nimmt das Stichwort der Vernunfttätigkeit aus dem letzten Satz in (7.5.1) wieder auf. Die Vernunfttätigkeit ist das lustvollste, was für uns Menschen möglich ist. Wie der erste Satz von (7.5.3) deutlich macht, versteht Aristoteles die Ausführungen in (7.5.2) dabei vor allem als Ausführungen über die Vernunft des Menschen. Das, was für die menschliche Vernunft gilt, gilt (mit der Ausnahme der Beständigkeit und der Dauer) auch für die Vernunfttätigkeit des ersten Prinzips. Die folgenden Sätze sind außerordentlich schwer zu verstehen. Die Schwierigkeit liegt weniger darin, dass sich Aristoteles so knapp ausdrückt, als darin, wie man sinnvoll nachvollziehen kann, was er sagt. Seine Behauptungen sind relativ klar: Die Vernunft denkt sich selbst im Ergreifen des Objekts der Vernunft. Diese These wird dadurch begründet, dass die Vernunft selbst zu einem Objekt der Vernunft wird, wenn sie das, was sie denkt, berührt und ergreift. Was die metaphorische Rede davon, dass die Vernunft ihr Objekt berührt und ergreift, genau bedeutet, ist nicht klar, aber wenn dieses geschieht, dann wird die Vernunft mit dem Objekt der Vernunft identisch. Diese Identität wird damit erläutert, dass die Vernunft als das aufnehmende Vermögen für die Objekte der Vernunft charakterisiert wird. Ein erster Schritt zum Verständnis dieser schwierigen Sätze besteht darin, sich bewusst zu machen, warum Aristoteles überhaupt meint, er müsse an dieser Stelle im siebten Kapitel die Identität der Vernunft mit dem Objekt der Vernunft erläutern. Aristoteles steht vor einem Problem, das im ersten Satz von (7.5.2) angedeutet wird. Die bisherigen Überlegungen zur ersten ousia haben ja deutlich gemacht, dass die erste ousia das erste und oberste Prinzip von allem ist. Alles, was es gibt, hängt von der ersten ousia ab. Es darf also kein Objekt geben, von dem die erste ousia ihrerseits abhängt, denn in diesem Fall würde alles, was es gibt, nicht mehr von der ersten ousia, sondern von dem Objekt abhängen, von dem die erste ousia abhängt. So weit, so gut. Nun argumentiert Aristoteles in (7.5) dafür, die erste ousia (und auch alle anderen unbewegten ousiai) als Vernunfttätigkeiten zu verstehen. Die erste ousia ist ewig in wirklicher Tätigkeit, und ihr Wesen besteht in der Aktualität des Denkens. Wenn jemand denkt, dann denkt er aber immer etwas. Denken hat also stets ein Objekt. Nun liegt die Auffassung sehr nahe, dass das Denken von dem Objekt des Denkens abhängig ist. Wir könnten beispielsweise der Überzeugung sein, dass die menschliche Vernunft ja doch ein Vermögen ist, d. h. etwas, das der Möglichkeit nach existiert; um aktualisiert zu werden, bräuchte die Vernunft dann ein Objekt
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der Vernunft; in einem solchen Fall wäre die Aktualität der Vernunft aber abhängig von einem Objekt der Vernunft und die Vernunft selbst könnte nicht mehr die höchste ousia sein. Andererseits möchte man allerdings auch nicht annehmen, dass die Objekte, die die erste ousia denkt, der ersten ousia untergeordnet sind. Im ersten Satz von (7.5.2) spricht Aristoteles davon, dass die Vernunfttätigkeit auf das Beste geht. Es ist also undenkbar, dass die Vernunft etwas denkt, was in der ontologischen Hierarchie unter ihr selbst stehen würde. Um diesem Dilemma zu entgehen, bietet sich die These an, dass die Vernunft mit dem Objekt der Vernunft identisch wird. Diese Überlegungen können allerdings nicht mehr als nur eine erste Annäherung an das Problem sein. Drei Fragen bleiben dadurch ungeklärt. Erstens ist deutlich, dass es in (7.5.2) nicht um die göttliche Vernunft, sondern um die menschliche Vernunft geht, wobei das, was Aristoteles über die menschliche Vernunft sagt, auch für die göttliche Vernunft gilt. Wenn wir die Vernunft des Menschen verstehen wollen, dann müssen wir verstehen, warum die Vernunft im Akt des Denkens mit ihren Objekten identisch wird. Zweitens argumentiert Aristoteles nicht nur für die These, dass die Vernunft mit ihrem Objekt identisch wird, sondern auch dafür, dass die Vernunft sich selbst denkt, wenn sie ihr Objekt denkt. Diese These haben wir noch nicht verstanden. Drittens machen die Überlegungen zwar deutlich, warum die These der Identität der Vernunft mit ihrem Objekt für Aristoteles systematisch nahe liegt; man möchte aber doch meinen, dass Aristoteles diese Überlegungen nicht nur deswegen anstellt, um eine konsistente Theorie formulieren zu können, sondern vor allem, weil er der Überzeugung ist, dass auch unabhängig von der Frage der ontologischen Priorität die These der Identität der Vernunft mit ihrem Objekt und die These, dass die Vernunft sich selbst denkt, richtig sind. Elemente einer Annäherung an eine Antwort auf diese Fragen sind folgende: Aristoteles ist der Auffassung, dass die Vernunft ein rein passives Vermögen ist.155 Das passive Vermögen der Vernunft besteht darin, die Objekte der Vernunft aufzunehmen. Dass die Vernunft ein passives Vermögen ist, widerspricht natürlich nicht der Behauptung, dass die Vernunft Aktualität und wirkliche Tätigkeit ist, denn auch ein passives Vermögen kann aktualisiert sein oder nicht, wenn die Vernunft als passives Vermögen nicht aktualisiert ist, dann kann sie keine Objekte der Vernunft aufnehmen. Die Vernunft selbst ist zudem völlig eigenschaftslos. Aristoteles vergleicht die Vernunft mit einer leeren Schreibtafel. Auf dieser Tafel ist zwar nichts der Wirklichkeit nach aufgeschrieben, aber der Möglichkeit nach enthält diese Tafel alle überhaupt möglichen Zeichen, d. h. alle Zeichen, die man auf diese Tafel schreiben könnte. Analog dazu hat die Vernunft der Möglichkeit nach alle Objekte des Denkens, und deswegen kann Aris-
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toteles in (7.5.2) schreiben, dass die Vernunft das aufnehmende Vermögen für die Objekte des Denkens ist. Um die Auffassung, die Vernunft sei potentiell alle Objekte des Denkens, nicht misszuverstehen, muss man sich deutlich machen, dass die Objekte des Denkens nur dasjenige an einem Objekt sind, was von der Vernunft erfasst werden kann.156 Die Vernunft erfasst nicht das konkrete Einzelding, d. h. ein konkretes Stück Kuchen, sondern nur dasjenige an einem Einzelding, was intelligibel ist, d. h. von der Vernunft erfasst werden kann. Dass der Kuchen beispielsweise eine bestimmte Größe hat, dass er süß schmeckt oder dass sein Zuckerguss klebrig ist, wird nicht von der Vernunft, sondern von der Wahrnehmung bzw. unterschiedlichen Wahrnehmungsvermögen erfasst. Dasjenige, was von der Vernunft erfassbar ist, ist die Form von etwas. Die Objekte der Vernunft sind also Formen, und die Vernunft ist potentiell alle Formen. Wenn Aristoteles in (7.5.2) davon spricht, dass die Vernunft „das aufnehmende Vermögen für die Objekte der Vernunft und die ousia“ ist, dann ist das ,und‘ explikativ von ,ousia‘ im Sinne des Wesens einer Sache, d.h. der Form einer Sache, zu verstehen. Die Identität der Vernunft mit dem Objekt der Vernunft wird in (7.5.2) durch den Hinweis begründet, dass die Vernunft das aufnehmende Vermögen für die Objekte der Vernunft ist. Diese Identität bedeutet nicht, dass es keine Hinsicht mehr gibt, unter der man die Aktualität der Vernunft, also das Denken, von dem Objekt des Denkens unterscheiden kann. Natürlich wird man begrifflich zwischen dem Denken und dem Gedanken unterscheiden können. Die Identität bedeutet auch nicht, dass es eine Form nur gibt, wenn es jemanden gibt, der die Form denkt. Es bedeutet aber, dass die Form, insofern sie als Form ein spezifisches Objekt des Denkens ist, nur dann aktualisiert ist, wenn sie gedacht wird. Weil nun die Vernunft an sich passiv und ohne eigene Eigenschaften ist, der ,Ort‘ aber, an dem die Form als Objekt des Denkens existiert, die Vernunft ist, kann man sagen, dass die (durch ein Objekt des Denkens) aktualisierte Vernunft mit dem gedachten Objekt der Vernunft identisch ist, weil das Objekt des Denkens nur als etwas von einer Vernunft Gedachtem existieren kann und die Vernunft aufgrund ihrer Eigenschaftslosigkeit nicht in irgendeiner Hinsicht anders sein kann als das Objekt des Denkens selbst. Es bleibt noch zu klären, warum die Identität der Vernunft mit ihrem Objekt auch bedeutet, dass die Vernunft sich selbst denkt, wenn sie ihr Objekt denkt. Aristoteles begründet diese Behauptung mit dem Hinweis darauf, dass sie ein Objekt der Vernunft wird, indem sie das Objekt berührt und erfasst. Es ist zwar nicht ganz deutlich, wie die Metaphern des Berührens und Ergreifens zu interpretieren sind, aber aus den bisherigen Überlegungen ist vielleicht plausibel, dass es die Vernunft als Tätigkeit überhaupt nur als Denken von Objekten geben kann. Die Vernunft wird
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dadurch, dass sie etwas denkt, auch, aber natürlich nicht nur, ihr eigenes Objekt und denkt sich selbst. Es ist bezeichnend, dass Aristoteles es in Lambda nicht bei diesen doch eher skizzenartigen Überlegungen in (7.3.2) belässt. Die Frage nach der Vernunft und dem Verhältnis der Vernunft zu ihren Objekten wird im neunten Kapitel ausführlich wieder aufgenommen werden. (7.5.3) Das erste Prinzip, von dem der Himmel und die Natur abhängen, wird nun mit Gott identifiziert, und diese Identifikation wird näher erläutert. Das erste Prinzip ist nicht insofern Gott, als es ein unbewegt Bewegendes ist,157 sondern insofern es das beste Leben überhaupt führt, d. h. sich in ewiger und kontinuierlicher Vernunfttätigkeit befinden kann. Das können wir Menschen nicht. Man könnte meinen, dass Aristoteles eigentlich gar keine Begründung für seine Auffassung geben müsse, dass das erste Prinzip lebt. In dem in (7.5.1) eingeführten Begriff der diagōgē sei ja bereits impliziert, dass alles, was eine diagōgē hat, leben müsse. Mit einer solchen Überlegung wäre aber der Gedankengang von Aristoteles missverstanden. Wenn er sagt, dass die wirkliche Tätigkeit der Vernunft Leben ist, dann meint er damit, dass die wirkliche Tätigkeit der Vernunft das ist, was das Leben im Vollsinn des Wortes eigentlich ausmacht. Um zu wissen, was es heißt zu leben, muss man sich die Vernunfttätigkeit des ersten Prinzips vergegenwärtigen. Natürlich gibt es auch andere Formen des Lebens, z. B. pflanzliches Leben, aber in der wirklichen Tätigkeit der Vernunft wird exemplarisch deutlich, was Leben eigentlich ist.158 Die Folgerung ist dann, dass Gott selbst Leben ist, weil er kontinuierlich die beste Tätigkeit ausführt. Dass der Gottesbegriff in (7.5) beinahe nebenbei in das zwölfte Buch eingeführt wird, ist überraschend. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es Stellen in der Metaphysik gibt, in denen Aristoteles davon spricht, dass die erste Wissenschaft diejenige Wissenschaft ist, die Gott als ihr Objekt hat159 und die die theologische Wissenschaft genannt wird,160 dann wäre unsere Erwartung, dass die Untersuchung in Lambda auf den Gottesbegriff zielt. Einer solchen Interpretation steht aber das siebte Kapitel entgegen. Das erste Prinzip wird mit Gott identifiziert, weil es das beste Leben führt und das beste Leben zu führen Gott und den Göttern in der griechischen Polisreligion zukommt. Man könnte zwar meinen, für eine Leserin und einen Leser in der Antike sei ohnehin klar gewesen, dass ein Philosoph immer dann, wenn er nach dem ersten Prinzip der gesamten Wirklichkeit fragt, auch nach Gott fragt; insofern sei auch die Frage, wie denn das erste Prinzip sein Leben zubringt, alles andere als überraschend, weil jedem klar sei, dass, weil nach Gott gefragt werde, nach etwas, das lebt, gefragt werde. An diesem Einwand ist ohne Zweifel etwas Richtiges, aber er übersieht gerade das, worauf es bei der Interpretation des Gottesbegriffs im siebten Ka-
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pitel ankommt: Anstatt die Erwartungshaltung seiner Leserschaft zu erfüllen, frustriert Aristoteles sie dadurch, dass er die Identifikation des ersten Prinzips mit Gott eher wie einen Nachgedanken zum eigentlichen Hauptgedanken einführt. (7.6) Ähnlich, wie Aristoteles im sechsten Kapitel die These widerlegt hat, dass die Möglichkeit ontologisch früher ist [vgl. (6.3)], widerlegt er nun die These, dass das Beste nicht das Prinzip sein kann, sondern stets das Resultat eines Prozesses sein muss. Aus der Art der Widerlegung wird deutlich, dass beide Thesen der Sache nach miteinander zusammenhängen. Wer der Auffassung ist, dass das Beste stets nur ein Resultat sein kann, der vertritt auch die Auffassung, dass die Möglichkeit der Wirklichkeit ontologisch vorausgeht.161 (7.7) Mit diesem Satz ist die Untersuchung abgeschlossen, die zu Beginn des sechsten Kapitels [vgl. (6.1.1)] angekündigt worden war. Die Eigenschaften, ewig und unbewegt zu sein, sind in den Kapiteln sechs und sieben hinreichend eingeführt und begründet worden. Die ousia muss aber auch von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen selbstständig abtrennbar sein. Sie ist selbstständig abtrennbar, weil sie eine ousia ist. Sie ist von den wahrnehmbaren Dingen abgetrennt, weil etwas, das keine Materie hat, nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Ein Rückblick auf die im ersten Kapitel [vgl. (1.4.1)] erwähnten Positionen macht deutlich, dass Aristoteles zwar denjenigen zustimmt, die eine unbewegte ousia annehmen und auch denen, die der Auffassung sind, dass diese ousia selbstständig abtrennbar sein muss, dass er aber weder die Auffassung vertritt, diese selbstständig abtrennbaren ousiai könnten Ideen, noch, sie könnten mathematische Objekte sein. (7.8) Aristoteles zeigt im abschließenden Abschnitt des siebten Kapitels, dass die erste ousia erstens keine Größe haben kann und zweitens keiner Affektion und Qualitätsveränderung unterliegen kann.162 Es ist schwer verständlich, warum Aristoteles diesen Abschnitt seiner Argumentation noch hinzufügt. Die Frage, ob die ousia eine Größe hat, ist offenbar für Aristoteles keine ganz unbedeutende Frage gewesen. Dieses sieht man daran, dass er im achten Kapitel [vgl. den Schlusssatz von (8.2.1)] nicht nur schreibt, es müsse ewige und unbewegte ousiai geben, sondern explizit hinzufügt, dass diese ousiai auch ohne Größe sind. Es ist ferner schwer verständlich, warum Aristoteles ein relativ kompliziertes Argument dafür bringt, dass die erste ousia keine Größe haben kann. Man könnte meinen, allein schon aus der Tatsache, dass die erste ousia kein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand ist, folge, dass sie ohne Größe sein muss, weil nur das eine Größe haben kann, was sinnlich wahrnehmbar ist. Statt dessen argumentiert Aristoteles damit, dass eine Größe entweder unbegrenzt oder begrenzt sein kann, um dann zu sagen, dass es keine unbegrenzte Größe
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geben kann und die erste ousia also eine begrenzte Größe haben müsse. Nun kann die erste ousia aber nicht begrenzt sein, weil sie eine unbegrenzte Kraft hat. Also hat die erste ousia keine Größe. Wichtig für ein Verständnis der in Frage stehenden ousia ist die Tatsache, dass Aristoteles der ousia eine unbegrenzte Kraft163 zuspricht. Worin die Kraft der ersten ousia besteht, erläutert Aristoteles nicht. Vielleicht wird man an die Ausführungen zu Beginn des zehnten Kapitels denken können, in der Aristoteles die erste ousia in ihrer Wirkung mit dem Feldherrn eines Heeres oder dem Vorstand eines griechischen Haushalts vergleicht. Aristoteles’ Argument dafür, dass die erste ousia keine Affektionen und Qualitätsveränderungen haben kann, ist demgegenüber leichter nachzuvollziehen. Aristoteles arbeitet mit der bereits in (7.4.2) erläuterten Priorität der Ortsveränderung vor allen anderen Formen von Veränderung. Weil die erste ousia nicht der Ortsveränderung unterliegt, unterliegt sie auch keinen Affektionen und Qualitätsveränderungen.
Kapitel 8 Die Anzahl der unbeweglichen ousiai 1. Der Text „(8.1) [1073a14] Ob nun aber nur eine derartige ousia anzunehmen ist oder mehrere, und wie viele, diese Frage darf nicht übersehen werden, vielmehr müssen wir auch die Erklärungen der anderen Philosophen erwähnen, nämlich dass sie hierüber nichts Bestimmtes ausgesprochen haben. Denn die Ideenlehre enthält hierüber keine eigentümliche Untersuchung; die Anhänger derselben erklären nämlich, die Ideen seien Zahlen. Über die Zahlen aber sprechen sie bald so, als seien derselben unendlich viele, bald wieder, als seien sie mit der Zehnzahl begrenzt und abgeschlossen; weshalb aber die Vielheit der Zahlen gerade so groß ist, darüber führen sie keinen ernstlichen Beweis. Wir aber müssen uns darüber unseren Grundlagen und den bisherigen Bestimmungen gemäß aussprechen. (8.2) [a23] (8.2.1) Das Prinzip nämlich und das Erste von allen seienden Dingen ist unbewegt, sowohl an sich wie auch in akzidenteller Weise, aber es bringt die erste, ewige und eine Bewegung hervor. Da nun das, was bewegt ist, notwendig von etwas bewegt wird, und das erste Bewegende an sich unbewegt ist, und die ewige Bewegung von einem ewigen bewegt wird, und zwar jeweils eine von einem, und da wir ferner außer der einfachen Bewegung des Ganzen, von der wir gesagt haben, dass sie von der ersten und unbewegten ousia ausgeht, noch andere ewige Bewegungen sehen, die der ewigen Planeten nämlich (denn ewig und ruhelos ist der im Kreis bewegte Körper, wie dies in den physischen Schriften erwiesen ist), so ist es notwendig, dass auch jede dieser Bewegungen von einer an sich unbewegten und ewigen ousia bewegt wird. Denn die Natur der Gestirne ist eine ewige ousia, und so ist auch das Bewegende ewig und früher als das Bewegte, und was früher ist als eine ousia, muss notwendig ousia sein. Demnach ist aus dem vorher erörterten Grunde offenbar, dass ebenso viele ousiai existieren müssen, die ihrer Natur nach ewig und an sich unbewegt und ohne Größe sind. (8.2.2) [b1] Dass also ousiai existieren, und von ihnen eines die erste und zweite ist nach derselben Ordnung wie die Bewegungen der Gestirne, ist offenbar. Aber die Anzahl der Bewegungen müssen wir aus derjenigen mathematischen Wissenschaft entnehmen, welche mit der Philosophie in der nächsten Beziehung steht, aus der
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Astronomie. Denn diese stellt die theoretische Untersuchung über sinnlich wahrnehmbare, aber doch ewige ousia an; die anderen mathematischen Wissenschaften dagegen handeln gar nicht von einer ousia, z. B. die Wissenschaft der Zahlen und der Geometrie. Dass nun die bewegten Körper mehrere Bewegungen haben, ist selbst denen offenbar, die sich nur wenig mit der Sache beschäftigt haben; denn jeder von den Planeten hat mehr als eine Bewegung. Wie viele ihrer aber sind, darüber geben wir jetzt der Übersicht wegen die Angaben einiger Mathematiker an, damit man in Gedanken eine bestimmte Zahl annehmen kann. Übrigens muss man teils selbst untersuchen, teils diejenigen befragen, welche die Sache untersuchen; und wenn sich dann bei dieser Beschäftigung etwas von dem jetzt Gesagten Abweichendes ergibt, so muss man zwar beide schätzen, aber den genaueren folgen. (8.3) [b17] (8.3.1) Eudoxos nun nahm an, dass die Bewegung der Sonne und des Mondes in je drei Sphären geschehe; die erste davon sei die Sphäre der Fixsterne, die zweite habe ihre Richtung mitten durch den Tierkreis, die dritte gehe in schräger Richtung durch die Breite des Tierkreises, schräger aber durchschneide den Tierkreis die Sphäre, in welcher der Mond, als die, in welcher die Sonne sich bewegt. Jeder der Planeten bewege sich in vier Sphären; unter diesen sei die erste und zweite mit den entsprechenden von Sonne und Mond einerlei, weil sowohl die Sphäre der Fixsterne alle in Bewegung setze, als auch die ihr untergeordnete, in der Richtung der Mittellinie des Tierkreises bewegte, allen gemeinsam sei; für die dritte lägen die Pole bei allen Planeten in dem durch die Mittellinie des Tierkreises gelegten Kreise; die vierte Sphäre bewege sich nach der Richtung eines gegen die Mitte der dritten Sphäre schiefen Kreises. Für die dritte Sphäre hätten von den übrigen Planeten jeder seine eigenen Pole, Venus und Merkur aber dieselben. (8.3.2) [b32] Kallippos stimmte hinsichtlich der Lage der Sphären, d. h. der Ordnung ihrer Abstände, mit Eudoxos überein, auch schrieb er dem Jupiter und dem Saturn dieselbe Anzahl von Sphären zu wie jener; doch der Sonne und dem Monde, meinte er, müssten noch je zwei hinzugefügt werden, wenn man die wirklichen Erscheinungen darstellen wolle, und jedem der übrigen Planeten noch eine. (8.3.3) [b38] Sollen aber diese Sphären alle zusammengenommen die wirklichen Erscheinungen darstellen, so muss für jeden Planeten eine um eins kleinere Anzahl anderer Sphären vorhanden sein, welche die der Lage nach erste Sphäre des jedes Mal zunächst untergeordneten Planeten zurücknehmen und in dieselbe Lage wiederherstellen; denn nur so ist es möglich, dass das Gesamte die Bewegung der Planeten ausführt. Da es nun acht und fünfundzwanzig Sphären gibt, in welchen die Planeten selbst bewegt werden, und von diesen nur diejenigen nicht zurückgenommen zu werden brauchen, in welchen der unterste Planet sich bewegt, so ergeben
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sich sechs Sphären, welche die der beiden obersten zurückzunehmen, und sechzehn für die folgenden, und als Anzahl der gesamten Sphären, der bewegenden sowohl als der zurücknehmenden, fünfundfünfzig. Wollte man aber der Sonne und dem Mond die eben erwähnten Bewegungen nicht zufügen, so würde sich als Anzahl der gesamten Sphären neunundvierzig ergeben. (8.4) [1074a14] So groß also mag die Anzahl der Sphären sein; dann ist mit guten Gründen die Anzahl der ousiai und unbewegten Prinzipien ebenso groß zu setzen (denn hier von Notwendigkeit zu reden mag Stärkeren überlassen bleiben). (8.5) [a17] (8.5.1) Wenn es aber keine Bewegung geben kann, die nicht auf die Bewegung eines Himmelskörpers zielt, und wenn man ferner annehmen muss, dass jede Natur und jede ousia, die den Affektionen nicht unterworfen ist und an sich das Beste erreicht hat, ein Ziel ist, so würde es keine andere Natur außer diesen geben, sondern dies würde notwendig die Zahl der ousiai sein. Denn gäbe es noch andere, so müssten sie ja in Bewegung setzen, indem sie Ziel einer Bewegung wären. Aber unmöglich kann es noch andere Bewegungen außer den genannten geben. Das kann man mit guten Gründen aus der Betrachtung der bewegten Körper ersehen. (8.5.2) [a25] Denn wenn jedes Bewegende auf ein Bewegtes geht, und jede Bewegung Bewegung eines Dinges ist, so kann es keine Bewegung geben, welche auf sich selbst oder auf eine andere Bewegung ginge, sondern sie muss Bewegung eines Himmelskörpers sein. Denn ginge eine Bewegung auf eine andere Bewegung, so müsste auch diese wieder auf eine andere gehen. Und da nun ein Fortschritt ins Unendliche undenkbar ist, so muss das Ziel jeder Bewegung einer von den göttlichen Körpern sein, die sich am Himmel bewegen. (8.6) [a31] (Dass aber nur ein Himmel existiert, ist offenbar. Denn wenn es mehrere Himmel gäbe, so wie es mehrere Menschen gibt, so würde das Prinzip eines jeden einzelnen der Art nach eines sein, und nur der Zahl nach wären es viele . Was aber der Zahl nach eine Mehrheit ist, hat eine Materie; denn der Begriff (logos) der mehreren, z. B. des Menschen, ist einer und derselbe, Sokrates aber ist ein Einzelner. Das erste ,Was es heißt, dies zu sein‘ aber hat keine Materie, denn es ist vollendete wirkliche Tätigkeit. Eines also ist dem Begriff und der Zahl nach das erste bewegende Unbewegte; also ist auch das immer und stetig Bewegte nur Eines; also gibt es nur einen Himmel.) (8.7) [a38] Von den Alten und den Vätern aus uralter Zeit ist in mythischer Form den Späteren überliefert, dass diese Götter sind und das Göttliche die ganze Natur umfasst. Das übrige ist schon in sagenhafter Weise hinzugefügt zur Überzeugung der Menge und zum Gebrauch für die Gesetze und für den allgemeinen Nutzen. Sie schreiben ihnen nämlich
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Ähnlichkeit mit den Menschen oder mit anderen Lebewesen zu und anderes dem Ähnliches und damit Zusammenhängendes. Wenn man hiervon absehend nur das erste selbst nimmt, dass sie nämlich die ersten ousiai für Götter hielten, so wird man darin einen göttlichen Ausspruch finden, und da wahrscheinlich jede Kunstfertigkeit und jede Wissenschaft öfters nach Möglichkeit aufgefunden und wieder verloren gegangen ist, so wird man in diesen Ansichten gleichsam Überreste von jenen sehen, die sich bis jetzt erhalten haben. Nur bis zu einem bestimmten Punkt ist uns also die Meinung unserer Väter und unserer ältesten Vorfahren klar.“
2. Überblick Ziel des achten Kapitels ist es, die Frage zu beantworten, wie viele unbewegte ousiai es gibt, d. h. wie viele Individuen die dritte Art der ousia umfasst, die im ersten Kapitel von Lambda eingeführt worden ist [vgl. (1.4)]. Dazu erläutert Aristoteles zunächst, wie man überhaupt vorgehen muss, um diese Frage zu beantworten. Wir wissen aus dem siebten Kapitel, dass ein unbewegt Bewegendes ein Prinzip ist, das bewirkt, dass sich eine Himmelssphäre um seine eigene Achse dreht. Im siebten Kapitel ist ausschließlich von der Bewegung des Fixsternhimmels die Rede gewesen. Für diese Bewegung ist eine unbewegte ousia verantwortlich. Nun gibt es aber am Himmel nicht nur die Bewegung der Fixsterne, sondern auch andere Bewegungen, wie beispielsweise die Bewegung der Planeten. Die Planeten führen keine kontinuierlichen Kreisbewegungen aus. Die Bahnen, auf denen die Planeten am Himmel entlangziehen, lassen sich aber als eine Kombination von mehreren Kreisbewegungen (bzw. Bewegungen von Sphären um die eigene Achse) beschreiben. Jede einzelne dieser Kreisbewegungen hat eine eigene unbewegte ousia als Prinzip. Die Anzahl der Kreisbewegungen bzw. der Himmelssphären, die wir annehmen müssen, um die Bewegungen sämtlicher Gestirne am Himmel zu erklären, ist also identisch mit der Anzahl der unbewegt Bewegenden. Um herauszufinden, wie viele unbewegte ousiai es gibt, werden wir also an die Astronomie verwiesen. Die Aufgabe des Astronomen besteht darin zu ermitteln, wie viele Himmelssphären es gibt. Aristoteles argumentiert in der Auseinandersetzung mit den bedeutendsten Astronomen seiner Zeit, Eudoxos und Kallippos, dafür, dass (inklusive der bereits im siebten Kapitel aufgewiesenen Sphäre des Fixsternhimmels) insgesamt 55 Sphären (bzw. evtl. nur 49) anzunehmen sind. Folglich gibt es auch 55 (respektive 49) unbewegte ousiai (inklusive des ersten unbewegt Bewegenden, der die Fixsternsphäre bewegt). Die besondere Leistung des Kapitels besteht weniger darin, dass Aristoteles endgültig Klarheit über die Anzahl der anzunehmenden Sphä-
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Kapitel 8
ren gewonnen hat, sondern darin, dass er überhaupt ein Kriterium eingeführt hat, das es erlaubt zu entscheiden, wie viele unbewegte ousiai es geben muss. Das achte Kapitel unterscheidet sich, vor allem stilistisch, von den übrigen Kapiteln des zwölften Buches. Die Sätze sind sorgfältiger formuliert164 und der ganze Text liest sich streckenweise viel flüssiger. Diese Tatsache hat Interpreten dazu veranlasst zu meinen, das achte Kapitel sei ein späterer Einschub in das Buch Lambda, das mit dem ursprünglichen Projekt von Lambda nur locker verbunden sei. So meint Werner Jaeger beispielsweise, dass das zwölfte Buch der Metaphysik eine frühe Schrift des Aristoteles sei, das achte Kapitel aber ein späterer Einschub sein müsse.165 Ross schließt sich Jaeger an und meint, dass die Lehre von den vielen Intellekten (denn jede unbewegte ousia ist ein Intellekt) nicht konsistent mit dem sei, was Aristoteles im siebten und neunten Kapitel von dem einen Bewegenden sage.166 Dass diese Begründung allerdings wenig plausibel ist, lässt sich durch Textpassagen außerhalb des achten Kapitels zeigen, in denen Aristoteles von der unbewegten ousia im Plural spricht [vgl. (6.2.3)]. Nirgends legt er sich auf die These fest, dass es überhaupt nur eine unbewegte ousia geben kann. Ob das achte Kapitel zum ursprünglichen Projekt von Lambda gehört oder nicht, wird sich weniger an stilistischen Fragen entscheiden, sondern danach, ob das, was Aristoteles im achten Kapitel sagt, für ein Gesamtverständnis von Lambda von Bedeutung ist.167 In Bezug auf diese Frage wird sich zeigen, dass das achte Kapitel u. a. deswegen einen für das Gesamtprojekt unverzichtbaren Teil darstellt, weil erst im achten Kapitel deutlich wird, wie die am Ende des ersten Kapitels aufgeworfene Frage, ob es eine einheitliche Wissenschaft aller drei Arten von ousiai gibt, positiv beantwortet werden kann (s.u.). Trotz der größeren stilistischen Sorgfalt, die Aristoteles offenbar auf die Ausformulierung des achten Kapitels gelegt hat, bleiben zwei für das Kapitel ganz entscheidende Fragen der Sache nach unbeantwortet: Erstens bleiben die Details der astronomischen Modelle, die von Eudoxos, Kallippos und Aristoteles selbst vorgeschlagen worden sind, um die Bewegung aller Himmelskörper zu erklären,168 unklar. Uns wird im Rahmen des vorliegenden Kommentars nichts weiter übrig bleiben als zur Kenntnis zu nehmen, was Eudoxos, Kallippos und Aristoteles selbst zu der Frage nach der Anzahl der Himmelssphären gesagt haben. Es ist nicht einmal eindeutig, ob Aristoteles angenommen hat, dass 49 oder 55 Sphären für die Bewegungen sämtlicher Himmelskörper angenommen werden müssen. Zweitens liegt ein großes Problem in der Tatsache, dass Aristoteles weder im achten Kapitel von Lambda noch an anderen Stellen in seinem Werk erläutert, wie das Verhältnis der 55 (bzw. 49) unbewegt Bewegenden
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untereinander zu verstehen ist. Wir wissen aus dem siebten Kapitel, dass ein unbewegt Bewegendes ein Intellekt sein muss. Diese Auffassung wird im neunten Kapitel noch weiter entfaltet. Aus dem achten Kapitel von Lambda wird deutlich werden, dass die Sphären, die durch ihre jeweiligen unbewegt Bewegenden bewegt werden, miteinander ein einheitliches System bilden, denn der entscheidende Unterschied zwischen Aristoteles und den beiden Astronomen besteht darin, dass es Aristoteles darauf ankommt, alle Sphären innerhalb eines einzigen Systems zu beschreiben. Aus dem ersten Satz in (8.2.2) folgt ferner, dass der Art und Weise, wie die Sphären miteinander verbunden sind, die Art und Weise entspricht, wie die Prinzipien der Sphären sich zueinander verhalten. So, wie es eine erste und eine zweite Sphäre usw. gibt, so gibt es ein erstes und ein zweites Prinzip.169 Wie aber das Verhältnis der 55 Prinzipien zueinander genau zu verstehen ist, bleibt offen. Auch eine Passage aus De Generatione et Corruptione sagt nicht mehr, als dass die vielen Bewegenden unter dem ersten Bewegenden stehen müssen: Aristoteles spricht davon, dass es, wenn es eine einzige ewige Kreisbewegung gibt, auch ein Prinzip dieser Kreisbewegung geben müsse, und es dann, wenn es mehrere ewige Kreisbewegungen gibt, mehrere Prinzipien geben müsse, „die aber alle notwendigerweise irgendwie unter einem einzigen Prinzip stehen müssen“170. Dass Aristoteles davon spricht, die Prinzipien müssten ,irgendwie‘ unter einem Prinzip stehen, ist vielleicht ein Hinweis auf die Tatsache, dass Aristoteles selbst keine ausgearbeitete Auffassung von dem Verhältnis, in dem die 55 Intellekte zueinander stehen, gehabt hat. Dass diese Unklarheit zu interessanten Spekulationen über das Verhältnis der Intellekte untereinander bei den frühen Aristoteleskommentatoren geführt hat, ist leicht verständlich. Wir brauchen keine ausgearbeitete Vorstellung von dem Verhältnis der 55 Intellekte zu haben, um zu erkennen, dass unter den 55 Intellekten ein Intellekt eine Vorrangstellung hat. Es ist derjenige Intellekt, der als unbewegt Bewegendes Bewegungsursache für die Sphäre der Fixsterne ist. Wie immer das Verhältnis der 55 Intellekte zueinander zu bestimmen ist, es ist eindeutig, dass die 54 Intellekte auf den ersten Intellekt auf eine solche Art und Weise bezogen sind, dass der erste Intellekt, also die erste unbewegte ousia, ein Prinzip für die 54 anderen unbewegten ousiai ist. Dass aber die erste unbewegte ousia nicht nur ein Prinzip für die Sphäre des Fixsternhimmels ist, sondern auch ein Prinzip für die anderen unbewegten Beweger sein muss, ist von großer systematischer Relevanz für das Projekt in Lambda. Am Ende des ersten Kapitels hat Aristoteles ja die Frage aufgeworfen, ob die drei Arten von ousiai einer einzigen Wissenschaft zugehören oder nicht. Kriterium für eine Antwort auf diese Frage ist, ob es ein Prinzip gibt, das ein Prinzip für die ousiai in allen drei Arten ist [vgl. (1.4.2)]. Das achte Kapitel macht nun deutlich, dass es ein solches Prinzip
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tatsächlich gibt. Das erste unbewegt Bewegende ist nicht nur das Prinzip für die Sphäre des Fixsternhimmels und, vermittelt dadurch, das erste Prinzip für alles in der supralunaren und sublunaren Welt, sondern auch das Prinzip der anderen unbewegten ousiai. Das achte Kapitel ist wie folgt aufgebaut: In (8.1) führt Aristoteles in die Fragestellung des Kapitels ein: Wie viele unbewegte ousiai gibt es? In (8.2) erläutert er, wie man vorgehen muss, um diese Frage zu beantworten. Wir wissen aus dem siebten Kapitel, dass die Sphäre der Fixsterne einen ersten Beweger hat, der unbewegt ist und Ursache der ewigen Kreisbewegung der Sphäre der Fixsterne ist. Nun erklärt diese Sphäre zwar die Bewegung der Fixsterne, aber nicht die Bewegungen der anderen Himmelskörper. Um diese Bewegungen zu erklären, brauchen wir erheblich mehr Himmelssphären. Jede einzelne Himmelssphäre hat nun jeweils ein unbewegt Bewegendes. Wenn wir wissen, wie viele Himmelssphären es gibt, dann lässt sich auf die Anzahl der unbewegten ousiai schließen. Wir müssen uns also astronomischen Überlegungen zuwenden, um die Anzahl der Himmelssphären zu ermitteln. In (8.3) referiert Aristoteles zunächst, wie viele Sphären Eudoxos und Kallippos angenommen haben, um die Bewegungen der Himmelskörper zu erklären. Anknüpfend an Kallippos entwickelt Aristoteles ein Modell, in dem 55 (oder 49) Sphären angenommen werden, um dann in (8.4) zu schließen, dass die Anzahl der unbewegten ousiai ebenso groß sein wird. In (8.5) argumentiert Aristoteles dafür, dass es nicht mehr unbewegte Beweger geben kann als es Himmelssphären gibt. (8.6) und (8.7) sind Nachträge zur eigentlichen Diskussion. In (8.6) argumentiert Aristoteles dafür, dass es nur ein einziges Universum geben kann, in (8.7) zeigt er, dass der vernünftige Kern der griechischen Religion darin besteht, die Sterne für Götter zu halten und dass das Göttliche das ganze Universum umfasst. 3. Interpretation (8.1) Aristoteles wendet sich im achten Kapitel der Frage zu, wie viele ewige und unbewegte ousiai es gibt. Diese Frage muss uns nicht überraschen, denn wir sind bereits im sechsten Kapitel darauf aufmerksam geworden, dass es mehrere ousiai dieser Art geben kann [vgl. (6.2.3)]. Aristoteles hat sich an keiner Stelle in Lambda auf die These festgelegt, dass es nur eine einzige unbewegte ousia gibt. Selbst dann, wenn es im siebten Kapitel Passagen gibt, in denen Aristoteles eindeutig von dem ersten unbewegt Bewegenden, also der in der Hierarchie der ousiai obersten ousia, spricht und damit der Sache nach nicht die Art, sondern nur eine numerisch einzige ousia gemeint sein muss, schließt das siebte Kapitel nicht aus, dass es mehrere ousiai dieser Art geben kann. Dass es nicht notwendig
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mehrere geben muss, macht Aristoteles am Anfang des achten Kapitels deutlich: Ob wir nur eine annehmen oder mehrere, muss erst noch durch eine Untersuchung geklärt werden. Eines der Probleme an der Theorie der Platoniker ist, dass sie diese Frage nicht gestellt hat und folglich auf die Frage keine Antwort geben kann. Das Ziel des achten Kapitels ist es also, zu einer methodisch begründeten Antwort auf die Frage zu gelangen, wie viele unbewegte Prinzipien es geben muss. (8.2) (8.2.1) Die Frage, wie viele unbewegte ousiai anzunehmen sind, kann man beantworten, wenn man bedenkt, dass die erste unbewegte ousia, d. h. das erste unbewegt Bewegende, unmittelbar für genau eine Bewegung, nämlich die des ersten Himmels um seine eigene Achse, verantwortlich ist. Nun gibt es aber nicht nur die ewige Bewegung der Sphäre der Fixsterne, sondern auch die ewigen Bewegungen der Planeten (wobei die Griechen fünf Planeten kannten, nämlich Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn), und darüber hinaus noch die ewigen Bewegungen der Sonne und des Mondes.171 Die Bewegung der Sphären, an denen diese sieben Himmelkörper befestigt sind, muss ebenfalls verursacht sein, und da jeder dieser Himmelskörper eine ewige ousia ist, muss auch das jeweilige Prinzip jedes dieser Himmelskörper ewig und eine ousia sein. (8.2.2) Man könnte versucht sein anzunehmen, dass wir zusätzlich zu der ersten unbewegten ousia, die den ersten Himmel bewegt, nun einfach so viele unbewegte ousiai annehmen müssen, wie es Himmelskörper gibt. Diese Auffassung wäre aber falsch, denn die Bewegungen der in Frage stehenden Himmelskörper sind nicht, wie die Bahnen der Fixsterne, einfache Kreisbewegungen, sondern sind wesentlich komplizierter172: Wenn man die Planetenbewegungen von der Erde aus beobachtet, dann stellt man fest, dass die Bahnen, auf der die Planeten ziehen, ganz merkwürdige Phänomene aufweisen. So zieht ein Planet beispielsweise ein Stück auf einer Kreisbahn, um dann aber anzuhalten und in einem so genannten Epizyklus auf einer Art Schleifenbahn rückwärts zu wandern und eine Runde zu drehen. Manche Planeten überholen andere, um dann wieder überholt zu werden. Von der Erde aus betrachtet wirken diese Bewegungen so, als irrten die Planeten ziellos umher. Wie kann man diese Bewegungen erklären? In der von Platon gegründeten Akademie hat man sich intensiv mit der Erforschung der Bewegung der Planeten befasst. Dabei verfolgte man ein klares Ziel: Weil es (nicht zuletzt aus Überlegungen heraus, die eher die Ethik und die Frage nach dem guten Leben betreffen) undenkbar war, dass das Universum selbst chaotisch strukturiert sein könnte, musste man die komplizierten Bewegungen der Planeten auf einfachere Bewegungen zurückführen. Die einfachste Bewegung ist aber die Kreisbewegung. Sie hat keinen Anfang und kein Ende und folgt einer einfachen Formel. Man
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hat also versucht, die komplexen Bewegungen der Planeten durch eine komplizierte Kombination von einfachen Kreisbewegungen zu erklären. Stellen wir uns dazu das Himmelgewölbe als eine Sphäre, d. h. als die Oberfläche einer hohlen Kugel, vor. An dieser Sphäre sind die Fixsterne befestigt. In der Mitte der Hohlkugel liegt die Erde. Die Fixsternsphäre führt eine Kreisbewegung aus, sie dreht sich um eine eigene Achse, den so genannten Himmelspol. Nun kann man eine zweite, kleinere173 Sphäre an dieser Fixsternsphäre innen befestigen. Diese zweite Sphäre dreht sich mit einer eigenen Geschwindigkeit ebenfalls um eine Achse. Wenn diese Achse dieselbe wäre wie diejenige Achse, um die sich die Fixsternsphäre dreht, und wenn an dieser zweiten Sphäre ein Himmelskörper befestigt wäre, dann würden wir von der Erde aus wahrnehmen, dass sich die Bewegung eines Himmelskörpers von der Bewegung der Fixsterne unterscheidet: Entweder zieht der Himmelkörper langsamer oder schneller auf dem Hintergrund der Fixsterne seine Bahnen, je nachdem, wie groß die Eigengeschwindigkeit der zweiten Sphäre ist. Die Bewegung dieses Himmelskörpers bliebe aber eine konstante Kreisbewegung, und Epizyklen könnten nicht erklärt werden. Wenn man nun aber die Achse, um die sich die zweite Sphäre dreht, nicht an der Achse der Fixsternsphäre, sondern an einem anderen Punkt befestigen würde, dann würde der an der zweiten Sphäre befestigte Himmelkörper bereits eine kompliziertere Bewegungen ausführen, die aus zwei Bewegungen zusammengesetzt ist: Der Bewegung des Fixsternhimmels (denn das Drehmoment des Fixsternhimmels geht auf die Bewegung der zweiten Sphäre über, da die Achse der zweiten Sphäre ja an der Fixsternhimmelssphäre befestigt ist) und der Eigenbewegung der zweiten Sphäre um ihre eigene Achse. Man kann dieses Modell nun beliebig erweitern und immer weitere Sphären hinzufügen. Die Bewegungen werden mit jeder Sphäre zunehmend komplexer. Am Prinzip der Erklärung ändert sich aber nichts. So kompliziert auch die Bewegungen eines Himmelskörpers erscheinen mögen, immer lassen sie sich auf einfache Kreisbewegungen zurückführen. Dieses Modell gibt eine Methode an, nach der man vorgehen muss, um die Ausgangsfrage des Kapitels zu beantworten, wie viele unbewegte ousiai wir annehmen müssen. Wir wissen, dass die erste unbewegte ousia für die Bewegung der Fixsternsphäre um ihre eigene Achse verantwortlich ist. Diese erste ousia ist aber nicht verantwortlich dafür, dass sich die anderen Sphären jeweils um ihre eigenen Achsen drehen. Wir müssen andere Sphären annehmen, um die komplexen Bewegungen der Planeten sowie der Sonne und des Mondes zu erklären. Die Drehung der anderen Sphären um ihre jeweils eigene Achse kann nur durch eine jeweils eigene unbewegte ousia erklärt werden. Das bedeutet aber, dass die Anzahl der
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Sphären, die wir brauchen, um die Bewegungen der Planeten, der Sonne und des Mondes durch Kreisbewegungen zu erklären, identisch mit der Zahl der unbewegten ousiai ist. Die Metaphysik wird also auf die Astronomie verwiesen. (8.3) In Bezug auf die Frage, wie viele Sphären wir annehmen müssen, um die Bewegungen der Himmelskörper vollständig zu erklären, stellt Aristoteles drei Lösungsvorschläge vor. (8.3.1) Die erste Lösung ist von Eudoxos, einem der bedeutendsten Mathematiker der Antike, der in Platons Akademie mitgearbeitet hat. Simplicius, ein antiker Aristoteleskommentator, dem wir wichtige Details bei der Rekonstruktion der astronomischen Überlegungen verdanken, berichtet, dass Platon Eudoxos in die Akademie geholt habe, um das Problem der Planetenbewegungen zu lösen. Eudoxos nahm folgende Sphären an, um die Bewegungen der Himmelskörper zu erklären: Die Sonne hat drei Sphären, die Sphäre der Fixsterne, die Ekliptik und eine dritte Sphäre; der Mond hat ebenfalls drei Sphären, die Sphäre der Fixsterne, die Ekliptik und eine dritte Sphäre (die sich natürlich von der dritten Sphäre der Sonne unterscheidet); die fünf Planeten haben jeweils vier Sphären, wobei die ersten beiden Sphären jedes der fünf Planeten wieder die Sphäre der Fixsterne und die Ekliptik sind. So kommt Eudoxos auf insgesamt 26 Sphären, um die Bewegungen der Himmelskörper zu erklären. (8.3.2) Die zweite Lösung stammt von Kallippos, einem Zeitgenosse von Aristoteles. Simplicius berichtet, Kallippos habe mit Aristoteles zusammengearbeitet, um mit dessen Hilfe das, was Eudoxos erarbeitet hatte, zu korrigieren. Auf Kallippos geht eine Kalenderreform zurück, die 330 v. Chr. in Athen eingeführt worden ist, und die auf den astronomischen Überlegungen von Kallippos beruht.174 Kallippos übernimmt Eudoxos’ Überlegungen zur Lage der Sphären, fügt aber insgesamt sieben Sphären hinzu, je zwei für die Sonne und den Mond und je eine für Mars, Venus und Merkur. Sein Argument ist, dass die 26 Sphären von Eudoxos nicht in der Lage sind, die tatsächlichen Bewegungen der Himmelskörper hinreichend genau zu erklären. Erst durch die weiteren sieben Sphären werde die für die Erklärung notwendige Genauigkeit erreicht. (8.3.3) Die dritte Lösung ist diejenige, die Aristoteles selbst vorschlägt. Dass sie schon in der Antike schwer verstanden worden ist, zeigt sich daran, dass an einer entscheidenden Stelle, wenn Aristoteles die Anzahl der Sphären angibt, die Manuskripte schreiben, es müsse 47 Sphären geben, obwohl viel dafür spricht, dass es tatsächlich 49 sind.175 Im Unterschied zu Eudoxos und Kallippos versucht Aristoteles, ein einheitliches System zu entwickeln, das die Bewegungen aller Himmelskörper vereint. Die Sphären sollen „alle zusammengenommen“ werden. Eudoxos und Kallippos hatten sich gefragt, wie viele Sphären jeder Himmels-
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körper braucht, um dann die Sphären der verschiedenen Himmelskörper einfach zu addieren. Demgegenüber möchte Aristoteles die Sphären (und damit auch die Prinzipien der Sphären) zueinander in Beziehung setzen. Damit entsteht aber folgendes Problem. Nehmen wir an, die komplizierte Bewegung eines Planeten A mit seinen Epizyklen werde durch (1) die Fixsternsphäre, (2) die Ekliptik, und drei weitere Sphären (3), (4) und (5) bestimmt. Der Planet A ist also an der Sphäre (5) ,befestigt‘. Die komplizierte Bewegung von (5) wird durch ein Zusammenspiel von (1)–(5) erklärt. Wenn nun ein weiterer Planet B zu diesem Planeten A hinzugenommen wird und man ein einheitliches System der Sphären errichten möchte, dann hat man zunächst offenbar gar keine andere Wahl, als eine Sphäre (6) einzuführen (oder mehrere Sphären), die an der Sphäre (5) mit ihrer Achse festgemacht ist. Wenn nun aber (5) schon eine komplizierte Bewegung macht, ist die Bewegung von (6) noch viel komplizierter. Man kann sich leicht vorstellen, dass (6) viel zu kompliziert ist, um die Bewegung des weiteren Planeten B zu erklären. Um die Bewegung von B zu erklären, können wir nicht einfach an die Sphäre (5) anknüpfen. Aristoteles’ Lösung dieses Problems ist folgende. Die Bewegungen der Sphären (5), (4) und (3) werden einfach aufgehoben. Um sie aufzuheben, brauchen wir aber drei neue Sphären, nennen wir sie (5’), (4’) und (3’). Die Achsen dieser drei neuen Sphären haben dieselbe Lage im Raum wie die Achsen ihrer jeweils zugehörigen Sphären [(5’) hat also dieselbe Achsenlage wie (5), (4’) wie (4) usw.]. Die neuen Sphären drehen sich nun mit genau derselben Geschwindigkeit wie die ursprünglichen Sphären, nur in entgegengesetzter Richtung. Durch (5’) wird also die Bewegung der Sphäre (5) aufgehoben, durch (4’) die der Sphäre (4) und durch (3’) die von (3). Wenn wir jetzt Sphäre (6) an (5’) befestigen, wird B faktisch nur durch (1), (2) und (6) bewegt. Die Einführung der Sphären, die die Bewegungen aufheben, machen auch deutlich, warum Aristoteles auf insgesamt 55 Sphären kommt. Er folgt Kallippos in der Annahme, dass der Saturn, der äußerste Planet, vier Sphären hat, die Fixsternsphäre (1), die Ekliptik (2) und zwei weitere Sphären (3) und (4). Um den nächsten Planeten, Jupiter, in dieses Sphärensystem integrieren zu können, müssen zunächst drei Sphären (4’), (3’) und (2’) eingeführt werden, die die Bewegungen der Sphären (2)–(4) neutralisieren. Zusammengenommen erhalten wir also 7 Sphären. Um die Bewegung von Jupiter zu beschreiben, sind in Kallippos’ System ebenfalls vier Sphären notwendig. Da die Bewegungen der zweiten bis vierten Sphäre in Aristoteles’ Modell ebenso wie beim Saturn wieder zurückgenommen werden müssen, erhalten wir für Jupiter wiederum 7 Sphären, die zu den 7 Sphären für den Saturn hinzuaddiert werden müssen.176 Wir brauchen also 14 Sphären, um die Bewegungen von Saturn und Jupi-
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ter in einem einheitlichen System zu erklären. Für die drei Planeten Merkur, Venus, Mars und für die Sonne nahm Kallippos jeweils 5 Sphären an. Zusammen mit denjenigen Sphären, die die Bewegungen zurücknehmen, kommt Aristoteles auf jeweils 9 Sphären. Zusammen mit den 14 Sphären kommen wir also auf 50 Sphären. Dem Mond als letztem Himmelskörper schreibt Kallippos 5 Sphären zu. Für ihn brauchen wir keine Sphären hinzuzufügen, die die Bewegung wieder zurücknehmen. Somit ergeben sich insgesamt 55 Sphären. Die Zahl 49 am Ende des Abschnittes ergibt sich, wenn man der Auffassung von Kallippos nicht folgt, dass sowohl die Sonne als auch der Mond jeweils fünf Sphären haben und sich dem Modell von Eudoxos anschließt, demzufolge jeweils drei Sphären die Bewegungen der Sonne und des Mondes erklären. Wenn man dieses Modell zugrunde legt, dann müssen von den 55 Sphären zunächst 2 Sphären für die Sonne abgezogen werden, dann aber auch die 2 Sphären, die die Bewegungen jeder zwei Sphären zurücknehmen, sowie 2 Sphären für den Mond (da der Mond keine die Bewegung zurücknehmenden Sphären hat, sind hier nur 2 Sphären abzuziehen). Somit wären 6 Sphären von 55 Sphären abzuziehen und man erhält als Ergebnis 49 Sphären. Es bleibt leider unklar, ob Aristoteles die Kritik von Kallippos an Eudoxos akzeptiert hat oder nicht, und ob wir 55 oder 49 Sphären annehmen sollen. (8.4) Der Abschnitt (8.4) ist von Aristoteles leider etwas missverständlich formuliert. Man könnte meinen, Aristoteles wollte sagen, die Schlussfolgerung von der Anzahl der Sphären auf die Anzahl der unbewegten ousiai sei nicht notwendig, sondern lediglich mit guten Gründen möglich. Damit würde man aber die Argumentation des achten Kapitels missverstehen. Die Anzahl der unbewegten ousiai kann man nicht notwendig, sondern nur mit guten Gründen erschließen, weil niemand die Anzahl der Sphären mit Notwendigkeit wissen kann, da die Anzahl der Sphären zu ermitteln von empirischen Fakten wie beispielsweise der korrekten Aufzeichnung der Planetenbewegungen abhängt. So lässt es ja auch Aristoteles offen, ob man 55 oder 49 Sphären annehmen sollte. (8.5) (8.5.1) Der folgende Abschnitt ist nicht ganz einfach zu verstehen, weil unklar ist, ob Aristoteles etwas über die Anzahl der Sphären oder über die Anzahl der Beweger sagen möchte. Aus der Bemerkung, dass es dann, wenn es andere gäbe, diese in Bewegung setzen müssten, weil sie das Ziel einer Bewegung wären, lässt sich erschließen, dass der Zweck des Arguments offenbar die These ist, dass die Zahl der unbewegt Bewegenden der Anzahl der Sphären entsprechen muss. Der Abschnitt wäre dann wie folgt zu verstehen. Zunächst werden zwei Annahmen gemacht. Es kann erstens keine bewegte Himmelssphäre geben, die nicht (unmittelbar oder vermittelt) einen Himmelskörper be-
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wegt. Zweitens ist jede Natur und jede ousia, die den Affektionen nicht unterworfen ist und an sich das Beste erreicht hat, ein Ziel. Wenn Aristoteles an dieser Stelle von ,jede Natur und jede ousia‘ spricht, dann ist das ,und‘ explikativ im Sinne einer Erklärung zu verstehen: ,Jede Natur, d. h. jede ousia, die nicht den Affektionen unterworfen ist und an sich das Beste erreicht hat, ist ein Ziel‘.177 Mit der Natur und der ousia ist der Sache nach eine Himmelssphäre gemeint. Sie hat das Beste erreicht, weil sie unmittelbar auf eine ousia, die sich im bestmöglichen Zustand befindet, bezogen ist; sie ist nicht den Affektionen unterworfen, weil sie sich (abgesehen von der ihr einzig möglichen Bewegungsform, der Ortsbewegung) nicht verändern kann. Wenn man diese beiden Annahmen zugesteht, folgt daraus, dass es außer den Himmelssphären, die diese beiden Kriterien erfüllen, keine weiteren Himmelssphären geben kann. Daraus schließt Aristoteles, dass notwendigerweise die Zahl der ousiai – und hiermit müssen nun die unbewegt Bewegenden gemeint sein – nicht größer sein kann als die Zahl der Himmelssphären, die tatsächlich in einer astronomischen Untersuchung ermittelt worden sind. Das Ziel des Abschnitts besteht also darin argumentativ auszuschließen, dass es außer den ermittelten 55 (bzw. 49) Himmelssphären noch irgendwelche anderen Himmelssphären geben könnte, für die wir dann wiederum je einen unbewegt Bewegenden annehmen müssten. (8.5.2) Diese Argumentation wird im folgenden noch weiter abgesichert. Erstens könnte man vielleicht meinen, es könnte noch weitere Beweger geben, die aber nicht etwas anderes, sondern nur sich selbst bewegen. Aristoteles argumentiert zwar nicht direkt gegen diese Auffassung, aber sie macht der Sache nach keinen Sinn, denn alles, was bewegt, bewegt stets etwas, und selbst dann, wenn man sagen würde, dass es eine Entität gibt, die sich selbst bewegt, wäre streng genommen bei dieser Entität zwischen einem Teil, der bewegt und einem anderen Teil, der bewegt wird, zu unterscheiden.178 Zweitens könnte man argumentieren, dass es Bewegungen geben kann, die stets nur auf andere, vermittelte Bewegungen gehen. Diese Annahme wird von Aristoteles ausdrücklich widerlegt. Wir würden in einen infiniten Regress geraten, wenn wir ihr zustimmen würden. (8.6) Nachdem die Anzahl der Sphären und der Beweger der Sphären bestimmt ist, wendet sich Aristoteles in einem Exkurs179 noch einer anderen Frage zu, die schon von dem Vorsokratiker Anaximander diskutiert worden ist, nämlich die Frage nach der Anzahl der Himmel, d. h. die Frage danach, wie viele Universen es gibt.180 Demokrit hat tatsächlich verschiedene Welten angenommen, die unterschiedlich voneinander sind; in einigen von ihnen gibt es beispielsweise keine Sonne und keinen Mond.
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Das zentrale Argument dafür, dass es nur ein Universum geben kann, ist relativ klar: Wenn es mehrere Universen gäbe, dann müsste es auch mehrere erste unbewegte Beweger geben, denn jedes Universum bräuchte einen unbewegten Beweger, der der Beweger für die jeweilige Fixsternsphäre ist. Nun kann es aber nur einen einzigen ersten unbewegten Beweger geben, denn wenn es von irgend etwas mehrere gibt und wenn man Dinge zählen kann, dann müssen sie materiell sein. Weil der erste unbewegte Beweger aber ohne Materie ist, kann es von ihm nicht mehrere geben. Der Abschnitt ist manchmal als ein Beleg für die These verstanden worden, dass das, was die Individualität einer Sache ausmacht, ihre jeweilige Materie sei. Man wollte dadurch deutlich machen, dass die Materie (und nicht die Form) das Prinzip der Individuation ist und dass es keine individuellen Formen gibt, sondern Formen stets eine Art oder die Gattung (im Unterschied zum Individuum) bezeichnen. Was Sokrates von seinem Vater unterscheidet, wäre dieser Auffassung nach nicht die Form, sondern lediglich, dass ein und dieselbe Form (nämlich die Artform des Menschseins) in unterschiedlicher Materie verwirklicht ist. Wer den Abschnitt so versteht, missversteht ihn aber. Aristoteles sagt nicht, dass Materie das Individuationsprinzip ist, sondern lediglich, dass man nur das zählen kann, was eine Materie hat. Der Abschnitt wirft für den Interpreten aber folgendes Problem auf. Die 54 (oder 48) unbewegt Bewegenden müssen ja ebenso wie das erste unbewegt Bewegende ohne Materie sein. Die 54 unbewegt Bewegenden unterscheiden sich von dem ersten unbewegt Bewegenden ja nicht dadurch, dass sie ihrem Wesen nach von ihm unterschiedene Eigenschaften haben, sondern nur dadurch, dass sie eine andere Sphäre bewegen. Sie haben also keine Materie. Dennoch kann man sie deswegen zählen, weil sie auf etwas, das Materie hat, bezogen sind. Analog könnte man aber argumentieren, dass es mehrere erste unbewegte Beweger geben kann, die jeweils auf einen unterschiedlichen Fixsternhimmel bezogen sind. Man kann die jeweils ersten unbewegten Beweger nicht deswegen zählen, weil sie materiell sind (da ist Aristoteles recht zu geben), sondern weil sie als Beweger auf etwas bezogen sind, das eine Materie hat. (8.7) Es ist nicht ganz deutlich, was die Alten überliefert haben, da der Bezug des Demonstrativpronomens ,diese‘ im ersten Satz nicht klar ist. Es kann sich kaum auf die vielen Himmel beziehen, die im vorhergehenden Abschnitt (8.6) erwähnt worden sind, weil es die vielen Himmel ja gar nicht gibt; man wird ,diese‘ also eher auf die göttlichen Körper, die Himmelskörper, beziehen müssen, die im letzten Satz von (8.5.2) erwähnt werden.181 In zwei Punkten stimmen die Untersuchungsergebnisse aus Lambda also mit den Überzeugungen, die Griechen von den Göttern haben,
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überein: Erstens sind die Himmelskörper Götter, zweitens umfasst das Göttliche die ganze Natur. Die Auffassung, dass die Himmelskörper Götter sind, findet sich schon bei Homer und Hesiod. Im 5. Jh. v. Chr. gewann diese Überzeugung zunehmend an Bedeutung. Anaxagoras ist beispielsweise der Asebie angeklagt worden, weil er behauptet haben soll, die Sonne sei kein Gott.182 Dass das Göttliche die ganze Natur umfasst, geht ebenfalls auf Hesiod zurück, der alles, was ist, auf die Göttin Gaia (die Erde) und den Gott Ouranos (den Himmel) zurückführt. Eingebettet in den Abschnitt ist eine Interpretation der Volksreligiosität. Der wahre Kern der Religion wird Aristoteles zufolge mit der Zeit durch mythische Erzählungen überlagert. Diese mythischen Erzählungen zeichnen die Götter als Menschen oder, wie etwa in Ägypten, als andere Lebewesen. Diese mythische Überlagerung des wahren Kerns geschieht aus zweierlei Gründen, die beide jeweils die meisten Menschen überzeugen sollen. Der erste Grund ist, dass die Gesetze eingehalten werden, der zweite ist der allgemeine Nutzen. Aristoteles greift an dieser Stelle Argumente aus einer religionskritischen Diskussion auf. Prodikos von Keos, ein Zeitgenosse von Sokrates, hat beispielsweise behauptet, dass die Menschen alles, was ihnen von Nutzen ist, für Götter halten. So wird der Wein, das Wasser, das Brot usw. zu einem Gott oder einer Göttin.183 Im so genannten Sisyphosfragment, das vielleicht aus einem Drama von Euripides stammt oder auf Kritias, den Onkel Platons und dem brutalsten der 30 Tyrannen, zurückgeht, sagt der Autor, die Götter seien von einem klugen Politiker erfunden worden, damit sich die Bürger aus Angst vor der Strafe der Götter an die Gesetze hielten. Dass Aristoteles nicht einfach bestimmte religiöse Überzeugungen der Tradition uneingeschränkt für richtig hält, wird daran deutlich, dass sich die traditionelle Auffassung, die Himmelskörper selbst seien Götter, von der im siebten Kapitel entwickelten Auffassung, dass das erste unbewegte Prinzip Gott ist, unterscheidet. Das, was man Aristoteles zufolge gerechtfertigt als Götter ansehen könnte, sind also nicht die Himmelskörper selbst, sondern die 55 unbewegten Beweger der Himmelssphären.
Kapitel 9 Die Vernunft und ihre Objekte 1. Der Text „(9.1) [1074b15] In Bezug auf die Vernunft aber gibt es einige Probleme. Sie gilt zwar als das Göttlichste von allen Phänomenen, inwiefern aber und durch welche Eigenschaft sie dies sei, ist schwierig anzugeben. (9.2) [b17] (9.2.1) Denn wenn sie nichts denkt, worin bestünde dann ihre Erhabenheit, denn sie verhält sich dann ja wie jemand, der schläft? (9.2.2) [b18] Wenn sie jedoch denkt, dieses aber durch etwas anderes bestimmt ist, so wäre sie nicht die beste ousia, da das, worin ihre ousia besteht, dann nicht Denken als Tätigkeit, sondern nur das Vermögen dazu ist. Denn durch das Denken kommt ihr die Würde zu. (9.2.3) [b21] (i) Ferner, mag nun Vernunft oder die Vernunfttätigkeit ihr Wesen (ousia) sein, was denkt sie denn? Entweder doch sich selbst oder etwas anderes, und wenn etwas anderes, dann entweder immer dasselbe oder Verschiedenes. (ii) Macht es nun einen Unterschied oder keinen, ob man das Schöne oder ob man das erste beste erfasst? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es ganz unpassend wäre, manches zum Gegenstand des Erkennens zu machen? Offensichtlich denkt sie nun das, was das Göttlichste und Würdigste ist und was sich nicht verändert, denn die Veränderung würde zum Schlechteren gehen, und dies würde schon eine Art Bewegung sein. (9.2.4) [b28] (i) Erstens nun, wenn sie nicht Vernunfttätigkeit ist, sondern nur eine Möglichkeit , so gibt es gute Gründe zur Annahme, dass die Kontinuität der Vernunfttätigkeit für sie schwierig wäre. (ii) Ferner ist offensichtlich, dass etwas anderes würdiger wäre als die Vernunft, nämlich das, was gedacht wird. Denn das Denken (to noein) und die Vernunfttätigkeit (hē noēsis) wird auch dem zukommen, der das Schlechteste denkt, so dass, wenn nun dies zu vermeiden ist (wie es ja auch besser ist, manches nicht zu sehen, als es zu sehen), die Vernunfttätigkeit nicht das Beste sein könnte. (iii) Sich selbst also denkt sie, wenn sie denn das Beste ist, und das Denken ist des Denkens Denken (noēsis noēseōs noēsis). (9.3) [b35] (9.3.1) Nun scheint es aber doch so zu sein, dass die Wissenschaft, die Sinneswahrnehmung, die Meinung und das Verstehen immer etwas anderes zum Objekt haben, sich selbst aber nur nebenbei. Ferner, wenn das Denken und das Gedachtwerden verschieden sind, in Beziehung auf welches von beiden kommt ihr das Gute zu? Denn
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das Sein der Vernunfttätigkeit und des Gedachtwerdens ist ja nicht dasselbe. (9.3.2) [b38] Aber ist es nicht so, dass bei manchen ja die Wissenschaft das Objekt ist, so bei den hervorbringenden Wissenschaften die ousia und das ,Was es heißt, dies zu sein‘ ohne Materie, und bei den theoretischen Wissenschaften der Begriff (logos) und die Vernunfttätigkeit? Da also das Gedachte und die Vernunft nun nicht verschieden sind bei allem, was keine Materie hat, so wird es dasselbe sein, und die Vernunfttätigkeit mit dem Objekt der Vernunft ein einziges. (9.4) [1075a5] Ferner bleibt nun noch ein Problem übrig: ob das Gedachte zusammengesetzt ist; denn es würde ja dann in den Teilen des Ganzen einer Veränderung unterworfen sein. Aber ist es nicht vielmehr so: Alles, was keine Materie hat, ist unteilbar; wie sich also die menschliche Vernunft, d. h. die auf das Zusammengesetzte gerichtet ist, in einer gewissen Zeit verhält (denn sie hat nicht in diesem oder in jenem Teile das Gute, sondern im Ganzen das Beste, welches etwas anderes ist ), so verhält sich diejenige Vernunfttätigkeit, die sich selbst , die ganze Ewigkeit hindurch?“
2. Überblick Das Thema des neunten Kapitels wird gleich zu Beginn des Kapitels genannt. In Bezug auf die Vernunft gibt es einige Probleme. Die Probleme, so wird uns erklärt, entstehen dadurch, dass die Vernunft zwar als das Göttlichste aller Phänomene angesehen werde, es aber schwierig sei, genau zu bestimmen, inwiefern und durch welche Eigenschaften ihr diese Stellung zukomme. Die Auffassung, die Vernunft sei das Göttlichste von allen Phänomenen, d. h. von allen Dingen, mit denen wir in unserer Wirklichkeit vertraut sind, ist eine Auffassung, die Aristoteles zufolge offenbar von allen Menschen (zumindest wohl von denjenigen, die sich ein wenig Gedanken über diese Dinge machen) geteilt wird. Wir können das neunte Kapitel u. a. als eine Klärung dieser Annahme verstehen. Etwas unklar ist, was mit dem Superlativ ,das Göttlichste‘ genau gemeint ist. Es ist einerseits auffällig, dass Aristoteles im neunten Kapitel auch andere Superlative gebraucht, um die besondere Stellung der Vernunft auszudrücken; so spricht er beispielsweise auch davon, die Vernunft sei das Würdigste oder das Beste. In der Tat gebraucht man das Adjektiv ,göttlich‘ im Griechischen oft, um den besonderen Wert von etwas auszudrücken, ohne dabei einen Zusammenhang mit Gott und den Göttern herstellen zu wollen. In diesem Sinn gäbe es keinen Bedeutungsunterschied zwischen ,das Göttlichste‘, ,das Würdigste‘ oder ,das Beste‘. Andererseits mag es aber auch kein bloßer Zufall
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sein, dass Aristoteles zu Beginn des Kapitels ausgerechnet davon spricht, dass die Vernunft das Göttlichste ist. Erstens wissen wir ja bereits aus dem siebten Kapitel, dass die erste ousia, insofern sie die Vernunft ist, identisch mit Gott ist. So liegt es nahe anzunehmen, dass die Fragestellung vor allem auch die göttliche Vernunft, d.h. die Vernunfttätigkeit der ersten ousia, betrifft. Zweitens wird sich zeigen, dass die menschliche Vernunft, insofern sie Vernunfttätigkeit ist, ,göttlich‘ genannt werden kann, weil Gott selbst Vernunfttätigkeit ist. Die Spannung zwischen der Frage danach, wie wir verstehen können, dass die menschliche Vernunft das Göttlichste ist, und der Frage danach, wie die Vernunft Gottes zu verstehen ist, durchzieht das neunte Kapitel. Diese Tatsache ist nicht erstaunlich, denn bereits in (7.5) ist deutlich geworden, dass Aristoteles die Vernunft Gottes im Vergleich mit der menschlichen Vernunft diskutiert. Entscheidend ist aber, dass das neunte Kapitel nicht vor allem die Frage nach der Vernunft Gottes klärt, sondern klärt, warum und wie die menschliche Vernunft das Beste sein kann. Die Frage nach der Vernunft Gottes ist also in einen umfassenderen Fragenkontext eingebettet. Die Aufgabe und das Ziel des neunten Kapitels bestehen demzufolge darin, eine Untersuchung über die menschliche Vernunft so zu führen, dass dabei auch deutlich wird, wie wir die Vernunft Gottes verstehen können. Weil es, wie im siebten Kapitel bereits deutlich geworden ist [vgl. (7.5)] keinen kategorialen Unterschied zwischen der menschlichen und der göttlichen Vernunft gibt, können wir diese Untersuchung weitgehend so führen, dass wir die menschliche Vernunft untersuchen. Die Untersuchung der menschlichen Vernunft und dessen, was an ihr göttlich ist, führt zu einer Klärung der Vernunft Gottes bzw. der Vernunfttätigkeit der unbewegten ousiai. Diese Feststellung ist wichtig, weil das neunte Kapitel manchmal als eine Abhandlung missverstanden worden ist, in der es ausschließlich um das Denken des ersten Prinzips bzw. das Denken Gottes geht.184 Man hat angenommen, dass das siebte Kapitel die Existenz eines obersten Prinzips, nämlich Gott beweist, das achte Kapitel ein späterer Einschub ist, der mit dem ursprünglichen Projekt von Lambda der Sache nach nicht verbunden ist, und das neunte Kapitel die Besonderheit der Vernunft Gottes klärt. Es geht Aristoteles aber nicht ausschließlich darum, das Denken Gottes zu untersuchen, sondern eine Untersuchung über die Vernunft zu führen, die aber mit Blick darauf geleistet wird, die göttliche Vernunft zu verstehen.185 Die Besonderheit des neunten Kapitels besteht gerade darin, dass einerseits zwar klarer wird, was es bedeutet, dass die erste ousia sich selbst denkt. Ihr Denken ist ein Denken des Denkens. Andererseits erläutert Aristoteles diese Formel aber dadurch, dass er zeigt, wann und inwiefern das menschliche Denken ein Denken des Denkens ist. Sich selbst zu den-
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ken ist also nichts, was für die Vernunft Gottes spezifisch ist, sondern etwas, was für die Vernunft allgemein gilt, insofern sie das Beste ist, d. h. insofern sie nicht als ein Vermögen, sondern als aktualisierte Vernunft d.h. als Vernunfttätigkeit verstanden wird. Ferner lassen sich manche Abschnitte des neunten Kapitels überhaupt nicht verstehen, wenn wir sie im Kontext einer Untersuchung der Vernunft der ersten ousia interpretieren wollten. So wäre beispielsweise ganz unverständlich, warum Aristoteles überhaupt erwähnt, dass die Vernunft auch etwas ist, das der Möglichkeit nach existieren kann. In der Tat existiert die Vernunft bei uns Menschen auch der Möglichkeit nach, denn die menschliche Vernunft ist nicht immer aktualisiert; dass die erste ousia aber wirkliche Tätigkeit ohne jede Möglichkeit ist, wissen wir bereits seit dem sechsten Kapitel. Wenn wir das neunte Kapitel als eine Untersuchung der Vernunft Gottes lesen, wäre die Annahme, die Vernunft könne der Möglichkeit nach existieren, also ganz unverständlich. Das Kapitel lässt sich in vier Teile gliedern. Es beginnt mit der Ankündigung, dass es in Bezug auf die Vernunft Probleme gibt, weil unklar ist, wie ihre Göttlichkeit erklärt werden kann (9.1). Im zweiten Teil (9.2) werden die Probleme entfaltet. Das Hauptproblem besteht darin, dass das Denken ein Objekt braucht. Wie müssen wir den Zusammenhang zwischen dem Denken und dem Gedachten verstehen, ohne die These aufgeben zu müssen, dass das Denken, d. h. die Vernunfttätigkeit, die erste ousia sein kann? Dieses Problem wird schließlich mit der berühmten Formel gelöst, das Denken sei Denken des Denkens. Die Formel selbst gibt zu zwei Fragen Anlass, die in (9.3) diskutiert werden. Man kann erstens fragen, wie es möglich sein soll, dass sich das Denken selbst denkt, weil das Denken, so Aristoteles, doch immer etwas anderes als Objekt hat und sich selbst nur nebenbei denken kann. Die zweite Frage ist, ob dem Denken oder dem Gedachten das Gute zukommt, denn zumindest begrifflich lässt sich ja das Denken vom Gedachten unterscheiden. Die zweite Frage wird nicht unmittelbar beantwortet. Auf die erste Frage antwortet Aristoteles mit einer Differenzierung: Es ist zwar richtig, dass es Fälle gibt, in denen die Vernunft sich nur nebenbei denkt; es gibt aber auch Fälle, in denen die Vernunft sich selbst als ihr eigenes Objekt denkt, nämlich dann, wenn man über Objekte der theoretischen Wissenschaften nachdenkt. Das Kapitel schließt mit einer Erörterung der Frage, ob das Objekt des Denkens zusammengesetzt ist oder nicht (9.4). Ein Wort noch zur Übersetzung. Aristoteles unterscheidet im neunten Kapitel zwischen dem Substantiv ,nous‘, dem Verb ,noein‘ und dem Substantiv ,noēsis‘. Das Substantiv ,nous‘ wird mit ,Vernunft‘ übersetzt. Ein Problem für die Übersetzung des Verbs ,noein‘ ist, dass wir im Deutschen kein Verb zum Substantiv ,Vernunft‘ bilden können. Wir müssen dafür auf das
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Wort ,denken‘ ausweichen.186 Der Nachteil an der Übersetzung von ,noein‘ mit ,denken‘ ist, dass der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Substantiv ,Vernunft‘ und dem Verb ,denken‘ im Deutschen nicht so deutlich werden kann, wie es im Griechischen zwischen ,nous‘ und ,noein‘ möglich ist. Das Substantiv ,noēsis‘ bezeichnet durch das Suffix ,-sis‘ die Tätigkeit, in der sich etwas befindet; von daher bietet es sich an, ,noēsis‘ mit ,Vernunfttätigkeit‘ zu übersetzen. An einigen Stellen ist diese Übersetzung aber außerordentlich umständlich,187 so dass wir ,noēsis‘ manchmal auch mit ,Denken‘ übersetzen. 3. Interpretation (9.1) Das Problem, das Aristoteles im neunten Kapitel diskutieren wird, ist im ersten Satz genannt. Zwar ist die Vernunft unter allen Phänomenen, d. h. unter allen Dingen, mit denen wir in unserer Wirklichkeit vertraut sind,188 das Göttlichste, aber es ist unklar, wie und aufgrund welcher Eigenschaften sie es ist. Dass die Vernunft ,das Göttlichste‘ genannt wird, bedeutet nicht nur, dass im folgenden die Vernunft Gottes oder die Vernunft der Götter untersucht wird (s. o.). Aristoteles möchte vielmehr auch verstehen, warum der menschlichen Vernunft dieser besondere Wert zukommt. Damit knüpft Aristoteles an das siebte Kapitel an [vgl. (7.5.2)], denn auch dort wurde die Vernunfttätigkeit als die bestmögliche Tätigkeit, die die erste ousia, d.h. Gott ausführt, beschrieben.189 (9.2) Alle Probleme, die im Folgenden diskutiert werden um zu verstehen, wie es möglich ist, dass die Vernunft das Göttlichste sein kann, betreffen das Verhältnis der Vernunft zu dem Objekt der Vernunft. Wenn jemand denkt, dann denkt er stets etwas. Die entscheidende Frage ist, wie sowohl die Vernunft als auch das Objekt der Vernunft bestimmt werden müssen, damit deutlich wird, dass der Vernunft (und nicht dem Objekt der Vernunft) der höchste Wert zukommt. Der Abschnitt (9.2) ist kompliziert gegliedert. Unsere Erwartung, dass wir deutlich zwischen den Problemen und den zu den jeweiligen Problemen gehörigen Lösungen unterscheiden können, wird an manchen Stellen enttäuscht. Das bedeutet nicht, dass die Probleme nicht tatsächlich gelöst werden. Es bedeutet lediglich, dass die Struktur des Kapitels und vor allem des vorliegenden Abschnitts nicht so gradlinig ist, wie es ein oberflächlicher Blick auf das Kapitel vielleicht erwarten lässt. Ein Grund dafür besteht darin, dass sich ein Problem manchmal nur deswegen stellt, weil man ein falsches Verständnis davon hat, wie sich die Dinge eigentlich verhalten. Das richtige Verständnis der Göttlichkeit der Vernunft impliziert gleichzeitig ein Verständnis dafür, dass sich bestimmte Fragen nur aufgrund von falschen Voraussetzungen überhaupt gestellt haben.
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(9.2.1) In (9.2.1) und (9.2.2) unterscheidet Aristoteles zwei Fälle voneinander. Der erste, in (9.2.1) diskutierte Fall ist, dass die Vernunft nichts denkt. Der zweite, in (9.2.2) diskutierte Fall ist, dass die Vernunft (etwas) denkt. Warum Aristoteles überhaupt den ersten Fall diskutiert, ist nicht ganz deutlich. Vielleicht meint Aristoteles, es könnte jemand behaupten, dass sich das Problem, das er im neunten Kapitel diskutiert, gar nicht stellt. Die Göttlichkeit der Vernunft sei ganz unabhängig von irgendeinem Objekt. Die Vernunft sei an sich, ohne ein Objekt, göttlich. Sie müsse nichts denken, um göttlich zu sein. Von daher stelle sich die Frage gar nicht, ob und inwiefern der Wert der Vernunft von einem Objekt der Vernunft abhänge. Aristoteles macht deutlich, dass er diese Möglichkeit ausschließt. Wenn die Vernunft kein Objekt hat, dann ist sie schlicht nicht aktualisiert, d.h. sie ist mit der Vernunft eines Menschen zu vergleichen, der schläft und dessen Vernunft nur der Möglichkeit nach existiert. Es ist aber ausgeschlossen, die nicht aktualisierte Vernunft als etwas Göttliches zu verstehen. (9.2.2) Durch (9.2.1) ist deutlich geworden, dass wir, um die Göttlichkeit der Vernunft zu verstehen, davon ausgehen müssen, dass die Vernunft etwas denkt, weil nur die aktualisierte Vernunft etwas Göttliches sein kann. Mit der Annahme eines Objekts des Denkens sind aber drei Probleme verbunden, die Aristoteles in den nächsten Abschnitten diskutiert. Das erste Problem wird in (9.2.2), das zweite in (9.2.3)(i), das dritte in (9.2.3)(ii) aufgeworfen. Das erste Problem lässt sich am Beispiel der Wahrnehmung, des Sehens, veranschaulichen [vgl. auch (9.2.4)(ii)].190 Jemand, der die Fähigkeit hat zu sehen, ist dafür, dass er wirklich sieht, u. a. darauf angewiesen, dass es ein Objekt gibt, das er sehen kann. Das Objekt aktualisiert seine Fähigkeit. Damit aber ist das Sehen als wirkliche Tätigkeit von etwas anderem, dem Objekt nämlich, abhängig. Ebenso wäre es beim Denken. Die Aktualisierung des Denkens wäre von einem Objekt des Denkens abhängig. Damit wäre aber ausgeschlossen, dass die Vernunft die beste ousia ist, weil sie abhängig von etwas anderem, nämlich dem Objekt des Denkens wäre. Als ein möglicher Kandidat für die beste ousia käme dann das Objekt des Denkens, aber nicht das Denken selbst in Frage. (9.2.3) Der folgende Abschnitt besteht aus zwei Teilen. In (i) wird eine Frage aufgeworfen, in (ii) wird die Frage in gewisser Weise beantwortet. Die Tatsache, dass (ii) die Frage in gewisser Weise beantwortet, ist irritierend, wenn man sich den ersten Satz des Abschnitts (9.2.4) anschaut: Er beginnt in (9.2.4) (i) mit dem Wort ,Erstens‘, und ein paar Zeilen später, zu Beginn von (9.2.4) (ii), steht ,ferner‘. Eigentlich würden wir durch diese Signalwörter erwarten, dass bis zum Abschnitt (9.2.4) nur Probleme aufgelistet werden, die dann mit dem Abschnitt (9.2.4) einer Lösung zugeführt
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werden.191 Der Aufbau von (9.2.3) ist aber komplizierter, denn (ii) beantwortet zum Teil, aber nicht vollständig, bereits die Frage, die in (i) aufgeworfen worden ist. Dass (ii) die in (i) aufgeworfene Frage nicht vollständig beantwortet, liegt daran, dass die Lösung in (ii) eine neue Frage aufwirft, die erst in (9.2.4) beantwortet wird. (i) Selbst dann, wenn man erst einmal offenlässt, ob mit der Vernunft lediglich das Vermögen gemeint ist, oder [was in (9.2.2) bereits nahe gelegt worden ist] mit der Vernunft die Vernunfttätigkeit gemeint ist, entsteht ein zweites Problem. Wie muss das Objekt des Denkens inhaltlich näher bestimmt werden? Entweder denkt die Vernunft sich selbst oder etwas anderes. Wenn sie etwas anderes denkt, dann denkt sie entweder immer dasselbe oder Verschiedenes. (ii) Aristoteles’ Antwort auf die Unterscheidungen in (i) scheint zunächst klar zu sein: Die Vernunft oder die Vernunfttätigkeit denkt immer dasselbe, denn das, was die Vernunft denkt, verändert sich nicht. Das, was sie denkt, wird näher charakterisiert: Sie denkt das Göttlichste und Würdigste, und dieses muss ohne Veränderung sein. Damit scheint es zunächst so, dass das in (i) aufgeworfene Problem gelöst worden ist. Ob die Vernunft allerdings sich selbst denkt oder etwas anderes denkt, ist explizit damit noch nicht entschieden. Aufgrund der in (i) getroffenen Unterscheidungen wird man zwar annehmen, dass die Vernunft etwas anderes denkt, denn der Fall, dass die Vernunft immer dasselbe denkt, ist ein Unterfall des Falles, dass die Vernunft etwas anderes denkt. Die Behauptung in (ii), die Vernunft denke das Göttlichste und Würdigste, und zwar ohne Veränderung, ist aber dennoch offen für die Auffassung, dass die Vernunft sich selbst zum Objekt hat. Die Charakterisierung des Objektes der Vernunft als das Göttlichste und Würdigste wirft allerdings ein drittes Problem auf: Wenn es wirklich stimmen sollte, dass die Vernunft oder die Vernunfttätigkeit etwas anderes denkt, dann haben wir auf einmal zwei Dinge, die jeweils das Göttlichste und Würdigste sind: Erstens die Vernunft selbst. Dass sie das Göttlichste unter allen Phänomenen ist, ist seit dem Beginn des neunten Kapitels vorausgesetzt. Zweitens aber das Objekt der Vernunft, das ebenso wie die Vernunft oder die Vernunfttätigkeit charakterisiert wird: Nicht nur ist das Objekt das Göttlichste und Würdigste, sondern es kann auch keiner Veränderung unterliegen. Wie verhalten sich diese beiden Dinge, die Vernunft und das Objekt der Vernunft zueinander? Stimmt unsere ursprüngliche Annahme, dass die Vernunft tatsächlich etwas anderes denkt? Aber wenn nicht, was soll es dann heißen, dass die Vernunft immer nur dasselbe oder sich selbst denkt? (9.2.4) Der folgende Abschnitt führt nicht nur das zweite [vgl. (9.2.3)(i)] und dritte [vgl. (9.2.3)(ii)] Problem, sondern auch die bereits skizzierten
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Lösungsansätze zusammen. Ganz entscheidend für ein Verständnis der Antwort ist, dass nicht mehr von der Vernunft, sondern von der Vernunfttätigkeit, oder, wie ,noēsis‘ im folgenden auch übersetzt wird, vom Denken die Rede ist. Der Schlüssel zur Lösung der Probleme liegt darin, dass man die Vernunft nicht als Vermögen, sondern als Tätigkeit der Vernunft versteht. Die menschliche Vernunft ist nicht göttlich, insofern sie ein Vermögen ist, sondern insofern sie als Aktualität, als wirkliche Tätigkeit existiert. Als aktualisierte Vernunft, d. h. als Vernunfttätigkeit unterscheidet sich die menschliche Vernunft nicht prinzipiell von der göttlichen Vernunft. Nur insofern die menschliche Vernunfttätigkeit immer auch als Aktualisierung eines Vermögens verstanden werden kann, unterscheidet sich die menschliche Vernunft von der göttlichen Vernunft, denn die göttliche Vernunft ist kein aktualisiertes Vermögen, sondern immer aktualisiertes Denken. Damit präzisiert das neunte Kapitel das, was Aristoteles im siebten Kapitel [vgl. (7.5.2)] bereits ausgeführt hat. Das neunte Kapitel macht deutlich, was damit gemeint ist, dass die Vernunft und das Objekt der Vernunft dasselbe sind. Diese Identität lässt sich nur dann richtig verstehen, wenn man dabei die Vernunft als Tätigkeit der Vernunft bestimmt. (i) Aristoteles sagt nicht ausdrücklich, welche guten Gründe er anführen würde, die die Kontinuität der Vernunft schwierig machen, falls wir die Vernunft nicht als Vernunfttätigkeit, sondern nur als ein realisiertes Vermögen verstehen würden. Zur Interpretation wird man wohl auf die Argumentation im sechsten Kapitel zurückgreifen können [vgl. (6.2)]. Um die Kontinuität der ewigen Kreisbewegung zu erklären, wurde dort für eine ousia argumentiert, die sich ausschließlich in wirklicher Tätigkeit befindet, ohne dass die wirkliche Tätigkeit als eine Verwirklichung einer ontologisch ursprünglicheren Möglichkeit verstanden werden durfte. Analog dazu wird man das Argument in (i) verstehen können: Die Vernunfttätigkeit darf nicht als Verwirklichung einer Möglichkeit verstanden werden, weil die geforderte Kontinuität der Tätigkeit sonst nicht gewährleistet wäre. Dass die Vernunfttätigkeit, und zwar diejenige des ersten Prinzips bzw. die aller unbewegten ousiai, kontinuierlich sein muss, ist im siebten Kapitel dargestellt worden [vgl. (7.5.1)]. (ii) Die Schwierigkeit des Abschnittes besteht darin, dass zunächst unklar ist, für welchen Fall gilt, dass das, was gedacht wird, der Vernunft selbst an Wert überlegen wäre. Der Fall ist offenbar folgender: Wenn wir ohne eine genauere Bestimmung nur von der Vernunft sprechen, dann hängt der Wert des Denkens an dem Wert des Objekts des Denkens. Aristoteles’ Vergleich zwischen Denken und Sehen lässt sich leicht nachvollziehen. Ob es beispielsweise wert ist, seine Zeit mit Fernsehen zu verbringen, hängt von der Qualität des Films ab, der gezeigt wird. Ebenso ist es mit der Ausübung der Vernunft: Wenn wir beispielsweise lauter fal-
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sche Dinge über Lambda dächten, dann hätte das Denken selbst keinen großen Wert. Wir brauchen also einen qualifizierten Begriff der Vernunfttätigkeit, wenn wir verstehen wollen, warum die Vernunfttätigkeit das Beste ist. Nur diejenige Vernunfttätigkeit ist die beste, die das beste Objekt denkt. (iii) Wenn nur diejenige Vernunfttätigkeit die beste ist, die das beste Objekt denkt, dann ist nur ein Fall möglich: Die Vernunfttätigkeit muss sich selbst denken. So kommt Aristoteles zu der berühmten Formel, dass das Denken ein Denken des Denkens ist. Wie diese Formel zu interpretieren ist, ist umstritten. Vor allem ist umstritten, welche Konsequenz für die erste ousia aus dieser Formel zu ziehen ist: Ist die erste ousia nichts anderes als ein Narziss, der selbstreflexiv und selbstreferentiell in seinem Denken nur um sich selbst kreist, weil er nichts als sich selbst zum Objekt hat,192 oder hat die erste ousia auf eine bestimmte Weise ein Wissen um die Welt? Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, dass das Denken des Denkens nicht selbstreferentiell verstanden werden darf. Nur dann, wenn das neunte Kapitel mit der Formel, dass das Denken ein Denken des Denkens ist, abgeschlossen wäre, könnte man vielleicht vermuten, dass das Denken des Denkens selbstreferentiell verstanden werden müsse. Man könnte meinen, dass der Beginn von (iii), die Behauptung also, dass die Vernunfttätigkeit sich selbst denkt, wenn sie denn das Beste ist, eine starke Begründung dafür sei, eine tatsächliche Selbstreflexion der Vernunft anzunehmen: Da die Vernunfttätigkeit das Beste sei und nur das denken könne, was das Beste sei, müsse sie sich selbst denken. Zwei Gründe lassen sich gegen diese Interpretation anführen. Erstens ist uns die Behauptung, dass die Vernunft sich selbst denkt, bereits aus dem siebten Kapitel bekannt [vgl. (7.5.2)] und wird dort auf eine Weise erläutert, die die Vorstellung einer Selbstreflexion kaum aufkommen lässt. Die Vernunft wird dort als ein aufnehmendes Vermögen für die Objekte der Vernunft charakterisiert, und die Formel, dass die Vernunft sich selbst denkt, wird damit erläutert, dass die Vernunft das Objekt der Vernunft berührt und ergreift. Die Vernunft und ihr Objekt sind dasselbe, weil die Vernunft zu einem Objekt der Vernunft wird, indem sie es berührt und denkt. Was immer diese Aussagen im Detail bedeuten, es erscheint so, dass Aristoteles die Behauptung, die Vernunft denke sich selbst, nicht im Sinne eines Selbstbezugs verstanden wissen will.193 Zweitens ist zu beachten, dass das Kapitel nicht mit der berühmten Formel endet. In den folgenden zwei Abschnitten (9.3.1) und (9.3.2) wird ein Einwand diskutiert, der zeigen soll, dass das Denken unmöglich sich selbst als Objekt haben kann. Dieser Einwand wird widerlegt, indem Aristoteles nachweist, dass das Denken des Denkens etwas ist, was u. a. dann vor-
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kommt, wenn wir über Objekte der theoretischen Wissenschaft nachdenken. Auch wenn die Widerlegung des Einwandes im Detail schwer zu verstehen ist, so ist doch die Intention von Aristoteles hinreichend klar: Er möchte zeigen, dass wir immer dann vom Denken des Denkens sprechen können, wenn das Denken sich auf Objekte der theoretischen Wissenschaft richtet. Damit gilt aber auch für die erste ousia, dass ihr Denken des Denkens nicht als ein Selbstbezug verstanden werden darf, sondern als ein Denken, das u. a. Objekte der theoretischen Wissenschaft denkt. Der Unterschied zwischen menschlichem Denken und dem Denken Gottes besteht nicht darin, dass das Denken Gottes kategorial vom menschlichen Denken unterschieden ist, sondern darin, dass Gott das, was wir nur kurze Zeit können, ewig kann: Die Objekte der theoretischen Wissenschaft bzw. genauer, alle Formen, denken. (9.3) (9.3.1) Mit der Formel, dass das Denken des Denkens Denken ist, sind zwei Probleme verbunden, die Aristoteles in (9.3.1) diskutiert. Erstens könnte man einwenden, dass das Denken in keinem Fall nur sich selbst als Objekt haben kann. Die Formel, so könnte man einwenden, sei unsinnig: Die Fälle von wissenschaftlicher Erkenntnis, Sinneswahrnehmung, Meinung und Verstehen zeigten klar, dass man immer etwas anderes weiß (im Fall der Wissenschaft), wahrnimmt (im Fall der Sinneswahrnehmung), meint oder versteht. Bei der Formulierung dieses Einwandes ist auffällig, dass Aristoteles nicht von der Vernunft bzw. vom Denken spricht. Der Einwand besteht nicht darin, dass es kein Denken des Denkens geben kann, sondern darin, dass die Formel vom Denken des Denkens unplausibel ist, weil in anderen Fällen (wissenschaftliche Erkenntnis, Sinneswahrnehmung, Meinung, Verstehen) das Objekt verschieden ist von der Erfassung des Objekts. Zweitens: Da man ja auch in der Formel ,das Denken ist Denken des Denkens‘ immer noch zwischen Denken und Gedachtwerden unterscheiden kann, stellt sich die Frage, ob das Gute der Vernunft durch das Denken oder das Gedachtwerden zukommt. Es ist auffällig, dass Aristoteles im folgenden die erste der beiden Fragen beantwortet, aber die zweite unbeantwortet lässt. Vielleicht hat er die Antwort auch nicht in sein Manuskript aufgenommen, weil sie relativ klar und einfach ist. Wenn die Vernunft sich selbst denkt, dann stellt sich nicht mehr das Problem, in welcher Beziehung ihr das Gute194 zukommt. Die Vernunfttätigkeit ist das Beste und hat das Beste als Objekt. (9.3.2) Aristoteles antwortet auf den ersten Einwand mit einer Gegenfrage: Es sei doch so, dass die Wissenschaft bei manchen Dingen das Objekt selbst ist; insofern sei in diesen Fällen das Objekt der Vernunft nicht von der Vernunft unterschieden und man könne sagen, dass die Vernunfttätigkeit und das Objekt der Vernunft identisch seien.
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Bei den von Aristoteles erwähnten hervorbringenden Wissenschaften können wir beispielsweise an die Architektur denken. Ein Architekt denkt über Dinge, z. B. Häuser nach, die auf Materie bezogen sind, weil es konkrete Häuser nur als materielle Häuser gibt. Wir haben im Zusammenhang mit dem dritten Kapitel bereits bedacht, dass die Form des Hauses als ein und dieselbe Sache in zwei Weisen existiert. Sie existiert zum einen in einem fertig gebauten Haus, zum anderen aber in der Seele, genauer in der Vernunft des Architekten. Die Form des Hauses in der Seele des Architekten ist das Wissen, das der Architekt vom Hausbau hat. Das Objekt des Wissens, die Form des Hauses, ist also nicht unterschieden von dem Wissen, das in der Tätigkeit der Vernunft aktualisiert ist. Insofern wir also davon absehen, dass ein Haus als Einzelding stets an Materie gebunden ist, und wir nur die Form des Hauses betrachten, ist die Vernunft mit dem Objekt der Vernunft identisch. Diese Identität ist noch unproblematischer in den Fällen der theoretischen Wissenschaften, weil die Objekte der theoretischen Wissenschaften nicht auf materielle Dinge bezogen sind. Wer beispielsweise über die erste ousia nachdenkt, der denkt über etwas nach, das existiert, ohne eine Materie zu haben. Diese Objekte werden von Aristoteles nun zweifach bestimmt. Einmal als Begriff (logos), zum anderen als Vernunfttätigkeit. Diese Bestimmung allein beantwortet schon den Einwand, denn wenn es eine Form des Denkens gibt, die als Objekt die Tätigkeit des Denkens selbst hat (i.e. die Vernunfttätigkeit), dann ist die Behauptung der Identität zwischen dem Denken und dem Objekt des Denkens begründet. Die erste ousia würde einer solchen Interpretation nach die Tätigkeit des Denkens sein, die darin besteht, alle Formen zu denken. Die 55 unbewegten ousiai sind keine einsamen Narzissten, sondern Vernunfttätigkeiten, die alle Formen denken. (9.4) Die in (9.3.2) entwickelte Auffassung von der Identität der Vernunfttätigkeit mit ihrem Objekt führt zu folgendem abschließend diskutierten Problem195: Wenn man wie Aristoteles erstens behaupten möchte, dass die Vernunfttätigkeit mit ihren Objekten in den theoretischen Wissenschaften identisch ist, und wenn man zweitens daran festhalten möchte, dass diese Vernunfttätigkeit zumindest im Fall der unbewegten ousiai ohne jede Veränderung ist, dann können die Objekte, die die ousiai denken, sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit nicht zusammengesetzt sein. Wenn sie zusammengesetzt wären, dann würde sich die erste ousia selbst verändern: Sie würde mit je unterschiedlichen Objekten identisch werden, je nachdem, welches der Objekte sie gerade denkt. Die Lösung, die Aristoteles vorschlägt, besteht darin, dass man nur dann von Teilen von etwas sprechen kann, wenn das, was Teile hat, auch eine Materie hat [vgl. schon (8.6)]. Das, was die erste ousia denkt, hat aber
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keine Materie und insofern auch keine Teile. Anders als in den übrigen Passagen des neunten Kapitels fügt Aristoteles allerdings hinzu, dass in folgender Hinsicht ein Unterschied zwischen den ersten ousiai und der menschlichen Vernunft besteht: Die menschliche Vernunft richte sich auch auf Objekte, die zusammengesetzt seien.
Kapitel 10 Die Teleologie der Welt und die Probleme alternativer metaphysischer Ansätze 1. Der Text „(10.1) [1075a11] (10.1.1) Es ist aber auch zu erwägen, auf welche von beiden Weisen die Natur des Ganzen das Gute und das Beste hat, ob als etwas selbstständig Abgetrenntes und an sich Bestehendes, oder als die Ordnung . Oder ist es nicht vielmehr so, dass es auf beide Arten zugleich hat wie bei einem Heer? Denn liegt das Gute sowohl in der Ordnung als auch im Feldherrn, und in diesem in höherem Maße. Er ist nämlich nicht durch die Ordnung, sondern jene durch ihn. (10.1.2) [a16] Alles aber ist in gewisser, doch nicht in gleicher Weise zusammengeordnet, sogar das, was schwimmt und fliegt, und Pflanzen; und es ist nicht so, dass das eine zum anderen in keiner Beziehung steht, sondern es besteht eine. Denn alles ist auf Eines hin zusammengeordnet, jedoch so, wie in einem Haushalt den Freien am wenigsten gestattet ist, etwas Beliebiges zu tun, sondern für sie ist alles oder doch das meiste geordnet, für die Sklaven hingegen und die Tiere nur weniges von dem, was auf das Allgemeine Bezug hat, während das meiste ihrem Belieben überlassen bleibt. In solcher Art nämlich ist die Natur eines jeden von ihnen Prinzip. Ich meine, dass beispielsweise ja alle Dinge zur Auflösung kommen müssen, und ebenso verhält es sich mit anderen Dingen, die alle gemeinsam verbunden zum Ganzen beitragen. (10.2) [a25] (10.2.1) In welche Unmöglichkeiten und Ungereimtheiten nun diejenigen geraten, welche anderer Ansicht sind, und in welche diejenigen, welche noch die angemesseneren Ansichten aufstellen, und bei welchen Ansichten sich die geringsten Schwierigkeiten ergeben, das darf nicht übersehen werden. (10.2.2) [a28] Alle nämlich machen alles aus konträren Gegensätzen. (i) Dabei haben sie weder darin recht, dass sie alles, (ii) noch darin, dass sie es aus Gegensätzen entstehen lassen, (iii) und wie dasjenige, bei dem sich Gegensätze finden, aus den Gegensätzen entstehen soll, erklären sie nicht; denn die Gegensätze sind unfähig eines von dem anderen eine Affektion zu erfahren. Für uns löst sich diese Schwierigkeit ganz natürlich durch die Annahme eines Dritten . (iv) Jene aber machen den einen von den beiden Gegensätzen zur Materie, wie das Ungleiche für das
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Gleiche, die Vielheit für die Einheit. Auch dies löst sich auf dieselbe Weise; denn die Materie hat für uns keinen Gegensatz. (v) Ferner würde danach alles am Schlechten teilhaben mit Ausnahme der Einheit; denn das Schlechte selbst ist das eine von den beiden Elementen. (vi) Die anderen aber setzen das Gute und das Schlechte nicht einmal als Prinzipien, und es ist doch unter allem am meisten das Gute Prinzip. (10.2.3) [a38] (i) Jene aber haben darin zwar recht, dass sie das Gute als Prinzip setzen, inwiefern es aber Prinzip ist, erklären sie nicht, ob nämlich als Ziel oder als Bewegendes oder als Form. (ii) Ungereimt ist auch die Ansicht des Empedokles; er setzt nämlich die Freundschaft als das Gute, und diese ist Prinzip sowohl als Bewegendes (denn sie verbindet), als auch als Materie, denn sie ist ein Teil der Mischung. Wenn es nun auch ein Akzidens desselben Dinges sein kann, sowohl materielles als auch bewegendes Prinzip zu sein, so ist doch Materie-sein und Bewegendes-sein nicht dasselbe. In welcher von beiden Bedeutungen also ist sie Freundschaft? (iii) Ungereimt ist es aber auch, dass der Streit unvergänglich sein soll; dieser ist ja für ihn die Natur des Schlechten. (iv) Anaxagoras aber setzt das Gute als bewegendes Prinzip, denn die Vernunft (nous) bewegt; aber sie bewegt wegen eines Ziels, so dass es verschieden ist, es sei denn, wie wir es sagen; denn die Heilkunst ist in gewissem Sinne die Gesundheit. (v) Ungereimt aber ist es auch, nicht etwas dem Guten und der Vernunft Entgegengesetztes anzunehmen. (10.2.4) [b11] Alle aber, die von Gegensätzen sprechen, benutzen die Gegensätze gar nicht, wenn man es nicht ordnet. (10.2.5) [b13] Und weshalb einiges vergänglich, anderes unvergänglich ist, erklärt keiner; denn sie lassen alles Seiende aus denselben Prinzipien entstehen. (10.2.6) [b14] Ferner lassen die einen die seienden Dinge aus dem Nichtseienden hervorgehen, die anderen setzen, um nicht hierzu gezwungen zu werden, alles als Eines. (10.2.7) [b16] Ferner, weshalb das Entstehen ewig sein soll und was die Ursache des Entstehens ist, erklärt keiner. (10.2.8) [b17] Und für die, welche zwei Prinzipien setzen, ergibt sich die Notwendigkeit, ein anderes Prinzip anzunehmen, dass höher ist, und so müssten auch die Anhänger der Ideen noch ein anderes höheres Prinzip setzen. Denn weshalb hatten oder haben denn die Dinge teil an den Ideen? (10.2.9) [b20] Und für die anderen ergibt sich die notwendige Folge, dass der Weisheit und der würdigsten Wissenschaft etwas entgegengesetzt sein muss, für uns aber nicht; denn dem Ersten ist nichts ein Gegensatz. Denn alle Gegensätze haben eine Materie und sind nur der Möglichkeit nach dieses ; die der Weisheit entgegen-
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gesetzte Unwissenheit würde also auf den Gegensatz gehen. Dem Ersten aber ist nichts entgegengesetzt. (10.2.10) [b24] Wenn nun außer den sinnlichen Dingen keine anderen existieren, so würde es kein Prinzip, keine Ordnung, kein Entstehen, keine Himmelsbewegungen geben, sondern immer würde für das Prinzip wieder ein anderes Prinzip sein, wie dies den Theologen und den Naturphilosophen widerfährt. Existieren aber die Ideen oder die Zahlen außer dem Sinnlichen, so sind sie Ursache von nichts oder doch nicht Ursache der Bewegung. Ferner, wie soll aus dem, was keine Größe hat, Größe oder Kontinuierliches hervorgehen? Die Zahl wird ja nichts Kontinuierliches hervorbringen, weder als Bewegendes noch als Form. (10.2.11) [b30] Aber auch von den Gegensätzen wird keiner hervorbringendes und bewegendes Prinzip sein; denn dann wäre es ja möglich, dass es nicht sei. Das Hervorbringen ist ja später als die Möglichkeit. Also würden die seienden Dinge nicht ewig sein. Sie sind aber ewig; also muss von diesen Behauptungen etwas aufgehoben werden. Wie dies, ist früher erklärt. (10.2.12) [b34] (i) Ferner, wodurch die Zahlen Eines sind oder die Seele und der Körper und überhaupt die Form und die Sache, darüber sagt niemand etwas; man kann es auch nicht, es sei denn, man sagt so wie wir es sagen, dass das Bewegende macht. (ii) Diejenigen aber, welche die mathematische Zahl als die erste ansehen, und so immer eine ousia nach der anderen, und für jedes andere Prinzipien setzen, machen die ousia des Ganzen unzusammenhängend, denn die eine ousia trägt durch ihr Sein oder Nichtsein nichts für die andere bei, und nehmen viele Prinzipien an. Die Dinge, die sind, möchten aber nicht schlecht beherrscht sein. ,Nimmer ist gut eine Vielherrschaft; nur Einer sei Herrscher!‘“ 2. Überblick Das zehnte Kapitel ist in zwei ganz unterschiedliche Teile gegliedert. Im ersten und kürzeren Teil (10.1) schließt Aristoteles seinen eigenen metaphysischen Entwurf ab. Er skizziert eine Teleologie, d. h. eine Wirklichkeitsauffassung, in der alles, was es gibt, auf ein Ziel (gr. telos) hin geordnet ist. Wir wissen aus dem siebten und achten Kapitel, dass die erste ousia die unmittelbare Bewegungs- und Zielursache der Sphäre des Fixsternhimmels ist. Vermittelt über die Bewegung dieser Sphäre ist die erste ousia auch die letzte Bewegungs- und Zielursache aller anderen Himmelssphären. Dass die erste ousia aber nicht nur letzte Ziel- und Bewegungsursache für die Himmelssphären sondern für alle Dinge im Universum ist, hat Aristoteles mehrfach angedeutet. So hieß es in (7.4.4) beispielsweise, dass
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von einem solchen ersten Prinzip der Himmel und die Natur abhänge, oder in (7.3.4), dass die erste ousia die Himmelssphäre und alle anderen Dinge bewege. Im ersten Teil des zehnten Kapitels werden diese Andeutungen nun entfaltet. Aristoteles zufolge strebt alles, was es gibt, nach der ersten ousia. Durch dieses Streben wird der gesamte Kosmos auf die erste ousia hin geordnet und zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt. Im zweiten Teil (10.2) zeigt Aristoteles, dass die Auffassungen, die er in Lambda entwickelt hat, den Auffassungen anderer Philosophen überlegen sind. Eine Schwierigkeit der Interpretation des zweiten Teils dieses Kapitels besteht darin, dass die einzelnen Kritikpunkte nicht immer deutlich voneinander unterschieden werden und manchmal unklar ist, ob ein bestimmter Satz der Beginn eines neuen Kritikpunktes ist oder die zuvor geäußerte Kritik abschließt. Klar ist nur, dass Aristoteles zunächst ankündigt zu diskutieren, welche Probleme sich anderen Auffassungen stellen (10.2.1), er dann ausführlicher auf die Probleme eingeht, die sich stellen, wenn man zwei oberste Prinzipien annimmt, die einander entgegengesetzt sind (10.2.2) und anschließend Schwierigkeiten diskutiert, die mit der Annahme verbunden sind, dass das oberste Prinzip das Gute ist (10.2.3). Die Abschnitte (10.2.4)–(10.2.12) wirken eher wie eine Liste weiterer Probleme, deren einzelne Punkte nicht direkt miteinander verbunden sind. Eine weitere Schwierigkeit in der Interpretation des zweiten Teils besteht darin, dass oft unklar ist, wen Aristoteles mit seiner Kritik treffen will; er spricht oft von ,jenen‘, von ,einigen‘ oder von ,anderen‘, ohne dass deutlich ist, wer gemeint ist. Des weiteren neigt Aristoteles trotz seiner im Detail scharfsinnigen und differenzierten Kritik zu Verallgemeinerungen und auch zu Polemik. So behauptet er beispielsweise, dass alle Philosophen alles aus Entgegengesetztem entstehen ließen. Philosophen wie Parmenides, die einen Monismus vertreten, werden sich berechtigterweise diese Kritik nicht zu eigen machen müssen (auch wenn die monistische Position, wie Aristoteles ausführen wird, zu anderen Schwierigkeiten führt).
3. Interpretation (10.1) (10.1.1) Aristoteles setzt mit der Frage ein, auf welche Art und Weise das gesamte Universum das Gute hat. Diese Frage mag zunächst überraschen, weil nicht gleich deutlich wird, warum sich Aristoteles diese Frage überhaupt im Kontext seiner Überlegungen im Buch Lambda stellt. Um deutlich zu machen, dass es ihm nicht darum geht, nach irgendeinem Guten zu fragen, sondern seine Frage auf die erste ousia zielt, die sich auf die beste Weise überhaupt verhält [vgl. (7.5)], fügt er erläuternd hinzu, dass er mit dem Guten das Beste meint. Damit kann nur die erste ousia
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gemeint sein. Dass die erste ousia mit dem Guten identifiziert werden kann, ist zudem ja bereits aus (7.3.2) bekannt. Die Frage danach, wie das Gute im Universum ist, ist also die Frage danach, wie die erste ousia im Universum ist. Im ersten Satz von (10.1.1) nennt Aristoteles zwei mögliche Antworten auf die Frage: Erstens könnte das Gute etwas vom Universum selbst Unterschiedenes und Abgetrenntes sein, zweitens könnte es als die immanente Ordnung der Teile des Universums existieren.196 Am Beispiel des Heeres macht Aristoteles deutlich, dass die im ersten Satz von (10.1.1) aufgestellte Alternative keine ausschließliche Alternative ist. Der Feldherr, der in Aristoteles’ Beispiel nicht ein Teil des Heeres ist, sondern dem Heer gegenübersteht,197 ist einerseits vom Heer unterschieden, andererseits aber auch die Ursache für die Ordnung im Heer, weil und insofern die Soldaten dem Willen des Feldherren folgen wollen und deswegen tun, was er anordnet. Dadurch entsteht die Ordnung im Heer. Wenn man ein weniger militantes Beispiel wählen wollte, könnte man auch an einen Dirigenten und das Orchester denken. Wenn wir das Beispiel auf die Frage nach der ersten ousia und dem Universum übertragen, bedeutet das, dass die erste ousia zwar abgetrennt und vom Universum unterschieden ist, aber dennoch die Ursache für die Ordnung des Universums ist. Mehr noch: Dadurch, dass das Gute außerhalb des Universums ist, können erst alle Teile des gesamten Universums auf das Gute hin geordnet sein und so eine Ordnung bilden, die selbst gut ist. (10.1.2) Wie aber bewirkt das Gute die Ordnung der Teile des Universums? Die Ordnung, soviel steht fest, besteht darin, dass alles, was es gibt, auf Eines hin geordnet ist. Mit dem Einen ist das Beste, d. h. der Sache nach die erste ousia, gemeint. Wie aber ist das möglich? Dass Aristoteles von dem Besten spricht, ist ein Hinweis auf eine Antwort zu dieser Frage. Das Gute bzw. das Beste ist das, was angestrebt wird. Das Beste ist also eine Zielursache. Wir haben bereits im siebten Kapitel gesehen, wie die erste ousia dadurch Bewegungsursache ist, dass sie Zielursache ist. Im achten Kapitel wurde, trotz aller Probleme im Detail, deutlich, dass die gesamte supralunare Welt in der ersten ousia ihre letzte Bewegungs- und Zielursache hat. Nun sind nicht nur die Himmelssphären, sondern auch alles in der sublunaren Welt, auf vermittelte Weise auf die erste ousia als ihrem letzten Ziel bezogen. Dabei wird Aristoteles zufolge nicht nur das geordnet, was, wie die Tiere und die Menschen, über ein eigenes Strebevermögen verfügt. So erwähnt Aristoteles ausdrücklich die Pflanzen, und wir wissen, dass Aristoteles zufolge die Pflanzen lediglich über ein vegetatives Vermögen, aber nicht über ein Strebevermögen verfügen, das erst bei den Tieren und Menschen vorkommen kann. Es gibt allerdings einen Abschnitt in De anima, in dem Aristoteles ausführt, dass das ewige Entstehen und Vergehen auch der
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Pflanzen das Streben der Pflanzen danach ausdrückt, am Göttlichen teilzuhaben, soweit es ihnen möglich ist.198 Insofern kann man sagen, dass auch die Pflanzen nach der ersten ousia streben, ohne ein eigenes Strebevermögen zu besitzen. Ferner spricht Aristoteles am Ende des uns interessierenden Abschnitts (10.1.2) davon, dass alle Dinge zur Auflösung kommen müssen. Das griechische Wort, das mit ,Auflösung‘ übersetzt worden ist, leitet sich vom Verb ,diakrinō‘ ab, das vor allem im Kontext der Elementenlehre verwendet wird um auszudrücken, dass sich ein Element in ein anderes auflöst oder elementare Verbindungen aufgelöst werden. Es ist zwar nicht ganz deutlich, was Aristoteles genau meint, wenn er sagt, alles müsse zur Auflösung kommen, aber es ist plausibel anzunehmen, dass er dabei auf seine Auffassung anspielt, dass die Elemente fortwährend ineinander übergehen und dieser Kreislauf als eine Imitation der Ewigkeit und Aktualität der ersten ousia verstanden werden muss.199 Der Vergleich mit dem griechischen Haushalt und seinen Familienmitgliedern, den Sklaven und den Tieren (man darf also nicht an eine Kleinfamilie, sondern muss an einen größeren Bauernhof denken), macht deutlich, dass in dieser teleologischen Ordnung diejenigen Mitglieder, die in der Rangordnung am höchsten stehen, am wenigsten das tun können, wozu sie gerade Lust und Laune haben. Es wäre aber ein Missverständnis, wenn man diese Einschränkung als Einschränkung ihrer Freiheit sehen würde, denn sie tun das, was sie tun, freiwillig und wollen es tun. Keiner der Freien, d. h. derjenigen Mitglieder eines Haushaltes, die keine Sklaven sind und die den Haushalt leiten, käme auf die Idee, mit den Sklaven tauschen zu wollen. Dadurch aber, dass sie die Leitungsfunktion innehaben, haben ihre Entscheidungen und Handlungen in viel höherem Maße auf das Allgemeine, und damit ist hier wohl das überindividuelle Ziel des Haushalts gemeint, Bezug. Das Beispiel macht folgendes deutlich. In einem Haushalt gibt es unterschiedliche Menschen (und Tiere), deren individuelle Ziele mit dem Gesamtziel des Haushalts in unterschiedlichem Maße übereinstimmen. Das persönliche Ziel des Leiters eines Haushalts stimmt, wenn er ein guter Leiter ist, in hohem Maße mit dem Gesamtziel des Haushalts überein. Das persönliche Ziel eines Sklaven, geschweige denn eines Tieres, kann sich stark von dem Gesamtziel des Haushalts unterscheiden, auch wenn ein Sklave und ein Tier natürlich jeweils ihren Teil zum Gelingen des gesamten Haushalts beitragen. Übertragen auf die teleologische Ordnung der gesamten Wirklichkeit bedeutet das, dass es nicht überraschen muss, wenn die erste ousia in dem, was sie ist und tut, notwendig festgelegt ist. Je weiter ein Einzelding in der ontologischen Ordnung von der ersten ousia entfernt ist, desto weniger deutlich zeigt sich freilich, dass es in eine umfassende Ordnung eingebunden ist. Dass sich beispielsweise an der Bewe-
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gung der Fixsterne unmittelbarer als am Flug einer Fliege zeigt, dass ihre Bewegung Ausdruck dafür ist, in eine umfassende Ordnung eingebettet zu sein, liegt daran, dass die Fixsterne unmittelbarer als die Fliege auf die erste ousia bezogen sind. Eine schwierige Detailfrage ist die Interpretation des Ausdrucks ,die Natur‘ in (10.1). Wir haben ,die Natur des Ganzen‘ im ersten Satz von (10.1.1) als eine andere Art, von der gesamten natürlichen Welt zu sprechen, interpretiert. Der Ausdruck ,die Natur‘ kommt aber in (10.1) noch einmal vor, nämlich im vorletzten Satz von (10.1.2). Wie dieser Satz zu übersetzen und demgemäß auch zu verstehen ist, ist umstritten. Zwei Deutungen sind möglich.200 Erstens kann man den in Frage stehenden Satz mit ,die Natur, die ein Prinzip von jedem von ihnen ist‘ übersetzen. Das würde bedeuten, dass Aristoteles so etwas wie eine Allnatur annimmt, die Prinzip für alles in der physischen Welt ist.201 Diese Interpretation ist aber problematisch. Wenn wir nämlich ,die Natur‘ als dieselbe Natur wie im ersten Satz von (10.1.1) verstehen, und die Untersuchung in (10.1.1) zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ein Prinzip außerhalb der Natur des Ganzen verantwortlich für die Ordnung der Teile innerhalb des Ganzen ist, dann wäre es merkwürdig, wenn Aristoteles in (10.1.2) die Natur selbst zum Prinzip von allem, was ist, machen würde. In der vorliegenden Übersetzung übersetzen wir den in Frage stehenden Satz deswegen mit ,die Natur eines jeden von ihnen ist ein Prinzip‘, wobei der Genitiv ,eines jeden von ihnen‘ auf die Bewohner des Haushalts bezogen werden muss. Übertragen auf die Frage nach der teleologischen Struktur des Universums wäre damit folgendes gemeint: In jedem Ding ist seine eigene Natur, d. h. seine Form,202 Ursache dafür, dass das Ding so beschaffen ist, dass es sich in die teleologische Ordnung des Universums dadurch einfügt, dass es auf eine bestimmte Art und Weise nach der ersten ousia strebt. (10.2) (10.2.1) Im zweiten Teil des Kapitels erläutert Aristoteles, in welchen Punkten und warum seine eigene Theorie, die er in Lambda entwickelt hat, konkurrierenden philosophischen Theorien überlegen ist. Dabei unterscheidet er zwischen drei Gruppen. Es gibt erstens philosophische Positionen, die schlicht falsch und widersprüchlich sind, zweitens Positionen, deren Vertreter zwar richtige Ansichten vertreten, diese aber nicht wirklich verstanden haben und begründen können, und drittens Positionen, die der Position von Aristoteles schon recht nahe kommen und nur noch ein wenig verbessert werden müssen. (10.2.2) In (10.2.2) diskutiert Aristoteles die Probleme, die entstehen, wenn man alles aus konträren Gegensätzen entstehen lässt und nicht die Materie als ein Prinzip annimmt, an dem sich die Veränderung vollzieht. (i) Die These, dass alles durch konträre Gegensätze entsteht, ist falsch (denn, so wäre wohl zu ergänzen, die unbewegte ousia unterliegt überhaupt keiner Veränderung)
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(ii) Es ist auch nicht richtig zu behaupten, dass das, was entsteht, aus Gegensätzen entsteht (denn um beispielsweise die Entstehung eines Menschen zu erklären, reicht es nicht hin, lediglich auf die Gegensätze Form und Beraubung der Form zu verweisen [vgl. (2.7)]; man muss die Materie mit in die Erklärung einbeziehen, die aber keinen konträren Gegensatz hat). (iii) Diejenigen, die die These vertreten, alles entstehe aus Gegensätzen, erklären nicht, wie diese These gemeint sein soll. Versteht man die These in der Weise, dass der Gegensatz selbst sich ändert, dann wäre diese These freilich falsch, denn der Gegensatz qua Gegensatz ändert sich nicht [vgl. (2.1.2)]. Für die Aristotelische Theorie stellt sich dieses Problem jedoch nicht, denn Aristoteles hat im zweiten Kapitel von Lambda die Materie als ein drittes Prinzip eingeführt, an dem sich die Veränderung vollzieht. (iv) Nun gibt es Philosophen, und gemeint sind Platoniker, die einen der beiden Gegensätze zur Materie machen. Platon hatte Aristoteles zufolge vertreten, dass es zwei oberste Prinzipien gibt, das Eine und die unbegrenzte Zweiheit, die er mit der Materie identifiziert hat.203 Diese Auffassung finden wir zwar nicht direkt in den Dialogen Platons, aber es gibt gut beglaubigte Zeugnisse von anderen Autoren, vor allem von Aristoteles selbst, in denen davon die Rede ist, dass Platon in mündlichen Vorträgen eine derartige Lehre von zwei Prinzipien vertreten hat. Die Platoniker haben also richtig erkannt, dass man als ein Prinzip die Materie annehmen muss. Aber sie haben die Materie falsch bestimmt, weil sie sie mit einem der beiden Gegensätze identifiziert haben. Die Materie ist aber keiner der Gegensätze selbst, sondern ist der Möglichkeit nach beide Gegensätze. (v) Für die Platoniker ergibt sich aber noch ein anderes Problem. Es ist nicht ganz klar, was Aristoteles als Problem identifizieren möchte, aber eine Möglichkeit, den Text zu verstehen, ist folgende: Eines der Gegensatzpaare, das die Platoniker annehmen, ist ,das Gute‘ und ,das Schlechte‘. Gemäß ihrer Auffassung wird das Schlechte mit der Materie identifiziert. Alles, was materiell ist (und das ist alles bis auf die Einheit, die keine Materie hat), wäre demnach schlecht, weil es am Schlechten teilhat. Die Aristotelische Metaphysik hat das Gegenteil ergeben: Alles, was ist, hat am Guten dadurch teil, dass es auf das Gute hin geordnet ist. Wer das Gute als ein Prinzip annimmt, muss nicht auch behaupten, dass das Schlechte ein Prinzip ist, an dem alles was ist, teilhat.204 In (10.2.9) wird Aristoteles dazu explizit erwähnen, dass das erste Prinzip keinen Gegensatz hat. (vi) Dieser Folgerung könnte man zwar dadurch entgehen, dass man leugnet, dass das Gute und das Schlechte Prinzipien sind. Dadurch wäre man nicht gezwungen, das Schlechte zu der Materie zu machen. Mit einer solchen Lösung schüttet man aber das Kind mit dem Bade aus, denn das oberste Prinzip von allem ist ja das Gute.
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(10.2.3) Die Diskussion in (10.2.1) begann mit den Problemen, die entstehen, wenn man meint, alles entstehe aus Gegensätzen. Diese Probleme lösen sich nicht einfach dadurch, dass man die Materie einführt, wenn man sie mit einem der Gegensätze identifiziert. Ein spezifisches Problem, das mit der Materie als einem der Gegensatzpaare verbunden ist, ist die Annahme, die Materie sei das Prinzip des Schlechten, dem das Gute als zweites Prinzip gegenübersteht. Die Diskussion des Guten und Schlechten führt in (10.2.3) zu einer Reihe weiterer Kritikpunkte, die nicht mehr die Frage von Gegensätzen betreffen, sondern die mit Problemen verbunden sind, die dadurch entstehen, dass man das Gute als Prinzip nicht hinreichend bestimmt. (i) In einem wichtigen Punkt stimmt Aristoteles mit Platon und den Platonikern überein: Das letzte Prinzip muss das Gute sein. Platon, der vor allem in der Politeia das Gute explizit als letztes Prinzip angenommen hat, kann aber nicht erklären, in welcher Weise das Gute Prinzip ist. Aristoteles hat vier Prinzipien voneinander unterschieden: Die Form, die Materie, die Bewegungs- und die Zielursache. Dass auch die Platoniker nicht annehmen, das Gute sei die Materie, ist offensichtlich. In Frage kommen also nur die Form, die Bewegungs- und die Zielursache. Für Aristoteles ist die erste ousia letzte Bewegungs- und Zielursache. (ii) Empedokles hat Aristoteles zufolge ebenso wie Platon richtig angenommen, dass das Gute ein Prinzip ist, weil Empedokles die Freundschaft, eines seiner beiden obersten Prinzipien, mit dem Guten identifiziert hat. Er ist sogar gegenüber Platon noch einen Schritt weitergegangen und hat die bei Platon offengelassene Frage nach der Art des Prinzips beantwortet. Die Antwort selbst ist freilich unzutreffend, denn er hat vertreten, dass das Gute, i.e. die Freundschaft, sowohl Bewegungsursache als auch Materie ist. Aristoteles kritisiert an dieser Auffassung, dass das, was eine Bewegungsursache ist, ihrem Sein nach, d. h. ihrer Definitionsformel nach, von der Materie unterschieden ist. Es kann zwar vorkommen, dass ein und dieselbe Sache akzidentell sowohl Materialursache als auch Bewegungsursache ist; Sedley bringt als ein gutes Beispiel dafür eine Tasse Kaffee, die ich trinke – sie ist Materialursache, insofern mich der Kaffee ernährt, und Bewegungsursache, insofern er mich wach hält.205 Dennoch ist sie in ihrem Sein als Bewegungsursache verschieden von ihrem Sein als Materialursache. (iii) Empedokles hat nicht nur vertreten, dass die Freundschaft ein oberstes Prinzip sei, sondern ebenso, dass es neben der Freundschaft den Streit als Prinzip gebe. Was Aristoteles mit dem letzten Satz an Empedokles kritisiert, ist nicht ganz deutlich. Die meisten Interpreten meinen, die Kritik widerspreche eigentlich dem, was Aristoteles sonst selbst in Lambda angenommen habe. Sie verstehen die Kritik als eine Kritik daran,
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dass der Streit unvergänglich sein soll. Nun sei es aber doch für ein oberstes Prinzip charakteristisch, unvergänglich zu sein. Von daher würde man eigentlich erwarten, dass er Empedokles in diesem Punkt zugestimmt hätte.206 Vielleicht aber kritisiert Aristoteles lediglich die Tatsache, dass Empedokles den Streit als ein Prinzip angenommen hat und stimmt mit ihm darin überein, dass der Streit, wenn er ein Prinzip wäre, tatsächlich unvergänglich sein müsste. Ein antiker Kommentator, Pseudo-Alexander, hat darauf hingewiesen, dass es in der Kosmologie des Empedokles einen Moment gibt, in dem der Streit aus der Welt verschwunden ist und sich die Freundschaft vollkommen durchgesetzt hat. Aristoteles’ Kritik wäre dann, dass Empedokles zwar die richtige Auffassung vertreten hat, dass der Streit unvergänglich sein müsse, falls er ein Prinzip ist, aber sein Prinzip in der Kosmologie nicht die Funktion hat, die einem Prinzip qua Prinzip zukommen muss. Der letzte Teilsatz, in dem davon die Rede ist, dass der Streit für ihn die Natur des Schlechten ist, wäre dann so zu verstehen, dass Aristoteles selbst der Auffassung ist, dass dem Schlechten nicht fortdauernde Existenz zukommt. Wenn diese Deutung richtig ist, ist es besser, den Satz als einen Exkurs zu verstehen; deswegen ist der Satz in der vorliegenden Übersetzung auch in Klammern gesetzt worden. (iv) Anaxagoras gehört zu der Gruppe der Philosophen, die das Richtige erfasst haben, sich aber nicht deutlich genug ausdrücken. Er hat richtig gesehen, dass das Gute ein Prinzip sein muss. Er hat ferner richtig gesehen, dass das Gute Bewegungsursache sein muss. Was er wohl nicht richtig gesehen hat, ist, dass das Gute nicht nur Bewegungs-, sondern auch Zielursache ist. Nun ist die Bewegungsursache doch verschieden von der Zielursache – es sei denn, man hat eine Auffassung entwickelt, wie Aristoteles selbst sie entwickelt hat. Dieser Auffassung zufolge kann die Zielursache mit der Bewegungsursache identisch sein. Aristoteles erläutert dies an dem Beispiel der Gesundheit. Die Gesundheit ist sowohl Bewegungsursache in der Seele des Arztes (als Heilkunst, d. h. als Wissen um die Gesundheit) als auch Zielursache seines Handelns am kranken Patienten (denn er möchte den Patienten gesund machen). (v) Die Schwierigkeit der Interpretation dieses Satzes besteht darin, dass Aristoteles selbst ein paar Zeilen später [vgl. (10.2.9)] sagen wird, dass das erste Prinzip keinen Gegensatz hat. Warum kritisiert er nun an Anaxagoras, er habe keinen Gegensatz für das erste Prinzip angenommen? Am plausibelsten ist es wohl, die Kritik als eine Kritik daran zu verstehen, dass Anaxagoras zwar das Richtige erkannt hat (nämlich dass das erste Prinzip keinen Gegensatz hat), er aber nicht in der Lage gewesen ist, eine Begründung für diese Auffassung zu geben. (10.2.4) Die Kritik an Anaxagoras in (10.2.2)(v), er habe nicht verständlich machen können, warum das Gute kein gegenteiliges Prinzip hat, führt
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wohl auf eine eher assoziative Weise zum nächsten Kritikpunkt.207 Diejenigen, die Gegensätze annehmen (und damit dürften an dieser Stelle wohl gegensätzliche Prinzipien gemeint sein), sind nicht in der Lage, von diesen Gegensätze in ihrer Theorie so Gebrauch zu machen, dass das, was sie sagen, sinnvoll ist. Es ist die Aufgabe des Interpreten, ihre Gedanken so zu ordnen, dass zumindest deutlich wird, was sie hätten sagen sollen, wenn man sie mit den Problemen ihrer Theorie konfrontiert hätte. (10.2.5) Als einen weiteren Kritikpunkt an alternativen metaphysischen Konzeptionen führt Aristoteles an, dass kein Philosoph erklären könne, warum es Vergängliches und Unvergängliches gibt. Alles, was ist, werde von ihnen durch dieselben Prinzipien erklärt. Aristoteles selbst differenziert demgegenüber zwischen den Dingen, die dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind, d. h. eine Materie für das Entstehen und Vergehen haben und anderen Dingen, die eine Materie lediglich für die Ortsbewegung haben (i.e. die Himmelskörper) oder ganz ohne Materie sind (i.e. die unbeweglichen ousiai) [vgl. (2.5)]. (10.2.6) Auch der folgende Kritikpunkt ist nicht unmittelbar mit dem vorhergehenden verbunden. Wer das Seiende aus dem Nichtseienden entstehen lasse, begehe den Fehler, die Möglichkeit als der Wirklichkeit gegenüber primär anzusehen [vgl. (6.3.2) und (7.1.1)]. Diesen Fehler vermeiden zwar die Monisten, die meinen, alles sei Eines, aber – so müsste man wohl die Kritik ergänzen – eine monistische Position kann nicht erklären, warum überhaupt verschiedene Dinge entstehen können. Insofern ist der Monismus kein attraktiver Ausweg aus den Schwierigkeiten. (10.2.7) Eine Schwäche der anderen Theorien besteht ferner darin, nicht erklären zu können, warum das Entstehen ewig ist und was die Ursache des Entstehens ist. Aristoteles hat für beides eine Erklärung gegeben. Dass ewig Entstehen (und Vergehen) stattfindet, wird, vermittelt über die Sonne und die Ekliptik, letztlich durch die ewige Kreisbewegung der Sphäre der Fixsterne und die erste ousia erklärt [vgl. (6.4)]. Die Analyse der Ursache des Entstehens hat Aristoteles im zweiten und dritten Kapitel durchgeführt. (10.2.8) Warum diejenigen, die zwei Prinzipien annehmen, noch ein drittes, höheres Prinzip annehmen müssen, wird durch den Hinweis auf die Anhänger der Ideen, d. h. die Platoniker, deutlich. Die Platoniker [von denen wir bereits aus (10.2.2)(iv) wissen, dass sie zwei Prinzipien annehmen] nehmen Ideen, z. B. die Idee der Gesundheit, und Dinge an, die an den Ideen teilhaben, die beispielsweise gesund sein können oder nicht. Wenn etwas gesund ist, dann hat es Teil an der Idee der Gesundheit. Die Teilhabe selbst wird aber nicht durch die Idee der Gesundheit erklärt. Wir bräuchten ein Prinzip über allen anderen Ideen, das uns die Teilhabe selbst erklärt oder auch erklärt, warum ein Ding nicht an einer Idee teilhat.
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(10.2.9) Die genaue Bedeutung des Abschnitts ist unsicher, weil der griechische Text des letzten Satzes (,die der Weisheit … den Gegensatz gehen‘) verderbt ist. Deutlich ist aber zumindest soviel: Der Abschnitt führt die Kritik an denjenigen Philosophen, die zwei Prinzipien haben und diese als Gegensätze bestimmen, weiter. Die Kritik läuft darauf hinaus, dass der Weisheit, d. h. der obersten Wissenschaft, nicht sinnvoll etwas anderes, die Unwissenheit oder Ignoranz, als Prinzip entgegengesetzt sein kann. Wer als Prinzipien Gegensatzpaare annimmt, wird aber zu dieser Folgerung gezwungen. Für Aristoteles stellt sich das Problem nicht, weil es für das Erste keinen Gegensatz gibt. Das Erste ist in Lambda wirkliche Tätigkeit unter Ausschluss der Materie [vgl. (6.2.4)]. Alles, was ein Gegensatz ist, muss aber der Möglichkeit nach ein Gegensatz an einer Materie sein. Insofern kann das Erste keinen Gegensatz haben. (10.2.10) Der Abschnitt macht deutlich, dass man über die sinnlich wahrnehmbaren Dinge hinaus mindestens ein nicht sinnlich wahrnehmbares Bewegungsprinzip, eben eine erste ousia in der Art, wie Aristoteles sie bestimmt hat, annehmen muss. Wenn man meint, alles, was ist, sei sinnlich wahrnehmbar, dann ist alles, was ist, der Möglichkeit nach. Folglich kann es kein (letztes) Prinzip geben, weil ein Prinzip der Wirklichkeit nach existieren muss. Es kann ferner keine Ordnung geben, weil Ordnung ein nicht sinnlich wahrnehmbares Prinzip voraussetzt, das die Ordnung erklärt (was man sinnlich wahrnehmen kann, ist nie die Ordnung, sondern sind nur die durch die Ordnung geordneten Teile). Es kann kein Entstehen geben, weil Entstehen von der Bewegung der Sonne und damit des Fixsternhimmels und damit von einer nicht sinnlich wahrnehmbaren ousia abhängt. Es kann auch keine Himmelsbewegungen geben, weil diese eine nicht sinnlich wahrnehmbare ousia voraussetzen.208 Ferner kommt es ohne ein solches unbewegtes Bewegungsprinzip zu einer Art Kreislauf der Prinzipien: A ist Bewegungsprinzip für B, B für C und C für A. Dieser Kreislauf ist aber nicht wirklich konsistent denkbar, wenn alle Elemente des Kreislaufs auf derselben ontologischen Ebene liegen; denken wir an Billardkugeln – sie können sich nicht selbst gegenseitig in Bewegung setzen, sondern müssen von außen angestoßen werden. Die Lösung der Platoniker, die nicht sinnliche Ideen oder Ideenzahlen angenommen haben, ist nicht befriedigend, weil sie den Zusammenhang zwischen der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Dinge und der nicht sinnlich wahrnehmbaren Ideen nicht deutlich machen können. Man könnte, in Aristotelischer Terminologie, vielleicht noch sagen, dass eine Idee eine Formursache für ein Ding ist, das an der Idee teilhat (für die Zahlen ist das aber nicht möglich, denn eine Zahl kann höchstens etwas Quantitatives erklären, etwas Quantitatives ist aber nie, insofern es quantitativ ist, sinnlich wahrnehmbar). Insofern schränkt Aristoteles seinen Kritikpunkt,
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die Ideen seien Ursache für nichts, ein. Was aber als Kritik an den Platonikern bestehen bleibt, ist die Tatsache, dass sie die Ideen oder Zahlen nicht als Bewegungsursache konzipiert haben, und dass es ihnen an einer klaren Auffassung davon fehlt, auf welche Art und Weise die Ideen oder Zahlen Bewegung verursachen können. Weil die erste ousia dadurch Bewegungsursache ist, dass sie geliebt und angestrebt wird, kann die Aristotelische nicht sinnlich wahrnehmbare ousia (d. h. eine ousia ohne Größe) Bewegungsursache für die Dinge in der sinnlich wahrnehmbaren Welt, die eine Größe haben, sein. (10.2.11) Die Kritik, die Aristoteles in diesem Abschnitt formuliert, beruht auf vorhergehenden Abschnitten und ist dementsprechend knapp formuliert.209 Einer der Gegensätze kann kein Bewegungsprinzip sein, weil ein Gegensatz immer nur an etwas, das eine Materie hat, existieren kann, und alles, was eine Materie hat, auch nicht sein kann. Wenn etwas, das eine Materie hat, Bewegungsprinzip ist, dann gilt, dass es zumindest zeitlich der Möglichkeit nach primär sein muss, bevor es sich als Bewegungsprinzip aktualisiert. So muss beispielsweise ein konkreter Mann der Möglichkeit nach die Bewegungsursache für sein Kind sein, bevor er es der Wirklichkeit nach sein kann. Im sechsten Kapitel hat Aristoteles aber gezeigt, dass wir dieses Modell nicht für die gesamte Wirklichkeit akzeptieren dürfen, sondern das letzte Prinzip der Wirklichkeit nach primär sein muss [vgl. (6.3)]. (10.2.12) Der letzte Abschnitt ist der Frage nach der Einheit des gesamten Kosmos und der Dinge im Kosmos gewidmet. (i) Ohne die Bewegungsursache so zu bestimmen, wie Aristoteles sie bestimmt,210 kann erstens nicht deutlich gemacht werden, inwiefern Zahlen usw. eine Einheit sein können – und nicht einfach eine Zusammenwürfelung von Dingen gleicher Art.211 Leider erklärt Aristoteles nicht, wie die Bewegungsursache die Einheit hervorbringen kann, aber vielleicht kann man auf (10.1) verweisen212: So, wie die eine ousia, auf die alles hin geordnet ist, die Einheit des ganzen Kosmos schafft, so schafft sie auch die Einheit der Dinge, die auf einer niedrigeren Stufe des gesamten Kosmos sind. (ii) Aus anderen Texten213 ist deutlich, dass Speusippos die in diesem Unterabschnitt referierte Theorie vertreten hat. Aristoteles kritisiert, dass die verschiedenen ousiai unzusammenhängend sind. Für verschiedene Bereiche der Wirklichkeit, so beispielsweise für Zahlen, für Größen, für die Seele, werden andere Prinzipien angenommen. Diesen Prinzipien fehlt ein Prinzip, das sie zur Einheit verbindet, denn ob es ein bestimmtes Prinzip gibt oder nicht, ist für die anderen Prinzipien ohne Belang. Wir brauchen also ein letztes, übergeordnetes Prinzip, das wir so bestimmen müssen, wie Aristoteles selbst es bestimmt hat. Mit einem für Aristoteles ungewöhnlichen Pathos schließt das Traktat mit einem Zitat aus Homers Ilias.214
Anmerkungen Zu Platon vgl. Bordt (1999). Dass Lambda zwar der elfte Buchstabe im griechischen Alphabet ist, aber das zwölfte Buch bezeichnet, liegt daran, dass das erste Buch der Metaphysik durch den Großbuchstaben Alpha und das zweite Buch durch ein kleingeschriebenes Alpha bezeichnet wird. Die restlichen Bücher werden durch Großbuchstaben abgekürzt. Der zweite Buchstabe des Alphabets, groß Beta, bezeichnet also das dritte, der dritte Buchstabe, Gamma, das vierte Buch usw. 3 Natürlich schließt das nicht aus, dass man zur Interpretation von Lambda an einigen Stellen sinnvoll auf andere Bücher der Metaphysik zurückgreifen kann. 4 Zu der Zeit, in der Andronikos gelebt hat, gab es das Fach Metaphysik als eigenes philosophisches Fach noch nicht. Es gab Logik, Ethik und Physik, und die Physik gliederte sich noch einmal in Physik und Theologie. Weil in den Schriften, die Andronikos zur Metaphysik zusammenfasste, auch von einer theologischen Wissenschaft und in dem uns interessierenden zwölften Buch (aber nicht nur dort) auch von Gott die Rede ist, hat es sich wohl für ihn angeboten, die vierzehn Schriften in den Bereich der Physik einzuordnen – denn um Logik und Ethik geht es in den Schriften nicht, auch wenn an vielen Stellen Fragen der Logik berührt werden. Wahrscheinlich scheute er sich aber, die vierzehn Schriften einfach ,Theologie‘ zu nennen, denn in den Büchern finden sich auch viele andere Themen, die nicht zur Theologie zu zählen sind. Vielleicht hat er deswegen die Schriften unter dem Titel ,Metaphysik‘ herausgegeben. 5 Vgl. dazu den Artikel von Barnes. 6 Wegen derjenigen Bücher, die nicht von Aristoteles stammen oder eigenständige Schriften sind, kommen für eine Rekonstruktion des roten Fadens natürlich nur die Bücher 1, 3–4, 6–9 und 13–14 in Frage. 7 Vgl. Burnyeat 148f. 8 Das Problem ist folgendes: Wir besitzen aus der Antike selbst keine uns überlieferte Handschrift der Metaphysik. Uns ist kein einziges Original von Aristoteles erhalten. Was wir haben, sind 42 so genannte Handschriften oder Manuskripte, die jeweils einen griechischen Text des zwölften Buches enthalten und ungefähr zwischen dem 9. und dem 16. Jahrhundert, meist in Byzanz, geschrieben worden sind. Das Problem ist, dass in diesen verschiedenen Handschriften nicht immer der gleiche griechische Text steht. An denjenigen Stellen, an denen die Texte voneinander abweichen, müssen wir Interpreten uns Gedanken darüber machen, welche Handschrift oder welche Handschriften wohl den richtigen Text überliefert haben. Die meisten Stellen, an denen Handschriften voneinander abweichen, sind für den Inhalt und die Interpretation des zwölften Buches glücklicherweise ganz unwesentlich, aber bei einigen Stellen weichen die Handschriften auf eine Art und Weise voneinander ab, die die Aussage des Textes selbst betreffen, und hier wird ein Interpret zwischen den verschiedenen Lesarten abwägen müssen. Die früheste und wichtige Handschrift, die uns zur Metaphysik überliefert ist, stammt aus dem 9. Jh. Sie wird mit dem Buchstaben ,J‘ abgekürzt. Zwei weitere wichtige Handschriften stammen aus dem 10. Jahrhundert (die 1 2
Anmerkung zu S. 14
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Handschrift ,E‘) und aus dem 14. Jahrhundert (die Handschrift ,Ab‘). Sämtliche 42 Handschriften zum zwölften Buch lassen sich mehr oder weniger auf diese drei Handschriften zurückführen. Die Handschriften kann man dabei in zwei große Gruppen einteilen: Die erste Gruppe wird geführt von der Handschrift Ab, die zweite Gruppe von den Handschriften E und J. Dass zum einen E und J und zum anderen Ab (und die jeweils von diesen Handschriften abhängigen anderen Handschriften) eine Gruppe bilden, erkennt man daran, dass E und J gemeinsam an vielen Stellen in ihrem Text von Ab abweichen und umgekehrt. Wir können rekonstruieren, dass auch J, E und Ab ihrerseits auf eine oder zwei Handschriften, so genannte Hyparchetypen, zurückgehen, die uns nicht überliefert sind und mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem 8. Jh. stammen. Die Tendenz der heutigen Forschung geht dahin, in Zweifelsfällen eher dem Text von E und J zu trauen (besonders dann, wenn sie den gleichen Text haben) und gegenüber der Lesart, die Ab bringt, skeptischer zu sein. Allerdings lässt sich erkennen, dass Ab nur bis zum Ende des siebten Kapitels des zwölften Buches der Metaphysik, bis 1073 a1, einen gegenüber E und J selbstständigen Text bringt. Ab 1073 a1 folgt Ab ganz offensichtlich einem Hyparchetyp, der, wiederum vermittelt über andere Handschriften, auch E und J zugrunde lag. Die überlieferten Handschriften sind nicht die einzigen Textzeugen, die wir von dem zwölften Buch der Metaphysik haben. Seit dem 1. Jh. n. Chr. machte sich eine Reihe von Gelehrten daran, die Werke von Aristoteles in griechischer Sprache zu kommentieren. Oft lässt sich aus diesen Kommentaren erschließen, wie der griechische Text der Metaphysik gewesen sein muss, der den Kommentatoren vorgelegen hat. An einigen Stellen bietet es sich an, der Lesart der Kommentatoren und nicht der Lesart der überlieferten Manuskripte zu folgen. Ähnliches gilt auch von den Übersetzungen und Kommentaren, die vom 9. bis 12. Jahrhundert in der arabischen Welt entstanden und die uns überliefert sind. Wir können das Arabische wieder ins Griechische zurückübersetzen und erhalten dann einen griechischen Text, der an einigen Stellen von den Handschriften abweicht. Zu den Kommentatoren und Übersetzungen wird man freilich nur dann greifen, wenn sie einen Text bringen, den man für den der Sache nach einzig richtigen Text erachtet. Dass sich dieser Text dann bei einem Kommentator oder Übersetzer findet, ist ein Hinweis dafür, dass er in einem griechischen Manuskript gestanden ist, das den Kommentatoren oder Übersetzern vorgelegen haben mag. Man muss sich hier vorsichtig ausdrücken, denn es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass ein Kommentator oder Übersetzer den Text, der ihm vorgelegen hat, auf Grund eigener Überlegungen verändert hat. Erst im 19. Jh. sind diese Manuskripte systematisch aufgearbeitet worden. Von 1831 an erschien eine Gesamtausgabe der Werke von Aristoteles, die von Immanuel Bekker ediert worden ist. Auf ihn geht auch die Zitation der Zeilen aus den verschiedenen Werken von Aristoteles zurück, die bis heute üblich ist. So beginnt das zwölfte Buch der Metaphysik beispielsweise mit der Zeile 1069 a18. Dabei steht ,1069‘ für die Seite in der Gesamtausgabe von Bekker. Das ,a‘ steht für die erste Spalte auf dieser Seite (jede Seite hat zwei Spalten, links die ,a‘- und rechts die ,b‘-Spalte) und die ,18‘ für die Zeile 18, mit der der Text beginnt, wobei jede Seite ungefähr 34 Zeilen hat. Dass nach Bekker noch weitere Ausgaben der Werke von Aristoteles erschienen sind, liegt daran, dass der griechische Text, den Bekker abdruckt, nicht unumstritten geblieben ist. Zum einen hat die Kollation und Herausgabe neuer Manuskripte neue Einsichten in den griechischen Text möglich gemacht. Zum anderen schätzt man den Wert mancher Manuskripte heute anders ein, als Bekker es getan hat. Heutzutage gibt es zwei Standardausgaben des griechischen Textes. Die erste
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Anmerkungen zu S. 9–21
stammt von William Ross (1924), die zweite von Werner Jaeger (1957). Stefan Alexandru hat sich 2001 mit einer neuen Ausgabe des griechischen Textes des zwölften Buches an der Universität Oxford (Balliol College) promoviert, leider ist sein Text noch nicht veröffentlicht. 9 Wer eine beliebige griechische Ausgabe der Metaphysik oder auch eine Übersetzung derselben zur Hand nimmt und sich das erste Kapitel anschaut, der wird merken, dass die Kapiteleinteilung meistens eine andere ist als diejenige, der wir folgen. In den meisten Ausgaben ist das erste Kapitel noch ein paar Zeilen länger. Das erste Kapitel endet dann mit (2.2.1), und erst in (2.2.2) beginnt das zweite Kapitel. Diese Kapiteleinteilung ist aber nicht sinnvoll. Erstens beginnt bereits mit (2.1) eine ganz neue Untersuchung, nämlich die Untersuchung der sinnlich wahrnehmbaren ousia. Zweitens ist die Vorstellung des philosophischen Projekts im ersten Kapitel bereits mit (1.4.2) abgeschlossen. Nun muss man wissen, dass die Kapiteleinteilung (und auch die Bucheinteilung) nicht von Aristoteles selbst, sondern von den Herausgebern der Aristotelischen Schriften aus der Renaissancezeit stammt. Offensichtlich ist ihnen beim Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel ein Missgeschick passiert. Weil eine Änderung der Kapitelgrenzen keinen Eingriff in den Aristotelischen Text bedeutet, lassen wir das erste Kapitel bereits in 1069b1 [d.h. mit unserem Text (1.4.2)] enden. 10 Um die Übersetzung verständlicher zu machen, habe ich an einigen Stellen erklärende Wörter hinzugefügt, die sich nicht im griechischen Text finden. Diese Fälle, die teilweise bereits Interpretationen sind, habe ich durch spitze Klammern kenntlich gemacht. Spitze Klammern bedeuten in der Übersetzung also nicht, dass ich der Auffassung bin, in den griechischen Manuskripten selbst müssten griechische Wörter ergänzt werden, die fehlerhaft ausgefallen sind. Runde Klammern stehen entweder, wenn das griechische Wort in Kursivschrift angegeben wird, oder wenn das, was in den Klammern steht, als ein Einschub oder kleiner Exkurs von Aristoteles selbst verstanden werden sollte. Eckige Klammern stehen, wenn das, was in den Klammern steht, zwar auch in den besten Handschriften steht, aber der Sache nach zu streichen ist. Dabei wurden eckige Klammern nur dann gebraucht, wenn unter den Interpreten umstritten ist, ob das, was in den Klammern steht, zu streichen ist oder nicht. In eindeutigen Fällen habe ich einen Ausdruck, der von allen Herausgebern in Klammern gesetzt worden ist und ihrer Auffassung nach aus dem Text gestrichen werden sollte, erst gar nicht übersetzt. 11 Die folgende Interpretation verdankt sich in vielem Frede (2000b). 12 Eine solche Untersuchung zu führen, hat eine eminente Bedeutung für eine Antwort auf die Frage, ob ein Mensch in seinem Leben glücklich werden wird. Sowohl in der Nikomachischen Ethik als auch in der Eudemischen Ethik meint Aristoteles, dass die theōria zumindest zu einem Teil das letzte Ziel des Menschen, das glückliche Leben, konstituiert. Eine ähnliche Auffassung wird uns im siebten Kapitel des Traktats [vgl. (7.5.2)] begegnen. Von der theōria wird dort gesagt, sie auszuüben sei die angenehmste und beste Tätigkeit überhaupt. Auch dann, wenn die folgende Untersuchung also theoretisch sein wird, ist sie nicht ,abstrakt‘ in dem negativen Sinn, dass sie für das Leben des Menschen ohne Bedeutung ist. 13 Vgl. Frede/Patzig I 20, II 16f. 14 Vgl. Met. 7.1 1028b2–7. 15 Man nennt den Autor Pseudo-Alexander, weil sein Kommentar ursprünglich und, wie man dann gemerkt hat, fälschlicherweise dem bedeutendsten antiken Aristoteleskommentator Alexander von Aphrodisias (um 200 n. Chr.) zugeschrieben wor-
Anmerkungen zu S. 21–39
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den ist; die meisten Interpreten nehmen heute mit guten Gründen an, dass PseudoAlexander eigentlich Michael von Ephesus (11./12.Jh.) ist. 16 Siehe dazu auch den Kommentar von Reale zur Stelle. 17 Elders denkt an Parmenides, Empedokles und einige Platonisten (vgl. Elders 75). 18 Vgl. dazu den Aufsatz von Helen Lang. 19 Der Text, den die griechischen Manuskripte E, J u. a. m. bringen (eita to poion hē poson d. h. ,darauf das Wie-Beschaffen oder Wieviel‘) ist besser als der Text in Ab, für den sich Ross und Jaeger entscheiden (eita to poion, eita to poson d. h. ,darauf das Wie-Beschaffen, darauf das Wieviel‘), vgl. Frede (2000b) 66f. 20 Es gibt allerdings auch Forscher, die annehmen, dass die Kategorienschrift nicht von Aristoteles selbst stammt. 21 Die zehn Kategorien der Kategorienschrift sind die ousia, die Quantität, die Qualität, das Relative, der Ort, die Zeit, das Liegen, das Haben, das Tun und das Erleiden. 22 Der Nachteil einer solchen Übersetzung mit eingedeutschten lateinischen Fremdwörtern besteht freilich darin, dass der Zusammenhang mit der Frageform, der bei Aristoteles noch offensichtlich ist, nicht mehr deutlich wird. 23 Vgl. Frede (2000 b) 65f. 24 Vgl. auch die Studie von Hübner, in der er sich vor allem mit der Frage auseinandersetzt, was es heißt, dass die Form an einigen Stellen in den Werken von Aristoteles auch als uneingeschränkt abtrennbar bezeichnet wird. 25 Vgl. Met. 8.1 1042 a26–31. 26 Vgl. z.B. De an. 2.2 413b14f. 27 Vgl. Met. 7.1 1028 b2–7. 28 Bei der Gliederung dieses Kapitels folge ich Frede (2000b); anders: Ross. 29 Vgl. dazu Elders 80f. 30 Vgl. die Rekonstruktion des gr. Textes bei Ps-Alexander; dazu Frede (2000 b) 78–80. Bereits Themistius hat diese Interpretation. 31 Vgl. Met. 8.1 1042 a7–11 u. 24–26, ähnlich auch Met. 7.2 1028b8–13. 32 An dieser Stelle wird man wohl an Platon denken können, der z. B. in seinem Liniengleichnis der Politeia innerhalb der nicht sinnlich wahrnehmbaren Realität sowohl mathematische Objekte als auch Ideen voneinander unterscheidet (vgl. Platon Politeia 509d1–511e5). 33 Hierbei wird man an Xenokrates denken können. 34 Hiermit ist wohl Speusippos gemeint. 35 Wenn Aristoteles in Lambda nach einer unbeweglichen ousia fragt, dann ist diese Frage also nicht als Frage nach einem Einzelding, sondern als Frage nach einer Art zu verstehen. Diese Art umfasst dann mehrere Einzeldinge. 36 Zitiert bei Frede (2000b) 77. 37 Das griechische Wort sterēsis (lat. privatio) wird üblicherweise als ,Formberaubung‘ übersetzt. Diese Übersetzung ist nicht ganz glücklich. Es geht der Sache nach darum, dass die Form noch einen Mangel aufweist, dass ihr etwas fehlt. Weil sich die Übersetzung von sterēsis mit ,Formberaubung‘ aber durchgesetzt hat, wird das Wort auch im vorliegenden Kommentar so übersetzt. 38 Vgl. dazu auch die Arbeit zum Materiebegriff in Lambda von Schriefl. 39 Eine sprachlich differenzierte Art der Darstellung dieser beiden Perspektiven findet sich in Phy. 1.7 189b34–190a23. Aristoteles unterscheidet dort u. a. zwei verschiedene Arten und Weisen um auszudrücken, dass ein ungebildeter Mann gebildet
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Anmerkungen zu S. 40–45
wird. Dazu differenziert er zunächst zwischen drei Ausdrücken: (i) ,der Mann‘, (ii) ,das Ding, das ungebildet ist‘, (iii) ,das Ding, das gebildet ist‘. Beim Ausgangspunkt der Veränderung sind (i) und (ii) unterschiedliche Beschreibungen derselben Sache. Wenn wir den Prozess der Veränderung nur unter der Perspektive der Beschreibung von (i) analysieren, dann verändert sich (i); wenn wir ihn unter der Perspektive der Beschreibung (ii) und (iii) analysieren, dann verändert sich ,das Ding‘ in (ii) und (iii) nicht; vgl. dazu Charlton 70–77. 40 Diese Behauptung ist nicht ganz nachzuvollziehen, denn es können sich beispielsweise auch Relationen verändern, in denen Dinge zueinander stehen. Selbst dann, wenn die Veränderung der Relation auf eine Veränderung innerhalb der vier von Aristoteles genannten Kategorien, beispielsweise der Qualität, zurückgeführt werden kann, so ist es doch auch mit der Veränderung der Qualität die Relation, die sich ändert. 41 Vgl. Top. 1.9. 42 Vgl. Cat. 4. 43 Streng genommen beantwortet ,Das ist Sokrates‘ natürlich die Frage ,Wer ist das?‘. Die Frage ,Was ist das?‘ ist aber die Frage nach dem, was etwas seinem Wesen nach ist, und deswegen sieht Aristoteles hier von der Unterscheidung zwischen ,Was ist das?‘ und ,Wer ist das?‘ ab. 44 Die unterschiedlichen Positionen werden vor allem in Bezug auf das siebte Buch der Metaphysik sehr klar in der Studie von Steinfath behandelt. 45 Relevant ist besonders GC 1.4 320a2–5. 46 Vgl. dazu vor allem Phy. 1.8. 47 Zur Interpretation vgl. auch Phy. 1.8 191b13–17. 48 Diese beiden Möglichkeiten der Beschreibung von Veränderung entsprechen natürlich nicht den beiden Perspektiven auf den Prozess Veränderung, die in (2.2.1) und (2.2.2) eingeführt worden sind, weil beide Weisen der Veränderung sowohl für die Veränderung der ousia als auch für die Veränderung der Eigenschaften an einer ousia Gültigkeit haben. 49 Zu einer detaillierten Diskussion der Positionen der genannten Vorsokratiker vgl. Elders 90–94. Der Text enthält ein schwieriges textkritisches Problem, auf das Charles 106–110 ausführlich eingeht. Alle wichtigen Manuskripte haben einen Text, den man wie folgt übersetzen müsste: „… wie auch mit der Lehre des Demokrit. Für uns ist alles der Möglichkeit nach, nicht aber der Wirklichkeit nach. Sie haben also…“. 50 Charles vertritt die Auffassung, dass die Annahme einer Materie, die ausschließlich einer Ortsbewegung zugrunde liegt, den Aristotelischen Materiebegriff inkonsistent macht (vgl. Charles 89–97). 51 Das bedeutet nicht notwendig, dass er davon ausgeht, dass jeder Philosoph die Ewigkeit der Himmelskörper akzeptiert [vgl. dazu den Kommentar zu (1.4.1)]. Wenn er in (2.5) darlegt, dass die wahrnehmbaren, aber ewigen ousiai nur eine Materie für die Ortsbewegung haben, dann will er damit lediglich zeigen, dass selbst für den Fall, dass die Himmelskörper ewig sind, die Annahme einer Materie notwendiges Ergebnis der Analyse der wahrnehmbaren ousiai ist. 52 Vgl. besonders Met. 9.10. 1051a34–b2, auch 14.2 1089a26–31. 53 Jaeger klammert in seiner Metaphysikausgabe diesen Satz ein. 54 Vgl. Met. 14.2 1089a26–31; vgl. auch Met. 9 1051a34-b1; anders Charles 89 Anm. 2, der sich auf Met. 11.11 1067b25–30 bezieht.
Anmerkungen zu S. 45–57
169
Vgl. dazu auch den ersten Satz von (2.5). Vgl. Met. 9.7 1049 a14–18. 57 Genau genommen ist nicht der Körper, sondern die Oberfläche des Körpers die Materie, an der sich Veränderungen der Farbe vollziehen. Diese Differenzierung spielt allerdings in dem uns interessierenden Kontext keine Rolle. 58 Dass diese Auffassung alles andere als philosophisch verstiegen ist, macht ein Interview deutlich, das die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova anlässlich ihres Auftritts als Ruggiero in der Premiere der Händeloper Alcina bei den Münchner Opernfestspielen 2005 kurz vor ihrem bevorstehenden 40. Geburtstag gegeben hat. Darin sagt sie u. a.: „Am 18. Juli werde ich 40. Mit jedem Jahr, das dazu kommt, fühle ich mich besser. Jetzt bin ich wirklich so, wie ich bin“ (Quelle: Münchner Merkur, 15. 7. 2005). 59 Anders Judson, der meint, die Einheit des Kapitels bestünde in der Priorität der Form bei der Herstellung und Erklärung von wahrnehmbaren ousiai (vgl. Judson 125). 60 Es ist auffällig, dass den meisten Abschnitten des dritten Kapitels jeweils viel ausführlichere Untersuchungen in den Kapiteln 7–9 des Buches Zeta der Metaphysik entsprechen. So diskutiert Aristoteles die Frage von (3.1), ob die Form und die Materie entstehen können, ausführlicher in Met. 7.8 1033 a24–b19. Dem Abschnitt (3.2) entspricht die Diskussion in Met. 7.9 1034 a21–b7. Zur Frage in (3.4), ob es neben der zusammengesetzten ousia noch einmal die Form dieser ousia gibt, äußert sich Aristoteles ausführlicher in Met. 7.8 1033 b20–19. Dabei fallen aber auch kleinere Unterschiede auf: In dem Paralleltext zu (3.1) ist lediglich davon die Rede, dass die letzte Form nicht entsteht, in dem Paralleltext zu (3.2) spricht Aristoteles nicht von Synonymität, sondern von Homonymität, ohne dass allerdings der Sache nach ein Unterschied ersichtlich wäre. Ein Vergleich zwischen den Kapiteln 7–9 von Zeta und Lambda 3 bringt Judson. 61 Vgl. Met. 7.8. 62 Vgl. Met. 7.7 1032 a30f. 63 Vgl. Met. 7.7 1032 b21–26. 64 In (4.4) zählt Aristoteles zwar die Formberaubung zu den Prinzipien, legt sich aber nicht darauf fest, dass die Formberaubung eine ousia ist. 65 Ob Aristoteles auch in anderen Schriften, vor allem in Met. 7.3, vertritt, dass die Materie eine ousia im eigentlichen Sinn ist, ist umstritten, vgl. Judson 129 und 129 Anm. 51. 66 Leider ist der griechische Text an dieser Stelle korrupt, so dass die Rekonstruktion nicht eindeutig sein kann. 67 Der Ausdruck kann entweder mit ,dieses Etwas‘ oder mit ,ein Dieses‘ bzw. ,ein Dies von der Art‘ übersetzt werden, vgl. zu den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten z.B. Frede/Patzig II 15, Rapp 9, Weidemann (in Rapp) 91f. Anm. 20. 68 Vgl. z.B. Cat. 3b12. 69 Vgl. Met. 9.1 1042 a27–28. 70 Judson schreibt dazu lakonisch „It is unclear why this is meant to be illuminating“ (129). 71 Vgl. dazu auch die Interpretation zu (3.2). 72 Auch die modernen Editoren entscheiden sich für unterschiedliche Lesarten. Unsere Übersetzung folgt dem Text von Jaeger (dem auch Judson 133 Anm. 61 folgt); anders Bonitz, Christ und Ross. 55 56
170
Anmerkungen zu S. 57–66
73 Ross schließt sich nicht der Handschrift J an, liest also kein ,nicht‘ im griechischen Text, und hat vorgeschlagen, den Teilsatz in den Abschnitt (3.3) zu verschieben, unmittelbar hinter „und Zugrundeliegendes“. So übersetzt Ross den Anfang von (3.3) mit: „There are three kinds of substance – the matter, which is a ‚this‘ in appearance (for all things that are characterized by contact and not, by organic unity are matter and substratum, e.g. fire, flesh, head; for these are all matter, and the last matter is the matter of that which is in the full sense substance)“. Das Beispiel von Feuer, Fleisch und Kopf erläutert demnach, was damit gemeint ist, dass die Materie in Berührung und nicht durch natürliches Zusammenwachsen ist. 74 Es gibt zwar Stellen in den Aristotelischen Schriften, in denen er auch Körperteilen wie einem Kopf den Status einer ousia zuspricht. Allerdings gilt das nur für den Fall, dass es sich um den Kopf eines lebendigen Wesens handelt. Ein abgetrennter Pferdekopf ist beispielsweise kein wirklicher Kopf mehr, weil er nicht mehr die Funktionen ausführen kann, die charakteristisch für die Funktionen eines Kopfes sind. 75 Diese Überlegungen machen deutlich, warum es durchaus attraktiv ist, Ross zu folgen und die Beispiele hinter ,Zugrundeliegendes‘ in (3.3) zu stellen. Zumindest das Beispiel des Kopfes könnte dann vielleicht den Unterschied zwischen Berührung und natürliches Zusammenwachsen verstehen helfen. Der lebendige Kopf ist mit dem Körper zusammengewachsen und eben als solcher keine Materie; der tote Kopf hat keine organische Einheit mehr mit dem Körper, sondern berührt ihn bloß noch (vgl. Cat. 7 8a13–21, auch Met. 7.11 1036b21–32). 76 Interessant ist auch die Einschränkung, dass ,wahrscheinlich‘ (gr. isōs) die ganze Seele nicht verbleiben kann. Es ist überraschend, dass Aristoteles sich an dieser Stelle nicht klarer von Platonischen Positionen abgrenzt. 77 Es gibt keinen guten Grund dafür, wie Judson den Schluss des Kapitels auf den Abschnitt (3.2) zu beziehen, vgl. Judson 134f. 78 Anders Crubellier, der meint, dass sich Aristoteles im vierten Kapitel vor allem mit dem Begriff des Elements (gr. stoicheion) auseinandersetzt, und dass der Begriff des Elements von einer Platonischen Konzeption der ersten Philosophie her zu verstehen sei. Weil der Begriff des Elements im fünften Kapitel keine große Bedeutung mehr habe und dort durch den Begriff der Ursache ersetzt werde, sei mit dem Ende des vierten Kapitels ein gedanklicher Abschluss erreicht (vgl. Crubellier 143). Dass diese Identifizierung ein wenig künstlich sein könnte, räumt er allerdings selbst ein (vgl. 157). Problematisch an Crubelliers Auffassung ist vor allem, dass die Platonische Auffassung, die Aristoteles in Lambda explizit kritisiert [vgl. z. B. in (3.5.2)], nicht darin besteht, irgendwelche internen Prinzipien wie die Elemente anzunehmen, sondern darin, fälschlich externe Prinzipien wie beispielsweise die Idee des Menschen anzunehmen. 79 Aristoteles diskutiert diese Unterscheidungen in Met. 5.6 1016b31–1017a2. 80 Vgl. Crubellier 138f. 81 Vgl. dazu den zweiten Abschnitt in dem Überblicksteil dieses Kapitels. 82 Das Beispiel ist von Aristoteles allerdings nicht frei erfunden, denn Xenokrates hat angenommen, dass es nur diese zwei Kategorien gibt, die ousia und das Relative. 83 Die Übersetzung hängt davon ab, ob man ,ti‘ als ein Frage- oder ein Indefinitpronomen interpretiert. 84 Vgl. auch z.B. Met. 14.1 1088b3f. 85 Zur Rekonstruktion des griechischen Textes vgl. Crubellier 146–148, dem ich im wesentlichen folge. Statt „Also für die intelligiblen Elementen, wie z. B.
Anmerkungen zu S. 67–76
171
dem Einen oder dem Seienden “ (so schon Schwelger 245) kann man, wenn man der Lesart eines anderen Manuskripts folgt (wie Ross und Jaeger), auch „Also gibt es auch von den intelligiblen Dingen, wie z. B. dem Einen oder dem Seienden, kein Element“ übersetzen. 86 Vgl. Crubellier 146–148. 87 Hinweise auf Passagen im Werk von Aristoteles, in denen er behauptet, dass die Silbe ‚ab‘ mehr als eine bloße Addition der Buchstaben a und b ist, helfen zur Interpretation des Buchstabenbeispiels in (4.2.3) nicht weiter, denn Aristoteles schreibt nicht, BA sei nicht mit A und B identisch, sondern BA sei weder mit A noch mit B identisch. 88 In dem Satz „[…] z. B. bei den sinnlich wahrnehmbaren Körpern ist vielleicht Form das Warme […]“. 89 Das Verständnis des Abschnitts wird ferner dadurch erschwert, dass erstens in einem Teil der Manuskripte, z. B. in Ab, nicht das durch E und J verbürgte „Was aber etwas bewegt oder zur Ruhe bringt, ist eine Art von Prinzip“ (gr. archē tis ousa) steht, sondern „ist eine Art von Prinzip und eine ousia“ (gr. archē tis kai ousia). Jaeger, dem ich folge, entscheidet sich für die erste, Ross für die zweite Lesart. Das Problem der zweiten Lesart besteht aber darin, dass die Behauptung, die Bewegungsursache sei eine ousia, selbst dann, wenn Aristoteles ihr der Sache nach zustimmen würde, ganz unvermittelt und ohne nähere Begründung im Text erscheint. Ein zweites Problem ist, dass der Satz „Und in diese wird das Prinzip geteilt“ in den Handschriften zweimal vorkommt: Zum einen an der Stelle, in der es auch in der vorliegenden Übersetzung steht, und ein zweites Mal ganz am Schluss von (4.5), wo er keinen Sinn ergibt und auch von allen Herausgebern des Textes emendiert worden ist. Offenbar ist schon in der Spätantike unklar gewesen, wo der Satz „Und in diese wird das Prinzip geteilt“ eigentlich stehen sollte. Crubellier weist ferner darauf hin, dass in einer arabischen Übersetzung der Satz „Und in diese wird das Prinzip geteilt“ unmittelbar hinter dem Satz „Was aber etwas bewegt oder zur Ruhe bringt, ist eine Art von Prinzip“ steht und schließt sich dieser Variante an (vgl. Crubellier 154f.). 90 Deswegen ist das gr. Wort ,hōdi‘ in der Übersetzung emphatisch mit ,eigentlich‘ übersetzt worden (in dem Satz „ […] in gewisser Weise drei Ursachen, eigentlich aber vier“). Normalerweise wird man ,hōdi‘ eher mit ,so‘ oder ,auf diese Weise‘ oder ,hier‘ übersetzen; vgl. auch Crubellier 156, der den Kontrast zwischen ,hōdi‘ und ,tropon tina‘ (dt.: ,in gewisser Weise‘) betont. 91 Vgl. auch den Überblickteil im Kommentar zum vierten Kapitel. 92 Vgl. zur eigenen Existenz der Form auch (3.4.1) und (5.2); zur Abtrennbarkeit der Form vgl. Hübner. 93 Das griechische dia touto, das normalerweise mit ,deshalb‘ übersetzt wird, weist nicht auf den ersten Satz zurück, sondern weist auf die Begründung, die im ,weil‘-Satz angeschlossen wird, voraus. Deswegen ist der Ausdruck hier mit ,aus folgendem Grund‘ übersetzt worden. 94 Die Änderung besteht darin, statt τα τα nun τατ zu lesen. 95 Wie stark diese Akzentveränderung einen Eingriff in den Text bedeutet, den Aristoteles selbst geschrieben hat, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Wir wissen, dass Aristoteles seinen Text in Großbuchstaben geschrieben hat, die normalerweise keine Akzente trugen. Allerdings wissen wir auch, dass schon bei Homer einige Wörter mit Akzenten versehen worden sind, um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Es ist also nicht auszuschließen, dass bereits Aristoteles das Wort mit einem Akzent ver-
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Anmerkungen zu S. 77–79
sehen hat und die byzantinischen Herausgeber des Aristotelestextes, die den Text durchgängig mit kleinen Buchstaben und Akzenten geschrieben haben, den Akzent korrekt aus einer Überlieferung, die bis zu Aristoteles zurückgeht, übernommen haben. Eindeutig ist nur, dass sich die modernen Editoren mit der Akzentveränderung gegen die überlieferten byzantinischen Handschriften stellen, vielleicht aber damit den Text richtig wiedergeben, wie Aristoteles ihn verstanden wissen wollte. 96 Hier sei vom ersten Satz von (5.5) abgesehen, da die Handschriftenlage in Bezug auf diesen Satz zu unsicher ist, als dass man ihn als eindeutiges Indiz dafür nehmen könnte, Aristoteles vertrete in (5.1), dass die Ursachen der ousiai die Ursachen aller anderen Dinge seien. 97 Diesem Argument könnte man allerdings mit dem Einwand begegnen, dass Aristoteles, wie wir beispielsweise aus dem vierten Kapitel wissen [vgl. (4.3)], manchmal lediglich Beispiele bringt, um etwas zu verdeutlichen, ohne sich selbst darauf festzulegen, dass die Beispiele in jeder Hinsicht gute Beispiele für die Annahme sind, die er verdeutlichen möchte. Man könnte zudem darauf hinweisen, dass man das erste Beispielpaar ,Seele‘ und ,Körper‘ auch anders verstehen könnte: Unter ,Körper‘ muss nicht die Materie eines Einzeldings gemeint sein, sondern kann auch das Einzelding selbst gemeint sein; die ,Seele‘, so könnte man argumentieren, habe für Aristoteles einen selbstständig abtrennbaren Teil [vgl. (3.5.1)], eben die Vernunft, die in der folgenden Beispielreihe ja auch eigens genannt wird und somit eine ousia wäre. Dieses Argument lässt sich allerdings durch einen Hinweis auf die zweite Beispielreihe „Vernunft, Streben und Körper“ entkräften. Wir können die zweite Beispielreihe kaum mehr auf diese Art und Weise interpretieren, denn dass das Streben eine ousia ist, ist ganz und gar unplausibel. Dass Aristoteles zwei Beispielreihen bringt, scheint eher daran zu liegen, dass er zum Ausdruck bringen möchte, dass ganz unabhängig davon, was für eine Theorie man von der Seele hat (ob sie beispielsweise als Form einfach ist oder als Form zwei Aspekte, Vernunft und Streben, hat), die Form und die Materie eines Lebewesens die Ursachen nicht nur für das Lebewesen selbst, sondern auch für die Qualitäten usw. des Lebewesens sind. 98 Bonitz übersetzt: „bald der Wirklichkeit, bald der Möglichkeit nach“; diese Übersetzung ist möglich, allerdings hat Code zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass ,bald‘ (gr. hote) nicht temporal verstanden werden darf (vgl. Code 167). 99 Die Übersetzung des Textes, den die Manuskripte bringen, ist eigentlich ,sofern sie selbstständig abtrennbar sind‘ oder auch ,wenn sie selbstständig abtrennbar sind‘. In der vorliegenden Übersetzung folge ich Codes Vorschlag (vgl. Code 170), im griechischen Text statt ,ean‘ (d. h. ,sofern‘ oder auch ,wenn‘) ,kan‘ zu lesen (d. h. in diesem Fall ,selbst wenn‘). Aristoteles behauptet, dass der Wirklichkeit nach die Form ist, selbst dann, wenn man wie Platon fälschlicherweise annimmt, dass die Form abtrennbar sei. 100 Vgl. Code 167–169. 101 Zu alternativen Interpretationen vgl. Code 172 f., Ross II 363 f., Elders 127–130 (der den Abschnitt als einen Text über das pneuma versteht), Reale 573, der zum gesamten Abschnitt meint, es sei ein „Passo molto difficile, e che presenta possibilità di interpretazioni diversissime“ (ebd.). 102 Code (vgl. Code 171 f.) beachtet in seiner Übersetzung und Interpretation zu wenig den Unterschied zwischen ou und mē in den beiden Relativsätzen (vgl. dazu Ross II 363 f.). Die vorliegende Übersetzung verdankt sich im wesentlichen einem Vorschlag von Oliver Primavesi.
Anmerkungen zu S. 79–90
173
103 Die Ekliptik ist diejenige Bahn, auf der die Sonne innerhalb eines Jahres am Himmelgewölbe entlang zieht. Diese Bahn steht in einem schrägen Winkel von ungefähr 23° Grad zum Himmelsäquator. Am 21. Juni hat die Sonne dabei ihren höchsten Punkt erreicht, am 21. Dezember ihren tiefsten Punkt. Durch diese unterschiedliche Stellung der Sonne zur Erde werden auf der Erde die Jahreszeiten konstituiert. Diese Beschreibung gilt natürlich nur für ein geozentrisches Weltbild, das aber auch heute noch in Teilen der Astronomie der Einfachheit halber verwendet wird. 104 Daran, dass der erste Satz zwei Arten von Prinzipien voneinander unterscheidet, kann wegen des zweiten Satzes kein Zweifel bestehen. 105 Diese These bedeutet nicht, dass man in einem konkreten Fall ein erstes Prinzip, z. B. die Form von Sokrates, nicht auch auf eine allgemeine Weise ausdrücken kann; man könnte z. B. von der Form eines Menschen oder (noch allgemeiner) von der Form eines Lebewesens sprechen. Nur spricht man, wenn man so spricht, nicht mehr von einem ersten Prinzip. 106 Zur näheren Diskussion vgl. Ross II 365f., Code 176–178. Die vorliegende Übersetzung folgt der Rekonstruktion von Ross, der dem Manuskript Ab und J2 folgt, aber mit Rolfes statt des einen Wortes ,eidē‘ (d.h. ,Formen‘) zwei Wörter ,ei dē‘ (d.h. ,wenn wirklich‘ oder ,wenn also‘) liest. Wenn man ,eidē‘ liest, dann wäre die Übersetzung des Satzes folgende: „Ferner sind die Formen der ousiai Ursachen. Aber für Verschiedenes sind Ursachen und Elemente, wie gesagt, verschieden“. Jaeger schließt sich den Manuskripten E und J an, und liest ,ēdē‘ (d. h. ,schon‘) statt ,eidē‘; die Übersetzung wäre dann: „Ferner, die Ursachen und Elemente der ousiai (aber verschiedene Ursachen und Elemente für verschiedene ousiai) sind schon, wie gesagt worden ist, Ursachen und Elemente von Dingen, die nicht zur selben Art gehören – von Farben, Tönen […] – wenn auch nur der Analogie nach“. 107 Das bedeutet nicht, dass es nicht eine allgemeine Art und Weise geben kann, über individuelle Formen zu sprechen (sonst wäre Metaphysik unmöglich). Es bedeutet auch nicht, dass man individuelle Formen, z. B. die Form von Sokrates, nicht allgemein aussagen kann und dann von der Form des Menschen oder der Form des Lebewesens spricht. 108 Der erste Satz ist im Griechischen syntaktisch unvollständig (vgl. Ross II 366). Der Sinn steht aber außer Frage. Die vorliegende Übersetzung glättet den Satz, der wörtlich mit einem Subjekt ohne folgendes Prädikat beginnt: ,Das Fragen nämlich, was die Prinzipien […]“. 109 Vgl. Ross II 367, Elders 136f. 110 Vgl. auch Crubellier 140. 111 Dabei ist zu berücksichtigen, dass z. B. mehrere Kinder denselben Vater, d. h. eine numerisch identische Bewegungsursache haben können. 112 Vgl. zum folgenden auch Oehler, der überzeugend gezeigt hat, dass in (6.1.2) nicht bereits eine ewige, unbewegliche ousia, sondern lediglich eine ewige wahrnehmbare ousia bewiesen wird. 113 In Phy. 8.1 251b10–28 bringt Aristoteles das Argument für die Ewigkeit der Zeit und der Bewegung in einer ausführlicheren Form, die aber der Sache nach auch nicht viel deutlicher ist. 114 Aristoteles geht, anders als wir, wegen der Begrenztheit des Universums davon aus, dass es keine unendlichen Geraden geben kann. Insofern stellt sich für ihn die Frage nicht, ob die Bewegung entlang einer unendlichen Geraden nicht auch ewig und kontinuierlich sein kann.
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Anmerkung zu S. 94–108
115 Dieses gilt allerdings nicht für die Himmelskörper, die man zwar sehen kann, die aber nur eine Materie für die Ortsveränderung haben. 116 Die griechischen Manuskripte bieten drei verschiede Möglichkeiten, den Satz zu übersetzen: (1) Also müssen sie wirkliche Tätigkeit sein; (2) also müssen sie in wirklicher Tätigkeit sein; (3) also müssen sie wirkliche Tätigkeiten sein. (1) ist problematisch, weil in unserem Kontext von ousiai im Plural die Rede ist; (2) wäre an sich gut möglich; allerdings wird im nächsten Kapitel [vgl. (7.2)] gesagt, das unbewegte Bewegungsprinzip des ersten Himmels sei wirkliche Tätigkeit. Diese Identifikation käme in (7.2) überraschend, wenn sie nicht schon eingeführt worden wäre. Ich nehme deswegen an, dass sie hier eingeführt wird und entscheide mich deswegen für (3). Vgl. auch Berti 192, der, allerdings aus etwas anderen Gründen, ebenfalls ,wirkliche Tätigkeiten‘ liest. 117 Vgl. zum Ganzen auch die Diskussion in Met. 9.8. 118 Zur Diskussion, welcher Theologe und Naturphilosoph gemeint ist, vgl. z. B. Elders 147. 119 Zur Frage, auf welche Behauptungen sich Aristoteles jeweils bezieht, vgl. Enders 148 f., Berti 195 f. 120 Der griechische Text der verschiedenen Manuskripte weicht teilweise voneinander ab, ohne dass sich der Sinn allerdings allzu sehr ändert, vgl. dazu Berti 195 f. Zur Diskussion der Platonkritik von Aristoteles vgl. Elders 152f. 121 Ross und Elders verweisen beispielsweise auf Met. 1071 b22–26 [d. h. (6.3.1)], aber, wie Ross selbst anmerkt, in dieser Passage sagt Aristoteles nicht, in welchem Sinn die Möglichkeit früher als die Wirklichkeit ist. Andere Interpreten (Schwelger, Reale, vgl. Berti 197) verweisen auf Met. 9.8. 122 Vgl. Met. 9.8 1049b19–27. 123 Vgl. Elders 156–159. 124 Vgl. z.B. Berti 198–200. 125 Vgl. dazu Ross II 371f. 126 Für diese Interpretation bietet es sich an, Schwelger und Reale zu folgen und ,im Kreislauf‘ als eine Glosse zu streichen, obwohl es alle Manuskripte bringen. Wenn man ,im Kreislauf‘ stehen lässt, dann ist es schwer, den ersten Satz nicht so zu verstehen, dass von dem Prinzip der Bewegung des Fixsternhimmels die Rede ist. 127 Vgl. dazu Kapitel 1 Anm. 1. 128 Vgl. dazu Laks 211f. 129 Es ist zwar ungewöhnlich, dass Aristoteles in (7.1.2) logos nicht mit physis, sondern mit ergon kontrastiert, aber vgl. ebenso in GA 729b8f. und vor allem 729b22. 130 Vgl. auch Laks 218 f., der von einer Zusammenfassung eines Arguments spricht. Zu verweisen ist vor allem auf Phy. 8.5, ein Kapitel, in dem Aristoteles dafür argumentiert, dass ein infiniter Regress ausgeschlossen werden und das erste Bewegende selbst unbewegt sein muss. 131 Vgl. Ross II 374 und ausführlich Elders 162–165. 132 Laks weist darauf hin, dass der griechische Text immerhin noch so gut ist, dass er alle Wörter enthält, die wir brauchen, um das Argument zu rekonstruieren (vgl. ebd. 219). 133 Diese Auffassung vertreten Broadie und Berti in verschiedenen Publikationen zu diesem Thema. 134 Vgl. Cael. 284a27–35. 135 Vgl. Theophrast Metaphysik 5a14–25.
Anmerkungen zu S. 108–123
175
Vgl. Cael. 2.12 292a18–22. Vgl. GC 2.10 336b27–337a7. 138 Vgl. Frede 1996. 139 Vgl z.B. Met. 1.5 986a23, 4.2 1004b27. 140 Die hier erwähnten Schwierigkeiten haben ihren sachlichen Grund vielleicht auch darin, dass nicht klar ist, wie sich der Ausdruck ,das Gute‘ in die eine Seite der systoichia einfügt. 141 So die Deutung von Pseudo-Alexander. Es ist auch möglich, dass Aristoteles lediglich eine seinen Schülern gut bekannte Unterscheidung ins Gedächtnis rufen möchte, allerdings hätte er sich dann etwas ungewöhnlich ausgedrückt. 142 Vgl. ausführlich Laks 228–230. 143 Vgl. Phy. 8.7 260a26–261a16. 144 Vgl. dazu Phy. 8.9 265a13–b16. 145 Die verschiedenen Bedeutungen von ,notwendig‘ werden von Aristoteles in Met. 5.5 ausführlich erläutert. 146 Vgl. dazu Kahn, der überzeugend Interpretationen kritisiert, die das unbewegt Bewegende lediglich als Prinzip der Himmelsbewegungen verstanden wissen wollen. 147 Vgl. auch Sedley 333f.; anders Laks 221 Anm. 37. 148 Vgl. Met. 9.8 1050 b28–30. 149 Vgl. De an. 2.4 415a26–b2. 150 Vgl. Kahn. 151 Wir werden im neunten Kapitel sehen, dass diese Behauptung noch weiter differenziert werden muss, weil die Vernunfttätigkeit des Menschen sich nur dann nicht von der Vernunfttätigkeit des ersten Prinzips unterscheidet, wenn der Mensch über Dinge ohne Materie oder in Absehung von ihrer Materie nachdenkt. 152 Vgl. Schwelger 19f., der auf Met. 1.2 981b18 und 1.3 982b23 verweist. 153 Zum Zusammenhang zwischen diagōgē und theōria vgl. Schwelger 20. 154 Hoffnungen und Erinnerungen basieren auf Wahrnehmung und Vernunft und sind insofern gegenüber Wahrnehmung und Vernunft sekundär. 155 Vgl. zum folgenden vor allem De an. 3.4. 156 Vgl. dazu De an. 3.8. 157 Vgl. dazu Bordt (2006b). 158 Ich folge in der Rekonstruktion des griechischen Textes im wesentlichen Laks 235–237. Das Problem der Passage besteht darin, dass nicht eindeutig ist, worauf sich das griechische Wort ekeinos (bzw. ekeinou) bezieht, das in unserer Übersetzung mit ,jene aber ist die wirkliche Tätigkeit‘ bzw. ,Ihre wirkliche Tätigkeit an sich‘ übersetzt worden ist. Wir haben ekeinos auf die Vernunft bezogen. Man könnte ekeinos aber auch auf Gott beziehen und dann übersetzen: ,jener aber ist die wirkliche Tätigkeit‘ bzw. ,Seine wirkliche Tätigkeit an sich‘. 159 Vgl. Met. 1.2 982b28–983a11. 160 Vgl. Met. 6.1 1026 a18–23. 161 So auch Laks 237 f. 162 Vgl. dazu die ausführlichere Argumentation in Phy. 8.10. 163 Das griechische Wort dynamis, das an dieser Stelle mit ,Kraft‘ übersetzt worden ist, ist an anderen Stellen in Lambda mit ,Vermögen‘ oder ,Möglichkeit‘ übersetzt worden. Diese Übersetzung wäre aber an dieser Stelle irreführend, weil die erste ousia auf Grund ihrer Notwendigkeit kein unbegrenztes Vermögen oder keine unbegrenzten Möglichkeiten haben kann. 136 137
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Anmerkungen zu S. 128–134
164 Ross weist in seinem Kommentar (II 382) auf eine Untersuchung hin, die zeigt, dass stilistisch große Passagen des achten Kapitels, und zwar, beginnend schon mit (7.8) im letzten Kapitel, (8.1) bis einschließlich (8.3.2) und (8.7) frei von Hiaten sind. 165 Jaeger 366–392. 166 Ross II 384. 167 Es ist beispielsweise nicht auszuschließen, dass Aristoteles eine frühere Version des achten Kapitels stilistisch noch einmal überarbeitet hat. 168 Beere zitiert Neugebauer, der 1975 ein dreibändiges Werk über die Geschichte der antiken Astronomie geschrieben hat (Neugebauer, O.: A History of Ancient Mathematical Astronomy, New York 1975) und gemeint hat, wir Interpreten sollten unsere totale Unwissenheit (,total ignorance‘) bezüglich der Frage, wie Kallippos das Modell von Eudoxos modifiziert, zugeben (vgl. Beere 5 Anm. 11). 169 Vgl. auch (10.1) und den Schlusssatz des zehnten Kapitels, aus dem klar hervorgeht, dass das unbewegt Bewegende der Fixsternsphäre eine unter den anderen unbewegt Bewegenden herausgehobene Funktion hat, weil es das erste ist. 170 Vgl. GC 2.10 337a21f. 171 Zur Interpretation der antiken Astronomie Lindberg (vor allem 96–103) und van der Waerden (vor allem 40–70 und 93–101). 172 Dass die Bewegungen der sieben Himmelskörper schon immer als kompliziert empfunden wurden, zeigt sich schon an der Etymologie des griechischen Wortes für ,Planet‘, planēton. Das Substantiv ,planēton‘ leitet sich von dem Verb ,planaō‘ ab, und ,planaō‘ bedeutet ,umher irren‘ oder ,umher wandern‘ im Sinne einer ordnungs- und ziellosen Bewegung. 173 Dass die Sphären jeweils kleiner werden, je näher sie zur Erde stehen, soll hier nur der besseren Veranschaulichung dienen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Eudoxos und Kallippos tatsächlich angenommen hätten, dass die Sphären nicht denselben Radius haben. 174 Manche Interpreten des zwölften Buches der Metaphysik haben deswegen gemeint, zumindest das achte Kapitel des zwölften Buches könne nicht vor 330 geschrieben worden sein (z. B. Jaeger 366–392). Da wir aber nicht wissen, wann Kallippos seine astronomische Theorie entwickelt hat, ist dieses Argument kein gutes Argument für eine Spätdatierung des zwölften Buches oder des achten Kapitels des zwölften Buches. 175 Ob hier ein Schreibfehler vorliegt, ist schon in der Antike diskutiert worden, vgl. Ross II 393 f. und Elders 229–231, der Gründe dafür nennt, warum man an der Zahl 47 festhalten sollte. 176 Ein ernsthaftes Problem besteht darin, dass das Modell von Aristoteles ganz offensichtlich sechs mathematisch überflüssige Sphären enthält. Die Bewegung des Fixsternhimmels wird nämlich siebenmal gezählt, und mathematisch gesehen wäre eigentlich nur notwendig, sie ein einziges Mal zu zählen. Das Besondere des Modells von Aristoteles gegenüber Eudoxos und Kallippos besteht ja darin, nicht für jeden Himmelskörper ein eigenes Sphärenmodell angenommen zu haben, die dann am Schluss addiert werden, sondern alle Sphären ineinander zu verschachteln. Dann bräuchte man aber die Bewegung des Fixsternhimmels nur ein einziges Mal und nicht siebenmal zu zählen. In einer sachlich angemesseneren, aber etwas komplizierteren Weise, müsste man dieses Problem wie folgt ausdrücken: Die letzte zurücknehmende Sphäre des Saturn ist in der Bewegung identisch mit der ersten Sphäre des Jupiter, und das ist die Bewegung des Fixsternhimmels. In dem Aristotelischen Modell kom-
Anmerkungen zu S. 136–143
177
men außer der bereits genannten noch an fünf weiteren Stellen solche eigentlich überflüssigen Sphären vor: Die letzte (zurücknehmende) Sphäre des Jupiters ist mit der ersten vom Mars identisch, die letzte vom Mars mit der ersten der Venus, die letzte der Venus mit der ersten vom Merkur, die letzte vom Merkur mit der ersten der Sonne und die letzte der Sonne mit der ersten vom Mond. Mit diesem Problem beschäftigt sich ausführlich der Aufsatz von Beere. 177 Vgl. Lloyd 263f. 178 Ausführlich argumentiert Aristoteles dafür in Phy. 8.5 257a33–258a. 179 Ross setzt in seiner Übersetzung von Lambda diesen Abschnitt deswegen auch in Klammern. Dass es sich um einen Exkurs handelt, der vermutlich erst später in den Text aufgenommen worden ist, zeigt auch der erste Satz von (8.7), in dem sich das Demonstrativpronomen ,diese‘ auf die göttlichen Körper, die im Schlusssatz von (8.5.2) erwähnt werden, bezieht [vgl. den Kommentar zu (8.7)]. 180 Eine ausführliche Diskussion dieser Frage findet sich in Cael. 1.8–9. 181 Allerdings gibt es dabei ein grammatisches Problem. ,Körper‘ ist im griechischen ein Wort, das im Neutrum steht, das Demonstrativpronomen ist aber im Maskulinum Plural. Lloyd schlägt vor, dass die Maskulinform eine Attraktion ist, die durch die Maskulinform ,Götter‘ erklärt werden kann (Lloyd 268). 182 Sokrates weist in Platons Apologie 26d1–9 den Vorwurf, er glaube nicht an Götter, mit der Frage zurück, ob sein Ankläger Meletos wirklich meine, er halte weder die Sonne noch den Mond für einen Gott, wie es die anderen Menschen auch täten; als Meletos seine Frage bejaht, weist Sokrates ihn darauf hin, dass Meletos ihn offenbar mit Anaxagoras verwechsele. 183 Vgl. DK [H. Diels und W. Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Vol. I–III, Berlin 1951–1952] 84 B 5. 184 So z.B. Ross II 396f. 185 Es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Annahme, das neunte Kapitel handele vom Denken Gottes, misslich ist. Spätestens das achte Kapitel hat jedem Leser hinreichend deutlich gemacht, dass es nicht nur eine einzige unbewegte ousia gibt, sondern dass 55 (oder 49) unbewegte ousiai angenommen werden müssen. Es ist zwar unklar geblieben, wie diese 55 ousiai aufeinander bezogen sind, aber Aristoteles scheint davon auszugehen, dass die Eigenschaften, die im sechsten und siebten Kapitel für das eine oberste Prinzip von allem entwickelt worden sind, auch für die 54 (bzw. 48) restlichen unbewegten ousiai gelten. Wir haben nicht nur einen Intellekt, dessen Vernunfttätigkeit zu untersuchen ist, sondern 55 (respektive 49) Intellekte. Insofern sie Vernunfttätigkeiten sind, unterscheiden sie sich nicht voneinander. Das muss nicht bedeuten, dass sich für alle 55 unbewegten ousiai das Problem auf die gleiche Weise stellt. Die 54 ousiai, die nicht das oberste Prinzip sind, werden ja auf irgendeine Weise auf die oberste ousia bezogen sein. Da die 54 ousiai ebenso wie die oberste ousia ihrem Wesen nach Vernunfttätigkeiten sind, wäre es merkwürdig, wenn sie nicht als ein Objekt ihres Denkens die oberste ousia hätten, aber auf eine andere Weise, als die oberste ousia sich selbst denkt. 186 Aristoteles gebraucht auch das substantivierte Verb ,to noein‘, das mit ,das Denken‘ übersetzt wird. 187 Die berühmte Formel, das Denken sei Denken des Denkens, in der Aristoteles dreimal ,noēsis‘ verwendet, müsste, wollten wir ,noēsis‘ stets mit ,Vernunfttätigkeit‘ übersetzen, „die Vernunfttätigkeit ist Vernunfttätigkeit der Vernunfttätigkeit“ heißen.
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Anmerkungen zu S. 143–156
188 Ein Problem ist, dass das griechische phainomenon eigentlich nur diejenigen Dinge umfasst, die man sehen kann. Eine dafür angemessene Übersetzung ist ,das Erscheinende‘. Da Aristoteles die Vernunft aber im neunten Kapitel zu den phainomena zählt, wird man hier einen weiten Begriff von phainomena annehmen müssen; vgl. dazu Ross II 397, Elders 248f. und Brunschwig 277 Anm. 1. 189 Insofern ist es schwer, Brunschwig zuzustimmen, der in seinem Kommentar zum neunten Kapitel die Tendenz verfolgt, das neunte Kapitel vom siebten Kapitel zu trennen. Brunschwig ist der Auffassung, dass das siebte Kapitel die Frage, was die Vernunft erkennt, befriedigend beantworte. Das neunte Kapitel bringe hingegen lediglich Vorüberlegungen, die Aristoteles zu der Zeit, als er das siebte Kapitel schrieb, längst hinter sich gelassen habe. 190 Zum Vergleich des Denkens mit der Wahrnehmung vgl. De an. 3.4. 191 Vgl. auch den Vorschlag von Sandbach. 192 So z. B. ausführlich Brunschwig. Brunschwig zitiert Norman: „the Prime Mover is a sort of heavenly Narcissus, who looks around for the perfection which he wishes to contemplate, finds nothing to rival his own self, and settles into a posture of permanent self-admiration“ (Brunschwig 287 Anm. 44). 193 Brunschwig, ein Vertreter der Narziss-These, meint, dass Aristoteles im neunten Kapitel lediglich ein Gedankenexperiment vortrage, das er zu der Zeit, in der er das siebte Kapitel geschrieben habe, nicht mehr vertreten habe. Die Ausführung im siebten Kapitel über die Vernunft seien mit denen im neunten Kapitel nicht vereinbar. Im siebten Kapitel entwerfe Aristoteles ein dynamisches Modell, im neunten ein statisches Modell: Zunächst komme die Vernunft in Kontakt mit dem Objekt, dann identifiziere sie sich mit ihm, und so werden beide eines (vgl. Brunschwig 303). Brunschwig kann diese Auffassung m. E. nur deswegen vertreten, weil er (9.3.2) zu knapp interpretiert; er meint ferner, er könne aus Gründen der Komplexität des Problems nicht auf De an. 3.4 eingehen. Wenn man verstehen möchte, warum die Vernunft die ousia ohne Materie ergreift und warum dann die Vernunft sich selbst denkt, wird man aber an dem Schluss von De an. 3.4 nicht vorbeikommen, da Aristoteles dort genau diese Fragen klärt. 194 Diese Antwort beruht aber auf der Annahme, dass ,das Gute‘, gr. ,to eu‘, im Sinne der sonstigen Superlative im Kapitel zu verstehen ist. 195 Der ganze Abschnitt (9.4) ist schon von der Sprache her schwer zu verstehen. Es ist beispielsweise unklar, worauf sich der Ausdruck ,das Zusammengesetzte‘ bezieht; Ross II 398 f. und Kosman 326 verstehen den Ausdruck so, dass Aristoteles nicht nur die menschliche Vernunft mit der Vernunft Gottes vergleicht, sondern über diese beiden noch eine dritte Art einführt: Alle Lebewesen, die aus Form und Materie zusammengesetzt sind. Zur genaueren Diskussion der grammatikalischen Schwierigkeiten vgl. Brunschwig 298–300. 196 Dass Aristoteles im ersten Satz von der ,Natur des Ganzen‘ spricht, muss nicht bedeuten, dass die Natur eine eigene Entität ist, so dass das Ganze eine eigene Natur hätte (anders Sedley 329). Aristoteles spricht wahrscheinlich von der Natur des Ganzen, um die Einheit des Ganzen in seinen verschiedenen Teilen zu betonen. 197 Frede vermutet, dass Aristoteles deswegen das griechische Wort strateuma und nicht das eigentlich gebräuchlichere Wort stratos als Wort für das Heer gebraucht [vgl. Frede (2000 a) 40]. 198 Vgl. De an. 2.4 415a26–b7. 199 Vgl. Met. 9.8 1050b28–30.
Anmerkungen zu S. 157–163
179
200 Um zu diesen beiden Deutungen zu kommen, ist es nicht notwendig, die Reihenfolge der griechischen Worte zu ändern, wie es Jaeger vorschlägt, der das von allen Manuskripten überlieferte ,toiautē gar hekastou archē autōn hē physis‘ in ,toiautē gar archē hekastou autōn hē physis‘ ändert (zu anderen Vorschlägen der Textrekonstruktion vgl. Sedley 329). 201 Diese Deutung vertritt beispielsweise Sedley 334f. 202 Zur Identifikation der Natur mit der Form vgl. (3.3). 203 Vgl. dazu Met. 14.1 1087b4–12. 204 Vgl. Met. 9.9 1051 a15–21. In dieser Textpassage argumentiert Aristoteles gegen die Annahme, das Schlechte sei ein Prinzip. 205 Vgl. Sedley 339. 206 Vgl. Ross II 402, Elders 280f., Sedley 339. 207 Sedley interpretiert den ersten Satz von (10.2.4) noch als Kritik an Anaxagoras. 208 Vgl. Ross II 404. 209 Vgl. zur Analyse ausführlich Sedley 344f. 210 Zur Übersetzung vgl. Sedley 347. 211 In Bezug auf Zahlen stellt sich diese Frage, weil Zahlen vor allem als eine Anzahl von Punkten, die jeweils Einheiten sind und aufgezeichnet werden können, angesehen werden. Der Unterschied zwischen 5 Punkten und der Zahl 5 wäre also, dass die 5 Punkte eine Einheit bilden. 212 Vgl. auch Sedley 348. 213 Vgl. Met. 7.2 1028 b21. 214 Vgl. Ilias 2.204.
Abkürzungen der Werke von Aristoteles Met. Cat. GA GC De an. Cael. Phy. Top.
Metaphysik Kategorien De generatione animalium (Über die Entstehung der Tiere) De generatione et corruptione (Über Entstehen und Vergehen) De anima (Über die Seele) De caelo (Über den Himmel) Physik Topik
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