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German Pages 386 Year 2002
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 874
Archivrecht Die Archivierungspflicht öffentlicher Stellen und das Archivzugangsrecht des historischen Forschers im Licht der Forschungsfreiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG
Von Bartholomäus Manegold
Duncker & Humblot · Berlin
BARTHOLOMÄUS MANEGOLD
Archivrecht
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 874
Archivrecht Die Archivierungspflicht öffentlicher Stellen und das Archivzugangsrecht des historischen Forschers i m Licht der Forschungsfreiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG
Von Bartholomäus Manegold
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Manegold, Bartholomäus: Archivrecht: die Archivierungspflicht öffentlicher Stellen und das Archivzugangsrecht des historischen Forschers im Licht der Forschungsfreiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG / Bartholomäus Manegold. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 874) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10322-X
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10322-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Würtenberger, der die Entstehung der Arbeit gefördert und betreut hat, sowie Herrn Verfassungsrichter a.D. Prof. Dr. Böckenförde, in dessen verfassungsrechtlichen Seminaren die Anregung zur Beschäftigung mit dem archivrechtlichen Themenkreis geboren wurde. Die Arbeit widme ich meiner Frau Elisabeth und unseren Kindern Leonhard, Ottilie und Wenzel. Berlin im Sommer 2001 Bartholomäus Manegold
Inhaltsverzeichnis
1. T e i l Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
1. Kapitel Archive und Geschichtswissenschaft I.
II.
19
Begriff und Anfänge des Archivwesens
19
1. Die unterschiedlichen Archivbegriffe
19
2. Anfänge des öffentlichen Archivwesens
21
Die Entstehung der historischen Funktion und die Öffnung Archive in Frankreich und Deutschland
der
1. Das historische „ius archivi" und die Beschränkung des Archivzugangs
24
2. Die Öffnung der Archive in Frankreich: Das Gesetz vom 7. Messidor des Jahres 13 (25. Juni 1794)
25
3. Die Reformdiskussion in Preußen: Hardenbergs unvollendeter Versuch einer umfassenden Öffnung der Archive für die historische Forschung
27
a) Stellungnahmen der preußischen Akademie der Wissenschaften von 1819 und 1821 zur Archivbenutzung
28
b) Die erste Ankündigung freier öffentlicher Nutzung von staatlichen Archiven 4. Die historische Legitimationsfunktion öffentlicher Archive III.
IV.
23
31 32
Zur Bedeutung der Archive für Geschichte und Geschichtswissenschaft
34
1. Die öffentliche Funktion der Geschichtswissenschaft
34
2. Die Entstehung der Geschichtswissenschaften als Bedingung und Folge eines öffentlichen Archivwesens
36
3. Bedeutung öffentlicher Archive für die „Zeitgeschichte"
39
Zusammenfassung
41
Inhaltsverzeichnis
8
2. T e i l Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen 2. Kapitel Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen des Grundgesetzes für ein öffentliches Archivwesen A. Einrichtung und Unterhalt öffentlicher Archive als Ableitung verfassungsrechtlicher Leitprinzipien und Staatsaufgaben I.
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) 1. Pflicht zu Einrichtung und Unterhalt öffentlicher Archive 2. Neutralität der Archive a) Rechtsstaatliche Neutralität als verfassungsrechtlich gebotenes Prinzip für die archivarische Tätigkeit (Bewertung, Kassation) . b) Rechtsstaatliche Neutralität als verfassungsrechtliche Vorgabe für die organisationsrechtliche Stellung der Archive
43
44 44 44 45 46 47
II.
Demokratieprinzip
48
III.
Normativer Gehalt eines Kulturstaatsgebots?
50
B. Organisationsrechtliche Vorgaben der Grundrechte
52
I.
II. III.
Die objektiv-institutionellrechtliche Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG .
52
1. Sicherung der Voraussetzungen freier historischer Forschung durch den Unterhalt öffentlicher Archive 2. Pflicht öffentlicher Stellen zu Anbietung und Archivierung 3. Weisungsunabhängigkeit und Selbständigkeit der Archive
52 54 55
Das öffentliche Archivwesen als Element einer grundrechtlich vorgegebenen „Kommunikationsverfassung"
55
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 1. Funktion des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung . .
56 56
a) Schutzbereich und Schranken b) Datenschutzrechtlicher Gesetzesvorbehalt 2. Archivierung als Eingriff a) Archivierung als Vorrats speicherung b) Archive als eigenständige Stellen 3. Archivierung als Datenschutzmaßnahme (Löschungssurrogat) a) Regelungsdichte der Archivierungsermächtigungen
56 58 59 59 59 61 61
b) Abschottung durch öffentlicher Archive
organisationsrechtliche
Verselbständigung
c) Archivierung rechtswidrig erhobener Daten IV. .
Einrichtung des Bundesarchivs als rechtsfähige, bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts? Zusammenfassung
63 63 63
9
Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers aus Art. 5 Abs. 3 G G
65
A. Der Schutzbereich historischer Forschungsfreiheit I.
II.
III.
65
Der Standpunkt der Rechtsprechung zum Archivzugang
65
1. V G H München vom 13.02.1985 zur Archivbenutzungsordnung des Stadtarchivs Passau
66
2. OVG Koblenz vom 27.10.1982 zum Antrag auf Nutzung von Archivgut des Bundesarchivs
67
Vorfrage: Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG als gegenüber Art. 5 Abs. 3 GG vorrangiges Spezialgrundrecht bei „staatlichen Informationen" (Sperrwirkung)? 1. Kein Archivzugangsrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG 2. Kein Vorrang von Art. 5 Abs. 1 GG gegenüber Art. 5 Abs. 3 GG .
69 70 72
Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers als Rechtsfolge der objektivrechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG
74
1. Archivzugangsanspruch des Forschers als „Informationsanspruch" aufgrund staatlichen „Informationsmonopols"? a) Rechtsprechung zum Monopolargument b) Prämissen des „Monopolarguments" IV.
V.
74 75 76
2. „Originäre" subjektive Ermessensnorm aus Art. 5 Abs. 3 GG? . . . .
78
Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. Alt. GG und die Nutzung öffentlichen Archivguts
79
1. Die Schutzbereichsdefinition der Forschungsfreiheit des BVerfG
..
80
2. Wissenschaftliche Forschung mit öffentlichem Archivgut und Forschungsfreiheit
82
a) Persönlicher Schutzbereich der Forschungsfreiheit
82
b) Forschungsfreiheit der Archivare
86
c) Wissenschaftliche Archivrecherche als bloße „Vorarbeit"?
87
d) Die Eigengesetzlichkeit der Geschichtswissenschaft und ihrer spezifischen Methoden
90
e) „Keine Sonderrolle des Staats" als Forschungsobjekt
92
f) Die Freiheit der Anwendung historischer Methoden
94
3. Juristische Forschung und der Zugang zu Gerichtsentscheidungen, VerwaltungsVorschriften, etc
95
4. Zwischenergebnis
96
Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers als Rechtsfolge der abwehrrechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. Alt. GG . .
97
1. Prämissen der herrschenden Meinung
97
2. Archivzugang als Ausübung positiv-verfaßter, realer Freiheit
98
3. Die Archivnutzung als gestuftes Teilhabe-/Freiheitsverhältnis
100
Inhaltsverzeichnis
10
4. Schutzbereichsabhängiger Eingriffsabwehrbegriff für die wissenschaftliche Forschungsfreiheit 101 5. Inhalt des Abwehrrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG: Anspruch auf Beseitigung der forschungsverhindernden Verbotswirkungen durch Zulassung zur Archivgutnutzung 104 VI.
Vergleich zu Frankreich: Das Archivzugangsrecht als „garantie fondamentale accordee aux citoyens pour l'exercice des libertes publiques" nach französischem Verfassungsrecht 105
VII. Ergebnis und organisationsrechtliche Bedeutung
106
B. Die Schranken des Archivzugangsrechts I.
108
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 109 1. Das Verhältnis von Art. 5 Abs. 3 GG zu Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG 109 2. Sachliche Schutzbereichsgrenzen 110 a) Faktische Anonymisierung
110
b) Einverständnis
111
c) Bagatelldaten ohne Relevanz für die Handlungs- oder Entschlußfreiheit 111 d) Zwischenergebnis 113 3. Zeitliche Schutzbereichsgrenzen. „Postmortaler Persönlichkeitsschutz"? 114 a) Das Autonomieprinzip als zeitliche Begrenzung 114 b) Kein postmortaler Erwartungsschutz 114 c) Kein Schutz „des Andenkens des Verstorbenen" 115 4. Postmortale Datenrestriktion aufgrund des Menschenwürdesatzes des Art. 1 Abs. 1 GG 117 5. Konsequenzen für die Archivgesetzgebung a) Beschränkung des postmortalen Geheimnisschutzes Dimension objektivrechtlicher Schutzpflichten
119 auf
die 119
b) Verbot unverkürzbarer Sperrfristen und starrer Schranken
120
c) Abwägungskriterien
121
d) Verfassungskonforme Auslegung der allgemeinen archivgesetzlichen Sperrfrist und der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut 123 II.
Art. 20 GG i . V . m . Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke des Art. 5 Abs. 3 GG 123 1. Begrenzungstauglicher Charakter von Art. 20, Art. 79 Abs. 3 GG. . 123 2. Geheimhaltung als Konkretisierung der Verfassungsprinzipien des Art. 20 GG 125
III.
a) Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
126
b) Organisationsgewalt, Verantwortlichkeit der Exekutive
126
c) Äußere und innere Sicherheit des Staates
127
Zusammenfassung
129
11
Inhaltsverzeichnis 3. T e i l Archivverwaltungsrecht 4. Kapitel Allgemeiner Teil
130
A. Entstehung des Bundesarchivgesetzes I.
II.
130
Erforderlichkeit von Archivierungsermächtigungen
130
1. 2. 3. 4.
130 132 133 136
Rechtslage vor Inkrafttreten der Archivgesetze Erste Stellungnahmen zur Frage eines „Archivrechts" Zur Archivierung untaugliche Bestimmungen Anstoß zur Archivgesetzgebung in Bund und Ländern
Regelungstechnik 1. Qualifizierte und einfache Geheimhaltungsgebote
138 138
2. Beschränkte Gesetzgebungskompetenz der Länder im Bereich der „Geheimhaltung" 139 3. Archivgesetze oder spezialgesetzliche Öffnungsklauseln 140 III.
Bundeskompetenzen für das Archivwesen
141
1. Ausgangssituation 141 2. Art. 74 Nr. 13 GG. Konkurrierende Bundesgesetzgebungskompetenz für die „Förderung der Forschung" 143 3. Annexkompetenzen zu Art. 74 Nr. 13 GG 146 4. Summe der Annexkompetenzen zu den übrigen ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes 147 5. Art. 74 Nr. 5 GG a. F.? 6. Ergänzende ungeschriebene Bundesgesetzgebungskompetenzen? 7. Ergebnis
147 . . 148 150
IV.
Ländergesetzgebungskompetenz
150
V.
Die parlamentarische Diskussion zum Bundesarchivgesetz
151
1. Politischer Konsens über die Stärkung der Stellung der Archive . . . 2. Gesetzliche Ausgestaltung des Archivbenutzungsanspruchs 3. Das Dilemma archivgesetzlicher Anbletungspflichten und Anbietungsfristen für Unterlagen der Exekutive 4. Schwerpunkte der Sachverständigenanhörung im Innenausschuß des Bundestages a) Garantie „archivarischen Ermessens". Bewertungsmonopol der Archive? b) Bedeutung von Individualdaten: Anonymisierung als „Geschichtsfälschung"
151 152 153 154 156 158
c) Anonymisierung und Benutzungseinschränkungen als „funktionale Äquivalente" 161 d) Datenabschottung durch organisatorische und funktionale Verselbständigung des Archivs 162
Inhaltsverzeichnis
12 VI.
Verabschiedung, BDSG, StUG
Gesetzesänderungen,
Verhältnis
des BArchG
163
VII. Zusammenfassung
165
B. Archivrechtliche Begriffe I.
II.
III.
zu
166
Archivfachliche Gesetzesbegriffe
167
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
167 167 169 171 172 174 177
Archivgut Archivierung Erschließung Weitere staatliche Archivaufgaben: Abschottung, etc Archiv Würdigkeit Bewertungskompetenz Zwischen- und Auftragsarchivierung
Öffentliche Archive als freiheitssichernde Anstalten 179 1. Institutionelle Definition des Staatsarchivs 179 a) Problematik des Anstaltsbegriffs 180 b) Neuere Anstaltstypen 181 c) Freiheitssichernde Funktion und organrechtliche Verselbständigung 182 2. Organisatorischer Aufbau
183
Weitere Arten öffentlicher Archive
183
1. Staatliche Sonderarchive a) Parlamentsarchive b) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes 2. Kommunalarchive
184 184 186 187
3. Archive der Kirchen, Rundfunkanstalten, Universitäten, öffentlichen Unternehmen 188 4. Archive der politischen Parteien 189 IV.
Öffentlicher Archivar i m höheren Archivdienst
191
5. Kapitel Die Entstehung von öffentlichem Archivgut A. Die Anbietungs- und Übergabepflicht aller öffentlichen Stellen I.
192 192
Adressaten der Anbietungs- und Abgabepflicht 195 1. Bundeskanzler und Mitglieder der Bundes- und Landesregierungen, politische Spitzenbeamte 195 a) Exekutivmitglieder als abgabepflichtige Stellen 195 b) Umfang der Abgabepflicht: Vermutung für die öffentliche Funktion. „Privatdienstliche" Schreiben 197 2. Vergleich zu Frankreich (versement des papiers lies à Texercice d'une fonction politique) 198
13
Inhaltsverzeichnis 3. Sicherheitsbehörden: M A D , BND, B K A etc
199
4. Beamtenrechtliche Bedeutung der Archivierungspflicht. Problem der eigenmächtigen Archivierung des weisungsgebundenen Beamten 200 5. Berechtigte Stellen. § 2 Abs. 3 BArchG und Landesarchivgesetze II.
. 202
Übernahme verfahren. Zeitliche Vorgaben für die Anbletungspflicht .. . 204 1. Optionsrecht der Archive, Übernahmefristen
204
a) Massenunterlagen
205
b) Normierte Übernahmeverfahren
206
2. 30jährige Regelfrist für die Vermutung der Aufgabenerledigung . . . 206 3. Fristbeginn
208
4. Bedeutung des § 5 Abs. 8 BArchG für die Durchsetzung der Anbletungspflicht 209 III.
Rechtsnatur der Anbletungspflicht
210
1. Kein subjektiv-öffentliches Recht
210
2. Organrecht
211
a) Staatsdistanz
213
b) Besondere Zuordnung
215
IV.
Strafrechtliche Sanktionen
216
V.
Zusammenfassung
217
B. Umfang und Grenzen der Anbletungspflicht. Übergabeermächtigungen I.
. . . . 217
Archivierung personenbezogener Unterlagen
218
1. Archivierung als datenschutzrechtliches Löschungssurrogat
218
2. Archivierung von unzulässig erhobenen Unterlagen
219
a) Ausdrückliche Ausnahmen von der Anbletungspflicht für unzulässig erhobene Daten nach den Landesarchivgesetzen 221 b) Vorrang der archivarischen Bewertung und Archivierung nach BArchG und LArchG Baden-Württemberg? 222 II.
Archivierung von Unterlagen, die Geheimhaltungsvorschriften unterliegen 225 1. „Lockerung" spezieller, bundesgesetzlicher Geheimhaltungsvorschriften durch § 2 Abs. 4 Nr. 1 und §§ 8, 10 BArchG 226 a) Steuergeheimnis
227
b) Sozialgeheimnis § 71 Abs. 1 S. 3, § 84 Abs. 6 SGB X i . V . m . § 2 Abs. 4 Nr. 1 BArchG 229 c) § 32 Gesetz über die Deutsche Bundesbank, § 9 Kreditwesengesetz 231 2. Bundesgesetzliche Vorratsregelung in § 2 Abs. 4 Nr. 2 und § 11 BArchG 232 a) Normative Funktion des § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG
232
b) Generalklausel statt Einzelaufzählung
233
Inhaltsverzeichnis
14
3. Generalklauseln zur Geheimhaltungslockerung in den Landesarchivgesetzen 235 4. Verzicht auf Generalklauseln zur Geheimhaltungslockerung in den Landesarchivgesetzen von Berlin und Niedersachsen 236 5. Stellungnahme: Deklaratorische Funktion des § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG und der entsprechenden Landesbestimmungen. Vorrang der Anbletungspflicht 237 6. Gegenüber dem BArchG vorrangige spezialgesetzliche bundesrechtliche Geheimhaltungsgebote? 238 a) § 61 Personenstandsgesetz
239
b) Gesetze über die Geheimdienste
241
c) Bundeswahlordnung, Bundesstatistikgesetz, Volkszählungsgesetz, Personalausweis- und Paßgesetz, Kriegsdienstverweigerungsgesetz, § 80 Abs. 2 AusländerG 242 III.
Archivierung von Verschlußsachen
243
1. Funktion der Verschlußsacheneinstufung und ihre normative Bedeutung für die Archivierung 243 2. Die Anbietung und Abgabe von Verschlußsachen
245
a) VS des Bundes im Geheimarchiv des Bundesarchivs
245
b) VS der Länder
246
3. Verstoß der Aussonderungsbekanntmachung-VS der Bayrischen Staatsregierung vom 12. Januar 1993 gegen Art. 6 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 LArchG Bayern 247 IV.
Verhältnis der Archivierung zu „materiellen" Berufsgeheimnissen i.S.d. § 203 StGB 248 1. Strafrechtliche Rechtfertigungsfunktion der Landesarchivgesetze . . 248 2. Strafrechtliche Funktion von § 2 Abs. 4 S. 2, § 2 Abs. 7 und § 9 BArchG: Verlängerung der Berufsgeheimnisse in das Bundesarchiv 250
V.
Zusammenfassung
251
C. Archivierung von nicht-öffentlichen Unterlagen privaten Ursprungs. Deposital- und Ergänzungsarchivgut 252 1. Ermächtigung zur Archivierung privater Unterlagen
252
2. Datenschutzrechtlicher Gesetzes vorbehält und Archivierung privater Unterlagen 253
6. Kapitel Das Recht auf Archivbenutzung A. Archivbenutzungsanspruch und allgemeine Sperrfrist I.
254 254
Gesetzliche Garantie der Archivöffentlichkeit
254
1. „Jedermann-Anspruch"
254
Inhaltsverzeichnis 2. Benutzungsordnungen
15 256
3. Verhältnis des BArchG zu landesarchivgesetzlichen Benutzungsregelungen 257 II.
III.
IV.
Verfahrensfragen
258
1. Glaubhaftmachen eines berechtigten Interesses
258
2. Nutzung zum Zwecke der Rechtsverfolgung
259
3. Mehrere Antragsteller, Sammelanträge
259
Allgemeine Sperrfrist
260
1. Abgrenzung zu Benutzungsgrenzjahren
260
2. Regelsperrfrist von 10 oder 30 Jahren
261
3. Geltungsausnahmen: Publizitätsklauseln und DDR-Schriftgut
262
Fristbeginn
263
1. Gegenständliche Anknüpfung der allgemeinen Sperrfrist: Unabhängigkeit der Archive von der abgebenden Stelle? 263 2. Zeitpunkt der behördlichen Kernentscheidung
265
V.
Vergleich zu Frankreich: die „Auffangfrist" nach Art. 6 Abs. 3 des französischen Archivgesetzes 266
VI.
Verfassungskonforme Auslegung der allgemeinen Sperrfrist
267
1. Gesetzesbegründungen zur allgemeinen Sperrfrist
267
a) Internationale Üblichkeit
267
b) „Kontinuität und Effizienz amtlicher Tätigkeit"
267
c) Taktische Erwägungen
269
2. Nichtanwendung bei wissenschaftlichen Forschungsvorhaben 3. Verkürzungsermächtigungen für die allgemeine Sperrfrist a) Einfache Ermessensklauseln b) Ermessensklauseln i . V . m . Stelle
271 271
der Zustimmung der abgebenden
c) Verkürzung im „überwiegenden öffentlichen Interesse"? VII. Zusammenfassung
272 272 273
B. Nutzung personenbezogenen Archivguts I.
270
274
Besondere Sperrfristen für personenbezogenes Archivgut 274 1. Fristdauer der Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut 274 2. Verhältnis der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut zur allgemeinen Sperrfrist 276 3. Der Begriff des „personenbezogenen Archivguts" a) Regelungstypen der Legaldefinitionen
276 276
b) Bedeutung der „generalisierenden Betrachtung" für den unbestimmten Gesetzesbegriff 278 c) Weite Auslegung: materielle Abwägung auf Begriffsebene
279
d) Verfassungskonforme fung an Aktentypen
280
restriktive Auslegung: formale Anknüp-
Inhaltsverzeichnis
16
4. Verhältnis zum Amtsermittlungsgrundsatz
282
5. Stellungnahme: § 5 Abs. 2 LArchG Niedersachsen
284
II.
Vergleich zu Frankreich: Art. 7 des französischen Archivgesetzes . . . . 285
III.
Geltungsausnahmen der personenbezogenen Sperrfrist 287 1. Archivgut, das sich auf „Amtsträger in Ausübung eines öffentlichen Amtes" bezieht (Amtsträgerklausel) 287 a) Überblick über die verschiedenen Amtsträgerklauseln 287 b) Amtliche Begründungen zur Amtsträgerklausel
288
c) Stellungnahme: deklaratorische Bedeutung 289 2. Archivgut, das sich auf eine „Person der Zeitgeschichte" bezieht (Zeitgeschichtsklausel) 291 a) Überblick über die verschiedenen Zeitgeschichtsklauseln
291
b) Vermutung für den Öffentlichkeitswert einer Veröffentlichung im „Bereich der Zeitgeschichte" nach § 23 K U G 292 c) Absolute und relative Personen der Zeitgeschichte
295
d) Stellungnahme: Verfassungskonforme Auslegung. Beschränkung auf „absolute Personen der Zeitgeschichte" 297 e) Abgrenzung von § 32 Abs. 1 Ziffer 3 erster Teilstrich StUG: Vorrang des Rechtsstaatsprinzips vor Forschungs- und Medieninteressen 300 IV.
Archivgesetzliche Forschungsklauseln zur Verkürzung der Sperrfristen für personenbezogenes Archivgut 301 1. Regelungstypen archivgesetzlicher Forschungsklauseln
301
2. Teleologische Reduktion des Verkürzungsermessens auf Null bei Einwilligung und Nutzungsanonymisierung 305 3. VerkürzungsVoraussetzung: erheblich überwiegendes oder wissenschaftliches Interesse?
öffentliches 308
b) Öffentliches Interesse als „Mischtatbestand"
309
c) Stellungnahme: „Politische" Wertung im Einzelfall
V.
307
a) Überwiegendes Allgemeininteresse
311
4. Fristverkürzungskompetenz
311
5. Verfahrensrechtliche Voraussetzung zur Fristverkürzung
312
Nutzungsauflagen als Voraussetzung der Fristverkürzung
313
1. Zulässigkeit von Nebenbestimmungen
314
2. Auflagen und Bedingungen als Alternativen für die Anonymisierung und Sperrung 314 VI.
Veröffentlichung der Forschungsergebnisse
317
1. Die „Historikerklausel" der Datenschutzgesetze
317
2. Verhältnis der „Historikerklausel" zur besonderen Sperrfrist
318
VII. Schutzrechte Betroffener
319
1. Auskunftsanspruch
320
2. Gegendarstellungsanspruch
321
Inhaltsverzeichnis
17
VIII. Abschottung gegen die Benutzung durch die abgebende Stelle
322
IX.
324
Zusammenfassung
C. Nutzung von Archivgut, das „der Geheimhaltung" unterliegt I.
325
Überblick über die Geheimhaltungsregelungen der Archivgesetze . . . . 325 1. Besondere
Sperrfristen,
Fristverlängerungsanordnung
undNutzungsversagun
2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Geheimhaltung von Archivgut
. 328
3. Erschließung geheimhaltungsbedürftigen Archivguts II.
III.
329
Unverkürzbare 80-Jahres Sperrfristen des BArchG und des LArchG Sachsen-Anhalt 330 1. Entstehungsgeschichte des § 5 Abs. 3 BArchG
330
2. Verhältnis zu Landesrecht
332
Verkürzbare besondere Sperrfristen in den Ländern
333
1. Verkürzung, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen
333
2. Verkürzung nur im überwiegenden öffentlichen Interesse?
334
3. Verlängerung der allgemeinen Sperrfrist nach § 7 Abs. 4 LArchG Bremen IV.
334
Tatbestandsvoraussetzungen der besonderen Sperrfristen für geheimhaltungsbedürftiges Archivgut
335
1. Erste Gruppe: Rechtsnormerfordernis
335
2. Zweite Gruppe: untergesetzliche Vorschriften über Geheimhaltung . 337 V.
Nutzung von Verschlußsachen (VS)
338
1. Erste Gruppe: Einzelfallversagung wegen Gefährdung des Wohls der Bundesrepublik oder eines der Länder 339 a) Prinzipieller Vorrang der nicht aufgehobenen VS-Einstufung vor der Archivierung 339 b) Begründungsbedürftige Einzelfallversagung
341
2. Zweite Gruppe: Geltung der besonderen Sperrfrist bei VS-Einstufung 341 a) Aufhebung der VS-Einstufung durch Fristablauf
341
b) Kompetenzkonflikte
343
3. Vergleich und Stellungnahme
343
4. Bedeutung des Aktenzugangsrechts des § 5 Abs. 8 BArchG für VS 345 VI.
Versagung und Einschränkung der Benutzung in Einzelfällen
346
1. Überblick über die Nutzungsversagungsgründe
346
2. Begründung der Nutzungsversagung wegen Gefährdung des Staatswohls im Einzelfall 348 3. Benutzung von Unterlagen, die nach § 203 Abs. 1 bis 3 StGB geschützt sind 351 2 Manegold
Inhaltsverzeichnis
18
VII. Vergleich zu Frankreich: die Systematik der GeheimhaltungsVoraussetzungen für nicht personenbezogene Unterlagen (documents de caractere non nominatifs) nach dem französischen Archivgesetz 352 V I I I . Zusammenfassung D. Nutzung von Archivgut Privater (Depositalgut)
353 354
1. Bedeutung der Eigentumsübertragung für private Nutzungsauflagen 354 2. Depositalvertragliche Nutzungsauflagen E. Rechtsschutzfragen I.
355 356
Widerspruch und Verpflichtungsklage 356 1. Widerspruchsbehörde: Bundesarchiv, Landeshaupt- bzw. Staatsarchive 356 2. Kontrolldichte des Verwaltungsgerichts gemäß § 114 VwGO 357 3. Archiv-Schiedsausschuß gemäß § 10 LArchG Schleswig-Holstein
. 357
II.
Anfechtung der Zuordnung von Archivgut zur Archivgutkategorie personenbezogenen oder geheimhaltungsbedürftigen Archivguts? 358
III.
Vergleich zu Frankreich: Rechtsschutz nach Art. 7 der loi no. 78-753 durch C.A.D.A. und Verwaltungsgerichte 359
Literaturverzeichnis
361
Anhang: Die Landesarchivgesetze in chronologischer Reihenfolge
381
Sachwortverzeichnis
383
1. T e i l
Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens 7. Kapitel
Archive und Geschichtswissenschaft I. Begriff und Anfange des Archivwesens 1. Die unterschiedlichen
Archivbegriffe
Archive sind in einem allgemeinen Sinn nach sachlichen Gesichtspunkten geordnete Aufbewahrungsstellen für Geistesgut jeglicher Art. In einem engeren Sinn sind Archive die Sammel- und Dokumentationsstellen für historisches und wissenschaftlich wertvolles Schriftgut und sonstige Datenträger, Bücher, Zeitschriften, Bilder, Filme, andere Ton- und Bildträger. Öffentliche Archive sind die öffentlich organisierten Stellen, die öffentliches und privates Archivgut sammeln, dauernd aufbewahren, erhalten und zur öffentlichen Nutzung erschließen und bereithalten 1. Im Gegensatz dazu bewahren Registraturen die Masse des nicht mehr für die laufende öffentliche Verwaltungstätigkeit benötigten Schriftguts (Registraturgut) auf, bis es durch die Archive als archivwürdig ausgewählt oder nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichtet wird. Registraturen gehören organisatorisch zu den abgebenden Stellen. Archive verfügen über eine hier näher darzustellende organisatorische und u.U. auch institutionelle Unabhängigkeit. Unter Archivgut wird die Summe des nicht mehr für die Aufrechterhaltung der Tätigkeit eines Schriftgut- bzw. Datenproduzenten benötigten, aber der dauernden Aufbewahrung bedürftigen, „archivwürdigen" Schrift- bzw. Registraturguts nach seiner Übernahme durch ein Archiv verstanden 2. Die archivfachliche Entscheidung gegen die Archivwürdigkeit von Registraturgut und damit über dessen Vernichtung wird als Kassation bezeichnet3.
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Ähnliche Definitionen bei Lepper, Die staatlichen Archive und ihre Nutzung, DVB1. 1963 S. 315; Freys, Das Recht der Nutzung und des Unterhalts von Archiven, S. 15. 2 Haase, Studien zum Kassationsproblem, Der Archivar 28 (1975) Sp. 406. 2*
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens Z u g l e i c h werden unter privaten und öffentlichen A r c h i v e n die archivier-
ten Unterlagen selbst verstanden 4 . I n einem datenschutzrechtlichen
Sinn
sind A r c h i v e „nicht-automatisierte Dateien" i . S . d . § 3 Abs. 2 N r . 2 B D S G 1990, soweit personenbezogene Daten gesammelt u n d geordnet werden. Das Urheberrecht bestimmt an z w e i Stellen i m Zusammenhang m i t den „Schranken" des Urheberrechts Privilegierungen für die private A r c h i v i e rung u n d für öffentliche Rundfunkarchive, denen j e w e i l s selbstständige A r chivbegriffe entsprechen 5 W i e d e r u m eigenständige Archivbegriffe kennen das K u l t u r g u t - und Denkmalschutzrecht 6 und Völkerrecht 1. Diese sind abgesehen v o n der völkerrechtlichen Frage der staatlichen Archivnachfolge vor3 Haase Sp. 407; Groß, Die Überlieferungssicherung der Archive in ihrer Bedeutung für die demokratische Gesellschaftsordnung, Der Archivar 48 (1995) Sp. 17 f. 4 Vgl. Art. 1 des französischen Archivgesetzes vom 03.01.1979 (Loi no. 79-18 sur les archives, Journal officiel vom 05.01.1979 p. 43): „Les archives sont I'ensemble des documents, quels que soient leur date, leur forme et leur support materiel, produits ou refus par toute personne physique ou morale, et par tout service ou organisme public ou prive, dans Texercice de leur activite." 5 § 53 Abs. 2 Nr. 2 UrhG gestattet die einmalige Vervielfältigung von urheberrechtlich geschützten Unterlagen zum Zweck der Übernahme in ein „eigenes Archiv„wenn und soweit die Vervielfältigung zu diesem Zweck geboten ist und als Vorlage für die Vervielfältigung ein eigenes Werkstück benutzt wird". Dem entspricht ein eigenständiger Archivbegriff, der öffentliche Archive wegen deren Widmung zur öffentlichen Nutzung grundsätzlich nicht umfaßt (s.u. 4. Kap. B. I. 2.; 6. Kap. A. I. 1.). Die Vervielfältigung ist nach § 53 UrhG nämlich nur zulässig, wenn die Sammlung und Erschließung des Materials ausschließlich der Bestandssicherung z.B. durch Mikroverfilmung und ausschließlich der betriebsinternen Nutzung dient. Ein Aufbau des Archivs zur Benutzung durch Dritte fällt daher nicht unter das Vervielfältigungsprivileg, sondern stellt eine unzulässige zusätzliche Verwertung dar (BGH GRUR 1997 S. 459, 461, OLG Düsseldorf CR 1996 S. 728, 732; L G Hamburg CR 1996 S. 734; Schricker/Loewenheim, Kommentar zum UrhG § 53 Rz 25 m.w.N.; Freys S. 62 f.; weitere Nachweise zur Frage der Reproduktion von Archivalien bei Brenneke/Leesch, Archivkunde, Band 2, Archivbibliographie, D. Archivrecht S. 159). Nach § 55 Abs. 1 UrhG darf ein Sendeunternehmen, das zur Funksendung eines Werkes berechtigt ist, das Werk mit eigenen Mitteln auf Bild- oder Tonträger übertragen, um diese zur Funksendung einmal zu benutzen. Die Bild- oder Tonträger sind spätestens einen Monat nach der ersten Funksendung des Werkes zu löschen. Nach § 55 Abs. 2 UrhG brauchen Bild- und Tonträger, die „außergewöhnlichen dokumentarischen Wert" haben, jedoch dann nicht gelöscht zu werden, wenn sie in ein „amtliches Archiv" aufgenommen werden. Nach der Gesetzesbegründung sollen die Archive öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten als amtliche Archive gelten. (Amtl. Begründung UFITA 45 (1965) 240/295; Schricker/Melichar § 55 UrhG Rz 14). Zum Verhältnis des urheberrechtlichen Begriffs „außergewöhnlicher dokumentarischer Wert" zum archivrechtlichen Begriff „Archivwürdigkeit" s.u. 4. Kap. B. I. 5. Zur urheberrechtlichen Spezialfrage, unter welchen Umständen die öffentliche Archivierung eine „Veröffentlichung eines Werkes" i.S.v. § 6 Abs. 1 UrhG ist, s.u. 6. Kap. D. 2. zu depositalvertraglichen Auflagen (s. a. Schricker/Katzenberger § 6 Rz 14; OLG Zweibrücken GRUR 1997 S. 363 f.).
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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nehmlich für private A r c h i v e v o n Bedeutung, so daß an dieser Stelle der bloße H i n w e i s genügt. Daneben bestehen eigenständige archivwissenschaftliche Definitionen. I n der Archivwissenschaft werden unter dem A r c h i v teils das A r c h i v g u t , teils die organisatorische Einheit, teils die technische Einrichtung verstanden 8 . 2. Anfänge
des öffentlichen
Archivwesens
Der B e g r i f f „ A r c h i v " w i r d über griechisch „archeion" von dem griechischen Stammwort für Regierung/Behörde/Amtsstelle „arche" abgeleitet 9 . Gemeinhin werden i n Übereinstimmung m i t diesem ethymologischen U r sprung die „ A r c h i v e " der attischen Republik i m M e t r o o n der Athener Agora als erstes Beispiel staatlicher A r c h i v e angeführt, die begriffsprägend wurden, o b w o h l sie sicherlich keine ausgeprägt historische Funktion hatten. Sie zeichnete allerdings bereits ein Hauptmerkmal des modernen A r c h i v w e sens aus: die Öffentlichkeit für ein zumindest beschränktes P u b l i k u m der Athener B ü r g e r 1 0 .
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Private und öffentliche Archive können auch „bewegliche Kulturdenkmäler" sein, die den Bindungen des Denkmalschutzrechts unterfallen: §§ 10 ff. KulturgutschutzG (= 2. Abschnitt: Archive) und beispielsweise § 13 LArchG und § 25 a DenkmalschutzG-Rheinland-Pfalz. Dazu: Maurer, Archive im Schutz des Denkmalrechts, Der Archivar 33 (1980) Sp. 169 ff. 7 Zum völkerrechtlichen Archivbegriff nach Art. 2 b) Haager Konvention, Unesco-Übereinkommen und Europäischer Konvention zum Schutz von Kulturgut siehe Bernsdorff/Tebbe, Kulturgutschutz in Deutschland, A 1 Rz 6, 8, 9. m.w.N.; Nachweise zur völkerrechtlichen Frage der Archivaliennachfolge bei Brenneke/ Leesch Band 2, S. 149. 8 Papritz behandelt ausführlich archivwissenschaftliche Definitionen u.a. von Brenneke, Meisner, Enders. Papritz, Archivwissenschaft, Band 1, Teil 1 Einführung, Grundbegriffe, Terminologie, S. 56 ff. 9 Papritz S. 42 ff.; Franz, Einführung in die Archivkunde, S. 7 f. 10 Brenneke/Leesch, Archivkunde, Band 1, S. 109; Papritz S. 11; Franz S. 7; Posner, Archives in the ancient world, American Archivist 3 (1940) p. 162 f. Vgl. auch den archäologischen Befund: beim attischen Archiv handelt es sich um vier Räume i m Gebäudekomplex des alten Bouleuterion (Ratssaal) und dem angegliederten Gaia-Tempel. Im Bouleuterion tagte der nach den Reformen des Kleisthenes gebildete Rat der 500. In den angrenzenden Räumen wurden Dokumente öffentlichen Interesses gelagert und höchstwahrscheinlich für die Benutzung durch Athener Bürger bereitgehalten: denn in der unmittelbar angrenzenden Säulenhalle vermutet man einen öffentlichen Lesesaal. A u f das Ende des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung wird eine Systematisierung der komplexer werdenden Verwaltung datiert. Die schon damals schnelle Vermehrung des Archivguts hat wahrscheinlich den Anstoß zur Errichtung des angrenzenden, neuen Bouleuterions gegeben. American School of classical studies, The Athenian Agora, p. 64 ff.
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
Archive im weiteren Sinn von Sammel- und Dokumentationsstellen für Schriftgut, das für die Erledigung der Tagesgeschäfte nicht mehr jederzeit verfügbar sein mußte (Registraturen), waren aber schon früher Grundlage einer geordneten, schriftlichen Verwaltung. Dabei ist seit der Frühzeit eine funktionale Trennung von der Ursprungsbehörde zu beobachten. Die von der Ausgangsbehörde unterschiedliche Aufgabenstruktur führte seit den Anfängen schriftlicher Verwaltung zu einer institutionellen Spezialisierung 11 . Registraturen im Sinne von Stellen, die politisches, wirtschaftliches und rechtliches Schriftgut systematisch erfaßten und aufbewahrten, entstehen mit Beginn der schriftlichen Verwaltungstätigkeit und gehören somit zu den ältesten Behördenzweigen überhaupt. Neben eine zunächst sicher auch kultische Funktion tritt früh die Funktion, mit der Sicherung des Überlieferungswissens auch Rechtsansprüche und Herrschaft zu sichern 12 . Als Ergebnis der besonderen geschichtlichen Entwicklung ist es in Deutschland im Gegensatz zu England und Frankreich nie zur Schaffung eines nationalstaatlichen Zentralarchivs gekommen. In der historischen Entwicklung dominieren seit dem hohen Mittelalter - dem Beginn archivarischer Tätigkeit in Deutschland - regionale Archive, was die Entstehung eines Zentralarchivs wie in anderen Ländern verhinderte 13 . Die jeweiligen Bestände auch der ehemaligen Reichsinstitutionen sind über verschiedene Territorialarchive verstreut. Die vergleichsweise geringen Bestände der wenigen überregionalen Reichsarchive des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (Reichshofrat, Reichskanzler, Reichskammergericht) wurden zudem mit dessen Ende als Folge des Reichsdeputationshauptschlusses nach 1806 aufgeteilt und den Territorialstaaten übergeben 14 . Eine Folge dieser 11
Papritz und Franz a. a. O. Franz und Posner (a.a.O.) datieren die Frühgeschichte des Archivwesens auf die Erfindung der schriftlichen Verwaltung bei den Sumerern. 13 Zu nennen ist hier v. a. Frankreich, wo sich seit dem hohen Mittelalter mit der Stärkung der Königsmacht auch die Verwaltung zentralisiert. Die Entstehung der königlichen Archive, aus denen das Nationalarchiv hervorgegangen ist, wird üblicherweise auf das Jahr 1194 datiert. Hildesheimer, Les Archives, p. 15. Ausführlich zur Entwicklung in den deutschen Ländern und den gescheiterten Versuchen der Gründung eines zentralen Reichsarchivs: Brenneke/Leesch Band 1: Reich S. 301 ff.; Preußen S. 368 ff., 402 ff.; Bayern S. 322 ff., 467 ff.; Baden S. 316 ff., 470. Kahlenberg in: Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 5, Kapitel X I I I Abschnitt „Archive", S. 737 ff.; Busley/ Kottje Art. „Archive" in: Staatslexikon, Band 1, Sp. 330 ff.; Tausendpfund, Archivorganisation in den Ländern der BRD, S. 6 f.; Ottnad, Die Geschichte des Archivwesens vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Richter (Hrsg.), Festschrift für E. Gönner, S. 15 ff. 14 Kahlenberg S. 738 ff.; Franz S. 20 m.w.N.; Tausendpfund S. 7. Zur Bedeutung des ius archivi in diesem Zusammenhang auch Merzbacher, ius archivi, Archivalische Zeitschrift 1975 S. 135, 140 f.; ausführlicher zur preußischen Reformdiskussion s.u. II. 3. 12
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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Sondersituation ist auch, daß sich in Deutschland Bundes- und Landesgesetzgeber im Vergleich zu anderen Staaten erstaunlich spät mit einer Archivgesetzgebung befaßten 15 . Dies geschah nicht im Zuge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung im 19. Jahrhundert, wie etwa in Frankreich, wo die Öffnung der Archive in engem Zusammenhang mit der Abschaffung der Feudalrechte steht, sondern unter dem defensiven Anstoß des Datenschutzes 16 . I I . Die Entstehung der historischen Funktion und die Öffnung der Archive in Frankreich und Deutschland Die ursprünglich administrative, juristische Funktion der Archive wurde seit der Aufklärung durch eine stetig wachsende historische Funktion ergänzt und schließlich überlagert. Eine „Zweigleisigkeit" des Archivwesens im Sinne einer Öffnung für Zwecke historischer, wissenschaftlicher Forschung ist seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts deutlich zu beobachten. Sie führte schließlich zu einem weitestgehenden Funktionswandel öffentlicher Archive 1 7 . Ursprünglich „Tresor der Verwaltungsjuristen", werden staatliche Archive im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Speicher historischen Schriftmaterials schlechthin. Die öffentlichen Archive nehmen im demokratischen Staat schließlich eine „Mittlerrolle" zwischen Staat und Gesellschaft, Verwaltung und Wissenschaft ein. Das Selbstverständnis der Archivare und Archive ist heute darauf gerichtet, das bei ihnen verwahrte Archivgut zu erschließen und - so früh wie rechtlich möglich - für die Benutzung durch Wissenschaftler bereitzuhalten 18 .
15 Französisches Revolutionsgesetz vom 25. Juni 1794, das erstmals auch die historische Quellenfunktion der Archive legislativ aufgreift, s.u.; England: erster »Public record office act' von 1838; Dänemark: Gesetz über ein Nationalarchiv von 1889. In Rußland: Lenins Archivdekret vom 1. Juni 1918. Dazu Brenneke/Leesch Band 1, S. 267; Franz S. 37 f. 16 s.u. 4. Kap. A. I., IL, V. 17 Enders spricht vom „Januskopf" öffentlicher Archive. Enders, Archivverwaltungslehre, S. 16. 18 Booms, Archive im Spannungsfeld zwischen Verwaltung, Forschung und Politik, Der Archivar 33 (1980) Sp. 21 ff. ; ders. Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung, Archivalische Zeitschrift 68 (1972) S. 3 ff., 36 ff.; Groß, Der Archivar 48 (1995) Sp. 15 ff.; Jakobi, Zur öffentlichen Funktion der Archive und zum beruflichen Selbst Verständnis der Archivare, Der Archivar 45 (1990) Sp. 197 ff.; Schmitz, Archive zwischen Wissenschaftsfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Anmerkungen zur Archivgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Archivalienbenutzung, in: FS Booms, S. 95 ff., 102.
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
L Das historische „ ius archivi" und die Beschränkung des Archivzugangs Das historische ius archivi bezeichnete im deutschen Reichsgebiet ein Hoheitsrecht eines Landesfürsten (Regal) 19 . Sein Gegenstand war die Befugnis, Archive oder „Briefkammern" zu unterhalten und den darin verwahrten Urkunden „völligen Glauben" zu verschaffen. Sein Zweck war die Erleichterung der Beweisführung und der richterlichen Beweiswürdigung durch die Regel, daß der Richter bei Existenz eines ius archivi die Echtheit einer aus dem Archiv stammenden Urkunde und deren Inhalt als wahr unterstellen durfte. Dabei handelte es sich offenbar keinesfalls um ein Rechtsinstitut am äußeren Rande des juristischen Interesses 20. Das ius archivi kann als Wurzel des Prinzips des öffentlichen Glaubens von Beweisurkunden gelten. In der Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Urkunden und im Rechtsinstitut des öffentlichen Glaubens bestimmter öffentlicher Urkunden lebt die Beweisregel noch heute fort 2 1 . Das ius archivi war daher eng mit der entstehenden territorialstaatlichen Souveränität verknüpft und konnte nur auf einem erworbenen Privileg oder königlicher Verleihung beruhen 22 . Das ius archivi mag neben anderen Ursachen erklären, warum der öffentliche Zugang zu Archiven und ihren Beständen bis ins 19. Jahrhundert systemwidrig erscheinen mußte. Solange Archive dem ius archivi entsprechend primär beweisrechtliche Funktion und die Funktion der Rechts- und Herrschaftssicherung hatten, war das „Archivgeheimnis", die strenge Kontrolle des Archivzugangs zur Sicherung gegen Fälschungen eine essentielle Bedingung der Rechtssicherheit. Die Tradition der strengen Zugangsbeschränkung und des Zugangsverbots für Private in dieser Anfangszeit wird so verständlich 23 . Vor dem Hintergrund der ausgeprägten Fälschungen in der Geschichte des Mittelalters 24 muß es als Zeichen zunehmender Rationa19
Merzbacher, ius archivi, Archivalische Zeitschrift 1975 S. 135 ff.; Pitz, Beiträge zur Geschichte des ius archivi, Der Archivar, 16 (1963) Sp. 90 ff. 20 Nach Pitz (Sp. 91) hat das ius archivi seinen Ursprung im römischen Zivilrecht, wo es im Rahmen der Würdigung der Glaubwürdigkeit von Urkunden im Verfahrensrecht berührt worden sei (in: D. 22, 4 und C. 4, 21). Die damalige Bedeutung des ius archivi belegt die Vielzahl z.T. hervorragender Juristen, die sich seit der Schrift des Ahasver Fritsch, Tractatus de iure archivi et cancellariae (Jena, 1664) bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts mit seiner Ausgestaltung befaßten. Merzbacher zitiert u. a. Johann Jacob Moser (Von der Landeshoheit i m Weltlichen = Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 16/1, Frankfurt, Leipzig 1772, Neudruck Osnabrück 1967, S. 337) und Franz Xaver A. W. v. Kreittmayr (codex iuris Bavarici iudiciarii, München 1800, S. 373), Merzbacher S. 136. 21 Vgl. §§ 415 ff., §§ 726 f. ZPO; öffentlicher Glaube von Grundbuch, Erbschein, Handelsregister. 22 Merzbacher S. 136 f.; Pitz Sp. 92.
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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lisierung der rechtlichen Verfahren gelten, w e n n der Zugang zu staatlichen und kirchlichen A r c h i v e n streng reglementiert, dem Privaten gar gänzlich verboten war. Dies war erforderlich, u m die M a n i p u l a t i o n von Beweisurkunden zu verhindern. Dieses Geheimhaltungsprinzip verlor seinen Rechtsgrund m i t der Entstehung der historischen Funktion der A r c h i v e und der Ausgliederung bzw. Entstehung spezieller öffentlicher Register, die der Dokumentation und dem Nachweis v o n Rechten dienten (Grundbücher, Handelsregister, Personenstandsregister, etc.). D a m i t geht am Anfang des 19. Jahrhunders auch die systematische institutionelle Trennung v o n A r c h i v und Registratur einher. Beispielsweise ließ der preußische Staatskanzler Fürst v o n Hardenberg sich 1822 verschiedene Gutachten über die Frage der Abgrenzung von A r c h i v und Registratur v o r l e g e n 2 5 . 2. Die Öffnung der Archive in Frankreich: Das Gesetz vom 7. Messidor des Jahres II (25. Juni 1794) D i e Herausbildung der historischen und öffentlichen F u n k t i o n des staatlichen Archivwesens läßt sich deutlich anhand der französischen A r c h i v gesetzgebung beobachten 2 6 . Der revolutionäre A k t der Öffnung der vormals 23
Ein frühes Beispiel ist aus Freiburg übermittelt: Bischof und Domkapitel besaßen in Freiburg je einen Schlüssel zu den verschiedenen Schlössern des Archivgewölbes. Schon sehr früh sind auch normative Regelungen im Bereich des Archivwesens über die Aufnahme bestimmter Urkunden und Amtsbücher bekannt; Richter, Die parlamentarische Behandlung des baden-württembergischen LArchG, in: FS Booms, S. 114. 24 Führmann, Einladung ins Mittelalter, S. 195 ff.; Merzbacher S. 135, 140 f. 25 In einem Bericht des westfälischen Oberpräsidenten von Vincke an den preußischen Minister von Altenstein vom 26. April 1822 hieß es: „Die Registratur hat einen bloß temporellen, das Archiv einen bleibenden Zweck; die erstere muß von Zeit zu Zeit gesichtet und ihres Überflusses entledigt werden, selbst um der Verwaltung brauchbar zu bleiben, solchen teils an das Archiv abgeben, teil der Vernichtung überweisen". Hardenberg ließ sich dadurch angeregt drei weitere Gutachten vorlegen. Dabei ging es u. a. um die Frage, ob in Bibliotheken befindliche Originalurkunden und handschriftliche Chroniken den öffentlichen Archiven einzuverleiben seien. Koser, Die Neuordnung des preussischen Archivwesens durch den Staatskanzler Fürst von Hardenberg. Mitteilungen der königlich preussischen Archivverwaltung, Heft 7 (1904), Einleitung S. XII. Anm. 1. 26 Anläßlich der neuen französischen Archivgesetzgebung, die erst im Jahre 1979 das Revolutionsgesetz, das zur Öffnung der Archive auch für die historische Forschung führte, ablöste, wird der Wandel der Archivfunktion in historischen Rückblicken behandelt: Duchein, Requiem pour trois lois defuntes, La Gazette des Archives no. 104 (1979) p. 12 ff.; Ducrot, Comment fut elaboree et votee la loi sur les archives du 3 janvier 1979, La Gazette des Archives no. 104 (1979) p. 17 ff.; dies. Die neuere französische Archivgesetzgebung, Der Archivar 34 (1981) Sp. 475 ff.,
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
königlichen Archive für die französischen Bürger und für die Zwecke historischer Forschung sollte einen Vorbildcharakter für das öffentliche Archivwesen gewinnen, der sich nicht zuletzt in der Berufung auf diese „demokratische" Tradition im Gesetzgebungsverfahren des Bundesarchivgesetzes (BArchG) i m Jahr 1985 niederschlug 27 . Erster „garde des archives" wird der angesehene Jurist und ehemalige Parlamentsadvokat Armand Gaston Camus, der in derselben Nacht zum ersten Archivar der Nation bestellt wurde, in der die Nationalversammlung die Abschaffung der Feudalrechte beschloß, mit der die Masse der grundherrlichen Dokumente ihren juristischen Wert verlor 2 8 . Camus initiierte die beiden Hauptarchivgesetze, die erst fast zweihundert Jahre später durch das Archivgesetz vom 3. Januar 1979 aufgehoben werden sollten 29 . Bis dahin galt das Revolutionsgesetz als rechtliche Grundlage des Archivzugangsrechts auch des historischen Forschers in Frankreich 30 . Wegen dieses revolutionären Hintergrundes wurde das Archivzugangsrecht mitunter sogar zum „Menschenrecht" erhoben 31 . In der Tat gab Artikel 37 des Gesetzes vom 7. Messidor des Jahres I I (25. Juni 1794) in einem gewissen revolutionären Pathos jedem Bürger das Recht, die öffentlichen Archive frei und ohne Einschränkungen zu benutzen, ohne daß zunächst eine Sperrfrist eingeführt wurde 3 2 : „Tout citoyen pourra demander dans tous les depots, aux jours et aux heures qui seront fixes, communication des pieces qu'ils renferment; eile leur sera donnee sans frais et sans deplacement, et avec les precautions convenables de surveillance."
Der Zweck der zwei Revolutionsgesetze über die Archive in Frankreich vom 7. Messidor des Jahres I I und vom 5. Brumaire des Jahres V (26. Oktober 1796) war zwar in erster Linie die Schaffung verwaltungsrechtlicher Zuständigkeiten für die Masse der durch die Revolution teils herrenlos, teils 478; Laveissiere, Legislation et Jurisprudence. Le Statut des Archives de France, La revue administrative (RA) 1979, p. 139 ff. (Teil 1). 27 s.o. 4. Kap. A. V. 28 Vorangegangen waren die Dekrete vom 7. August und 1. September 1790 und die Verordnung für ein Nationalarchiv vom 23.07.1789; Ducrot, Der Archivar 34 (1981) Sp. 478; Duchein p. 12. 29 Art. 33 der L o i No. 79-18 du 3 janvier 1979 sur les archives. Zur Rechtslage bis dahin Manuel d'archivistique, hrsg. von der Direction des Archives de France, p. 295 ff., p. 327 f. 30 Manuel d'Archivistique, p. 296 f., 624 ff.; Duchein p. 14 ff. 31 Brenneke/Leesch a.a.O.; Bischoff/Koppetsch, Das Archivische Menschenrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 1994/Nr. 155 vom 7. Juli 1994, S. 34.; Papritz versteht darunter auch ein Recht auf Vernichtung eigener Unterlagen, ein „Recht-auf-Vergessen-werden". Papritz S. 118. 32 Dazu Hildesheimer p. 17.
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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außer Geltung gesetzten Unterlagen des ancien regime sowie die Zentralisierung und Konzentration dieser Bestände für die Aufgaben der Verwaltung 3 3 . Das Archivzugangsrecht diente auch finanziellen Bedürfnissen und Nützlichkeitserwägungen, um den Verkauf von öffentlichen Gütern zu begünstigen, indem es den Käufern ermöglichte, Dokumente über ihre Eigentumstitel (titres dominaux) zu konsultieren. Es diente aber von Anfang an auch der Befriedigung wissenschaftlicher Neugier. Die Dreiteilung der Bestände durch das Revolutionsgesetz enthält bereits eine erste deutliche Regelung in Bezug auf historische Forschung: unterschieden werden nämlich neben den „titres dominaux" und den „titres judiciaires" die „titres historiques". Zu letzteren sollten alle Dokumente gehören, die von der nationalen Archivkommission (zunächst „Agence temporaire des titres", später „Bureau de tirage") für historisch wertvoll gehalten und der Forschung „gewidmet" wurden. Das Gesetz enthält daher im Kern die Elemente, die für den späteren endgültigen Funktionswandel der Archive bestimmend sein sollten: die historische Funktion und die allgemeine Zugänglichkeit (Öffentlichkeit). Jules Michelet, der während der Regierungszeit von Louis Philippe Leiter der „section ancienne" des Nationalarchivs war, brachte 30 Jahre später um 1825 die endgültige Hinwendung zur archivarischen Quellenforschung und Historik 3 4 . 3. Die Reformdiskussion in Preußen: Hardenbergs unvollendeter Versuch einer umfassenden Öffnung der Archive für die historische Forschung Der preußische Staatskanzler Fürst von Hardenberg hatte sich bei der Einleitung der Verwaltungsreform im Jahr 1810 die Aufsicht über die Archive entgegen dem ursprünglichen Entwurf der „Verordnung über die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden" selbst als „Chefsache" vorbehalten und seine ausschließliche Zuständigkeit betont, um bis in Einzelheiten persönlichen Anteil an der Umgestaltung und (geplanten) Öffnung der staatlichen Archive nehmen zu können 35 . Allein dieser Umstand zeigt, welche herausragende Bedeutung Hardenberg der Schaffung eines öffentli33 Duchein a.a.O.; Marquant, Vorlesungen zum Archivwesen in Frankreich, S. 7 ff. 34 Trotz des deutlichen gesetzlichen Hinweises auf einen Funktionswandel der Archive war im Bewußtsein des Juristen Camus zunächst die juristische Funktion der Rechtssicherung bestimmend geblieben, so daß er gegen den Widerstand der historisch denkenden Kommissionsmitglieder die Bestände unter unhistorischen Gesichtspunkten zunächst hatte zerstückeln lassen. Hildesheimer p. 18 f.; Marquant S. 8. 35 Dazu die Quellenedition der Akten der Staatskanzlei von Koser (s.o. Fn 25), Einleitung S. V. Koser, der Generaldirektor der preußischen Staatsarchive war, interessierte im Jahr 1904 neben der Öffnung der Archive für die Wissenschaft v.a.
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archiv wesens
chen Archivwesens auch für Deutschland beimaß. Seine Kenntnis des französischen Revolutionsgesetzes darf unterstellt werden. Denn das Vorbild der Pariser Ecole des Chartes 36 , deren Entstehung auf der Archivgesetzgebung fußte, war nachweisbar maßgebend für Hardenbergs Bemühungen um eine nationale Geschichtsschreibung und Quellensicherung. Hardenberg hatte durch die preußische Gesandtschaft in Paris Erkundigungen nach der 1821 gegründeten Ecole des Chartes einziehen lassen, deren Statut sich bei Hardenbergs Unterlagen befand 37 . a) Stellungnahmen der preußischen Akademie der Wissenschaften von 1819 und 1821 zur Archivbenutzung Durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1806 und die Verträge von 1815 waren mit den neuen Territorien reichhaltige Archive aufgelöster Staaten und enteigneter Klöster unter preußische Verwaltung geraten. Der westfälische Oberpräsident Ludwig von Vincke schlug bereits 1818 vor, zunächst diese vornehmlich rheinischen und westfälischen Archive aufgelöster Staaten und Klöster „gemeinnützlich zu machen" und sie wöchentlich einige Stunden für Interessenten zu öffnen 38 . Dieser Vorschlag wurde in einem Gegengutachten von der „Historischphilologischen Classe der Akademie der Wissenschaften" an den preußischen Kultusminister von Altenstein vom April 1819 wegen Sicherheitsbedenken abgelehnt. Die Vorschläge des Herrn Oberpräsidenten seien „zwar in höchstem Grade liberal" und verdienten die dankbarste Anerkennung der Freunde historischer Forschungen, sie seien aber „unangemessen" und „wegen der damit eintretenden Unsicherheit sehr bedenklich". Es werde „gewiß allen billigen Ansprüchen in dieser Hinsicht auf das vollkommenste genügt, wenn nur denjenigen, welche ihren Beruf zu historischen Nachforschungen zu begründen wissen, die Benutzung der Archive nicht verweigert oder erschwert werde." 3 9 Der Minister von Altenstein legte beide Stellungnahmen dem Staatskanzler mit Schreiben vom 19. August 1819 vor, in dem er als Hauptgesichtspunkt bei der Gestaltung des Archivwesens vorschlug, „den Theil desselben, welcher für das eigentliche Staatsrechtliche noch fortdauerden Wert hat, von dem zu trennen, welchem blos ein geschichtlicher Wert beygelegt werden kann." Seine Ansicht sei aber keinesfalls, „den die Frage der (gescheiterten) Zentralisierung der Archivbestände, die Hardenberg neben deren Nutzbarmachung für historische Forscher angestrebt hatte. 36 Dazu s.u. III. 2. 37 Koser, Einleitung S.XIV Anm. 2. 38 Koser, S. 7 f. Anm. 2. 39 Abgedruckt bei Koser, S. 10 ff., S. 12. Verfasser war der Historiker Friedrich Wilken; Koser, Einleitung, S. V I Anm. 2.
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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letzten Theil ganz von dem Archivwesen auszuschneiden, sondern ihm eine andere y seine ganz verschiedene Benutzungsart begünstigende Einrichtung zu geben. Der erste Theil kann seiner Natur nach, nur wenigen zugänglich seyn, der letztere aber muss die grösst-mögliche Benutzung gewähren können." Eine fruchtbare Benutzung für die Wissenschaft habe bisher nicht stattfinden können, weil diese beiden Teile nicht gehörig getrennt worden •
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seien . In seiner Antwort an Altenstein vom 22. Juni 1820 betonte Hardenberg, daß er sich mit dieser „wichtigen Angelegenheit" seit längerer Zeit beschäftigt habe, und daß von einer zweckmäßigen Einrichtung der Archive und deren ausgedehnter Benutzung der erspriesslichste Erfolg sowohl für „die Wissenschaft im Allgemeinen", insbesondere für „die Geschichte" zu erwarten sei. Weiter erklärt Hardenberg seine Absicht, sämtliche Archive zur wissenschaftlichen Nutzung umfassend zu öffnen. „ U m diesen Nutzen zu erreichen, wird es unumgänglich nöthig, den bisher verschlossenen, geordneten oder ungeordneten Archiven diejenige Einrichtung und den Grad von Gemeinnützigkeit zu geben, welchen höhere Staatsrücksichten nur irgend gestatten" 41 .
Hardenberg erklärte seine Absicht, sowohl die Provinzarchive als auch das (zu schaffende) „Central-Archiv" „demnächst zur freien Benutzung wissenschaftlicher Männer" zu öffnen. Davon sollten allein „secretierte Urkunden" ausgenommen werden, die nur mit Hardenbergs spezieller Erlaubnis gezeigt werden sollten 42 . Die von Altenstein in Vorschlag gebrachte Scheidung der Archive in eine wissenschaftliche, durch Private zu nutzende Abteilung und eine staatsrechtliche zum Gebrauch für Behörden lehnte Hardenberg nicht nur als „unzweckmäßig" ab, weil eine Grenzlinie zwischen beiden Abteilungen nicht gezogen werden könne, sondern v.a., weil sich nicht erkennen ließe, „aus welchem Grunde die staatsrechtlichen Urkunden, deren Geheimhaltung durch politische Rücksichten nicht geboten wird, ... nicht auch zur wissenschaftlichen Benutzung dienen könnten."
Hardenberg hatte für diese weitgehenden, liberalen Pläne Widerstände der Verwaltung und selbst der Wissenschaft zu überwinden. Der von ihm zur Stellungnahme betreffend der Archivreform aufgeforderte Geheime Legationsrat v. Raumer, der nach Hardenbergs Tod Direktor des preußischen geheimen Staatsarchivs werden sollte, sah den ausschließlichen Hauptzweck 40
Ziel war die Schaffung eines wissenschaftlichen Zentralarchivs in Berlin. Koser, S. 6. 41 Hardenberg an Minister Frhr. von Altenstein am 22.06.1820, abgedruckt bei Koser, S. 20. 42 A.a.O. S. 21.
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
des „königlichen" Archivs als staats- und völkerrechtlichen an; ein wenn überhaupt anzuerkennder wissenschaftlicher müsse nachrangig sein. Die Archive erforderten das „grösste Geheimnis". „Über Geschichte und Wissenschaft gingen (sonst) die Rechte im Inlande und gegen das Ausland unter" 4 3 . Wenn überhaupt sollte allenfalls eine Auskunfterteilung durch das Archiv, keinesfalls aber eine unmittelbare Einsichtnahme in Dokumente in Betracht kommen. Raumer war gleichzeitig der Ansicht, daß „Abneigung von wissenschaftlichem Treiben" zu den Eigenschaften zählen sollte, die für einen Archivar zu fordern seien, der v.a. der Krone treu ergeben sein sollte 44 . Unter dem 3. Juli 1821 forderte Hardenberg persönlich die Akademie der Wissenschaften zu einem weiteren Gutachten zur Archivbenutzung und Umgestaltung des Archivwesens auf. Deren zweite Stellungnahme vom 30. Oktober 1821 geriet ausgewogener als das erste Gutachten von 1819 45 . Bezüglich der Benutzung unterscheidet dieser Bericht „Urkunden und Documente, welche sich auf noch fortdauernde Verhältnisse beziehen", und „solche, welche gänzlich untergegangene und in keiner Beziehung zur gegenwärtigen Zeit stehende Verhältnisse betreffen, und also von rein antiquarischer oder historischer Natur sind" 4 6 . Zur ersten Gruppe der geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen wurde alles gerechnet, was seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in den Archiven enthalten sei. Dazu sollten vornehmlich alle Unterlagen zählen, die entweder auf die königliche Familie oder auf Verhältnisse des Preußischen Staates zu anderen Staaten (...) sich beziehen, „und überhaupt von der Art sind, dass deren unvorsichtige Mitteilung Nachtheil irgend einer Art verursachen könnte" 4 7 . Für „mittelalterliche" Unterlagen aus einer Zeit vor ca. 1550 sollten die Grundsätze Anwendung finden, nach denen in Bibliotheken die Benutzung von Handschriften beurteilt würden; spätere Unterlagen sollten grundsätzlich geheimgehalten werden. Unterlagen aus einer Zeit nach ca. 1550 sollten nur im Ausnahmefall mit der besonderen Erlaubnis der dem Archiv vorgesetzten Behörde durch Männer nutzbar sein, „gegen deren Redlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Klugheit kein Zweifel obwaltet." Diesen könne die Einsichtnahme unter der 43 Der Wirkliche Geheime Legationsrat - und spätere Direktor des Geheimen Staatsarchivs - Karl Georg von Raumer an den Staatskanzler Hardenberg, September 1819, abgedruckt bei Koser, S. 17 ff. Der Bericht wurde nicht abgesandt, Raumer hat seine Ansicht Hardenberg aber offenbar auf anderem Wege übermittelt. Koser, Einleitung S. VII. 44 Koser, Einleitung S. X V I . 45 Verfasser war wiederum Wilken, Koser, Einleitung S. I X Anm. 1. 46 Bericht abgedruckt bei Koser, Nr. 14, S. 64 ff. 47 A.a.O. S. 67.
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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Bedingung gestattet werden, daß sie Dokumente und Forschungsresultate vor Drucklegung der höheren dem Archiv vorgesetzten Behörde vorgelegt und deren Genehmigung zur Bekanntmachung erlangt hätten 48 . War dieser Vorschlag auch restriktiver als Hardenbergs Vorstellungen, so erkennt er im Gegensatz zum zwei Jahre älteren Gutachten die historischwissenschaftliche Funktion der Archive prinzipiell an. Immerhin vertritt die Akademie mit Nachdruck die Ansicht, daß eine unmittelbare Benutzung der archivierten Dokumente durch den Forscher erforderlich und eine bloße Auskunfterteilung nicht genügend sei. Dabei stützt sich die Akademie auf Pufendorf, der sein Werk über den großen Kurfürsten nicht zustande gebracht haben würde, „wenn er auf die Nachweisung der Archivare in einzelnen Fällen beschränkt gewesen wäre" 4 9 .
b) Die erste Ankündigung freier öffentlicher Nutzung von staatlichen Archiven Hardenberg ließ sich von seinem weiter gefaßten Reformvorhaben nicht abbringen. Ziel war im Gegensatz zu Raumers Ansicht, die „möglichst freieste wissenschaftliche Benutzung der Archive bei deren neuer Organisation als einen der höchsten Zwecke geltend zu machen" 50 . Im Herbst 1822 kurz vor Hardenbergs Tod wurde offensichtlich auf Hardenbergs eigene Veranlassung eine Art „Pressemitteilung" veröffentlicht, in der er unter Rückgriff auf seine i m o.g. Schreiben an den Minister v. Altenstein gebrauchte Formulierung seine Absicht bekannt machte, die staatlichen Archive umfassend dem Publikum zu öffnen. Damit enthält dieser „offiziöse" „Bericht über die Anordnungen für die Archive" 5 1 die erste öffentliche Ankündigung freierer Grundsätze für die Benutzung öffentlicher Archive in Deutschland 52 . Hardenberg ließ mitteilen: „Es ist meine Absicht, sämtlichen Archiven im ganzen Umfange des Staats, eine andere gleichförmige Einrichtung und den darin aufbewahrten Urkunden den mit höheren Staatsvorschriften nur irgend verträglichen Grad von Publizität zu geben, 48
A.a.O. S. 67. A.a.O. S. 66. Koser, Einleitung S. X V I . 50 Bericht des Beauftragten für das Archivwesen Tzschoppe vom 26. April 1821, abgedruckt bei Koser, Nr. 10, S. 28 ff. 51 ,3ericht über die Anordnungen, welche die Regierung für die Archive als wissenschaftliche Quellenvorräte der vaterländischen Geschichte und Altertümer getroffen hat", in: Kunst- und Wissenschaftsblatt. Beilage zum rheinisch-westfälischen Anzeiger. Hamm, 13.09.1822, S. 2. Koser, Einleitung S. X V I und S. V I I I Anm. 2 und S. I X Anm. 3. Koser spricht von einer „offiziösen Mitteilung" des Staatskanzlers. 52 Koser, Einleitung S. X V I . 49
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archiv wesens
damit die verborgenen Schätze der Wissenschaft i m Allgemeinen so wie insbesondere für Sprachkunde und Geschichte dem Dunkel entzogen werden."
Hardenbergs Tod am 26. November 1822 und die einsetzenden Demagogenverfolgungen verhinderten die Durchführung der Pläne. Die Staatsarchive wurden mit der Abschaffung des Amtes des Staatskanzlers 1823 unter das gesamte Staatsministerium gestellt und gerieten aus dem Zentrum des Regierungsinteresses in die Peripherie. Dem kurze Zeit später als Archivdirektor eingesetzten v. Raumer war nicht daran gelegen, Hardenbergs Pläne in die Tat umzusetzen. Die von Hardenberg zugesagte weitherzige Erschließung der Archive unterblieb. Es war die Zeit der Restauration, in der selbst das Unternehmen der mittelalterlichen Quellenedition der Monumenta Germaniae behindert wurde, weil „die Geschichte ebenso gut gegen als für das Bestehende Waffen liefere" 53 . Die Archivbenutzung hatte sich bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts in äußerst engen Grenzen zu halten 54 . 1856 wurde zwar eine für alle Provinzen Preußens einheitliche Zugangsregelung geschaffen, die jedoch deutlich hinter den Plänen Hardenbergs zurückblieb, die das Verhältnis von Geheimhaltung zu Publizität umkehren wollten 5 5 . Etwa seit den 1870er Jahren sind öffentliche Archive in Deutschland zur Benutzung für Forschungszwecke grundsätzlich freigegeben 5 6 . Eine bundesgesetzliche Regelung, die die Öffentlichkeit der Archive garantiert, sollte erst durch das Bundesarchivgesetz im Jahr 1988 geschaffen werden. 4. Die historische Legitimationsfunktion
öffentlicher
Archive
Hardenbergs Bestrebungen sind eingebettet in die breite Entwicklung der Säkularisation der Staaten Europas. Die Ausbildung des säkularen Verfassungsstaats brachte ein verstärktes Bedürfnis für die Fortentwicklung und Ausbildung des Rechts, der staatsrechtlichen Begriffsinhalte und der öffentlichen Aufgaben auf einer neuen empirischen Grundlage mit sich. Insbesondere vor dem Hintergrund des staatlichen Kunstgebildes Preußens, dessen Zufälligkeit bei den neuen rheinischen Territorien augenfällig wurde, muß das Ziel der Schaffung eines preußischen, historischen Zentralarchivs auch
53
Koser, Einleitung S. X V I I ; zu den Monumenta Germaniae s.u. III. 2. Koser, Einleitung S. X V I I . 55 Danach mußten Private einen detaillierten Benutzungsantrag beim Oberpräsidenten der Provinz stellen und vor Verlassen des Archivs ihre Exzerpte vorlegen. Brenneke/Leesch, Archivkunde, Band 1, S. 369 ff.; Goldinger, Archivbenutzung vor 100 Jahren, Der Archivar 26 (1971) Sp. 427 ff., 430. 56 Brenneke/Leesch a. a. O. zu den einzelnen Staaten; Goldinger, Der Archivar 26 (1971) Sp. 427 ff., 430; Lepper, gibt für Preußen allerdings 1875 an, DVB1. 1963 S. 316. 54
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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als der Versuch gesehen werden, dem staatlichen Zufallsgebilde eine Einheit und historische Legitimation zu geben. In diesem Zusammenhang wuchs der historischen Forschung eine zentrale Bedeutung als Legitimationsgrundlage zu 5 7 . Diese stützte sich auf die Bestände der „öffentlich" werdenden Archive des Staates58. Im Gegensatz zum gleichzeitig entstehenden wissenschaftlichen Bibliothekswesens als Hauptstandbein der Bildungspolitik und des wissenschaftlichen Aufschwungs im 19. Jahrhundert blieben die Archive des Staates wie der Städte und Gemeinden zwar zunächst eine Domäne der Verwaltungen ihrer jeweiligen Träger 59 ; sie rückten aber, wie insbesondere die Reformdiskussion in Preußen zeigt, zunehmend in eine Doppelstellung als Organ der Verwaltung und der Wissenschaft ein. In Frankreich wurde und wird das „Konzept der öffentlichen Archive" mit der Herausbildung des französischen Staatsbegriffs eng verbunden und sogar als politisches Symbol der Republik angesehen60. Das wissenschaftliche Archivwesen setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als eigenständige wissenschaftliche Institution durch, die von fachlich qualifiziertem Personal (Historikern und Juristen) geleitet wurde 6 1 . Archivare werden zu den rechtsstaatlich Verantwortlichen für die (staatliche) Überlieferungsbildung. Neben Schulen, Hochschulen, Akademien, Theatern, Museen und Bibliotheken bildet das Archivwesen schließlich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen anerkannten Bereich der Kulturverwaltung 62 . Öffentliche Archive sind mithin ein wesentliches Element der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten Idee des Kulturstaats, für die wiederum die Bereitschaft des jeweiligen Staates zur Pflege und Unterhaltung kultureller Einrichtungen im Interesse seiner Bürger prägend ist 6 3 . Die Arbeit des erst 1952 geschaffenen Bundesarchivs geht über die rein behördeninterne Sammlungstätigkeit hinaus. Das Bundesarchiv wird in zu57
Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, Struktur und Krisen des Kaiserreiches, S. 637 ff.; Boehm/Repgen, Art. „Geschichtswissenschaft" in: Staatslexikon, Band 2, Sp. 936 ff. (941). 58 Boehm/Repgen Sp. 942. Vgl. o.g. Beiträge zur französischen Archivgesetzgebung insbes. Duchein und Ducrot sowie: Marquant, Vorlesungen zum Archivwesen in Frankreich, S. 6 ff. 59 Busley/Kottje a.a.O. m.w.N.; Rogalla v. Bieberstein, Archiv, Bibliothek, Museum als Dokumentationsbereiche. S. 5 ff. 60 Laveissiere a.a.O. (s.o. Fn 26) RA 1979 p. 139 f. 61 Auch für Hardenberg stand die Verpflichtung geeigneter Historiker am Anfang seiner Bemühungen, wie das zitierte Schreiben Hardenbergs an Altenstein zeigt. Koser, Einleitung. Vgl. auch Busley/Kottje Sp. 330. 62 Kahlenberg in: Jeserich/Pohl/v. Unruh, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 5, S. 739. 63 Huber a.a.O. 3 Manegold
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
nehmendem Maße zu einer ressortunabhängigen, wissenschaftlichen Forschungseinrichtung, die Bildungsprogramme und selbständige Forschung unternimmt 64 und zudem eine gezielte „Erwerbspolitik" bezüglich außerbundesbehördlichen Archivguts betreibt (vgl. § 1 BArchG) 6 5 . Die früher vorgetragene Beurteilung der Rechtsnatur des Bundesarchivs als reiner Komplementäreinrichtung zu den Bundesressorts 66 steht dazu im Widerspruch und ist überholt 67 . Das Bundesarchiv zählt zu den hervorragenden Institutionen des Bundes im Bereich gesamtstaatlicher Kulturpflege 68 . I I I . Zur Bedeutung der Archive für Geschichte und Geschichtswissenschaft Durch die Bewertung von Unterlagen als „archivwürdig" bzw. ihre Kassation werden öffentliche Archivare zu „Architekten einer aussagekräftigen Quellenüberlieferung" 69 , die die Voraussetzungen wissenschaftlicher Erforschung „der Geschichte" des Staates und der Gesellschaft sicherstellen. Öffentliche Archive sichern die zukünftige Ausübung - historischer - Forschungsfreiheit. Sie zählen zum Bereich der Grundrechtsausübungs- bzw. -voraussetzungssicherung. 1. Die öffentliche
Funktion der Geschichtswissenschaft
Der erstmalige Gebrauch des Begriffs „Geschichte" als Kollektivsingular fällt in die Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts und zeigt nach Koselleck an, daß die menschliche Welt zu einem einheitlichen Erfahrungsraum wird und daß die Geschichte als umfassender „gleichsam eigentätiger Prozeß" verstanden wird 7 0 . Geschichte ist nach der Formulierung des für die Methodenbildung bedeutenden deutschen Historikers des 19. Jahrhunderts Droy64
Bucher, Das Bundesarchiv. Geschichte-Aufgaben-Probleme, S. 31 f. Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes: zum Bundesarchiv S. 86 f.; Küster, Die verfassungsrechtliche Problematik der gesamtstaatlichen Kulturpflege in der Bundesrepublik Deutschland, S. 188 ff., 192 ff. Ein herausragendes Beispiel ist die Rolle des Bundesarchivs bei der juristischen Auseinandersetzung um die Tagebücher von Joseph Goebbels mit dem Schweizer Eigentümer Genoud. Dazu Becker, Ein Nachlaß im Streit. Anmerkungen zu den Prozessen über die Tagebücher von Joseph Goebbels in: FS Booms, S. 270 ff., 285. 66 Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 87 Rz. 21. 67 Köstlin S. 86. 68 Küster S. 233. 69 Booms, Archive im Spannungsfeld zwischen Verwaltung, Forschung und Politik, Der Archivar 33 (1980) Sp. 21 ff. ; ders. Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung, Archivalische Zeitschrift 68 (1972) S. 3-40 (5 ff.); Groß a.a.O.; Schmitz a.a.O. (Fn 18) S. 95 ff., 102. 65
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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sen „das Wissen der Menschheit von sich, ihre Selbstgewißheit" 71 , nach Huizinga die „geistige Form, in der eine Kultur sich Rechenschaft ... ablegt" (Huizinga, Im Bann der Geschichte). Geschichte meint also das Studium der Ursachen gesellschaftlicher und staatlicher Erscheinungen; Geschichte bezeichnet objektiv das Geschehen (res gestae) und subjektiv dessen Wiedergabe (historia rerum gestarum) 72 . Diese Wiedergabe von Geschehenem ist nicht bloßes Abbild, sondern selektiv auswählend, standortgebunden, d.h. sowohl räumlich wie zeitlich und perspektivisch „weltbildbezogen". Aus der Erkenntnis, daß Geschichtsdeutung ebenso vom realen Geschehen und seinen Bedingungen abhängig ist, wie es diese mit bedingt, erwachsen Probleme der Standortgebundenheit, die unter dem schillernden Begriff des „Historismus" rubriziert werden 73 . Andererseits wird die Entdeckung dieser Standortgebundenheit als Voraussetzung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt gesehen74. Die Geschichtswissenschaft systematisiert das Wissen von der Geschichte und Geschichtlichkeit und macht es durch die Anwendung bestimmter, „historischer" Methoden verstehbar. Bezogen auf soziale Gebilde wie den Staat, die Kirchen, usw. stiftet Geschichtswissenschaft kollektives Identitätswissen im Erkennen der Kontinuität oder auch Diskontinuität von Ideen und Institutionen 75 . Darin liegt die spezifisch öffentliche und rechtsstaatliche Funktion der Geschichtswissenschaften, aus der sich die entsprechende Bedeutung der öffentlichen Archive für die Identität des Staates und seiner Institutionen ableitet. Die Begriffe des Staats und des Rechtsstaats lassen sich nicht von ihrer Geschichtlichkeit, im Sinne dieser Kontinuität lösen. Der „Staat" und insbesondere der „Rechtsstaat" lassen sich ohne eine geordnete Dokumentation seiner Tätigkeiten, die seine Geschichtlichkeit verstehbar macht, nicht denken 76 . Das Bewußtsein von einer solchen Geschichtlichkeit hat eine be70
Koselleck, „Geschichte, Historie" in: Brunner/Konze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, S. 593 ff. 71 Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsgg. von R. Hübner, 1972. Dazu Boehm/Repgen, Artikel „Geschichtswissenschaft" in: Staatslexikon, Band 2, Sp. 942. 72 Baumgartner, Artikel „Geschichte, Geschichtsphilosophie" in: Staatslexikon, Band 2, Sp. 924. 73 Zum Begriff des Historismus und zur Entwicklung der Geschichtswissenschaften: Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 bis 1866, S. 498 ff. 74 Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Koselleck/Mommsen/Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit. Beiträge zur Historik, Band 1, S. 17 ff., 24. 75 Boehm/Repgen Sp. 942: zu Ziffer 1 und 2. 76 Vgl. zur besonderen Bedeutung geschichtlicher Betrachtung für die Identiät des Staatsbegriffs: Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des 3*
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
stimmte auf den Staat bezogene Geschichtswissenschaft herausgebildet, die wiederum das Bild des Staates prägt. Aussagen über den Staat schlechthin, sein zeitloses Wesen laufen ins Inhaltsleere. Ohne historische Betrachtung werden konkrete soziale Gegebenheiten in der Regel unzulässig - „ungeschichtlich" - verallgemeinert 77 . 2. Die Entstehung der Geschichtswissenschaften als Bedingung und Folge eines öffentlichen Archivwesens Die Problematik der Standortgebundenheit methodisch zu bewältigen, ist eine wesentliche Funktion der Arbeit mit archivierten, zeitgenössischen Primärquellen - im Gegensatz zu sekundären oder „abgeleiteten" Literaturquellen. Die Analyse solcher Primärquellen ist die spezifische Methode der Geschichtswissenschaft; sie gilt insbesondere für die Erforschung des „Staats" als Bedingung wissenschaftlicher Objektivität 78 . Frühformen geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik finden sich bereits bei den Humanisten, die die „historia" von der rein enzyklopädischen Stoffhäufung abgrenzen wollten. Die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft als in Methodik und Darstellung neben der Philosophie selbständigen Disziplin, die sich durch die Untersuchung von schriftlichen Originalquellen 79 auszeichnet, setzte sich im 19. Jahrhundert „als Synthese komplexer Strömungen" durch: Die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen können mit der Abkehr vom pragmatischen Fortschritts- und Zweckdenken des Rationalismus und der Überwindung seiner mechanistisch-kausalen
Rechtsstaats, Der Staat 34 (1995) S. 3 f f ; und das Geleitwort der Herausgeber der Zeitschrift „Der Staat" zum 1. Band (1962). 77 Isensee, Artikel „Staat" in: Staatslexikon, Band 5, Sp. 134; Böckenförde, Die historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: Festschrift für Ritter, S. 9 ff., 12 ff. Zu Geschichtlichkeit und Rechtssetzung. 78 Evans, Fakten und Funktionen, S. 104 ff., S. 212 ff.; Hedinger, Subjektivität und Geschichtswissenschaft, S. 428 ff.; Koselleck S. 43; Nipperdey S. 498 ff., S. 514 ff.; Opgenoorth, Hilfsmethoden neuerer und neuester Geschichte, in: Acham u.a. (Hrsg.), Methoden der Geschichtswissenschaft, S. 94 f.; Rüsen, Historische Methode, in: Meier/Rüsen (Hrsg.), Historische Methode. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Band 5, S. 62 ff., 75 ff.; Schnabel, Deutsche Geschichte i m 19. Jahrhundert, Dritter Band, 2. Abschnitt: „Die Geschichtswissenschaften"; insbesondere zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen, S. 36 ff., 120 ff.; vgl. auch Erster Band, S. 197 f. 79 Die Unterscheidung abgeleiteter von ursprünglichen bzw. primärer von sekundären Quellen geht auf einen Methodenstreit des französischen Benediktiners J. Mabillon mit Jesuiten in seiner Schrift „De re diplomatica" (1681) zurück. Als exemplarisch wird ebenfalls Jean Bodins Werk „metodus" aus dem Jahr 1566 für Frankreich genannt und für einen späteren Zeitraum in Deutschland G. W. Leibniz historische Arbeiten; Boehm a.a.O. zu Ziffer 3.
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
Welterklärung durch eine genetische, schlagwortartig umrissen werden 80 .
„historische"
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Betrachtungsweise
Diesen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen stehen auf methodischer Seite die praktische Verfeinerung der Quellenanalyse, zunächst vor allem durch Übertragung philologischer Methoden auf historische Primärquellen, und auf politischer Ebene die Öffnung zunächst ausgewählter kirchlicher Archive und die Entstehung öffentlicher Archive gegenüber. Dabei war die Öffnung der Archive für die entstehende historische Disziplin Ausdruck einer breiten „historischen" Bewegung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, die insbesondere auch für die juristische Hermeneutik als „historische Methode" 8 1 seit dem Aufschwung der Historischen Rechtsschule Savignys wegweisend war 8 2 . Savigny selbst war es auch, der den Historiker Wilken offenbar bei der Abfassung seiner o. g. Gutachten für die preußische Akademie der Wissenschaften zur Archivbenutzung und Organisation beriet, indem er die Bedeutung des kritischen unvoreingenommenen Umgangs mit archivierten Primärquellen für die historische Forschung betonte 83 . Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zählt eine eigenständige Archivwissenschaft, die Quellen- und Urkundenlehre umfaßt, zu den anerkannten historischen Hilfswissenschaften 84 . Die zunächst schrittweise Öffnung der öffentlichen Archive ist untrennbar mit der Entstehung der geschichtswissenschaftlichen Methoden und Disziplinen verknüpft. Die Emanzipation der modernen Geschichtswissenschaft gegenüber der Philosophie als in Forschung und Darstellung autonomer Wissenschaftsdisziplin ist ohne die Öffnung der Archive für die Wissenschaft nicht denkbar 85 . Dieser Umstand fand bereits im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts Ausdruck in neuen Formen des historischen Forschungsbetriebes: die auf Anregung des Freiherrn vom Stein durch Pertz und Böhmer im Jahre 1819 erstmals herausgegebenen Quellenwerke „Monumenta Germaniae Historica", in Frankreich vor allem die Gründung der Pariser Ecole des Chartes im Jahre 1821, auf deren Vorbild etwa auch die Historische 80
Boehm a.a.O.; Schnabel a.a.O., Nipperdey S. 498 ff., S. 514 ff. Der Begriff geht zurück auf das Vorbild des humanistischen „Sensus historicus" der Bibelexegese im Gegensatz zu allegorischen Schriftdeutungen; Boehm a. a.O. 82 Dazu statt vieler Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 348 ff. Vgl. auch die volkswirtschaftliche „Parallele" Wilhelm Roscher und die Historische Schule der Nationalökonomie; Brandt, Artikel „Historische Schule der Nationalökonomie" in: Staatslexikon, Band 2, Sp. 1283 ff.; Nipperdey S. 520 ff. 83 Koser, Einleitung S. X V Anm. 3 (zum Brief von Savigny an Wilken vom 5. April 1819). 84 Opgenoorth a. a. O. 85 Ribberinck, Die Öffentlichkeit der Archive im Umbruch der Zeiten, Der Archivar 26 (1973) Sp. 423 ff. 81
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften in München (1858) zurückgeht 86 . Die „Monumenta Germaniae Historica" sind mittelalterliche Quelleneditionen, die in engem Zusammenhang mit der infolge des Reichsdeputationshauptschlusses „herrenlos" gewordenen Kirchen- und Klösterarchiven stehen. Insofern hat deren Öffnung den Aufschwung zunächst der wissenschaftlichen mittelalterlichen Quellenkunde ermöglicht, auf der die quellenkritische Methode der neueren historischen Schulen entstehungsgeschichtlich fußen 87 . Als Methodenschule sind die Monumenta prägend für die Quellen- und Archivarbeit für alle späteren Epochen bis zur Zeitgeschichte geworden 88 . Für die methodische Emanzipation der Geschichtswissenschaft als eigenständiger Quellenwissenschaft waren weiter die großen quellenkritischen Werke von Leopold von Ranke für die mittelalterliche und neue Geschichte bedeutsam, der auf archivarische Quellen in besonderem Maße zurückgegriffen hatte. Die auch im Gesetzgebungverfahren zum Bundesarchivgesetz (BArchG) mehrfach zitierte Zielbeschreibung im Vorwort von Rankes Erstlingswerk „Bloß sagen, wie es eigentlich gewesen ist" war hingegen (noch) keine Methodenregel 89 . Die Maxime reflektiert aber in ihrer kokettierenden Bescheidenheit einen spezifisch geisteswissenschaftlichen bzw. geschichtswissenschaftlichen Wahrheitsbegriff in Abgrenzung zu außerwissenschaftlichen, v.a. politischen Zielen und zu dem in den Naturwissenschaften gewonnenen „objektiven" Wahrheitsbegriff. Für diesen Wahrheitsbegriff der Geschichtswissenschaft ist die eigentümliche hermeneutische Methode des Auslegens und Verstehens von Primärquellen und mithin der Zugang zu öffentlichem Archivgut konstitutiv. Nach Ranke müssen die Historiker zu den „echten" Primärquellen vordringen und diese in ihrer Gesamtheit sichten. Gleichzeitig müssen sie der Sekundärliteratur in Bibliotheken und Chroniken mißtrauen. Die Ausbildung in Quellenkritik und die Unterscheidung von primären und abgeleiteten Quellen ist seither auch im internationalen Rahmen anerkannte Bedingung (geistes-)wissenschaftlicher Objektivität. Insofern wird auch von der „rankeschen Revolution" gesprochen 90 , die zur Verwissenschaftlichung der
86
Boehm Sp. 942, Ziffer 3. Boehm a.a.O.; Schnabel a.a.O. 88 Boehm a.a.O.; vgl. insbesondere die Quelleneditionen des Bundesarchivs zur Zeitgeschichte. 89 Dazu Vierhaus, Rankes Begriff der historischen Objektivität, in: Koselleck/ Mommsen/Rüsen, Objektivität und Parteilichkeit. Beiträge zur Historik Band 1, S. 63 ff.; Repgen, Über Rankes dictum von 1824: „Bloß sagen, wie es eigentlich gewesen", Historisches Jahrbuch 102 (1982) S. 439 ff.; vgl. auch Schnabel über Rankes Bemühungen, a.a.O. Dritter Band, S. 165 f.; Nipperdey S. 515 f. 87
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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Geschichtsschreibung und Entstehung der Geschichtswissenschaften als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin geführt hat 9 1 . Die Geschichtswissenschaften heben sich von den Naturwissenschaften als empirischen Wissenschaften seither durch eigene philologische, historische Methoden ab. Spezifikum der Geschichtswissenschaft als der typischen Geisteswissenschaft ist, daß sie sich auf „psychologischer" Grundlage mit Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst, usw. befaßt. Teilweise wird es als konstitutiv für die Geschichtswissenschaft angesehen, daß diese in einer individualisierenden Methode auf die „Idiographik des Einzelnen, Faktischen, Kontingenten in seiner formalen Beziehung auf Werte unter Einschluß und Betonung des Einmaligen als einem Eigenwert" blicke 9 2 . Für diese Methode ist der Zugang zu Schriftquellen, insbesondere auch denjenigen des Staates in all seinen Erscheinungsformen, als einem Hauptuntersuchungsgegenstand von Beginn an faktische Voraussetzung und Bedingung - mögen dabei zeitgenössische Archivalien zunächst auch ausgenommen gewesen sein. Auch tendenziell gegenüber jeder Historiographie kritische, „postmoderne" Stimmen gehen davon aus, daß die Analyse staatlich archivierter Quellen und mithin stillschweigend auch der Archivzugang wesentliche Voraussetzung wissenschaftlicher Objektivität in der Geschichtswissenschaft bleiben 93 . 3. Bedeutung öffentlicher
Archive für die „Zeitgeschichte "
Die Geschichtswissenschaften beschränkten ihre Untersuchungsgegenstände von Beginn an keinesfalls auf entfernt liegende Zeiten. Weder das Wort noch die Sache „Zeitgeschichte" sind Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Bereits dem 18. Jahrhundert war das Wort bekannt und es fand im 19. Jahrhundert breiten Eingang in die Wissenschaftssprache. Das Buch von Lorenz von Stein über „Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage" trug beispielsweise den Untertitel „Ein
90 Evans, Fakten und Funktionen, S. 28; der Durchbruch sei insbesondere durch die Übertragung philologischer Methoden auf die neuere Geschichte durch Ranke geschehen. 91 Evans S. 26 ff., 95; Vierhaus, Repgen und Schnabel a.a.O. 92 Riedel, Artikel „Wissenschaft" in: Staatslexikon, Band 5, Sp. 1098 f. Abschnitt III. Natur- und Geisteswissenschaft. 93 Zur Problematik der „Postmoderne" und der Geschichtswissenschaft als „bürgerlicher Ideologie"; Evans S. 192 ff., 212 ff. Soweit Hildesheimer die Rolle öffentlicher Archive als der „laboratoires de l'histoire" relativiert und auf ihre administrative Bedeutung zurückführt, geschieht dies, um der Freiheit historischer Forschung willen, und um einem Monopolanspruch öffentlicher Archive für historische Wahrheit entgegenzutreten, a. a. O. p. 20, 69 ff.
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archiv wesens
Beitrag zur Zeitgeschichte". Als verselbständigte Wissenschaftsdiziplin, die sich anhand von universitären Lehrstühlen und selbständigen Publikationsorganen von Nachbardisziplinen abgrenzt, hat sich in Deutschland die Zeitgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg herausgebildet 94. Die 1949 in München erfolgte Gründung des „Deutschen Instituts für die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit", das 1952 in „Institut für Zeitgeschichte" umbenannt wurde, markiert den Beginn in der Bundesrepublik. Von diesem werden seit 1953 die „Vierteljahreshefte der Zeitgeschichte" herausgegeben. Im internationalen Vergleich zeigt sich, daß für die zeitlichgegenständliche Abgrenzung der Untersuchungsgegenstände der Zeitgeschichte einerseits prägende historische Umbrüche nach dem Prinzip der „Periodisierung" herangezogen werden 95 . Die Sperrfristen der Archivzugangsregelungen führen allerdings mittelbar zu einer fortlaufenden Abgrenzung der Zeitgeschichte, je nach Dauer und Einzelfallhandhabung der allgemeinen Sperrfrist 96 . Angesichts mangelnder zeitlicher Distanz der zeitgenössischen Forschung muß sich gerade auch zeitgeschichtliche Forschung den Primärquellen zuwenden 97 . Zwar hat sich das Quellenmaterial der Zeitgeschichte durch die überragende Bedeutung der Medien erweitert und beschränkt sich nicht auf staatliche Originalzeugnisse. Gerade in Abgrenzung und zur methodischen Überprüfung der Medienquellen gewinnen staatliche Quellen aber eine zusätzliche, besonders gewichtige Bedeutung. Hinzukommt, daß auch Medien- und Sekundärquellen in der Regel in öffentlichen Archiven archiviert sind, so daß die Zugänglichkeit öffentlicher Archive eine entscheidende Voraussetzung für zeitgeschichtliche Forschung ist 9 8 . Für den Zeit94 Vgl. die Einleitung von Stolleis, Juristische Zeitgeschichte. Einleitung S. 7 f.; Möller, Art. „Zeitgeschichte" in: Staatslexikon, Band 5, Sp. 1145. Nach Möller taucht der Begriff in Deutschland zuerst in der Pluralform auf. In der Genese der Geschichtsschreibung zeigt sich bei ihren herausragenden Protagonisten ein direkter politischer Bezug der Einmischung in die aktuelle Debatte. Die Geschichte des peloponnesischen Krieges des Thukydides, die Annalen des Tacitus, die florentinische Geschichte des Nicolö Machiavelli, die „Histoire de mon temps" Friedrichs des Großen (1775) wären nach heutigem Verständnis Beiträge zur Zeitgeschichte. 95 In Frankreich beginnt die „Histoire contemporaine" mit dem Revolutionsjahr 1789, in England mit der Parlamentsreform 1832, in der DDR war dies die Gründung der DDR im Jahr 1949, in der Bundesrepublik üblicherweise das Jahr 1933 und die Weimarer Zeit, begriffen als Vorgeschichte der NS-Zeit. Möller a. a. O. 96 Möller meint, daß die 30jährige Sperrfrist für die Erforschung NS-Diktatur und die Weimarer-Zeit deswegen eine untergeordnete Rolle spiele, da 1945 in Folge der alliierten Beschlagnahme zentrale Quellenbestände bald zugänglich wurden und überdies die 30jährige Sperrfrist i. d. R. flexibel gehandhabt werde. 97 Möller a.a.O.; von Hehl, Probleme der Zeitgeschichtsforschung und die Öffnung der kirchlichen Archive, in: Ammerich, Offen für Zeitgeschichte? Die Kirchen und ihre Archive. S. 31.
1. Kap.: Archive und Geschichtswissenschaft
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historiker des „Aktenzeitalters" liegt buchstäblich „die Wahrheit" in den Akten der öffentlichen Archive. Dies bestätigt der Großteil der „ernstzunehmenden" zeitgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte, die in den Archiven und auf der Grundlage von Archivalien erarbeitet worden sind". Reiner Groß konnte daher in seinem Eröffnungsvortrag zum 65. deutschen Archivkongreß schlicht feststellen: „Jeder ernsthafte Forscher weiß, daß er sein Thema nicht ohne archivarische Quellen bearbeiten kann. Das ist Allgemeingut unserer Gesellschaft" 100 .
IV. Zusammenfassung Archive als Dokumentations- und Sammelstellen für öffentliches Schriftgut zählen zu den ältesten Behördenzweigen überhaupt. Seit der französischen Revolutionsgesetzgebung von 1794, die jedem Bürger ein Zugangsrecht zu öffentlichen Archiven gewährte, zählt die prinzipielle Öffentlichkeit staatlicher Archive zu den Elementen des modernen, säkularen Verfassungsstaats. Etwa zeitgleich wird die ursprünglich „staatsrechtliche", herrschaftssichernde Funktion der Archive ergänzt durch ihren Archive als Dokumentations- und Sammelstellen für öffentliches Schriftgut zählen zu den ältesten historisch-wissenschaftlichen Zweck, der im Laufe des 19. Jahrhunderts schließlich dominierte. Hardenberg beabsichtigte in Preußen schon um 1820 die weitestgehende Öffnung sämtlicher staatlicher Archive für die historische Forschung nach französischem Vorbild, welche Pläne aber in der Restauration fallengelassen wurden. Die Öffnung staatlicher Archive und die methodische Analyse archivierter, staatlicher Primärquellen sind historische Entstehungsvoraussetzung der Geschichtswissenschaft als Wissenschaftsdisziplin und notwendiges Wissenschaftsmerkmal zugleich. Ohne eine Geschichtswissenschaft, die sich auf staatliche, archivierte Quellen stützt, ist die Entwicklung des Verfassungsstaates im 19. Jahrhundert, zu dem auch die Vorstellung von seiner Geschichtlichkeit gehört, nicht denkbar. Der Geschichtswissenschaft wuchs u.a. die Aufgabe seiner historischen Legitimation zu. Die wechselseitige 98
Als konstitutiv wird auch gesehen, daß sich die Zeitgeschichte eigener und neuer Quellengattungen und Methoden bedient: sozialstatistische Massenakten, Materialüberlieferung der Massenmedien, neue Datenträger, Zeugenbefragungen. Jaroschka, Die Aufgaben der Archive in unserer Zeit, Der Archivar 40 (1987) Sp. 19 ff. 99 Steinbach, Historische und sozialwissenschaftliche Forschung unter Beachtung des Datenschutzes, in: Akademie für politische Bildung (Hrsg.), S. 109 („veritas in actis"); Rausch, Personen- und Datenschutzproblematik bei vorzeitiger Öffnung der Archive aus rechtspolitischer Sicht, in: Ammerich S. 81; Heydenreuther, Anmerkungen zum Urteil des BayVGH v. 12.02.1985, CuR 1988 S. 124, 129. 100 Groß, Der Archivar 47 (1995) Sp. 17; Heydenreuther, CuR 1988 S. 129.
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1. Teil: Zur Entstehung des wissenschaftlichen Archivwesens
historische und systematische Verschränkung von Geschichtswissenschaft und öffentlichem Archivwesen und die prinzipielle Zugänglichkeit von öffentlichem Archivgut werden seither nicht in Frage gestellt. Dies gilt auch für die Zeitgeschichte.
2. T e i l
Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen 2. Kapitel
Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen des Grundgesetzes für ein öffentliches Archivwesen Staatliche Archive gehören zum traditionellen Bestand staatlicher Institutionen, deren Einrichtung und Unterhalt bislang nicht in Frage gestellt werden. Angesichts des Haushaltsvorbehalts des finanziell Möglichen und Verhältnismäßigen bedarf der Hinweis, daß öffentliche Archive zur „Überlieferungssicherung" vornehmlich für die historische Forschung und zur „Informationssicherung als Grundprinzip des Verwaltungshandelns" unabdingbar seien1, der juristischen Überprüfung. Es stellt sich die Frage nach verfassungsrechtlichen Rahmenvorgaben, aus denen sich normative Mindeststandards für die Einrichtung und Ausgestaltung öffentlicher Archive, d.h. für die „archivfachlichen Voraussetzungen" aus dem Grundgesetz gewinnen lassen2. Die ausdrückliche Erwähnung einer Staatsaufgabe zur Einrichtung öffentlicher Archive findet sich allein in der sächsischen Landesverfassung. Als einziger Verfassungstext erwähnt diese im Ersten Abschnitt „Die Grundlagen des Staates" in Art. 11 die Archive als kulturelle Einrichtung, zu deren Unterhalt der Staat zur Verwirklichung und Förderung wissenschaftlichen und kulturellen Lebens verpflichtet ist 3 . 1
Groß zitiert das Dictum von Theodore R. Schellenberg in dessen Vorwort zu „Akten- und Archivwesen in der Gegenwart. Theorie und Praxis" (München 1960, S. 1): „Würde man einen Mann auf der Straße fragen, warum Staaten Archive unterhalten, würde er wahrscheinlich fragen: ,Was ist Archivgut und was sind Archive?4 Erklärte man ihm die Zweckbestimmung eines Archives, täte er wahrscheinlich die ganze Angelegenheit mit der Bemerkung ab, daß dies wieder ein Beispiel für der Verschwendung von Steuergeldern durch die Regierung sei. Was die Archivalien selbst anbelangt, so lautete die Antwort aller Wahrscheinlichkeit nach: Warum verbrennt man das Zeug nicht?"; Groß, Überlieferungssicherung, Der Archivar 48 (1995) Sp. 17. 2 Vgl. § 2 Abs. 8 LarchG Brandenburg: Fachpersonal, räumliche und institutionelle Abschottung und Sicherheit, Mittelbereitstellung.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
A . Einrichtung und Unterhalt öffentlicher Archive als Ableitung verfassungsrechtlicher Leitprinzipien und Staatsaufgaben I. Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) 7. Pflicht zu Einrichtung und Unterhalt öffentlicher
Archive
Der Rechtsstaat ist nicht ausschließlich, aber auch ein „Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts" 4. Dazu zählt traditionellerweise das Dokumentationswesen und die Archivierung der Verwaltungsunterlagen 5. Die Kompetenzordnung und das Prinzip der rechtlichen und demokratischen Verantwortlichkeit verlangen die Überprüfbarkeit nicht nur von Verwaltungsentscheidungen, sondern auch von Gerichts- und Gesetzgebungsverfahren. Das Prinzip der Rechtssicherheit gebietet Rechtssicherung und Rechtsnachweisbarkeit durch die Aufbewahrung der entsprechenden Unterlagen nicht nur im Rahmen der jeweils betroffenen gesetzlichen Rechte, sondern auch über den konkreten Bedarf im laufenden Verfahren und über die unmittelbar absehbaren Interessen der Verwaltung und Beteiligter hinaus. Aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und speziellen Grundrechten (etwa Art. 14 Abs. 1 GG) folgt u.U., daß die weitere Speicherung und Verarbeitung ursprünglich unzulässig ohne Rechtsgrundlage gespeicherter personenbezogener Daten aus übergeordnetem Recht - paradoxerweise geboten sein kann: wenn nämlich der Rechtsschutz des Betroffenen oder übergeordnete Allgemeininteressen der rechtsstaatlichen Kontrolle und Überprüfung die Aufbewahrung der Daten verlangt, weil die Durchsetzung aktueller oder erst erwarteter möglicher Entschädigungs- oder Rehablilitationsinteressen dies erfordert 6. Dies gehört zum rechtsstaatlichen „Primat des Rechts" 7 und dem daraus folgenden Gebot zur Sicherung der Voraussetzungen effektiven Rechtsschutzes. 3 Daneben erwähnt nur Art. 9 Abs. 2 der Landesverfassung Schleswig-Holstein im Rahmen seines Förderungsauftrags für die Wissenschaft das „Büchereiwesen". Zählte man dazu nach funktional-teleologischer Betrachtung die Staatsarchive bzw. das Archivwesen, mißachtete man die historische und funktionale Trennung von Archiven und öffentlichen Bibliotheken. 4 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HdBStR Bd. 1, § 24 Rz 75. 5 Meilinger, Datenschutz im Bereich von Information und Dokumentation, S. 57 ff. (60); Kirchner, Bibliotheks- und Dokumentationsrecht (zu Auswirkungen der Verfassung auf das Dokumentationsrecht), S. 32 ff.; Simitis, Programmierter Gedächtnisverlust oder reflektiertes Bewahren: Zum Verhältnis von Datenschutz und historischer Forschung, in: Festschrift für Zeidler, Band II, S. 1475 ff., 1483. 6 Vgl. dazu aus der Zeit vor dem Volkszählungsurteil: Meilinger S. 217. 7 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rz 195, 202; Schmidt-Aßmann S. 995 ff.
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
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Die Aufbewahrung von Verwaltungsschriftgut - zunächst in Registraturen und danach in Archiven - ist primär eine juristische Hilfsfunktion rechtsstaatlicher Verwaltung. Könnten Rechtsschutzinteressen allerdings von vornherein mit Sicherheit ausgeschlossen werden, folgte aus dem Rechtsstaatsprinzip zumindest keine unmittelbare Archivierungspflicht. Eine über die juristische Hilfsfunktion hinausgehende, spezifisch historische Aufbewahrungs-„Pflicht" läßt sich mittelbar, wenngleich inhaltlich vage aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten, wenn zum Rechtsstaat als geschichtlichem Phänomen die Aufgabe bzw. „Verpflichtung" zu historischer Selbstvergewisserung gezählt wird. Denn zur Idee des Rechtsstaats gehört die Vorstellung von seiner Geschichtlichkeit und Kontinuität, seiner historischen Verfaßtheit. Insofern ist entscheidend, daß Staats- und Rechtsstaatsbegriff ohne ein öffentliches Archivwesen teilweise ihre historische Legitimationsgrundlage und ihren historisch gewachsenen Charakter verlören 8 . Insofern läßt sich durchaus von einer rechtsstaatlichen Pflicht der öffentlichen Hand zu Einrichtung und Unterhalt öffentlicher Archive sprechen. Diese gilt nach dem Leitbild des historisch gewachsenen Archivwesens auch für die Archivierung von Unterlagen mit personenbezogenen Daten. Der von Simitis angeführte „programmierte Gedächtnisverlust", der ohne personenbezogenes Archivgut sicher drohte, ist mit dem Prinzip der Geschichtlichkeit und historischer Selbstvergewisserung unvereinbar. Die gesetzgeberische Entscheidung für die Schaffung eines öffentlichen Archivwesens, das auch die Archivierung persönlicher Daten gewährleistet, ist insofern verfassungsrechtlich determiniert. 2. Neutralität der Archive Seit den siebziger Jahren sind v.a. wegen der anschwellenden „Dokumentenflut" das Bewertungsproblem und damit zusammenhängend die Kassationsfrage zum Zentralproblem der modernen Archivwissenschaft geworden 9 . Die Archive sind im Bereich der Auswahl des gegenwartsnahen Archivguts, den Quellen zur Zeitgeschichte, nicht bloße „Hüter der Überlieferung", sondern deren Gestalter. Indem der Archivar „von Ballast befreite, aussagekräftige, modellgerechte Bestände bilden" soll, ohne dabei zu manipulieren, entscheidet er über das zukünftige historische Bild der Epoche mit. Denn was der Archivar kassiert, ist unwiederbringlich für den (zukünftigen) historischen Forscher verloren 10 . 8
s.o. 1. Kap. II. Goldinger, Standort der Archivwissenschaft, Archivalische Zeitschrift 76 (1980) S. 1 ff. (13). 10 Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung, Archivalische Zeitschrift 68 (1972) S. 3 ^ 0 (5). 9
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
a) Rechtsstaatliche Neutralität als verfassungsrechtlich gebotenes Prinzip für die archivarische Tätigkeit (Bewertung, Kassation) Waren den Archivaren der ehemaligen Ostblockstaaten auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus durch den Klassenstandpunkt der „Parteilichkeit" politische Orientierungspunkte zur Quellenbildung vorgegeben, so fragt sich, ob den öffentlichen Archiven des demokratischen Rechtsstaats ebenfalls bestimmte Vorgaben für die Auswahl und Bewertung staatlicher Quellen unter historischen Gesichtspunkten aus dem Rechtsstaatsprinzip erwachsen 11 . Soweit die Archivare bei der historischen Bewertung, der Entscheidung über die Archivwürdigkeit von Unterlagen und der Kassation öffentliche Aufgaben wahrnehmen, könnten sie sich grundsätzlich ihrerseits nicht unmittelbar auf die Forschungsfreiheitsgewährung für Archivwissenschaft berufen 12 . Zunächst können die dem jeweiligen Verwaltungszweck dienenden Aufbewahrungsfristen eine gewisse Präjudizwirkung für die Frage der historischen Bewertung von Registraturgut als „archivwürdig" haben: Archivgut, das für Rechtssicherung und Verwaltungskontinuität von besonderer Bedeutung war, gewinnt in aller Regel auch Bedeutung als historische Quelle 13 . Darüber hinaus folgen materielle Maßstäbe zur Bewertungsfrage aus dem rechtsstaatlichen Neutralitätsgebot 14 . Die Annahme einer „Neutralität" der Archivare bei der Bewertung und Kassation setzt voraus, daß die Dokumentationsarbeit der Archive, indem sie auf Auswahl und Konzentration abzielt, nicht bloße „objektive" Abbildung der vorgegebenen politischen, rechtlichen und sozialen Wirklichkeit leistet, sondern selbst in gewissem Umfang ein (potentielles) „Bild für die Nachwelt" entwirft und gestaltet. „Neutralität" als inhaltliche, wissenschaftliche Objektivität verstanden ist das Ziel der archivwissenschaftlichen Ausbildung und Zielfunktion der aktuellen Archivwissenschaft, die selbst in ihrer „Eigengesetzlichkeit" durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt ist. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach einer archivbehördlichen Neutralität als verfassungsrechtlich gebotenem Handlungsprinzip, dem neben der Verpflichtung der Archive aus Art. 5 Abs. 3 GG, die Interessen zukünf11 Zu den philosophischen, erkenntnistheoretischen Versuchen der Maßstabsgewinnung Goldinger S. 12, m.w.N. Fn 52-55. 12 Zur Grundrechtsträgerschaft der Archivare s.u. 3. Kap. A. IV. 2. b. 13 Haase, Studien zum Kassationsproblem, Der Archivar 28 (1975) Sp. 406 ff. (411). 14 Zur Bewertungskompetenz s.u. 4. Kap. A. V 4. a. und B. I. 6.
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
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tiger historischer Forschung optimal zu berücksichtigen, eigenständige Bedeutung zukommt. Das Neutralitätspostulat läßt sich für die Arbeit der Archive als „heuristischer Begriff 4 auffassen, der lediglich die Offenlegung der archivarischen Bewertungsmaßstäbe gebietet, die bei der Abwägung im Einzelfall zum Tragen kommen. Nach dem von Herbert Krüger entwickelten Prinzip der „Nicht-Identifikation" bedeutet das Neutralitätsgebot für die Arbeit der Archive weitergehend die Abstinenz von der Identifikation mit bestimmten Erscheinungsformen des staatlichen Lebens, besonderer Gruppen und Interessen. Das Prinzip der Nicht-Identifikation bedeutet für die staatliche Kulturpolitik allgemein, daß der Staat nicht eine bestimmte Kultur, Richtung oder Meinung fördern darf oder sich auf ein bestimmtes wissenschaftliches System festlegen darf 15 . Verlangt wird eine „überparteiliche", quasi-schiedsrichterliche Stellung. Das Prinzip der Nicht-Identifikation ist ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips und wird u.a. in den Freiheitsrechten mit besonderer individualrechtlicher Stoßrichtung verwirklicht 1 6 . Auch nach Auffassung von Hildesheimer ist die Tätigkeit der Archive vom Prinzip wissenschaftlicher und weltanschaulicher Neutralität beherrscht, was aber nicht auf ein Verbot eigener wissenschaftlicher Forschungs- und Veröffentlichungstätigkeit hinauslaufen dürfe 17 . b) Rechtsstaatliche Neutralität als verfassungsrechtliche Vorgabe für die organisationsrechtliche Stellung der Archive Schiaich stellt die verfassungsrechtliche Problematik des Begriffs der Neutralität in den organisationsrechtlichen Zusammenhang des Grundgeset15
Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 178 ff., insbesondere zur Bedeutung in der Kulturpolitik S. 808. Es handelt sich also um eine Spielart der weltanschaulich-religiösen Neutralität; dazu BVerfGE 5, 85, 137 ff. (KPD-Verbot); E 19, 206 ff., 216 (Kirchensteuer) und Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 55 ff., Leitsatz 11 und S. 84. Nach Carl Schmitt handelte sich sowohl um „positive" als auch „negative (innerpolitische) Neutralität": diese führe „entpolitisierend" im Sinne der Nichtintervention, Parität aller in Betracht kommenden Gruppen und Meinungen, „technisch-intrumentaler" Staatsauffassung „von der Entscheidung weg", im Gegensatz zu einer „positiven Neutralität", die zur Entscheidung im Sinne von Objektivität und Sachlichkeit auf der Grundlage einer anerkannten Norm hinführe, im Sinne des außenstehenden Dritten, der auf der Grundlage einer nicht egoistisch interessierten Sachkunde eine Entscheidung bewirkt; Carl Schmitt, Hüter der Verfassung (1931), S. 111-114. 16 KrügerS. 528, 541, 579. 17 Hildesheimer, Les Archives, p. 70.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
zes 18 . In seiner Systematik erfordert das rechtsstaatliche Neutralitätsgebot die Respektierung „regierungsfreier Räume" für bestimmte Staatsaufgaben durch den Gesetzgeber und die Regierung. Dort, wo die „Eigengesetzlichkeit" der Sachaufgabe eine besondere fachliche Unabhängigkeit des Sachwalters erfordere und Einzelweisungen im politischen Tagesinteresse verbiete, bestehe ein Gebot staatlicher Neutralität. Exemplarisch für solche regierungsfreie Räume nennt Schiaich den Bundesrechnungshof, die Rechnungshöfe der Länder sowie die Bundesbank 19 . Dieser aufgabenorientierte Ansatz läßt sich auf die Anstalten der öffentlichen Archive übertragen. Die wissenschaftlich-dokumentarische Tätigkeit führt über die objektivrechtliche Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG zu einer Bindung der Archive an einen besonderen Sachauftrag, der nach der Theorie von Schiaich zur Freiheit von Weisungen im Einzelfall führt. In ihrer Bewertung des Quellenmaterials müssen die Archive prinzipiell unabhängig von inhaltlichen Weisungen der Exekutivorgane handeln können 20 . Dabei kann bereits die selektive Erfüllung der Anbletungspflicht durch die Verwaltung und Regierung, - die ja eine Vorauswahl in der Absicht einer bestimmten Überlieferungsbildung bedeuten kann, - einen Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip darstellen. Im Ergebnis kommt die Nichterfüllung oder die selektive Erfüllung der Anbletungspflicht einer direkten Weisung gleich. I I . Demokratieprinzip Die Verfassung beschränkt Elemente demokratischer Mitwirkung und Kontrolle nicht ausschließlich auf die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), sondern ist für republikanische Elemente sowie für pluralistische Initiativen und Alternativen offen 2 1 . 18
Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, insbes. S. 218 ff. Schiaich erklärt beispielsweise die Sonderstellung der Bundesbank aus der Besonderheit ihres Sachauftrages (S. 73 ff.); nach der Terminologie Carl Schmitts ein Fall der „positiven Neutralität" i.S.v. sachgesetzlicher Objektivität. 20 Zur Gefahr von politisch motivierter Einflußnahme auf die Aktenvernichtung: Müller, Informationssicherung als Grundprinzip demokratischen Verwaltungshandelns, Der Archivar 50 (1998) Sp. 31, 37. Zur organisatorischen Verselbständigung s.u. B. IV., 4. Kap. B. II. 5. Kap. A. III. (Rechtsnatur der Anbletungspflicht). 21 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rz. 135. Das GG setzt das republikanische Prinzip voraus und erwähnt es ausdrücklich nur in Art. 28 Abs. 1 GG. Entsprechend der etymologischen Wurzel „res publica" bezeichnet der Begriff nicht nur die Nichtmonarchie, sondern auch ein politisches Ideal der Bürgertugend, die sich in der aktiven Gestaltung des Gemeinwesens, etwa auch in der Beschäftigung mit der gemeinsamen (staatlichen) Geschichte ausdrücken kann. Vgl. zum Begriff der Republik: Isensee, Republik-Sinnpotential eines Begriffs, JZ 1981 (36) S. 1-9; ders., „Republik", in: Staatslexikon Bd. 4, S. 882; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HdBStR Bd. 1, § 22, insbes. Rz. 96, Verhältnis Demokratie 19
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
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Nach diesem Ansatz ist Demokratie in einem Sinne Öffentlichkeitsordnung 2 2 , die spezifisch gegen die Verstaatlichung des Begriffes der Öffentlichkeit und auf die Verwirklichung des Gemeinwohls durch Pluralität und Beteiligung gerichtet ist. Da es im Gegensatz zu vielen Mitgliedstaaten der EG nach deutschem öffentlichen Recht keinen Grundsatz der Verwaltungsöffentlichkeit gibt 2 3 , gewinnt das öffentliche Archivwesen für die indirekte, außerparlamentarische Kontrolle der Exekutive und Gerichte, deren Funktionsträger mit einer - zeitlich verzögerten - Kenntnisnahme durch Archivare und Öffentlichkeit rechnen müssen. Bedeutung gewinnt der Archivzugang auf diese Weise für Unterlagen, die sonst verborgene Bereiche staatlicher Tätigkeit betreffen. Dies gilt insbesondere für die geheimdienstliche und vergleichbare sicherheitsbehördliche Tätigkeit. Informative und strukturelle Defizite der parlamentarischen Kontrollkommissionen könnten so auf eine indirekte Weise ausgeglichen werden. Denn in aller Regel ist die Öffentlichkeit hier auf Indiskretionen und Spekulationen angewiesen. Der Arbeit der parlamentarischen Kontrollkommissionen ermangelt es an einem Kontrollapparat, der zu systematischer Analyse und Recherche über den aktuellen Verstoß hinaus befähigt 24 . Erfahrungsgemäß setzt sich jede Restriktion des Zugangs zu zeitgeschichtlichen Quellen früher oder später dem Vorwurf der zielgerichteten Verschleierung aus; solchermaßen vorenthaltene Akten werden in der demokratischen Gesellschaft zum Politikum 2 5 . Ein Instrument einer „pluralistisch" verstandenen demokratischen Öffentlichkeit ist ein öffentliches Archivwesen.
zur Republik. Stern bleibt hingegen skeptisch, ob dem republikanischen Prinzip unter dem GG über das Prinzip der Nicht-Monarchie hinaus Bedeutung zukommt. Stern, Staatsrecht I S. 575 f. 22 Rinken, Artikel „Öffentlichkeit", in: Staatslexikon, Bd. 4, Sp. 141 m.w.N. auch zu den Gegenbegriffen „privat" und „geheim". 23 BVerwG, DÖV 1997 S. 732: eine Pflicht zur Veröffentlichung von Subventionsrichtlinien soll selbst dann nicht bestehen, wenn sie die bisherige Praxis ändern. Im Bereich der Rechtsprechung folgt ein Veröffentlichungsgebot für Gerichtsentscheidungen nach dem BVerwG allerdings aus Rechtsstaatsprinzip, Demokratiegebot und Gewaltenteilungsprinzip (BVerwG NJW 1997 S. 2694, Leitsatz 1: „Die Veröffentlichung von Gerichtentscheidungen ist eine öffentliche Aufgabe. ... Zu veröffentlichen sind alle Entscheidungen, an deren Veröffentlichung die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann. Veröffentlichungswürdige Entscheidungen sind durch Anonymisierung bzw. Neutralisierung für die Herausgabe an die Öffentlichkeit vorzubereiten."). § 169 GVG zur Sitzungsöffentlichkeit. Im Bereich der Legislative folgt die „Öffentlichkeit" aus Art. 42 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 3 S. 3 GG; s.u. Parlamentsarchive 4. Kap. B. III. 1. a. 24 Borgs-Maciejewski, Zur parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste, ZRP 1997 S. 361 ff.; Hirsch, Die Kontrolle der Nachrichtendienste, S. 323 f. 25 Rausch, Personen- und Datenschutzproblematik bei vorzeitiger Öffnung der Archive aus rechtspolitischer Sicht, in: Bundeskonferenz der kirchlichen Archive, S. 81. 4 Manegold
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Die in öffentlichen Archiven verwahrten bzw. zu verwahrenden öffentlichen Unterlagen haben ihre unmittelbare Funktion der Aufgabenerfüllung durch die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung im Rahmen der Kompetenzordnung erfüllt. M i t deren Mandat endete dann grundsätzlich auch deren „Vorrecht" auf alleinigen Zugriff. Die Kompetenzordnung steht dem nicht zwingend entgegen. Soweit „Transparenz" der staatlichen Aufgabenwahrnehmung und nichtparlamentarische Kontrolle als republikanische Elemente des grundgesetzlichen Demokratiebegriffes gesehen werden, läßt sich aus Art. 20 Abs. 2 GG ein Gebot zur Einrichtung öffentlich zugänglicher Archive ableiten 26 . Eine auf Pluralität basierende Öffentlichkeit kann allerdings nie totale Öffentlichkeit sein, da diese ebenso wie totale NichtÖffentlichkeit Unfreiheit und Schaden für das Gemeinwohl bedeutete. Dies zeigt gerade die Diskussion um informationelle Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit in Archiven. Andererseits ist es mit dem Prinzip demokratischer Öffentlichkeit schlechthin unvereinbar, wenn der Archivgesetzgeber eine prinzipielle Entscheidung gegen die Archivierbarkeit personenbezogener Daten treffen würde. Die gesetzgeberische Grundentscheidung ist insofern vorgezeichnet. I I I . Normativer Gehalt eines Kulturstaatsgebots? Der Begriff des „Kulturstaats" ist kein im Grundgesetz normierter Verfassungsbegriff. Er wird nicht als Staatsziel oder Ordnungsprinzip genannt. Daher ist er den positiven Verfassungsprinzipien des Art. 20 Abs. 3 GG, untergeordnet und hat von vornherein nur sehr eingeschränkt den Charakter eines Rechtsbegriffs 27 , sondern ist in erster Linie ein politisches Schlagwort 2 8 . 26 Wyduckel, Archivgesetzgebung im Spannungsfeld informationeller Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit, DVB1. 1989 S. 327 ff., 333. Ein Ausdruck davon ist die Forderung nach einem Archivzugangsrecht für jeden Bürger in der französischen Revolution gewesen (1. Kap. II. 2.). 27 Grimm, Der Kulturauftrag i m staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984) S. 81: „ I m kulturellen Bereich liegen ... Funktionsvoraussetzungen für die Erfüllung der Staatsaufgaben. Insofern ist der Staat von der Kultur abhängig." Ob umgekehrt die kulturelle Betätigung des Staates einer verfassungsrechtlichen Legitimation bedarf, bleibt fraglich. Steiner, VVDStRL 42 (1984) S. 7 ff. (12) S. 46 ff. (63); Böckenförde, Diskussionsbeitrag S. 108. 28 Vgl. den Gebrauch des Begriffs in der Parlamentsdebatte über das BArchG: „Der moderne demokratische Kulturstaat kann ohne Archive seinen politischen Bildungsauftrag nicht erfüllen" (Parlamentarischer Staatssekretär Spranger, in der zweiten Lesung 17.09.1987, BT-Drs. 11/498 S. 1834 C, BT-Dokumentation Nr. 23, S. 63); „Insgesamt ist dieser Entwurf in besonderer Weise geeignet, die Informations- und Wissenschaftsfreiheit in der Bundesrepublik entscheidend zu fördern und für den Bereich des Archivwesens rechtsverbindlich zu umschreiben, wie dies für
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
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Der Begriff des „Kulturstaats" wird allerdings nach wie vor als dem Grundgesetz „zugrundeliegend" angesehen und hat sich in der staatsrechtlichen Literatur seit den ausgehenden 50er Jahren als Staatszielbestimmung etabliert 29 . Er hat Einfluß auf Landesverfassungsbestimmungen in Gestalt eines allgemeinen Kulturförderauftrages gehabt 30 . Der Begriff des „Kulturstaats" ist ausdrücklich in Art. 3 Abs. 1 S. 1 der bayerischen Landesverfassung positiviert, wo er neben die aus Art. 20 GG geläufigen Begriffe des Rechts- und Sozialstaats gestellt wird. Inhalt, Umfang und Form der Kultur- und Wissenschafts- und Forschungsförderung lassen sich der Staatszielbestimmung nicht entnehmen. Als Staatszielbestimmung schreibt der Kulturstaatsbegriff dem Gesetzgeber nicht vor, in welchem Umfang und vor allem, in welcher Form er seiner Förderungspflicht nachzukommen hat. Insoweit beläßt das Grundgesetz breiten Gestaltungsraum nicht nur unter finanzpolitischen Gesichtspunkten 3 1 . Dem Begriff ist ein spezifisch historisches Element allerdings in dem Sinne zu eigen, als zum Gebot der Kulturpflege ein Element des Bewahrens des Althergebrachten zählt, mit dem öffentliche Aufgabenwahrnehmung und öffentliches Ansehen identifiziert werden. Als ein normatives Element des Kulturstaatsbegriffs kann der Kulturgüterschutz gegen Zerstörung und Ausfuhr des „nationalen Erbes" angesehen werden 32 . einen modernen demokratischen Kulturstaat würdig ist" (Parlamentarischer Staatssekretär Waffenschmid, in der ersten Lesung 13.06.1985, BT-Drs. 10/3072 S. 10661 B; BT-Dokumentation Nr. 23, S. 66). 29 Grimm und Steiner a.a.O.; Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, S. 2 ff.; insbesondere auch BVerfGE 35, 79 (113); BVerfGE 81, 108 (116) zur objektiven Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG: „Als objektive Grundsatzentscheidung für die Freiheit von Kunst und Wissenschaft stellt sie aber zugleich dem Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung - auch als Kulturstaat versteht, die Aufgabe, ein freiheitliches Kunst- und Wissenschaftsleben zu erhalten und zu fördern." 30 Besonders ausführlich mit leistungsrechtlichem Einschlag in den neuen Landesverfassungen von Sachsen Art. 11 Abs. 1; Art. 11 Abs. 2 S. 2 („Die Teilnahme an der Kultur in ihrer Vielfalt ... ist dem gesamten Volk zu ermöglichen. Zu diesem Zwecke werden öffentlich zugängliche Museen, Bibliotheken, Archive, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten, ... unterhalten") und Sachsen-Anhalt Art. 36 Abs. 1 („Kunst, Kultur und Sport sind durch das Land und die Kommunen zu schützen und zu fördern. Art. 36 Abs. 3: Das Land und die Kommunen fördern im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten die kulturelle Betätigung aller Bürger insbesondere dadurch, daß sie öffentlich zugängliche Museen, Büchereien, Gedenkstätten ... unterhalten"). Vgl. auch Landesverfassungen von: Baden-Württemberg Art. 86; Brandenburg Art. 34 Abs. 2; Bremen Art. 11; Hessen Art. 62 S. 1; Mecklenburg-Vorpommern Art. 16 Abs. 1; Niedersachsen Art. 5 Abs. 1, Art. 6; Nordrhein-Westfalen Art. 18 Abs. 1, Art. 18 Abs. 2; Rheinland-Pfalz Art. 40 Abs. 2; Saarland Art. 34 Abs. 1, 2; Schleswig-Holstein Art. 9 Abs. 1; Thüringen Art. 30 Abs. 1, 2. 31 32
4*
BVerfGE 81, 108 (116). s.o. 1. Kap. I. 1.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Mangels normativer Konkretisierung könnte ein normativer Gehalt des Kulturstaatsbegriffs darüber hinaus allein unter Rückgriff auf die Verfassungs- und Verwaltungstradition abgeleitet werden. Hier ist auf die Ausführungen zur Entwicklung des Archiv wesens in Deutschland zu verweisen 33 . In der Spielart des Kulturstaatsgebots 34 bezeichnete der Begriff dann die Verpflichtung des Staates, für die Einrichtung und Pflege der „klassischen" Bereiche der Bildung, Wissenschaft und Kunst Sorge zu tragen. In diesem Sinne läßt sich im Zusammenhang mit der Verwaltungstradition aus dem der Verfassung zugrundeliegenden Begriff des Kulturstaats die grundsätzliche Staatsaufgabe zu Einrichtung und Unterhalt öffentlicher Archive als Stätten der wissenschaftlichen Forschung herleiten.
B. Organisationsrechtliche Vorgaben der Grundrechte I. Die objektiv-institutionellrechtliche Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG 7. Sicherung der Voraussetzungen freier historischer durch den Unterhalt öffentlicher Archive
Forschung
Eine objektivrechtliche Verpflichtung des Staates35 im Sinne eines verbindlichen Verfassungsauftrages zur Einrichtung öffentlicher Archive, die dem Grundsatz nach für den einzelnen Forscher zugänglich sein müssen, läßt sich aus der institutionellrechtlich verstandenen Garantie der Forschungsfreiheit herleiten. Nach BVerfGE 35, S. 79 (114 ff.) schließt Art. 5 Abs. 3 GG „als wertentscheidende Grundsatznorm" das „Einstehen des Staates für die Idee der freien Wissenschaft und seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung" ein; sie verpflichtet ihn, sein Handeln positiv danach einzurichten, d.h. „schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheit vorzubeugen". Dem Wertentscheidungsgehalt entstammt der objektivrechtliche, grundrechtliche Schutzpflichtgedanke. Dieser Ansatz wird in der staatsrechtlichen Literatur unter den Begriffen der „Einrichtungsgarantie", „institutionellen Grundrechtstheorie" oder „Institutionsgewährleistung" diskutiert 3 6 . 33 34
s.o. 1. Kap. II. und III. Zum Begriff „Kulturstaatsauftrag" Oppermann, HdBStR Bd. 6, § 145 Rz.
23 ff. 35
In Abgrenzung zu einem subjektiven Leistungsanspruch des einzelnen Forschers zu verstehen, der aus dem objektiven Sollensgebot abgeleitet wird. 36 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974 S. 1529 ff. (1532); ders., Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976 S. 2090 ff.; ders., Zur Lage der Grundrechtsgeltung nach 40 Jahren Grundgesetz; Bleckmann, Staatsrecht I I - Die Grundrechte, S. 221-250; Stern, Staatsrecht m / 1 ,
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
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Entscheidende Prämisse ist der erweiterte Institutionsbegriff der institutionellen Grundrechtstheorie. Die Grundrechte als wertentscheidende Grundsatznormen gewinnen - methodisch angreifbar - den Charakter objektiver, normativer „Ordnungsprinzipien" für die von ihnen geschützten Lebensbereiche. Diese Auffassung soll nach dem erweiterten Begriff der verfassungsrechtlichen „Institution" auch für die Freiheitsrechte, mithin auch die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit als grundrechtlich geschützter Lebensbereiche gelten, derzufolge die Garantie auf tatsächliche Lebensverhältnisse und Ordnungen, die der Verfassung historisch zugrunde liegen, ausgedehnt wird 3 7 . Hier kommt die „Geschichtswissenschaft" bzw. das „Archivwesen" in seiner historisch gewachsenen Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung über den Staat als verfassungsrechtlich durch Art. 5 Abs. 3 GG geschütztes „Institut" in Betracht. Verwaltung und Gesetzgeber sind nach diesem Ansatz dazu verpflichtet, den Freiheitsbereich historischer Forschung institutionell und normativ so zu gestalten, daß dem einzelnen Forscher ein optimaler Gebrauch dieser geordneten Freiheit möglich ist. Die Archivgesetzgebung stellt sich als Erfüllung dieses grundrechtlichen Verfassungsauftrages zur Ausgestaltung und Ermöglichung zukünftiger historischer Forschung über den Staat und sein Handeln dar. Aus diesem Ansatz erwächst dem Staat die objektivrechtliche Verpflichtung, die Voraussetzungen historischer Forschung gerade auch über staatliche Forschungsgegenstände zu gewährleisten. Nach der Eigenart des grundrechtlich geschützten Lebensbereichs hat dies typischerweise in der Einrichtung von öffentlichen Archiven zu geschehen. Aus dem institutionsrechtlichen Verständnis der Forschungsfreiheit ergibt sich zumindest ein Minimalstandard im Sinne des faktischen status quo staatlicher Gewährleistungen für die Grundrechtsausübung 38. Aus Art. 5 S. 754 ff. Zur Frage, inwieweit subjektive Rechte für den einzelnen Forscher daraus ableitbar sein können, s.u. 3. Kap. A. III. und Mayen, Informationsanspruch, S. 274285 (281). 37 Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsgeltung nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 41: „Sie entfalten und verwirklichen sich in normativen Regelungen institutioneller Art, die von der Ordnungsidee des Grundrechts getragen werden und als solche die Lebensverhältnisse prägen, zugleich aber die Sachgegebenheiten der Lebensverhältnisse, die für sie gelten, in sich aufnehmen und ihnen normative Relevanz verleihen". Häberle, Die Wesengehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 70 ff. (96 ff.); Gegen die Erweiterung der Einrichtungsgarantien für die Grundrechtsinterpretation: Sachs in: Stern, Staatsrecht I I I / l S. 830-850. Nach der ursprünglichen Konzeption, wie sie Carl Schmitt entwickelt hatte (Verfassungslehre, S. 170 ff.) sollten die grundrechtlichen liberalen Freiheitsgarantien von der Funktion als institutionelle Garantien ausgenommen sein. Nur bestimmte positiv aus dem Verfassungstext abgeleitete rechtliche Institute (Erbrecht, Eigentum) sollten in ihrem Bestand („was als typisch und charakteristisch für die Institute angesehen werden muß") gegenüber Eingriffen des Gesetzgebers geschützt sein.
54
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Abs. 3 GG folgte die objektive Pflicht, die Archivbestände als öffentlich zugängliche Quellen einzurichten, die dem Forscher prinzipiell offenstehen müssen 39 . Das staatliche Geheimarchiv zum Regelfall auszugestalten, ist unzulässig. Bezogen auf das öffentliche Archivwesen kann der Staat nicht hinter den Grad der einmal gewährten Öffentlichkeit zurückgehen und ist gehindert, die Institution des öffentlichen Archivs als solche abzuschaffen. Ein Mindestmaß an Maßnahmen zur Forschungs(voraussetzungs)sicherung ist in dieser Weise grundrechtlich vorgegeben. Dieser Minimalstandard gilt auch für die bestehende Praxis der Archivierung personenbezogener Daten. Die Grundentscheidung des Archivgesetzgebers war daher vorgezeichnet. Er hätte sich nicht grundsätzlich gegen die Archivierung personenbezogener Daten oder für deren Regelanonymisierung entscheiden können. Fraglich ist insofern lediglich, ob darüber hinaus eine Vorgabe bestand, neue Unterlagentypen, die neuen Datenrestriktionen unterfallen, zur Archivierung zuzulassen (Sozialgeheimnis, etc.). Die Beantwortung der Frage hängt vom Vörverständnis des „Instituts" ab und kann hier nicht abschließend beantwortet werden. 2. Pflicht
öffentlicher
Stellen zu Anbietung und Archivierung
Aus der objektiv-institutionellen Auslegung der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit folgen inhaltliche Mindestvorgaben zur internen Verfahrensgestaltung und Organisation öffentlicher Archive 4 0 . Aus der objektivrechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG läßt sich zwar kein subjektives Recht des einzelnen Historikers auf Sicherung der historischen Forschung in der Zukunft, insbesondere nicht auf umfassende Archivierung bestimmter Verwaltungsunterlagen ableiten. Aber die Fortsetzung der Archivierung neu entstehender Verwaltungsunterlagen ist logisch zwingend nicht mehr eine Sache des freien Verwaltungsermessens, sondern ist prinzipiell durch die Forschungsförderpflicht des Staates geboten. Die Anbletungspflicht öffentlicher Archive gegenüber den Archiven ist daher verfassungsrechtlich verankert 41 .
38
Alexy, Die Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. (80); Böckenförde a.a.O. Ob sich über diese Prinzipienaussage weiteres aus Art. 5 Abs. 3 GG ableiten läßt, hängt vom Vorverständnis ab, Böckenförde S. 40 ff. Dabei wären theoretisch organisationsrechtliche Alternativen, etwa nichtstaatliche, private Träger, Körperschaften o. ä. zulässig, solange derselbe Fördereffekt gewährleistet ist. 40 Gallwas, Datenschutz und historische Forschung in verfassungsrechtlicher Sicht, Der Archivar, 39 (1986) Sp. 319, Fn 16. 41 Zur Rechtsnatur s.u. 5. Kap. A. III. 39
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
3. Weisungsunabhängigkeit
und Selbständigkeit
55
der Archive
Die im Zusammenhang mit dem Archivzugangsrecht des Historikers noch darzustellende Eigenart des verfassungsrechtlichen Schutzbereichs der Forschungsfreiheit gebietet eine organisationsrechtliche Gestaltung des öffentlichen Archivwesens, die die Unabhängigkeit von - direkter und indirekter - Einflußnahme auf die inhaltliche Tätigkeit der Archive bzw. der Archivare seitens der abgebenden Stellen gewährleistet 42 . Die direkte politisch motivierte Einflußnahme auf die Kassationsentscheidung und Übernahme von Archivgut muß prinzipiell ausgeschlossen sein - wenngleich es insofern natürlich in der Hand des Schriftgutproduzenten allein liegt, ob überhaupt archivierbare Unterlagen entstehen. Diese Unabhängigkeit muß auch in organisatorischer Hinsicht durch eine gewisse institutionelle Trennung von der abgebenden Stelle und durch ein Mindestmaß an Unabhängigkeit gegenüber der obersten Archivbehörde gewährleistet sein, die ein methodenneutrales, wissenschaftliches Vorgehen garantiert 43 . I I . Das öffentliche Archivwesen als Element einer grundrechtlich vorgegebenen „Kommunikationsverfassung" Aus der Interpretation der Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. Alt. GG als Kommunikationsgrundrecht läßt sich eine Verstärkung dieses Auftrages ableiten: das BVerfG hat die Grundrechte der Kommunikation als „für die Demokratie schlechthin konstituierend" bezeichnet 44 . In Teilbereichen zumindest enthält Art. 5 Abs. 3 2. Alt. GG ebenso wie die allgemeine Meinungsbildungs- und -äußerungsfreiheit, die Pressefreiheit und Informationsfreiheit Kommunikationsteilhaberechte. Ebenso wie diese ist die Wissenschaftsfreiheit auf die Kommunikation zwischen Individuen und auf die Wirkung in der Öffentlichkeit, auf die Bildung einer öffentlichen Meinung und im Falle der Zeitgeschichtsschreibung besonders deutlich auf die Politik gerichtet. Sie hat im Verfassungsgefüge eine individuelle und demokratische Doppelfunktion. Indem sie den offenen politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß und die geistige Auseinandersetzung besonders qualifiziert informierter Bürger, der demokratischen Elite 42
Zum persönlichen Schutzbereich der Forschungsfreiheit als Abwehrrecht, s.u. 3. Kap. A. IV. 2. a. 43 s.u. A. II. und 4. Kap. A. V. 4. d., B. II. 1., 5. Kap. A. III. 2. 44 BVerfGE 65, 1 ff. (42 ff.); Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rz 621; 775; Stern, Staatsrecht I I S. 1122 m.w.N. Fn 208.
56
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
sichert, ist sie „demokratiekonstituierend". Dies gilt in besonderem Maße für die empirischen Sozialwissenschaften und die historischen Wissenschaften, die auf öffentliche Archive angewiesen sind. In diesem Sinn zählen auch öffentliche Archive zu den Funktionsbedingungen, die für die Demokratie konstituierend wirken. Öffentliche Archive sind Bestandteil einer öffentlichen Informationsordnung. Schoch entnimmt einer Zusammenschau der Grundrechte des Art. 5 GG und des Demokratieprinzips einen verfassungsrechtlichen Gestaltungsauftrag für ein Recht der öffentlichen Informationsbeziehungen 45 : Als ein wesentliches Element einer „informationellen Grundversorgung" sieht Schoch eine Regierungs- und Verwaltungsöffentlichkeit. Er konstatiert insofern mangels Verwaltungsöffentlichkeit in Deutschland einen Reformbedarf im Anschluß an die europäische Entwicklung. Im Staat der Informationsgesellschaft gehe es um die Pflege von Verfassungsvoraussetzungen 46. Ein Baustein einer zumindest beschränkten Regierungs- und Verwaltungsöffentlichkeit, die nicht die aktuelle Aufgabenerfüllung betrifft, ist die Einrichtung und der Unterhalt öffentlicher Archive. I I I . Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 1. Funktion des Grundrechts auf informationelle
Selbstbestimmung
a) Schutzbereich und Schranken Das im „Volkszählungsurteil" des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG entwickelte „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung" faßt die bis dahin vom BVerfG anerkannten Einzelverbürgungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, soweit sie mit „Informationen" zu tun haben 47 , zusammen: Informationelle Selbstbestimmung bedeutet „die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende prinzipielle Befugnis des einzelnen, selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Le45 Schoch, Öffentlichrechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung, VVDStRL 57 (1998) S. 160 ff. (200 ff.). Die Koreferentin Weber-Dürler beschränkte sich auf Rahmenbedingungen der elekronischen, digitalen Netztechnik. 46 Schoch S. 201. 47 BVerfGE: 27, 1 (6) statistische Erhebung; E 27, 344 (350) Übersendung von Ehescheidungsakten; E 33, 367 (374) Vertrauensverhältnis zu Sozialarbeiter; E 39, 1 (43) Abtreibung; E 44, 353 (372) Suchtberatungsstelle; E 34, 238 (245) Recht am eigenen Bild; E 35, 202 (220) Recht am eigenen »Lebensbild': „Jedermann darf grundsätzlich selbst und allein bestimmen, ob und inwieweit andere sein Lebensbild im ganzen oder bestimmte Vorgänge aus seinem Leben öffentlich darstellen dürfen."; E 63, 131 (142) Gegendarstellung.
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
57
benssachverhalte offenbart werden" 48 und selbst zu bestimmen, ob „personenbezogene Daten erhoben, gespeichert, verwendet und weitergegeben" werden 49 . Seit der Entmündigungs-Entscheidung von 1988 50 steht fest, daß das Bundesverfassungsgericht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht auf die besonderen Gefährdungspotentiale elektronischer Datenverarbeitung beschränkt. Auf den Dateibegriff, auf bestimmte Verarbeitungsphasen und Verarbeitungsmodalitäten kommt es grundsätzlich nicht an 5 1 . Auf einer zweiten Stufe folgt daraus der Anspruch des Betroffenen auf Information über den Umfang und den Zweck der Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten in jeder Lage des laufenden Verfahrens und später in den Archiven. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht wirkt so als Ausgleich für den staatlichen Wissensvorsprung und läuft dem rechtsstaatlichen und demokratischen Transparenzpostulat parallel 52 . Das Grundrecht kann nach der Rechtsprechung des BVerfG „zum Schutz überwiegender Allgemeininteressen" eingeschränkt werden. Dazu bedarf es eines Gesetzes, das Voraussetzungen und Umfang der Beschränkung hinreichend klar umschreibt und überdies dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt 53 . Schranken des informationellen Selbstbestimmungsrechts finden sich in den Rechten Dritter und der verfassungsmäßigen Ordnung. Darunter sind die Grundrechte Dritter 5 4 zu verstehen sowie „die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell verfassungsmäßig sind" 5 5 , wobei unter besonderer Beachtung der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG ein
48
BVerfGE 65, 1 (42). BVerfGE 65, 1, Leitsatz 1. 50 BVerfGE 78, 77 ff. (öffentliche Bekanntmachung der Entmündigung wegen Trunk- oder Verschwendungssucht). 51 BVerfG a.a.O.: Die Möglichkeiten, und Gefahren der automatischen Datenverarbeitung hätten zwar die Notwendigkeit eines Schutzes persönlicher Datenverarbeitung deutlicher hervortreten lassen, seien aber nicht Grund und Ursache ihrer Schutzbedürftigkeit. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schütze vielmehr wegen seiner persönlichkeitsrechtlichen Grundlage generell vor staatlicher Erhebung und Verarbeitung personenbezogenener Daten. Es ist nicht auf den jeweiligen Anwendungsbereich der Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder oder datenschutzrelevanter gesetzlicher Sonderregelungen beschränkt. 52 6. Kap. B. VII. zum archivgesetzlichen Auskunfts- und Gegendarstellungsanspruch. 53 BVerfGE 65, 44 und E 71, 183 (196): "Es verlangt, daß eine Grundrechtsverletzung von hinreichenden Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt wird, das gewählte Mittel zur Erreichung des Zweckes geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze des Zumutbaren noch gewahrt ist." 54 BVerfGE 84, 192 (195). 55 Ständige Rechtsprechung des BVerfG seit E 6, 32 (36-41); E 80, 137 (153). 49
58
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
absolut geschützter Kern privater Lebensgestaltung der Einwirkung öffentlicher Gewalt entzogen bleibt. b) Datenschutzrechtlicher Gesetzesvorbehalt Die Bestimmungsbefugnis des Betroffenen, führt dazu, daß die Träger der öffentlichen Gewalt bei Informationszugang und Informationsverarbeitung personenbezogener Daten umfassend beschränkt sind. Erhebung und Verarbeitung, das Speichern und die Weitergabe personenbezogener Daten sind nur zulässig, wenn und soweit der Betroffene einwilligt oder die Einwilligung durch oder aufgrund Gesetz zulässigerweise ersetzt wurde (Einwilligungsprinzip) 56 . Aus dem Einwilligungsprinzip folgt, daß die staatliche Befugnis zur Verarbeitung personenbezogener Daten stets an den jeweiligen konkreten Zweck der Einwilligung bzw. der Befugnisnorm gebunden ist und mit dessen Erreichung endet (Zweckbindungsprinzip) 57 . Das Gesetz muß einerseits stets einen legitimen Grund haben und sich im Rahmen des Übermaßverbotes halten, andererseits den Verwendungszweck für die personenbezogenen Daten nicht nur sachlich funktional, sondern auch organisatorisch-institutionell und zeitlich begrenzen. Daraus folgt weiter, daß eine Vörratserhebung und -speicherung ohne einen vorher bestimmten und in Abhängigkeit vom jeweiligen Gefährdungspotential ausreichend abgegrenzten Verwendungszweck ebenso unzulässig ist, wie eine entsprechende Blankettnorm, die etwa pauschal jede Art der wissenschaftlichen Nutzung jeder Art von personenbezogenen Daten gestattete. Nach Erreichung des ursprünglichen Erhebungszweckes bedarf es für die weitere „Verarbeitung" personenbezogener Daten, insbesondere der Übermittlung an Dritte entweder einer erneuten Einwilligung oder einer das überwiegende Allgemeininteresse konkretisierenden, gesetzlichen Anordnung des Parlaments. Jede weitere Datenverarbeitung über den ursprünglichen Zweck hinaus, d.h. auch das „bloße" Aufbewahren nach Erreichen des Erhebungszwecks ist unzulässig. Bereits das Unterlassen der Löschung nach Zweckerreichung gewinnt die Qualität eines Eingriffs in das Grundrecht (datenschutzrechtlicher Gesetzesvorbehalt). Insofern handelt es sich beim Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung um vorverlagerten 56
BVerfGE 80, 137 (152 ff.), § 4 BDSG 1990. Zur Zweckbindung im Zusammenhang mit gesetzlicher Ermächtigung bereits: BVerfGE 56, 37 (50) Gemeinschuldner; E 57, 170 (201) Briefkontrolle. Konkretisierung des Zweckbindungsgebots durch die Datenschutzgesetze, die gerade auch innerhalb des öffentlichen Bereichs Übermittlungsnormen i m Falle der Zweckerreichung bzw. -Überschreitung fordern: §§ 14 f., 17 Abs. 4, 29, 31, 39 BDSG z.T. i. V.m. der Strafvorschrift § 43 Abs. 2 Nr. 2 BDSG. 57
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
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Grundrechtschutz, das subjektiv öffentliche Rechte „ i m Arkanbereich", also auch „in" den Archiven gewährt 58 . 2. Archivierung als Eingriff a) Archivierung als Vorratsspeicherung Auch die binnenstaatliche, archivische Datenverarbeitung, die Übernahme, Erschließung und wissenschaftliche, öffentliche und private Nutzung von personenbezogenen Daten in öffentlichen Archiven sind daher vom Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung umfaßt 59 . Für die Archivierung ergab sich das spezielle Problem, daß an sich jede Übergabe personenbezogener Daten an das Archiv grundsätzlich unzulässig war, da der ursprüngliche Verwaltungs- und Erhebungs- bzw. Speicherzweck mit dem Ausscheiden aus der laufenden Verwaltung erledigt war. Solange der Gesetzgeber nicht die weitere „Speicherung" im neuen Verwendungszusammenhang für die Zwecke (zukünftiger) historischer Forschung ausdrücklich genehmigte, war die Archivierung unzulässige „Vorratsspeicherung", nämlich Speicherung auf unbestimmte Dauer, unabhängig von einem konkret-benannten Speicherzweck. Dem stehen datenschutzrechtliche Sperrungs- und Löschungsgebote ebenso entgegen wie einer DauerRegistratur bei der ursprünglichen Stelle. Die Aufgabenerledigung war Archivierungsvoraussetzung und Löschungtatbestand zugleich, die Archivierung daher ein Eingriff in das Grundrecht 60 . b) Archive als eigenständige Stellen Aus dem Zweckbindungsgebot ergibt sich in institutioneller und verfahrensrechtlicher Hinsicht der datenschutzrechtliche Begriff der anderen 58 Bizer, Forschungsfreiheit, S. 178 ff.; Gall was, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Datenschutzes, Der Staat 18 (1979) S. 507 ff.; Kloepfer, Datenschutz als Grundrecht, S. 22 ff. Die Eigenart des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bestehe darin, daß es als Verfahrens- und Abwägungsprinzip im Bereich von Freiheitsbeeinträchtigungen wirke, die noch nicht so intensiv sind, daß ein spezielles Grundrecht darauf mit einem Abwehranspruch reagiere. Dürig spricht von „abwehrrechtlicher Ausgangsvermutung" gegen die Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten, Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 Rz 72. 59 Daneben schützen weiterhin Spezialgrundrechte Teilbereiche der Privatsphäre auch bzgl. archivischer Datenverarbeitung. Zu nennen sind insbesondere die Glaubens» und Gewissensfreiheit des Art. 4 GG, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis Art. 10 GG, für die spezifisch eheliche Privatsphäre Art. 6 GG. 60 Vgl. §14 Abs. 2 S. 2 BDSG a.F. 1977; Meilinger, Datenschutz i m Bereich von Information und Dokumentation, S. 213 ff.; Steinmüller, Der Archivar, 33 (1979) Sp. 175; Freys S. 47.
60
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
„Stelle", zu der eine Übermittlung ein rechtfertigungspflichtiger Eingriff ist. Die Stelle ist inhaltlich-materiell und nicht formell nach dienstrechtlichen oder anderen organisationsrechtlichen Kriterien zu bestimmen. Datenschutzrechtlich können grundsätzlich auch Behördenteile selbständige Stellen sein, sobald sie in datenschutzrechtlicher Hinsicht, d.h. in Bezug auf den Erhebungszweck personenbezogener Daten unterschiedliche Zwecke wahrnehmen 61 . Durch die Archivierung als dauerhafter Übernahme und Erschließung von Daten nach Erfüllung des ursprünglichen Erhebungs- und Speicherzweckes zu den neuen Zwecken der wissenschaftlichen Dokumentation und Forschung ändert sich der Verwendungszweck grundlegend. Dies bedeutet, daß die Archive, auch wenn sie organisatorisch-formal die Stellung einer Abteilung der abgebenden Stelle haben, eine andere Stelle bzw. Dritter im Sinne des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und des § 3 Abs. 9 BDSG sind. Aus datenschutzrechtlicher Perspektive besteht die Gefahr, daß durch die Übermittlung personenbezogener Daten an staatliche Archive, die organisationsrechtlich in die Behördenhierarchie eingegliedert sind, durch eine Verknüpfung verschiedener Daten über einen Betroffenen von verschiedenen Stellen jene „Informationseinheit" der Verwaltung hergestellt wird, die nach den Grundsätzen der Zweckbindung und „funktionellen Trennung der Datenverarbeitung" vermieden werden soll. Daraus ergeben sich verfassungsrechtliche Grenzen und Vorgaben insbesondere für die bisherige Praxis der Zwischenarchivierung, bei der die ursprüngliche Zweckbindung erhalten bleibt und sich die Verantwortung des Archivs auf technische und organisatorische Aufgaben einer Registratur beschränkt. Es mußten daher gesetzliche Befugnisnormen für die Archivierung personenbezogener Daten geschaffen werden, die das „Mandat" des Staates und der Allgemeinheit verlängern. Als Ergebnis ist festzuhalten: Es kann bei der Archivierung personenbezogener Daten datenschutzrechtlich keine „stelleninterne" Übermittlung personenbezogener Daten vorliegen. Die Archivierung von personenbezogenen Unterlagen ist prinzipiell eine rechtfertigungspflichtige Übermittlung an eine andere Stelle 62 . 61
Die Rechtsprechung (BVerwGE 8, 147; 9, 35) definiert die „Stelle" als kleinste organisatorisch abgrenzbare, selbständige Einheit einer juristischen Person öffentlichen Rechts. Nach der allgemeinen Definition ist unter einer „Stelle" ein „Organ" zu verstehen, „das über eine gewisse organisatorische und institutionelle Selbständigkeit verfügt und für die juristische Person öffentlichen Rechts, der es zugehört, Zuständigkeiten wahrnimmt". 62 Es läßt sich nicht einwenden, daß die Übermittlung an das Archiv eine der speichernden „Stelle" zugewiesene Aufgabe und daher die diesbezügliche Verwen-
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
61
3. Archivierung als Datenschutzmaßnahme (Löschungssurrogat) Die Archivierung verstößt allerdings dann nicht gegen das Verbot der Vorratshaltung personenbezogener Daten zu „unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken" 6 3 , wenn ein förmliches Gesetz, das den Kernbereich des Grundrechts achtet und verhältnismäßig ist, die Übermittlung personenbezogener Daten an das zuständige öffentliche Archiv zum Zweck der Archivierung und späteren Kenntnisnahme durch Dritte gestattet („Übermittlungsnorm" oder Archivierungsermächtigung) und eine unbefugte Kenntnisnahme ausgeschlossen ist. Bei ausreichender Abschottung der Daten gegen Benutzung durch unbefugte Dritte kommt die Archivierung selbst als Datenschutzmaßnahme in Betracht (Löschungssurrogat) 64. Die öffentlichen Archive werden zu „Datentreuhändern" 65 . Diese Funktion der Archivierung als Sperrungs-, Löschungs- oder Vernichtungssurrogat und die organisatorische Trennung kommen beispielsweise deutlich in § 10 Abs. 2 S. 2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern zum Ausdruck. Danach hat die abgebende Stelle die Sperrfristen zu beachten, wenn das Archivgut aufgrund besonderer Vorschriften hätte gelöscht, gesperrt oder vernichtet werden müssen 66 . a) Regelungsdichte der Archivierungsermächtigungen Die Übermittlungsnorm muß desto eindeutiger und enger gefaßt sein je nachhaltiger und potentiell die Freiheit-bedrohender die staatliche Datenverarbeitung im Hinblick auf den Inhalt der Daten und den möglichen Verwendungszweck erscheint 67 und vice versa. Die Archivierung verfolgt den verfassungsrechtlich gebotenen Zweck der Forschungssicherung bzw. Forschungsvoraussetzungssicherung 68. Dies betrifft gerade auch die Archiviedung der Daten erforderlich sei. Denn das Erfordernis der Kenntnisnahmemöglichkeit besteht jedenfalls für die abgebende Stelle nicht mehr. Unzutreffend daher Auernhammer, BDSG, § 3 Rz. 51. Zutreffend: Bizer, Forschungsfreiheit, S. 339 f.; Simitis in Festschrift für Zeidler, Band II, S. 1499; ders. in Simitis/Damann u.a., Kommentar zum BDSG, § 3 Rz. 227. 63 BVerfGE 65, 46 mit der Ausnahme statistischer Datensammlungen. 64 s.u. 4. Kap. A. V. 4. zur Anonymisierung und Benutzungseinschränkung als funktionale Äquivalente. 65 Bizer S. 195 ff. zum Institut eines „Datentreuhänders" (Begriff aus der USamerikanischen Diskussion: „trustworthy agency"); Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes, S. 86. 66 Siehe auch die amtliche Begründung in Mecklenburg-Vorpommern LT-Drs. 2/ 3210 S. 25. 67 BVerfGE 65, 1 Leitsatz 2.
62
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
rung personenbezogener Daten. Der Gesetzgeber könnte die Archivierung personenbezogener Daten nicht grundsätzlich verwerfen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gibt dem Betroffenen zudem keine „absolute, unumschränkte Herrschaft über seine Daten", vielmehr gehören auch personenbezogene Daten zum „Abbild sozialer Realität, das nicht ausschließlich dem Betroffenen zugeordnet werden kann" 6 9 . Dies gilt in besonderem Maße für die bloße Dokumentation dieses Abbildes sozialer Realität, zu der die öffentlichen Archive im Rahmen historischer Überlieferungsbildung berufen sind, im Gegensatz zu der weitergehende Zwecke verfolgenden Eingriffs- und Leistungsverwaltung. Das Gefährdungspotential der Datenspeicherung in Archiven ist denkbar gering, solange durch effektive, gesetzliche und faktische Abschottungsmaßnahmen gewährleistet ist, daß nicht jedermann zu jedem Zweck und insbesondere nicht die abgebende Stelle oder Stellen v.a. der Eingriffsverwaltung ungehindert und unkontrolliert Zugang erhalten 70 . An die Regelungsdichte der Archivierungsermächtigung sind daher aus verfassungsrechtlicher Sicht keine übertriebenen Anforderungen zu stellen. Die vom Bundesverfassungsgerichts für den hoheitlichen Erhebungs- und Verarbeitungsvorgang entwickelten Grundsätze können nicht, ohne dem geringeren Gefährdungspotential der Datenverarbeitung in Archiven Rechnung zu tragen, auf die Tätigkeit der Archive übertragen werden. Eine gesetzliche Eingrenzung möglicher Forschungszwecke ist angesichts des Art. 5 Abs. 3 GG nicht nur unnötig, sondern wäre als Verstoß gegen das Verbot der Forschungsbeeinflussung sogar unzulässig 71 . Der Verwendungszusammenhang ist auf historische Zwecke bereits hinreichend dadurch eingegrenzt, daß die Archive nur „archivwürdige" Daten erst dann übernehmen, wenn sie für die laufende Verwaltung nicht mehr benötigt werden 72 . Selbst eine Archivierung personenbezogener Daten aus dem „Kernbereich" und der Intimsphäre ist daher nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Eine Unzulässigkeit käme nur in Betracht, wenn jede mögliche Relevanz für die Forschung ausgeschlossen werden muß. Dies wird durch die unabhängige Bewertung der Unterlagen durch fachlich ausgebildete Archivare verhindert. Im Ergebnis ist eine pauschale gesetzliche Gestattung der Archivierung in Gestalt einer Vorratsregelung erforderlich und ausreichend 73 . 68
s.o. 2. Kap. B. I. 1. BVerfGE 65, 45. 70 Zum Begriff der „Abschottung" der Archive v.a. Bizer S. 340; Simitis a.a.O.; Geiger, Das Spannungsverhältnis zwischen Persönlichkeitsschutz und Wissenschaftsfreiheit in der Sicht des Datenschutzbeauftragten, in: Akademiebeiträge, S. 45 ff. (56). 71 Anderer Ansicht Bizer S. 176 f. 72 Bizer S. 180, 189 ff. 69
2. Kap.: Organisationsrechtliche Rahmenbestimmungen
63
b) Abschottung durch organisationsrechtliche Verselbständigung öffentlicher Archive Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gebietet in organisationsrechtlicher Hinsicht eine institutionelle Trennung der Archive von den abgebenden Stellen. Öffentliche Archive müssen gegenüber den abgebenden Stellen derart verselbständigt und faktisch „abgeschottet" sein, daß sichergestellt ist, daß personenbezogene Daten von einer anderweitigen Verwendung und Verknüpfung mit anderen personenbezogenen Daten im Verwaltungsvollzug sicher ausgenommen sind 7 4 . Eine erste Voraussetzung ist eine organisationsrechtliche
Verselbständigung
der A r c h i v Verwaltung,
die eine faktische Abschottung dem Grundsatz nach gewährleistet. c) Archivierung rechtswidrig erhobener Daten Die Archivierung rechtswidrig erhobener oder - absichtlich - nicht gelöschter personenbezogener Daten bleibt grundsätzlich problematisch. Eine entsprechende archivgesetzliche Ermächtigung zur Archivierung erscheint unter Berufung auf die objektive Förderpflicht des Art. 5 Abs. 3 GG nur unter der Prämisse zulässig, daß durch entsprechende Abschottungsregelungen und die Archivorganisation jeder, auch der mittelbare, Rückgriff seitens der Ursprungsstelle über Dritte mit Sicherheit ausgeschlossen ist. Faktische Datenabschottung gegenüber Dritten allein dürfte hier nicht ausreichen; hinzutreten müßte eine organisationsrechtliche Selbständigkeit des Archivs, die entsprechende Weisungen ausschließt. Die Archivgesetze beschreiten hier unterschiedliche Wege 75 . I V . Einrichtung des Bundesarchivs als rechtsfähige, bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts? Ein Mittel organisationsrechtlicher Abschottung der Archive könnte die Einrichtung rechtsfähiger Archivanstalten sein, die den Rundfunkanstalten vergleichbar als Sachwalter einer unabhängigen und freien historischen Forschung wirken. Während das Bundesarchiv weiterhin nichtrechtsfähige Bundesanstalt im Geschäftsbereich des Bundesinnnenministers ist 7 6 , unterhält der Bund weitere Archive und Bibliotheken als bundesunmittelbare Anstalten des öffent73 74 75 76
Zur Frage der Archivierungsermächtigung im einzelnen s.u. 5. Kapitel B. Bizer S. 339 f. s.u. 4. Kap. A. V. 4., B. I. 4., 5. Kap. B. I., 6. Kap. B. 4. Ebenso die Staatsarchive der Länder, s.u. 4. Kap. B. II.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
liehen Rechts bzw. Stiftungen mit eigener Rechtspersönlichkeit aufgrund von Gesetzen gemäß Art. 87 Abs. 3 GG: die Deutsche Bibliothek in Frankfurt 7 7 , die Stiftung Bundeskanzler Adenauer Haus in Rhöndorf 78 , die Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg 79 sowie die Stiftung „Parteien und Massenorganisationen" nach §§ 2 a, 9 BArchG. Für die Umwandlung in eine bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts durch ein Gesetz nach Art. 74 Nr. 13, 87 Abs. 3 G G 8 0 sprechen verschiedenene Gesichtspunkte der grundgesetzlichen Ordnung, die den Archiven die Stellung als „Datentreuhänder" und unabhängiger „Sachwalter" der historischen Forschung zuweisen: Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gebietet die eine datenschutzrechtliche Abschottung der Archive gegenüber der Exekutive. Diese muß auch institutionell und organisatorisch gewährleistet sein. Die oben dargestellte, aus dem rechtsstaatlichen Neutralitätspostulat abgeleitete Forderung Schiaichs nach „regierungsfreien Räumen" für bestimmte Sachgebiete, die eine von politischen Tagesinteressen unabhängige Aufgabenwahrnehmung erfordern, ist auf das Bundesarchiv und die Staatsarchive der Länder zu übertragen. Die Gestaltungsfunktion der Archive bei der Überlieferungsbildung und die gegenläufigen Interessen bei der Abgabe von sensiblem Schriftgut sprechen für eine mehr als organisationsrechtliche Selbständigkeit im Sinne einer „Sachwalterstellung". In dieselbe Richtung zielt die Funktion der Staatsarchive, als zunehmend ressortunabhängige, wissenschaftliche Forschungseinrichtung auch gezielt Ankaufspolitik, Bildungsprogramme und selbständige Forschung zu betreiben 8 1 . Die im folgenden darzustellende historische Bewertungskompetenz der Archivare und die Durchsetzung archivarischer Interessen gegenüber den abgebenden Stellen sind eine wesentliche Voraussetzungen zukünftiger unabhängiger historischer Forschung. Aus Art. 5 Abs. 3 GG folgen ebenfalls Mindestvorgaben, die auf eine institutionell-rechtliche Verselbständigung des Archivwesens drängen 82 .
77
Gesetz vom 31. März 1969 BGBl. I, S. 265. Gesetz vom 24. November 1978 BGBl. I, S. 1821. 79 Gesetz vom 19. Dezember 1987 BGBl. I S. 2553; vgl. auch Deutsche Welle/ Deutschlandfunk Gesetz vom 29. November 1960, BGBl. I. S. 862. 80 Statt vieler Lerche in: Maunz/Dürig, GG Art 87, Rz. 191. 81 Bucher, Das Bundesarchiv. Geschichte-Aufgaben-Probleme, S. 31 f. 82 Ähnlich Köstlin S. 86. 78
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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V. Zusammenfassung Eine Pflicht des Staates zur Einrichtung und zum Unterhalt öffentlicher Archive sowie zur Anbietung und Übergabe archivwürdiger Unterlagen an die Archive ist verfassungsrechtlich in Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaats-, Demokratieprinzip) verankert und folgt aus Art. 5 Abs. 3 GG (objektivrechtliche Dimension der Forschungsvoraussetzungssicherung). Beide Prinzipien gebieten die Neutralität der Archive bzw. Weisungsfreiheit der Archivare bei der Archivierung. Eine Verpflichtung der öffentlichen Hand zur Einrichtung von öffentlich zugänglichen Archiven läßt sich auch aus dem Demokratieprinzip und mit Einschränkungen aus dem Kulturstaatsbegriff herleiten. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erfordert gesetzliche Archivierungsermächtigungen für personenbezogene Daten, wobei eine Blankettnorm grundsätzlich genügt. Der Gesetzgeber mußte andererseits die Archivierung personenbezogener Daten grundsätzlich ermöglichen. Die aus Art. 2 Abs.l, 5 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG folgende Funktion staatlicher Archive als unabhängiger Sachwalter einer freien, unabhängigen historischen Forschung und als treuhänderischer Verwalter sensibler, personenbezogener Unterlagen drängt auf ihre rechtliche, organisatorische Verselbständigung als gegenüber der Exekutive eigenständiger Einrichtung einer öffentlichen Informationsordnung. Dies kann durch die Errichtung des Bundesarchivs und der Staatsarchive der Länder als rechtsfähiger Anstalten des öffentlichen Rechts geschehen.
3. Kapitel
Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers aus Art. 5 Abs. 3 GG A. Der Schutzbereich historischer Forschungsfreiheit I. Der Standpunkt der Rechtsprechung zum Archivzugang Zwei vorarchivgesetzliche Oberverwaltungsgerichtsentscheidungen zur Frage eines Archivzugangsrechts des historischen Forschers, die ein Kommunalarchiv und das Bundesarchiv betreffen, sind bislang veröffentlicht worden. Obergerichtliche Entscheidungen aus der Zeit nach Erlaß der Archivgesetze stehen noch aus. Die bekannten, vieldiskutierten Entscheidungen des V G Köln, OVG Münster, BVerwG sowie BVerfG zur Ablehnung des Antrags eines Historikers auf Akteneinsicht bei der Bundeszentrale für S Manegold
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
politische Bildung sind auf den Zugang zu öffentlichem Archivgut nicht übertragbar, da sie Unterlagen der laufenden Verwaltung bzw. den Zugang zu Registraturgut betreffen 83 . 1. VGH München vom 13.02.1985 zur Archivbenutzungsordnung des Stadtarchivs Passau Dem Normenkontrollantrag lag eine kommunale Archivbenutzungsordnung zugrunde, die verschiedene Gründe zur Nutzungsversagung aufzählt (u. a. „erhöhte Gefahr für Beschädigung des Archivgutes", „Rechte Dritter", aber auch bloße „Interessen der Stadt Passau" und „mangelnde Vertrauenswürdigkeit des Benutzers") 84 . Zum Prüfungsmaßstab stellt der V G H fest, daß „der Grundrechtsbereich des Benutzers bei Inanspruchnahme der öffentlichen Einrichtung des Stadtarchivs nur ausnahmsweise überhaupt berührt" werden könnte, und prüft die Zulässigkeit von Zugangsbeschränkungen anhand rechtsstaatlicher Prinzipien des Art. 20 Abs. 3 GG (Normenklarheit und -bestimmtheit, Verhältnismäßigkeit). Aus Art. 5 Abs. 1 GG, einem Abwehrrecht, könne nicht die Verpflichtung des Staates hergeleitet werden, allgemein zugängliche Quellen einzurichten oder dem Bürger bestimmte Informationen zu übermitteln. Eine sich aus dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ergebende Verpflichtung zur Bereitstellung von „Leistungen", wie sie das Bundesverfassungsgericht im Hochschulurteil annehme, „beziehe sich wohl nur auf Universitäten". Selbst wenn man kommunale Einrichtungen mit einbeziehen wolle, gelte ein Teilhaberecht nur für Maßnahmen, die zum Schutz des Freiheitsraumes unerläßlich seien. Im allgemeinen, so stellt der V G H abschließend fest, sei es „für die Betätigung des Historikers, Soziologen oder Heimatforschers nicht unabweisbar, gerade auf Quellen des Stadtarchvis Passau zurückzugreifen". Diese Behauptung ist bereits logisch falsch, weil bestimmte Fragen der Stadtgeschichte Passaus gerade nur durch Archivalien des Stadtarchivs erforscht werden können. Der Entscheidung liegt erkennbar die Vorstellung zugrunde, daß es sich bei der Beschäftigung mit historischen Quellen um bloße „Vorarbeiten" im Vorfeld „eigentlicher" wissenschaftlicher Forschungstätigkeit handele. 83 V G Köln CuR 1986 S. 833; OVG Münster CuR 1986 S. 834; BVerwG CuR 1986 S. 835 = NJW 1986 S. 1277; BVerfG NJW 1986 S. 1243 = CuR 1986 S. 832 mit Anmerkungen von Gallwas S. 637 ff.; = EuGRZ 1987 S. 213= Jus 1986 S. 728 mit Anm. von Hermann Weber; s.u. A. IV. 1. 84 V G H München NJW 1985 S. 1663 = CuR 1988 S. 244 = BayVBl. 1985 S. 366 = Der Archivar 40 (1988) Sp. 123 mit Anm. v. Heydenreuther Sp. 128 ff. = JA 1985 S. 545 ff. mit Anm. v. Langer.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Ohne daher den Schutzbereich und die Schutzrichtung der Forschungsfreiheit zu erörtern, geht der V G H sogleich auf die umstrittene leistungsrechtliche Dimension der Forschungsfreiheit in der institutionellrechtlichen Ausprägung des BVerfG ein. Weil ein Fall der Anstaltsnutzung vorliegt, soll offensichtlich trotz der Verhinderung des konkreten Forschungsvorhabens keinerlei Grundrechtsbetroffenheit des einzelnen Forschers bestehen, solange überhaupt irgendwo und zu irgendeinem Thema historisch-wissenschaftlich gearbeitet werden kann 8 5 . Die Betätigung des Historikers, mithin dessen Forschungsfreiheit, wird in unzulässiger Weise einer „institutionalisierten" Betrachtung unterworfen, die der stets subjektiven Freiheitsgewährleistung widerspricht. 2. OVG Koblenz vom 27.10.1982 zum Antrag auf Nutzung von Archiv gut des Bundesarchivs Der Entscheidung 86 lag ein abweisender Bescheid des Bundesarchivs über einen Antrag auf Sperrfristverkürzung bezüglich eines Ordensverleihungsvorschlag eines SS-Panzergenerals zugrunde, der mit einem Anfechtungs- und hilfsweise einem Verpflichtungsantrag angegriffen wurde. Bezüglich grundrechtlicher Vorgaben sind die Ausführungen knapp: durch die Versagung der Einsichtnahme in archivierte Urkunden werde nicht „das negatorische Freiheitsrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG, im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß von staatlichen Zwängen unbehelligt zu bleiben", betroffen. Der Forscher, dem eine Einsichtnahme nicht erlaubt werde, sehe sich keinem Eingriff des Staates in seine Forschungstätigkeit gegenüber. Durch die Versagung der Einsichtnahme sei allenfalls die in Art. 5 Abs. 3 GG auch enthaltene, das Verhältnis der Wissenschaft zum Staat regelnde Grundsatzentscheidung im Sinne eines Eintretens des Staates für die Idee einer freien Wissenschaft tangiert. Zwar verpflichte diese verfassungsrechtliche Weitentscheidung den Staat nach der Rechtsprechung des BVerfG auch zur Vornahme derjenigen Maßnahmen, die zum Schutze einer freien Wissenschaft unerläßlich seien. Unerläßlich zur Aufrechterhaltung eines freien Wissenschaftsbetriebes sei jedoch die „Offenlegung sämtlicher vom Staat verwahrter Urkunden noch zu Lebzeiten des vom Inhalt der Urkunde Betroffenen" nicht. Davon abgesehen sei die Herleitung einzelner positiver Leistungspflichten des Staates aus einer weitentscheidenden Grundsatznorm nur aufgrund einer Abwägung dieses Verfassungswertes mit anderen verfassungsrechtlich ebenfalls verbürgten Freiheitsrechten und Wertentscheidungen möglich 8 7 . 85
Niedersächsischer Disziplinarhof zur Akteneinsicht NJW 1986 S. 1278 ff. OVG Koblenz NJW 1984 S. 1135 = DVB1. 1983 S. 600; dazu Oldenhage, Der Archivar 36 (1983) Sp. 271 ff. 86
5*
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Die vom OVG formulierten Obersätze weichen von den Formulierungen des BVerfG im ersten Hochschulurteil ab und wecken den Eindruck, das Gericht habe sich die Entscheidung erleichtern wollen, indem es deren Fassung dem Fall „anpasste": Das Bundesverfassungsgericht spricht nämlich im Zusammenhang mit der abwehrrechtlichen Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG nicht nur vom Recht, „von staatlichen Zwängen unbehelligt zu bleiben", sondern wegen der Eigengesetzlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung wörtlich von der „Freiheit von jeglicher staatlicher Einwirkung auf den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß". Die Problematik der zumindest faktischen Eingriffswirkung und die Rüge der Freiheitsbeschneidung, die der Kläger durch den Anfechtungsantrag gerade zum Streitgegenstand gemacht hatte, übergeht das Gericht. Aber auch hinsichtlich der vom OVG in den Vordergrund gerückten leistungsrechtlichen Funktion des Art. 5 Abs. 3 GG trägt die Begründung nicht: die objektivrechtliche Institutionsgewährleistung umgreift gerade nicht nur das Einstehen für eine - abstrakte - „Idee freier Wissenschaft", sondern verlangt auch konkrete sichernde Maßnahmen im Verfahrensbereich, nach der Formulierung des BVerfG die „Mitwirkung an ihrer Verwirklichung" 88. Maßstab für ein Teilhaberecht ist nicht das vom OVG umschriebene Maximum der „Offenlegung sämtlicher vom Staat verwahrter Urkunden noch zu Lebzeiten des vom Inhalt der Urkunde Betroffenen", sondern fallbezogen allein die Frage des Archivzugangs zu den konkret archivierten Unterlagen. Das OVG hat hier also offenbar argumentative „Probleme" durchaus erkannt. Der konkrete Schutzbereich der - historischen - Forschungsfreiheit wird in beiden Entscheidungen ebensowenig erörtert, wie die Frage der nicht zu leugnenden Behinderungswirkung und der Eingriffsbegriff. Dieser wird wiederum methodisch unzulässig mit den Rechtsfolgen vermengt, obwohl negatorische Ansprüche als typische Folge des Abwehrrechts nach herkömmlicher Dogmatik nicht auf bloße Unterlassungsansprüche beschränkt sind. Beide Entscheidungen knüpfen auch bezüglich der Grundrechtsauslegung an verwaltungsrechtliche Regelungsstrukturen (Verbot mit Genehmigungsvorbehalt/Erlaubnisvorbehalt oder Erlaubnis mit Möglichkeit der Einzelfallversagung) an: dies ist zur Bestimmung des Grundrechtsgehalts, des Eingriffsbegriffs und des Inhalts des grundrechtlichen Abwehranspruchs nicht tragfähig. Die Versagung einer Gewerbegenehmigung oder einer Baugenehmigung würde umgekehrt wohl als „Eingriff" in Art. 12 bzw. Art. 14 GG 87 88
OVG Koblenz a.a.O. So die vollständige Formulierung bei BVerfGE 35, 79 (115).
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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angesehen werden, obwohl diese sich strukturell nicht von der Anstalts-Nutzungsgenehmigung unterscheiden. Ob auf einfachgesetzlicher Ebene ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder Anstaltsnutzung vorliegt, kann für die Grundrechtsauslegung nicht entscheidend sein 89 . I I . Vorfrage: Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 G G als gegenüber Art. 5 Abs. 3 GG vorrangiges Spezialgrundrecht bei „staatlichen Informationen 44 (Sperrwirkung)? Die Gerichtsentscheidungen ziehen sogleich Art. 5 Abs. 3 GG heran, ohne Art. 5 Abs. 1 GG eine Bedeutung beizumessen. In der parlamentarischen Diskussion zum BArchG wurde dagegen von Sachverständigen und Parlamentariern zum Teil nachdrücklich die Ansicht vertreten, ein Archivzugangsrecht sei in der „Informationsfreiheit" des Art. 5 Abs. 1 GG verbürgt 9 0 Auch nach Ansicht neuerer Stimmen in der Literatur soll ein „archivbezogenes Informationsrecht" und eine „bereichsspezifische Archivöffentlichkeit" unmittelbar aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG folgen, weil „Behördenakten, die sich in öffentlich zugänglichen Archiven befinden", allgemein zugänglich i.S.v. Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG seien 91 . Nach einer von Starck vertretenen Ansicht soll die Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG sogar das „äußerste Maß für die Gewinnung von Informationsansprüchen gegenüber dem Staat" vorgeben. Soweit es um „staatliche Informationen" geht, soll Art. 5 Abs. 1 GG auch im Bereich der Forschung vorrangiges Spezialgesetz sein. Weitergehende Informationsansprüche könnten aus anderen Grundrechten deswegen nicht abgeleitet werden. Da Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG einen allgemeinen staatsbürgerlichen Informationsanspruch gegenüber dem Staat ausschließe, müsse auch ein Informationsprivileg für Presse oder Forschung ausgeschlossen sein. Art. 5 Abs. 3 GG würde für die Frage des Archivzugangs ausscheiden92. Dies 89
Dies zeigt beispielsweise auch der Übergang vom Genehmigungs- zum Anzeigeverfahren in der LBO-Brandenburg. Zur Eingriffsqualität eines Genehmigungsvorbehalts: BVerfGE 8, 70 (76); 20, 150 (155); Mayen, Informationsanspruch, S. 136. 90 Gutachten und Diskussionsbeiträge der Datenschutzsachverständigen in der Bundestagsanhörung. Veröffentlichte Gesetzesmaterialien des Parlamentsarchivs, Nr. 23 (im folgenden zitiert: BT-Dokumentation); S. 85 ff., S. 175 ff.; s.u. 4. Kap. A. V. 1. 91 Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 5 Rz 13; Wyduckel, Archivgesetzgebung i m Spannungsfeld von informationeller Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit, DVB1. 1989 S. 327 ff. (333 ff.): historischer Funktionswandel der Archive, Demokratiegebot und Sozialstaatsgebot führten zu einer Einordnung des Bundesarchivs als allgemein zugänglicher Quelle, der nicht auf die einfachgesetzliche Ausgestaltung des BArchG zurückzuführen sei.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
hätte weitreichende Folgen für die zuläsigen Schranken des Archivzugangs, der verfassungsrechtlich letzlich nur durch das Willkürverbot geschützt würde. 1. Kein Archivzugangsrecht
aus Art. 5 Abs. 1 GG
Ein Archivzugangsrecht des historischen Forschers kann sich aus der sogenannten Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG („sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten") nur ergeben, wenn man den Begriff der „allgemein zugänglichen Informationsquellen" nicht nur auf Informationsquellen „außerhalb", sondern auch auf solche „innerhalb" der Staatsorganisation bezieht, die erst vom Staat - faktisch und rechtlich - allgemein zugänglich gemacht werden. Nach einer neueren Ansicht soll „allgemeine Zugänglichkeit" in der Tat nicht nur die „natürliche" außerstaatliche, sondern auch die vom Staat einmal gewährte Öffentlichkeit von Informationsquellen garantieren, ohne daß diese von vornherein zur Veröffentlichung bestimmt sein müßten 93 . Die Archivierung hat dann nicht nur die Bedeutung einer Widmung zur öffentlichen Nutzung, sondern auch die Bedeutung i.S. einer faktischen allgemeinen Zugänglichkeit. Einzelne Literaturstimmen wollen den Wörtlaut des Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG „allgemein zugänglich" auf „ i m Allgemeinen zugängliche Quell e n " 9 4 und sogar auf „vom Staat zugänglich zu machende Quellen" erstrecken.
92 Starck in: v. Mangoldt/Klein, Bonner Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1 Rz 29 ff.; Art. 5 Abs. 3 Rz 229; ders., Informationsfreiheit und Nachrichtensperre, AfP 1978 S. 171 (174). Starck versteht „allgemein zugänglich" auch i m Sinne einer normativen Entscheidung. Art. 5 Abs. 1 GG soll grundsätzlich auch für „der Öffentlichkeit gewidmete öffentliche Register" einschließlich der Archive gelten. Starck gesteht Art. 5 Abs. 1 GG aber keine öffnende Funktion zu. 93 Degenhardt in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1, 2 Rz 264: auch staatliche Informationsquellen könnten allgemein zugänglich i.S.v. Art. 5 Abs. 1 S. 1 sein, wenn der Staat diese als öffentlich behandele. Die Allgemeinzugänglichkeit sei „verstärkt", wenn „Informationsmaterial staatlicherseits monopolisiert werde"; Freys S. 73; Hoffmann-Riem in: Alternativkommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1, 2 Rz. 84 ff., 89 ff.; Jarass a.a.O.; Starck in: v. Mangoldt/Klein a.a.O.; Wyduckel a.a.O. 94 Windsheimer, Die „Information" als Interpretationsgrundlage für die subjektiven Rechte des Art. 5 Abs. 1 GG, S. 133 f. 95 Bleckmann, Staatsrecht I I Grundrechte, S. 681 ff., 883 f.; Bleckmann fordert eine funktional demokratische Auslegung im Sinne eines Kommunikationsgrundrechts; ebenso Krieger, Das Recht des Bürgers auf behördliche Auskunft, S. 108; Zschiedrich, Der staatsbürgerliche Informationsanspruch, S. 35.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Die klassischen Auslegungsinstrumente, v.a. bereits der Wortlaut sprechen gegen diese Thesen: denn „zugänglich" ist nur etwas, was bereits verfügbar ist. Was zur Verfügung steht, muß bzw. kann nicht erst durch den Staat zugänglich gemacht werden. Der Wortlaut setzt die Existenz der allgemein zugänglichen Quelle, deren Allgemeinzugänglichkeit voraus 96 . Auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 5 GG ergibt sich, daß „allgemeinen zugänglich" im engen technisch-naturwissenschaftlichen, also ausschließlich faktischen Sinne verstanden wurde. Die Formulierung bezog sich direkt auf das Verbot der Naziregierung, ausländische Rundfunksender zu hören und ausländische Zeitungen zu beziehen 97 . Art. 7 Abs. 1 des Herrenchiemseer-Entwurfs nannte daher ausdrücklich „Beschränkungen des Rundfunkempfangs und des Bezugs von Druckerzeugnissen" als Schutzgegenstand. M i t der späteren redaktionellen Änderung wurde ausweislich der Diskussion im Grundsatzausschuß keine inhaltliche Erweiterung auf eigenstaatliche Quellen bezweckt. Im Verlauf der Diskussion wurden neben dem Rundfunkempfang, beispielhaft nur Bücher und Zeitungen, also nur außerstaatliche Massenkommunikationsmittel genannt 98 . Von der älteren Literatur wurde Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG gerade deswegen als „eine neuartige Erscheinung in der Geschichte der Grundrechte" gegenüber der Weimarer Verfassung angesehen, weil es der Bedeutung der modernen Massenpublikationsmittel Rechnung trug. Aus historischer Sicht trägt die Regelung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG so allein der Gefahr massiver staatlicher Manipulation und Propaganda durch die Absicherung eines informativen Gegengewichts Rechnung, das vom Verfassungsgeber als ein auswärtiges und nichtstaatliches verstanden wurde 9 9 . Auch gesetzessystematische Gründe sprechen gegen die Erstreckung des Begriffs der Informationsquelle auf den staatlichen Bereich, weil dann das Verhältnis der „immanenten" Schranke „ . . . allgemein zugänglich . . . " zur Schranke des qualifizierten Gesetzesvorbehalts des Art. 5 Abs. 2 1. Alt. GG der allgemeinen Gesetze ungeklärt bliebe. Wendet man nämlich Art. 5 Abs. 1 GG auf durch staatliche Entscheidung faktisch zugänglich gemachte Informationsquellen an, müßte dies an sich zur Folge haben, daß der Staat die Benutzung nur in Richtung auf eine weitere Öffnung, nicht jedoch restriktiver fassen könnte. Das Verhältnis zu den Schranken der „allgemeinen Gesetze" des Art. 5 Abs. 2 GG ist nicht zu klären.
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Mayen S. 308. „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939", derzufolge „das absichtliche Abhören ausländischer Sender" mit Zuchthaus, später Todesstrafe bestraft wurde; Windsheimer S. 67 f. 98 Pari. Rat, Grundsatzausschuß, 25. Sitzung vom 29.09.1948, Sten. Ber. S. 46. 99 Windsheimer S. 68 m.w.N. 97
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Wegen der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG können auch nachvollziehbare teleologische Gesichtspunkte zu keinem anderen Ergebnis führen. Die extensive Auslegung führt nicht zu einer Erweiterung oder Effektivierung des Grundrechtsschutzes im Bereich der Archivgutnutzung, weil die archivgesetzlichen Sperrfristen unzweifelhaft meinungsneutrale, also allgemeine Gesetze sind. Die Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG bietet keine Handhabe, in anderweitig umhegte Rechtspositionen einzubrechen. Aus der Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG kann kein Recht auf Informationserteilung oder Eigeninformation im staatlichen Bereich hergeleitet werden. Sie betrifft nur den freien Zugang zu dem, was an Erscheinungen und Informationen „ohnehin schon da" i s t 1 0 0 . Nach einem funktional-teleologischen Verständnis soll die subjektive Meinungsäußerungsfreiheit die Freiheit der Meinungsbildung umfassen. Diese erfordere den freien Zugang zu Informationen als Voraussetzung der Meinungsbildung. Diesem Ansatz entsprechend begreift Windsheimer die an sich verschiedenen Schutzbereiche des Art. 5 Abs. 1 GG als „einen funktionalen Komplex der Kommunikation", deren zentraler Begriff die „Information" sei. Er leitet ein Recht auf Informationserteilung zumindest für diejenigen her, die sich „aktiv und öffentlich am Kommunikationsgeschehen beteiligen", insbesondere für wissenschaftliche Forscher, sofern sie Publikationsabsicht glaubhaft machen 1 0 1 . Wenn man diesem Ansatz folgte, ergäbe sich zwar ein originäres Archivzugangsrecht des historischen Forschers. Es steht allerdings wiederum unter dem Schrankenvorbehalt der allgemeinen, d.h. meinungsneutralen Gesetze, so daß sich keine erheblichen Vorgaben für den Archivgesetzgeber ergeben, insbesondere nicht für meinungsneutrale allgemeine Sperrfristen und Versagungsgründe. 2. Kein Vorrang von Art. 5 Abs. 1 GG gegenüber Art. 5 Abs. 3 GG Zwar spricht die demokratie-konstituierende Funktion des Art. 5 Abs. 1 GG für ein dynamisches Grundrechtsverständnis, das der zentralen Bedeu100
Nach der Definition des BVerfG (ständige Rspr. seit BVerfGE 27, 71 (83); zuletzt BVerfGE 90, 27 ff. „Satellitenschüssel") ist eine Informationsquelle nur dann allgemein zugänglich, wenn sie „technisch geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, d.h. einem individuell nicht bestimmten Personenkreis, Informationen zu verschaffen." Staatliche Informationsquellen und deren mithin normative, - im Gegensatz zu faktischen - Zugangsvoraussetzungen sind nicht umfaßt. Ebenso die bislang herrschende Ansicht i m Schrifttum: Bizer, Forschungsfreiheit, S. 107 f f , 119 m.w.N.; Herzog in: Maunz/Dürig GG Art. 5 Rz 89 ff. m.w.N.; Leibholz/ Rinck GG Art. 5 Anm. 2; Wendt in: v. Münch GG Art. 5 Rz 22, 25. 101 Windsheimer S. 164 f.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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tung der Kommunikationsfreiheit in der postindustriellen Gesellschaft Rechnung trägt. Im Hinblick auf die behauptete „Sperrwirkung" der „Informationsfreiheit" des Art. 5 Abs. 1 GG für Art. 5 Abs. 3 GG bedarf dies an dieser Stelle keiner Entscheidung. Die These Starcks setzt voraus, daß dem Begriff des „sich-informierens" auch im Bereich der Forschungsfreiheit ein abschließender Regelungscharakter zukommen. Das ist von den Prämissen und vom Ergebnis abzulehnen. Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Alt. GG enthält keinen Anhaltspunkt, der als abschließende Regelung einer grundgesetzlichen Informations- und Kommunikationsordnung gedeutet werden könnte, außerhalb derer ein Informationszugang grundrechtlich nicht geschützt sein sollte. Aus der Fassung des Art. 5 GG ergibt sich nicht, daß der Begriff der „Information" der grundlegende „Strukturbegriff aller in ihm zusammengefaßten Freiheitsverbürgungen" sei. Das in der Entstehungsgeschichte zu Tage getretene Ziel spricht ebenfalls dagegen: Der Verfassungsgeber hat mit Art. 5 Abs. 1 GG eine typische Gefährdungssituation umschrieben, die vor dem Hintergrund des Dritten Reiches nach dem damaligen Stand der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung als typisch angesehen und tatbestandlich gefaßt wurde. Indem ein Maximum an staatlichem Eingriff umschrieben wird (Verbot des Empfangs unabhängiger Informationen), formuliert Art. 5 Abs. 1 GG mit dem Terminus der „allgemeinzugänglichen Quelle" positiv ausgedrückt lediglich ein Minimum des freien Informationsempfangs, das als absolut unentbehrlich angesehen wurde. Materielle Vorgaben für staatliche Informationsverteilung lassen sich Art. 5 Abs. 1 GG daher nicht entnehmen. Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 GG sind wegen ihrer Schrankendivergenz strikt zu trennen. Deren Vermischung führte unweigerlich zur willkürlichen Aufweichung der Freiheitsgarantien. Eine Privilegierung von Forschungsinteressen gegenüber den Interessen jedes Bürgers, die von Starck als unzulässig bewertet wird, ist in den unterschiedlichen Schranken des Art. 5 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 angelegt und kann bereits deswegen kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sein. Eine Sperrwirkung der „allgemeinen Informationsfreiheit" des Art. 5 Abs. 1 GG gegenüber einer spezifisch „wissenschaftlichen Informationsfreiheit" ist abzulehnen 102 .
102
Mayen S. 74, S. 106 ff. m.w.N., S. 300.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
I I I . Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers als Rechtsfolge der objektivrechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 G G 1. Archivzugangsanspruch des Forschers als „Informationsanspruch " aufgrund staatlichen „ Informationsmonopols " ? Nachdem ein Archivzuggangsrecht im Besonderen und ein „Informationsanspruch des Forschers" gegenüber dem Staat im Allgemeinen zunächst wie ein Anspruch auf Finanz-Leistungen abgelehnt worden w a r 1 0 3 , argumentierte die Literatur später mit einer Übertragung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Niedersächsischen Hochschulgesetz unter dem Gesichtspunkt eines „staatlichen Informationsmonopols". Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, daß der Staat hinsichtlich des „Wissenschaftsbetriebes" ein „faktisches Monopol" innehabe. Das Gericht knüpft daran die Feststellung, daß ein „Teilhaberecht" auf bestimmte Maßnahmen bzw. Leistungen aus Art. 5 Abs. 3 GG dann in Betracht komme, wenn dies zum Schutz der Freiheit „unerläßlich" sei, und wenn wissenschaftliche Betätigung durch diese Teilhabe „überhaupt erst möglich" werde 1 0 4 . Schmitt Glaeser 105 , Bayer 1 0 6 und mit Einschränkungen B e r g 1 0 7 meinen, daß der Staat über „Informationen aus dem staatlichen Innenbereich" das faktische Monopol habe. Da im Bereich des Informationsmonopols des 103 Lepper, Die staatlichen Archive und ihre Benutzung, DVB1. 1963 S. 315 ff. (317, 318); zu einem allgemeinen „Informationsanspruch" Ridder/Stein, Die Freiheit der Wissenschaft und der Schutz von Staatsgeheimnissen, DÖV 1962 S. 361365: gegen „Leistungsanspruch" wegen „nur mittelbarer Beeinträchtigung". 104 BVerfGE 35, 79 (115 f.); E 42, 339 (349): die Teilhabe beschränkt sich auf die Verteilung des Vorhandenen an die in Forschung und Lehre Tätigen, „Grundaustattung". 105 Schmitt Glaeser in: Eser/Schumann (Hrsg.), Die Freiheit der Forschung, S. 86 ff. Schmitt Glaeser spricht von einem grundrechtlichen Leistungsrecht, das „den Arkanbereich des Staates (Akteneinsicht, Registerauskunft) öffnet" (S. 91). Art. 5 Abs. 3 GG begründe in seiner objektivrechtlichen Seite (der staatlichen Verpflichtung, den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß durch positive Handlungen zu ermöglichen und zu fördern) einen „Informationsanspruch des Wissenschaftlers", das als „Teilhaberecht" im Gegensatz zum „autonomen Abwehrrecht" notwendig regelungsbedürftig sei und mithin der Ausgestaltung durch ein Parlamentsgesetz bedürfe. Dabei seien die Regelungs- und Begrenzungsmöglichkeit größer als beim Abwehrrecht, das nur dem Verfassungsvorbehält unterliege. Archivseite unter Berufung auf Schmitt Glaeser: Heydenreuther, Die rechtlichen Grundlagen des Archivwesens, Der Archivar 32 (1979) Sp. 161; Oldenhage, Archivrecht? in: FS Booms, S. 196; König, Archivgesetzgebung zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit, Der Archivar 38 (1985) Sp. 198. Unklar Bull/Damann, Wissenschaftliche Forschung und
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Staates über „seine" Daten die Zugangsverweigerung absolut forschungsverhindernd wirke, sei die Informationsgewährung „unerläßlich" und es ergebe sich aus Art. 5 Abs. 3 G G unmittelbar ein Informationsanspruch, der auf den Archivzugang übertragen wurde. a) Rechtsprechung z u m Monopolargument I n einem Fall, der nicht den Zugang zu einem öffentlichen A r c h i v , sondern den Antrag eines Historikers auf Akteneinsicht bei der Bundeszentrale für Politische B i l d u n g betraf, lehnten das V G K ö l n , O V G Münster und das B V e r w G sowie das B V e r f G das Monopolargument für Informationsansprüche i m Ergebnis a b 1 0 8 . D i e Entscheidungsbegründungen der Instanzgerichte versuchten dem Sachverhalt m i t dem leistungsrechtlichen Instrumentarium des 1. Hochschulurteils gerecht zu werden, w o b e i sie dessen materielle, finanzielle Parameter auf den Forschungsgegenstand u n d seine Erkenntnisquellen zwar anwendeten, eine M o n o p o l s t e l l u n g aber m i t unterschiedlicher Begründung verneinten109. Datenschutz, DÖV 1982 S. 215, die auch von einem „derivativen", über Art. 3 Abs. 1 GG vermittelten Informationsanspruch ausgehen. 106 Bayer, Die Durchsicht der Personenstandsbücher zum Zweck historischer Forschung. Ein Beitrag zum Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Forschungsfreiheit, FamRZ 1986 S. 642 ff.; ders., Akteneinsicht zu Forschungszwekken, Jus 1989 S. 191 ff. (193). Bayer differenziert zwischen der „Teilhabe an Leistungen" und der „Teilhabe an resourcenknappen Leistungen". Der Gesetzgeber habe nicht den weiten Gestaltungsspielraum wie bei der Ausgestaltung des aus der objektivrechtlichen Dimension hergeleiteten Teilhaberechts, sondern sei wegen des forschungsverhindernden Charakters der Informationsverweigerung den „eng begrenzten Schranken eines nur durch die Verfassung selbst begrenzten Abwehrgrundrechts" unterworfen. 107 Berg, Datenschutz und Forschungsfreiheit, JöR 33 (1984) S. 71 ff. Aus Art. 5 Abs. 3 GG folge unmittelbar ein Informationsanspruch. Bezüglich der Grundrechtsfunktion ist Berg allerdings widersprüchlich, da er an gleicher Stelle davon spricht, daß der Verschluß der Daten „prinzipiell Grundrechtseingriff' sei (S. 92). 108 V G Köln, CuR 1986 S. 833; OVG Münster, CuR 1986 S. 834; BVerwG CuR 1986 S. 835 = NJW 1986 S. 1277= DÖV 1986 S. 475; BVerfG NJW 1986 S. 1243 = CuR 1986 S. 832 mit Anmerkungen von Gallwas S. 637 ff.; = EuGRZ 1987 S. 213 = Jus 1986 S. 728 mit Anm. von Hermann Weber. Dazu auch Bizer, Forschungsfreiheit, S. 81 f. 109 Das V G Köln subsumierte den Aktenzugang zwar unter die Argumente der „faktischen Monopolstellung" und „Unerläßlichkeit", gelangte aber zu einem nach institutioneller Sichtweise konsequenten ablehnenden Votum: Anders als bei der Ausstattung mit Finanzmitteln sei der Hochschullehrer bei der Wahl seiner jeweiligen Forschungsthemen und Untersuchungsziele, jedenfalls „ im Bereich" der Gesellschaftswissenschaften, nicht ausschließlich auf den Staat und seine Einrichtungen angewiesen. Nicht sie allein könnten Gegenstand der Untersuchung sein. Ein fakti-
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen b) Prämissen des „ M o n o p o l a r g u m e n t s "
Das öffentliche Archivwesen müßte z u m „ B e r e i c h des m i t öffentlichen M i t t e l n eingerichteten u n d unterhaltenen Wissenschaftsbetriebes" i m Sinne des Urteils zählen, die v o m B V e r f G gemeinten Fördermaßnahmen dürften sich nicht nur auf finanziell-technische, d. h. vor allem inhaltsneutrale Hilfestellungen (Rahmenbedingungen), sondern auch auf „ I n f o r m a t i o n e n " erstrecken; die „ U n e r l ä ß l i c h k e i t " staatlicher Fördermaßnahmen würde nicht nur abstrakt-institutionell i m Sinne des Voraussetzungsschutzes einer wissenschaftlichen Forschungstätigkeit oder einer Forschungsdisziplin überhaupt, sondern auch konkret i m Sinne eines konkreten Forschungsvorhabens verstanden werden, dessen Durchführung und E r f o l g v o n der Benutzung einer A r c h i v a l i e abhängen kann.
sches Monopol des Staates existiere bei der Beschaffung der erforderlichen Forschungsunterlagen in diesem Bereich nicht: „Insbesondere folgt hier ein faktisches Monopol der Beklagten nicht aus der Tatsache, daß die Beklagte allein über die Akten verfügt, die der Kläger zum Gegenstand seiner Untersuchung machen will. Diese Betrachtungsweise würde auf eine Überdehnung der Teilhabefunktion des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG dazu führen, daß der einzelne Hochschullehrer i m Rahmen seiner Forschungstätigkeit durch hinreichende Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes letztlich selbst bestimmen könnte, ob auf Seiten des Staates ein Informationsmonopol entsteht." Von diesen institutionellrechtlichen Vorgaben lösten sich auch das OVG Münster und das BVerwG nicht. Das OVG Münster stellte fest, betroffen sei nur das i m Antrag beschriebene konkrete Forschungsziel. Einen Anspruch darauf, daß der Staat die Voraussetzungen zur Durchführung konkreter Forschungsvorhaben schafft, gewähre Art. 5 Abs. 3 GG aber nicht, und zwar auch dann nicht, wenn ein Vorhaben nicht anders als mit staatlicher Hilfe durchgeführt werden könne. Das BVerwG hatte sich in der Begründung auf die Ablehnung der Nichtzulassungsbeschwerde darauf beschränkt festzustellen, die Verweigerung „vorzeitiger" Einsichtnahme sei „offensichtlich" kein Eingriff. Das aus der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG abgeleitete Teilhaberecht sei auf finanzielle, personelle und sachliche Mittel beschränkt (Teilhabe an bestehenden Rechten und Möglichkeiten). Ein Anspruch, in sonst unzugängliche Behördenakten zu Zwecken eines konkreten Forschungsvorhabens Einblick zu nehmen, werde von dem auf Beteiligung an Ressourcen des Wissenschaftsbetriebes abzielenden Teilhaberecht ersichtlich nicht umfaßt. Das Einsichtsrecht zu Forschungszwecken bedürfe in Annäherung zum Informationsanspruch der Presse der näheren Ausgestaltung in Umfang und Grenzen durch den Gesetzgeber. Das BVerfG stellte allerdings fest, daß die Behörde bei ihrer Entscheidung über die Akteneinsicht zu Forschungszwecken die Verfassung als Wertordnung und damit auch den Stellenwert, den das Grundgesetz der Freiheit der Wissenschaft einräumt, beachten müsse. Ein unmittelbarer Anspruch des Wissenschaftlers auf positive Bescheidung ergebe sich daraus nicht. Er könne allerdings verlangen, daß über seinen Antrag sachgerecht, frei von Willkür und unter angemessener Berücksichtigung des Zwecks des Forschungsanliegens entschieden werde. Dazu v. a. Gallwas s. u. Nr. 2.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Ein wesentlicher Unterschied des Archivzugangs gegenüber dem Problemkreis der Hochschulzulassung liegt darin, daß der einzelne Forscher, der Archivzugang begehrt, bereits unabhängig von einem staatlichen Wissenschaftsbetrieb Forschung betreibt und so aktuell unter den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG fällt. Er begehrt nicht, Wissenschaft mit Hilfe staatlicher Förderung und Grundausstattung erst in der Zukunft zu betreiben. Denn die jeweils betroffenen Archivbestände sind als solche vorhanden und faktisch ohne weiteres verfügbar, ohne daß der Staat dafür zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen müßte. Die erste Prämisse ist bereits fraglich, aber wegen der an sich noch möglichen Bedeutung des Wortes „Wissenschaftsbetrieb" vertretbar. Gegen die Übertragung des Monopolarguments auf die Archivbenutzung spricht aber prinzipiell, daß auf diese Weise finanzielle, technische Grundrechtsvoraussetzungen mit wissenschaftlichen Erkenntnisquellen „gleichgeschaltet" werden. Das Verhältnis der Forschungsfreiheit zu innerstaatlichen Informationen bzw. ihr Verhältnis zum „Staat" als Forschungsobjekt ist ein rein intellektuelles Verhältnis. Es geht um das Erkennen-dürfen und nicht um ein faktisches Wissen-können. Darin liegt ein struktureller Unterschied zu den in der Rechtsdogmatik zur Anspruchsbegründung herangezogenen Monopolsituationen, die stets materiellen Versorgungscharakter haben 1 1 0 . Auch der vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Vorbehalt des finanziell und organisatorisch Möglichen ist weder auf „Informationen" noch auf Archivgut übertragbar, das ja faktisch gerade verfügbar ist. Außerdem differenziert das Monopolargument nicht bezüglich Daten aus Dritter Hand und privater Art, die bei öffentlichen Stellen gespeichert sind. Auf der anderen Seite hätte eine allgemeine Informationspflicht des Staates eine ausgeprägte Dienstleistungsfunktion zur Folge, die zum Bereich der Daseinsvorsorge gehörte. Das würde über den Aspekt des grundrechtlichen Teilhabeanspruches - der begrifflich nur für Bestehendes gegeben sein kann - weit hinausgehen 1 1 1 . Entscheidendes Problem ist, wer bestimmt, ob bestimmte Informationen für konkrete Forschungstätigkeiten „unerläßlich" sind. Bei genauerer Betrachtung stellt sich der Begriff der „Unerläßlichkeit" als ein ausschließlich institutionellrechtlicher heraus, der allein auf die materiellen und organisatorischen Voraussetzungen der Teilnahme am öffentlichen Hochschulbetrieb angewendet werden kann. Denn seine Anwendung führt in ein Dilemma: Würde ein Hoheitsträger über die Frage bestimmen, läge ein Fall staatlichen Wissenschaftsrichtertums vor. Anderseits hätte es der Forscher in der 110 Larenz, Schuldrecht Allgemeiner Teil, S. 42 ff. m.w.N. zum zivilrechtlichen Kontrahierungszwang bei § 35 GWB. 111 Mayen S. 224 ff., 243.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Hand, durch ein u.U. ebenfalls manipulatives „Zurechtschneiden" des Forschungsgegenstandes die „Monopolsituation" beliebig herzustellen. Die teilhaberechtliche Interpretation des Hochschulurteils ist daher auf den inneren Bereich des mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebes der Universitäten zu beschränken und hat keine Aussagekraft für Informationsbedürfnisse außenstehender Forschung gegenüber dem Archivwesen. 2. „ Originäre " subjektive Ermessensnorm aus Art. 5 Abs. 3 GG? Nach Wyduckel soll das „Zur-Verfügung-Stellen von Archivgut" außer von Art. 5 Abs. 1 GG gleichzeitig „wesentlich von Art. 5 Abs. 3 GG umfaßt" sein. Aus dem objektivrechtlich-institutionellen Gehalt der Forschungsfreiheit ergebe sich nach den Grundsätzen der Hochschulrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein „verfassungsverbürgtes Recht auf eine solche verfahrensmäßige Ausgestaltung archivarischer Organisationsabläufe, die den Forscher befähige von seinem Freiheitsrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG Gebrauch zu machen". Da die Archivzugangsverweigerung „einem selektiven Forschungsverbot gleichkomme", bestehe ein verfassungsrechtlich garantiertes Archivzugangsrecht, das nach seiner Rechtsnatur „mehr als ein bloß derivativ-abgeleitetes, jedoch weniger als ein originäres Teilhaberecht" sei 1 1 2 . Gallwas leitet in seiner Anmerkung zum o.g. Nichtannahmebeschluß des Bundesverfassungsgerichts den Antrag eines Historikers auf Akteneinsicht bei der Bundeszentrale für Politische Bildung betreffend angesichts der forschungsverhindernden Wirkung ein Informationszugangsrecht unmittelbar aus Art. 5 Abs. 3 GG her. Dieses begründe im Gegensatz zu einer objektivrechtlichen, institutionellen Förderverpflichtung des Staates einen unmittelbar einklagbaren Benutzungsanspruch im Rahmen des technisch und rechtlich Möglichen. Art. 5 Abs. 3 GG verbürge „originäres Leistungsrecht", nämlich das „verfassungsverbürgte Recht des einzelnen" darauf, „daß die leistungsrechtliche Rechtsbeziehung so gestaltet ist, daß sein Freiheitsinteresse in den Entscheidungsprozeß einfließt" 1 1 3 . Gallwas ist der Ansicht, das BVerfG leite eine subjektive Ermessensnorm unmittelbar aus dem objektivrechtlichen Wertordnungs-Element des Art. 5 Abs. 3 GG ab, ohne daß eine einfachgesetzliche, ermessenseinräumende 112
Wyduckel DVB1. 1989 S. 335. Gallwas, Datenschutz und historische Forschung in verfassungsrechtlicher Sicht. Zugleich Anmerkungen zu BVerfG NJW 1986 S. 1243, Der Archivar 39 (1986) Sp. 313 ff. = CuR 1986 S. 837 ff. = IuR 1986 S. 150 ff.; ders. in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 31 ff. 113
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Norm vorliegen müsse. Zur Berücksichtigung eines wissenschaftlichen Forschungsinteresses sei im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Archivzugang keine rechtsförmig ausgestaltende Entscheidung durch den Gesetzgeber erforderlich. Entscheidend sei allein, daß das Einsichtsinteresse den prinzipiellen Schutz der Forschungsfreiheitsverbürgung genieße. Nach Gallwas soll dies der Weg sein, die Freiheitsrechte für die Ermessens- und Leistungsverwaltung (Anstaltsnutzung) zu erschließen. Gallwas spricht gar von der „kopernikanischen Wende im Verhältnis zwischen Archiv und Archivbenutzer". Er geht insoweit über die Entscheidungsgründe und deren Interpretation hinaus. Denn die Kammer weist im Obersatz auf die „nach außen über den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bindende Vorschrift des § 85 GGO" hin. Das BVerfG hat den herkömmlichen Weg des „derivativen" Teilhaberechts nicht verlassen. In jedem Fall bedürfte der konkrete Archivzugangsanspruch nach der leistungsrechtlichen Auslegung des Art. 5 Abs. 3 GG der einfachgesetzlichen Ausgestaltung. Die Vorgabe der objektivrechtlichen, leistungs- oder teilhaberechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG bleibt nach oben und unten offen. Wäre die Forschungsfreiheit i m Bereich der Archivnutzung tatsächlich nur in ihrer objektiven Dimension, die Persönlichkeitsrechte Betroffener hingegen in der abwehrrechtlichen Dimension erfaßt, läge eine „unechte Grundrechtskollision" mit der Folge eines weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes insbesondere die Sperrfristen betreffend vor. Die objektivrechtliche Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßt die Bedeutung des Archivzugangs für den historischen Forscher jedoch nicht hinreichend. I V . Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. Alt. GG und die Nutzung öffentlichen Archivguts Berg, Gallwas und Wyduckel markieren mit ihren Hinweisen auf eine „gleichzeitige Eingriffsqualität" der Archivzugangsverweigerung eine Rückbesinnung auf den abwehrrechtlichen Anspruchsinhalt des Art. 5 Abs. 3 GG. Berg ist sogar zum allgemeinen Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat der Ansicht, daß es um etwas qualitativ anderes gehe als um Leistungsansprüche auf Subventionen: „In diesem Fall erschwert die Nichtgewährung die Ausübung lediglich, anderenfalls führt die staatliche Weigerung zu einem absoluten Forschungsverbot" 114 . In einem späteren Beitrag spricht Berg ausdrücklich von Eingriffsabwehr 115 . Trifft dies zu, 114 Berg in: JöR 33 (1984) S. 63 ff., 90; dort noch unter Rückgriff auf den teilhaberechtlichen Ansatz von Schmitt Glaeser (anspruchsbegründende Wirkung von Monopolen S. 89 Fn 94; S. 91 Fn 100, 101). 115 Berg, CuR 1988 S. 234 ff., S. 237 Fn 17: „Vielmehr geht es weiterhin um Eingriffsabwehr"; ebenso ders. in: Jehle (Hrsg.); Datenzugang und Datenschutz in
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
ergeben sich u . U . weitreichende Konsequenzen für die archivgesetzlichen Zugangssperren, da A r t . 5 Abs. 3 G G lediglich den Verfassungsvorbehalt statuiert. Der abwehrrechtliche Schutzbereich des A r t . 5 Abs. 3 G G ist i m H i n b l i c k auf den A r c h i v z u g a n g des historischen Forschers zu bestimmen.
7. Die Schutzbereichsdefinition der Forschungsfreiheit des BVerfG Ausgangspunkt für die B e s t i m m u n g des Schutzbereichs 1 1 6 des A r t . 5 Abs. 3 G G ist die v o m Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigte, umfassende D e f i n i t i o n der wissenschaftlichen Forschung aus der Ersten Hochschul-Entscheidung v o m 29. M a i 1 9 7 3 1 1 7 , deren vielschichtige Formulierungen z u m Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit i m Zusammenhang zitiert werden müssen (Hervorhebungen v o m Verfasser): „1. Das in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Freiheitsrecht schützt als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe und steht jedem zu, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will (vgl. BVerfGE 15, 256 [263]) 1 1 8 . Dieser Freiraum des Wissenschaftlers ist grundsätzlich ebenso vorbehaltlos geschützt, wie die Freiheit künstlerischer Betätigung gewährleistet ist. In ihm herrscht absolute Freiheit von jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt 119. In diesen Freiheitsraum fallen vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe. Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat - vorbehaltlich der Treuepflicht gemäß Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG - ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse 120 . Damit der kriminologischen Forschung, S. 30 ff. Vgl. dort auch Kaase, der von „Forschungszensur" spricht, ebd. S. 64, 71; Albrecht, Datenschutz und Forschungsfreiheit, CuR 1986 S. 92 f. A. A. zum Eingriffsargument ist Bizer, der wegen eines als allgemein vorausgesetzten „Leistungscharakters des Datenzugangsanspruchs" eine abwehrrechtliche Schutzbereichsverletzung ausschließt; Bizer, Forschungsfreiheit, S. 46 f. 116 Unterscheidung von Schutz- und Garantiebereich: Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 18 ff.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, S. 10 ff.; kritisch v.a. Alexy, Grundrechtstheorie, S. 279 f. 117 BVerfGE 35, 112 ff. 118 Ebenso BVerfGE 90, 1 (11). 119 BVerfGE 88, 129 ff. (136): „Es schützt als Abwehrrecht die wissenschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe und gewährt dem einzelnen Wissenschaftler einen vorbehaltlos geschützten Freiraum 120 Weitergehend BVerfGE 90, 1 (12): „Als Abwehrrecht sichert es vielmehr jedem, der sich wissenschaftlich betätigt, Freiraum von staatlicher Beschränkung zu". „Jeder, der wissenschaftlich tätig ist, genießt daher Schutz vor staatlichen Einwirkungen auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse".
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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sich Forschung und Lehre ungehindert an dem Bemühen um Wahrheit als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" (Wilhelm von Humboldt) ausrichten können, ist die Wissenschaft zu einem von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers erklärt worden 1 2 1 . Damit ist zugleich gesagt, daß Art. 5 Abs. 3 GG nicht eine bestimmte Auffassung von der Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie schützen will. Seine Freiheitsgarantie erstreckt sich vielmehr auf jede wissenschaftliche Tätigkeit, d. h. auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Dies folgt unmittelbar aus der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis . . . " 1 2 2 . „ . . . die Forschung als die geistige Tätigkeit mit dem Ziele, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen" (Bundesbericht Forschung I I I BT-Drucks. V/4335 S. 4) bewirkt angesichts immer neuer Fragestellungen den Fortschritt der Wissenschaft; ..." „ . . . Wie auch die Geschichte der Wissenschaftsfreiheit bestätigt, umfaßt die Freiheit der Forschung insbesondere die Fragestellung und die Grundsätze der Methodik sowie die Bewertung des Forschungsergebnisses und seine Verbreitung ..." Daraus ergeben sich die folgenden Konsequenzen: (1) D i e Forschungsfreiheit schützt primär die i n d i v i d u e l l e A u t o n o m i e des einzelnen Forschers. Eine irgendwie geartete E i n b i n d u n g i n den Hochschulbetrieb oder gar eine Beschränkung auf diesen ist unzulässig. D i e eigenverantwortliche Forschungstätigkeit i n A r c h i v e n ist v o m Schutzbereich umfaßt (s.u. Nr. 2. a). Darunter fällt grundsätzlich auch die wissenschaftliche Tätigkeit der Archivare selbst (s. u. Nr. 2. b). (2) Der verfassungsrechtliche B e g r i f f der Forschungsfreiheit ist ein „ V e r f a h r e n s b e g r i f f 1 1 2 3 , der den prinzipiell unabgeschlossenen Prozeß des Auffindens von Erkenntnissen unabhängig v o m E r f o l g der j e w e i l i g e n These, d.h. auch den planmäßigen Versuch umfaßt. D i e Forschungstätigkeit a p r i o r i zeitlich und räumlich einzugrenzen, insbesondere die Quellensammlung und -sichtung i n A r c h i v e n als „bloße Vorarbeiten" auszuklammern, ist unzulässig (s.u. Nr. 2. c). (3) Der B e g r i f f der „Eigengesetzlichkeit" der wissenschaftlichen Forschung stellt - den Gattungsbegriffen der Kunst vergleichbar - auf die jeweiligen Disziplinen der Wissenschaft ab. M i t der Hervorhebung der Geschichte der Wissenschaftsfreiheit bekennt sich das B V e r f G zu der besonderen Bedeutung der Wissenschafts- und Forschungsdisziplinen und ihrer 121
BVerfGE 90, 11. BVerfGE 90, 12 greift BVerfGE 5, 85 auf: „Der Schutz hängt weder von der Richtigkeit der Methoden und Ergebnisse ab, noch von der Stichhaltigkeit der Argumentation und Beweisführung ... Über gute und schlechte Wissenschaft, Wahrheit oder Unwahrheit kann nur wissenschaftlich geurteilt werden". 123 Begriff von Eser: Eser/Schumann, Forschung im Konflikt, S. 75 f. 122
6 Manegold
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
jeweiligen Eigengesetzlichkeit 124 . Die Arbeit mit öffentlichem Archivgut und mithin der Archivzugang des historischen Forschers sind forschungstypische Methode und Voraussetzung der Wissenschaftlichkeit. Der Archivzugang ist daher prinzipiell von der Freiheitsgewährleistung - des Abwehrrechts - umfaßt (s.u. Nr. 2. d). (4) Die Freiheit der Fragestellung verbürgt die für die geschichtswissenschaftliche Forschung disziplintypische Freiheit, „den Staat" als Forschungsgegenstand zu wählen (s.u. Nr. 2. e). (5) Die Freiheit der Grundsätze der Methodik verbürgt die Freiheit der Methodenanwendung, „den Staat" anhand öffentlich archivierter Schriftquellen methodisch zu untersuchen (s.u. Nr. 2. f). (6) Mit den Formulierungen „Freiheit von jeder Ingerenz" und „Abwehr jeder Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung ... wissenschaftlicher Erkenntnisse" 125 ist die Interpretation des BVerfG für einen „weiten", spezifisch schutzbereichsabhängigen Eingriffsbegriff offen. Eine vorstaatliche, „natürliche" Forschungsfreiheit wird nicht als Voraussetzung gedacht (s.u. V. 1. bis 3.). (7) Negatorische Abwehr-Ansprüche, die durch die grundrechtlichen Abwehransprüche gewährt werden, sind nicht auf ein bloßes Unterlassen beschränkt. Im Falle historischer Forschung mit - bereits vorhandenen Archivbeständen entspricht die Gewährung des Archivzugangs der Beseitigung staatlicher Eingriffs-Wirkungen auf den Prozeß der Erkenntnisgewinnung (s.u. V. 4. und 5.). 2. Wissenschaftliche Forschung mit öffentlichem und Forschungsfreiheit
Archivgut
a) Persönlicher Schutzbereich der Forschungsfreiheit Die Interpretationsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG und seiner Vorgängerbestimmungen hat nicht erst seit der Hochschulrechtsprechung des BVerfG 1 2 6 den Blick auf die individualrechtliche Autonomiegewährleistung zugunsten der institutionellen Betrachtung verstellt 127 . 124 Aus dem Begriff der „Eigengesetzlichkeit" folgt kein „Definitionsverbot" für die wissenschaftliche Forschung. Aus Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4, 93 Nr. 4 a GG ergibt sich die juristische Notwendigkeit eines zwingend „heteronomen", positiven verfassungsrechtlichen Wissenschaftsbegriffs, ohne daß auf diese Weise die „Autonomie" der Wissenschaft verletzt würde. Ein Rückgriff auf allgemeine Wissenschaftstheorien kann nur der Falsifikation dienen, aber nicht die verfassungsrechtlichen Definition ersetzen. Denn dadurch würde u.U. eine bestimmte Konzeption der Forschung für allgemeingültig erklärt. 125 BVerfGE 35, 112; E 90, 12.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
83
Der einzelne Wissenschaftler, der unabhängig von seinem gesellschaftlichen oder beruflichen Status wissenschaftlich-forschend tätig ist, ist j e d o c h bereits nach Auslegung des Wortlauts als Grundrechtsträger der Forschungsfreiheit nicht ausgeschlossen. Denn A r t . 5 Abs. 3 G G enthält nach seinem Wortlaut keine Einschränkung i n personeller Hinsicht, sondern stellt ausschließlich auf die Begriffe der Wissenschaft bzw. Forschung ab, die über die Begriffe der Hochschule u n d des institutionalisierten Forschungsbetriebes hinausgehen und den einzelnen Forscher zweifellos m i t umfassen. D u r c h diese Fassung w i r d gleichzeitig die E i n b i n d u n g des einzelnen Forschers i n einen „ k o l l e k t i v e n " Zusammenhang der wissenschaftlichen K o m m u n i k a t i o n herausgestellt. A u c h das Bundesverfassungsgericht betont i n seiner o . g . Entscheidung i m 90. B a n d der amtlichen Sammlung, daß A r t . 5 Abs. 3 G G „ n i c h t nur eine objektive Grundsatznorm für den Bereich der Wissenschaft" aufstellt. 126
BVerfGE 3, 58 (Stellung des Hochschullehrers); BVerfGE 15, 256 (265) („Gießenbeschluß", Rechtsstellung der Universität); BVerfGE 35, 79 (109 ff.) (Hochschulmitbestimmung); weitere Entscheidungen zu Universitätsgesetzen: BVerfGE 39, 247 (Nieders.); E 42, 242 (Hamburg); E 47, 327 (Hessen); E 51, 369 (Saarland); E 54, 363 (Baden-Württemberg); E 55, 37 (Bremen); E 56, 192 (BadenWürttemberg); E 57, 70 (Hessen); E 61, 210 (Nordrhein-Westfalen); BVerfGE 66, 178 (280); E 67, 20; E 67, 202 ff.; E, 81, 116. 127 Nach dieser Interpretationslinie ist Art. 142 WRV, Art. 5 Abs. 3 GG allein das „Grundrecht der deutschen Universität"; Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 173; Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 1927 S. 57 ff. A m Ende der Weimarer Zeit wurde Art. 142 W R V sogar rechtssystematisch aus dem Kreis der liberalen Freiheitsrechte ausgeschieden und als der kommunalen Selbstverwaltung entsprechende Organisationsnorm ausgelegt; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 142, Anm. 2; Anschütz, Reichs Verfassung, 14. Auflage, Kommentierung zu Art. 142 WRV Anm. 4 (S. 663). Die Auslegung verfolgte allerdings das Ziel, auch den Gesetzgeber wie bei den anerkannten „institutionalisierten" Justizgrundrechten der Art. 102 ff. W R V zu binden. Der objektiv-institutionelle Ansatz wurde unter dem Grundgesetz zunächst v.a. von Köttgen weitergeführt: Köttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, in: Nipperdey u.a. (Hrsg.), Die Grundrechte. Band 2, S. 310 ff. Auch Ridder und Stein vertraten 1962 die Ansicht, die Wissenschaftsfreiheit sei „ i m Gegensatz zur Meinungsfreiheit in erster Linie kein Individualgrundrecht, sondern eine institutionelle Garantie"; Ridder/Stein, Die Freiheit der Wissenschaft und der Schutz von Staatsgeheimnissen, DÖV 1962 S. 361 ff. (365 ff.). Einen ausschließlich institutionellrechtlichen Ansatz vertritt später v.a. Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979. Hailbronner konzipiert die Forschungsfreiheit als ein Sondergrundrecht für staatliche Amtsträger, die keine vorstaatliche individuelle Freiheitssphäre kenne (S. 75). Dies wird grammatischer und historischer Auslegung nicht gerecht (Häberle, AöR 111 (1986) S. 167). Bethge betont neuerdings wieder, daß Grundrechtsträger in erster Linie Universitätslehrer seien, deren eigenartiger Status darin liege, daß in einem öffentlichen Amt Aufgaben in „gekorener Grundrechtsträgerschaft" wahrgenommen werden; Bethge in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rz 207. *
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
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Das Grundrecht erschöpfe sich nicht „ i n einer auf wissenschaftliche Institutionen und Berufe bezogenen Gewährleistung der
Funktionsbedingungen
professionell betriebener W i s s e n s c h a f t " 1 2 8 . Der Vorrang der Garantie einer spezifisch i n d i v i d u e l l e n A u t o n o m i e des einzelnen Forschers ergibt sich aus der Entstehungs- und Auslegungsgeschichte des A r t . 5 Abs. 3 G G und der Vorgängerbestimmungen A r t . 142 Weimarer Reichs Verfassung ( W R V ) und Abschnitt V I . A r t . V I § 152 der Frankfurter Paulskirchenverfassung v o m 28. M ä r z 1 8 4 9 1 2 9 . Ungeachtet der objektiven Formulierung, wurde als Grundrechtsträger der m i t umfaßten Forschungsfreiheit v o n B e g i n n an stets der einzelne Forscher gesehen, d e m aufgrund der „Spitzenstellung" der Wissenschaft für gesellschaftlichen Fortschritt seit der A u f k l ä r u n g eine umfassende individuelle A u t o n o m i e i m Sinne einer säkularen Erkenntnisfreiheit als Gegenstück zur religiösen Bekenntnisfreiheit zugebilligt w u r d e 1 3 0 .
128
BVerfGE 90, 1 ff. (11). Letztere bestimmten, ohne die Modalität der Forschung eigens zu erwähnen, ebenfalls: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei." (erstmals im sogenannten Siebzehner Entwurf vom 26.04.1848). Bereits in den Beratungen der Paulskirche wurde betont, daß die Wissenschaftsfreiheit „objektiv und subjektiv aufzufassen sei" (W. A. E. Schmidt, Die Freiheit der Wissenschaft. Ein Beitrag zur Geschichte und Auslegung des Art. 142 der Reichsverfassung, S. 69 m.w.N.). Die Wissenschaftsfreiheit sei zwar aus Anlaß und im Zusammenhang mit der Verbeamtung der Professoren in Deutschland normiert worden, weil diese des besonderen Schutzes gegenüber ihren Dienstherren bedurften. Daraus folge aber nicht, daß die Wissenschaftsfreiheit auf diese beschränkt werden sollte; vgl. auch die Stellungnahmen des Grundsatzausschusses des Pari. Rates zum GG (JöR 1 S. 89 ff.), die sämtlich von einem individualrechtlichen Charakter ausgehen. Zur Entstehungs- und Interpretationsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG: Lüthje in: Denninger (Hrsg.), Hochschulrahmengesetz, Kommentierung vor § 3 HRG, Rz 1-12; Schmidt S. 23-92; Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Der Staat 1991 (30) S. 19 ff., S. 37 ff.; Zwirner, Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, AöR 1973 (98) S. 313 ff. 129
130 Die programmatische Aufforderung der Aufklärung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" richtet sich gerade an den Einzelnen, der Hergebrachtes in Frage stellen soll. Art. V I § 152 der Paulskirchenverfassung geht über die Vermittlung des Art. 17 der Belgischen Verfassung von 1830 („L'enseignement est libre.") zurück auf Art. 1 des revolutionären französischen Schuldekrets vom 19.12.1793 (29. Frimaire). Dieses fußt auf Vorarbeiten von Condorcet, der vom Gedanken politischer Aufklärungs beflügelt die funktionale Beziehung wissenschaftlicher Forschung zu politischem Fortschritt in den Vordergrund gestellt hatte: „Enfin, aucun pouvoir public ne doit avoir ni l'autorite, ni meme le credit, d'empecher le developpement des verites nouvelles, l'enseignement des theories contraires ä sa politique particuliere ou ä ses interets momentanes" (in: Begründung zum Verfassungsentwurf vom 21.04.1792 für das Comite d'instruction der Assemblee Nationale = Rapport et projet de decret sur 1'organisation generale de 1'instruction publique, präsentes ä 1' Assemblee Nationale. Paris 1792); dazu Schmidt S. 42.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Die individuelle Autonomie einschließlich der Verbreitung der Ergebnisse war Zielfunktion der Weimarer Diskussion um die „institutionelle" und „kollektive" Seite der Wissenschaft: diese zielte gerade auf die Stärkung der individuellen Freiheit ab, da nach damaligem Verfassungsrecht der Gesetzgeber mangels normativer Geltung der Grundrechte allein an verfassungsrechtliche „Institute" gebunden sein konnte 1 3 1 . Der Forschungsfreiheit als institutionell eingebundener akademischer Freiheit kommt nach der Entstehungs- und Auslegungsgeschichte daher nur eine Hilfs- und Rahmenfunktion zur Sicherung des individuellen Erkenntnisprozesses z u 1 3 2 . Historisch und systematisch an erster Stelle steht die Forschungsfreiheit als individuelles Freiheitsrecht für alle im Bereich der Wissenschaft schöpferisch tätigen Personen 133 . Zu demselben Ergebnis führte auch die Interpretation des dem Art. 142 WRV entsprechenden Art. 17 des österreichischen Staatsgrundgesetzes (ÖStGG) vom 21.12 1867 1 3 4 . Dementsprechend kann sich auch der private Amateurforscher, der Student, der Familien- und Heimatforscher grundsätzlich auf die Privilegierungsmöglichkeiten der Archivgesetze für wissenschaftliche Forschung berufen, soweit er im einzelnen darzulegende methodische Mindestanforderungen erfüllt. Auf seine institutionelle Einbindung kommt es grundsätzlich nicht an. Dabei ist bereits der bloße Umstand der Archivarbeit als disziplintypische Methode historischer Forschung ein Indiz für Wissenschaftlichkeit. Abgrenzungprobleme und Überschneidungen mit außerwissenschaftlicher, etwa journalistischer Neugier lassen sich zwar nicht ausschließen; sie sind aber durch den Wortlaut und die Systematik des Art. 5 GG vorgegeben.
131
Smend S. 58, 71; Schmidt S. 111, 126 ff. Scholz vertritt neuerdings die Ansicht, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. GG sei ausschließlich ein liberales Freiheitsrecht und kein „soziales" Grundrecht. Es verbinde sich objektivrechtlich mit dem kulturstaatlichen Förderauftrag und begründe so subjektive Ansprüche auf Teilhabe an und Sicherung von bestehenden Einrichtungen; Scholz in: Maunz/Dürig GG Art. 5 Abs. 3 Rz 118 f. 133 Waechter S. 35 ff.; Schmidt S. 34 ff.: Anlaß zur Neugründung der Universitäten in Halle (1711) und Göttingen (1737) war es, einen Freiraum für die individuelle libertas philosophandi zu schaffen, der „außerhalb", im Ständestaat nicht bestand. 134 Nach Art. 17 ÖStGG wird die Forschungsfreiheit ausschließlich als ein individuelles Jedermann-Grundrecht angesehen. Der österreichische Verfassungsgerichtshof geht von zwei selbständigen Grundrechten mit verschiedenen Grundrechtsträgern aus: der „Wissenschaftsfreiheit", die die Forschungsautonomie umfaßt, und der „Lehrfreiheit". Ermacora, Die Freiheit der Wissenschaft in Österreich, EuGRZ 1978 (4) S. 335 ff.; Welan, Wissenschaftsfreiheit und Zugang zu gerichtlichen Rechtsmittelentscheidungen, ÖJZ 1986 (21) S. 641 ff.; Wielinger, Die Freiheit der Wissenschaft in Österreich, EuGRZ 1982 (9) S. 289 ff. 132
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
b) Forschungsfreiheit der Archivare Da öffentliche Archivare nach Ausbildung und Tätigkeit selbst als wissenschaftliche Forscher in Betracht kommen, stellt sich die Frage, ob und inwieweit der Archivar selbst sich auf die Freiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG berufen kann. Es ist heute grundsätzlich anerkannt, daß der Wissenschaftler nicht schon deshalb grundrechtlichen Schutz verliert, weil er seiner Forschungstätigkeit in einer außeruniversitären, staatlichen Einrichtung nachgeht 135 . Umgekehrt kann ein wissenschaftlich tätiger Archivar nach dem Beamtenrecht grundsätzlich keinen grundrechtlichen Schutz beanspruchen, soweit er staatliche Aufgaben als „staatliches Organ" wahrnimmt. Aus beamtenrechtlicher Sicht käme ein Grundrechtsschutz nur dann in Betracht, wenn ausnahmsweise eine „private" Forschungstätigkeit des Archivars bei Gelegenheit seiner Amtsaufgaben vorliegen sollte, die das Grundverhältnis bzw. Außenverhältnis berührt 1 3 6 . Geht man jedoch davon aus, daß der beamtete Hochschullehrer als „gekorener Grundrechtsträger in Ausübung eines öffentlichen Amtes" sogar in erster Linie als Grundrechtsträger in Betracht kommt, spricht prinzipiell nichts dagegen auch dem öffentlichen Archivar eine vergleichbare Stellung zuzubilligen. Im Ergebnis dient die damit gewonnene Unabhängigkeit der optimalen Erfüllung der öffentlichen Archivaufgaben. Soweit das Bundesarchiv und die Staatsarchive der Länder Aufgaben von Ressortforschungseinrichtungen wahrnehmen und dementsprechend als solche anzusehen sind, kommt ein Grundrechtsschutz der Archivare nach neuer Ansicht in Betracht. Köstlin erkennt einen Mindestgrundrechtsschutz der wissenschaftlichen Mitarbeiter von Ressortforschungseinrichtungen gemäß Art. 5 Abs. 3 GG im Rahmen der verfassungsimmanenten Schranken an. Ein Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit, der die Ziele, Methoden und Ergebnisse als solche umfaßt, läßt sich nach Köstlin in keinem Fall einschränken. Zu den Schranken zählt er die Funktion und Bindung des Anstellungsverhältnisses nach Art. 12, 33 Abs. 4, 5 GG und die Funktionsfähigkeit der Forschungseinrichtung 137 . Weder die Archivleitung noch andere, auch vorgesetzte Behörden dürften dem Archivar bei seiner spezifisch wissenschaftlichen Tätigkeit Vorgaben über das zu erzielende Ergebnis oder die dabei zu benutzenden Methoden 135 Köstlin, Abschnitt „Ressortforschung" in: Flämig u.a. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Band II, Kapitel 53, S. 1365 ff., S. 1375 m.w.N.; BVerfGE 35, 79, (114 ff., 120 ff.). 136 Stern, Staatsrecht I I I / l S. 1386; Herzog in: Maunz/Dürig GG Art. 5 Abs. 1 Rz 107. 137 Köstlin S. 1375 f.; ebenso Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 109, S. 348 ff.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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machen. Im Kern ist damit auch der Schutz der archivarischen Bewertungskompetenz umfaßt. I m einzelnen zeichnen sich hier komplizierte Abgrenzungsfragen zur öffentlichen Aufgabenerfüllung ab, die nur differenzierend durch Einzelfallabwägung gelöst werden können 1 3 8 : Die Wissenschaftsfreiheit der Archivare wird um so stärker zurückgedrängt, je stärker die Archivtätigkeit administrative Hilfsfunktion zu exekutiven oder legislativen Aufgaben ist. Je mehr die wissenschaftliche Tätigkeit in den Vordergrund tritt, desto eher muß die wissenschaftliche Autonomie auch der Archivare geachtet werden. Dies wirkt sich auch auf die Anforderungen an die Archivorganisation und die Stellung des Archivs gegenüber der Ausgangsbehörde aus. Insofern berührt sich die subjektive Wissenschaftsfreiheit der Archivare mit den organisationsrechtlichen Anforderungen, die sich aus der objektivrechtlichen Dimension im Interesse der Voraussetzungssicherung unabhängiger historischer Forschung und des Datenschutzes ergeben. Diese drängen ebenso wie das o.g. Prinzip der Nichtidentifikation („Neutralität") auf eine zumindest partielle organisatorische Eigenständigkeit und Freiheit von Weisungen einer Oberbehörde. c) Wissenschaftliche Archivrecherche als bloße „Vorarbeit"? Nach einer zuerst von Köttgen vertretenen sogenannten „Kernbereichsauffassung" zu Art. 5 Abs. 3 GG werden die hier relevanten Tätigkeiten historischer Quellensammlung und Archivforschung als bloß „materialsammelnde Vorarbeiten im Zubringerbereich" bereits aus dem Normbereich des Art. 5 Abs. 3 GG ausgeschlossen. Nach Köttgen könne Forschung als „gegenständlich irgendwie abgegrenzter Handlungsabschnitt ... nicht ohne Anfang und Ende gedacht werden." Art. 5 Abs. 3 GG sei für die Forschungsfreiheit angesichts ihrer „Vörbehaltlosigkeit" auf die „eigentlichen Forschungsvorgänge", einen gegenständlich abgegrenzten „Kernbereich" unter Ausschluß „bloßer Vorarbeiten" zu beschränken. Zu den nicht vom Kernbereich umfaßten Vorarbeiten zählte Köttgen auch das Sichten, Sammeln, Systematisieren und Dokumentieren von Quellen 1 3 9 . Auch der niedersächsische Disziplinarhof stellt unter direkter Bezugnahme auf Köttgen fest, daß die Veröffentlichung und verlegerische Heraus138
Köstlin S. 1376. Köttgen S. 297 f. Waechter interpretiert Köttgen zurückhaltender: mit „Vorarbeiten" habe er nur das Beschaffen und Hantieren mit finanziellen und materiellen Hilfsmitteln und Materialien gemeint. Daß die Recherche den Forschungsgegenstand selbst, die Fragestellung und Methode beträfe, habe Köttgen nicht verkennen können. Waechter S. 45 Fn 120. 139
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
gäbe von Quellentexten vom verfassungsrechtlichen Wissenschaftsbegriff deswegen nicht erfaßt sei, weil „die Quelle lediglich ein Vorprodukt, ein Arbeitsmaterial" für „eigentliche wissenschaftliche Betätigung" sei 1 4 0 . Auch bei der zitierten Entscheidung des V G H München (Passau-Urteil) ist die Prämisse von der Archiv- und Quellenarbeit als nicht geschützter bloßer Vorstufe des eigentlichen wissenschaftlichen Arbeitens erkennbar. Archivrecherche, mithin ein wesentlicher Bereich historischer Forschung, bliebe so aus dem Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 GG ausgeklammert 141 . Demgegenüber hat bereits Walter Schmidt zu Art. 142 WRV betont, daß „die nach wissenschaftlichen Prinzipien erfolgende Materialsammlung und Vorarbeit" Wissenschaft sei, und daß „alle intellektuellen Operationen in einem solchen Zusammenhang zur Wissenschaft" gehörten 142 . Nach Schmitt Glaeser ist die Unterscheidung eines „irgendwie abgeschlossenen" Kernbereichs wissenschaftlicher Forschung vom Zubringerbereich der Materialsammlung im Ansatz verfehlt und „verfassungsrechtlich irrelevant". Gerade im Bereich der Forschungsquellen sei in besonderem Maße der Gefahr quantitativer und qualitativer Begriffsbeschneidung zu begegnen. Dies erfordere der „offene Wissenschaftsbegriff 4 des Art. 5 Abs. 3 GG bzw. der als „Verfahrensbegriff verstandene Normbereich" 1 4 3 . Die ausgewählten Literaturstimmen, die sich mit Fragen des Archivzugangs beschäftigen, zählen die Archivrecherche offenbar nach „natürlichem" Vörverständnis zum Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 G G 1 4 4 . Die Besonderheit der Forschungstätigkeit liegt darin, daß sie sich zwar aus der Rückschau vom Ergebnis her als zusammenhängender Prozeß, als „organisches" Ganzes begreifen läßt, aber ex ante in den verschiedenen Phasen der Arbeit eine Vielzahl sehr heterogener Tätigkeiten umfaßt. Es ist dabei augenfällig, daß sich Themenwahl und Quellenlage gegenseitig beeinflussen und voneinander abhängen (Interdependenz von Quellenlage und
140 NJW 1986 S. 1278 ff. (Mitherausgabe subjektiv gefärbter Memoiren über Adolf Hitler). 141 Heydenreuther, Datenschutz und Wissenschaftsfreiheit. Historische Forschung in Kommunalarchiven, CuR 1988, 241 ff. 142 Schmidt S. 116 Fn 5. 143 Schmitt Glaeser in: Eser/Schumann (Hrsg.), Forschung i m Konflikt mit Recht und Ethik, S. 79. 144 Gallwas, Der Archivar 39 (1986) Sp. 313 ff. (319); ders., Das Persönlichkeitsrecht als Grenze menschlicher Neugier, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 31 ff. (38); Berg, CuR 1988, 234 ff. (237); ders., JöR 33 (1984) S. 71 ff.; Heydenreuther, CuR 1988 S. 241 ff. (243); Wyduckel, DVB1. 1989 S. 327, 335; Oldenhage, Archive im Konflikt zwischen Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsrechtsschutz, in: Akademiebeiträge, S. 11 ff.; Morsey, Einschränkungen historischer Forschung durch Datenschutz?, ebd. S. 61 ff.
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Forschungsthema). Die Datensichtung und -Sammlung ist mit der Wahl des Forschungsgegenstandes verbunden. Die Quellenlage entscheidet wesentlich über die Wahl der wissenschaftlichen Methoden und die Vorgehensweise im Einzelfall. Die Wahl des Forschungsgegenstandes und der wissenschaftlichen Methode gehören aber zum Kernbestand des Freiheitsrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG. Oftmals führt die Sichtung von Archivmaterial unter ganz anderen Gesichtspunkten zu einem schließlich fruchtbaren Forschungsansatz auf anderen Gebieten 145 . Von der Erregung der Neugier für ein bestimmtes Thema, über die Entwicklung der Fragestellung, die sich im übrigen im Laufe der Beschäftigung mit einem Thema ändern kann, über die Methodenwahl, die abhängig von der Fragestellung ebenfalls Änderungen unterliegt, über die im Falle der Geschichtswissenschaft entscheidende Ermittlung der Quellenlage und die darauf folgende Auswahl der tatsächlich zu untersuchenden Quellen und deren eigentliche Auswertung und Deutung bis zu einem - mitunter nur erhofften - Ergebnis und dessen Publikation liegt aus verfassungsrechtlicher Sicht ein einheitlicher forschungsspezifischer Prozeß vor; ein Ergebnis, das durch die allgemeine Wissenschaftstheorie (Empirismus, kritischer Rationalismus) gestützt w i r d 1 4 6 . Das Konzept der Forschungsfreiheit als „Verfahrensbegriff' und „offener" Grundrechtstatbestand versucht diesem Umstand der maßgeblich außerrechtlich bestimmten Offenheit des Lebenssachverhaltes „Wissenschaft" Rechnung zu tragen, indem der Prozeß als solcher in seiner Gesamtheit aufgrund seiner „Eigengesetzlichkeit" von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt wird. Wissenschaftliche Forschung ist prinzipiell unabgeschlossen147. Dieser offene Wissenschaftsbegriff entfaltet seine Schutzwirkung grundsätzlich vom ersten Arbeitsschritt an, mit dem ein Forschungsbemühen in die Tat umgesetzt wird. Der als Verfahrensbegriff verstandene verfassungsrechtliche Begriff der Forschungsfreiheit läßt eine zeitlich-räumliche Einschränkung auf einen Kernbereich, aus dem „Vorarbeiten", der „Zubringerbereich" oder die „Materialsammlung" a priori ausgeschlossen sein sollen, nicht zu. Die
145
Das Beispiel des italienischen Mitbegründers der genetischen Forschung und Begründers der ,3evölkerungsgenetik" Cavalli-Sforza (Stanford) mag diesen „chaotischen" Zusammenhang illustrieren: durch Zufall stieß er auf bis dahin „geheime" kirchliche Archivbestände zur Blutsverwandtschaft italienischer Familien, die ihn zu einer breit angelegten Forschung über die genetische Entwicklung der italienischen Bevölkerung seit dem 16. Jahrhundert anregten und schließlich zu einem Zusammenhang mit der Sprachentwicklung führten, der wiederum Linguisten langersehnte Antworten auf bestimmte Lücken in der Genese der Sprachfamilien zu beantworten half. Vgl. dazu: Interview mit Cavalli-Sforza im FAZ Magazin Nr. 37 1995, S. 39 ff. 146 Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, S. 89 ff. m.w.N. 147 Berg, JöR 33 (1984), S. 71 ff. (89); BVerfGE 35, 79 (113).
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„Kernbereichsauffassung" verstößt gegen den Schutzzweck des Freiheitsrechts, der eine Beschränkung der gewährleisteten Freiheit durch die Bestimmung ihres materiellen Inhalts verhindern w i l l und läuft auf einen Verstoß gegen das Verbot „staatlichen Wissenschaftsrichtertums" hinaus, das Art. 5 Abs. 3 GG nach allgemeiner Ansicht verhindern s o l l 1 4 8 . Der Grund für die restriktive, die Forschungsfreiheit aus heutiger Sicht sinnwidrig beschneidende Interpretation lag in der bis etwa Mitte der 70er Jahre ungeklärten Schrankensystematik zu Art. 5 Abs. 3 GG. Ausgangspunkt der Überlegungen war die „Schrankenlosigkeit" des Art. 5 Abs. 3 GG, der als „ohne jede Einschränkung gewährt" angesehen wurde. Hervorhebenswert ist dieser Umstand deswegen, weil deutlich wird, daß nach seinem „natürlichen" Vorverständnis der Bereich der Vorarbeiten und Materialsammlung zu wissenschaftlicher Forschung gezählt wurde, aber als Folge der ungeklärten Schrankenfrage aus normativen Zweckmäßigkeitserwägungen (teleologische Reduktion) aus dem Schutzbereich herausgenommen werden sollte. Im Ergebnis ist die Archivrecherche, sind das Suchen, Sammeln, Systematisieren, Auswerten etc. von Daten in öffentlichen Archiven vom Begriff der Forschung des Art. 5 Abs. 3 GG umfaßt. d) Die Eigengesetzlichkeit der Geschichtswissenschaft und ihrer spezifischen Methoden Das BVerfG spricht vom Schutz der auf „wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse" 149 . Mit dem Begriff der Eigengesetzlichkeit ist keine allgemein-abstrakte Eigengesetzlichkeit eines irgendwie institutionell betrachteten Wissenschaftsbereiches gemeint. Gemeint ist auch nicht eine abstrakte wissenschaftstheoretische Eigengesetzlichkeit, die auf andere Forschungsdisziplinen als normativer Maßstab übertragen werden soll. Beschreibungsversuche der allgemeinen Wissenschaftstheorie und -Soziologie können bestenfalls Indizien und Hilfsmittel der Falsifikation, aber keinesfalls verfassungsrechtlich verbindlich sein. Wissenschaftstheorien sind nur Ausdruck selbständiger Forschung einer „Metawissenschaft" 150 . 148 Damit wird nicht der Auffassung gefolgt, die ein Definitions verbot fordert. Genügende Einschränkung erfährt der Schutzbereich durch die im Ansatz formalen, allgemein anerkannten Kriterien der Ernsthaftigkeit und Planmäßigkeit des Erkenntnisstrebens. Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. 3 Rz. 25, 88. 149 BVerfG a.a.O. 150 Freundlich und Dickert gehen daher bereits im interpretatorischen Ansatz fehl: Freundlich, Wissenschaftsfreiheit und Bundesverfassungsgericht, S. 90 ff.; Dikkert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 123 ff. Vgl. insbes. BVerfGE 90, 1 (12): „Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG schützt nicht eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie. Das wäre mit der prinzi-
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Aus dem Zusammenhang mit dem oben geschilderten Verfahrensbegriff der Forschungsfreiheit wird deutlich, daß in erster Linie die konkrete Eigengesetzlichkeit der jeweils betroffenen Wissenschaftsdisziplin, die sich durch ihre spezifischen Methoden von anderen Disziplinen abgrenzt, maßgeblich sein muß. Mit der Hervorhebung der Geschichte der Wissenschaften durch das Bundesverfassungsgericht ist ein Bekenntnis zur Bedeutung der Wissenschafts- und Forschungsdisziplinen und ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit verbunden. Die anerkannten Forschungsdisziplinen, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben, und ihre typischen Forschungsobjekte und eigenen Methoden, die stets auf den Grundsätzen der Methodenbewußtheit, der Nachprüfbarkeit und der Quellentransparenz fußen, werden so zu Strukturelementen des Normbereichs 151 . Die Forschungsfreiheit kann insofern als „Anknüpfungsbegriff* bezeichnet werden, weil zur Bestimmung des Schutzbereiches vorrangig an die eigengesetzlichen Methoden einer bestimmten Forschungsdisziplin anzuknüpfen i s t 1 5 2 . Die historische Forschung ist als eigenständige wissenschaftliche Disziplin in ihrer Entstehung untrennbar mit der Öffnung der staatlichen Archive verknüpft. Sie ist nach einhelliger Ansicht der Historiker weder in ihrem historisch gewachsenen konkreten Erscheinungsbild, das der Auslegung zugrunde zu legen ist, noch im konkreten Fall ohne die Arbeit mit öffentlich archiviertem Schriftgut denkbar. Nimmt man den Begriff der Eigengesetzlichkeit also ernst, ist die wissenschaftliche Arbeit mit öffentlichem Archivgut und der Archivzugang originär vom Schutzbereich des Freiheitsrechts umfaßt und keine bloß „vorgelagerte" Ausübungs-Voraussetzung. Methodisch handelt es sich bei dieser Auslegung um einen Fall der „gattungstypischen Konkretisierung", wie sie Friedrich Müller für die Forschungsfreiheit vorgeschlagen hat. Danach gehören Tätigkeiten dann zum Schutz- oder Normbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. „ . . . wenn sie ihrer
piellen Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit unvereinbar ... Auffassungen, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben, bleiben der Revision und dem Wandel unterworfen. Die Wissenschaftsfreiheit schützt daher auch Mindermeinungen sowie Forschungsansätze und Ergebnisse, die sich als irrig oder fehlerhaft erweisen. Ebenso genießt unorthodoxes oder intuitives Vorgehen den Schutz des Grundrechts: Voraussetzung ist nur, daß es sich um Wissenschaft handelt; darunter fällt alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist". 151 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 20, 86 ff. 152 Mallmann/Strauch, Die Verfassungsgarantie der freien Wissenschaft als Schranke der Gestaltungsfreiheit des Hochschulgesetzgebers. Rechtsgutachten erstattet im Auftrag der Westdeutschen Rektorenkonferenz, 1970, S. 4 f.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Gattung nach notwendig und unmittelbar zu den typischen Erscheinungsformen des Wissenschaftsprozesses gehören" 153. Für die Archivrecherche läßt sich empirisch ohne weiteres sagen, daß sie für die historische Forschung gattungsspezifisch ist und zu deren typischen Erscheinungsformen gehört 1 5 4 . Für die Geschichtswissenschaft als „Gattung" ist dabei zu betonen, daß wegen der traditionell zentralen Stellung des „Staates" und seiner Erscheinungen und Organe als Objekte historischer Forschung die Arbeit mit öffentlich archivierten Quellen für die historische Forschung unverzichtbar ist. Sie gehört sowohl in der Entstehung der historischen Forschungsdisziplin, als auch im juristischen Sinne zu den konstitutiven Wissenschaftsmerkmalen. Die Entstehung und Verselbständigung der Geschichtswissenschaft gegenüber der Philosophie beruhte insbesondere auf der Entwicklung einer eigenständigen Quellenkritik und der gleichzeitigen Verfügbarkeit von öffentlich archiviertem historischem Schriftgut. Insofern zählt die Öffnung der Archive für die historische Forschung zu den Entstehungsvoraussetzungen der Geschichtswissenschaft als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin. Die Archivrecherche ist als disziplintypische, wissenschaftskonstituierende Methode als Indiz für Wissenschaftlichkeit zu weiten, das im Antragsverfahren zu einer Verschiebung der Begründungslast auf die Behörde führen kann: diese müßte begründen, warum ausnahmsweise trotz der geplanten, methodischen Archivrecherche keine wissenschaftliche Nutzung im Einzelfall vorliegt. Darüber dürfte die Art der geplanten Publikation in aller Regel Auskunft geben. e) „Keine Sonderrolle des Staats" als Forschungsobjekt Als zunächst noch im Innenbereich liegender Vorgang, bei dem keine Beeinträchtigung fremder Rechtspositionen anderer denkbar ist, genießt die Freiheit der Fragestellung absoluten Schutz; sie wird vom effektiven Garantiebereich umfaßt. Die „Freiheit der Fragestellung" bedeutet Freiheit der Wahl des Forschungsgegenstandes. In diesem Sinne ist die Forschungsfreiheit Freiheit der Forschungsgegenstände. Diese sind prinzipiell nicht begrenzbar 155 .
153 F. Müller, Die Positivität der Grundrechte. S. 64, 74, 88, 93, 99 ff. Die „sachspezifisch nicht geschützten Formen der Grundrechtsaktualisierung" sollen nach Müller nach dem Maßstab der „Austauschbarkeit" festgestellt werden. Es bleibt die Frage, wer außer dem Forscher selbst letztverbindlich über die „Austauschbarkeit" entscheiden kann und soll. 154 Heydenteuther, Datenschutz und Wissenschaftsfreiheit. Historische Forschung in Kommunalarchiven, CuR 1988 S. 124, 129; Groß, Die Überlieferungssicherung der Archive in ihrer Bedeutung für die demokratische Gesellschaftsordnung, Der Archivar 47 (1995) Sp. 17; Mayen S. 94, 174 f.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Insbesondere sind auch der Staat und seine Einrichtungen Gegenstände freier Forschung. Die historische Forschung ist frei in der Auswahl der historischen Epoche und Vorgänge, die zum Ausgangspunkt und Gegenstand einer historischen Untersuchung gemacht werden sollen. Dabei ist zu bedenken, daß das Forschungsobjekt „Staat" in seinen denkbaren Erscheinungsformen im Sozial- und Interventionsstaat extrem an Bedeutung zugenommen hat. Die sprachlich objektivierte Singularbegriffs Freiheit „der Wissenschaft" wurde, wie sich aus den Unterlagen zur Verhandlung der Paulskirchenverfassung ergibt, gerade gewählt, um den gesamten Bereich der Wissenschaften, vor allem auch die Geisteswissenschaften und nicht nur die nach damaliger Ansicht - scheinbar - politisch neutralen Naturwissenschaften zu erfassen: Dahlmann schlug die Fassung „Freiheit der Wissenschaft" vor, weil er eine Rede des preußischen Kultusministers gehört hatte, der behauptete, nur in den Naturwissenschaften könne diese Freiheit sein, in anderen Richtungen müsse sie sich bestimmten Normen unterordnen. Damit waren namentlich die Geschichte, Soziologie und Theologie gemeint 1 5 6 . Es sind also auch nach historischer Auslegung gerade auch diejenigen Wissenschaften geschützt, die sich mit dem Staat und seinen Erscheinungsformen sowie der „Gesellschaft" beschäftigen. Wenn das BVerfG anmerkt, der Staat könne keine „Sonderrolle im Wissenschaftsbetrieb" für die Forschung spielen 1 5 7 , darf diese ausschließlich für den institutionellen Bereich der Hochschuleinrichtung geltende Argumentation nicht auf die abwehrrechtliche Funktion der Forschungsfreiheit übertragen werden. Das hieße sowohl das Urteil als auch die Forschungsfreiheitsgewährleistung mißverstehen. Das Argument, solange noch andere außerstaatliche Forschungsgegenstände und entsprechende Quellen verfügbar seien, sei die historische Forschungsfreiheit - in ihrem Bestand- nicht berührt, ist erkennbar auf den objektiv-institutionellen Bereich des Teilhaberechts, auf historische Forschung als „Institut" beschränkt: Der Staat darf in der Tat für die historische Forschung insofern keine „Sonderrolle" spielen, als es um ein subjektives „Leistungsrecht" auf Gewährung öffentlicher Mittel zur Forschungsförderung geht 1 5 8 . 155 Berg, JöR 33 (1984) S. 89 Fn 71 m.w.N. aus der Wissenschaftssoziologie; Gallwas, CuR 1986 S. 837; Thieme, Deutsches Hochschulrecht, S. 76 m.w.N. 156 Aufzeichnungen Droysens, in: Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung aus dem Nachlaß von Johann Gustav Droysen, hrsg. von Rudolf Hübner, S. 105; vgl. W. A. E. Schmidt S. 65. 157 BVerfG NJW 1986 S. 1243 f. 158 Das Argument war auch deswegen ausschließlich im Bereich der leistungsrechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG tauglich, weil andernfalls die jeweilige
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Im Bereich des Abwehrrechts des Art. 5 Abs. 3 GG lautet die zwingende Folgerung, daß „der Staat" und seine Erscheinungsformen, wie sie u.a. in öffentlichen Archiven stets dokumentiert sind, ein ebenso zulässiges Forschungsobjekt wie jede andere Erscheinung der Welt außerhalb des Staates sind159 f) Die Freiheit der Anwendung historischer Methoden Die „Freiheit der Grundsätze der Methodik" gehört nach dem BVerfG zum Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Die Methode ist das Erkenntnismittel des Forschers, das als allgemein anerkanntes, wesentliches Kriterium der Wissenschaftlichkeit den Schutzbereich konstituiert 160 . Die Freiheit der Themenwahl und Fragestellung präjudiziert für die geschichtswissenschaftliche Forschung die Auswahl der Quellen und bestimmt so über die anzuwendende Methode mit. Die Einschränkung auf „Grundsätze" der Methodik kann nicht bedeuten, daß allein die MethodenwaW geschützt ist, ohne dabei ihre Anwendungsmodalitäten zu umfassen. Die Forschungsfreiheit ist nicht die Freiheit des „reinen Philosophen", des „forum internum" 1 6 1 . Die Methodenwahl ist nicht nur als solche „abstrakt", außerhalb und ohne Rücksicht auf ihre Anwendung geschützt. Dies folgt aus der „offenen" Konzeption der Forschungsfreiheit als „Verfahrensbegriff 4 und ist eine Formulierung des Forschungsthemas unmittelbar darüber bestimmte, ob ein „Informationsmonopol" des Staates, mit der Folge eines Informations(leistungs)anspruches besteht oder nicht; s. o. II. 159 Bereits Schmidt fordert die „Freiheit der Forschungsgegenstände" und „Erkenntnisquellen". Der Zugang zu den Erkenntnisquellen dürfe niemals im Hinblick auf aus ihr zu erwartende mißliebige Erkenntnis Wirkungen gestaltet werden; Schmidt S. 117. Vgl. auch Mayen S. 51. 160 Grundlegend für den Methodenbegriff in der modernen Wissenschaftsgeschichte ist Rene Descartes programmatische Schrift, Discours de la methode pour bien conduire la raison, et checher la verity dans les sciences (Leyden 1637), Philosophische Bibliothek, Hamburg 1960; „Regel Nr. 4: Notwendig zur Erforschung der Wahrheit ist eine Methode". 161 Die Unterscheidung von forum internum und forum externum als Werk- und Wirkbereich ist für den Bereich des Datenschutzes und der Archivarbeit nicht brauchbar, da Rechte Dritter gerade allein durch die Kenntnisnahme im Archiv berührt werden können; also im Werkbereich oder forum internum. Die Differenzierung von Werk- und Wirkbereich trägt allerdings dem Charakter der Forschungsfreiheit als „Kommunikationsgrundrecht" Rechnung. Wissenschaftlichen Forschung zeichnet sich in Abgrenzung zur intimen Spekulation dadurch aus, daß sie ihre Ergebnisse als Erkenntnisse eines auch von anderen nachvollziehbaren und nachzuvollziehenden Denkprozesses zur Diskussion stellt. Dies geschieht üblicherweise durch Publikation; Waechter S. 19, 33 ff.
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3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
Folge der vom Bundesverfassungsgericht betonten Eigengesetzlichkeit. Die „Freiheit der Grundsätze der Methodik" verbürgt die Freiheit der Wahl und Anwendung der gattungs- bzw. disziplintypischen Methode, jedenfalls soweit sie Voraussetzung der Wissenschaftlichkeit ist. Geschichtswissenschaftliche Forschung ist vor allem Quellenforschung: Quellenforschung gehört - dies läßt sich für alle Bereiche der Zeitgeschichte ohne Einschränkung sagen - zum wissenschaftskonstituierenden Merkmal historischer Forschung. Das bedeutet, daß ohne die Verwendung systematisch ausgewählter Originalzeugnisse in Abgrenzung zu Sekundärquellen der Literatur einer Arbeit nach allgemeiner Auffassung der beteiligten Kreise der Charakter der Wissenschaftlichkeit fehlt. Dazu zählt typischerweise die Arbeit in öffentlichen Archiven mit öffentlichem Archivgut. 3. Juristische Forschung und der Zugang zu Gerichtsentscheidungen, Verwaltungsvorschriften,
etc.
An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit der juristischen Forschung an: Der Zugang zu richterlichen Entscheidungen ist für die juristische Forschungsfreiheit von vergleichbarer Bedeutung wie der Zugang zu öffentlich archivierten Quellen für die historische Forschung. Der Richterspruch ist Erkenntnisquelle zur Erkenntnis der Rechtsordnung und als anerkanntes Richterrecht eine wesentliche Rechtsquelle. Insofern ist ihre Veröffentlichung bereits normative Geltungsvoraussetzung 162 . W i l l der Jurist als rechtswissenschaftlicher Forscher eine Frage den Anforderungen an die methodentypische Wissenschaftlichkeit genügend bearbeiten, kommt er ohne den Zugang zu den etwaigen Rechtsquellen, insbesondere auch einschlägigen Gerichtsentscheidungen nicht aus. Verwehrte der Staat dem Rechtswissenschaftler den Zugang zu gerichtlichen Entscheidungen oder die Einsicht in nicht veröffentlichte Binnennormen, Verwaltungsvorschriften und Richtlinien, beschnitte er zielgerichtet (final) die Forschungsfreiheit des Rechtswissenschaftlers, nicht „bloß faktisch" im Sinne der „objektiv regelnden Tendenz" des herrschenden Eingriffsbegriffs. Juristisch-wissenschaftliche Tätigkeit ist lediglich eindeutiger und unmittelbarer, aber ebensowenig ausschließlich auf staatliche Erkenntnisquellen hin ausgerichtet, wie historische Forschung, deren Forschungsfeld weiter ist. Die Unterschiede dieser Hinordnung der Rechtswissenschaft auf Rechtsquellen, der historischen Forschung auf die in öffentlichen Archiven aufbewahrten historischen Quellen sind lediglich graduell 1 6 3 . 162 BVerwG NJW 1997 S. 2694 (Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen). Insofern unterscheidet sich der Begriff der „Rechtsquelle" von dem allgemeineren der wissenschaftlichen Quelle.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
4. Zwischenergebnis Die disziplintypische Besonderheit der historischen Forschungsfreiheit ist ihre entstehungsgeschichtliche und konkrete, methodische Verschränkung mit den öffentlichen Archiven: Ohne historische Forschung gäbe es kein öffentliches Archivwesen, ohne öffentliches Archivwesen keine historische Forschung, weder als Disziplin („Institut") noch konkrete Forschungsvorhaben. Dieses Verhältnis von historischer Forschung und Archivnutzung wird verkannt, wenn die erstrebte Rechtsfolge des „Quellenzugangsrechts" aus Art. 5 Abs. 3 GG zu Beginn der Prüfung als sogenannter „Informationsanspruch" und daher staatliche Leistung charakterisiert wird, auf den „die" Grundrechte als Abwehrrechte a priori keinen Anspruch gewähren könnten. Der Zugang zu öffentlich archiviertem Archivgut zu wissenschaftlichen Forschungszwecken ist prinzipiell vom Schutzbereich der Forschungsfreiheit als Abwehrrecht umfaßt. Da die Archivrecherche als für die Geschichtswissenschaft disziplintypische Methode wesentliches, wissenschaftskonstituierendes Merkmal ist, gehört sie notwendig vom Schutzbereich der Forschungsfreiheit. Die Archivzugangsverweigerung wirkt unmittelbar auf den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG ein. Mit dieser Argumentation der „gattungstypischen Grundrechtskonkretisierung" ist zwar eine gewisse „Institutionalisierung" des abwehrrechtlichen Schutzbereichs verbunden, indem an die disziplintypische Eigengesetzlichkeit historischer Forschungsfreiheit angeknüpft wird. Diese „Institutionalisierung" ist aber zulässig und geboten, weil sie sich unmittelbar aus dem Begriff „Forschung" selbst ergibt und mithin im Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 GG unmittelbar angelegt ist. Das Beispiel der historischen Forschung in Archiven zeigt, daß Eingriffsabwehr auch auf Gewährung bestimmter „Vorrechte" hinauslaufen kann, die zur Beseitigung der gegebenen - nicht gerechtfertigten - Schutzbereichseinschränkung (Beseitigung von Störungen) erforderlich sind.
163 Welan, ÖJZ 1986 S. 643: „Soweit der Staat von ihm erzeugte Objekte rechtswissenschaftlicher Erkenntnis ohne einen in der Verfassung festgelegten Grund Wissenschaftlern vorenthält, verletzt er Art. 17 StGG ... Würde der Staat Objekte wissenschaftlicher Erkenntnis dem Wissenschaftler vorenthalten, würde er die Wissenschaftsfreiheit verletzen ... Er muß die behördlichen Erledigungen als Gegenstand der Rechtserkenntnis den Wissenschaftlern ordnungsgemäß und zumutbar zugänglich machen. Alles andere wäre Verhinderung wissenschaftlicher Tätigkeit."
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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V. Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers als Rechtsfolge der abwehrrechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. A l t G G 1. Prämissen der herrschenden Meinung Die Archivzugangsverweigerung ist der Forschungsfreiheit in ihrer Funktion als säkularer Erkenntnisfreiheit tendenziell entgegengesetzt. Eine Archivzugangsverweigerung trifft nach den oben getroffenen Feststellungen zur Freiheit von Fragestellung und Methodik stets eine Entscheidung über die Frage, was der Forscher, obwohl faktisch keine Hindernisse im Weg stehen, nicht wissen darf. Sie enthält als normative Regelung „naturgemäß" keine bloße Feststellung dessen, was er nicht wissen kann. Entsprechend dem Zweck der Schrankennormen (Datenschutz, Benutzungsgrenzjahre) ist die Archivzugangsverweigerung keine bloß reflexartige Einschränkung, sondern stets lenkende Einflußnahme auf Forschungsinhalte, auch wenn die Verhinderung eines bestimmten Forschungsvorhabens nicht final im Vordergrund stehen mag. Die Archivzugangsverweigerung beschränkt daher stets zielgerichtet die Forschungsfreiheit und wirkt auf seiten des Grundrechtsträgers konkret forschungsverhindernd. Die herrschende Meinung hat eine Eingriffsabwehr dennoch deswegen nicht in Betracht gezogen, weil - verwaltungsrechtlich - die Nutzung einer öffentlichen Anstalt bzw. öffentlicher Sachen begehrt wird. Diese Qualifikation ist jedoch verfassungsrechtlich nicht verbindlich. Verwaltungsrechtliche Anstaltsnutzung bedeutet nicht zwingend verfassungs- bzw. grundrechtliche Leistungsgewährung 164 . Daß die einschlägige Grundrechtsfunktion auch nach Meinung der Rechtsprechung nicht zwingend und abschließend von der äußeren Form des begehrten staatlichen Verhaltens abhängt, zeigen die Beispiele der Baugenehmigung, der Kassenarztzulassung und des Störungsbeseitigungsanspruchs, die nach allgemein unbezweifelter Ansicht aus dem Abwehrrecht folgen, obgleich sie Ansprüche auf positives Tun zum Inhalt haben 1 6 5 . Dem leistungsrechtlichen Blickwinkel der herrschenden Meinung liegen Prämissen zugrunde, die im Ergebnis durch das Grundgesetz nicht gestützt werden: Die grundrechtlich geschützte Freiheit der Forschung sei aus164 s.u. Nr. 4, 5 zum grundrechtlichen Konzept der gestuften Teilhabe-/Freiheitsverhältnisse. 165 BVerfGE 82, 209 (223 f., Zulassungserfordernis als Eingriff in Art. 12 GG); BVerwGE 42, 115 (115); BVerfGE 35, 263 (276); BVerfGE 20, 150 (155, Verbot mit Erlaubnis vorbehält); BVerfGE 11, 30 (44, Kassenarztzulassung); E 12, 144 (147, Zahnarztzulassung); Sachs in: Stern, Staatsrecht I I I / l S. 671 ff., 697 f. m.w.N.; Mayen S. 68, 116 f. 7 Manegold
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
schließlich als vorstaatliche, voraussetzungslose „natürliche" Freiheit vom Staat zu verstehen, die bei der Nutzung staatlich geschaffener Einrichtungen a priori nicht berührt sein könne. Den Grundrechten als Abwehrrechten liege ein einheitlicher, „homogener" Eingriffsabwehrbegriff zugrunde, der als Rechtsfolge ein inhaltlich gleiches Abwehrrecht bewirke, das stets nur auf ein bloßes Unterlassen, das „Nein!" gegenüber staatlichem Zwang gerichtet sei; ein weitergehender Beseitigungsanspruch sei nicht gegeben. 2. Archivzugang als Ausübung positiv-verfaßter,
realer Freiheit
Ob die Verbotswirkung als Eingriff in den Schutzbereich zu werten ist, und ob die Archivzugangs-Gewährung möglicher Inhalt eines Abwehranspruchs ist, hängt mithin von der verfassungsrechtlichen Konzeption des Eingriffs, dem Inhalt des Abwehrrechts, letztlich vom Freiheitsbegriff des Art. 5 Abs. 3 GG ab. Hält man am Begriff „natürlicher", „vorstaatlicher" Freiheit des Forschers fest, ist die maßgebliche Frage, ob sich die Beschneidung des Archivzugangs als Einschränkung natürlicher Freiheit darstellen läßt. Ist „natürliche", faktisch vorstaatliche Freiheit ausschließliches Schutzobjekt der Freiheitsrechte und insbesondere des Art. 5 Abs. 3 GG, könnte nur eine für den Grundrechtsträger bereits aktuell, tatsächlich verfügbare Betätigungsmöglichkeit geschützt sein; alle staatlich „verliehenen" oder irgendwie gesellschaftlich „konstituierten" Rechtspositionen" schieden von vornherein aus dem Schutzbereich des Abwehrrechts aus. Historische Forschung ist die klassische Sozialwissenschaft, deren Gegenstand „der Staat" und „die Gesellschaft", andere Menschen sind. Ihr Gegenstand kann keine vor- bzw. außerstaatlich gedachte Welt sein. Die forschende Tätigkeit „integriert" ihre Objekte und Hilfsmittel in ihren Entfaltungs- und Schutzbereich. Daher ist die Freiheit historischer Forschung mit der Vorstellung „vorstaatlicher", „natürlicher" Freiheit unvereinbar. Die Freiheit historischer Forschung läßt sich nur als „reale", verfaßte Freiheit konstruieren. Als „natürliche", voraussetzungslose Freiheit läßt sie sich nicht einmal idealtypisch denken. Für den Bereich der historischen Freiheit ergibt sich in besonderem Maße, daß „natürliche", „vorstaatliche", im Sinne von voraussetzungslos gedachter Freiheit eine Fiktion, eben eine verfassungsrechtlich „unzulässige, ungeschichtliche Abstraktion" i s t 1 6 6 . Unter dem Grundgesetz ist die reale, durch die Grundrechte positiv verfaßte Freiheit als Schutzgegenstand des Abwehrrechts maßgeblich. Sie ist zwingende Folge der Normgeltungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 93 Nr. 4 a G G 1 6 7 . 166
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rz 282; Häberle, Wesengehaltsgarantie, S. 145 ff. s.o. 1. Kap. HI.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
99
Verstünde man die Forschungsfreiheit im Bereich des Archivzugangs lediglich als Freiheit von zielgerichteter staatlicher Bevormundung in Gestalt rechtswidrigen Zwanges (status negativus), müßte die Archivbenutzung als bloße „Grundrechtsvoraussetzung" oder „Grundrechtsausübungsvoraussetzung" gedeutet werden, die aus dem Schutzbereich definitionsgemäß ausschiede. Denn „Grundrechtsvoraussetzungen" als die „Gesamtheit derjenigen Umstände, welche die grundrechtliche Tatbestandsmäßigkeit eines Lebenssachverhaltes erst ermöglichen", können - rechtslogisch - nicht selbst Schutzgegenstand von Abwehrrechten sein 1 6 8 . Diese Konsequenz ist mit der Art. 5 Abs. 3 GG zugrunde liegenden Freiheit der Forschungsdisziplinen und ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit unvereinbar und widerspricht dem historisch gewachsenen Verhältnis von Archiven und Geschichtswissenschaft. Die Idee einer natürlichen Freiheit behält ihre Berechtigung als notwendiges Korrektiv gegen eine uferlose Ausdehnung des Schutzbereichs 169 . Das mit dem Begriff der verfaßten Freiheit gewonnene Ergebnis wird durch eine „Kontrollüberlegung" anhand des Begriffs der natürlichen Freiheit bestätigt: Der Archivzugangsanspruch folgt dann aus der abwehrrechtlichen Konstruktion als „Beseitigung eines vorausgegangenen staatlichen Verbots der Nutzung staatlicher Datenbestände". Entscheidend ist, daß der historische Forscher aufgrund seiner „natürlichen Freiheit" zur Nutzung der Archivbestände in der Lage ist, wenn man die verwaltungsrechtlich vorgeschaltete Erlaubnispflicht und die daraus folgende verwaltungsrechtliche Zulassungs167
Heute wird allgemein von einem positiven verfassungsrechtlichen Status in Abgrenzung zum „status negativus" gesprochen. Die Status-Konzeption wirkt sich allerdings immer noch entscheidend auf den Eingriffsbegriff aus (s. u.). Statt vieler: Alexy, Grundrechtstheorie, S. 229 ff., 237 (Fn 40), 243 ff.; Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rz 26. Grundlegend Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 13 ff. m.w.N.; Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 18 f., S. 112 f.; Hesse Rz 280 ff.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht I I Rz 71; Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 216 ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 13, 23; Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung, S. 26 ff. ; Stern, Staatsrecht I I I / l S. 426 ff. Fn 199 m.w.N. 168 Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, S. 16 f.; Sachs in: Stern, Staatsrecht I I I / l , S. 670 f. m.w.N. 169 Bleckmann, Staatsrecht I I - Die Grundrechte, S. 199 ff. Bleckmann legt die Statuslehre positiv aus und gelangt zu dem Ergebnis, daß analog §§ 823, 1004 BGB Beseitigungsansprüche (gerichtet auf die Beseitigung eines grundrechtswidrigen Zustandes) unmittelbar aus den Abwehrrechten folgen (S. 204). Rupp, Grundrechtlicher Freiheitsstatus und ungesetzlicher Zwang, DÖV 1974 S. 194. Rupp deutet Jellineks Definition „alle Freiheit ist Freiheit von gesetzwidrigem Zwang" zu „Freiheit von verfassungswidrigem Zwang" um. i*
100
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
entscheidung wegdenkt. Insofern kann man v o n einem Anspruch des Historikers „ a u f Eigeninformation" i n den A r c h i v e n s p r e c h e n 1 7 0 . 3. Die Archivnutzung
als gestuftes
Teilhabe-/Freiheitsverhältnis
Diese konstruktive Lösung des Problems grundrechtlich verfaßter, „posit i v e r " Freiheit i m Bereich der Anstaltsnutzung w i r d durch das Konzept der gestuften Teilhabe-/Freiheitsverhältnisse b e s t ä t i g t 1 7 1 . Folgende Konstruktion eröffnet zutreffend die abwehrrechtliche D i m e n sion für die wissenschaftliche Archivbenutzung: Sobald das entsprechende „Nutzungssubstrat" v o m Staat (hier i n Gestalt der öffentlichen Einrichtung „ A r c h i v " ) einmal geschaffen ist (erste Stufe der noch objektiv-/leistungsrechtlichen Teilhabe), ist die weitere N u t z u n g d e m Grundrechtsträger allein i n Abhängigkeit von seiner Willensentscheidung u n d seinen natürlichen Fähigkeiten m ö g l i c h und insoweit v o m Schutzbereich des Abwehrrechts umfaßt (zweite Stufe der Freiheitsausübung). Entscheidend ist, daß sobald u n d soweit staatliche Vorleistungen Freiheitsräume eröffnen, hier die A r chive für die Geschichtswissenschaft, die einmal entstandene M ö g l i c h k e i t der Freiheitsausübung dem Schutz des Freiheitsrechts als Abwehrrecht un170
Mayen hält am Begriff der natürlichen Freiheit als Schutzobjekt des Abwehrrechts fest (S. 155 ff., 180). Gleichwohl ist Mayens abwehrrechtlicher Ansatz für die Frage des Archivzugangsrechts unmittelbar einschlägig. Dem Zusammenhang von Freiheits-, Eingriffs- und Abwehrbegriff w i l l Mayen mit der Differenzierung zwischen einem „unmittelbaren" (direkten) Anspruch auf Informationsgewährung, dessen „Prototyp" die behördliche Wissensmitteilung durch Auskunft sei, und einem „mittelbaren" (indirekten) „Anspruch auf Eigeninformation" des Forschers gerecht werden (S. 38, 134 ff.). Da die wissenschaftliche Informationsbeschaffung insgesamt dem Schutzbereich der Forschungsfreiheit unterfalle, folge letzterer aus der abwehrrechtlichen Dimension und beziehe sich auf alle Fälle der Akteneinsicht und Nutzung vorhandener staatlicher Datenbestände, v.a. Registratur- und Archivbestände, aber auch die eigenständige Datenerhebung in staatlichen Schulen und Einrichtungen. Strukturell gehe es in diesen Fällen nicht um staatliche Leistungen, sondern die „Beseitigung eines vorausgegangenen staatlichen Verbots der Nutzung staatlicher Datenbestände". Dieses Verbot greife in die dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG unterfallende Freiheit der Informationsbeschaffung zu Forschungszwecken ein. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG gebe einen Anspruch auf Beseitigung der nicht durch andere Verfassungsrechte gerechtfertigten - Verbotswirkungen. Als Folge lebten die „natürlichen Betätigungsmöglichkeiten des Forschers wieder a u f , zu denen auch gehöre, sein Informationsinteresse im Wege der eigenen Informationsbeschaffung selbst zu befriedigen. Mayen sieht die Archivnutzung als idealtypischen Fall des indirekten Informationsanspruchs an, der durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG in abwehrrechtlicher Funktion begründet ist (S. 180 f.). Ebenso Pernice in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rz 43. 171 Murswiek, Grundrechtsdogmatische Fragen gestufter Teilhabe-/FreiheitsVerhältnisse, in: Festschrift für Doehring, S. 647 ff. (649 f., 655); ders. in: HdBStR Bd. 5 (1992) § 112 Rz 82, 103.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
101
terfällt. In diesem Sinne muß die Freiheit als „vorstaatlich" respektiert werden 1 7 2 . Derselbe Gedanke steht hinter Mayens Konstruktion des „indirekten Informationsanspruchs" als möglicher „Eigeninformation" des Forschers. Die Tatsache, daß staatliche „Datenbestände", hier Archivgutbestände vom Staat geschaffene Einrichtungen sind, rechtfertigt nicht den Schluß, deren Nutzung könne nicht mehr in Ausübung natürlicher Freiheit geschehen 173 . Auch das BVerfG unterscheidet zwischen „natürlichen" Freiheiten und solchen, die von vornherein ausgestaltungsbedürftig sind 1 7 4 . Die abstrakte Unterscheidung führt nicht zu zwingenden Konsequenzen bei der Auslegung eines konkreten Grundrechts, hier der Forschungsfreiheit: denn beispielsweise läßt sich auch die Bewegung auf öffentlichen Wegen („Grundrecht auf Mobilität" 1 7 5 ) im Rahmen des Gemeingebrauchs als Inanspruchnahme staatlicher (Vor-)Leistungen und nicht als natürliche Handlungsfreiheit konstruieren 176 , als „Freiheit auf der Basis von Teilhabe" 1 7 7 . Das konkret betroffene Grundrecht entscheidet allerdings darüber, ob es einen Anspruch auf „Fortbestand der Teilhabe" gibt. Beim Gemeingebrauch mag dies im Falle des „Innominatfreiheitsrechts" des Art. 2 Abs. 1 GG nicht der Fall sein, im Fall der öffentlichen Archive und historischer Forschung ist dies selbständig und im Ergebnis anders zu beantworten. 4. Schutzbereichsabhängiger für die wissenschaftliche
Eingriffsabwehrbegriff Forschungsfreiheit
Das Bundesverfassungsgericht legt selbst die Annahme eines spezifischen Eingriffsbegriffs für die Wissenschaftsfreiheit mit der Formulierung der Stoßrichtung des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG nahe: „Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat ... ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung ... wissenschaftlicher Erkenntnisse". In diesem Freiraum des Forschens („in ihm") soll „absolute Freiheit von jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt herrschen" 178 . 172
Murswiek a.a.O. Festschrift für Doehring, S. 655, 661, insbes. Fn 23; Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984 S. 457 ff. (465); Sachs in: Stern, Staatsrecht I I I / l S. 634 f., 701. 173 Mayen S. 159 f. 174 BVerfG NJW 1997 S. 1842 f.; Bethge, Der Grundrechtseingriff, VVDtStRL 57 (1998) S. 10, 19 f., Diskussionsbeitrag S. 154 f. 175 BVerfGE 80, 127 ff. (152 ff.) „Reiten im Walde". 176 Erichsen in: HdBStR Bd. 6 (1989) § 152 Rz 66 m.w.N. 177 Murswiek a. a. O. 178 BVerfGE 35, 79 (112 f.).
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Das Konzept des schutzbereichsspezifischen Eingriffsbegriffs wird durch neuere Untersuchungen zum grundrechtlichen Eingriffsbegriff bestätigt 179 . Dabei bleibt in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG die „objektiv regelnde" (freiheitsverkürzende) „Tendenz" im Normbereich 180 , den die Archivzugangsverweigerung unzweifelhaft hat, maßgeblich. Löst man sich von der verwaltungsrechtlichen Perspektive der Anstaltsnutzung, sind die Merkmale des „klassischen" Grundrechtseingriffs erfüllt: die Archivzugangsverweigerung durch Einzelfallversagung und durch Sperrfristen ist rechtsförmig und nicht bloß „faktisch-reflexiv", unmittelbar durch eine Maßnahme öffentlicher Gewalt, final auf die Verhinderung der Kenntnisnahme gerichtet und „imperativ" 1 8 1 . Die Forderung, daß ein Grundrechtseingriff jedenfalls nicht in einer „reinen" Leistungsverweigerung und in einem „bloßen" Unterlassen seitens des Staates liegen kann, führt nicht weiter. Denn die Beantwortung der Frage, ob lediglich ein Unterlassen vorliegt, hängt maßgeblich vom Vorverständnis der abwehrrechtlich geschützten Freiheit ab. Aus der grundgesetzlichen Konzeption realer, positiv verfaßter Freiheit folgt, daß auch der abwehrrechtlich erfaßte „Eingriff 4 nicht für jede der in Wortlaut und Entstehungsgeschichte sehr verschiedenen Grundrechtsgewährleistungen durch das Grundgesetz einheitlich „homogen" festgelegt ist, sondern jeweils schutzbereichsbezogen bestimmt werden m u ß 1 8 2 . Ausschlaggebend für die Beurteilung der Eingriffsabwehr und damit grundrechtlicher Freiheitsgewährung kann nicht sein, ob auf verwaltungsrechtlicher Ebene ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder eine generelle Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt vorliegt und dementsprechend die begehrte staatliche Handlung als Unterlassen oder als positives Tun konstruiert werden kann. Die polizeirechtliche Konstruktion des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt kann die Frage des Grundrechtseingriffs nicht klären. Grundrechtsschutz würde sonst abhängig von beliebigen verwaltungsrechtlichen Konstruktionen.
179
Bethge, VVDStRL 57 (1998) S. 22 ff.; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 100-171, S. 243 ff.; Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995) S. 344 (362 f.); Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 205 ff.; Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität", S. 153 ff., 218 ff.; ders., Objektiver Grundrechtsschutz und subjektives Abwehrrecht, DVB1. 1989 S. 1128 ff. 180 BVerfGE 11, 30 (44); E 12, 144 (147); E 82, 209 (223 f.). 181 Eckhoff S. 175 ff. ; Bethge S. 38; Isensee HdBStR Bd. 5 (1992) § 111 Rz 61 m.w.N. 182 Bethge S. 38; Eckhoff S. 100 ff.; Jarass S. 362 f.; Lübbe-Wolff S. 72 ff., S. 205 ff.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Maßgeblich ist, daß die Archivzugangsverweigerung als Verbot einer möglichen Eigeninformation durch den historischen Forscher wirkt, die vom Schutzbereich umfaßt ist. Es handelt sich um eine „faktische Beeinträchtigung einer grundrechtlich geschützten realen Freiheit" 1 8 3 , die „Abwehr einer Grundrechtsnormverletzung" 184 . Nach der hier vertretenen Auffassung ist entscheidend, daß die Archivzugangsverweigerung als Verbot einer wissenschaftskonstituierenden Methodenanwendung durch den historischen Forscher wirkt. Die Archivzugangsverweigerung ist daher als Eingriff in die Forschungsfreiheit zu qualifizieren. Archivrecherche bzw. Archivzugang zählen - nach der Terminologie Kloepfers - zu den eingriffswehrenden entstehungssichernden Voraussetzungen historischer Forschung; der Archivzugang zählt nicht zu den „sachverhaltschaffenden", technischen, „flankierenden Schutzmaßnahmen". Da die Quellenrecherche in öffentlichen Archiven gattungstypisches Forschungsmerkmal ist und mit der historischen Forschung entstehungsgeschichtlich untrennbar verbunden ist, handelt es sich bei der Verhinderung des Archivzugangs nicht um eine bloß „mittelbare Verursachung einer Beeinträchtigung", sondern um eine Beeinträchtigung im „Kernbereich". Denn die Frage, wo im einzelnen die Grenzen der Grundrechtsvoraussetzungen und des grundrechtlichen Schutzbereichs zu ziehen sind, muß der inhaltlich wertenden Festlegung beim konkret betroffenen Grundrecht überlassen bleiben. Sie ist nicht allgemeingültig zu ziehen 1 8 5 .
183 Eckhoff S. 236 ff. (293): Voraussetzung für den Grundrechtseingriff ist die durch ein Verhalten deutscher öffentlicher Gewalt kausal verursachte faktische Beeinträchtigung einer grundrechtlich geschützten „realen" Freiheit. Daher könne grundsätzlich auch eine staatliche Erlaubnis ein möglicher Eingriff sein. 184 Scherzberg definiert die Grundrechtsverletzung als „das verfassungswidrige Betroffensein im personalen Status". Grundrechtliche Abwehrrechte werden ausgelöst, sobald staatliches Verhalten die Interessenverfolgung des Bürgers tatsächlich oder rechtlich beeinträchtigt und dies eine Vorgabe objektiven Verfassungsrechts verletzt, die dem Schutz des individuellen Status dient" (S. 153, S. 218 f.). Nach dieser Auffassung ist negatorischer Grundrechtsschutz nicht nur die Abwehr von Freiheitseinbußen, sondern Abwehr der Mißachtung der objektiven Grundrechtsnorm und in diesem Sinne „Abwehr von Grundrechtsnormverletzungen" (S. 219). Der grundrechtliche Anspruch schließt die Geltendmachung der übrigen, bislang durchweg als „objektivrechtlich" gekennzeichneten Wert- und Gestaltungsmaßstäbe ein. Er kann auch auf positives staatliches Verhalten, etwa die Aufstellung oder Beachtung bestimmter verfahrensrechtlicher Leistungen des Staates, gerichtet sein. Der Archivzugang ist danach vom Abwehrrecht des Art. 5 Abs. 3 GG umfaßt. 185 Kloepfer S. 18 Fn 79 m.w.N., S. 22, 42 ff., 54 ff.; Bizer, Forschungsfreiheit, S. 48;. Sachs in: Stern, Staatsrecht I I I / l S. 671 ff., 677.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archiv wesen
5. Inhalt des Abwehrrechts aus Art. 5 Abs. 5 GG: Anspruch auf Beseitigung der forschungsverhindernden Verbotswirkungen durch Zulassung zur Archivgutnutzung M i t der Frage des Eingriffsbegriffs ist die Rechtsfolgenseite, d.h. der Inhalt des Abwehranspruchs zu klären. Bereits aus dem status negativus folgten nicht nur Unterlassungsansprüche, sondern auch Ansprüche auf positives Tun des Staates, nach allgemeiner Auffassung beispielsweise der Störungsfolgenbeseitigungsanspruch oder der Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung. Eingriffsabwehr erfordert nämlich zweierlei: die Unterlassung bevorstehender Eingriffe und die Beseitigung bestehender Eingriffswirkungen. Der Störungsbeseitigungsanspruch ist anerkannte Ausprägung des abwehrrechtlichen Schutzes der Grundrechte 186 . Für das Abstellen einer Störung kann ein bloßes Unterlassen ausreichen, u. U. ist aber eine positive Handlung erforderlich 187 . Der vom Archivzugang ausgeschlossene historische Forscher hat mithin einen prinzipiellen Anspruch auf Beseitigung der Verbotswirkungen, die durch die Verweigerung des Zugangs zu bestimmten archivierten Unterlagen entstanden sind. Dies hat prinzipiell durch Zugangsgewährung durch die Archivverwaltung zu geschehen. Art. 5 Abs. 3 GG garantiert dem historischen Forscher daher prinzipiell den freien Zugang zu öffentlichen Archiven in Deutschland. Eine Zugangsverweigerung ist ein rechtfertigungspflichtiger Eingriff in seine Forschungsfreiheit 188 . 186
Bethge, VVDtStRL 58 (1998) S. 11 ff.; Isensee HdBStR Bd. 5, § 111 Rz 76 m.w.N. 187 Statt vieler Sachs in: Stern, Staatsrecht I I I / l S. 671 ff., S. 697; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 198 ff. ; Mayen S. 113 ff. Selbst Jellinek leitete aus seiner Konzeption des Status negativus den „Anspruch des Individuums, die Anerkennung und demgemäß die Unterlassung und Beseitigung von Störungen seines negativen status verlangen zu können", ab (Jellinek, Das System subjektiver öffentlicher Rechte, S. 105). Bei konstruktiven Abweichungen i m Detail wird seither in der allgemeinen Grundrechtsliteratur der Beseitigungsanspruch als Folge des negatorischen Abwehrrechts anerkannt, das so gerade nicht auf den Unterlassungsanspruch begrenzt wird. Auch nach zivilrechtlicher Dogmatik sind negatorische Ansprüche nicht auf ein Unterlassen beschränkt, sondern sichern Entstehungs- und Ausübungsvoraussetzungen eines Rechts. Der Anspruchsinhalt des grundrechtlichen Abwehranspruches ist insoweit strukturell dem Vorbild des zivilrechtlichen negatorischen Anspruchs aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB („Beseitigung der Beeinträchtigung"), § 862 Abs. 1 S. 1 BGB („Beseitigung der Störung") vergleichbar. Dieser ist auf Beseitigung der Beeinträchtigung für die Zukunft gerichtet. Zum Zivilrecht statt vieler: Palandt- Bassenge, BGB, § 1004 Anm. 5 a). 188 Auch in der neueren Literatur zeichnet sich ein Umdenken bezüglich des Datenzugangs des historischen Forschers zu staatlichen Datenbeständen ab. Ebenso: Pernice in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rz 43 unter Berufung auf Mayen und Berg; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
105
V I . Vergleich zu Frankreich: Das Archivzugangsrecht als „garantie fondamentale accordee aux citoyens pour Pexercice des libertes publiques" nach französischem Verfassungsrecht Dieses Ergebnis entspricht im Prinzip der Einordnung des Archivzugangs nach französischem Verfassungsrecht. Die Französische Verfassung 189 enthält zwar keine ausdrückliche Garantie weder der individuellen noch der institutionellen Autonomie der Forschungsfreiheit. Wissenschaftliche Forschungstätigkeit wird, da sie in der Regel auf Veröffentlichung ausgerichtet ist, Art. 11 der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1789 „libre communication des pensees et opinions" zugeordnet. Seit der Verfassung der 4. Republik von 1946 und der 5. Republik vom 04.10.1958 haben aber nicht nur Grundrechte, sondern auch einfachgesetzlich anerkannte, wesentliche Grundsätze des Verfassungs- und Rechtslebens Verfassungsrang als „principes fondamenteaux reconnues par les lois de la Republique" 1 9 0 . Aufgrund der langen Tradition der Revolutionsgesetze über das Archivwesen 191 und ihrer besonderen Bedeutung für die Geschichte des französischen Staates war daher zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens zum Archivgesetz von 1979 in Frankreich umstritten, wieweit die jeweiligen Kompetenzen von Regierung und Parlament zur Regelung des öffentlichen Archivwesen reichen, und ob das Parlament den Archivzugang beschränken könne. Der Conseil d'Etat schloß in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf eines Archivgesetzes der Regierung die Regelungskompetenz der Nationalversammlung, soweit sie sich auf die öffentliche Organisation, Zugänglichkeit und den Unterhalt öffentlicher Archive bezog, als nicht zum „domaine legislatif" gehörend aus. Der freie Zugang zu den öffentlichen Archiven wurde als „garantie fondamentale accordee aux citoyens pour l'exercice des libertes publiques" angesehen. Gleichzeitig stellte der Conseil d'Etat fest,
Institutionalisierung, S. 155 ff.; Wollenteit, Informationsrechte des Forschers im Spannungsfeld von Transparenzforderungen und Datenschutz, S. 55 ff., 60. Das Ergebnis wird zusätzlich auf das Erfordernis der „Transparenz" öffentlicher Verwaltung für demokratische Kontrolle gestützt. Soweit der Forscher bei der Archivnutzung behördliches Zusatzwissen und damit eine unmittelbare Auskunft nutzt, handelt es sich um „Eigeninformation plus vorgeschalteter Auskunft"; Mayen S. 181. 189 M i t der Entscheidung des Conseil Constitutionel vom 16.07.1971 (ADJA 1971 S. 537) ist anerkannt, daß die Menschen und Bürgerrechte der Declaration von 1789, auf die die Präambel der Verfassung der 5. Republik von 1958 verweist, unmittelbar geltendes Verfassungsrechts sind. 190 Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Vergleich, S. 72 ff. 191 s.o. 1. Kap. II. 2.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
daß die Zugangsschranken in den Bereich bürgerlicher Freiheitsrechte, den „Domaine des libertes publiques" eingreifen („entrer"). Daher oblag es dem parlamentarischen Gesetzgeber, selbst die Zugangsschranken ausdrücklich im Archivgesetz zu regeln 1 9 2 . Das französische Archivgesetz enthält keine Privilegierung historischwissenschaftlicher Benutzung der Archive. Einige Abgeordnete hatten befürchtet, daß die Schutzvorschriften zugunsten der Privatsphäre eine unverhältnismäßige Behinderung für die historische Forschung darstellen werden, und hatten daher die gesetzliche Anerkennung eines Forschungsprivilegs gefordert 193 . Dies wurde jedoch aus verfassungsrechtlichen Gründen abgelehnt 1 9 4 . Eine Rangfolge und ein Privilegierungsinteresse historischer Forschung wurde zwar nicht für a priori unzulässig erachtet. Dann wäre aber wegen des Diskriminierungsverbots eine gesetzliche Definition wissenschaftlicher, zu privilegierender Forschungsinteressen und ihre positive Abgrenzung gegenüber anderen legitimen Interessen erforderlich gewesen, die gesetzestechnisch nicht für möglich gehalten wurde, ohne daß Regierung und Parlament gerade in die Freiheit der Forschung und in die Kompetenz der Archivverwaltung unnötig und u. U. unzulässig eingriffen. Die erforderliche Abwägung wurde daher der Kompetenz der Archivverwaltung in der Einzelfallentscheidung insbesondere bei der Fristverkürzung überlassen 195 . V I I . Ergebnis und organisationsrechtliche Bedeutung Die Archivrecherche ist vom abwehrrechtlichen Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG umfaßt, nicht hingegen von Art. 5 Abs. 1 GG. Das aus dem ersten Hochschulurteil des BVerfG abgeleitete Argument eines staatlichen „Informationsmonopols", das in Archiven verwaltet werde, ist zur Erfassung des Archivzugangs über die leistungsrechtliche Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG untauglich. Die Archivzugangsverweigerung ist kein bloßes Unterlassen einer staatlichen Leistung und keine faktisch-reflexive Beeinträchtigung der Grund192
Zur kompetenzbegrenzenden Wirkung der Libertes Publiques auch für das Parlament, Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 49 ff. 193 Intervention des Abgeordneten Hugo im Senat, JO Deb. Senat, 26 mai 1978, p. 1002, Mme Leblanc ä l'Assemblee Nationale, JO Deb. A N , 6 decembre 1978, p. 8807. 194 Stellungnahme des Ministers für Kultur für die Regierung in der Nationalversammlung a. a. O. p. 8808. 195 Systeme des derogations, Laveissiere, Le Statut des archives de France, La revue administrative 1979 p. 265 f. Fn 195: decret no. 79-1038 art. 2 für alle öffentlichen Archive in Frankreich und decret no. 79-1035 art. 7 für die Archive des Verteidungsministeriums.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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rechtsausübungsvoraussetzungen, sondern das - mit Zwang durchgesetzte Verbot einer wissenschaftskonstituierenden Methodenanwendung des historischen Forschers und mithin ein rechtfertigungspflichtiger Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG. Aus der verfassungsrechtlichen Verbürgung der Forschungsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. Alt. GG ergibt sich ein subjektives Recht des historischen Forschers auf Gewährung des Zugangs zu den Beständen öffentlicher Archive, das auf Beseitigung einer den Forschungsgegenstand und die Forschungsmethode beschneidenden Behinderung gerichtet und Rechtsfolge des abwehrrechtlichen Gehalts ist. Konstruktiv läßt sich der Archivzugang als ein sogenanntes gestuftes Teilhabe-/Freiheitsverhältnis darstellen. Die wichtigste Wirkung des grundrechtlichen Archivzugangsrechts des Forschers besteht darin, daß sich das prinzipielle Verhältnis zwischen Geheimhaltung und Publizität umkehrt. Das Archivzugangsrecht des Forschers wird zur Regel, die Archivzugangsverweigerung wird zur Ausnahme, die im Rahmen des Verfassungsvorbehalts des Art. 5 Abs. 3 GG zu rechtfertigen ist. Der Staat bzw. die Archivverwaltung muß grundsätzlich begründen, warum ausnahmsweise archivierte Informationen zu Forschungszwecken nicht freigegeben werden. Dabei ist zu beachten, daß die Forschungsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG nur aufgrund von verfassungsimmanenten Schranken zulässig begrenzt werden kann (s.u. Abschnitt B). Hierbei muß in Kollisionsfällen nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit nach Wegen gesucht werden, um ein Forschungsvorhaben optimal zu ermöglichen, ohne daß insofern ein Ermessen besteht. Hierin liegt der praktisch entscheidende Unterschied zur h.M., nach der sich ein „Informationsanspruch" aus der objektivrechtlichen „Förderpflicht" mit entsprechend weitem Ermessensrahmen ergibt. Die Grenze des Archivzugangsrechts liegt allerdings dort, wo über den aktuellen, tatsächlich bestehenden Zustand der Archivalien hinaus zusätzliche Tätigkeiten zur Erschließung oder Übernahme weiterer nicht archivierter Akten seitens der Archive gefordert werden. Ob das Archivzugangsrecht zu einer Teilöffnung des staatlichen „Arkanbereichs" führen kann, hängt vom Umfang der Archivierung, mithin von Umfang und Durchsetzbarkeit der Abgabepflichten der Behörden gegenüber den Archiven und davon ab, ob eine Erschließungsleistung durch das Archiv bereits erbracht wurde. Insofern wird eine entscheidende Frage in das Vorfeld des Verhältnisses der Archive zu den abgebenden Stellen verschoben. Art. 5 Abs. 3 GG wirkt sich daher auch auf die Stellung und Organisation der Archive im Staatsaufbau aus. Gesetzgeber und Exekutive dürfen nicht hinter den status quo der Öffentlichkeit und der wissenschaftlichen Funktion der Archive zurückgehen. Die objektive Pflicht der öffentlichen
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archiv wesen
Stellen zur Anbietung und Übergabe ihrer Unterlagen wird ebenso wie ihre Durchsetzbarkeit durch die Archive gegenüber den handelnden Organen von der objektivrechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG determiniert. Die Zulässigkeit von Geheim- und Sonderarchiven und die Grenzen diesbezüglicher Organisationsgewalt, sowie die Zwischenarchivierung sind grundrechtlich beschränkt.
B. Die Schranken des Archivzugangsrechts Das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts bedeutet nicht, daß die Wissenschaftsfreiheit „schrankenlos" gewährleistet ist. Daß die Freiheiten des Art. 5 Abs. 3 GG nicht schrankenlos sein können, ist logische Folge des Konzepts der verfaßten Freiheit 1 9 6 . Heute ist einhellig anerkannt, daß Verfassungsbestimmungen mit spezifisch grundrechtsregelndem Gehalt, sogenannte verfassungsimmanente Schranken Art. 5 Abs. 3 GG beschränken 197 . Unstrittig begrenzungstauglich sind die Grundrechte Dritter 1 9 8 , namentlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i . V . m . Art. 1 Abs. 1 G G 1 9 9 , das dem Gesetzgeber für die Gestattung der Archivgutnutzung inhaltliche und zeitliche Vorgaben, u.a. für Sperrfristen macht. Die grundrechtlichen Schranken bedürfen der Konkretisierung durch förmliches Gesetz 200 Die technische Leistungs- und Funktionsfähigkeit der Archivverwaltung sowie der körperliche Schutz des Archivguts vor Beschädigungen setzen dem Archivbenutzungsanspruch aus der „Natur der Sache" sich ergebende Beschränkungen. Nach der Konzeption verfaßter Freiheit handelt es sich beim Archivalien- und Archivschutz um Begrenzungen, die dem Archivbenutzungsanspruch „immanent" sind.
196
BVerfGE 77, 240 (254 f.): „logische Folge des menschlichen Zusammenle-
bens". 197 Die Theorie der verfassungsimmanenten Schranken wurde anhand der von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Kunstfreiheit sowie der Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 3 GG entwickelt; BVerfGE 47, 327 (369 f.) überträgt die Grundsätze auf die Wissenschaftsfreiheit. 198 Der begrenzungstaugliche Charakter der Grundrechte untereinander folgt aus der Systematik des ersten Abschnitts und der Normgeltungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG. Geltung können nur Rechtssätze beanspruchen, die sich nicht widersprechen. Die Normgeltungsanordnung des einleitenden Art. 1 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem abschließenden Art. 19 Abs. 2 und Abs. 4 GG zwingt insbesondere den Gesetzgeber dazu, zwischen den individuellen Freiheitssphären abzuwägen und auszugleichen. 199 BVerfGE 67, 213 (228). 200 Unzutreffend: Schreckenbach, L K V 1998 S. 289: Einschränkung von Art. 5 Abs. 3 GG „aufgrund Gesetz".
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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I. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 1. Das Verhältnis von Art. 5 Abs. 3 GG zu Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG Bei der Benutzung von öffentlich archivierten Unterlagen, die schutzbedürftige Daten lebender Personen enthalten, beansprucht der wissenschaftliche Nutzer gegenüber dem Staat Beachtung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG durch Grundrechtsbeeinträchtigung eines Dritten, dessen Persönlichkeitsrecht in Gestalt des informationellen Selbstbestimmungsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 G G 2 0 1 bei der Freigabe der Unterlagen durch den Staat beeinträchtigt wird. Umgekehrt beansprucht derjenige, der die Geheimhaltung von personenbezogenen Informationen zum Schutz seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die Sperrung „seiner" Daten verlangt, Grundrechtsschutz „auf Kosten" der Forschungsfreiheit. Soweit es sich um Archivgut handelt, das einen lebenden Dritten betrifft, begehrt dieser nach der hier vertretenen Auffassung ebenfalls Schutz durch (direkten) Grundrechtseingriff. Zuständig für die Auflösung dieser „echten Grundrechtskollision" 202 ist in erster Linie der Archivgesetzgeber. In zweiter Linie ist die Archivverwaltung bei der Entscheidung über ein Nutzungsrecht, zur Kollisionsschlichtung im Rahmen der archivgesetzlichen Vorgaben berufen. Die Abwägung muß nach dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender, grundgesetzlich geschützter Positionen 203 erfolgen. Im Kern handelt es sich dabei um eine besondere verfassungsrechtliche, gestaltende Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit. Nach Hesses dialektischer Formulierung müssen beiden kollidierenden Gütern Grenzen gezogen werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können. Die Grenzziehungen müssen im jeweiligen konkreten Fall verhältnismäßig sein; sie dürfen nicht weiter gehen als es notwendig ist, um die Konkordanz beider Rechtsgüter herzustellen 204 . Dieser Leitlinie folgt das Bundesverfassungsgericht unter starker Betonung der situationsbedingten Einzelfallabwägung: Keinem Grundrecht kommt gegenüber dem mit ihm im Einzelfall kollidierenden „schlechthin der Vorrang zu", kein Recht „tritt von vornherein zurück" 2 0 5 . 201 Zum Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung s.o. 2. Kap. B. III. 1. 202 Stern, Staatsrecht III/2 S. 629 ff., 657 f. 203 BVerfGE 39, 1 (43). 204 Hesse spricht von "praktischer Konkordanz"; erstmals in, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1. A. 1967, S. 28, S. 126 f.; 19. A. 1993, Rz 72, 317 f.; Stern S. 627, S. 656 f., 814 ff.: „rechtsstaatliche regula aurea". 205 BVerfGE 47, 327 (369 f.): „die notwendig werdende Inhaltsbestimmung oder Grenzziehung kann nicht generell, sondern nur im Einzelfall durch Güterabwägung
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Art. 5 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sind prinzipiell gleichrangig und begrenzen sich wechselseitig, da nach der Formulierung des BVerfG jede Norm „ihrerseits wieder im Lichte der Bedeutung der anderen Norm" auszulegen ist, „damit ein den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechender Ausgleich der widerstreitenden Interessen gefunden werden k a n n " 2 0 6 . Die Ausübung der Forschungsfreiheit darf andere Grundrechte nicht mehr als notwendig beeinträchtigen, wie umgekehrt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kein absolutes Herrschaftsrecht begründet und die Forschungsfreiheit nicht mehr als unbedingt erforderlich beeinträchtigen darf. Nach Art. 19 Abs. 2 GG ist ein bestimmter Kernbereichsschutz zu berücksichtigen. Liegt keine echte Grundrechtskollision vor, sind nicht beide Grundrechtsträger in normativ gleicher Funktion in ihrem Abwehrrecht betroffen, ist auf einer Seite „nur" die objektive Schutzpflichtdimension berührt, hat der Gesetzgeber einen größeren Gestaltungsspielraum. Situationen, in denen eine abwehrrechtliche Grundrechtsbetroffenheit von vornherein ausscheidet, lassen dem Gesetzgeber daher größeren Gestaltungsspielraum und sind vorab zu klären. 2. Sachliche Schutzhereichs grenzen a) Faktische Anonymisierung Sobald eine konkrete Person den gespeicherten Daten nicht mehr zugeordnet werden kann, d.h. der Personenbezug nicht mehr hergestellt werden kann, spricht man von Anonymisierung. Nach herrschender Auffassung reicht eine sogenannte „faktische Anonymisierung" aus, die gewahrt ist, wenn die „Deanonymisierung einen an der konkreten Situation gemessenen unverhältnismäßigen Aufwand an Zeit, Kosten und Personal" erfordert. Für den Anonymisierungsmaßstab ist auf die Schwere des möglichen Schadens in Relation zur Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts abzustellen (Gefahrenprognose) 207 . Liegt eine hinreichende faktische Anonymisierung vor, ist der Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung nicht berührt. In diesem Fall ist die Archivierung und Nutzung von Archivgut ohne weiteres, d.h. ohne
vorgenommen werden"; ebenso BVerfGE 67, 213 (228); BVerfGE 77, 240 (254 f.); für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 84, 192 (195). 206 BVerfGE 77, 240 (254). 207 § 3 Abs. 7 BDSG 1990, Zweckbindungslockerung für wissenschaftliche Zwecke in §§ 14 Abs. 2 Nr. 9, 40 Abs. 3 BDSG; Ordemann/Schomerus, BDSG, § 3 Anm. 4 m. w. N.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Einwilligung oder gesetzliche Gestattung zulässig; eine Kollision mit dem Grundrecht der Forschungsfreiheit scheidet aus. Bei der Achivierung und Archivgutnutzung können die Grundsätze der faktischen Anonymisierung konsequent angewandt werden, solange fachwissenschaftliche Grundsätze archivischer Ordnung nicht entgegenstehen, um einen möglichst frühzeitigen Zugriff auf Teilbestände zu ermöglichen, während „deanonymisierende" Komplementärbestände gesperrt bleiben. b) Einverständnis Soweit eine willentliche, bewußte Preisgabe des Betroffenen vorliegt, besteht nach der Struktur des Schutzbereiches nicht nur eine rechtfertigende Einwilligung 2 0 8 , sondern ein tatbestandsauschließendes Einverständnis 209 , das auch in den Bereich der Archivgutnutzung hineinwirkt. Dieses Einverständnis kann auch konkludent durch schlüssiges Verhalten erklärt werden, wobei grundsätzlich auf einen objektiven Standard der „Verkehrsanschauung" zurückzugreifen ist. § 4 Abs. 3 BDSG 1990 bestimmt, daß im Bereich der wissenschaftlichen Forschung die Einwilligung nicht der Schriftform bedarf, wenn durch die Schriftform der bestimmte Forschungszweck erheblich beeinträchtigt würde. Dafür spricht bei der Nutzung personenbezogenen Archivguts in aller Regel die zeitliche Entfernung zur „Erhebung" der Daten. Es besteht allerdings die Gefahr, in Widerspruch zur vorrangigen abwehrrechtlichen Ausgangsvermutung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zu geraten. Bei archivierten personenbezogenen Unterlagen kommt daher die Annahme eines konkludenten Einverständnisses in die Einsichtnahme zu Forschungszwecken nur in eindeutigen und zweifelsfreien Fällen in Betracht, in denen sich aus der Art der Erhebung oder der Daten selbst oder dem Archivierungszusammenhang (z.B. der Auslegung des DepositalVertrages) ein solcher Schluß aufdrängt. c) Bagatelldaten ohne Relevanz für die Handlungs- oder Entschlußfreiheit Das Bundesverfassungsgericht hat die Handlungsfreiheit als Element der informationellen Selbstbestimmung im Volkszählungsurteil besonders akzentuiert 210 . Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist auf die Sicherung der Handlungsfreiheit hin orientiert und kein Selbstzweck. 208 Mayen, Informationsanspruch, S. 197. Berg, CuR 1988 S. 234 (236); JöR 33 (1984) S. 83, 98.
209
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Eine umfassende Datenrestriktion ist verfassungsrechtlich nicht gefordert. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht erscheint als Hilfsgrundrecht und flankierende Sicherung für die Wahrnehmung anderer Grundrechte, insbesondere der Kommunikationsgrundrechte als Funktionsbedingungen des Gemeinwesens 211 . Der Schutzzweck der Handlungsfreiheit setzt daher zumindest grundsätzlich entweder inhaltlich Daten bzw. Informationen voraus, die nach ihrer Eigenart Einfluß auf die Handlungs- und Entschlußfreiheit haben können, oder funktional einen administrativen Verwendungszusammenhang, der nach seinem Gefährdungspotential die Handlungs- oder Entschlußfreiheit beeinträchtigt. Wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, daß Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit, Erhebungszweck und Verknüpfungsmöglichkeiten entscheidend seien, da es „unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein ,belangloses4 Datum mehr gebe", ist dies in erster Linie zur Abgrenzung der bis zu diesem Zeitpunkt noch nachwirkenden sogenannten „Sphärentheorie" zum Persönlichkeitsschutz geschehen 212 . Es ist sinngemäß zu ergänzen, daß nun nicht mehr ausschließlich Art und Inhalt der isoliert für sich betrachteten Daten entscheidend für die Frage sind, ob der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts berührt ist. Denn daß es verschieden „sensible" Bereiche und Angaben gibt, folgt vor allem aus den jeweils betroffenen Informationen selbst. Ein Eingreifen des Grundrechtsschutzes nach dem informationellen Selbstbestimmungsrecht kommt zwar regelmäßig in Betracht, ohne daß bzw. „bevor" beispielsweise die Intimsphäre oder Privatsphäre als herkömmliches Schutzgut berührt ist. Inhalt und Art der Daten sind aber weiterhin als Parameter der Gefährdung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts heranzuziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung des jeweiligen „Gefahrenpotentials" für die grundrechtlich gebotenen Schutzvorkehrungen betont, indem sich eine gesetzgeberische Pflicht aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG und dem Verhältnismäßigkeitsgebot ergebe, die Datenverarbeitung „abhängig von Art, Umfang und denkbaren Verwendungen, sowie der Gefahr des Mißbrauchs zu regeln" 2 1 3 . 210
BVerfGE 65, 43: „Freiheit ..., aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden 211 BVerfG a.a.O.: Art. 5, 8, 9 GG als demokratiekonstituierende Grundrechte. 212 BVerfGE 6, 41; 27,6; 27, 350 f.: Danach war grundsätzlich nur die Intimsphäre als Kernbereich absolut geschützt. In der Privatsphäre sollte jeder gemeinschaftsbezogene und -gebundene Bürger im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit staatliche Maßnahmen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hinnehmen. Dazu Leibholz/Rinck, GG, Art. 2 Anm. 3. 213 BVerfGE 65, 46: Das Gefahrenpotential ist am höchsten bei der Erhebung zum Zwecke der Eingriffsverwaltung und zum Verwaltungsvollzug, geringer für statistische Zwecke:
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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Belanglose Daten, die sich ausschließlich auf äußerlich erkennbare Merkmale (Name, Geschlecht, Alter, Adresse) beschränken, sind daher bereits aus dem Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung auszuschneiden. Personalien sind bei isolierter Betrachtung „personkonstituierende" Daten sind, die eine Identifikation erst ermöglichen, und keine personenbezogenen Daten 2 1 4 . Wenn nach der Übermittlung an das zuständige öffentliche Archiv eine Weiterverwendung durch die abgebende Stelle im Bereich der Eingriffsverwaltung durch faktische und normative Abschottungsmaßnahmen ausgeschlossen ist, ist es konsequent, solche „Bagatelldaten", die ohne Einfluß auf die Handlungs- und Entschlußfähigkeit eines - noch lebenden - Betroffenen sind, für die Datenverarbeitung in Archiven bereits vom Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung auszunehmen 215 . d) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß eine echte Kollision mit der Forschungsfreiheit auf die Fälle beschränkt ist, in denen sich das Archivgut des Forschers auf nicht hinreichend faktisch anonymisierte Daten von einiger persönlicher Aussagekraft erstreckt und keine konkreten Anhaltspunkte für ein Einverständnis des Betroffenen sprechen. In solchen Fällen ist weiter zu fragen, ob nicht Art. 5 Abs. 3 GG dennoch unter Beachtung weniger restriktiver Schutzmaßnahmen als der Totalsperre eine Ermöglichung der Archivgutnutzung gebietet und rechtfertigt.
1. Erhebung personenbezogener Daten für den VerwaltungsVollzug: hier erfordert der Zwang zur Angabe die bereichsspezifische und präzise Bestimmung des Verwendungszweckes sowie die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Angaben für diesen Zweck. Daher ist eine Sammlung von personenbezogenen Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken unzulässig; 2. Statistische Datenerhebungen: dem Wesen der Statistik entspricht es, daß Daten nach ihrer statistischen Aufbereitung für die verschiedensten, nicht von vornherein bestimmbaren Aufgaben verwendet werden sollen und somit ein Bedürfnis nach Vorratsspeicherung besteht. Als Ausgleichsschranken sieht das Gericht klar definierte Verarbeitungsvoraussetzungen vor. Zweck dürfe allein die Hilfe zu Erfüllung öffentlicher Aufgaben sein; besondere Vorkehrungen für die Durchführung und Organisation der Datenerhebung und -Verarbeitung seien zu schaffen, insbesondere Abschottungsregelungen nach außen schon während des Erhebungsverfahrens (Statistikgeheimnis). 214 Mayen S. 199; Kloepfer, Datenschutz als Grundrecht, S. 25. 215 s.o. zur Regelungsdichte 2. Kap. B. HI. 3. 8 Manegold
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
3. Zeitliche Schutzbereichsgrenzen. „ Postmortaler Persönlichkeitsschutz " ? a) Das Autonomieprinzip als zeitliche Begrenzung Unabhängig von der fehlenden Grundrechtsfähigkeit Verstorbener ist die Schutzwirkung informationeller Selbstbestimmung möglicherweise bereits tatbestandlich prinzipiell zeitlich begrenzt. Aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgt kein absolutes Ausschlußrecht. Das Prinzip informationeller Selbstbestimmung statuiert kein „Recht-auf-vergessenwerden". Es soll mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts gerade „nicht ... Kommunikationslosigkeit mit Hilfe einer über Herrschaftsrechte parzellierten und monopolisierten Information institutionalisieren"; es soll vielmehr „indem es eine Verarbeitung ohne die Beteiligung des Betroffenen verhindert und damit seine Handlungsfähigkeit sichert, die für eine demokratische Gesellschaft unerläßliche Kommunikation ermöglichen" 2 1 6 .
Nach dem Tod des Betroffenen fällt die Handlungsfähigkeit weg, die für die demokratische Gesellschaft wichtige Kommunikation gewinnt damit zustätzliches Gewicht. Im Mephisto-Beschluß stellt das Bundesverfassungsgerichts fest, daß die freie Entfaltung der Persönlichkeit „die Existenz einer wenigstens potentiell handlungsfähigen Person als unabdingbar voraussetzt" 217 . Wegen der Akzentuierung der Handlungs- und Entschlußfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht, muß dies dem Grundsatz nach auch für das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitete Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gelten. b) Kein postmortaler Erwartungsschutz M i t dem Tod des Betroffenen endet auch seine Eigenschaft Träger von Grundrechten zu sein, der spezifischen aus Art. 1 Abs. 3 i . V . m . Art. 19 Abs. 2 und Abs. 4 GG folgenden grundrechtlichen Rechtsfähigkeit 218 . Ein subjektives Recht ohne Rechtssubjekt gibt es nicht 2 1 9 . Demgegenüber betonen manche Autoren, daß die Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft auf Lebende nicht ausschließe, daß die informatio216 217
BVerfG S. 45. BVerfGE 30, 173 (194); dazu auch Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1
Rz 66. 218
Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3 Rz 3, 13; von Münch, GG, Vor Art. 1-19 Rz 7; Denninger in: Alternativkommentar zum GG, vor Art. 1 Rz 35. 219 Nikoletopoulos, Die zeitliche Begrenzung des Persönlichkeitsschutzes nach dem Tode, S. 92 ff.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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nelle Selbstbestimmung über den Tod hinaus fortwirke, da der Betroffene über die Verwendung seiner Daten als Lebender unter dem Schutz des Grundrechts verfügt habe 2 2 0 . Dabei wird verkannt, daß die Bindung der öffentlichen Gewalt bezüglich dieser Daten nicht aus dem (subjektiven) Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kraft Art. 1 Abs. 3 GG folgt, sondern aus Art. 20 Abs. 3 GG. Eine echte Grundrechtskollision besteht nicht. Soweit es darum geht, den Lebenden in seiner Erwartung zu schützen, daß über ihn gespeicherte Daten auch nach seinem Tode nicht für jedermann frei zugänglich sind, folgt der Schutz nicht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 G G 2 2 1 . Einen solchen Erwartungsschutz im Hinblick auf Entstellungen des Lebensbildes nach dem Tode hat das Bundesverfassungsgericht bezüglich Art. 2 Abs. 1 GG abgelehnt 222 . Zwar sichert das Recht grundsätzlich Erwartungen. Auch Grundrechte haben die Funktion des Vertrauensschutzes. Das bedeutet jedoch nicht, daß der daraus folgende Erwartungsschutz auch nach dem Tod des Betroffenen spezifisch grundrechtlich mit der Folge der unmittelbaren Rechtsbindung des Gesetzgebers aus Art. 1 Abs. 3 GG geschützt ist. Auch die Dimension objektivrechtlicher Schutzpflichten bezieht sich auf ein konkretes Rechtssubjekt. c) Kein Schutz „des Andenkens des Verstorbenen" Das allgemeine Persönlichkeitsrecht der engeren Verwandten und derjenigen, die dem Verstorbenen tatsächlich nahe standen, bleibt selbstverständlich unberührt. Die Persönlichkeit als Schutzobjekt des Art. 2 Abs. 1 GG ist (im Gegensatz zum Begriff der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG) nicht eine autonome, aus sich heraus bestehende „Wesenseigenschaft", sondern konstituiert sich durch das Zusammenleben mit anderen 223 . Die persönliche, familiäre und intime Verbundenheit Angehöriger mit dem Verstorbenen ist daher ein „Bestandteil" der Persönlichkeit der überlebenden Angehörigen. Sie unterfällt grundsätzlich dem Schutz ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts bzw. ihrem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, sofern zugleich auch personenbezogene Daten der Angehörigen
220
Bizer, Forschungsfreiheit, S. 275 m.w.N.; Wyduckel a.a.O. DVB1. 1989
S. 332. 221
Meilinger, Datenschutz im Bereich von Information und Dokumentation, S. 135 f. 222 BVerfGE 30, 194. 223 Meilinger spricht von „Persönlichkeitsschutz als Garantie von Kommunikationschancen" (S. 134).
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
betroffen sind. In Betracht kommt auch das Grundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie). Es bleibt aber immer eine Frage der Einzelfallabwägung, ob personenbezogene Daten über den Verstorbenen zugleich solche über Angehörige sind, die deren schutzwürdige Belange berühren. Ein grundrechtlicher Schutz „des Andenkens des Verstorbenen" oder „der Vorstellung von der Persönlichkeit des Verstorbenen gegen eine Bekanntgabe persönlicher Lebensumstände des Verstorbenen, die das Andenken beeinträchtigen", besteht nicht. Ein solches verselbständigtes grundrechtliches Schutzgut existiert nicht 2 2 4 . Ein Schutz der Angehörigen gegen eine solche Offenlegung kann nur bestehen, soweit deren eigene Handlungs- und Entschlußfähigkeit oder deren eigenes Persönlichkeitsrecht verletzt würde. Das kann im Einzelfall auf den Schutz eines bestimmten Lebensbildes der Angehörigen hinauslaufen, soweit dies zum Persönlichkeitsschutz der Angehörigen tatsächlich erforderlich und verhältnismäßig ist. Ob dies auch ein objektiv und nachweisbar falsches „Lebensbild" oder „Andenken" des Verstorbenen sein kann, ist mehr als zweifelhaft und nur in Ausnahmefällen denkbar. Ein verselbständigter Schutz von „Lebenslügen" durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Angehörigen scheidet jedenfalls aus. Es ist daher unzutreffend oder zumindest mißverständlich, mit Bizer von einem „Schutz des Andenkens an den Verstorbenen durch die Persönlichkeitsrechte der Angehörigen" zu sprechen, da es ausschließlich um deren Grundrechtsschutz geht 2 2 5 . Daß die Person des Verstorbenen zudem mit der Zeit für den Lebensvollzug der Überlebenden als allein tauglichem Schutzgut an Bedeutung verliert, ist in aller Regel eine psychologische Tatsache. In seinem Sondervotum zum Mephisto-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts hatte der Verfassungsrichter Stein bereits angesichts der zum Entscheidungszeitpunkt im Jahr 1971 seit dem Tod von Gustav Gründgens im Jahr 1963 verstrichenen 8-Jahres Frist Bedenken angemeldet, ob ein verfassungsrechtlicher Schutz der Angehörigen und des Verstorbenen überhaupt noch in Betracht zu ziehen sei, „da mit der Zeit die Erinnerung an den Verstorbenen verblasse" 2 2 6 . Aus dieser Feststellung lassen sich zwar keine unmittelbaren verfassungsrechtlichen Vorgaben für die archivgesetzliche Sperrfristlänge für personen224
A. A. Bizer, Forschungsfreiheit, S. 279: „unabhängig davon, ob die ... Angaben wahr oder falsch sind". 225 Bizer S. 281. Bizer lehnt im Ergebnis die „absolute Bewahrung der Vorstellung über einen Angehörigen" ab. 226 BVerfGE 30, 173, (215).
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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bezogenes Archivgut gewinnen; es wird aber deutlich, daß die aus Anlaß der parlamentarischen Diskussion zum BArchG von Datenschutzfachleuten in Feld geführten exorbitanten Sperrfristlängen von 50 bis 150 Jahren seit der Entstehung der Unterlagen verfassungrechtlich unverbindlich und ohne Rückhalt sind 2 2 7 . Es bleibt festzuhalten, daß nicht nur subjektive Schutzansprüche, sondern auch objektive Schutzpflichten des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (in seiner Ausgestaltung gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) mit dem Tode des Betroffenen enden. Daher ist auch eine (echte) Grundrechtskollision mit der Forschungsfreiheit des Historikers vom Zeitpunkt des Todes des Betroffenen ab ausgeschlossen. Ein spezifisch grundrechtlicher „postmortaler Persönlichkeitsschutz" existiert nicht. Auch einen grundrechtlich geschützten oder über das Rechtsstaatsprinzip motivierten Anspruch auf Vertrauensschutz hat der Verstorbene nicht. Es kann nach dem Tode eines Betroffenen nur darumgehen, festzustellen, ob überlebende Angehörige oder sonstige Dritte ihrerseits Betroffene, d.h. Grundrechtsträger sind. 4. Postmortale Datenrestriktion aufgrund des Menschenwürdesatzes des Art. 1 Abs. 1 GG Das Bundesverfassungsgericht leitet im Mephisto-Beschluß verfassungsrechtliche Vorgaben über den Umgang mit Informationen über Verstorbene nicht aus dem (subjektivrechtlichen) allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Art. 2 Abs. 1 i . V . m . Art. 1 Abs. 1 GG, sondern aus dem Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG her, ohne den irreführenden Begriff des „postmortalen Persönlichkeits-Schutzes" zu gebrauchen: „Es würde mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem T o d e " 2 2 8 .
Die staatliche Pflicht, die Menschenwürde zu achten, setzt als objektivrechtliches, höchstes Verfassungsprinzip nicht den Verstorbenen als Rechtssubjekt voraus oder dessen „Ehre" oder gar die „Leiche" an dessen Stelle. Sie richtet sich als objektives Verfassungsrecht an alle staatliche Gewalt, 227
Vorschläge von Simitis und Homann in der Anhörung des BT-Innenausschusses; dazu s.u. 4. Kap. A. V. 4. 228 BVerfGE 30, 173 ff.; B G H GRUR 1984 S. 907 f. „Frischzellenkosmetik".
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
die dazu aufgefordert wird, menschliche Würde, die diejenige der Überlebenden mit umfaßt, zu schützen und zu achten (Art. 1 Abs. 1 S. 2 G G ) 2 2 9 . Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 GG verbietet die Menschenwürde, öffentlicher Gewalt, „den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt" 2 3 0 . Daraus folgt, daß es nicht hinnehmbar wäre, sämtliche personenbezogenen Daten nach dem Tode des Betroffenen sofort unbeschränkt zur Kenntnisnahme, Weiterübermittlung an Dritte, etc. freizugeben. Deutlich wird dies am keinesfalls fiktiven Beispiel des ohne Angehörige und Verwandte verstorbenen, einsamen Menschen. Würden hier personenbezogene Daten durch den Gesetzgeber mit dem Todeszeitpunkt ohne Kontrolle und Einschränkungen freigegeben, und würde das Achtungsgebot auf (handlungs- und entscheidungsfähige?) lebende Menschen beschränkt, wäre dies mit der Vorstellung der Würde des Menschens unvereinbar, die den Lebenden einen respektvollen Umgang mit der Erinnerung an die Toten (um ihrer selbst Willen) auferlegt. Unter dem Aspekt der Menschenwürde ergeben sich daher Mindesteinschränkungen in zeitlicher Hinsicht für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, die von der Art der personenbezogenen Daten zunächst unabhängig sind. Die Normierung von besonderen postmortalen Schutzfristen erscheint als zum Schutz der Menschenwürde geeignet. Ein vergleichender Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Art. 1 Abs. 1 GG zeigt allerdings, daß eine durch die Achtung der Menschenwürde gebotene Datenrestriktion nicht alle personenbezogenen Daten des Verstorbenen umfaßt, sondern sich inhaltlich auf besonders erhebliche Fälle der Datenübermittlung zur verfäl-
229
Das BVerfG hat die Frage offengelassen, ob Art. 1 Abs. 1 GG überhaupt ein Grundrecht enthält (E 67, 126 (137). Dabei handelt es sich nicht um „Verfassungsmetaphysik", wie Bizer meint (S. 277 f.), sondern um die spezifische Wirkungsweise des Verfassungsbegriffs der Menschenwürde. Dieser erschließt sich allerdings nicht ohne die spezifisch christlich-theologische „Gottähnlichkeits"-Vorstellung des Menschen; Zippelius in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rz 14, 29, 53 ff.; Dürig a.a.O. Rz 22. Bizer lehnt eine Schutzwirkung mit dem Hinweis auf die „wenig überzeugende Vorstellung" ab, „daß die Würde des einzelnen" (also nicht wie Art. 1 Abs. 1 GG formuliert „des Menschen") über sein irdisches Personsein hinaus fortwirke, obwohl die Person selbst nicht mehr lebt". Ebenso Bizer, Postmortaler Persönlichkeitsschutz? Rechtsgrund und Länge der Schutzfristen für personenbezogene Daten Verstorbener nach den Archivgesetzen des Bundes und der Länder, N V w Z 1993 S. 653 ff. 230 BVerfGE 50, 166 (175); 87, 209 (228). Damit ist selbstverständlich nicht die Eigenschaft als Rechtssubjekt, sondern eine philosophische Qualität gemeint; das verkennt Bizer S. 277.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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sehenden und bewußt einseitigen, entstellenden Darstellung beschränkt 231 . Zumindest dem Grundsatz nach können wahrheitsgemäße Angaben über einen Verstorbenen (etwa Straftaten, NSDAP, Stasi-Tätigkeit, etc.) keinen Verstoß gegen das Achtungsgebot des Art. 1 Abs. 1 GG darstellen 232 . 5. Konsequenzen flir die Archivgesetzgebung a) Beschränkung des postmortalen Geheimnisschutzes auf die Dimension objektivrechtlicher Schutzpflichten Daraus folgt, daß der - spezifisch - postmortale Geheimnisschutzes in öffentlichen Archiven kein Fall echter Grundrechtskollision ist. Postmortaler Grundrechts-, d.h. grundrechtlich indizierter Datenschutz ist daher auf die Dimension objektivrechtlicher Schutzpflichten mit der Folge beschränkt, daß Gesetzgeber über einen weiteren Gestaltungsspielraums verfügt als bei direktem Eingriffsschutz. Soweit Fragen des postmortalen Datenschutzes berührt sind, können Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG Maßstäbe für eine Mindestachtung entnommen werden, die bei Verkennung und grundsätzlicher Mißachtung des Achtungsgebots des Art. 1 Abs. 1 GG relevant werden. Im Ergebnis läßt sich für Forschung mit archivierten Daten Verstorbener feststellen, daß in erster Linie die Grundrechte von Angehörigen zur Beschränkung der verfassungsrechtlich geschützten Forschungsfreiheit tauglich sind. Wenn die Verarbeitung etwaiger personenbezogener Daten nach ihrer Art und ihrem Inhalt sich auf überlebende Angehörige auswirkt oder die zeitnahe Freigabe von personenbezogenen Daten mit dem objektiven Prinzip der Menschenwürde unvereinbar erscheint, besteht ein verfassungsrechtliches Gebot zur Aufrechterhaltung der Geheimhaltung archivierter Unterlagen, solange das Interesse an der Durchführung eines Forschungsvorhabens nicht überwiegt. Es muß sich nicht prinzipiell um ein spezifisch öffentliches Interesse, d.h. ein überwiegendes Gemeinwohlinteresse handeln. Die besonderen archivgesetzlichen Sperrfristen sind unter dem Gesichtspunkt der Achtung der Menschenwürde nicht verfassungsrechtlich unverrückbar vorgegeben. Einengungen des gesetzgeberischen und exekutiven Spielraumes ergeben sich allerdings aus der Forschungsfreiheitsgewährleistung. Die besonderen postmortalen Sperrfristen haben ihre Bedeutung in 231
Der Mephisto-Beschluß betraf die nach Ansicht der Verfassungsrichter grob entstellende und einseitige Wiedergabe der Person Gustav Gründgens alias Höffgen, die nicht ausreichend als Fiktion gekennzeichnet sei; das Lebach-Urteil (BVerfGE 27, 1, 3) die Verbreitung der Strafverurteilung wegen Mordes nach Verbüßung der Mindeststrafe durch Massenmedien. 232 Bizer S. 279.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
der Ermöglichung der Abwägung mit potentiellen Kenntnisnahmeinteressen und gewinnen so den Charakter von maximalen Bearbeitungsfristen. Das Verkürzungsermessen vollzieht sich in dem hier aufgezeigten weiten Rahmen. b) Verbot unverkürzbarer Sperrfristen und starrer Schranken Die Sperrung der personenbezogenen Daten des Verstorbenen ist als Schutzmaßnahme zugunsten der überlebenden Angehörigen geeignet, wenngleich nicht die allein taugliche Schutzmaßnahme. Ob und für welchen Zeitraum sie erforderlich ist, läßt sich nur im Einzelfall im Hinblick auf die konkreten Daten und Interessen der Angehörigen ermitteln. Eindeutige und strikte Vorgaben für die Dauer der Sperre einer Archivguteinheit lassen sich den Grundrechten der Angehörigen nicht entnehmen. Der Gesetzgeber ist auf eine pauschalisierende Betrachtung angewiesen. Er muß Ausnahmeregelungen in beide Richtungen - der Verlängerung der Sperrung und Freigabe zur Benutzung - normieren, deren gesetzliche Ausgestaltung und tatsächliche Handhabung von der konkreten Sperrfristdauer abhängt. Die 30jährige Sperrfrist seit dem Tode des Betroffenen, die § 5 Abs. 2 BArchG vorsieht, ist verfassungsrechtlich nicht zwingend geboten. Von der überwiegenden Anzahl der Landesarchivgesetze wird eine postmortale Sperrfrist zugunsten der Angehörigen von 10 Jahren auch unter grundgesetzlichen Maßstäben als ausreichend angesehen 233 . Das ist verfassungsrechtlich nicht bedenklich, solange im Einzelfall andere geeignete Schutzmöglichkeiten gesetzlich vorgesehen sind. Eine starre Schrankenlösung, bei der Werk- und Wirkbereich der Forschungsfreiheit unterschiedlichen Schranken unterliegen, verbietet sich wegen des klaren Wortlauts des Art. 5 Abs. 3 GG. Da andererseits nicht alle Handlungen, die Art. 5 Abs. 3 GG abdeckt, des gleichen Schutzes bedürfen, sind staatliche Eingriffe um so weniger zuzulassen, je näher die umstrittenen Handlungen dem Kern der Forschungsfreiheit zuzuordnen sind und je mehr sie „sich i m Bereich des Schaffens abspielen" 234 . Eine „zweifelsfreie schwerwiegende Beeinträchtigung" des Persönlichkeitsrechts ist allerdings auch durch eine Tätigkeit im Kernbereich der Forschungsfreiheit nicht zu rechtfertigten. Andererseits soll eine „geringfügige 233
s.u. 6. Kap. B. I. 1.; Bizer S. 281 m.w.N.; Wyduckel DVB1. 1989 S. 336. BVerfGE 77, 240 (255). Dieser für die Kunstfreiheit (Straßentheater) aus der Angemessenheitsverhältnismäßigkeit entwickelte Grundsatz bedeutete auf die Forschungsfreiheit übertragen, daß der Bereich historischer Archivforschung und Quellenanalyse archivierter Unterlagen als „Schaffensbereich" sogar dem „Kernbereich" der Forschungsfreiheit zugeordnet werden müßte. 234
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
121
Beeinträchtigung" des Persönlichkeitsrechts angesichts der hohen Bedeutung der Kunstfreiheit, die gerade in der Vörbehaltlosigkeit zum Ausdruck komme, nicht ausreichen 235 . Das bedeutet, daß sich die informationelle Selbstbestimmung nach dem Prinzip der Einheit der Verfassung in eine demokratische Kommunikationsordnung einpassen muß, zu deren Bestandteilen auch gehört, daß sich andere ein Bild von anderen machen dürfen und sollen. Jeder hat grundsätzlich das Recht, sich von jedem anderen ein eigenes Bild zu entwerfen und auch zu propagieren. Diese grundrechtlichen Vorgaben sind bei der gesetzlichen Lösung und der Entscheidung über die Nutzungserlaubnis angemessen zu berücksichtigen 236 . Wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, daß die notwendige verfassungsrechtliche „Inhaltsbestimmung oder Grenzziehung" in einem Kollisionsfall nicht generell, sondern nur im Einzelfall vorgenommen werden könne 2 3 7 , bedeutet das für den Gesetzgeber, daß er nur einen solchen Rahmen für den Grundrechtsausgleich schaffen darf, der ausreichend Spielraum für abweichende Wertungen im Einzelfall zuläßt. Für die Archivgesetzgebung bedeutet dies, daß strikte, im Einzelfall unverkürzbare Sperrfristen oder eine nicht verlängerbare Sperre grundsätzlich unzulässig und nur in durch das Archivgesetz klar umrissenen Ausnahmefällen zulässig sind. c) Abwägungskriterien Maßgebliche Abwägungskriterien der Angemessenheitsverhältnismäßigkeit sind das „Gefahrenpotential" beim Betroffenen, das in einer Gefahrenprognose nach polizeirechtlichem Vorbild zu ermitteln ist, und die Bedeutung der Daten für die Durchführung des konkreten Forschungsvorhabens, sowie das öffentliche Interesse an seiner optimalen Realisierung. Indikatoren für die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen sind besondere Eigenschaften des Grundrechtsträgers selbst, wie eine verminderte Schutzwürdigkeit oder fehlende Grundrechtsfähigkeit. Archivgesetzliche Anknüpfungsbegriffe sind die „Person der Zeitgeschichte" oder „Amtsträger in Ausübung seines Amtes", die aus anderem Zusammenhang stammend verfassungskonform auszulegen sind. Auf Seiten des Datenverwenders (Forschers) kommt es auf persönliche Voraussetzungen der Mißbrauchsgefahr an, die abhängig von der Person des Forschers sowie des Forschungsgegenstandes und beabsichtigter Publikationsart geringer oder stärker sein 235 BVerfGE 67, 213 (229). Im Ausgangsfall „Anachronistischer Zug" Beleidigung gem. § 185 StGB. 236 BVerfGE 27, S. 71 (82 f.) sowie E 54, 148 (156). 237 BVerfGE 47, 327 (370).
122
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archiv wesen
können. Indikatoren des Gefahrenpotentials sind vor allem die hypothetischen Verwendungsmöglichkeiten der jeweiligen Datenart und die Publikationsart. Auf Seiten der Forschungsfreiheit ist ggfs. ein besonderes öffentlichen Interesses an der Durchführung eines Forschungsvorhabens zu Lasten des informationellen Selbstbestimmungsrechts zu berücksichtiegen, da das informationelle Selbstbestimmungsrecht durch überwiegende Interessen der Allgemeinheit einschränkbar ist. Der Gesichtspunkt des „besonderen öffentlichen Interesses" darf keinesfalls in die Frage der Schutzbereichsbestimmung des Art. 5 Abs. 3 GG einfließen oder Eingang in die Bewertung der Wissenschaftlichkeit oder Methodik finden. Zugunsten der Forschungsfreiheit ist aber nach der Rechtsprechung des BVerfG „stets der diesem Freiheitsrecht zugrundeliegende Gedanke mit zu berücksichtigen, daß gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen und Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am besten dient" 2 3 8 . Grundsätzlich ist auf der Seite der Forschungsfreiheit entsprechend dem Gebot der Angemessenheitsverhältnismäßigkeit zu fragen, ob die jeweils begehrten Archivunterlagen auch wirklich für ein bestimmtes Forschungsvorhaben erforderlich sind und ob nicht andere Quellen ebenso „ausreichend" und weniger „gefahrgeneigt" sein könnten. Da Art. 5 Abs. 3 im Lichte des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG auszulegen ist, gilt der Grundsatz der Konfliktminderung, so daß eine faktische Anonymisierung als Schutzbereichsgrenze vorrangig ist. Die problematische Frage dabei ist jedoch, wer dies im Einzelfall feststellen darf. Es begegnete prinzipiellen Bedenken, die Frage nach der Erforderlichkeit des jeweiligen Archivguts für ein Forschungsvorhaben durch die Archivverwaltung oder durch Verwaltungsgerichte abschließend überprüfen zu lassen. Insofern kommt nur eine Plausibilitätskontrolle in Frage. Ansonsten ist nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. Die Bestimmung und Festlegung der Verwendungsmöglichkeiten begegnet insoweit Bedenken, als die Verpflichtung des historischen Forschers zur Verwendung im Rahmen eines bestimmten Forschungsprojektes wiederum die Forschungsfreiheit tangiert.
238
BVerfG a.a.O.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
123
d) Verfassungskonforme Auslegung der allgemeinen archivgesetzlichen Sperrfrist und der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut Daraus ergibt eine Privilegierung der Forschungsfreiheit, dergestalt, daß diese nur dann zurückzutreten hat, wenn im Einzelfall keine bloß geringfügige sondern eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts eines lebenden Betroffenen/Angehöriger zu befürchten steht. Außerhalb der sondergesetzlich geschützten persönlichen Geheimnisse und Offenbarungsverbote, die den besonderen verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz genießen, und an die daher die besonderen Benutzungssperrfristen der Archivgesetze anknüpfen, bedarf dies grundsätzlich der Überprüfung im Einzelfall. Daher erscheint die im folgenden so genannte allgemeine Sperrfrist nur bei restriktiver grundrechtskonformer Auslegung verfassungsgemäß: Da sie sich nicht konkret auf verfassungsrechtliche, begrenzungstaugliche Normen und Wertungen bezieht, sondern eine ausfüllungsbedürftige Blankettschranke ist, bedarf sie der verfassungskonformen Auslegung im Sinne einer Bearbeitungsfrist, die dazu dient festzustellen, ob im Einzelfall höherrangige Interessen die Benutzung des erstrebten Archivguts verhindern, andernfalls sie zwingend zu verkürzen bzw. aufzuheben ist. Die Darlegungslast liegt dabei auf Seiten der Archivverwaltung. Entsprechendes gilt auch für die besondere Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut, sobald feststeht, daß kein Betroffener mehr lebt. I I . Art. 20 G G i.V.m. Art. 79 Abs. 3 G G als Schranke des Art. 5 Abs. 3 G G 1. Begrenzungstauglicher
Charakter von Art. 20, Art. 79 Abs. 3 GG
Das BVerfG beschränkt sich in seiner Konzeption der verfassungsunmittelbaren Grundrechtsbeschränkungen nicht auf Fälle der Grundrechtskollision, sondern hält sich Spielraum für zukünftige Einzelfallabwägung durch einen „qualifizierten" verfassungsrechtlichen Allgemeinvorbehalt offen, indem es nach dem „Prinzip der Einheit der Verfassung" „Grenzen in anderen Bestimmungen der Verfassung (...), die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen" und „andere oberste Grundwerte der Verfassung" 239 als begrenzungstauglich anerkennt. Inwieweit nach dem Prinzip der Einheit der Verfassung auch anderen 239 BVerfGE 67, 213 (228); E 33, 52 (71); E 77, 253: „andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter"; seit BVerfGE 30, 173 (193) ständige Rechtsprechung.
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archivwesen
Grundgesetzbestimmungen ein spezifisch grundrechtsbegrenzender normativer Gehalt „ z u f ä l l t " , hängt entscheidend v o m Verfassungsbegriff ab. Das Bundesverfassungsgericht spricht dem Grundgesetz den Charakter einer Wertordnung zu, das sogar ein einheitliches Wertesystem b i l d e 2 4 0 . Wenn dies der Fall ist, ist potentiell jede Verfassungsnorm für die Annahme eines „spezifisch grundrechtsregelnden" Gehaltes offen. D i e Bestimmung begrenzungstauglicher grundgesetzlicher Bestimmungen ist seither Gegenstand einer breiten wissenschaftlichen Auseinandersetzung 2 4 1 . Methodisch haltbar kann die A n n a h m e eines Schrankencharakters i m Ergebnis nur sein, wenn die Verfassungsauslegung einen spezifisch grundrechtsbegrenzenden normativen Gehalt der fraglichen Grundgesetzbestimm u n g ergibt. Dies ist v o m Standpunkt eines „restriktiven" Verfassungsbegriffs i m Sinne einer Rahmenordnung nur der Fall bei Vorschriften, die sich unmittelbar auf Grundrechtsgehalte beziehen oder bei denen ein Grundrechtskonflikt zwingend vorgezeichnet i s t 2 4 2 . Dies sind i n erster L i n i e die 240 BVerfGE 30, 193: „ . . . Maßgabe der grundgesetzlichen Werteordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertesystems . . . " 241 Bereits die Verfassungsrichter Böckenförde und Mahrenholz schlossen in einem Sondervotum generell „Kompetenzbestimmungen", „Ermächtigungsnormen" und „Organisationsregelungen" als begrenzungsuntaugliche Bestimmungen aus. BVerfGE 69, 1 ff., 57 (58 ff.; 65 ff.). Es bestehe die Gefahr, daß andere „Rechtsgüter mit Verfassungsrang" zu einem allgemeinen, wenig qualifizierten Gemeinschaftsvorbehalt ausgedehnt werden. Die Grundrechte würden so zu „bloßen Abwägungsgesichtspunkten" in der richterlichen oder gesetzgeberischen Entscheidung; Böckenförde S. 64, 65; ders. in: Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in JA 1984 S. 325 ff., 332 ff. Danach stellte die Berufung auf eine Wertordnung der Verfassung „nicht mehr als eine pluralistische Einigungsformel" dar. Röhl spricht vom „symbolischen Gehalt" der Verfassung; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 428 f. Vgl. v.a. Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie. Erbacher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, 1967, S. 57 ff.; ders., Verfassungslehre, § 3 Der positive Verfassungsbegriff. Die Interpretation der Verfassung als Lebensordnung und Wertgrundlage des politischen Gemeinwesens geht in Deutschland auf Rudolf Smends sogenannte „Integrationslehre" zurück. In der Aufnahme gemeinsamer Sach- und Kulturwerte sollte der Verfassung eine „stetige einheitsbildende Funktion" zuwachsen (Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 44 ff.). Nach 1945 wurde dieser Ansatz insbesondere einflußreich durch Dürig (Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1955/56) S. 117 ff.; und v.a. ders. in: Maunz/Dürig, GG, 1. A. 1960, Erl. zu Art. 1) in Anknüpfung an die Wertphilosophie Nicolai Hartmanns und Max Schelers weitergeführt und vom BVerfG (a.a.O.) aufgenommen. Gegen Bökkenförde und Mahrenholz mit beachtlichen systematischen und historischen Gründen Sachs in: Stern, Staatsrecht III/2 S. 550 ff., 571 ff.; ders., Grundrechtsbegrenzungen außerhalb von Grundrechtsvorbehalten, Jus 1995 S. 984 ff.. Sachs nimmt eine im Einzelfall zu konkretisierende grundrechtsbegrenzende „Zusatzbedeutung" grundgesetzlicher Kompetenznormen an (a.a.O. Staatsrecht III/2 S. 858 f. m.w.N.). Ebenso Dreier, Forschungsbegrenzung als verfassungsrechtliches Problem, DVB1. 1980 S. 471.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 2 bis 4 GG und Art. Grundrechtsabschnitts läßt sich über Art. 79 lichen Organisationsprinzipien des Art. 20 nungsgehalt entnehmen, der Art. 20 i.V.m. zungstauglich" erscheinen läßt 2 4 3 .
125
79 Abs. 3 GG. Außerhalb des Abs. 3 GG v.a. für die staatGG ein normativer WertordArt. 79 Abs. 3 GG „begren-
Das Bundesverfassungsgerichts betont, daß sich eine Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Forschungsfreiheit „nicht formelhaft mit dem »Schutz der Verfassung' oder mit der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" (oder einem sonstigen Bereich staatlicher Tätigkeit) rechtfertigen" läßt 2 4 4 . Es ist daher geboten, anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter festzustellen, „die bei realistischer Einschätzung der Tatumstände der Wahrnehmung des Rechts aus Art. 5 Abs. 3 GG widerstreiten und diese in Konkordanz zu diesem Grundrecht zu bringen" 2 4 5 . 2. Geheimhaltung als Konkretisierung der Verfassungsprinzipien des Art. 20 GG Für die Beschränkung des Archivzugangs kommen die aus der Trennung der Gewalten und der repräsentativen Demokratie 2 4 6 folgenden Prinzipien der Organisationsgewalt und Verantwortlichkeit der Exekutive 2 4 7 sowie die innere und äußere Sicherheit des Staates als Existenzbedingungen des Rechtsstaats in Betracht. Aus den in Art. 20 GG enthaltenen Strukturprinzipien der Verfassung müssen aufgrund ihres Abstraktionsgrades schrankentaugliche Organisationsprinzipien durch Verfassungskonkretisierung entwickelt werden. Die Ordnungsprinzipien sind nach dem rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt durch den Gesetzgeber zu konkretisieren, was mit den archivgesetzlichen Sperrfristen und Nutzungsversagungsgründen geschehen ist. Die pauschale Berufung auf den Schutz des oder der „Staatsgeheimnisse" scheidet mangels eines verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunktes aus. Es
242 Sachs in: Stern a.a.O. III/2 S. 559: „grundrechtsregelnd aufgrund von unvermeidlichem Normwiderspruch". 243 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rz 381; Sachs in: Stern, Staatsrecht III/2 S. 574 m.w.N.; BVerfGE 77, 240 (254 f.). 244 BVerfGE 77, 240 (254, 255) zur Kunstfreiheit. 245 BVerfG a.a.O. konkret in Betracht gezogen wurden Art. 9 Abs. 2, Art. 21 Abs. 2, Art. 18 GG. 246 Sachs S. 581 f. 247 Begrenzungswirkung der staatlichen Organisationsgewalt: BVerfGE 11, 30 (40); E 7, 377 (398).
126
2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archiv wesen
handelt sich um ein Mittel, das keine verfassungsrechtliche Verselbständigung erfahren hat. Die Berufung auf die Funktionsfähigkeit der außerarchivischen Staatsverwaltung scheidet als kollidierendes "Rechtsgut" nach der besonderen Situation in Archiven in aller Regel nach der Definition des Archivguts - als nicht mehr für die laufende Verwaltung benötigte Unterlagen - aus. Ausnahmen sind in Sonderbereichen denkbar (Auswärtiges Amt, Gewährleistung äußerer Sicherheit) 248 . Soweit es um Amtsträgerschutz durch Schutz der Anonymität des einzelnen Beamten oder um den Schutz der Anonymität von Gremienentscheidungen „pluralistischer Gremien" (Entscheidungsschutz) geht, geht es zumindest auch um Individualrechtsschutz, so daß an kollidierenden Grundrechten (etwa Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) angeknüpft werden kann. a) Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Vor diesem Hintergrund kommt dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit entscheidende Bedeutung zu: Die Geheimhaltung muß verfassungsmäßige Zwecke verfolgen und ihre Aufrechterhaltung in den Archiven muß als geeignetes Mittel zur Bewahrung einer konkreten, verfassungsrechtlich geschützten Position überhaupt in Betracht kommen. Im Einzelfall ist festzustellen, ob die Geheimhaltung auch im konkreten Fall erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Die archivgesetzliche Nutzungsregelung muß für Ausnahmen offen sein, die gegebenenfalls gewährt werden müssen. b) Organisationsgewalt, Verantwortlichkeit der Exekutive Nach der im Grundgesetz zum Ausdruck gelangten Verfassungstradition gehört ein gewisser exekutiver Eigenbereich zum Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung in der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie. Aus ihm folgt wiederum das Prinzip der Organisationsgewalt der Regierung, die im organisationsrechtlichen Teil des GG eine ausreichende Konkretisierung erfahren hat. Das Prinzip der Gewaltenteilung und die entsprechenden Aufgabenzuweisungen machen es dem Grunde nach unabweisbar, daß dem Staat auch die Mittel zur Verfügung stehen müssen, ohne die er diese ihm zugewiesenen Aufgaben nicht wahrnehmen kann. Es bedarf eines organisatorischen Spielraumes zur Aufgabenerfüllung der jeweiligen Staatsgewalt 249 . Auch ein Rückgriff auf „Verfassungsgewohnheitsrecht" ist
248
Mayen S. 214 m.w.N.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
127
grundsätzlich zulässig, soweit ausreichende Anhaltspunkte im GG vorliegen250 Daß die Geheimhaltung von Regierungstätigkeit, die sich beispielsweise auch auf die Bildung von Sonderarchiven auswirkt, ein grundsätzlich zulässiges Mittel zur Verwirklichung verfassungsgemäßer Zielsetzungen sein kann, kann nicht prinzipiell in Frage gestellt werden. Die Berufung auf die Organisationsgewalt des Staates führt aber nicht automatisch zur einer exklusiven Verfügungsgewalt des Staates über „seine" Datenbestände; denn die Verwendung und Zugänglichkeit der sachlichen Verwaltungsmittel, muß durch die jeweils betroffene Staatsaufgabe legitimiert werden. Sobald die jeweilige konkrete Aufgabe erfüllt ist, endet grundsätzlich auch das Vorrecht der Exekutive auf „ihre" Unterlagen und Informationen. Aus dem Aktenzugangsrecht des § 5 Abs. 8 BArchG kann man ableiten, daß der Bundesgesetzgeber dies in der Regel 30 Jahre nach der Entstehung von Verwaltungsunterlagen angenommen h a t 2 5 1 . c) Äußere und innere Sicherheit des Staates Zugangsbeschränkungen werden überlicherweise mit Hinweis auf die Sicherheit des Staates 252 insbesondere für die Sonderarchive (Geheimarchive) gerechtfertigt: das geheime Bundesarchiv (für den Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums), das Archiv des Auswärtigen Amts und des Bundesministeriums für Verteidigung. Die Geheimhaltung bestimmter Unterlagen ist gewohnheitsmäßig anerkannt und erscheint zumindest deswegen prinzipiell als geeignetes Mittel zur Erfüllung spezifischer Staatsaufgaben in diesen Bereichen, weil ausländische Partner darauf bauen. Die archivgesetzliche Anknüpfung und Ausgestaltung findet sich in den besonderen Sperrfristen und Sondertatbeständen zur Nutzungsuntersagung im Einzelfall. Für die weniger problematische Erscheinungsform der „äußeren Sicherheit" finden sich verfassungsrechtliche Anknüpfungen in Art. 12 a, 24, 73 Nr. 1; 87 I GG. Die äußere Sicherheit ist als Verfassungs- und Staatsziel bzw. „Wert" unumstritten. Die Begrenzungstauglichkeit für die wissenschaftliche Forschungsfreiheit ergibt sich nach herrschender Ansicht aus der verfassungsrechtlichen Aufgabenzuweisung an den Bund, insofern ist auch die archivgesetzliche Anknüpfung für das Archiv des auswärtigen Amtes 249 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 55 ff.; Mayen a.a.O.; Stern, Staatsrecht I I S. 794. 250 Sachs S. 595. 251 s.u. 5. Kap. A. II. 3.; 6. Kap. C. V. 4. 252 Mayen S. 210 ff.; BVerGE 28, 243 (260 f.); E 77, 240 (255 „Schutz der Verfassung").
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2. Teil: Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Archiv wesen
mit einem besonderem Nutzungsregime unproblematisch. Die Geheimhaltung zählt zu den üblichen und gewohnheitsmäßig anerkannten Mitteln in diesen Bereichen. Die gesetzliche Statuierung besonderer Sperrfristen für die Nutzung entsprechenden Archivguts aus den Bereichen Auswärtiges und Verteidigung ist daher grundsätzlich zulässig. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob die Geheimhaltung im Einzelfall taugliches und verhältnismäßiges Mittel ist. Der Fall eines echten für den Bestand der Bundesrepublik bedeutsamen außenpolitischen Geheimnisses ist kaum vorstellbar. I m Kern dürfte es die Fälle gehen, in denen die Offenbarung bestimmter außen- oder verteidigungspolitischer Tatbestände aktuelle Handlungsspielräume der Exekutive in schädlicher Weise einzuengen droht. Für die Ablehnungsbegründung muß die Verhältnismäßigkeit grundsätzlich von Fall zu Fall begründet werden. Die Sperrfristen müssen auch hier für Ausnahmen offen sein. Das Prinzip äußerer Sicherheit führt nicht automatisch zu einem verfassungsrechtlichen Geheimhaltungsprinzip im Bereich der öffentlichen Archive. Problematischer ist die verfassungsrechtliche Anknüpfung für den Schutz der „inneren Sicherheit", die ausdrücklich im Grundgesetz nicht erwähnt ist. Ihr Begriff steht in engem Zusammenhang mit dem Gewaltmonopol des Staates und der inneren Souveränität. Innere Sicherheit gehört zu den Voraussetzungen staatlicher Einheit 2 5 3 . Als Prinzip, das für Wertungen in alle Richtungen offen ist, ist sie jedoch zur Einschränkung von Grundrechten problematisch. Das Prinzip der inneren Sicherheit ist allerdings auf die Verwirklichung der Grundrechte als konstituierender Merkmale der inneren Ordnung gerichtet und so eng mit dem Schutzpflichtgedanken und dem grundrechtlichen Schutzauftrag des Staates verknüpft (objektivrechtlichen Dimension der Art. 1, 2 G G ) 2 5 4 . Für die Begrenzung von Grundrechten ist das Prinzip der „inneren Sicherheit" des Staates daher grundsätzlich begrenzungstauglich und zulässiger Anknüpfungstatbestand für archivgesetzliche Sperregelungen. Die Geheimhaltung bestimmter Unterlagen muß geeignetes Mittel zur Bewahrung innerer Sicherheit im Einzelfall sein und bedarf der eindeutigen gesetzmäßigen Ausgestaltung durch besondere archivgesetzlichen Sperrfristen und Sondertatbestände.
253
Götz, HdBSDtR Bd. 3, § 79, Innere Sicherheit, Rz 2 f. Götz leitet den Verfassungsrang der Staatsaufgabe „innere Sicherheit" aus der Tradition des Verfassungsstaates in Verbindung mit Ordnungsvorschriften des GG ab. 254 Stern, Staatsrecht I I S. 843 ff.; Staatsrecht I I I / l S. 931 ff.
3. Kap.: Das Archivzugangsrecht des historischen Forschers
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I I I . Zusammenfassung Art. 5 Abs. 3 GG gewährt dem historischen Forscher ein Zugangsrecht zu öffentlichen Archiven, das vom abwehrrechtlichen Gehalt des Grundrechts umfaßt wird. Eine Beschränkung des Archivzugangs bedarf der Rechtfertigung durch ein Gesetz, das durch den Grundrechtsschutz zugunsten Dritter oder spezifisch grundrechtsbegrenzende Verfassungsprinzipien gedeckt ist. Ein grundrechtsspezifischer postmortaler Persönlichkeitschutz besteht nicht. In Betracht kommen in erster Linie das informationelle Selbstbestimmungsrecht lebender Dritter, soweit persönlich zuordnungsfähige Informationen von persönlichem Gewicht betroffen sind. Sind persönliche Daten einer lebenden Person nicht ohne unverhältnismäßigen Aufwand zuzuordnen besteht keine echte Grundrechtskollision. Die Interessen der Forschung genießen in diesem Fall grundsätzlich den Vorrang. Eine Geheimhaltung des staatlichen Arkanbereichs wird prinzipiell durch den Grundsatz der Verantwortlichkeit der Regierung gedeckt, dem über Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 GG grundrechtsbegrenzende Wirkung zuwächst. Dies gilt nur solange die Aufrechterhaltung der Geheimhaltung verhältnismäßig, insbesondere der Zweck der Geheimhaltung verfassungsgemäß und diese selbst zum Schutz eines konkreten Schutzguts geeignet ist. Sperrfristen sind zwar grundsätzlich geeignete Mittel zum Schutz der o.g. Verfassungsgüter. Sie sind jedoch wegen ihres pauschalen Charakters nur solange verhältnismäßig, als Ausnahmebestimmungen gesetzlich zugelassen sind und die Sperrfristen zum Schutz eines konkreten Schutzguts erforderlich sind. Dies ist bei der allgemeinen, unbenannten Sperrfrist nicht der Fall. Eine starre personenbezogene Schutzfrist von mehr als 10 Jahren nach dem Tod eines Betroffenen ist grundrechtlich nicht geboten. Eine Mindestachtungsfrist von 10 Jahren ist allerdings aus dem Menschenwürdegebot des Art. 1 Abs. 1 GG herleitbar. Sie entspricht derzeitigem Konsens und dem Mephisto-Urteil des BVerfG.
9 Manegold
3. T e i l
Archivverwaltungsrecht 4. Kapitel
Allgemeiner Teil A . E n t s t e h u n g des B u n d e s a r c h i v g e s e t z e s I . Erforderlichkeit von Archivierungsermächtigungen 1. Rechtslage
vor Inkrafttreten
der
Archivgesetze
B i s z u m Inkrafttreten der Archivgesetze war weder die Archivbenutzung, noch die Ü b e r m i t t l u n g von A l t a k t e n durch Gesetz geregelt 1 . D e m Bundesarchiv wurde früher keine nach außen wirkende, eigenständige Verwaltungstätigkeit zuerkannt. D i e Aufgabe des Bundesarchivs wurde i n erster L i n i e i n der Sammlung und Dokumentation gesehen und ausschließlich als administrative H i l f s f u n k t i o n des Bundes verstanden 2 . Eine parlamentsge1 M i t Ausnahme Baden-Württembergs, das als einziges Bundesland ein Gesetz über die Archivverwaltung am 19.09.1974 (GBl. 1974 S. 497) erlassen hatte; dazu Heydenreuther, Die rechtlichen Grundlagen des Archivwesens, Der Archivar 32 (1979) Sp. 159 ff. Zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Archivgesetze: Granier, Archive und Datenschutz, Der Archivar 34 (1981) Sp. 196 ff.; Meilinger, Datenschutz im Bereich von Information und Dokumentation (zur Datenabgabe an Archive S. 205 ff., S. 212 ff.); Oldenhage, Archivrecht?, Überlegungen zu den rechtlichen Grundlagen des Archivwesens in der Bundesrepublik Deutschland, in: Boberach/Booms (Hrsg.): Aus der Arbeit des Bundesarchivs, S. 187 ff.; Oldenhage, Brauchen wir Archivgesetze, Der Archivar 33 (1980) Sp. 165 ff.; Schöntag, Archiv und Öffentlichkeit im Spiegel der Benutzungsordnungen für die staatlichen Archive in der Bundesrepublik Deutschland, Der Archivar 30 (1977) Sp. 375 ff.; Heydenreuther, Die rechtlichen Grundlagen des Archivwesens, Der Archivar 32 (1979) Sp. 157 ff.; Steinmüller, Datenschutz i m Archivwesen, Der Archivar 33 (1980) Sp. 179 ff. 2 Zur Tätigkeit und Rechtslage des Bundesarchivs in der Anfangsphase: Booms, Das Bundesarchiv. Ein Zentralarchiv 25 Jahre nach der Gründung, in: Boberach/ Booms (Hrsg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs, S. 11 ff.; Köttgen, Der Einfluß des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigenen Verwaltung, JöR n.F. 11 (1962) S. 173 ff., 288; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 422.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
131
setzliche Regelung wurde allgemein nicht als erforderlich angesehen. In Übereinstimmung mit dieser Sichtweise hatte im Jahre 1950 ein informeller Organisationsakt zur Errichtung des Bundesarchivs ausgereicht: das Bundesarchiv wurde aufgrund eines nicht amtlich veröffentlichten Beschlusses der Bundesregierung vom 24. März 1950, mit dem die Aufgaben des Bundesarchivs festgelegt wurden, gegründet 3. Die Nutzung von Archivgut im Bundesarchiv war in der Benutzungsordnung für das Bundesarchiv vom 11. September 1969 in der Fassung vom 18. Mai 1978 geregelt 4. Die Abgabe von Registraturgut an die Archive richtete sich ausschließlich nach verwaltungsinternen Aussonderungsanweisungen (Verwaltungs Vorschriften); so etwa für die Bundesbehörden § 9a der Registraturanweisung für die Bundesministerien 5. Nach dem Inkrafttreten der ersten Datenschutzgesetze wurde die Archivierung zunächst auf die generalklauselartige Regelung des § 10 BDSG a.F. v. 19776 und vergleichbare Landesbestimmungen in Verbindung mit Aussonderungsanweisungen gestützt. Danach war eine Übermittlung personenbezogener Daten zulässig, wenn sie „zur rechtmäßigen Erfüllung eigener Aufgaben (der abgebenden Stelle und/oder des Archivs) erforderlich" war. Die Aufgabenzuweisung wurde als von der Organisationsgewalt gedecktes, reines Verwaltungsinternum, eine Aufgabenzuweisung durch parlamentarisches Gesetz demzufolge als nicht erforderlich angesehen7. 3 Nicht offiziell veröffentlichter Beschluß der Bundesregierung vom 24. März 1950, abgedruckt in: Der Archivar 5 (1952) Sp. 106 f.; 7 (1954) Sp. 29 f.; dort verbunden mit der öffentlichen Mitteilung des Bundesarchivs über die Aufnahme seiner Tätigkeit vom 9. Juni 1952 (Sp. 31); erste Benutzungsordnung des B M I , teilweise abgedruckt in: Der Archivar 18 (1965) Sp. 182 ff. 4 Erlassen vom Bundesminister des Innern auf der Grundlage von § 80 GGO. Dazu Boberach, Die neue Benutzungsordnung für das Bundesarchiv, Der Archivar 23 (1970) Sp. 63 ff.; ders., Archivbenutzung und archivarische Arbeit im Wandel von Interessen und Methoden, Der Archivar 1975 (28) Sp. 19 ff.; vgl. auch Granier (Hrsg.), Aus der Arbeit der Archive, Einleitung zur 3. A., Bd. 10 der Schriften des Bundesarchivs, 1977, S. X L I V ; Schöntag, Archiv und Öffentlichkeit, Der Archivar 30 (1977) Sp. 375 ff. 5 Dazu Booms, Das Bundesarchiv. Ein Zentralarchiv 25 Jahre nach der Gründung, in: Boberach/Booms (Hrsg.): Aus der Arbeit des Bundesarchivs, S. 11 ff., 27, 30. Vgl. etwa für Bayern Rechtsverordnung des Bay. Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 15. Mai 1970, GVB1. S. 251 i.d.F. v. 26. Mai 1971, GVBl. S. 208; zur Aktenaussonderung war bis zum Erlaß des LArchG Bayern die Bekanntmachung sämtlicher Staatsministerien vom 31. März 1932 Grundlage; Bayrische bereinigte Sammlung I. S. 195. 6 § 10 BDSG 1977: Die Übermittlung personenbezogener Daten an öffentliche Stellen ist zulässig, wenn sie 1.) zur Erfüllung der in der Zuständigkeit der übermittelnden Stelle oder des Empfängers liegenden Aufgaben erforderlich ist und 2.) die Voraussetzungen vorliegen, die eine Nutzung nach § 14 zulassen würden. (Vgl. heute § 15 Abs. 1 des Bundesdatenschutzgesetzes 1990). *
132
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
2. Erste Stellungnahmen zur Frage eines „Archivrechts" Die juristischen Stellungnahmen aus der Weimarer Zeit und der Frühzeit der Bundesrepublik waren allein am Ziel des Kulturgüter- und Denkmalschutzes, gegen die unkontrollierte Verbringung von Archivbeständen ins Ausland und gegen deren Zersplitterung ausgerichtet 8. Die erste Veröffentlichung, die zu den „rechtsstaatlichen Fragen der Quellenbeschaffung und Archivbenutzung" nach 1949 Stellung nimmt, zeigt bereits Probleme der späteren Archivgesetze zumindest im Ansatz auf 9 . Lepper wollte einen „Beitrag zur Stellung des Archivwesens im Rechtsstaat" leisten. Dabei stellte er bereits heraus, daß es unter der Geltung des Grundgesetzes keinen rechtsfreien Raum mehr im Bereich der Verwaltung geben könne. „Jede Kommunikation habe ihre Reflexe in der Rechtsordnung - sei es als positives oder negatives Recht." Es werde unausweichlich, daß die Archivare sich in ihrer bis dato „störungsfreien Forschungsarbeit zusätzlich mit juristischen Instituten und Denkvorstellungen" belasteten 10 . Obwohl er die traditionelle enge Verflechtung des Archivwesens mit der rechtsstaatlichen Ordnung erkannte und in Rechnung stellte, daß die meisten europäischen und viele außereuropäische Rechtsstaaten das Archivwesen bereits zu diesem Zeitpunkt gesetzlich geregelt hatten, läßt er die Frage nach einem Spezialgesetz offen 1 1 .
7
Booms a.a.O.; Freys S. 46 f.; Meilinger S. 212; Steinmüller Sp. 180 f. Bereits für für die Weimarer Zeit: Thimme, Die Notwendigkeit eines Archivalienschutzgesetzes für das Reich, Archiv für Politik und Geschichte 5 (1925) S. 202 ff.; E. Müller, Die Notwendigkeit eines Preußischen Archivgesetzes, Preußische Jahrbücher 201 (1925) S. 315 ff.; Vollmer, Der Stand der Archvialienschutzgesetzgebung, Der Archivar 5 (1952) Sp. 115 ff.; Henning, Die öffentlich-rechtliche Zwangsverwahrung von Archivgut und ihre rechtlichen Folgen, Der Archivar 5 (1952) Sp. 119 ff. Für die Anfangsjahre der Bundesrepublik: vgl. §§ 10-15 des Gesetzes zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung vom 6. August 1955; BGBl. 1955, I S. 501 f. Danach waren private Archive, Archivaliensammlungen Privater, Nachlässe und Briefsammlungen mit „wesentlicher Bedeutung für die deutsche politische, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte" in ein öffentliches Register einzutragen. Die Ausfuhr stand unter dem Genehmigungsvorbehalt des Bundesministers des Inneren im Einvernehmen mit dem Bundesarchiv. In diese Richtung zielt auch ein Hinweis von v. Münch: im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 3 GG. Münch erwägt die Möglichkeit von Zwangsgesetzen über die Archivierung von privaten Unterlagen in öffentlichen Archiven als Voraussetzungssicherung der historischen Forschungsfreiheit. Er schlägt ein Vorkaufsrecht für Staatsarchive und Ablieferungszwang für Private vor. Vgl. v. Münch, GG, 1. A. 1974, Bd. 1, Art. 5 GG Anm. 13. 9 Lepper, Die staatlichen Archive und ihre Benutzung, DVB1. 1963 S. 315 ff. 10 A.a.O. S. 320. 8
4. Kap.: Allgemeiner Teil
133
Ein erster Schritt in Richtung auf eine Archivgesetzgebung war im Jahre 1972 ein nicht veröffentlichter Arbeitsentwurf für ein Archivgesetz der Archivfachverwaltung in Nordrhein-Westfalen 12 . Auf Bundesebene zog dieser Vorstoß im Folgejahr 1973 ein ebenfalls nicht veröffentlichtes „Memorandum für ein Archivgesetz" des Bundesarchivs nach sich 1 3 . Seit der Übernahme des Präsidentenamtes des Bundesarchivs durch Hans Booms in diesem Jahr wurde von Seiten des Bundesarchivs auf die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage aus datenschutz-, wissenschafts- und kulturgutschutzrechtlicher Hinsicht hingewiesen 14 . Manche Landes- und Staatsarchive glaubten dagegen noch Anfang der 80er Jahre, auf Landesarchivgesetze verzichten zu können 15 . 3. Zur Archivierung untaugliche Bestimmungen Untergesetzliche Regelungen sind spätestens seit dem Volkzählungsurteil vom 15.12.1983 als zulässige und verbindliche Aufgabenzuweisungsnormen problematisch geworden. Insbesondere Aussonderungsanweisungen sind als rein verwaltungsinterne, organisatorische Regelungen unter den Begriff der Verwaltungsvorschrift zu subsumieren und sind keine Rechtsvorschriften i.S.d. § 4 BDSG n.F. und im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt 16. Zumindest soweit die Verarbeitung, d.h. die Speicherung, Übermittlung und Kenntnisnahme personenbezogener Daten mit der Aufgabenerfüllung verbunden ist, waren die Aufgaben der übermittelnden und anfordernden Stelle seither grundsätzlich durch „Gesetz", d.h. mindestens durch Rechtsverordnung aufgrund eines parlamentarischen Gesetzes (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) zu bestimmen. Die Aufga11
A.a.O. S. 315; vgl. aber bereits Janknecht, Allgemeines Persönlichkeitsrecht und Freiheit der Forschung bei der Benutzung von Archiven, Der Archivar 22 (1969) Sp. 271 ff. 12 Richter in: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 234 Fn 14. 13 Memorandum, zitiert nach Richter in: Bannasch/Maisch S. 234. Die 35. Sitzung der Archivreferentenkonferenz des Bundes und der Länder (ARK) vom 13. März 1973 wies ebenfalls auf die Notwendigkeit von Archivgesetzen hin; Richter in: FS Booms, S. 115 ff. 14 Zur Würdigung der Rolle Booms: Richter, Die parlamentarische Behandlung des baden-württembergischen Landesarchivgesetzes vom 27.7.1987 in: FS Booms S. 113 f. 15 So beispielsweise noch Anfang 1981 die Landarchivdirektion von Baden-Württemberg, vgl. Richter in Bannasch/Maisch S. 234. 16 s.o. 2. Kap. B. III. 2. Ebenso bereits Steinmüller zu Art. 17 BayLDSG, der eine Aufgabenzuweisung durch Gesetz verlangt (a.a.O. Der Archivar 33 (1980) Sp. 182, 185); Meilinger S. 215. A. A. Freys S. 46 ff. zu §§ 10, 14 BDSG a.F. 1977.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
bendefinition durch interne Verwaltungsvorschriften oder sonstige Organisationsakte stellte eine Umgehung des organisationsrechtlich wirkenden datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts dar. Die Archivierung aufgrund bloßer Aussonderungsanweisung setzte sich spätestens seit dem „Volkzählungsurteil" über die verfassungsrechtlich vorgegebene Definition der „Stelle" hinweg 1 7 . Von der Definition der „Stelle" abgesehen warf § 14 Abs. 2 BDSG a.F. Probleme auf: Nach § 14 Abs. 2 BDSG a.F. waren personenbezogene Daten mit der Folge des Übermittlungsverbots zu sperren, wenn ihre Kenntnis zur Aufgabenerfüllung der abgebenden Stelle nicht mehr erforderlich war. Aussonderungsvoraussetzung ist, daß die jeweiligen Unterlagen und mithin die Kenntnis und Verfügbarkeit der personenbezogenen Daten nicht mehr für die laufende Verwaltung benötigt werden; diese waren aufgrund der höherrangigen BDSG-Norm automatisch zu sperren: Der Eintritt der Aussonderungsvoraussetzung war mithin zugleich Sperrungstatbestand 18. Eine § 14 Abs. 2 Nr. 9 BDSG 1990 entsprechende „Vorratsklausel", derzufolge das Speichern, Verändern oder Nutzen für andere Zwecke u.a. zulässig ist, wenn dies zur Durchführung wissenschaftlicher Forschung zwingend erforderlich ist 1 9 , war keine taugliche Übermittlungsermächtigung an staatliche Archive, da sie nicht die Übermittlung zwischen öffentlichen Stellen, sondern an unabhängige Forscher regelt, und zum anderen unüberbrückbare materielle Erfordernisse errichtet: ob nämlich eine konkrete Unterlage „für die Forschung unerläßlich" ist, läßt sich zum Zeitpunkt der Archivierung, ohne daß ein benanntes Forschungsvorhaben besteht, weder faktisch noch verfassungsrechtlich zulässig von einem Organ der öffentlichen Gewalt beantworten. § 40 BDSG 1990, der eine Zweckbindungslockerung für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten vorsieht, die „für wissenschaftliche Zwecke erhoben" wurden, kommt als Archivierungsermächtigung von vornherein nur für diese eng umgrenzte Unterlagenart in Betracht. Die Norm soll zwar sicherstellen, daß die personenbezogenen Daten im „Bereich der Wissenschaft verbleiben" 20 . § 40 Abs. 1 BDSG erlaubt die Weiterverarbeitung von 17
s.o. 2. Kap. B. m . 2. Meilinger S. 215; Steinmüller Sp. 185. Anderer Ansicht ist Freys in der Absicht, die Archivierungspraxis der Länder ohne Archivgesetze zu legitimieren; S. 49. 19 § 14 Abs. 2 Nr. 9 BDSG vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2954): „Das Speichern, Verändern oder Nutzen für andere Zwecke ist ... zulässig, wenn es zur Durchführung wissenschaftlicher Forschung erforderlich ist, das wissenschaftliche Interesse an der Durchführung des Forschungsvorhabens das Interesse des Betroffenen an dem Ausschluß der Zweckänderung erheblich überwiegt und der Zweck der Forschung auf andere Weise nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erreicht werden kann." 18
4. Kap.: Allgemeiner Teil
135
personenbezogenen Daten, die bereits zu wissenschaftlichen Zwecken erhoben worden sind, ohne die Verwendung auf das ursprüngliche Forschungsvorhaben oder Wissenschaftsdisziplinen zu beschränken, jedoch nur für andere, benannte wissenschaftliche Zwecke 2 1 . Bei der Abgabe an ein öffentliches Archiv liegt aber kein konkreter Forschungszweck vor, so daß § 40 BDSG nicht zur Archivierung ermächtigt. Die Übergabe von personenbezogenen Unterlagen an das zuständige Archiv ist auch nicht durch das Prinzip der Amtshilfe zu rechtfertigen. Die Rechtspflicht zur Amtshilfe ist als ein rein verwaltungsinternes Organisationsrecht 22 zur Übermittlungsermächtigung ungeeignet. Die Geheimhaltungspflichten und Datenschutzvorbehalte sind der Amtshilfepflicht vorgegeben. Die verfassungsrechtliche Verankerung des allgemeinen Amtshilfeprinzips in Art. 35 GG als solche führt nicht dazu, daß den Amtshilfevorschriften im Bereich der grundrechtlich geschützten personenbezogenen Daten der Charakter einer Eingriffsgrundlage zuzubilligen wäre. Dagegen sprechen der eindeutige Wortlaut und die systematische Stellung des Art. 35 GG. Dieser Eigenart der Amtshilfe als den Grundrechten nachgeordnetes Prinzip wurde mit der Änderung des § 10 BDSG 1977 durch § 15 BDSG 1990 und der entsprechenden Regelungen der Landesdatenschutzgesetze Rechnung getragen 23 . In Baden-Württemberg wurde versucht, der unkontrollierten Löschung nicht mehr benötigter personenbezogener Daten mit der Normierung eines Zustimmungserfordernisses seitens des zuständigen Archivs zu begegnen, weil der Verband Deutscher Historiker auch in der in das Ermessen gestellten Löschung personenbezogener Daten nach Erledigung des ursprünglichen Erhebungs- bzw. Speicherzweckes gemäß § 14 Abs. S. 1 BDSG a.F. 1977 eine ernste Gefährdung für die Grundlagen ihrer Tätigkeit sah 24 : § 13 20 Personenbezogene Daten dürfen danach nicht nur für einen ganz bestimmten Forschungszweck, nämlich denjenigen, der ihrer Erst-Erhebung oder Speicherung zugrunde liegt, verarbeitet oder genutzt werden, sondern auch für neue wissenschaftliche Fragestellungen (§§ 14 Abs. 2 Nr. 9, 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BDSG; Auernhammer, BDSG § 40 Rz 7 m.w.N.; Bizer, Forschungsfreiheit, S. 321 m.w.N.). 21 Der Personenbezug soll nur so lange aufrechterhalten bleiben, als es zur Erfüllung eines konkreten Forschungszwecks erforderlich ist; Daten sollen insoweit anonymisiert werden, als dies nach dem jeweiligen Forschungszweck möglich ist (§ 40 Abs. 3 BDSG). 22 Diese in Art. 35 GG statuierte Pflicht zur Amtshilfe zwischen verschiedenen Behörden (vgl. § 9 VwVfG) wird in den Verfahrensgesetzen näher geregelt, vgl. §§ 4-7 VwVfG, §§ 3-7 SGB X , §§ 111-117 AO; Badura, in: Erichsen/Martens § 40 IV. Ihren Ursprung hat sie in der Vorstellung der „Einheit der Staatsgewalt", vgl. Maunz/Dürig, GG Art. 35 Rz 4 m.w.N. 23 Ordemann/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), § 15 Anm. 3.1.1. 24 Resolution des Verbandes Deutscher Historiker, in: D A N A 5/1980, S. 13 f.; vgl. auch Meilinger S. 216.
136
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Abs. 4 S. 2 L D S G Baden-Wiirtemberg gestattete die Löschung nur nach Z u s t i m m u n g durch das Landes- oder Kommunalarchiv. Dadurch wurde jedoch nur die Löschung verhindert, nicht aber die Ü b e r m i t t l u n g an das A r c h i v als anderer Stelle ermöglicht. Z u d e m wären etwaige subjektivrechtliche Löschungsansprüche Betroffener stets vorrangig g e b l i e b e n 2 5 . 4. Anstoß zur Archivgesetzgebung
in Bund und
Ländern
A u f Seiten der zeitgeschichtlichen Forschung war bereits vor d e m Höhepunkt der Datenschutzdiskussion i n Deutschland, die Frage nach der N o t wendigkeit einer archivgesetzlichen Regelung des Archivzugangs m i t der Z i e l f u n k t i o n des Ausgleichs der Forschungsfreiheit m i t dem Datenschutz gestellt worden: auf einem interdisziplinären Symposium i n Bielefeld wurden 1975 Fragen der Archivbenutzung und Archivierung b e r ü h r t 2 6 . A u f einer Tagung des Instituts für Zeitgeschichte i n M ü n c h e n i m Jahr 1 9 7 7 2 7 wurde die N o t w e n d i g k e i t eines Archivgesetzes i n Deutschland i n den Diskussionbeiträgen v o n Oldenhage und B r o s z a t 2 8 problematisiert, aber noch i n Frage g e s t e l l t 2 9 . I n den folgenden Jahren bildete sich vor dem Hintergrund konkreter Erfahrungen zunehmend die Überzeugung v o n der N o t w e n digkeit von Archivgesetzen h e r a u s 3 0 . Dabei beschränkte sich diese Forde-
25
Zur alten Rechtslage Meilinger S. 217. Beiträge in: Eser/Schumann (Hrsg.), Forschung im Konflikt mit Recht und Ethik. Zur Problematik von Zeugnisverweigerungsrecht, strafrechtlicher Immunität und freiem Datenzugang des Forschers. 27 Öffentliches Kolloquium am 18.11.1977 zum Thema „Die Informationsfreiheit der zeitgeschichtlichen Forschung und ihre rechtlichen Schranken." Die Anwesenheit des Inhabers der Werknutzungsrechte von Josef Goebbels, Martin Bormann und der graphischen Werke Adolf Hitlers, sowie des Verlegers Francis Genoud aus Lausanne verlieh der Veranstaltung einen besonderen urheberrechtlichen Akzent. Referate von Broszat, Jäckel, Sieger, Oldenhage, Kolle, Engelhard; insbes. die Diskussionsbeiträge von Booms, Busse, Dahm in: Wissenschaftsfreiheit und ihre rechtlichen Schranken, Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), S. 10 ff., 55 ff. 28 Oldenhage, Überlegungen zu rechtlichen Problemen der Nutzung von Archiven in der Bundesrepublik Deutschland, S. 27 ff., 32. Oldenhage sieht das Archivrecht im Vergleich zur großen Mehrheit ausländischer Staaten als unterentwickelt an, steht einem Archivgesetz jedoch noch skeptisch gegenüber. 29 Vertreter des B M I Busse S. 69 f. 30 Steinmüller, Datenschutz i m Archivwesen, Der Archivar 33 (1980) Sp. 175, 181 ff. Dort insbesondere zur datenschutzgesetzlich bedingten „Notlage" in Bayern, derzufolge die Abgabe bestimmter Unterlagen an Archive rechtswidrig war; Heydenreuther, Die rechtlichen Grundlagen des Archivwesens, Der Archivar 32 (1979) Sp. 157, 159 f.; Oldenhage: Brauchen wir ein Archivgesetz?, Vortrag auf dem 53. Dt. Archivtag, Der Archivar 33 (1980) Sp. 165 (167); Hecker, Neuere Entwicklungen des Daten- und Persönlichkeitschutzes im Archivwesen, Der Archivar 36 (1983) Sp. 263 (265); Granier, Archive und Datenschutz, Der Archivar 34 (1981) Sp. 59 ff. 26
4. Kap.: Allgemeiner Teil
137
rung nicht auf den deutschen Bereich unter Geltung des Grundgesetzes, sondern war auch Gegenstand internationaler F o r e n 3 1 . Erst als sowohl die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder ab 1979 wiederholt auf die N o t w e n d i g k e i t eines parlamentarischen Gesetzes für die Archivierung und Archivbenutzung h i n w i e s e n 3 2 und der 53. Deutsche A r c h i v t a g i m Jahre 1980 einen Schwerpunkt auf die Frage des Archivrechts und die Situation der historischen Forschungsfreiheit gelegt h a t t e 3 3 , k a m eine Gesetzgebungsdiskussion i n Gang. Steinmüller stellte i n seinem Diskussionsbeitrag nachdrücklich die Gefährdung der Überlieferungsbildung i n den A r c h i v e n und der Archivarbeit infolge Unzulässigkeit der Ü b e r m i t t l u n g v o n Unterlagen an A r c h i v e heraus 3 4 . Diese E n t w i c k l u n g wurde b e i m folgenden K o l l o q u i u m des Instituts für Zeitgeschichte z u m Thema der historischen Forschung u n d des Datenschutzes am 20. Juli 1 9 8 1 3 5 bestätigt. I n seinem Verlauf wurden erstmals wichtige Einzelfragen der A b k o p p e l u n g der A r c h i v e v o n der Verwaltung, spezieller DatenschutzBemerkenswert ist, daß bis auf Granier alle Autoren von der Geltung eines datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts für die Abgabe von Daten an Archive ausgehen. Granier (Sp. 63) fordert hingegen vom Gesetzgeber die Klarstellung, daß die Abgabe von Daten und Dateien aller Art, die bei Behörden entstehen, an das zuständige Archiv keine Datenübermittlung im Sinne des Datenschutzes sei. Die Aufbewahrung im Archiv sei der bei der Behörde gleichzustellen. Diese Auffassung ergibt sich aus der überkommenen, auf der Grundlage der modernen Archivgesetze nicht mehr vertretbaren Auffassung der Archive als bloßer Behördenregistratur. 31 A u f dem IX. Internationalen Archivkongreß in London vom 16. September 1980 wies beispielsweise der Österreichische Vertreter Leopold Auer auf die Notwendigkeit einer archivgesetzlichen Datenschutzlockerung hin. Oldenhage, Persönlichkeitsschutz und Datenschutz, Der Archivar 34 (1981) Sp. 570 (471) Fn 13. Vgl. auch die Unesco-Studie von Duchein: Les obstacles ä l'acces, ä I'utilisation et au transfer de reformation contenue dans les archives. Une Etude RAMP, Paris 1983. 32 Bundesbeauftragter für Datenschutz: 2. Tätigkeitsbericht (1979) S. 14 f.; 4. Tätigkeitsbericht (1980) S. 50, 52; 5. Tätigkeitsbericht (1982) S. 48 f. Besonders folgenreich war insbesondere auch der 10. Bericht des Hessischen Datenschutzbeauftragten Simitis vom 31.12.1981 (Ziffer 3.2); Stellungnahmen zum ersten Entwurf der Bundesregierung zu einem BArchG (BT-Drs. 10/3072 = BR-Drs. 84/371) im 7. Tätigkeitsbericht vom 22.1.1985 (BT-Drs. 10/2777 S. 4, 37) und der 8. Tätigkeitsbericht vom 17.1.1986 (BT-Drs. 10/4690 S. 4, 26 f.). 33 Steinmüller a.a.O. Der Archivar 33 (1980) Sp. 175 f f , 188; Oldenhage, Brauchen wir ein Archivgesetz?, Der Archivar 33 (1980) Sp. 165 ff.; ders., Archivrecht? Überlegungen zu den rechtlichen Grundlagen des Archivwesens in der BRD, in: FS Booms, S. 187 ff. = Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.) 1978, S. 27 ff., 32, 60, 70; 1978 äußert Oldenhage noch Skepsis, ob ein Archivgesetz den von ihm kritisierten Rigorismus des BDSG 1977 unter archivfachlichen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten würde abhelfen können (a.a.O. S. 32); Booms, Archive im Spannungsfeld zwischen Verwaltung, Forschung und Politik, Der Archivar 33 (1980) Sp. 21 ff. 34 Steinmüller Sp. 180 ff., 184. 35 Oldenhage, Der Archivar 34 (1981) Sp. 469 ff.; Bericht Sp. 575 ff.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Vorschriften (Personalaktenrecht, das Steuerecht, Statistikgeheimnis, etc.) in ihren Auswirkungen auf Archive und Wissenschaft diskutiert 36 . Von juristischer Seite hatte in der Zeit vor dem „Volkszählungsurteil" Meilinger auf die Notwendigkeit einer bereichsspezifischen Archivgesetzregelung hingewiesen 37 . Das „Volkszählungsurteil" des Bundesverfassungsgerichts gab schließlich den Anstoß dafür, daß die bereits auf der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder am 27. April 1982 beschlossenen „Empfehlungen zur Sicherstellung des Datenschutzes im Archivwesen" 38 zunächst von den Gesetzgebern in Bund und Baden-Württemberg aufgegriffen wurden. Auch von archivfachlicher Seite wurde nun mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß der Bereich der Archivierung und Archivnutzung unter datenschutzrechtlichen und verwaltungsorganisatorischen Gesichtspunkten zu den wesentlichen Lebensbereichen im Sinne der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehöre 39 . Bei einer Veranstaltung der politischen Akademie Tutzing im Jahr 1986 war endlich der konkrete Entwurf eines BArchG Gegenstand der Auseinandersetzung 40. I I . Regelungstechnik 1. Qualifizierte
und einfache Geheimhaltungsgebote
Neben dem allgemeinen datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt bestehen spezialgesetzliche, sachgebietsbezogene Geheimhaltungsvorschriften 36
Oldenhage a. a. O. Meilinger S. 237 ff. 38 So die auf der Konferenz der Datenschutzbeauftragten der Länder und des Bundes auf ihrer Sitzung am 27.4.1982 beschlossenen „Empfehlungen zur Sicherstellung des Datenschutzes im Archivwesen 4 ', Der Archivar 36 (1983) Sp. 65 ff.; Büllesbach/Fricke, Zur Entstehung der Anmerkungen, Der Archivar 36 (1983) Sp. 68 ff. 39 Oldenhage Sp. 165 und vorher schon Heydenreuther, Die rechtlichen Grundlagen des Archivwesens, Der Archivar 32 (1979) Sp. 157 (159). 40 Expertenkonferenz in der Akademie für politische Bildung Tutzing vom 25. bis 27. Februar 1986. Beiträge von Bästlein, Gallwas, Geiger, Morsey, Oldenhage, Posset, Rumschöttel, Steinbach, Streim, Tenfelde, in: Datenschutz und Forschungsfreiheit. Die Archivgesetzgebung des Bundes auf dem Prüfstand (herausgegegen von der Akademie für politische Bildung Tutzing, bearbeitet von Jürgen Weber). Der Historiker Morsey verlangte eine „praxisgerechte Lösung, ... frei von wissenschaftlichen Maximalforderungen und offen für Maßnahmen zum Schutz unstrittig schutzwürdiger Belange ..., aber auch frei von der irrigen Annahme ..., wonach seit dem 15. Dezember 1983 ... ein neues Zeitalter informationeller Selbstbestimmung begonnen habe" (zu Einschränkungen historischer Forschung durch Datenschutz S. 61 ff.). 37
4. Kap.: Allgemeiner Teil
139
des Bundes und der Länder und entsprechende Löschungsvorschriften in großer Zahl. Diese überschneiden sich im Anwendungsbereich gegenseitig und mit dem allgemeinen Datenschutz. Angesichts neuerer historischer und sozialwissenschaftlicher Forschungsansätze und Methoden sind hier v.a. Daten der Sozial-, Gesundheits- und Steuerverwaltung, der Meldebehörden und statistischen Ämter zu nennen, die u. a. unter die speziellen Geheimhaltungsvorschriften der §§ 35 SBG I (Allgemeiner Teil), 30 AO, 203 Abs. Nr. 1 StGB, 10 Abs. 5 MelderechtsrahmenG und 16 BStatG u.ä. fallen 4 1 . Zwei Typen Geheimhaltungsvorschriften sind zu differenzieren: einerseits qualifizierte Geheimhaltungsvorschriften, die die Offenbarung an einen abschließenden gesetzlichen Katalog von Offenbarungstatbeständen knüpfen. Dazu zählt auch das Regelungsmodell nach dem Vorbild des § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO, demzufolge eine Offenbarung zulässig ist, wenn sie durch Gesetz ausdrücklich zugelassen wird 4 2 . In den Fällen qualifizierter Geheimhaltungsvorschriften ist eine ausdrückliche Übermittlungsermächtigung an die Archive (qualifizierte Befugnisnorm) erforderlich: entweder durch ausdrückliche Nennung in den Archivgesetzen oder in Form einer Archivklausel in der jeweiligen Norm (vgl. § 10 BArchG). Andererseits bestehen einfache Geheimhaltungsvorschriften, die lediglich die „unbefugte" Offenbarung verbieten. Bei dieser Kategorie genügte eine „befugende", die Übermittlung an das Archiv gestattende gesetzliche Regelung. Die einfachen Geheimhaltungsvorschriften konnten mit einer abstrakten Generalklausel in Gestalt der archivgesetzlichen Anbietungs- und Abgabepflichten aufgehoben werden. Diese gewinnen den Charakter einer „Vorratsregelung" 43 . 2. Beschränkte Gesetzgebungskompetenz der Länder im Bereich der „ Geheimhaltung " Nach Art. 83 GG führen die Länder die Bundesgesetze zwar als eigene Angelegenheiten aus; das Verwaltungsverfahren können sie aber selbst nur regeln, soweit nicht Bundesgesetze etwas anderes vorschreiben (Art. 84 41 Als Beispiel seien hier Unterlagen bzw. personenbezogene Angaben genannt, die unter das Sozialgeheimnis des § 35 SGB I i . V . m . §§ 67-77 SGB I fallen. Diese können etwa als Patientenunterlagen zugleich berufsrechtlichen, krankenhausgesetzlichen, landesdatenschutzrechtlichen und strafrechtlichen (§ 203 Nr. 1 StGB) Normen geschützt sein. Dazu erstmals zusammenfassend i m Hinblick auf die Archivierung Meilinger S. 205 ff. 42 Dazu auch die Begründung zu § 8 BArchG LT-Drs. 371/84 S. 13; dazu Uhl, Aussonderung und Übernahme von Archivgut, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 61 (69). 43 So auch Uhl S. 81, 82.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Abs. 1 GG). Im Bereich der ausschließlichen Bundesgesetzgebungskompetenz (Art. 73 GG) ist es dem Landesgesetzgeber von vornherein verwehrt, Bundesrecht durch landesrechtliche Vorschriften zu ergänzen. Soweit das Bundesrecht der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72, 74, 74 a GG) zuzurechnen ist, hängt der Spielraum des Landesgesetzgebers grundsätzlich davon ab, ob das Bundesrecht selbst schon Datenverarbeitungsvorschriften enthält oder der Bundesgesetzgeber hierauf bewußt verzichtet hat. Dieser Fall liegt aber bei einer bundesrechtlichen Sperrungsoder Löschungsbestimmung nie vor, gleich ob eine einfache oder qualifizierte Geheimhaltungs- oder Datenschutznorm betroffen ist. Die Lockerung eines rechtmäßig durch den Bund geschaffenen Geheimnis Vorbehalts fällt als actus contrarius daher stets in die ausschließliche Kompetenz des Bundesgesetzgebers 44. 3. Archivgesetze oder spezialgesetzliche
Öffnungsklauseln
Zur erforderlichen, ausdrücklichen Regelung einer Übermittlungsbefugnis an Archive durch ein Parlamentsgesetz wäre im Ergebnis unter dem Gesichtspunkt des datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts eine an die Archive adressierte, generalklauselartige Übernahmeermächtigung ausreichend gewesen 45 . Die rechtliche Stellung der Archive wäre dann aber die einer
44
Das LArchG von Baden-Württemberg ging als einziges vor dem BArchG verabschiedetes Landesarchivgesetz in § 3 Abs. 1 S. 6 a.F. konsequenterweise davon aus, daß Geheimhaltungsvorschriften des Bundes unberührt bleiben. Die amtliche Begründung stellte klar, daß Unterlagen dann nicht zu Übernahme angeboten werden durften, wenn bundesrechtliche Geheimhaltungsvorschriften eine Offenbarung ausschließen (LT-Drs. 9/3345 vom 17.07.1986; abgedruckt bei: Bannasch/ Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 101 (108). M i t der Einfügung des § 6a LArchG Baden-Württemberg wurden die Lockerungs- und Übermittlungsnormen §§8, 10, 11 BArchG für entsprechend anwendbar erklärt (LT-Drs. 10/1915 vom 10.7.1989, abgedruckt bei Bannasch/Maisch S. 152 ff.). Die nach dem BArchG erlassenen LArchGe konnten sich bereits auf diese Übermittlungsbefugnisse beziehen. Vgl. auch amtliche Begründung LArchG Nordrhein-Westfalen, abgedruckt bei Hockenbrink, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, S. 16. 45 Ein Beispiel dafür ist § 17 Abs. 4 S. 1 i . V . m . Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 2 des Berliner LDSG, die bestimmen, daß die datenverarbeitende Stelle anstelle der wegen Aufgabenerfüllung an sich gebotenen Sperrung oder Löschung (bei personenbezogenen Daten) Unterlagen einem öffentlichen Archiv überantwortet. In diesem Falle ist die Archivierung Sperrungssurrogat; vgl. die noch in Kraft befindliche Regelung § 19 Abs. 7 Hessischen LDSG: „ I n den Fällen des Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und des Abs. 3 kann die speichernde Stelle die Daten anstelle der dort vorgeschriebenen Sperrung oder Löschung dem zuständigen staatlichen oder kommunalen Archiv zur Übernahme anbieten." Früher auch: § 14 Abs. 2 LDSG Niedersachsen i.d.F. v. 2.7.1985; § 13 Abs. 4 LDSG Rheinland-Pfalz i.d.F. v. 5.5.1987.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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empfangenden Dauerregistratur gewesen, was weder ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag noch der Absicht der Gesetzgeber entsprach 46 . Zu Beginn der Gesetzgebungsdiskussion war zunächst unklar, in welcher Weise den Anforderungen am besten zu genügen sei: ob in Gestalt einer allgemeinen Archivklausel in den Datenschutzgesetzen, die auf den allgemeinen datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt Bezug nehmen sollte und/ oder durch spezialgesetzliche Sonderklauseln als Annex der jeweiligen Geheimhaltungsvorschriften oder mit „zentralen" Archivgesetzen, die den Bereich des Archivwesens im Überblick regeln sollten. Schnell wurde deutlich, daß eine allein auf die Legalisierung der Übergabe an das jeweilige Archiv beschränkte Regelung nur eine vordergründige, isolierte Lösung bot, die die wissenschaftliche Aufbereitung, Erschließung und Abschottung durch die öffentlichen Archive sowie die Benutzung durch Dritte außer acht ließe. Zudem hatte die Anzahl bundes- und landesgesetzlicher Geheimhaltungsvorschriften erheblich zugenommen, so daß eine zentrale Öffnungsregelung wünschenswert erschien 47 . Die Tätigkeitsberichte der Bundesdatenschutzbeauftragten 48 und die amtliche Begründung der Bundesregierung zum Entwurf für ein BArchG 4 9 gingen schließlich übereinstimmend von der Notwendigkeit von Sondergesetzen für das Archivwesen aus. I I I . Bundeskompetenzen für das Archivwesen 7. Ausgangssituation In seiner Stellungnahme an den Vorsitzenden des Innenausschusses des Deutschen Bundestages äußerte der Präsident des deutschen Städtetages Pappermann die Besorgnis, daß das Bundesarchivgesetz eine weitere Spezialregelung des Bundes im Kulturbereich sei, die eine zusätzliche Einengung der Gestaltungsmöglichkeiten der Länder im Kulturbereich zur Folge habe. Die Landeshoheit werde unzulässig begrenzt 50 .
46
Vgl. dazu 2. Kap. A. III. B. I., 3. Kap. A. III., IV. 2. und 4. Kap. A. V. 4. Vgl. die Aufzählung in § 45 BDSG a.F. von 1977, die im BDSG 1990 aufgegeben wurde. Vgl. auch die amtliche Begründung LArchG Nordrhein-Westfalen, abgedruckt bei Hockenbrink S. 16. 48 Insbesondere der 7. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz vom 22.1.1985 (BT-Drs. 10/2777 S. 4 und S. 37) und der 8. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz vom 17.1.1986 (BT-Drs. 10/4690 S. 4 und 26 ff.). 49 BT-Drs. 10/3072 S. 7, 8. 47
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Der Bundesrat wandte sich daher insbesondere gegen die Möglichkeit der Aufgabenübertragung und damit Kompetenzausweitung des Bundesarchivs durch einseitigen Ministererlaß gemäß § 7 Entwurf-BArchG 51 . Obwohl eine ausdrückliche Nennung des nationalen Archivwesens in den Katalogen der Art. 73 ff. GG zur Bundesgesetzgebungskompetenz fehlt, verzichtete die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf auf Ausführungen zur Bundesgesetzgebungskompetenz. Offensichtlich ging man übereinstimmend von einer als unproblematisch eingeschätzten, gemischten oder zusammengesetzten Kompetenz für den Daten- und jeweiligen Geheimnisschutz, einer Annexkompetenz für das Übergabeverfahren und die Behördenorganisation und einer Kompetenz kraft Natur der Sache und Sachzusammenhang für die weitere Archivtätigkeit aus. Im Hinblick auf die Erweiterung der Archivaufgaben, des Erwerbs außerstaatlichen Archivguts, der wissenschaftlichen Forschungs- und Editionstätigkeit ist die Berufung auf eine nicht näher erläuterte Annexkompetenz zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes und der Verwaltungskompetenz der abgebenden Bundesbehörde problematisch geworden 52 . Mangels einer ausdrücklichen Bundesgesetzgebungskompetenz ist auch die Annahme einer komplementären Verwaltungskompetenz zu prüfen 53 . Die aus dem datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt folgenden, grundrechtlich gebotenen bundesgesetzlichen Regelungen zur Lockerung bundesgesetzlicher Geheimhaltungsgebote für das Bundesarchiv beschränken sich auf die rein datenschutzrechtliche Übermittlungserlaubnis. Ein an sich naheliegender Umkehrschluß, daß eine Gesetzgebungskompetenz, die sich auf Verwaltungschriftgut des Bundes bezieht, aus der Verwaltungszuständigkeit selbst aus Art. 87 GG unter dem Gesichtspunkt der Organisationsgewalt folgen müsse, ist nach der Systematik der Kompetenzordnung des Grundgesetzes unzulässig. Aus Verwaltungskompetenzen kann grundsätzlich nicht auf Gesetzgebungskompetenzen geschlossen werden. Jenseits von Zweckmäßigkeitserwägungen und der stillschweigenden Akzeptanz von Verwaltungstraditionen stellt sich die verfassungsrechtliche 50 Bericht des Vorsitzenden des Innenausschusses Wernitz; Anhörung Prot. Nr. 80, BT-Drs. 10/3072, S. 80/101, 102 (BT-Dokumentation S. 262); Anlage Nr. 3 zum Ausschußprotokoll S. 2. 51 Stellungnahme des Bundesrates zu § 7, BT-Drs. 11/498 S. 17; Gegenäußerung der Bundesregierung S. 20. 52 Pestalozza stellt mit beachtlichen Argumenten die Figur der ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen kraft Sachzusammenhang und Natur der Sache überhaupt in Frage; Pestalozza, Das Bonner Grundgesetz, Band 8, Art. 70 Rz 88 ff. insbes. 91, 110. 53 Zur Organisationsgewalt als Verwaltungsvorbehalt der Exekutive, Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: HdBStR, Bd. 3, § 62 Rz 55 ff. (59); Bökkenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 79 ff. (103).
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Frage, ob die Einrichtung eines Bundesarchivs ohne entsprechenden, ausdrücklichen grundgesetzlichen Kompetenztitel überhaupt zulässig ist. Denn nach der herkömmlichen Definition für Archivgut ist dieses dann zu übergeben, wenn es für die laufende Verwaltung, mithin zur primären Aufgabenerfüllung des Bundes nicht mehr erforderlich ist. Es vollzieht sich also ein nicht nur datenschutzrechtlicher Funktionswechsel. Hauptzweck der archivarischen Sammlung und Dokumentation wird die wissenschaftliche Forschung. Gesichtspunkte der Informationspolitik und der Selbstdarstellung des Bundes treten demgegenüber in den Hintergrund. Das Bundesarchiv gehört zum Bereich der problematisch gewordenen Kulturverwaltung des Bundes. Es stellt sich die Frage, ob ohne ausdrückliche Kompetenz nicht ein unzulässiger Eingriff in Länderhoheit vorliegt. Immerhin ist denkbar, daß die Aufgaben des Bundesarchivs auch durch das sachnächste Landesstaatsarchiv in Berlin oder Nordrhein-Westfalen ausgeübt werden. In Betracht kommt eine zusammengesetzte Gesetzgebungskompetenz jeweils für Teilregelungen des BArchG 5 4 . Für die jeweiligen Übergabeermächtigungen als actus contraria zu bundesgesetzlichen Datenschutz- und Geheimhaltungsgesetzen ist dies offenkundig. Für die darüberhinausgehende Ordnung eines Bundesarchivwesens, so beispielsweise die korrespondierende Übergabeverpflichtung und für alle nach außen gerichteten Archivtätigkeiten, die über das bloße Sammeln und Konservieren von bundesbehördlichen Archivgut hinausgehen, sind besondere Gesetzgebungskompetenzen zu prüfen. 2. Art. 74 Nr. 13 GG. Konkurrierende Bundesgesetzgebungskompetenz für die „Förderung der Forschung " In erster Linie kommt die Gesetzgebungskompetenz zur „Förderung der wissenschaftlichen Forschung" im Sinne von Art. 74 Nr. 13 GG in Betracht 55 . Die bislang weit überwiegende Ansicht der Kommentarliteratur zu Art. 74 Nr. 13 GG plädiert für einen weiten Begriff der „Förderung", der über bloß finanzielle Beihilfen hinaus institutionelle, organisatorische und planerische Maßnahmen im weiten Sinn umfaßt 56 . Neben dem möglichen Wortsinn von „fördern" stützt sich die h. M. auf die Äußerung des Abgeord54
Statt vieler Maunz/Dürig, GG Art. 74 Rz 61; amtliche Begründung zum BDSG 1977, BT-Drs. 7/1027 S. 16. 55 Köstlin S. 86. 56 v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 74 Anm. X X V I I 2b; Maunz/Dürig, Art. 74 Rz 179; v. Münch, GG, Art. 74 Rz 70, 71; Jarass/Pieroth, Art. 74 Rz 33; Sachs/Degenhardt, Art. 74 Rz 23; Bothe, Alternativkommentar zum GG, Art. 74 Rz 31.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
neten Schmid (SPD): „Förderung bedeutet nicht nur, daß Geld gegeben wird, sondern Förderung der Wissenschaft kann auch darin liegen, daß man für diese Forschung bestimmte Organisationen schafft" 57 . Versteht man die Archivtätigkeit als Hilfsfunktion unabhängiger Forschung in der geschilderten Weise, sind die Einrichtung, der Forschungsbetrieb, die Editions- und Ankaufstätigkeit des Bundesarchivs gedeckt. Eine solche Sichtweise im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen entspricht der wissenschaftssystematischen Stellung der Archivwissenschaft als historischer Hilfswissenschaft und erscheint vom Wortlaut - ungeachtet möglicher Kompetenzkonflikte mit den Ländern - gedeckt. Eine wichtige Konsequenz dieser Auslegung als eindeutiger Gesetzgebungskompetenz im Bereich organisatorischer Forschungsförderung ist weiter, daß dem Bund eine Berufung auf Art. 87 Abs. 3 GG möglich ist. Diese Vorschrift gestattet es dem Bund für Angelegenheiten, in denen der Bund über eine Gesetzgebungskompetenz verfügt, durch Gesetz bundesunmittelbare Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts zu errichten und so seine Verwaltungskompetenzen erheblich zu erweitern 58 . Der weiten Auslegung des Begriffs der „Förderung" in Art. 74 Nr. 13 GG ist neuerdings Pestalozza unter Berufung auf Wortlaut, systematischen Zusammenhang und die Entstehungsgeschichte, die allesamt auch die herrschende Meinung für sich in Anspruch nimmt, entgegengetreten 59. Trotz der Einstimmigkeit des Beschlusses sei die Bestimmung wegen eines Zwischenrufs nicht ausdiskutiert worden 60 . Da der ursprüngliche Vorschlag „Organisation und Förderung" umfaßt habe und später „Organisation" wegen verschiedener Bedenken gestrichen worden sei, verbiete sich eine Ausdehnung auf Forschungsorganisationen. Der - später eingefügte Art. 91b GG spreche in Abgrenzung von „Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung". Bei genauer Betrachtung greifen sämtliche Argumente nicht: Der Begriff der „Organisation der Forschung" zielte in der Tat auf eine bundesstaatliche Kompetenz ab, die v.a. auch mit der Autonomiegewährleistung des Art. 5 Abs. 3 GG unvereinbar war und abgelehnt wurde. „Organisation" war in diesem Zusammenhang abstrakt zu verstehen und ist gerade nicht
57 33. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 8.1.1949, Verhandlungen des Hauptausschusses, Sten. Bericht, Bonn 1948/49, S. 403. 58 Köstlin S. 37 f. m.w.N. Hier ist insbesondere auf die bundesunmittelbare Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" und die am 1.1.1993 gegründete Stiftung „Parteien und Massenorganisationen" der ehemaligen DDR i m Bundesarchiv zu verweisen. 59 Pestalozza Art. 74 GG Rz 903 ff. 60 Pestalozza Rz 883 f.
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gleichbedeutend mit „Organisationen" im Sinne der Schaffung von konkret zu verstehenden Einrichtungen. Der Abgeordnete Schmid wollte mit dem von Pestalozza zitierten Zwischenruf klarstellen, daß daher auf den - mißverständlichen und unnötig weiten - Begriff der Organisation im Ergebnis verzichtet werden könne. Dies wird aus dem Zusammenhang der Diskussion deutlich. Bei Art. 91b GG handelt es sich um eine Verwaltungskompetenznorm, die komplementär zur Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Nr. 13 GG zu verstehen ist. Art. 91b GG betrifft nicht die Gesetzgebung, steht neben Nr. 13, engt sie nicht ein und erweitert sie nicht 6 1 , was umgekehrt der Fall ist: die Gesetzgebungskompetenz bestimmt grundsätzlich die Verwaltungskompetenz. Der Wortlaut des später im Jahr 1967 in Kenntnis der gängigen Auslegung des Art. 74 Nr. 13 GG eingefügten Art. 91b GG kann vielmehr umgekehrt für die herrschende Ansicht herangezogen werden. Die Gesetzgebungskompetenzen bilden die Grenze der Verwaltungsbefugnis, so daß die Fassung des Art. 91b Abs. 1 GG gerade auch im Hinblick auf die Schaffung von Forschungseinrichtungen durch den Bund Sinn macht 62 . Der weite Begriff der Förderung der Forschung begünstigt allerdings Überschneidungen mit anderen Kompetenztiteln und Konflikte mit Länderkompetenzen 63 . Eines Rückgriffs auf zweifelhafte ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen kraft Natur der Sache oder Sachzusammenhangs bedarf es zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des BArchG also nicht. Diese kämen dann zum Tragen, wenn das Bundesarchiv die Aufgaben eines zentralen Nationalarchivs umfassend etwa unter dem Gesichtspunkt gesamtstaatlicher Repräsentation wahrnehmen soll. Vorerst ist der Umfang der Regelungskompetenz, der sich aus dem Begriff der Förderung der Forschung im Hinblick auf die aus einer umfassenden Tätigkeit des Bundesarchivs zwingend folgende Beschneidung von Länderbefugnissen zu prüfen 64 .
61
Widersprüchlich Pestalozza Rz 914. v. Münch, GG Art. 70 Rz 9 ff.; BVerfGE 12, 229. 63 Pestalozza Rz 906. 64 Unzutreffend ist die Ansicht Nadlers, insofern er vorrangig auf eine ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache wegen angeblicher Unmöglichkeit einer Landesregelung abstellt. Eine echte rechtliche Unmöglickeit würde sich ausschließlich auf die datenschutzrechtliche Regelung und die Verfügungsgewalt über Behördenschriftgut beschränken und gerade nicht die eigentliche kulturelle Aufgabenkompetenz des Bundesarchivs umfassen/ Nadler, Die Archivierung und Benutzung staatlichen Archivguts nach den Archivgesetzen des Bundes und der Länder, S. 14. 62
10 Manegold
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
3. Annexkompetenzen zu Art. 74 Nr. 13 GG Die sachlichen Regelungsmaterien, die vom notwendigerweise schlagwortartig gefaßten Kompetenztitel Förderung der Forschung umfaßt sind, sind durch Auslegung zu ermitteln. Die herrschende Ansicht greift dabei auf die sog. Annexkompetenz zurück. Bei dem Begriff der Annexkompetenz 6 5 handelt es sich nach richtigem Verständnis um einen speziellen verfassungs- und kompetenzrechtlichen Auslegungs-Topos, der methodisch der teleologischen Methode zuzuordnen ist 6 6 . Im Gegensatz zu den sogenannten „Kompetenzen kraft Sachzusammenhang" und „Natur der Sache" hat die Figur der Annexkompetenz keine a priori kompetenzerweitertende, sondern allenfalls kompetenzergänzende 67 Wirkung. Die Ausdehnung erfolge nicht „in die Breite der Aufgabenpalette, sondern in die Tiefe einer zuständigen Aufgabe" 68 . Danach sollen jedenfalls sogenannte „unselbständige Hilfsgeschäfte" zu Gesetzgebung und Verwaltung soweit legitimiert sein, als sie der Erfüllung der verfassungsrechtlich unbestrittenen „Haupt"-Kompetenz dienen 69 . Für den Bereich der Bundesarchivverwaltung können folgende „Hilfsgeschäfte" der Forschungsförderung zugeordnet werden: Organisation und Verfahren der eigenen Kulturverwaltung, soweit die Länderverwaltung nicht eingeschränkt wird 7 0 , Planungsmaßnahmen im weiteren Sinne 71 , Beratung und Abstimmung mit den Ländern bei parallelen oder sich ergänzenden Kompetenzen von Bund und Ländern (Beispiel Wissenschaftsrat und Art. 91b GG). Darunter fallen diejenigen Vorschriften des BArchG, die die Zusammenarbeit mit den Staatsarchiven der Länder berühren.
65 So insbesondere auch das BVerfGE 77, 288 (299); E 88, 203 (331). Köstlin S. 42 ff.; Pestalozza Rz 116 ff. 66 Köstlin S. 43; Pestalozza Art. 70 Rz 116 f.; vgl. auch Bullinger, Ungeschriebene Kompetenzen i m Bundesstaat, AöR 96 (1971) S. 237 ff. (261 ff.). 67 Pestalozza a.a.O. Rz 110. 68 Maunz/Dürig, GG Art. 30 Rz 26. 69 Köstlin S. 43 Fn 94. 70 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 433 f. Maunz/Dürig, Art. 73 GG Rz 12 ausdrücklich zur umfassenden Regelung des Schicksals von Bundesschriftgut. 71 Köstlin S. 43; Bullinger S. 262. Hierzu zählte auch die Personal- Aus- und -fortbildung, etwa durch eine Bundesarchivschule, die das BArchG nicht erwähnt, was jedoch ein Blick auf die anerkannten Bundesverwaltungsakademien und Bundeswehrhochschulen zeigt. Stettner S. 421 f.
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4. Summe der Annexkompetenzen zu den übrigen ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes Der Eigenart des Bundesarchivs als Dokumentationsstelle der Bundesbehörden entspricht es, daß die gesamte Aufgabenpalette des Bundes betroffen wird und insofern auf sämtliche Kompetenznormen des Grundgesetzes als „Haupt"-Kompetenzen zurückzugreifen ist, ohne daß hier einzelne zu nennen wären. Aus dem Katalog der anerkannten Hilfsgeschäfte ist hier vor allem an folgende Maßnahmen zu denken: Dokumentation der eigenen Tätigkeit und damit auch Informationsbeschaffung und -planung für zukünftige Tätigkeit 7 2 , Ressortforschung 73, Öffentlichkeitsarbeit und Selbstdarstellung der Bundesministerien und weiterer Exekutivorgane 74 . 5. Art. 74 Nr. 5 GG a.F.? Für die Abgabeverpflichtung und zentrale Sammelfunktion des Bundesarchivs kommt weiter der Aspekt des Schutzes deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland im Sinne von Art. 74 Nr. 5 GG a. F. als Teilgesetzgebungskompetenz in Betracht 75 . Das aufgrund des alten Nr. 5 bis zum 15. November 1994 erlassene Bundesrecht gilt gemäß Art. 125 a Abs. 1 GG fort, kann allerdings durch Landesrecht ersetzt werden 76 . Archivalien als nationale Kulturgüter im weiteren Sinne zu sammeln und zu bewahren, ist ein Ziel des BArchG. Der Begriff des „Kulturguts" müßte über das herkömmliche Verständnis im Sinne von Kunstschätzen hinausgehen und auch lediglich historisch oder wissenschaftlich, und gerade nicht künstlerisch besonders wertvolles Schriftgut umfassen. Ohne auf den Wortlaut einzugehen, vertritt die überwiegende Ansicht in der Kommentarliteratur, daß auch „bibliothekarisches und archivisches Gut" unter Art. 74 Nr. 5 GG a.F. falle 7 7 .
72
BVerfGE 8, 104, 118 zur Volksbefragung; insofern ist auch an einen Annex zum Statistikwesen zu denken. 73 Köstlin, Kapitel Ressortforschung, in: Flämig u.a. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 2 S. 1370 ff. 74 BVerfGE 44, 125 (149 f.). 75 Gesetz zum Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung vom 6.8.1955 BGBl. I S. 501; sowie Art. 150 W R V „Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte ... genießen den Schutz und die Pflege des Staates." 76 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994 (BGBl. I. S. 3146). Dazu Pestalozza S. 579. 1
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Das BArchG könnte aber nur unter der Prämisse Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Nr. 5 GG a.F. sein, daß man Schutzmaßnahmen gegen Abwanderung nicht auf Maßnahmen zur Abwehr polizeirechtlicher Gefahren beschränkt, sondern organisatorische Maßnahmen im Vorfeld zuläßt, ohne daß auch nur eine abstrakte Gefahr bestehen müßte. Dagegen sprechen Systematik und Entstehungsgeschichte78. Art. 74 Nr. 5 GG a. F. war eine Kompetenznorm, die nach Wortlaut und Zweck nur den Teilaspekt bundesgesetzlicher Vorkehrungen des Abwanderungsschutzes abdeckte 79 und auf Gegenstände von besonderer Bedeutung für den Bund, d.h. von nationaler und nicht nur regionaler Bedeutung beschränkt war. Aus der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 5 GG a.F. ist daher eine Rahmenzuständigkeit des Bundes in Art. 75 Abs. 1 Nr. 6 GG n.F. geworden. Der Erlaß des BArchG kann i m Ergebnis auch nicht teilweise auf Art. 74 Nr. 5 GG a. F. gestützt werden. 6. Ergänzende ungeschriebene Bundesgesetzgebungskompetenzen ? Insofern stellt sich die Frage, ob ergänzend stillschweigende konkurrierende Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Bundes herangezogen werden können 80 . Solche ungeschriebenen stillschweigenden Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Bundes werden vom BVerfG und der herrschenden Ansicht wegen des Wortlauts und Zusammenhangs der Art. 30, 70, 83 GG nicht grundsätzlich abgelehnt, um der Kompetenzordnung des Grundgesetzes eine gewisse als notwendig angesehene Flexibilität zu verleihen 8 1 . Der Begriff der stillschweigenden Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen umreißt, was in unterschiedlicher Terminologie als Kompetenz kraft „Natur der Sache", „Sachzusammenhang" bezeichnet wird 8 2 . 77 v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Art. 74 GG Anm. X I I I 2 (S. 1555); v. Münch, GG Art. 74 Rz 21; Bothe in: Alternativkommentar zum GG, Art. 74 Rz 13; Jarass/Pieroth, Rz 75 Rz 11; skeptisch Pestalozza Art. 75 Rz 649 ff. 78 Pestalozza a. a. O. 79 Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes S. 95. 80 Pestalozza spricht sich prinzipiell gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Kompetenzen kraft Annex, Natur der Sache, Sachzusammenhang aus (Art. 70 GG Rz 88 ff.). Zur Problematik stillschweigender Gesetzgebungskompetenzen i m Kultursektor v.a. Köstlin S. 38 ff. 81 Das GG setze diese voraus, wenn es in den Kompetenznormen Art. 30 und 83 die Länder für zuständig erklärt, „soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zuläßt." Eine entsprechende Formulierung fehlt in Art. 70 GG. Dessen Fassung „ . . . soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnis verleiht" wird von der h. M. entsprechend ausgelegt. Vgl. zum früheren Streit: v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. A. 1964, Art. 70 Anm. I I I 4, S. 1391 ff.; Köstlin S. 39.
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Für die Einrichtung eines Bundesarchivs kommt vor allem eine möglicherweise „gewohnheitsrechtlich" von Bund und Ländern anerkannte, durch das BVerfG bestätigte und vom historischen Verfassungsgeber wohl vorausgesetzte ungeschriebene Kompetenz kraft Natur der Sache in Betracht. Dieser Kompetenzgrundsatz wird v.a. unter dem Gesichtspunkt der „Unmöglichkeit einer Länderregelung" und der „fehlenden Anknüpfung" in einem Bundesland vertreten 83 . Ein Bundesland hätte keine die jeweiligen Bundesorgane bindenden Anordnungen bezüglich Registraturgut des Bundes treffen können. Insbesondere die vom BArchG normierten umfassenden Anbietungs- und Übergabepflichten der Bundesstellen gegenüber dem Bundesarchiv hätten nicht von einem Bundesland statuiert werden können. Insofern liegt zwar ein Fall echter, rechtlicher Unmöglichkeit vor, bei der auch ein gemeinsames Vorgehen der Länder nicht geeignet wäre. Diese Unmöglichkeit beschränkt sich allerdings bei genauer Betrachtung auf die Regelung der Verfügungsgewalt über Behördenschriftgut und nicht auf alle über das Element der Abgabepflicht hinausgehenden Kulturverwaltungskompetenzen. Eine vom Wortlaut des BArchG gedeckte und praktizierte Archivierungsund Sammeltätigkeit des Bundesarchivs in der Funktion eines zentralen Nationalarchivs, das außer-bundes-behördliches und privates Archivgut erwirbt und archiviert, dürfte jedenfalls nach der bislang herrschenden Ansicht durch eine natürliche Bundeskompetenz für nationale und gesamtstaatliche Repräsentation gedeckt sein. Die Annahme einer solchen „natürlichen" Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz für den Bund ist allerdings deswegen problematisch, weil auch sie notwendigerweise eine ausschließliche Bundeskompetenz und Bundesprärogative begründet, die den Ländern jedes Tätigwerden untersagt, sobald der Bund bzw. das Bundesarchiv diese Kompetenz ausschöpft. Andererseits verbietet es das Grundgesetz, die als Selbstdarstellung verstandene „nationale Repräsentation" automatisch zur Bundesangelegenheit kraft Natur der Sache zu erklären, sobald der territoriale Bereich eines Landes überschritten ist. Auch die nationale Repräsentation ist im Bundesstaat keine ausschließliche Domäne des Bundes 84 . Zu erwägen 82 Stern ist der Ansicht, diese Gesetzgebungskompetenzen ließen sich nicht voneinander abgrenzen, in: Staatsrecht Bd. II, S. 611. Gleichwohl bleibt eine Analyse des Sachzusammenhangs unerläßlich. 83 Diese „Unmöglichkeit" muß aus systematischen Gründen über diejenige des Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 GG hinausgehen, wonach ein Bundesarchivgesetz auch i m Rahmen des Art. 74 Nr. 13 GG nur erlassen werden kann, wenn keiner seiner Regelungskomplexe durch ein Bundesland allein wirksam geregelt werden kann. Ablehnend daher Köstlin S. 49. 84 BVerfG im sogenannten ersten Fernsehurteil in E 12, 205 (252 f.): „Aus der Natur der Aufgabe »nationale Repräsentation nach innen' und ,Pflege kontinuitäts-
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
ist aber, ob eine solche nationale Repräsentationskompetenz für das Bundesarchiv nicht ebenfalls als Annexkompetenz im Wege der Auslegung aus Art. 74 Nr. 13 und Art. 91b GG herzuleiten ist 8 5 . 7. Ergebnis Die Bundeskompetenz für die Archivierung und wissenschaftliche Dokumentation von Schriftgut des Bundes und Ergänzungsarchivgut ergibt sich aus Art. 74 Nr. 13 GG und dessen Annexkompetenzen. Die Grenze wird dort erreicht, wo das Bundesarchiv Aufgaben eines nationalen Zentralarchivs wahrnimmt, das einseitig Kompetenzen eines Landesarchivs beschneidet. I V . Ländergesetzgebungskompetenz Die Gesetzgebungskompetenz der Länder ergibt sich aus Art. 30, 70 GG. Die Abgrenzungstechnik des Art. 70 Abs. 1 GG erübrigt die Erörterung eines Landesgesetzgebungskataloges86. Mittelbar in Verbindung mit Art. 30 und 70 GG wird die Länderhoheit zur Aufgabe konkretisiert durch den Denkmalschutz-, Wissenschafts- und Kulturpflegeauftrag, den die meisten Landesverfassungen enthalten, und in dem nach Ansicht der Landesgesetzgeber der Verfassungsrang des Schutzes und der Sammlung von Archivgut zum Ausdruck kommt 8 7 . Die Landesgesetzgebungskompetenz fehlt hinsichtlich der „Datenöffnungsfunktion" für bundesrechtliche Geheimnisvorbehalte, Löschungs- und Sperrungsbestimmungen. Soweit diese durch landesrechtliche Abgabe- und Übernahmebestimmungen in den Landesarchivgesetzen ergänzt werden sollten, verweisen diese auf bundesarchivgesetzliche Regelungen.
bewahrender Tradition 4 folgt nicht begriffsnotwendig, daß ihre Förderung durch Rundfunksendungen zwingend geboten ist." Köstlin lehnt daher den Gesichtspunkt der nationalen Repräsentation überhaupt ab (S. 51 ff.); ebenso Pestalozza Art. 70 Rz 90 ff., 108. 85 Köstlin S. 50 f. 86 Pestalozza Art. 70 Rz 132 ff. 87 So z B. zu Art. 18 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen die Amtliche Begründung zum LArchG Nordrhein-Westfalen S. 1; abgedruckt bei Hockenbrink, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, S. 13, 15.
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V. Die parlamentarische Diskussion zum Bundesarchivgesetz 1. Politischer Konsens über die Stärkung der Stellung der Archive Von der Notwendigkeit der Archivgesetzgebung und eines „Datenöffnungsgesetzes" für die historische Forschung gingen alle politischen Fraktionen übereinstimmend aus. In der parlamentarischen Diskussion zum BArchG tritt der klare Wille hervor, die Stellung der Archive insbesondere gegenüber den anbietenden Stellen der Exekutive zu stärken, um dadurch eine unabhängige historische Forschung zu fördern und anzuregen. Die gesamte Diskussion stand seitens der Parlamentarier unter dem obersten Prinzip, durch die Archivgesetzgebung keinesfalls neue oder zusätzliche Zugangs- oder Geheimhaltungsschranken zu errichten, sondern historische Forschung gerade auch über staatliche Tätigkeit weitestgehend zu ermöglichen und aktiv zu fördern 88 . Die Materie des Archivrechts gab sich allerdings als „juristisches Neuland" zu erkennen. Angesichts der juristisch unübersichtlichen und komplizierten Materie des Geheimnis- und Datenschutzes begab sich der Bundesgesetzgeber in eine wenig „souveräne" Entscheidungsabhängigkeit von den juristischen und Datenschutzsachverständigen, die zunächst dazu führte, daß sich das Gesetzgebungs verfahren über zwei Legislaturperioden hinzog 89 . Denn die Sachverständigen konnten sich in wichtigen rechtlichen und ter88 MdB Waffenschmidt, FDP, für die Regierungskoalition in der ersten Lesung 13.06.1985, BT-Drs. 10/3072 S. 10661 B; (BT-Dokumentation S. 66): „Die Grundrechte der Informations- und Wissenschaftsfreiheit verlangen nach unserer Überzeugung dieselbe konkrete Ausgestaltung wie für den Bereich des Datenschutzes. Wenn die Freiheit der Information und der Forschung nicht leiden soll, muß derjenige, der aus guten Gründen personenbezogene Daten gesetzlich sichert und schützt, ebenso durch Gesetz festlegen, wann und unter welchen Voraussetzungen das Recht des Bürgers auf Nutzung amtlicher Unterlagen Vorrang vor Datenschutzinteressen haben kann, darf oder muß"; zustimmend MdB Duve (SPD) S. 10663. Staatssekretär Spranger in der zweiten Lesung 17.09.1987, BT-Drs. 11/498 S. 1834 f. (BT-Dokumentation S. 63). 89 In der 10. Legislaturperiode wurde der erste Entwurf der Bundesregierung für ein BArchG von der Bundesregierung dem Bundesrat gem. Art. 76 Abs. 2 GG am 24. August 1984 zugeleitet (BR-Drs. 371/84); anschließend mit Gegenäußerung dem Bundestag am 25. März 1985 (BT-Drs. 10/3072); die erste Lesung erfolgte am 13. Juni 1985 (Parlamentsprot. 10/143, S. 10661 ff.; vgl. 143. Sitzung der 10. Wahlperiode am 13. Juni 1985; sowie 80. Sitzung des Innenausschusses am 14. Oktober 1985). In der 10. Legislaturperiode kam ein Beschluß nicht mehr zustande, weil die Sachverständigen insbesondere in der Frage der Anonymisierung keine Einigung erzielen konnten. In der 11. Legislaturperiode wurde der Gesetzesentwurf unverändert dem Bundesrat und mit dessen Stellungnahme am 19. Juni 1987 dem Bundestag zugeleitet (BR-Drs. 155/1/87; BT-Drs. 11/498); erste Lesung im Bundestag war am 17.09.1987 (Parlamentsprot. 11/27, S. 1830 ff.; Sitzungen des Finanzausschusses
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
minologischen Fragen der Archivierung und Anonymisierung von personenbezogenen Daten, des Geheimnisschutzes und der erforderlichen Regelungsdichte nicht zufriedenstellend einigen. Dies stand der Klärung prinzipieller Fragen der Datenöffentlichkeit entgegen, was umso bedauerlicher ist, als das BArchG für die nachfolgenden Landesarchivgesetze Pilotfunktion haben sollte. Der politische Konsens einerseits und die Dominanz „gesetzestechnischer" Fragen führten gleichzeitig dazu, daß politische und staatsrechtliche Grundlagen des Archivwesens aus der Diskussion weitgehend ausgespart blieben. Eine politische Auseinandersetzung um die Problematik der öffentlichen Überlieferungsbildung, wie sie Booms 1972 bei seinem Amtsantritt als Präsident des Bundesarchivs gefordert hatte 90 , unterblieb; die demokratische, republikanische und rechtsstaatliche Dimension des Archivwesen 91 wurde fast gänzlich ausgespart 92. Sie kam allein in der nicht unproblematischen Diskussion über ein Kassationsverbot für Unterlagen aus der NS-Zeit zum Ausdruck. Es ist das Verdienst des hessischen Datenschutzbeauftragten Simitis, als einziger Sachverständiger kursorisch die Bedeutung des Archivwesens und des Archivrechts für das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip auf den Punkt gebracht zu haben: „Da die Funktionsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft die Publizität der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit gebietet, hängt sie auch und gerade von einer korrekten und vollständigen Archivierung der Entscheidungsvorgänge ab" 9 3 . 2. Gesetzliche Ausgestaltung des Archivbenutzungsanspruchs Ein Hauptanliegen der Archivgesetzgebung war die parlamentsgesetzliche Ausgestaltung eines subjektiv-öffentlichen Rechts auf Archivgutbenutzung. Oldenhage spricht einprägsam von „Waffengleichheit" zwischen Davom 7.10.1987; Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vom 4.11.1987; Innenausschuß vom 14.10.1987 Drs. 11/1215; Entwurf der Bundesregierung Drs. 11/498). 90 Booms Antrittsrede vom 30.11.1972, Der Archivar 26 (1973) Sp. 63 ff.; Richter a.a.O. in: Bannasch/Maisch (Hrsg.), Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 236: Stärkung der Stellung der Archive durch generelle Abgabepflicht. 91 s.o. 1. Kap. III. und 2. Kap. A. II., B. II. Schmitz, Archive zwischen Wissenschaftsfreiheit und Persönlichkeitsschutz, in: FS Booms, S. 102, spricht von „Mittlerrolle zwischen Verwaltung und Wissenschaft". 92 Dies ist typisch auch für andere Sachverständigengremien, in der Juristen nur den datenschutzrechtlichen Teil sahen: vgl etwa v. Mutius Beitrag in: Lorenz-vonStein-Institut (Hrsg.), Brauchen wir ein schleswig-holsteinisches Archivgesetz? Vortragsveranstaltung vom 25.02.1988 der Universität Kiel, S. 50 ff. 93 Stellungnahme des Datenschutzbeauftragten Simitis, Aussch.-Drs. 10/112 S. 47 (BT-Dokumentation S. 131).
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4. Kap.: Allgemeiner Teil
tenschutz und Datenöffnung 94 . In der Bundestagsberatung stellte der Abgeordnete Waffenschmidt die Forderung nach „Datenöffnungsgesetzen": „Die Grundrechte der Informations- und Wissenschaftsfreiheit verlangen nach unserer Überzeugung dieselbe konkrete Ausgestaltung wie für den Bereich des Datenschutzes. Wenn die Freiheit der Information und der Forschung nicht leiden soll, muß derjenige, der aus guten Gründen personenbezogene Daten gesetzlich sichert und schützt, ebenso durch Gesetz festlegen, wann und unter welchen Voraussetzungen das Recht des Bürgers auf Nutzung amtlicher Unterlagen Vorrang vor Datenschutzinteressen haben kann, darf oder muß" 9 5 .
3. Das Dilemma archivgesetzlicher Anbletungspflichten Anbietungsfristen für Unterlagen der Exekutive
und
In seiner einleitenden Stellungnahme in der öffentlichen Anhörungen im Bundestagsinnenausschuß trat der damalige Präsident des Bundesarchivs Booms aus archivfachlicher Sicht für feste Abgabefristen für Bundesstellen gegenüber dem Bundesarchiv ein. Booms begrüßte vor allem den Autoritätsgewinn des Bundesarchivs gegenüber den Behörden und abgebenden Stellen, den er sich durch eine gesetzliche Regelung des Archivwesens, insbesondere der Anbietungs- und Abgabepflichten versprach. Er hoffe, daß die nicht nur juristische Aufwertung, die das Archivwesen in seiner Gesamtheit durch eine parlaments-gesetzliche Regelung erfahre, die Verwaltungen zu einer sach- und verantwortungsgerechteren Behandlung ihrer Unterlagen veranlassen werde. Gerade auch angesichts der ständig steigenden „Papierflut" könne das Bundesarchiv seiner Dokumentationsaufgabe aber nur gerecht werden, wenn die Archivare nicht ständig und überall Überzeugungsarbeit zu leisten hätten und darüber wachen müßten, daß keine unkontrollierte Vernichtung von potentiellem Archivgut, wie sie für die frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland zu beklagen sei, vorgenommen werde. Aus archivarischer Sicht und aus der Sicht zukünftiger historischer Forschung seien allerdings verbindliche Anbietungs- und Abgabefristen für die abgebenden Stellen vorzugswürdig 96 .
94 Oldenhage, Bemerkungen zum BArchG, Der Archivar 41 (1988) Sp. 478, 488; ders., Erläuterungen zum BArchG, in: Kölble (Hrsg.), Das deutsche Bundesrecht, 598. Lieferung, 1988, V I I I A 60, S. 812; ders. Archive i m Konflikt zwischen Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Erläuterungen zum Entwurf eines BArchG, in: Datenschutz und Forschungsfreiheit, Akademiebeiträge, S. 11 ff.; Bizer, Archivgesetzliche Zugangsregeln, Der Archivar 46 (1993) Sp. 410 ff.; Bannasch, Archivgutnutzung in Baden-Württemberg, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 192 ff. 95 BT-Drs. 1985 S. 10661, 10. Wahlperiode 143. Sitzung am 13. Juni 1985; vgl. auch Baden-Württemberg LT-Drs. 9/3345 vom 17.07.1986 (abgedruckt bei Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 101 ff.).
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Dies stieß auf Seiten der Bundesregierung auf Widerstand, da allein die Verwaltung bei der Vielzahl der Verwaltungszwecke über die Entbehrlichkeit zur Aufgabenerfüllung entscheiden könne. Diese entziehe sich einer Normierbarkeit. Die Normierung fester Anbietungsfristen würde zwangsläufig Verwaltungsvorschriften mit unübersichtlichen Ausnahmeregelungen nach sich ziehen. Daher mußte sich das Bundesarchiv mit einer unbefristeten Anbletungspflicht zufrieden geben und auf die Vereinbarung von Spezialabmachungen vertrauen 97 . Die bei derart gegensätzlichen Standpunkten an sich zu erwartende Diskussion unterblieb. Entscheidend für den Verzicht des BArchG auf feste Anbietungsfristen war im Ergebnis ein Umstand, der als das Grunddilemma der Normierung von archivgesetzlichen Abgabepflichten an Archive bezeichnet werden kann: Jeder Versuch, die Überführung von öffentlichen und privaten Unterlagen an öffentliche Archive gesetzlich zwingend vorzuschreiben, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, daß das wirklich interessante Material unterdrückt oder vernichtet würde. Der im Bundesgesetzgebungsverfahren als Sachverständiger berufene Bonner Stadtarchivar Höroldt bezeichnete daher das „archivrechtliche Vertrauensverhältnis" als das „Existenzproblem der Archive" 9 8 . Die auffällige Zurückhaltung der Archivare und Historiker in der Diskussion bezüglich der Abgabeproblematik ist vor diesem Hintergrund verständlich. 4. Schwerpunkte der Sachverständigenanhörung im Innenausschuß des Bundestages Die Gutachten und Stellungnahmen der Sachverständigen für die öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes und die anschließende Befragung am 14. Oktober 1985 zeigen die „Pilotfunktion" des BArchG 9 9 . Die Diskussion litt insgesamt darunter, daß 96
Stellungnahme von Booms, Aussch.-Drs. 10/112, S. 18 (BT-Dokumentation S. 102). 97 Booms a. a. O. 98 Höroldt in der BT-Anhörung, BT-Dokumentation S. 204. 99 Die schriftlichen Stellungnahmen sind abgedruckt in BT-Drs. 10/3072 = Aussch.-Drs. 10/112 vom 27. September 1985; die mündliche Anhörung wurde im stenografischen Protokoll Prot. Nr. 80, Drs. 10/3072 protokolliert; folgende Sachverständige legten dem Innenausschuß des Bundestages vor (in der Reihenfolge der Stellungnahmen): Leuze, Landesbeauftragte für den Datenschutz von Baden-Württemberg; Booms, Präsident des Bundesarchivs; Höroldt, Städtischer Archivdirektor Bonn; Möller, Institut für Neuere Geschichte der Universität Erlangen; Simitis, Hessischer Datenschutzbeauftragter; Baumann, Bundesbeauftragter für Datenschutz; Grebing; Semi-
4. Kap.: Allgemeiner Teil
155
die Funktion der Forschungsfreiheit als Abwehrrecht u n d daraus folgend das Verhältnis v o n Forschungsfreiheit zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht vage und ungeklärt blieb. Unvereinbare Positionen zeigten sich insbesondere bei der Frage einer Anonymisierung v o n personenbezogenen Unterlagen vor deren Übergabe an das A r c h i v und später v o r der Benutzung durch historische Forscher. I m folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse der umfangreichen Diskussion zusammengefaßt. D i e Diskussion führte zu Änderungen des Regierungsentwurfs i n der Frage der Bewertung abzugebender Unterlagen als „ a r c h i v w ü r d i g " , bei der Frage der „ A n o n y m i s i e r u n g " v o n Unterlagen. Entscheidend war die Erkenntnis, daß eine Datenabschottung und Sperrung der Daten i m A r c h i v , also die A r c h i v i e r u n g selbst als funktionales Ä q u i v a l e n t der Löschung i n Betracht kommen.
nar für mittlere und neuere Geschichte der Universität Göttingen; Cartarius; Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Den BT-Sachverständigen lag folgender Fragenkatalog des Innenausschusses zu Beantwortung vor, der sich in drei Komplexe gliederte: Der erste Komplex, (I.) Fragen an das Archivwesen, berührte die Probleme der Erforderlichkeit eines Parlamentsgesetzes über das Archivwesen (archivrechtlicher Gesetzesvorbehalt; Nr. 1), die Anforderungen des Bundesarchivs (Nr. 2), Kompensation der datenschutzrechtlichen Beschränkungen für die Archivierung (Nr. 3), Alternativen zur Anonymisierungsregelung des Regierungsentwurfs (Nr. 4), die Archivierung der Nachlässe bedeutender Personen der Zeitgeschichte (Nr. 5), Erforderlichkeit einer Regelung für die Unterlagen bedeutender Industrieunternehmen (Nr. 6), Archivgut von Wirtschaftsunternehmen in (überwiegendem) Bundeseigentum (Nr. 7), Anforderungen elektronischer Speichermedien (Nr. 8). Der zweite Komplex, (II.) Fragen an die Geschichtswissenschaft und zeitgeschichtliche Forschung, betraf die Beurteilung zukünftiger Quellensicherung aus der Perspektive von Historikern und betraf Erweiterung bzw. Verengung des Quellenbestands durch das BArchG im allgemeinen (Nr. 1) und bezüglich des NS-Regimes im besonderen (Nr. 5), wiederum die Frage der Anonymisierung von Unterlagen (Nr. 2, 3, 4), die eventuelle datenschutzrechtliche Sonderstellung von Amtsträgern (Nr. 4) sowie die nach der Beurteilung der unbestimmten Gesetzesbegriffe „bleibender Wert", „schutzwürdige Belange", „angemessene Berücksichtigung", „öffentliches Interesse" und „vertretbarer Verwaltungsaufwand" aus der Perspektive potentieller Archivbenutzer (Nr. 7). Der Dritte Komplex, (III.) Fragen an den Datenschutz, betraf die Möglichkeit der Verkürzung und Vereinheitlichung von Abgabefristen für die abgebenden Stellen des Bundes, eines Systems fester Fristen (Nr. 3, 4), die Anonymisierung vor Abgabe an das Archiv (Nr. 2), Alternativen zur Wahrung des Persönlichkeitsschutzes (Nr. 8) sowie mehr oder weniger gesetzestechnische Einzelheiten des Entwurfs.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
a) Garantie „archivarischen Ermessens". Bewertungsmonopol der Archive? Die Historikerin Grebing betonte, daß die archivische Bewertungslehre selbst und die historische Forschung wissenschaftlichen „Paradigmenwechseln" unterworfen sei, denen das Gesetz Rechnung tragen müsse 100 . Der Gesetzentwurf dürfe sich nicht ausschließlich an den fachlichen Methoden der diplomatic- oder ereignisgeschichtlich orientierten historischen Forschung ausrichten. Er müsse vielmehr „methodenneutral" alle Bereiche der Forschung, also z.B. auch der Sozial Wissenschaften berücksichtigen, die mit quantifizierenden Methoden aktuelle Fragen nicht zuletzt im Auftrag der Bundesregierung bearbeiteten 101 . Die Methodenneutralität wurde in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Art. 5 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 G G 1 0 2 als ein Leitprinzip für die gesetzliche Regelung archivarischer Tätigkeit angesehen, das dem Archivgesetzgeber Schranken setze. Die archivische Bewertung beruht nach Ansicht der historischen und archivarischen Sachverständigen auf dem Prinzip der Authentizität der aufzubewahrenden Archivalien und potentiellen Quellen. Das Prinzip der Authentizität verbiete prinzipiell Veränderungen zu archivierender oder archivierter Unterlagen seitens der Archivare. Dieser Grundsatz hinge eng mit dem Begriff der historisch-wissenschaftlichen Wahrheit zusammen, wie er spätestens seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts zum Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft gehöre 103 . Insbesondere eine Anonymisierung in Originalen verstoße gegen das Forschungs- und Archivinteresse und stehe im „Widerspruch zu den ethischen Grundsätzen des Archivwesens und dem aufklärerischen Credo der Historiographie" 104 . Die Begriffe der Methodenneutralität und der Authentizität haben keinen unmittelbaren Eingang in den Gesetzestext gefunden. Die Authentizität der Quellen sollte nach allgemein akzeptierter Ansicht von Booms mit der „Garantie des archivarischen Ermessens" geschützt werden. Dieses sollte verfahrensrechtlich dadurch abgesichert werden, daß ausschließlich die Archivare über die „Archivwürdigkeit" von Unterlagen im Rahmen des unbestimmten Rechtsbegriff des „bleibenden Wertes" entscheiden. Denn den Be100 Uhl, Der Wandel der archivischen Bewertungskompetenz, Der Archivar 43 (1990) Sp. 529 ff. 101 Grebing, S. 80/16 (BT-Dokumentation S.199) der Beilage 1 zur Aussch.-Drs. 10/112. Vgl. auch Booms, Stellungnahme, Aussch.-Drs. 10/112, S. 20 (104) zu Frage 1.4.1. (Alternative zur Anonymisierungsregelung). 102 s.o. 2. Kap. A I. 2. und B. I. 2. 103 Grebing, Anhörung, Prot. Nr. 80, Drs. 10/3072, S. 80/72; Homann, S. 80/74 (BT-Dokumentation S. 237). 104 Grebing a.a.O.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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griff „bleibender Wert" gesetzlich näher bestimmen zu wollen, würde erforderlich machen, den Kern der „archivischen Wertlehre" und die Kassationsprinzipien 1 0 5 in den Gesetzestext zu integrieren. Dies war nach Booms weder praktikabel, noch erforderlich. Eine solche gesetzliche Festschreibung historisch-wissenschaftlicher Methoden sei auch wegen Art. 5 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich unzulässig 106 . Die Alternative könne nur bedeuten, alles unterschiedslos aufzubewahren, was nicht nur ökonomisch undurchführbar, sondern vor allem für die zukünftige Forschung sinnlos sei. Dem Zuwachs an Quantität der Überlieferung entspricht eben nicht eine Verbesserung der Qualität der Auswertungsmöglichkeiten. Der Archivar sei dazu ausgebildet, „mit einem methodisch erarbeiteten Dokumentationsmaximum auf der Grundlage eines Dokumentenminimums" die Wünsche zukünftiger historischer Forschung zu bedienen. Der Archivar sei dank seiner Methoden zur größtmöglichen Subjektivitätsferne befähigt. Bestätigt werde die Arbeit der Archive dadurch, daß ihm kein einziger Fall der Kritik seitens der Forschung bekannt sei 1 0 7 . Booms führt weiter aus: „Darum darf die fachliche Ungebundenheit des Archivars bei seinen Bewertungsentscheidungen (...) weder der Kontrolle einer jeweiligen amtlichen Fachaufsicht unterworfen werden, die sich möglicherweise von tagespolitischen Gesichtspunkten oder gar parteipolitischen Interessen nicht freimachen kann, noch den jeweiligen fachspezifischen thematischen Interessen der großen Schar der Historiker ausgesetzt werden" 1 0 8 .
Aus der Bewertungskompetenz folgt weiter, daß grundsätzlich die zuständige Archivverwaltung das „Recht des ersten Zugriffs auf erledigte Unterlagen"
(und damit auch die Anonymisierungs- und Vernichtungskompetenz) haben müsse 109 . Der Abgeordnete Duve (SPD) drang darauf, ausdrücklich klarzustellen, daß die abgebende Stelle nicht darüber entscheiden dürfe, was nicht-archiv105
Grundsätze, nach denen eine Vernichtung von angebotenem Archivgut vorgenommen werden darf. 106 Booms Stellungnahme zur Frage II.7, Aussch.-Drs. 10/112, S. 26 (BT-Dokumentation S. 110): „Zu Benken ist hier weiterhin, inwieweit einer solchen gesetzlichen Bestimmung durch die Verfassungsbestimmung des Art. 5 Abs. 3 GG in ihrer objektivrechtlichen wie subjektiv-rechtlichen Ausprägung ... Grenzen gesetzt sind (auch Archivare müssen u.U. als Wissenschaftler angesehen werden, die in ihrer Forschungsfreiheit unter den Bedingungen ihres öffentlichen Auftrags Schutz genießen)"; s.o. 1. Kap. III. und 2. Kap. B. I., 3. Kap. A. IIL, IV. 107 Booms Anhörung, Drs. 10/3072, Prot. Nr. 80 S. 80/87 (BT-Dokumentation S. 247). 108 Booms Stellungnahme zur Frage II.7, Aussch.-Drs. 10/112, S. 26 (BT-Dokumentation S. 110). 109 Stellungnahmen von Möller und Scheffler a.a.O.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
würdige Unterlagen von geringer Bedeutung (archivische Kassation) seien. Diese Entscheidung über die archivische Kassation könne nur durch das zuständige Archiv „ i m Benehmen" mit der abgebenden Stelle vorgenommen werden, was gerade nicht „im Einvernehmen" bedeute 110 . Es kann im Ergebnis von einem parteiübergreifenden Konsens in der Kompetenzfrage ausgegangen werden, den Archivaren aufgrund ihrer langjährigen Ausbildung - mit meist historischem, zum Teil auch juristischem Studium und einer anschließenden Referendarausbildung im Archivwesen Unabhängigkeit von Weisungen und gesetzlichen Vorgaben in der Frage der Überlieferungsbildung zuzugestehen. In historischer und methodischer Hinsicht sollte den öffentlichen Archivaren die Letztentscheidungskompetenz hinsichtlich der Übernahme bzw. Kassation von öffentlichen Unterlagen zustehen. Insofern läßt sich von einem historischen Bewertungsmonopol sprechen. Den Archivaren wächst so eine Sachwalterstellung zu, die der verfahrensrechtlichen Absicherung unabhängiger historischer Forschung dient 1 1 1 . b) Bedeutung von Individualdaten: Anonymisierung als „Geschichtsfälschung" Die ursprüngliche Fassung des § 2 Entwurf-BArchG schrieb die Anonymisierung personenbezogener Unterlagen als Regelvoraussetzung für die Übergabe fest 1 1 2 ; § 4 Abs. 1 S. 2 des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung sah sogar eine gesetzliche Pflicht zur Anonymisierung personenbezogener Angaben für den Fall vor, daß ein Betroffener deren inhaltliche Rich110 Anhörung Drs. 10/3072, S. 80/89 (BT-Dokumentation S. 249). Aus diesem Grund wurde dem Änderungsvorschlag des Bundesrates zur Streichung von § 2 Abs. 5 des Entwurfs der Bundesregierung (der „Unterlagen von offensichtlich geringer Bedeutung" von der Anbletungspflicht ausnehmen sollte, wobei die anbietende Stelle diese Bewertung vornehmen sollte) stattgegeben. In der Bundesratsbegründung heißt es: „Die Vertreter der Ursprungsbehörde können allein nicht über diese Frage entscheiden, da ihnen die differenzierten Bewertungsgrundsätze der Archivare nicht geläufig sind. Der Archivar hat nämlich nicht nur solche Akten im Auge zu haben, die die allgemeine politische Geschichte des Landes betreffen, sondern in gleichem Maße die Aussagekraft der Akten für Fragen der Rechts-, Verfassungsund Verwaltungsgeschichte, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Kirchen- und Schulgeschichte, der Kunst- und Literaturgeschichte ..."; BT-Drs. 371/84 S. 11, 17 und BR-Drs. 155/87 vom 5.6.1987, S. 5. 111 Zur archivgesetzlichen Umsetzung durch den Begriff der „Archivwürdigkeit" und seine kompetenzielle Bedeutung s.u. B. I. 5. und 6. (Bewertungskompetenz). 112 § 2 Abs. Nr. 2b) 1. Entwurf BArchG: „ . . . Nr. 2b) nach Rechtsvorschriften des Bundes ganz oder teilweise vernichtet werden müßten oder könnten, wenn sie anonymisiert werden. Wird durch eine Anonymisierung der Wert der Unterlagen im Sinne von § 3 beeinträchtigt, so sind sie unverändert anzubieten und zu übergeben, wenn die schutzwürdigen Belange Betroffener durch andere Maßnahmen angemessen berücksichtigt werden können ..."
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tigkeit bestritte. I n der amtlichen Begründung hieß es i n augenfälliger Verkennung historisch-wissenschaftlicher Methoden pauschal, daß „der Wissenschaftler regelmäßig nicht an individuellen Personen, sondern an Gesetzmäßigkeiten interessiert" s e i 1 1 3 . D i e Normierung einer M ö g l i c h k e i t oder gar eines Gebotes zur A n o n y m i sierung v o n Originalunterlagen wurde v o n Historikern und Archivaren aus prinzipiellen Gründen strikt abgelehnt. D i e Regelungen verstießen gegen Grundprinzipien der historischen Q u e l l e n f o r s c h u n g 1 1 4 , i m Ergebnis gegen die Forschungsfreiheitsverbürgung des A r t . 5 Abs. 3 G G 1 1 5 . D i e Sachverständige Grebing g r i f f die Prämisse der amtlichen Begründung an: „Es wäre ein Irrtum zu meinen, in der modernen quantitativ orientierten sozialgeschichtlichen Forschung z.B. über die alltäglichen Lebenszusammenhänge der „Vielen" könnte auf eine namentliche Identifizierung von Individuen verzichtet werden. Hinter statistischen Zahlen lassen sich nur dann konkrete Menschen auffinden, wenn Informationen aus verschiedenen Quellengruppen miteinander verknüpft werden können. Nur durch eine Zusammenschau verschiedener Informationen (Kirchenbücher, Standesamtsunterlagen, Akten der Polizei-, Kirchen- und Schulbehörden) lassen sich einfache Leute zum Sprechen bringen. Dazu aber benötigt der Forscher Namen. „Zwangsanonymisierung" bedeute „Fälschung der historischen Überlieferung" 116 . 113
Drs. 371/84, S. 5. Vgl. aber Staatssekretär Waffenschmidt in der 143. Sitzung des Bundestages, BT-Drs. 10/3072, S. 10662: „ . . . soll vornehmlich eine vorzeitige Nutzung bisher unzugänglichen Materials ermöglichen."; ebenso MdB Duve (SPD) a.a.O., jedoch gegen die Möglichkeit zur Anonymisierung durch die abgebende Behörde. 114 s.o. 1. Kap. II., III. 115 Dazu die Stellungnahmen der Sachverständigen: Leuze S. 10 f. (94) Anhörung S. 80/55 f.; Booms Stellungnahme S. 19 (BT-Dokumentation S. 103), 23 (107), Anhörung S. 80/8 ff.; Stellungnahme Höroldt, S. 36 (120); Möller, S. 41 (125); Stellungnahme Simitis, S. 49 (133;) Anhörung Vertreter Homann S. 80/57 f.; Stellungnahme Baumann S. 67 (151); Grebing S. 80 (164); Cartarius, S. 88 (172) ; ebenso Jäckel, Die Neugier des Historikers und ihre Grenzen, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 25 ff. (27). 116 Anhörung, Prot. Nr. 80, Drs. 10/3072, S. 80/15 (BT-Dokumentation S. 198); Grebing in der Ausschußsitzung, Aussch.-Drs. 10/112, insbes. S. 80 f. (164); vgl. auch Möller Anhörung S. 42 (126): eine Anonymisierung werde beispielsweise Studien zur sozialen Mobilität anhand sozialstatistischer Daten erschweren (Stichwort: sozialer Aufstieg). Diesem Urteil schloß sich die Opposition an: „Geschichtsforschung ist von Personen nicht zu trennen. Deswegen würde eine Anonymisierung in den meisten Fällen ein Geschichtsverfälschung darstellen. Anonymisierte Unterlagen sind für die Forschung wertlos. Eine grundsätzliche Anonymisierung ist daher abzulehnen. Sie soll allenfalls in einer dem Benutzer überlassenen Kopie vorübergehend möglich sein. Allenfalls muß Personen, die davon betroffen sind, die Möglichkeit einer Gegendarstellung gegeben werden." Vgl. MdB Hämmerle (SPD), 11. September 1987. vgl. auch MdB Ströbele (Die Grünen), 13. Juni 1985, BT-Drs. 10/ S. 10664: „Anonymisierung wäre Geschichtsfälschung".
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Jede Anonymisierungsentscheidung bei der Abgabe an das Archiv präjudiziell endgültig die Verwendbarkeit von Quellen. Sie kann die Behandlung neuer Fragestellungen ausschließen, die vor der Abgabe der Materialien noch nicht forschungsrelevant sind. Die Überprüfbarkeit von methodisch gewonnenen Erkenntnissen bzw. Wissenschaftsmeinungen würde unmöglich gemacht. Eine Regelanonymisierung würde auch in faktischer Hinsicht rein technisch undurchführbar sein, da es nicht nur um die Tilgung von Namen geht, sondern aller Merkmale aus dem Text einer Archivunterlage, die eine Identifikation ermöglichen könnten. Die sich aus diesem Umstand ergebenden Kosten und der Personalaufwand, würden de facto auf eine dauerhafte Sperrung von Aktenbeständen hinauslaufen 117 . Entscheidende Bedenken bestanden in Bezug auf den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Bestimmtheitsgrundsatz. Denn aus dem Begriff selbst ergibt sich wenig: Anonymisierung setzt faktisch anonymisierbare Unterlagen voraus. Diese beziehen sich auf eine natürliche Person und enthalten über die persönlichen Daten hinaus auch andere Aussagen, die ohne die Identifikation einer bestimmten Person einen selbständigen Aussagewert haben können, der sie auch ohne Identifikationsmöglichkeit archivwürdig erscheinen läßt. Da der Gesetzesbegriff der Anonymisierung seine Voraussetzungen und den Umfang der Maßnahmen offen ließ, eröffnet er ggfs. den abgebenden Behörden und Personen die Möglichkeit, unkontrolliert Aktenbestände vor der Abgabe an das Bundesarchiv unter dem Vorwand der Anonymisierung zu manipulieren und so die Quellen und im Ergebnis „die Geschichte zu verfälschen". Sollte der Begriff im Gesetz verbleiben, bedurfte es nach Ansicht der historischen und Datenschutz-Sachverständigen genauer Angaben darüber, wer und unter welchen Umständen welche Form der Anonymisierung durchführt, und wer diese Anonymisierung kontrolliert. Daher sei der Begriff der Anonymisierung gesetzlich zu definieren 1 1 8 . Ob nur Namen oder auch andere identifizierende Angaben oder gar ganze Absätze geschwärzt werden dürften, bedürfe der gesetzlichen Bestimmung 1 1 9 . Das führte zunächst zur Forderung der SPD nach der Ausnahme öffentlicher Amtsträger von der Anonymisierung und zur Einfügung eines archivrechtlichen Gegendarstellungsanspruches zur Vermeidung einer Substanzveränderung. Umgekehrt fand ein ausdrückliches Verbot der Anonymisierung von Originalunterlagen in einem Änderungsantrag der SPD-Fraktion keine Ausschußmehrheit 120 . 117
Grebing Stellungnahme Aussch.-Drs. 10/112, S. 80 (164). MdB Schmidt-Bott, Die Grünen, in BT-Drs. 11/498, S. 1830, 27. Sitzung 11. Wahlperiode, 17.09.1987. 119 Anfrage des MdB Ströbele, Die Grünen, Anhörung Drs. 10/3072, S. 80/11 (194); dazu auch Scheffler S. 80/19 (202). 118
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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c) Anonymisierung und Benutzungseinschränkungen als „funktionale Äquivalente" Die Datenschutzbeauftragten Simitis und Homann vertraten vor diesem Hintergrund die Ansicht, daß eine Anonymisierung nur bei Massendaten, die besonderen Geheimhaltungsbestimmungen unterliegen, ausnahmsweise in Betracht komme, wenn nicht andere Maßnahmen den gleichen Schutz gewährleisten könnten. Anonymisierungsmaßnahmen vor der Abgabe an das Archiv könnten sich von vornherein nur auf solche Unterlagen beziehen, die das Archiv nach Rechtslage vor Erlaß des BArchG überhaupt nicht erhalten durfte 1 2 1 . Zudem ließe sich die Frage, ob eine Anonymisierung oder eine andere Maßnahme den notwendigen Schutz biete, nur an dem zu archivierenden Informationsgut und den an es gerichteten Fragestellungen beurteilen 122 . Eine Anonymisierung personenbezogener Unterlagen komme ausschließlich als ultima ratio einer „übergabeermöglichenden" Anonymisierung überhaupt in Betracht 123 . Wann eine solche anzunehmen sei, blieb umstritten und ungeklärt. Bei Anwendung einer speziellen, langen Sperrfrist - etwa einer Sperrfristuntergrenze von 60, oder in besonderen Fällen von über 80 Jahren könne auf die Anonymisierung jeglichen Originalmaterials gänzlich verzichtet werden 1 2 4 . Auch für Archivgut, das bestimmten spezialgesetzlichen Geheimhaltungspflichten unterliege, könne eine Anonymisierung durch eine besondere nicht verkürzbare Schutzfrist „substituiert" werden. Anonymisierung und Benutzungseinschränkungen seien für die (abgebende) Verwaltung im Sinne grundrechtssichernder Maßnahmen „funktionale Äquivalente" 1 2 5 . Für alle Unterlagen bleibe das Kriterium der „Archivwürdigkeit" im Sinne des § 3 Entwurf-BArchG vorrangig. Sei der „Personenbezug" für die 120 MdB Duve (SPD) unter Hinweis auf die Archiv-Entdeckungen Rolf Hochhuths über den ehemaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Filbinger; BTDrs. 10/3072, S. 10662. 121 Simitis S. 49 (133). 122 Archivdirektor Höroldt in der Stellungnahme, S. 36 (120). 123 Homann Anhörung S. 80/58 (221). 124 Simitis Stellungnahme S. 50 (134); Homann S. 80/58 (221). Dagegen vertrat Baumann in der öffentlichen Anhörung die Ansicht, daß auf eine Anonymisierung von Originalen vor der Übergabe an das Archiv in bestimmten Fällen nicht verzichtet werden könne. Es sei unredlich, die Anonymisierung nicht ausdrücklich i m Gesetzestext zu nennen. Baumann selbst betonte jedoch den prinzipiellen Vorbehalt der Archivwürdigkeit. So Baumann in der Anhörung; Stenografisches Protokoll über die 80. Sitzung des Innenausschusses am Montag, 14. Oktober 1985, Protokoll Nr. 80, Beigabe 2 zur Aussch.-Drs. 10/112; S. 80/6 (189). 125 A.a.O. S. 80/76 (239); s.o. 2. Kap. B. III. 3. 11 Manegold
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Erhaltung der Archivwürdigkeit notwendig, müsse eine Anonymisierung unterbleiben 126 . Werde die Archivwürdigkeit durch vorherige Anonymisierung beeinträchtigt, so seien die Unterlagen unverändert zu übergeben, wenn die schutzwürdigen Belange Betroffener auf funktional äquivalente Weise gewahrt würden. Schutzwürdig seien diese Belange zudem nur dann, wenn ihnen keine Belange Dritter oder der Allgemeinheit gegenüberstehen, denen höheres Gewicht zukommt. Dies ergebe sich daraus, daß das Recht der informationellen Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden dürfe 1 2 7 . Das sei beispielsweise bei Daten von Amtsträgern, die die Amtsführung beträfen, grundsätzlich der F a l l 1 2 8 . Als Ergebnis der Sachverständigenanhörung steht daher fest, daß eine Anonymisierung von Originalunterlagen vor Rücksprache der Ausgangsbehörde mit der Archivverwaltung stets unzulässig ist. Der Begriff der Anonymisierung ist aus dem Gesetz insbesondere auch deswegen gestrichen worden, um verunsicherte und u.U. auch falsch angewiesene Bedienstete von einer eigenmächtigen Anonymisierung abzuhalten. Allein das Archiv hat im Rahmen seiner Bewertungskompetenz darüber zu entscheiden, ob eine Archivierung anonymisierter Unterlagen mit entsprechend kurzfristiger Benutzbarkeit oder eine Archivierung der Originale unter Beachtung länger Sperrfristen in Betracht kommt. Dies hat im Benehmen mit der Ausgangsbehörde zu geschehen, wobei das Archiv das Recht des ersten Zugriffs und die Letztentscheidungskompetenz h a t 1 2 9 . d) Datenabschottung durch organisatorische und funktionale Verselbständigung des Archivs Damit die Archivierung gleichwohl keine Verlängerung des Gedächtnisses der Behörden und kein willkommener Ausweg werde, um unzugängliche Daten der Exekutive doch wieder zugänglich zu machen, waren nach der Ansicht von Simitis und Homann an das Archivgesetz auch strengere organisatorische Anforderungen zu stellen, ohne deren strikte Einhaltung jeder Versuch einer Archivierung von personenbezogenen Daten verfassungswidrig wäre 1 3 0 . Im Gesetz müsse eine funktionelle Trennung zwi-
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Baumann in Stellungnahme, S. 68 (BT-Dokumentation S. 152). Baumann a.a.O. 128 Baumann S. 70 (154). 129 Ähnlich verlief die Diskussion in Baden-Württemberg beim ersten Landesarchivgesetz in Baden-Württemberg; Richter, Einführung in das Landesarchivgesetz von Baden-Württemberg, in: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 237, 243; ders., Die parlamentarische Behandlung des baden-württembergischen LArchG, in: FS Booms, S. 115. 127
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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sehen Verwaltung und Archiv stärker zum Ausdruck gebracht 131 , die Rückgriffsmöglichkeit der Verwaltung restriktiver geregelt werden 1 3 2 . Aus diesen Postulaten kann daher auf das Erfordernis einer auch rechtlichen Verselbständigung der Archive von den abgebenden Stellen der Exekutive geschlossen werden. Die Konzeption eines Bundesarchivs als eigenständiger (teil-)rechtsfähiger Anstalt wurde jedoch im Bundestag nicht vertieft. Allein die Fraktion der Grünen trug die Forderung nach der Einrichtung des Bundesarchivs als eigenständiger rechtsfähiger Anstalt vor, weil auf diese Art und Weise jede Interessenkollision mit den abgebenden Stellen und dem Dokumentationsinteresse der Archivare sowie mit dem Ressortprinzip verhindert werde. Zu stark hat demgegenüber die Tradition des Ressortprinzips gewirkt, demzufolge das Bundesarchiv traditionell dem Bundesinnenministerium unterstellt i s t 1 3 3 . V I . Verabschiedung, Gesetzesänderungen, Verhältnis des BArchG zu BDSG, StUG Das Bundesarchivgesetz wurde am vom 6. Januar 1988 verabschiedet und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht 134 . Das BArchG hob den o.g. Kabinettsbeschluß vom März 1950 über die Errichtung des Bundesarchivs als nachgeordnete Dienststelle des Bundesinnnenministeriums und die Benutzungsordnung des B M I vom 11. September 1969 auf.
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Simitis, Hessischer Datenschutzbeauftragter, in seiner Stellungnahme für den Innenausschuß des BT, Ausschuß.-Drs. 10/112, S. 48 (132). 131 s.o. 2. Kap. A. I. 2. und B. IV.; s.u. B. II., 5. Kap. A. III. zur Rechtsnatur der Anbietungs- und Übergabepflichten. 132 Homann als Vertreter des Hessischen Datenschutzbeauftragten Simitis in der Anhörung des Innenauschusses, S. 80/75 (238); die Fassung des § 5 Reg.-Entwurf BArchG sei zu weit gefaßt, a.a.O. S. 80/76 (239). 133 Bericht der Abgeordneten Hämmerle, Neumann, Hirsch und Schmidt-Bott über die Beratungen des Innenausschusses des Bundestages, in BT-Drs. 11/1215, S. 12 f. Zur Problematik des Ressortprinzips nach Art. 65 GG für das Bundesarchiv; Büttner, Bundesarchiv und Ressortprinzip in: FS Booms, S. 153 ff. 134 BGBl. I, Nr. 2 1988, S. 62. Durch Gesetzesänderungen vom 23.09.1990 (BGBl. 1990 I, S. 885, 912) und vom 13.03.1992 (BGBl. 1992, I S. 506) wurden die §§ 2 Abs. 9 und § 2a BArchG eingefügt, die die Archivierung und Benutzung von Unterlagen der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv sowie die Errichtung einer „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR" betreffen. Dazu: Raum, Die Regelung der Benutzung und Aufbewahrung der Unterlagen der SED, der Blockparteien und Massenorganistionen der ehemaligen DDR, DtZ 1992 S. 105 f.; Bericht des Innenauschusses des Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes, BT-Drs. 12/1967, S. 78; Nadler S. 19. lr
164
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Das BArchG entspricht weitgehend dem Entwurf der Bundesregierung unter Berücksichtigung einiger Änderungsvorschläge des Bundesrates 135 und des Innenauschusses136. Es geht als datenschutzrechtliches Sondergesetz dem Bundesdatenschutzgesetz vor, soweit es Regelungen über personenbezogene Daten einschließlich ihrer Veröffentlichung enthält. Das BDSG gilt im Anwendungsbereich des Bundesarchivgesetzes nur subsidiär 137 . Das Landesarchivgesetz von Baden-Württemberg von 1987, das als einziges vor dem BArchG erlassen wurde, und das BArchG gaben den Anstoß für die Gesetzgebungsverfahren in den übrigen Ländern. Im folgenden Jahrzehnt bis 1997 folgten die Länder mit jeweiligen Landesarchivgesetzen nach. Die Stellungnahmen von archivfachlicher und geschichtswissenschaftlicher Seite des Deutschen Historikertages 138 , der ersten Facharchivtagung zum Archivrecht vom 5.-7. Dezember 1990 in Marburg 1 3 9 und anläßlich eines Symposium zu Ehren Gregor Richters vom 29.-30. Januar 1992 in Stuttgart 140 waren überwiegend positiv. Im Zeitraum vom 03.10.1990 bis zum Inkrafttreten des „Stasi"-Unterlagengesetzes vom 20.12.1991 141 (StUG) war die Benutzung der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes durch eine vorläufige Benutzungsordnung des Sonderbeauftragten vom 18.12.1990 geregelt, die Dritten, auch Wissenschaftlern prinzipiell keinen Zugang zu den Stasi-Akten gewährte 142 . Daher wurde ausgehend von der vergleichbaren Problematik des gesetzli135 §§ des BArchG in endgültiger Fassung: § 2 Abs. 4, Abs. 5; § 5 Abs. 6 Nr. 2, Abs. 9; § 6 (teilweise); § 10 Nr. 3; § 11 BArchG. 136 §§ des BArchG in endgültiger Fassung: § 2 Abs. 4, Abs. 6, Abs. 7; § 4 Abs. 1 (außer S. 1), Abs. 2, Abs. 3 (eingefügt); § 5 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 (neu eingefügt). 137 Auffanggesetz mit lückenfüllender Funktion; Knack u.a. VwVfG, § 1 Rz 2. 1.; Auernhammer, BDSG, § 1 Rz 26. 138 Verband der Historiker Deutschlands, „Erklärung zu Fragen des Datenschutzes, zur Archivgesetzgebung und zur Verantwortung der Historiker" vom 13. Juni 1989, abgedruckt in: Der Archivar 42 (1989) Sp. 657 = CuR 1989 S. 1047 f. 139 Referentenbeiträge von Polley, Groß, Uhl, Günther, König und Raum in: Polley (Hrsg.), Archivgesetzgebung in Deutschland - Beiträge eines Symposions. Marburg 1991; Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Band 18. 140 Beiträge von Bannasch, Jäckel, Gallwas, Lenz, Taddey, Schöntag, Polley, Schneider in: Bannasch, Zeitgeschichte. 141 BGBl. I S. 2272 ; vgl. die bereichsspezifische, privilegierende Forschungsregelung in § 32 StUG. 142 Bundesminister für Innerdeutsche Beziehungen, Informationen Nr. 1/1991, S. 17; dazu Bizer, Forschungsfreiheit, S. 324; Weberling, Zum Recht des Wissenschaftlers auf Zugang zu den Stasi-Akten, DVB1. 1991 S. 681 ff. (684); Henke, Zur Nutzung und Auswertung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1993 S. 576 ff.; gegen die Annahme einer Schutzwürdigkeit der Tatsache der MfS-Tätigkeit als solcher, S. 582.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
165
chen Ausgleichs von Art. 5 Abs. 3 GG und dem Persönlichkeitsrecht auf Datenschutz eine analoge Anwendung des § 5 Abs. 5 BArchG auf die Stasi-Unterlagen vorgeschlagen 143 . Das StUG regelt heute den Umgang mit Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR abschließend. Das StUG gilt als Spezialgesetz für Unterlagen der Stellen der ehemaligen Staatssicherheitsbehörden der DDR grundsätzlich vorrangig vor dem B A r c h G 1 4 4 . Beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen („Gauck-Behörde") handelt es sich allerdings um eine Stelle des Bundes, die - nach Erledigung ihrer Aufgaben gegenüber dem Bundesarchiv grundsätzlich anbietungs- und abgabepflichtig ist145. V I I . Zusammenfassung Das Bundesarchiv und die Landesarchive wurden aufgrund informeller Organisationsakte gegründet. Die Archivierung personenbezogenen und sonst geheimhaltungsbedürftigen Materials wurde auf interne Aussonderungsanweisungen gestützt. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurde von Seiten der historischen Forschung und der Datenschutzbeauftragten die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für das Archivwesen diskutiert. Letzten Anstoß gaben die Empfehlungen der Datenschutzbeauftragten der Länder von 1982 und das Völkszählungsurteil des BVerfG. Während der Gesetzgebungsverfahren wurde deutlich, daß sich eine gesetzliche Regelung nicht auf die Ermächtigung zur Übergabe bestimmter Unterlagen an die Archive beschränken konnte, sondern daß die Archivierung und Nutzung von Archivgut der umfassenden gesetzlichen Regelung bedurften. Bei der Archivierung und Nutzung sind neben personenbezogenen Unterlagen solche zu unterscheiden, die einfachen und qualifizierten Geheimhaltungsvorschriften unterfallen. Die Lockerung der jeweiligen Geheimhaltungsbestimmung fällt als actus contrarius grundsätzlich in die Kompetenz derjenigen Körperschaft, die die Bestimmung erlassen hat. Davon abgesehen folgt eine allgemeine Kompetenz des Bundes zur gesetzlichen Regelung und Verwaltung eines Bundesarchivs aus Art. 74 Nr. 13 GG. Dies gilt allerdings nur soweit, als Länderkompetenzen im Bereich von Wissenschaft und Kultur nicht beschnitten werden. Es bestand politischer Konsens aller Bundestagsfraktionen über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung des Archivwesens und einer größt143
Weberling S. 684. Stoltenberg, Die historische Entscheidung für die Öffnung der Stasi-Akten. DtZ 1992 S. 65 ff. 145 s.u. 5. Kap. A. I. 144
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
möglichen Abgabeverpflichtung der Regierung und anderer Stellen bezüglich der bei ihnen entstandenen Unterlagen und der Garantie eines subjektiven Archivzugangsrechts. Der in der parlamentarischen Diskussion und in der Sachverständigenanhörung im Bundestag zu Tage getretene Wille der Parlamentarier war auf die Sicherung einer maximalen Publizität der Archivbestände und die - auch rechtliche - Unabhängigkeit und Neutralität der Archive gerichtet. Demgegenüber bestand eine juristisch-fachliche Uneinigkeit der Sachverständigen des Datenschutzes darüber, auf welche Weise Publizität zu gewährleisten, insbesondere die Belange der historischen Forschung bestmöglich zu garantieren seien. Im Ergebnis wurde zum Schutz der Authentizität der Quellen und der Bewertungskompetenz der Archive die Anonymisierung von Originalunterlagen abgelehnt und die Übergabeanonymisierung als Regelmaßnahme aus dem Gesetz gestrichen. Das BArchG hatte insofern Pilotfunktion für die Archivgesetzgebung der Länder, die 1997 abgeschlossen wurde. B. Archivrechtliche Begriffe Die Archivgesetze der meisten Länder sind systematisch nach den Trägern der öffentlichen Archive bzw. der abgebenden Stellen für das jeweilige Archivgut in einen Abschnitt staatliche Archive und einen Abschnitt kommunale Archive sowie sonstige Archive gegliedert 146 . Den Landesarchivgesetzen Hessens und Brandenburgs liegen materiell-funktionale Gesetzesgliederungen zugrunde 147 . Im folgenden werden Kernbegriffe eines Archivverwaltungsrechts, die sich z.T. nicht in den Archivgesetzen finden, und allgemeine Fragen vor die Klammer gezogen. Sie gehören zu den „anerkannten Grundsätzen des Archivwesens" (vgl. § 1 Abs. 4 LArchG Berlin), denen öffentliche Archive entsprechen müssen.
146 Vgl. den systematischen Aufbau der LArchGe von: Baden-Württemberg 1. Abschnitt: Staatliches Archivgut §§ 1-6; 2. Abschnitt: Kommunales und sonstiges öffentliches Archivgut §§ 7, 8; Bayern I. Allgemeines: Art. 1-3; II. Staatliche Archive: Art. 4-11; III. Archive sonstiger öffentlicher Stellen: Art. 12-14; IV. Schlußbestimmungen: Art. 15-17; ebenso die LArchGe von Bremen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein. A u f eine Abschnittsgliederung verzichten die Landesgesetze von Berlin, Niedersachsen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sowie das Bundesarchivgesetz; andere Systematik gemäß § § 2 Abs. 2, 7 Abs. 1 LArchG Rheinland-Pfalz. 147 LArchG Hessen Erster Abschnitt, Archivgut: §§ 1-5; Zweiter Abschnitt, Öffentliche Archive: §§ 6-7; Dritter Abschnitt, Aufbewahrung im Rahmen laufender Fristen: §§ 10-13; Vierter Abschnitt, Archivische Verfahren: §§ 10-13, Aussonderung, Anbietung, Feststellung der Archivwürdigkeit, Normierte Auswahlverfahren, Erschließung, Sicherung; Fünfter Abschnitt, Benutzung: §§ 14-17; Sechster Abschnitt, Aufsicht: §§ 18, 19; Siebenter Abschnitt, Schlußbestimmungen: §§ 20, 21.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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I. Archivfachliche Gesetzesbegriffe 1. Archiv gut Archivgut sind die „Unterlagen" der Stellen der Verwaltung und Rechtsprechung sowie Privater nach ihrer Übernahme durch das Archiv. Archivierungsfähige Unterlagen sind alle beweglichen Informationsträger im weitesten Sinne: Akten, Schriftstücke, Karteien, Karten, Pläne sowie Träger von Daten-, Bild-, Film-, Ton- und sonstigen Aufzeichungen, die bei Stellen des Bundes erwachsen sind (§ 2 Abs. 8 des BArchG) 1 4 8 . Die LArchGe in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern zählen zum Archivgut auch die zur Nutzung und Erschließung erforderlichen Hilfsmittel, beispielsweise die zur EDV notwendigen Computerprogramme und Findmittel 1 4 9 . Da der Begriff des Archivguts Anknüpfungsbegriff für das Archivbenutzungsrecht ist, muß dies nach verfassungskonformer Auslegung auch gelten, wo die Erstreckung auf Findmittel u. ä. nicht ausdrücklich angeordnet i s t 1 5 0 . 2. Archivierung Die Hauptaufgabe staatlicher Archive wird durch den Gesetzesbegriff der Archivierung umschrieben, den alle Archivgesetze im Kern übereinstimmend definieren. Das sächsische Landesarchivgesetz spricht in § 3 Abs. 1 S. 1 von der „Erfüllung staatlicher Archivaufgaben", zu welchem Zweck das Hauptstaatsarchiv und die Staatsarchive unterhalten werden und deutet damit an, daß es bei der Archivierung zumindest auch um die Erfüllung außerarchivgesetzlicher Pflichten, landes- und bundesverfassungsrechtlich vorgegebener Staatsaufgaben geht 1 5 1 . Das LArchG Berlin enthält in § 2 Abs. 2 die detaillierteste und weiteste Legaldefinition des Begriffs der Archivierung, der auch die Publikations- und Öffentlichkeitsarbeit mit umfaßt 1 5 2 :
148
Legaldefinitionen für öffentliches Archivgut, Archivgut des Landes, kommunales Archivgut, Zwischenarchivgut, Unterlagen in § 2 Abs. 1 bis 5 LArchG Brandenburg; LArchG Baden-Württemberg § 2 Abs. 2, 3. 149 Art. 2 Abs. 1 LArchG Bayern; § 3 Abs. 2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern; ähnlich § 2 Abs. 2 S. 2 LArchG Hessen; Hintergrund ist, daß bereits heute EDV-Unterlagen aus dem Beginn des Computerzeitalters unverwertbar geworden sind, weil entsprechende Betriebsprogramme und Hardware nicht mehr bestehen. Vgl. dazu auch: Der Spiegel, Titel Nr. 36/1995 S. 122 ff. 150 s.u. A. I. 6. Erschließung. 151 Die sächsische Landesverfassung erwähnt als einziger Verfassungstext im Ersten Abschnitt „Die Grundlagen des Staates" in Art. 11 die Archive als kulturelle Einrichtung, zu deren Unterhalt der Staat zur Verwirklichung der Förderung wissenschaftlichen und kulturellen Lebens verpflichtet ist.
168
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
„Das ... Archiv ... hat die Aufgabe, Archivgut zu erfassen, zu werten und zu sichern und auf Dauer zu bewahren sowie die Erschließung zu gewährleisten und es für die Benutzung allgemein zugänglich zu machen, insbesondere die wissenschaftliche Forschung und Öffentlichkeitsarbeit zu fördern sowie an der Erforschung und Vermittlung der Landesgeschichte mitzuwirken (Archivierung)" 1 5 3 . D i e archivierten Unterlagen werden, soweit sie v o n Trägern öffentlicher Verwaltung stammen, durch die A r c h i v i e r u n g v o n öffentlichen Sachen i m Verwaltungsgebrauch zu öffentlichen Sachen i m - zulassungsbedürftigen Gemeingebrauch „ u m g e w i d m e t " . D i e A r c h i v i e r u n g hat u. a. auch die Funkt i o n einer öffentlich-sachenrechtlichen Regelung. N a c h den Archivgesetzen sind die Archivbestände durch eine unbestimmte A n z a h l Dritter, die nicht Anstaltsangehörige oder Staatsbedienstete sind, also ö f f e n t l i c h 1 5 4 zu benutzen. D i e A r c h i v i e r u n g ist daher als adressatlose, feststellende, sachbezogene Allgemeinverfügung i m Sinne des § 35 S. 2 3. A l t . V w V f G („Benutzung durch die A l l g e m e i n h e i t " 1 5 5 ) zu charakterisieren, die als dinglicher Verwaltungsakt oder W i d m u n g bezeichnet w i r d 1 5 6 . I m datenschutzrechtlicher Hinsicht k o m m t der Archivierung die Bedeutung eines Löschungssurrogates z u 1 5 7 . E i n weiterer damit zusammenhändender Regelungsgehalt der A r c h i v i e rung ist die Zuordnung zu bestimmten Archivgutkategorien und Fristenregimen, deren weitere Rechtsfolgen - Fristablauf, Ermächtigung zu Einzelfallregelungen - kraft Gesetzes eintreten. 152
Dazu Schreckenbach, L K V 1998 S. 291. Die anderen Archivgesetze bewegen sich in demselben Rahmen der archivrechtlichen Aufgabendefinition, vgl. Legaldefinitionen der „Archivierung" in: §§ 1, 2 Abs. 9 BArchG; und LArchGe in: Baden-Württemberg § 2 Abs. 1, Abs. 2, § 4; Bayern Art. 2 Abs. 3, 4 Abs. 2; Berlin § 2 Abs. 1, Abs. 4; Brandenburg § 3 Abs. 1, Abs. 4; Bremen § 1; Hamburg § 1; Hessen §§ 7, 8; § 5 Abs. 1 Mecklenburg-Vorpommern; Niedersachsen §§ 1, 4; Nordrhein-Westfalen § 1; Rheinland-Pfalz §§ 5, 6; Saarland §§ 3 Abs. 1, § 13; Sachsen §§ 3, 4; Sachsen-Anhalt §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 5, 7 Abs. 1; Schleswig-Holstein § 4; Thüringen §§ 7, 8. 154 „Öffentlich" charakterisiert neben der Einbeziehung der Sache in das öffentliche Recht vor allem die Allgemeinzugänglichkeit; vgl. dazu Axer, Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen. Zur Identität des Rechts der öffentlichen Sachen als Rechtsgebiet, S. 28 f. 155 Ob die Widmung in Anbetracht des Anstaltszwecks der Archive, Verwaltungsunterlagen der Wissenschaft zu erschließen, selbst als Anspruchsgrundlage für die Nutzung in Betracht kommt, hat wegen der spezialgesetzlichen Nutzungsregelungen in den Archivgesetzen nur noch theoretische Bedeutung. Sie dürfte lediglich das Merkmal „öffentlich" im Rahmen der gesetzlichen Archivbenutzungs- bzw. Archivzulassungsansprüche erfüllen. Zur Anspruchsbegründung aus der Widmung ohne Vermittlung durch eine Norm vgl. Axer S. 176 ff. (Beispiel eines Hauses Deutscher Geschichte in Trägerschaft des Bundes). 156 Statt vieler: Knack (Bearb. Schwarze), VwVfG, § 35 Rz 4.3.1.3.2., m.w.N. 157 s.u. Nr. 3 „Abschottung" und II. 1. 153
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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Fraglich ist, ob die Widmung durch die Entscheidung über die Archivwürdigkeit, der tatsächlichen Übernahme in die Archivbestände, später bei der Erschließung oder erst mit Ablauf der jeweiligen allgemeinen oder besonderen Schutzfrist vorgenommen wird. Abzustellen ist auf den Regelungsschwerpunkt der Archivierung. Kern ist die Feststellung der Archivwürdigkeit, die gleichzeitig mit der Übernahmeentscheidung getroffen wird. Also liegt auch darin die Entscheidung über die prinzipielle öffentliche Nutzbarkeit. Die Archivierung hat daher sofort unmittelbare Außenwirkung für mögliche Nutzungsanträge. § 2 Abs. 4 S. 4 LArchG Mecklenburg-Vorpommern bestimmt in Übereinstimmung damit, daß Zwischenarchivgut durch Feststellung der Archivwürdigkeit zu öffentlichem Archivgut im Sinne des LArchG wird. 3. Erschließung Unter Erschließung wird die Haupt-Anstaltsleistung der Archive verstanden, das als archivwürdig bewertete Material nach historisch-wissenschaftlichen und ggfs. auch juristisch-systematischen Kriterien zu ordnen und zur Benutzung zugänglich zu machen. Dies geschieht typischerweise durch Verzeichnisse und „Findbücher" 1 5 8 . Durch die Erschließung erfüllen die Archive ihren verfassungsrechtlichen Auftrag, eine wissenschaftliche Benutzung effektiv zu ermöglichen. Durch die systematische Erschließung des Archivguts kommen die Archive ihrem demokratischen Öffentlichkeitsauftrag nach, die Bestände öffentlich transparent zu machen. Die Bestandsübersichten sind dergestalt anzulegen und zu veröffentlichen, daß sie den Inhalt der Archive auch demjenigen transparent machen, der mit archivarischen Methoden nicht vertraut ist. Die Veröffentlichung der Bestände darf sich nicht auf die nur uneingeschränkt zugänglichen Bestände beschränken. Die Rechtspflicht des Archivs umfaßt die nach dem Verwaltungsaufwand und Erschließungsstand weitestmögliche Veröffentlichung 1 5 9 Diese Auffassung setzte sich in der Arbeit des Bundesarchivs erst mit der Zeit durch. Die Erstauflage von „Das Bundesarchiv und seine Bestände" aus dem Jahr 1961 hatte nur die schrankenlos zugänglichen Bestände genannt 1 6 0 . Von diesem Grundsatz war die Zweitauflage bereits teilweise abgewichen 1 6 1 . In der Dritten Auflage im Jahre 1977 werden alle Archivalien 158
Art. 9 Abs. 1 S. 2 LArchG Bayern „ . . . durch Findmittel zu erschließen .. Granier a.a.O. Einleitung zur 3. A., S. X X X I ; so auch schon Booms, Öffentlichkeitsarbeit der Archive - Voraussetzungen und Möglichkeiten, Der Archivar 23 (1970) Sp. 15 ff. 160 Facius/Booms/Boberach (Hrsg.), Das Bundesarchiv und seine Bestände. 1. A. 1961, S. 11 ff. 159
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
öffentlich-rechtlicher Herkunft beschrieben, die im wesentlichen vor der Bildung der ersten Bundesregierung (Stichtag 15.09.1949) entstanden sind. Soweit damals Bestände nur ausnahmsweise mit besonderer Genehmigung benutzbar waren, wurden sie in einer separaten Liste aufgeführt 162 . Die Liste der „Bestände von Behörden, Gerichten und anderen amtlichen Einrichtungen mit zentraler Zuständigkeit seit 1949" enthält jedoch nur eine Aufzählung der abgebenden Stellen des Bundes mit der Bestandsnummer, ohne irgendeine weitere Inhaltsangabe zu enthalten. Im Endeffekt enthält die Liste, abgesehen von der Inventarnummer, lediglich offensichtliche Tatbestände, die sich bereits aus der Trägerschaft und organisatorischen Zuständigkeit des Bundesarchivs ergeben 163 . Zwar ergibt sich aus der Einleitung, daß man die Bedeutung der Auflistung für die Ausübung der Forschungsfreiheit gesehen hatte 1 6 4 , seit der Geltung der Archivgesetze wird man die Bestandsverzeichnisse neuerer Archivalien aber an der prinzipiell unbeschränkten Reichweite des Benutzungs- und Zugangsrechts auszurichten haben. Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip wird lediglich in den Fällen, in denen bereits die Nennung einer Archivaliengruppe schutzwürdige Rechte Dritter oder öffentliche Interessen aktuell (d.h. im Zeitpunkt der Offenlegung) verletzt, auf die Nennung verzichten können. Die Erschließungshilfe durch Bezeichnung der Bestände hat so weit zu gehen, wie es im Einzelfall bei konkret entgegenstehenden schutzwürdigen Interessen vertretbar und technisch und finanziell tragbar i s t 1 6 5 .
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Aufstellung in Facius/Booms/Boberach (Hrsg.), Das Bundesarchiv und seine Bestände. 2. A. 1968, Einleitung S. X X X I V f . 162 Granier/Henke/Oldenhage (Hrsg.), Das Bundesarchiv und seine Bestände. 3. A. 1977, S. 1 ff., S. 431 ff., insbes. Nachlässe S. 489 ff.; Granier S. 422 ff., zur Benutzbarkeit; vgl. auch die Einleitung S. X L V ; Granier, Zur Benutzung von Archivgut des Bundes nach dem Bundesarchivgesetz, Der Archivar 42 (1989) Sp. 387 ff. (390). 163 In dem von Granier, Henke und Oldenhage im Jahre 1977 herausgegebenen Verzeichnis in Band 10 der Schriften des Bundesarchivs „Das Bundesarchiv und seine Bestände" findet sich eine Hauptunterteilung in „Schriftgut des Staates, seiner Einrichtungen und der NSDAP" mit einer Unterteilung nach Ministerialressorts mit chronologischer Unterordnung einerseits sowie andererseits in „Nichtstaatliches Schriftgut, Sammlungen" mit Unterteilung Parteien und Organisationen und der umfangreichen Abteilungen Sammlungen, Private Nachlässe. Diese Unterteilung entspricht gleichzeitig rechtlichen Erfordernissen, da bezüglich der Benutzungsrechte grundsätzlich zwischen privaten Deposita und Archivgut staatlichen Ursprungs aufgrund unterschiedlicher Grundrechtsregimes differenziert werden muß. 164 A.a.O. Einleitung zur 3. A. S. X L V : „Dieses Verfahren scheint für den Forscher insoweit nützlich, als er sich darüber informieren kann, welche Materialien bereits im Bundesarchiv vorhanden sind." 165 s.o. 6. Kap. C. I. 3.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
4. Weitere
staatliche Archivaufgaben:
171
Abschottung, etc.
Zur tatsächlichen Durchsetzung der Sperrfristen sind die Archivbestände gegen die unbefugte Benutzung durch Dritte und abgebende Stellen zu schützen (Abschottung). Die effektive Abschottung ist Voraussetzung dafür, daß die Archivierung die Funktion eines datenschutzrechtlichen Sperrungsbzw. Löschungssurrogats hat. Die Abschottung ist daher eine Hauptarchivaufgabe 166 . Daneben sehen die Archivgesetze weitere Archivaufgaben vor: § 3 Abs. 2 LArchG Saarland und § 2 Abs. 5 LArchG Sachsen-Anhalt erwähnen die Aufgabe des „Instandsetzens" von Archivgut, wozu die konservatorische und restauratorische Aufarbeitung gehört, die in der Praxis einen großen Teil der Arbeit der Archive ausmacht 167 . § 3 Abs. 2 LArchG Saarland ermächtigt das Landesarchiv mit Zustimmung der abgebenden Stelle zudem ausdrücklich zur „Vernichtung" von Originalunterlagen. Diese Vorschrift hat nur deklaratorische Bedeutung. Soweit die übrigen Landesarchivgesetzgeber darauf verzichtet haben, ist davon auszugehen, daß die Vernichtung im Rahmen der Organisationsgewalt der Archive liegen sollte, als Folge einer „negativen" Bewertungskompetenz. Im übrigen sind die Archive zur „Beratung" der abgebenden Behörden bei der Sicherung und Ablieferung von künftigem Archivgut verpflichtet 168 . Die Vorschriften dienen der Abstimmung der behördlichen Registraturordnung nach archivwissenschaftlichen Gesichtspunkten und erleichtern so die Sicherung archivwürdigen Materials. Die gesetzliche Anweisung deutet die progressive organisationsrechtliche Verselbständigung des Archivwesens gegenüber den abgebenden Stellen an. Nach einigen Landesarchivgesetzen nehmen die Staatsarchive zudem selbst an der Veröffentlichung und wissenschaftlichen Ausweitung des Archivguts t e i l 1 6 9 und leisten eigene Beiträge zur Orts- und Landesge166 Ausdrücklich zur wirksamen Sicherung gegen unbefugte Benutzung durch geeignete organisatorische Maßnahmen verpflichten die LArchGe in: Baden-Württemberg § 4 S. 1; Bayern Art. 9 Abs. 1 S. 1; Berlin § 7 Abs. 1 S. 1; Brandenburg § 6 Abs. 3; Bremen § 4 Abs. 4 ; Hamburg § 4 Abs. 1 S. 1; Mecklenburg-Vorpommern § 8 Abs. 1 S. 2; Niedersachsen § 4 Abs. 1 S. 1; Nordrhein-Westfalen § 4 Abs. 7 S. 1; Rheinland-Pfalz § 9 Abs. 2; Saarland § 4 Abs. 1 S. 1; Sachsen § 8 Abs. 3; Sachsen-Anhalt § 8 Abs. 2 S. 2; Schleswig-Holstein § 8 Abs. 1 S. 1; Thüringen § 15 Abs. 1 S. 1. 167 Amtliche Begründung zu § 1 BArchG BT-Drs. 11/498 S. 8. 168 § 2 Abs. 9 BArchG; LArchGe in: Berlin § 2 Abs. 4; Brandenburg § 3 Abs. 2; Bremen § 1 Abs. 3; Hamburg § 1 Abs. 4; Hessen § 7 Abs. 3; Rheinland-Pfalz § 6 Abs. 5; Schleswig-Holstein § 5 Abs. 1; Thüringen § 7 Abs. 2.
172
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
schichte 170 . § 5 Abs. 5 LArchG Mecklenburg-Vorpommern weitet die Archivaufgaben zu einer umfassenden Dienstleistungspflicht für Forschung und Bildung aus 1 7 1 . 5. Archivwürdigkeit Von einer differenzierten, inhaltlich-materiellen Definition des Begriffs der Archivwürdigkeit haben die Archivgesetzgeber Abstand genommen. Denn der jeweilige Stand und die faktischen Anforderungen an die archivwissenschaftliche Kassationslehre entziehen sich der Festlegung durch den Gesetzgeber 172 . Das BArchG verzichtet auf den Begriff der Archivwürdigkeit daher ganz. Die Landesarchivgesetze beschränken sich auf eine formale Umschreibung im Sinne von Unterlagen von „bleibendem Wert für die wissenschaftliche Forschung" 173 . Das LArchG Baden-Württemberg bestimmt in § 2 Abs. 3 S. 2: „ . . . Bleibenden Wert haben Unterlagen, denen historischer Wert zukommt oder die aufgrund von Rechtsvorschriften oder von Verwaltungsvorschriften der obersten Landesbehörden zur Sicherung berechtigter Belange der Bürger oder zur Bereitstellung von Informationen für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung dauernd aufzubewahren sind"174 Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Archivwürdigkeit" ist mit dem eingangs erwähnten Begriff des „außergewöhnlichen dokumentarischen Wertes" aus § 55 Abs. 2 UrhG nicht deckungsgleich. Der Tatbestand des § 55 Abs. 2 UrhG erfordert Umstände, die eine Ton-/Bildaufnahme aus spezifisch historischen Gründen besonders in den Blickpunkt des allgemeinen Interesses rücken müssen 175 . Das ist für die Archivwürdigkeit nicht erforderlich. Die urheberrechtlichen Anforderungen sind enger, weil es in grundrechtlicher Hinsicht um die Rechtfertigung eines Eingriffs in das Pri169
§ 1 Abs. 1 S. 2 LArchG Niedersachsen. § 5 Abs. 6 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. 171 Im Rahmen der personellen und organisatorischen Möglichkeiten; vgl. LTMecklenburg-Vorpommern Drs. 2/2310 S. 19; § 5 Abs. 5 S. 1 LArchG Mecklenburg-Vorpommern: „Die Archive erbringen aus dem von ihnen verwahrten Archivgut Dienstleistungen für Forschung und Bildung." 172 s.o. 2. Kap. B. I., 3. Kap. A. III.; Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik archivalischer Quellenbewertung, Archivalische Zeitschrift 68 (1972) S. 3 ff. 173 LArchGe in: Bayern Art. 2 Abs. 2; Berlin § 3 Abs. 2; Hamburg § 2 Abs. 2 S. 1; Nordrhein-Westfalen § 2 Abs. 2 S. 1; Sachsen § 2 Abs. 3; Schleswig-Holstein § 3 Abs. 3 Nr. 1. 174 Ebenso § 2 Abs. 2 des LArchG Thüringen und § 2 Abs. 2 LArchG Niedersachsen; ähnlich § 3 Abs. 3 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. 175 s.o. 1. Kap. I. 1. Fn 5. Schricker/Melichar § 55 Rz 12. 170
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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vateigentum (Urheberrecht) in Gestalt der genehmigungsfreien Archivierung durch das öffentliche Archiv im überwiegenden Allgemeininteresse, insbesondere der historischen Forschung geht. Zu beachten ist allerdings, daß bei der Archivierung kein zusätzliches Nutzungsrecht entsteht, so daß im Hinblick auf die Bedeutung des Art. 5 Abs. 3 GG für die Forschungssicherung ausnahmsweise eine weite Auslegung der urheberrechtlichen „Schranke" gerechtfertigt ist. Das Allgemeininteresse an einer Dokumentation historischer Vorgänge durch ihre öffentliche Archivierung genießt gegenüber dem Ausschließlichkeitsanspruch des Urhebers bezüglich seiner Nutzungs- und Verwertungsrechte jedenfalls soweit den Vorrang als keine öffentlichen Verwertungsrechte entstehen, die das Urheberrecht unverhältnismäßig aushöhlen. Simitis hält die vage Umschreibung unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten zwar für bedenklich, da nicht gesetzlich festgelegt werde, welche Voraussetzungen ein Dokument erfüllen muß, um bleibenden Wert zu erlangen. Er räumt aber ein, daß die fehlende Präzision einen „unaufhebbaren strukturellen Mangel" widerspiegele, da die konkreten Fragestellungen zukünftiger historischer Forschung nicht bekannt sind 1 7 6 . Im Interesse der Transparenz der Überlieferungsbildung und zu ihrer Vereinheitlichung ordnet § 12 Abs. 3 LArchG Thüringen immerhin an, daß die Bewertungskriterien in Aussonderungs- und Wertungsrichtlinien zusammenzufassen sind. Der Begriff der Archivwürdigkeit würde ohne seine grundrechtliche und kompetenzielle Dimension nicht zutreffend erfaßt 177 . Der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum bezüglich der Positivierung von Grundsätzen zur archivalischen Bewertung ist durch verfassungsrechtliche Vorgaben eingeschränkt. Die Wissenschaftsfreiheit und das Rechtsstaats- und Demokratiegebot zwingen zu größtmöglicher Neutralität, Methodenoffenheit bzw. Methodenpluralität. Der Gesetzgeber dürfte keine faktische Vorentscheidung gegen oder ausschließlich zugunsten bestimmter historischer Forschungsmethoden und Fragestellungen oder archivwissenschaftlicher Ansätze treffen. Die gesetzlichen Bestimmungen müssen weitestgehend offen gegenüber einem geschichtswissenschaftlichen „Paradigmenwechsel" sein 1 7 8 . Zu beachten ist weiterhin, daß auch die Archivwissenschaft als solche grundsätzlich den Schutz der Wissenschaftsfreiheitsverbürgung genießt, so daß den Archivaren grundsätzlich ein Freiraum für die Bestimmung des historischen Weites bleiben muß. In Betracht kommt daher nur eine formale Qualifikation der Archivwürdigkeit, die den Archivaren unter archivfachlichen Gesichtspunkten größtmöglichen Spielraum zur historischen Bewertung läßt. 176 177 178
Simitis in FS Zeidler, S. 1498. Dazu s.o. zur parlamentarischen Diskussion zum BarchG, 4. Kap. A. V. 4. a. s.o. A. V. 4.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Daß daneben durch Rechtsvorschriften (u.a. Verwaltungsvorschriften der obersten Landesbehörden) die Übernahme bestimmter Unterlagen vorgeschrieben werden kann, ist insoweit unschädlich. Die Archivverwaltung bleibt darüber hinaus zur Anforderung und Übernahme weiterer Unterlagen berufen und kompetent. Die „Obergrenze" der Auftragsarchivierung dürfte dort überschritten sein, wo dem Archiv infolge extensiver sonstiger Übernahmeverpflichtungen die Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben der Forschungssicherung faktisch und technisch nicht mehr möglich ist. 6. Bewertungskompetenz In Anbetracht der divergierenden Interessen an der Publizität von Unterlagen ist die Bewertung von staatlichen Unterlagen ein Feld möglicher Konflikte, weil in der Archivierung eine Umwidmung zur öffentlichen Nutzung liegt. Die kompetenzielle Frage, wer über die Archivwürdigkeit zu befinden hat (Bewertungskompetenz) 179 , ist daher vordringlich. Die Sicherung der Objektivität und Unabhängigkeit der Archivare bei der Feststellung des zukünftigen historischen Werts einer Quelle ist ein Gebot der objektivrechtlich institutionellen Wissenschaftsfreiheitsgewährleistung 180. Dabei gilt es, zwischen Bewertungskompetenz der historischen Archivwürdigkeit (historische Bewertungskompetenz) und verwaltungszweckgebundener, juristischer Bewertung, „juristischer Archivwürdigkeit" zu unterscheiden 181 . Letztere bezieht sich auf die Fälle, in denen aufgrund entsprechender gesetzlicher Aufbewahrungsvorschriften für die abgebenden Stellen
179 Der Begriff wird erstmals in diesem Sinne gebraucht, in: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 236; zur Bewertungsfrage aus archivwissenschaftlicher Sicht: Taddey, Das Landesarchivgesetz Baden-Württemberg und seine Konsequenzen für die Bewertungsfrage, Der Archivar 43 (1990) Sp. 539 ff.; Uhl, Rechtsfragen der Aussonderung und Übernahme von Archivgut, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 48 ff.; ders., Der Wandel in der archivischen Bewertungsdiskussion, Der Archivar 43 (1990) Sp. 529 ff.; Polley, Gesetzliche Einschränkungen der Bewertungskompetenz, in: Wettmann (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung, S. 89 ff. 180 A u f die institutionelle Sicherung der Objektivität der Quellenauswahl zielte ein Vorschlag in der Sachverständigenanhörung vom 29. Januar 1987 im Landtag Baden-Württemberg ab, der vom Sachverständigen Prof. Wolffsohn stammte: Bei der Entscheidung über die Archivwürdigkeit sollten neben Archivaren auch von der Ministerialverwaltung unabgängige Wissenschaftler beteiligt werden. Die Mehrheit des Ausschusses befürchtete allerdings eine Verwischung der verwaltungsrechtlichen Verantwortlichkeit und lehnte den Vorschlag ab (vgl. unveröffentlichte Protokolle der Sachverständigenanhörung im baden-württembergischen Landtag); vgl. Richter, in: Bannasch S. 247, 249. Dieselbe Funktion würde allerdings auch eine Stärkung der organisationsrechtlichen Stellung der Archive durch die Zubilligung durchsetzbarer Rechte bzw. Organrechte gegenüber der Sachverwaltung erfüllen.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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unabhängig von historisch wissenschaftlichen Interessen Unterlagen aufzubewahren sind; die Aufbewahrung etwa zum Zweck der Rechtswahrung im öffentlichen oder im privaten Interesse ist dem archivischen Verfahren vorgegeben. Grundsätzlich soll eine Verwaltungsvorschrift der obersten Landesbehörde für eine Übernahmepflicht der Archivverwaltungen genügen 182 . Es fragt sich, ob an die Ranghöhe der Norm dann höhere Anforderungen zu stellen sind, wenn ausufernde Übernahmepflichten durch die öffentlichen Archive statuiert werden, die angesichts knapper Mittel den Archiven die Wahrnehmung ihrer forschungssichernden Funktion erschweren. Zumeist wird es sich allerdings um Fälle der Zwischen- oder Auftragsarchivierung handeln. § 2 Abs. 5 LArchG Baden-Württemberg ermächtigt die Landesregierung, die Archivverwaltung mit der Zwischenarchivierung in Einzelfällen zu beauftragen. Daran, daß der Gesetzgeber in Baden-Württemberg eine gesetzliche Ermächtigung des Kollegialorgans der Landesregierung für erforderlich gehalten hat, ergibt sich, daß die Übernahmepflicht bezüglich nicht-archivwürdiger Unterlagen im alleinigen Interesse der abgebenden Stelle als nicht mehr grundsätzlich von der Ressorthoheit oder Organisationsgewalt der Regierung umfaßt angesehen wurde. Auch hier zeigt sich eine Tendenz zur rechtlichen und institutionellen Verselbständigung des Archiv wesens. Der bleibende Wert von Unterlagen für die historische Forschung bemißt sich allein nach archivfachlichen Gesichtspunkten und ist praktischer Anwendungsbereich der verschiedenen archivwissenschaftlichen Bewertungslehren 1 8 3 . Die archivarische Bewertung findet sowohl in positiver Hinsicht, Entscheidung für die Archivierung, als auch in negativer Hinsicht, Entscheidung gegen die Übernahme und für die Vernichtung (Kassation) statt (positive und negative Bewertungskompetenz). Letztere wird in den Archivgesetzen mit Ausnahme von § 3 Abs. 2 LArchG Saarland nicht ausdrücklich angesprochen, ergibt sich aber aus dem Umkehrschluß aus der positiven Bewertungskompetenz. Den Archivgesetzen lassen sich zwei Regelungstypen zur historischen Bewertungskompetenz entnehmen: Die Landesarchivgesetze von BadenWürttemberg, Bremen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein stellen die Bewertungskompetenz ausdrücklich in die alleinige Verantwortung der Archi181
Im Ansatz ebenso schon Richter in: Das baden-württembergische LArchG, Der Archivar 41 (1990) Sp. 389; ders., Einführung in das LArchG Baden-Württemberg, in: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 229-263. 182 § 1 Abs. 1 S. 3 LArchG Rheinland-Pfalz. 183 Zum Begriff: Schellenberg, in: Menne-Haritz (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Archivtermininologie, Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 20; S. 23 m.w.N.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
vare 1 8 4 . Aus § 6 Abs. 4 und 5 LArchG Mecklenburg-Vorpommern ergibt sich ebenfalls ein Bewertungsmonopol. Hier wird zusätzlich klargestellt, daß die Stellen des Landes nur dann zur Vernichtung jeglicher Unterlagen ermächtigt sind, wenn das zuständige staatliche Archiv die Übernahme ausdrücklich abgelehnt oder nicht innerhalb von drei Monaten nach der Anbietung über die Archivwürdigkeit entschieden hat. Die übrigen Archivgesetze sehen eine Bewertung „ i m Benehmen" mit der abgebenden Stelle v o r 1 8 5 . Aus den Gesetzgebungsmaterialien der zweiten Gruppe, insbesondere zum Bundesarchivgesetz ergibt sich jedoch, daß dem Merkmal „ i m Benehmen" keine eigenständige Bedeutung für die historische Bewertungskompetenz zukommt 1 8 6 . Die historische Bewertungskompetenz hat einen sachlichen Hintergrund auch darin, daß zunächst nur der Archivar den Überblick über die ressort- und epochenübergreifende Gesamtüberlieferung hat und so die Inhalte bestimmter Unterlagen in Relation zu bereits archivierten Beständen setzen kann. Zudem stehen die Archivare in ständigem Kontakt mit der aktuellen, auf Quellen basierenden Forschung. Nach Oldenhage soll das Merkmal „ i m Benehmen" nur sicherstellen, daß die abgebenden Stellen ihre Sachkunde zur Verfügung stellen 187 . Es ist daher in Abgrenzung zu einem rechtlich nicht erforderlichen „Einvernehmen" zwischen Archiv und Behörde zu verstehen.
184 LArchGe in: Baden-Württemberg § 2 Abs. 3 S. 3: „Der bleibende Wert von Unterlagen, die nicht aufgrund von Rechtsvorschriften oder von Verwaltungsvorschriften der obersten Landesbehörde dauernd aufzubewahren sind, wird durch die Archivare festgestellt"; Brandenburg § 5 Abs. 1: „Das zuständige öffentliche Archiv entscheidet über die Archivwürdigkeit der angebotenen Unterlagen und über deren Übernahme in das Archiv"; im Ergebnis ebenso die LArchGe in: Bremen § 2 Abs. 2; Hamburg § 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3; Niedersachsen § 2 Abs. 2, § 3 Abs. 4; Nordrhein-Westfalen § 2 Abs. 2 S. 2; Schleswig-Holstein § 3 Abs. 3, § 7 Abs. 1. 185 Bund: § 3 BArchG; LArchGe in: Bayern Art. 7 Abs. 1 S. 1; Berlin § 3 Abs. 3 S. 1; Hessen § 11 Abs. 1; Rheinland-Pfalz § 1 Abs. 1 und § 8 Abs. 1; Saarland § 8 Abs. 3, § 9 Abs. 1 S. 1; Sachsen § 2 Abs. 3, § 5 Abs. 4: „Das zuständige staatliche Archiv entscheidet im Benehmen mit der anbietenden Stelle innerhalb von sechs Monaten ..."; Sachsen-Anhalt § 2 Abs. 4, § 9 Abs. 4; Thüringen § 2 Abs. 2, § 12 Abs. 1, § 12. 186 Dafür spricht insbesondere das Gesetzgebungs verfahren zum Bundesarchivgesetz: § 2 Abs. 5 des Gesetzentwurfes der Bundesregierung vom 24.08.1984 nahm Unterlagen „von offensichtlich geringer Bedeutung" zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung von der Anbletungspflicht der abgebenden Stellen aus. Dieser Absatz wurde mit der Begründung gestrichen, daß die Vertreter der Ursprungsbehörde nicht allein darüber entscheiden könnten und dürften. Es werde so eine ständige Unsicherheit über die Bewertung von Archivalien entstehen, die die Archive in die schlechte Ausgangslage stelle, daß sie auf bestimmte Unterlagen überhaupt keinen Zugriff ausüben könnten. BT-Drs. 371/84 S. 11, 17; BR-Drs. 155/87 vom 5.6.1987 S. 5. 187 Oldenhage, Archive i m Konflikt zwischen Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz, in: Akademiebeiträge, S. 19.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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Oberstes Prinzip aller Regelungen ist es, durchgehend sicherzustellen, daß prinzipiell die ausgebildeten weisungsunabhängigen Archivare über die Übernahme aller etwaig archivwürdigen Quellen selbst entscheiden. Die Archivare sollen das „letzte Wort" bei der Beurteilung der Frage haben, was als zukünftige historische Quelle erforderlich ist. Auch nach der übereinstimmenden Meinung der archivwissenschaftlichen Literatur sollte die letztentscheidende Rolle des Archivars unangetastet bleiben 1 8 8 . Nur so ist dem Erfordernis fachgerechter Bildung historischer Überlieferung gerecht zu werden, „eine größtmögliche Informationsverdichtung bei größtmöglicher Materialverdünnung" zu erreichen 189 . Aus den genannten Gründen handelt es sich bei der Bewertung von Archivgut als „archivwürdig" um einen kontroll- und weisungsfreien Bereich archivarischer Kompetenz. Der Begriff der „Archivwürdigkeit" umschreibt als unbestimmter Gesetzesbegriff zugleich eine archivarische Einschätzungsprärogative, die ein Bewertungsmonopol des Archivars hinsichtlich historischer Archivwürdigkeit sichert. Daher scheidet auch eine gerichtliche Überprüfung des Ergebnisses der archivischen Bewertung etwa im Rahmen einer Klage eines Historikers auf Zulassung zur Nutzung oder im Rahmen einer noch zu untersuchenden Klage des Archivs auf Übergabe oder einer Klage auf Löschung oder Vernichtung bestimmter personenbezogener archivwürdiger Unterlagen durch einen Angehörigen eines Betroffenen und eine „Klage auf Archivierung" bestimmter Unterlagen aus. Eine gerichtliche Kontrolle kommt allein bei grundsätzlicher Verkennung der Bedeutung der Archivwürdigkeit überhaupt und/oder einem völligen Ausfall bzw. offenkundigen Mißbrauch der Bewertungskompetenz in Betracht. 7. Zwischen- und Auftragsarchivierung Die Begriffe der Zwischen- und Auftragsarchivierung 190 umschreiben eine kompetenzrechtliche Zwischenstufe der Archivierung von Unterlagen, 188
Richter in: Bannasch/Maisch S. 235. Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung, Archivalische Zeitschrift 68 (1972) S. 3 ff., 11; amtliche Begründung des LArchG Nordrhein-Westfalen zu § 2 Abs. 2, abgedruckt bei Hockenbrink, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, S. 32. 190 Legaldefinition in § 2 Abs. 4 LArchG Brandenburg: „Zwischenarchivgut sind die von einem öffentlichen Archiv zur vorläufigen Aufbewahrung in ein Zwischenarchiv übernommenen Unterlagen, deren Aufbewahrungsfrist noch nicht abgelaufen und aus denen das Archivgut noch nicht ausgewählt worden ist"; und § 5 Abs. 5 LArchG Brandenburg: „Das zuständige öffentliche Archiv kann auch Zwischenarchivgut übernehmen. Die Aufbewahrung des Zwischenarchivguts i m zuständigen öffentlichen Archiv erfolgt im Auftrag der anbietenden Stelle oder ihres Rechts- oder Funktionsnachfolgers. Diese Stelle bleibt für die Unterlagen weiterhin verantwort189
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Manegold
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
deren einheitliches Merkmal - trotz im Detail abweichender Regelungen in den einzelnen Landesarchivgesetzen - es ist, daß die abgebende Stelle selbständigen Zugriff auf das Zwischenarchivgut und das Letztentscheidungsrecht über dessen Benutzung durch Dritte hat 1 9 1 . Bei Auftrags- oder Zwischenarchivierung behält die abgebende Stelle die Verfügungsgewalt und das Entscheidungsrecht über die Benutzung. Daher wird auch von Archivierung innerhalb laufender Fristen gesprochen 192 . Zwischenarchivgut sind insbesondere Unterlagen, die aufgrund außerarchivgesetzlicher Bestimmungen dauernd aufzubewahren sind 1 9 3 . Aus diesem Grund haben der Bundesgesetzgeber und der Landesgesetzgeber in Bremen eine gesetzliche Regelung der Zwischen- und Auftragsarchivierung für überflüssig erachtet 194 . Aus archivarischer Sicht betrifft die Archivierung innerhalb laufender Aufbewahrungsfristen bzw. Auftrags- oder Zwischenarchivierung den Bereich der „Vorfeldsicherung" historischer Quellen durch vorzeitige Fühlungnahme mit der abgebenden Stelle. Gleichzeitig erfüllen die Archive für die abgebenden Stellen eine organisatorische Hilfsfunktion zur Entlastung der Registraturen, da in der Regel entsprechende Unterlagen unabhängig von ihrer Archivwürdigkeit zu übernehmen sind. Zum Ausgleich bestimmen § 4 Abs. 6 LArchG Nordrhein-Westfalen und § 4 Abs. 5 LArchG Hamburg, daß die Archive nach 30 bzw. 20 Jahren nicht archivwürdige Unterlagen vernichten dürfen. Fraglich ist, ob nach den Grundsätzen der Zweckbindung und dem aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewonnenen Begriff der „Stelle" die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit bei der abgebenden Stelle verbleibt. Das BArchG enthält zu diesem Komplex keine Bestimmung, da nach Auffassung des Bundesgesetzgebers der datenschutzrechtliche Gesetzesvorbehalts deswegen nicht berührt sei, weil die Akten im Zwi-
lich und entscheidet über die Benutzung durch Dritte. Die Verantwortung des zuständigen Archivs beschränkt sich bis zur endgültigen Übernahme auf die notwendigen technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Verwahrung und Sicherung dieser Unterlagen". Landesarchivgesetze: Baden-Württemberg § 2 Abs. 5 S. 2, durch RVO; Bayern Art. 8 Abs. 1, Abs. 2; Berlin § 6 Abs. 2; Hamburg § 2 Abs. 3, § 3 Abs. 6 S. 1, § 5 Abs. 5, Abs. 7; Hessen §§ 8, 9; Mecklenburg-Vorpommern § 2 Abs. 4; Niedersachsen § 3 Abs. 5; Nordrhein-Westfalen § 2 Abs. 4, § 4 Abs. 6; Rheinland-Pfalz § 8 Abs. 2 S. 2; Sachsen § 5 Abs. 6; Schleswig-Holstein § 7 Abs. 3, Abs. 4; Thüringen § 14. 191 Ausdrücklich § 9 LArchG Hessen. Schreckenbach, L K V 1998 S. 292. 192 Überschrift vor §§ 8, 9 LArchG Hessen a.a.O.: „Dritter Abschnitt: Aufbewahrung innerhalb laufender Fristen". 193 § 2 Abs. 4 S. 1 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. 194 Oldenhage, Anmerkungen zum BArchG, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477 (480); Uhl, Rechtsfragen der Aussonderung und Übernahme von Archivgut, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 105 f.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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schenarchiv infolge der bei der abgebenden Behörden verbleibenden Verfügungsgewalt nicht an eine „andere Stelle" i.S.d. Datenschutzgesetze weitergegeben würden 1 9 5 . Diese Auffassung kommt auch in § 6 Abs. 2 LArchG Berlin zum Ausdruck, der feststellt, daß im Falle der ausnahmsweisen Auftragsarchvierung die abgebende Stelle die speichernde Stelle bleiben soll. Durch eine Bestimmung wie § 2 Abs. 4 S. 3 LArchG Mecklenburg-Vorpommern, die anordnet, daß auf personenbezogene Daten in Zwischenarchivgut „die jeweiligen datenschutzrechtlichen Vorschriften Anwendung finden", werden die Archive nicht zu Registraturen der abgebenden Stellen. Denn die Archive haben faktisch die Zugriffsmöglichkeit. Daher ist der datenschutzrechtliche Gesetzesvorbehalt berührt. Eine Zwischen- oder Auftragsarchivierung kommt daher nur in Betracht, wenn eine Löschung oder Sperrung personenbezogener Daten nicht erforderlich ist, denn die Zwischen- oder Auftragsarchivierung kommt nach ihrer o.g. Eigenart nicht als Löschungs- oder Sperrungssurrogat in Betracht 1 9 6 . I I . Öffentliche Archive als freiheitssichernde Anstalten 7. Institutionelle Definition des Staatsarchivs Eine organisationsrechtliche, institutionelle 197 Definition des Staatsarchivs enthält allein § 1 Abs. 2 LArchG Berlin, der das Landesarchiv als „nichtrechtsfähige Anstalt" definiert, die der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur nachgeordnet ist. Diese Definition des Archivs entspricht der herkömmlichen, kaum in Frage gestellten Ansicht zur organisationsrechtlichen Stellung der Archive 1 9 8 . Die Landesarchivgesetze Brandenburgs und des Saarlands bezeichnen demgegenüber das Landesarchiv bzw. Staats-
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Oldenhage a. a. O. Andernfalls wäre Voraussetzung für die Zulässigkeit auch der Zwischenarchivierung, daß das Archiv die räumliche und organisatorische Abschottung etwaigen personenbezogenen Zwischenarchivguts gewährleistet, die einer Zugriffsmöglichkeit durch die abgebende Stelle entgegensteht, so daß eine endgültige Archivierung vorläge. Vgl. auch Uhl in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 106 f. 197 Nach der organisationsrechtlichen Typologie des Verwaltungsrechts werden die Institutionen der Körperschaften und Stiftungen mit eigener Rechtspersönlichkeit von öffentlichen Anstalten mit oder ohne Rechts- bzw. Teilrechtsfähigkeit abgegrenzt. 198 Miller, Staatliche Archive. Behörden oder Einrichtungen? Der Archivar 16 (1963) Sp. 139 f.; Kittel, Die Stellung der Archive in der Verwaltungsorganisation, Der Archivar 15 (1962) Sp. 85, 87; kritisch dazu: König, zum Berliner Gesetzentwurf der Fraktion der Grünen/Alternative Liste i m Berliner Abgeordnetenhaus, in: Die Archivgesetze des Bundes und der Länder: Fluch oder Segen? in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 227 ff. 196
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
archiv neutral als „ E i n r i c h t u n g i m ministeriellen Geschäftsbereich", u m den i m W a n d e l befindlichen Rechtsbegriff der „ A n s t a l t " zu v e r m e i d e n 1 9 9 . a) Problematik des Anstaltsbegriffs N a c h der klassischen D e f i n i t i o n v o n Otto M a y e r ist die öffentliche A n stalt „ e i n Bestand v o n M i t t e l n , sachlichen w i e persönlichen, welche i n der H a n d eines Trägers öffentlicher Verwaltung einem besonderen Z w e c k dauernd zu dienen bestimmt i s t " 2 0 0 . D a m i t sind keine organisationsrechtlichen Konturen gewonnen, da der Anstaltsbegriff i n erster L i n i e der Abgrenzung v o n körperschaftlichen Organisationsformen d i e n t 2 0 1 . Von der Rechtsfähigkeit über die Teilrechtsfähigkeit bis zur Eingliederung i n eine Körperschaft ohne jede (Teil-) Rechtsfähigkeit sind alle Ausgestaltungen einer öffentlich rechtlichen Anstalt d e n k b a r 2 0 2 . Von der öffentlichen E i n r i c h t u n g 2 0 3 als weiter gefaßtem B e g r i f f unterscheidet sich der Anstaltsbegriff durch eine bestimmte - i m U m f a n g streitige - organisatorische Verselbständigung und durch die öffentlich-rechtliche O r g a n i s a t i o n s f o r m 2 0 4 . D i e organisatorische Selbständigkeit bezieht sich grundsätzlich nur auf das Innenverhältnis z w i 199
LArchGe in: Brandenburg § 14; Saarland § 6. Lange stellt den Begriff der nichtrechtsfähigen Anstalt in Frage und w i l l ihn durch den „offeneren Begriff der Einrichtung" ersetzen. Lange, Die öffentlichrechtliche Anstalt, VVDStRL 44 (1986) S. 169, 187. Ob damit durch die o.g. LArchGe zugleich betont werden sollte, daß eine Teilrechtsfähigkeit des Staatsarchivs gegenüber dem Land nicht in Betracht kommen sollte, läßt sich weder dem Gesetzeszusammenhang noch den amtlichen Begründungen entnehmen. 200 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, § 51, S. 268; Breuer, VVDStRL 44 (1986) S. 211, 213, 225 ff.; Lange, VVDStRL 44 (1986) S. 169 ff.; Berg, NJW 1985 S. 2294 ff.; Krebs, N V w Z 1985 S. 614 ff. Mayer entwickelte den Begriff in Anlehnung an den französischen des service public. Jellinek, Subjektiv öffentliche Rechte, S. 224: „Individuell bestimmten Verwaltungszwecken gewidmete Verwaltungsmittel werden zur staatlichen Anstalt." Heute Begriff des etablissent public (juristische Person des öffentlichen Rechts mit eigenem Haushalt und Vermögen), Fromont, VVDStRL 44 (1986) S. 259 f. 201 „Diffusität des Anstaltsbegriffs unter dem GG", Löwer, DVB1. 1985 S. 928 (937 f.). 202 Für Lange (S. 185.) haben dagegen nur die rechtsfähigen öffentlichen Anstalten Eigencharakter. Er plädiert für eine Ablösung des Begriffs der nichtrechtsfähigen Anstalt. Die LArchGe Brandenburgs und des Saarlandes entsprechen dieser Ansicht, indem sie das Landeshauptarchiv als „Einrichtung" im Geschäftsbereich des zuständigen Mitglieds der Landesregierung bezeichnen (Brandenburg § 14 LArchG; Saarland § 6 LArchG). 203 Der Begriff der öffentlichen Einrichtung geht zurück auf § 17 der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) vom 30.01.1935 und ist in wörtlicher Übereinstimmung von den Gemeindeordnungen der Bundesländer - mit Ausnahme Berlins - übernommen worden. 204 Berg, NJW 1985 S. 2294, 2298 f.; Breuer S. 225 f.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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sehen Anstalt und Anstaltsträger, kann aber bis zu einem im rechtlichen Umfang allerdings beschränkten Selbstverwaltungsrecht, aber keiner Selbstverwaltungshoheit gehen. Als nichtrechtsfähige Anstalt bedurften die Staatsarchive zu ihrer Errichtung daher nach herrschender Ansicht nur eines schlichten Organisationsaktes in Gestalt eines ministeriellen oder Regierungserlasses. 205 b) Neuere Anstaltstypen Der Anstalts-Typus der „intermediären Anstalt" 2 0 6 soll als „Forum der Kooperation zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen" dienen. Bei funktionaler Betrachtung könnte dies auch auf das Bundesarchiv und die Staatsarchive zutreffen. Denn diese dienen der Voraussetzungssicherung unabhängiger historischer Forschung. Sie haben insofern die Stellung eines „Datentreuhänders". Nach einer Ansicht ist jedoch die Verleihung zumindest einer Teilrechtsfähigkeit erforderlich und weiter, daß die involvierten gesellschaftlichen Gruppen jeweils Repräsentanten in die Anstaltsorgane entsenden 207 . Als Beispiele gelten die Filmförderungsanstalt und die (frühere) Bundesanstalt für Güterfernverkehr in Abgrenzung zu Anstalten der mittelbaren Staatsverwaltung und staatsfreien Anstalten. Eine vergleichbare Autonomisierung haben die Staatsarchive de lege lata nicht erfahren. In funktionaler Hinsicht werden (nicht-rechtsfähige) Hilfsanstalten mit verwaltungsinternen Funktionen und freiheitssichernde Anstalten, die in der Regel rechtsfähig sind, dies aber nicht sein müssen, unterschieden 208 . Die organisationsrechtliche Verselbständigung kann sich bei nicht-rechtsfähigen Anstalten darauf beschränken, daß im Innenverhältnis zwischen Anstalt und Trägerkörperschaft die behördenhierarchischen Bindungen eingeschränkt sind, wobei dies durch schlichten Organisationsakt im Rahmen der Organisationsgewalt möglich sein soll. Typischerweise sollen Hilfsanstalten mit verwaltungsinterner Funktion Aufgaben der inneradministrativen Dokumentation, Information, Ermittlung und Schulung wahrnehmen 209 . Die organisatorische Selbständigkeit ist gering, eine Verleihung der Rechtsfähigkeit nicht geboten. Nach älterer Auffassung soll das Bundesarchiv sogar ein typischer Fall einer Hilfsanstalt mit verwaltungsinterner Funktion sein 2 1 0 .
205 Becker, Zentrale nichtministerielle Organisationseinheiten der unmittelbaren Bundesverwaltung, VerwArchiv 69 (1978) S. 149 ff., 154. 206 Lange VVDStRL 44 (1986) S. 169, 184. 207 Lange S. 194 m.w.N. 208 Breuer S. 232 ff. 209 Sogenannte „Querschnittsaufgaben" der „Verwaltung der Verwaltung". Thieme, Verwaltungslehre S. 264.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
In Abgrenzung zur Hilfsanstalt ist die freiheitssichernde Anstalt zu verstehen, die eine grundrechtliche Freiheit, die „sonst im freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte erstickt zu werden drohte", sichert. Ist dies der Fall, ist eine Verleihung rechtlicher Selbständigkeit und ggfs. eigener Rechtspersönlichkeit in diesen Fällen der Staatsferne geboten. Als typische freiheitssichernde Anstalten gelten Anstalten im Bereich der Daseinsvorsorge, die in der Regel zugleich auch Leistungsanstalten sind. Modellhaft seien die Rundfunkanstalten 211 . c) Freiheitssichernde Funktion und organrechtliche Verselbständigung Spätestens mit der archivgesetzlichen Verankerung des Zugangsrechts sind die Archive als öffentlich benutzbare Anstalten der Daseinsvorsorge im kulturellen, wissenschaftlichen Kommunikationsbereich Leistungsanstalten und nicht mehr Hilfsanstalten mit bloß verwaltungsinterner Funktion. Die historische Dokumentationsfunktion des Bundesarchivs und der Länderarchive ist keinesfalls eine bloße „Querschnittsaufgabe"; ebensowenig ist die Tätigkeit der Archive, insbesondere nach den Aufgabenzuweisungen der Archivgesetze eine bloß „innerbehördliche". Im Bereich der historischen Forschung kommt den öffentlichen Archiven eine zentrale, grundrechts-voraussetzungssichernde Bedeutung zu. Dabei dürfte ihre voraussetzungs- und freiheitssichernde, demokratiekonstituierende Bedeutung diejenige der öffentlichen Rundfunkanstalten mittlerweile weit übertreffen: denn deren zentrale Stellung ist durch die Liberalisierung und Internationalisierung der Rundfunkmärkte überholt (sog. „duales System"). Daher sind die Staatsarchive auch im Sinne Breuers zu den freiheits sichernden Anstalten zu rechnen. Die Forderung zumindest einer Teil-Rechtsfähigkeit für die Staatsarchive liegt nahe; denn je weiter die organisationsrechtliche Verselbständigung reicht, je zentraler die freiheitssichernden Ordnungsaufgaben des Staates betroffen sind, je mehr Partikularinteressen vorliegen, die Einfluß auf die Anstaltstätigkeit nehmen, desto mehr drängt sich die Forderung nach einem ministerialfreien, d.h. weisungsfreien Raum a u f 2 1 2 . Jedoch steht zumindest die Verleihung der vollen Rechtsfähigkeit nach herrschender Ansicht unter Gesetzes vorbehält 213 . 210
Becker a.a.O.; Breuer S. 227. Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, Bundeszentrale für politische Bildung. 211 A.a.O. S. 235. 212 So zutreffend Breuer S. 241; zum Neutralitätsbegriff s.o. 2. Kap. A. I. 2.; B. I. 3., IV., 3. Kap. A. IV. 213 Lange S. 196: Vorbehalt des Gesetzes zumindest für volle Rechtsfähigkeit wegen Lockerung parlamentarischer Kontrolle und wegen der Ausgestaltung von
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Es bleibt zu prüfen, inwieweit durch die Archivgesetze eine Binnenstruktur im Sinne eines Organs mit gesetzlich zugewiesenen Organrechten geschaffen wurde. In der Normierung von Anbietungs- und Übergabepflichten der öffentlichen Stellen gegenüber den staatlichen Archiven, auf die noch näher einzugehen ist, liegt ein Anknüpfungspunkt für eine Teilrechtsfähigkeit oder Organstellung. 2. Organisatorischer
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Oberste Landesarchivbehörde und Aufsichtsbehörde ist in den meisten Ländern das Kultusministerium, im Saarland der Ministerpräsident bzw. die Staatskanzlei. Obere Archivbehörde, die die Aufgaben der Landesarchivverwaltung wahrnimmt, ist die Landesarchivdirektion in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen bzw. das Landeshauptarchiv in Mecklenburg-Vorpommern, das Hauptstaatsarchiv in den übrigen Ländern. Diese sind zuständig für archivfachliche Grundsatzfragen 214 . Ihnen nachgeordnet sind die Staatsarchive, welche die Kommunalarchive und ehrenamtlichen Archivpfleger 2 1 5 privater Archive beraten. Die größte organisatorische Verselbständigung verwirklichen die Landesarchivgesetze Baden-Württembergs, Berlins und Sachsens, da die Landesarchivdirektionen in Funktion oberster Landesbehörden die Kultusministerien gesetzlich zwingend insbesondere bei der Fristverkürzung und -Verlängerung verdrängen 216 . I I I . Weitere Arten öffentlicher Archive Die Archivgesetze unterscheiden jeweils nach dem Träger der abgebenden Stellen, von denen Schriftgut zu übernehmen ist, drei Arten öffentlicher Archive: staatliche Archive, kommunale Archive 2 1 7 und Archive sonstiger juristischer Personen des öffentlichen Rechts 2 1 8 , für die die Archivgesetze Ausnahmen vom Anwendungsbereich vorsehen (Universitäten, Hochschulen, Akademien 2 1 9 , öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, Grundrechten; Breuer S. 235, ist auch für schwächere organisationsrechtliche Verselbständigungen nichtrechtsfähiger Anstalten beispielsweise durch die Schaffung partizipatorischer Binnenstrukturen im Schulrecht. 214 §§ 1, 2 Abs. 1, 6 Abs. 4 S. 1, 2 LArchG Baden-Württemberg. 215 Art. 5 LArchG Bayern; § 10 LArchG Rheinland-Pfalz. 216 § 6 Abs. 4 S. 1, 2 LArchG Baden-Württemberg; § 8 Abs. 1 S. 1 und Abs. 8 S. 2 LArchG Berlin, § 5 Abs. 5 LArchG Sachsen. 217 Höroldt, Kommunale Archive, Der Archivar 37 (1984) Sp. 387 ff. 218 Abschnittsüberschriften der LArchGe von Nordrhein-Westfalen und Sachsen. 219 § 14 LArchG Sachsen (Hochschulen und Akademien).
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Rundfunkanstalten und Stiftungen). Staatliche Archive sind die Archive der Verfassungsorgane, Behörden, Gerichte und sonstigen Stellen des Bundes und der Länder. Von den öffentlichen Archiven sind die Archive in privater Trägerschaft zu unterscheiden, deren Organisation und Benutzungsverhältnisse sich einen Rechtsbindungswillen vorausgesetzt, grundsätzlich nach zivilrechtlichem Vertragsrechts richten220. Dies sind vor allem Familien-, Haus- und Herrschaftsarchive, Pressearchive und Wirtschaftsarchive 221 . 1. Staatliche Sonderarchive a) Parlamentsarchive Eine Sonderstellung unter den staatlichen Archiven nehmen die Parlamentsarchive e i n 2 2 2 , deren Archivgut den Staatsarchiven durch eine „Parlamentsklausel" regelmäßig mit Ausnahme der Landesarchivgesetze in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern 223 entzogen i s t 2 2 4 . Regelungstechnisch werden die Landesparlamente als öffentliche Stellen entweder vom Geltungsbereich der Anbietungs- und Übergabepflichten gegenüber dem jeweiligen Staatsarchiv ausgenommen. Die archivgesetzlichen Bestimmungen gelten für das Landtagsarchiv entsprechend 225 , oder es wird festgestellt, daß das Landesparlament in eigener Zuständigkeit über die Archivierung in einem eigenen Archiv, das den „anerkannten Grundsätzen des Archivwesens" entsprechen muß, entscheidet 226 . Subsidiär können Länderparlamente 220
Günther, Rechtsprobleme der Archivbenutzung, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 124. 221 Dazu Richtering, Herrschafts-, Familien- und Hausarchive, Der Archivar 37 (1984) Sp. 413 ff.; Englert, Pressearchive, Der Archivar 37 (1984) Sp. 435 ff.; Dascher, Archive der Wirtschaft, Der Archivar 37 (1984) Sp. 419 ff.; Freys S. 15 ff. 222 Allgemein zur Bedeutung der Parlamentsarchive: Bradler, Parlamentsarchive, Der Archivar 37 (1984) Sp. 427 433; vgl. auch Freys S. 18, 19. 223 Bürgerschaft bzw. Landtag werden zu den sonstigen öffentlichen Stellen bzw. Verfassungsorganen gezählt. 224 Kritisch zur Ausnahme von der allgemeinen Anbletungspflicht: Wyduckel, Archivgesetzgebung im Spannungsfeld von informationeller Selbstbestimmung und Forschungsfreiheit, DVB1. 1989 S. 327, 329; Günther, Rechtsprobleme der Archivbenutzung, S. 129; Nadler S. 68. 225 LArchGe in: Baden-Württemberg § 10 Abs. 1; Bayern Art. 12 Abs. 1, 2. 226 Bund: § 2 Abs. 2 BArchG: „Die gesetzgebenden Körperschaften entscheiden in eigener Zuständigkeit, ob Unterlagen anzubieten und zu übergeben sind."; Brandenburg § 15; Berlin § 1 Abs. 4: „Das Abgeordnetenhaus sowie die landesunmittelbaren juristischen Personen stellen durch Vereinbarung mit dem Landesarchiv sicher, daß, wenn sie kein eigenes Archiv, das den anerkannten Grundsätzen des Archivwesens entspricht, unterhalten (...), archivwürdige Unterlagen entsprechend
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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ihr Archivgut dem jeweiligen Staatsarchiv übergeben, wenn die gesetzgebenden Körperschaften kein eigenes Archiv unterhalten 227 . Die Regelung in Sachsen-Anhalt darf als widersprüchlich und mißlungen bezeichnet werden: § 2 Abs. 6 zählt das Archiv des Landtags nicht zu den Landesarchiven, gleichwohl verpflichtet aber § 2 Abs. 1 Nr. 1 i . V . m . § 9 Abs. 1 „die Verfassungsorgane", also auch den Landtag zur Anbietung „an das zuständige Landesarchiv". Die Ausnahmeregelungen spiegeln auf archivverwaltungsrechtlicher Ebene die Unterscheidung der staatlichen Gewalten wieder, wie sie in Art. 20 GG zum Ausdruck k o m m t 2 2 8 . Die Parlamentsklausel des BArchG, die im ursprünglichen Entwurf nicht enthalten war, geht auf eine Forderung des Ausschußvorsitzenden des Bundestagsausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung an den Innenausschuß des Bundestages zurück. Dieser hatte nachdrücklich die Entscheidungsfreiheit der gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat bei Verwahrung und Erschließung ihres Archivguts gefordert 229 . Der Parlamentshoheit sollte die „Archivhoheit" der Parlamente entsprechen. Diese ist zugleich Ausdruck des Repräsentationsgedankens und möglicherweise auch des Grundsatzes der Parlamentsöffentlichkeit 230 . Praktischer Hintergrund ist die Hilfsfunk§ 4 Abs. 1 vom Landesarchiv übernommen werden"; Hamburg § 3 Abs. 8, § 5 Abs. 10; Hessen § 2 Abs. 2 und 3; Niedersachsen § 7 Abs. 1 S. 1,2: „Der Landtag ist verpflichtet, Archivgut zu sichern; dazu unterhält er entweder ein eigenes Archiv oder bietet Unterlagen dem Staatsarchiv an"; Nordrhein-Westfalen § 9; RheinlandPfalz § 11; Sachsen § 12; Schleswig-Holstein § 14; Thüringen § 8 Abs. 2. 227 Eine abweichende Regelung enthält das LArchG Saarland in § 14 Abs. 2: „Unterlagen, die der Landtag nicht mehr zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt, bietet das Landtagsarchiv dem Landesarchiv zur Übernahme an." Das Landtagsarchiv hat danach in erster Linie eine Hilfsfunktion für die Parlamentstätigkeit; daher ist zur Sicherstellung der vollständigen Überlieferungsbildung auf eine vollständige Anbietung der Parlamentsunterlagen an das Staatsarchiv zu achten. 228 Das übersieht Nadler S. 68, der die Regelungen kritisiert, weil sie der „Übersichtlichkeit" schadeten. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, daß Archivgut der Gerichte den jeweiligen Staatsarchiven anzubieten ist. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist nach der Urteilsfällung nicht mehr gefährdet und die Unterlagen werden in der Regel nicht mehr von den Gerichten benötigt. Vgl. nur § 2 Abs. 1 BArchG, § 2 LArchG Baden-Württemberg; § 4 Abs. 2 LArchG Bayern. 229 Bericht des Innenauschusses an den BT, BT-Drs. 11/1215, S. 6 (BT-Dokumentation S. 81). 230 Es fragt sich daher, ob der i m Grundgesetz (vgl. Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG) und den Landesverfassungen (Vgl. nur die Landesverfassungen: Baden-Württemberg Art. 33; Bayern Art. 22, 23; Berlin Art 30 Abs. 3, Abs. 4, § 31; Bremen Art. 90, 91, 93; Hamburg Art. 16, 19, 21; Hessen Art. 88, 89, 90; Niedersachsen Art. 9; Nordrhein-Westfalen Art. 42, 43; Rheinland-Pfalz Art. 86, 87; Schleswig-Holstein Art. 11, 12) normierte verfassungsrechtliche Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit, der als wesentlicher Bestandteil des Demokratieprinzips repräsentativer Prägung
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
tion der Parlamentsarchive für zukünftige Gesetzgebungsverfahren, für die ungehinderter unmittelbarer Zugriff bestehen soll, der nicht durch Bestimmungen des einfachen Verwaltungsrechts eingeschränkt sein s o l l 2 3 1 . b) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Dem Politischen Archiv des Auswärtigen A m t e s 2 3 2 wird als einzigem Ressortarchiv eine Sonderstellung gegenüber dem Bundesarchiv zugestanden 2 3 3 , welche sich u.a. in der Ablehnung fester Abgabefristen bemerkbar machte 2 3 4 . § 10 des Gesetzes über den Auswärtigen Dienst ( G A D ) 2 3 5 legt fest, daß im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes die Urschriften oder beglaubigten Abschriften der völkerrechtlichen Verträge und Vereinbarungen des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik aufbewahrt werden, sowie alle sonstigen Unterlagen, die das Auswärtige Amt zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. Da das GAD nach dem BArchG erlassen wurde, stellt sich die Frage nach Abweichungen zur Abgabepflicht des § 2 Abs. 3 BArchG. Da das BArchG unter Verzicht einer Abgabefrist davon ausgeht, daß über die Frage der endgültigen Aufgabenerledigung allein die abgebende Behörde entscheidet, enthält § 10 GAD nur eine Klarstellung bezüglich der Origigilt, sich auf die Gestaltung der Benutzungsordnung der Parlamentsarchive zusätzlich auswirkt. Wenn man den Öffentlichkeitsbegriff nicht lediglich auf den engst möglichen Sinn der Allgemeinzugänglichkeit der Plenarsitzungen beschränken will (so die h.M., vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 42 Rz 2 und 3), sondern darunter i m weiteren Sinne die Publizität der Entscheidungsvorgänge versteht, sind auch die Parlamentsunterlagen, Drucksachen und Entscheidungsvorlagen der Abgeordneten grundsätzlich zugänglich zu machen, was sich auf das Zugangsrecht zum Parlamentsarchiv auswirkte. Ein Bedürfnis besteht insbesondere, soweit die Öffentlichkeit bestimmter Ausschußsitzungen generell oder diejenige des Plenums ausnahmsweise (vgl. Art. 42 Abs. 1 S. 2 und 3 GG) ausgeschlossen war. 231 Das Verwaltungsrecht legt der Exekutive Schranken auf. Daher bestimmt etwa § 1 1 Abs. 2 LArchG Rheinland-Pfalz, daß der Landtag die Benutzung des Landtagsarchivs unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Stellung regeln soll. 232 Dazu Philippi, Das politische Archiv des Auswärtigen Amtes, Rückführung und Übersicht über die Bestände, Der Archivar 13 (1960) Sp. 199 ff.; Granier u.a. (Hrsg.), Das Bundesarchiv und seine Bestände, S. 30 m . w . N . 233 Zum sonst geltenden Provenienzprinzip, bei dem sich die Zuständigkeit nach der Stufe der abgebenden Stelle im Verwaltungsaufbau richtet, Freys S. 17. 234 Begründung der Bundesregierung zu § 2 Abs. 1, BT-Drs. 11/498, S. 8, Bericht des Innenauschusses, BT-Drs. 11/1215, S. 12; dazu Boberach, Staatliche Archive (Bund), Der Archivar 37 (1984) Sp. 325 ff., 328; Freys S. 16, 29; Oldenhage, Bemerkungen zum Bundesarchivgesetz, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477, 480; Nadler S. 31, 90. 235 Gesetz über den Auswärtigen Dienst (GAD) vom 30.08.1990, BGBl. 1990 I, S. 1842, 1844.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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nale völkerrechtlicher Dokumente 2 3 6 . Für die übrigen im politischen Archiv verwahrten Dokumente ergibt sich aus der im Grundsatz fortbestehenden Abgabepflicht die Pflicht des Auswärtigen Amts, gegenüber dem Bundesarchiv, laufend oder in bestimmten Abständen zu überprüfen, ob eine jederzeitige Verfügbarkeit des jeweiligen Dokuments tatsächlich noch zur Aufgabenerledigung erforderlich ist. Dabei ist davon auszugehen, daß auch im Falle einer Aufbewahrung im Bundesarchiv die Dokumente noch verfügbar sind. Maßgeblich muß sein, ob tatsächlich die „jederzeitige Verfügbarkeit" zur effektiven Aufgabenerfüllung des Auswärtigen Amtes geboten ist. Der Präsident des Bundesarchivs bemüht sich daher um die Anbietung und Übergabe älterer Bestände, die auch Originale völkerrechtlicher Urkunden umfassen können. Die Benutzung des Archivgutes beim Auswärtigen Amt steht grundsätzlich jedermann auf Antrag nach der Benutzungsordnung für das politische Archiv des Auswärtigen Amtes vom 5. Dezember 1990 zu, die auf das BArchG Bezug n i m m t 2 3 7 . Im Übrigen ist § 5 Abs. 8 BArchG grundsätzlich auch auf die Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes anzuwenden. 2. Kommunalarchive Die Landesarchivgesetze sehen Rahmenbestimmungen für Kommunalarchive v o r 2 3 8 . wobei sich die archivgesetzlichen Bestimmungen unter Beachtung von Art. 28 Abs. 2 GG auf die Konkretisierung von Rahmenvorgaben über die Archiveinrichtung beschränken und lediglich die entsprechende Geltung von (ohnehin grundrechtlich vorgezeichneten) Benutzungsregelungen anordnen 239 . Eine archivgesetzliche Pflicht der Gemeinde, auch bei gegebener finanzieller Möglichkeit ein Kommunalarchiv einzurichten, besteht hingegen nicht. Die Gemeinden sind andernfalls verpflichtet, ihre Unterlagen dem zuständigen Landesarchiv anzubieten und ggfls. zu übergeben. Einem möglichen Mißbrauch durch die Kommunen, von der Einrichtung eines angemessenen Archivs mit dem Ziel der Kosteneinsparung abzusehen,
236 § 10 G A D ist keine Rechtsvorschrift nach § 2 Abs. 1 S. 3 BArchG; vgl. auch Nadler S. 21. 237 Abgedruckt in: Der Archivar 44 (1991) Sp. 568 ff. 238 Baden-Württemberg: § 7; Bayern Art. 13; Berlin § 1 Abs. 3 Bezirksarchive; Brandenburg § 16; Bremen § 9; Hamburg: Regelung nicht erforderlich; Hessen § 4; Mecklenburg-Vorpommern § 12; Niedersachsen § 7 Abs. 1, 3; Nordrhein-Westfalen § 10; Rheinland-Pfalz § 2 Abs. 2; Saarland §§ 1 Abs. 2 Nr. 2, 15; Sachsen § 13; Sachsen-Anhalt § 4 Abs. 1, § 11; Schleswig-Holstein § 15 Abs. 1; Thüringen § 4. 239 Überblick über die Wahlmöglichkeiten der Kommunen nach den LArchGen bei Nadler S. 68 Fn 102.
3. Teil: Archivverwaltungsrecht
188
begegnen manche Landesarchivgesetze m i t der gesetzlichen Verpflichtung der K o m m u n e n , sich auf Verlangen des Landesarchivs an den Kosten der A r c h i v i e r u n g i m Landesarchiv zu b e t e i l i g e n 2 4 0 . 3. Archive
der Kirchen,
Rundfunkanstalten,
öffentlichen
Universitäten,
Unternehmen
D i e Archivgesetze sehen Ausnahmen von ihrem G e l t u n g s b e r e i c h 2 4 1 vor für die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften 2 4 2 , die öffentlichrechtlichen R u n d f u n k a n s t a l t e n 2 4 3 u n d U n i v e r s i t ä t e n 2 4 4 . D i e Ausnahmeregelungen sind eine einfachgesetzliche Konkretisierung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur (eingeschränkten) Grundrechtsfähigkeit bestimmter juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Anerkannt ist die „Ausnahmetrias" v o n K i r c h e n und öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften, Universitäten und Fakultäten sowie für R u n d f u n k a n s t a l t e n 2 4 5 . Diese nehmen i n ihrem Eigenbereich keine staatlichen Aufgaben wahr und sind trotz ihrer formalen öffentlich-rechtlichen Stellung nicht i n den Staat 240
So die LArchGe in: Mecklenburg-Vorpommern § 12 Abs. 2 S. 3; RheinlandPfalz, Saarland § 15 Abs. 4 durch RVO, Schleswig-Holstein a.a.O. 241 BArchG: keine Regelung erforderlich; LArchGe: Baden-Württemberg § 10 Abs. 2; Bayern Art. 16; Berlin § 11; Brandenburg § 1 Abs. 2; Bremen § 10 Abs. 1; Hamburg § 7; Hessen § 20; Mecklenburg-Vorpommern § 1 Abs. 3 Nr. 1-3 und § 13 für Hochschulen; Niedersachsen § 7 Abs. 2; Nordrhein-Westfalen § 13 Abs. 1; Rheinland-Pfalz § 12; Saarland § 1 Abs. 2, 16; Sachsen § 1 Abs. 2; Sachsen-Anhalt § 1 Abs. 4; Schleswig-Holstein § 2 Abs. 2; Thüringen § 20. Vgl. zum Geltungsbereich der Archivgesetze: Schreckenbach, L K V 1998 S. 290. 242 Einen Überblick über das Archivrecht der evangelischen Landeskirchen in Deutschland gibt Sander in seinem Diskussionsbeitrag zur gemeinsamen Studientagung der Bundeskonferenz der kirchlichen Archive in Deutschland; Sander, Die Vorschriften über die Nutzung von Archivgut und ihre Anwendung in der Evangelischen Kirche, in: Ammerich/Baier (Hrsg.), Offen für Zeitgeschichte? Die Kirchen und ihre Archive: S. 45 ff., 51 ff.; dort insbesondere auch: Hehl, Probleme der Zeitgeschichtsforschung und die Öffnung der kirchlichen Archive, S. 29 ff.; Heibach, Sondergenehmigungen für die wissenschaftliche Forschung nach der „Anordnung über die Sicherung und Nutzung der Archive der katholischen Kirche", S. 63 ff.; Haas, Katholische Kirchenarchive nach dem neuen Kirchenrecht, Der Archivar 37 (1984) Sp. 103 ff.; Wurster, Kirchliche Archive (Katholische Kirche), Der Archivar 37 (1984) Sp. 408 ff.; Baier, Kirchliche Archive (Evangelische Kirchen), Der Archivar 37 (1984) Sp. 401 ff.; ders., Archivrechtliche Regelungen i m kirchenrechtlichen Bereich, Der Archivar 43 (1990) Sp. 54; Freys S. 19, 20. 243 Schmitt, Rundfunkarchive, Der Archivar 37 (1984) Sp. 441 ff. 244 Die Universitäten regeln die Archivierung den Kommunen entsprechend in eigener Zuständigkeit und Verwantwortung nach archivfachlichen Gesichtspunkten auf der Grundlage der LArchGe; vgl. § 13 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. Vgl. auch Schäfer, Universitätsarchive, Der Archivar 37 (1984) Sp. 449 ff. 245 Stern, Staatsrecht I I I / l S. 1151 ff.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
189
inkorporiert, sondern treten diesem in dem jeweils grundrechtlich zugeordneten Lebensbereich wie ein Privater gegenüber 246 . Weiter gilt eine Ausnahme vom Geltungsbereich für die öffentlich-rechtlichen Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit, die am wirtschaftlichen Wettbewerb teilnehmen. Dabei handelt es sich vornehmlich um Sparkassen und Giroverbände. Hier war der Gedanke der wirtschaftlichen Chancengleichheit und Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen gegenüber privaten Konkurrenten maßgebend 247 . In Sachsen-Anhalt besteht eine erweiterte Ausnahme vom Geltungsbereich, die zusätzlich Zweckverbände betrifft, deren Zweck der Betrieb eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens mit eigener Rechtspersönlichkeit ist, das am wirtschaftlichen Wettbewerb teilnimmt 2 4 8 . Wegen der erheblichen wirtschaftlichen Macht der Sparkassen und Giroverbände einerseits und der staatlichen Kontrolle und Einflußnahme auf deren Geschäftspolitik 249 , stimmt die generelle Ausnahme dieser Gruppe von der öffentlich-rechtlichen Archivierungspflicht bedenklich. Es spricht viel dafür, daß hier die Archivierung und Benutzung entsprechender Geschäftsunterlagen vor dem Hintergrund des unter Umständen erheblichen historischen Werts etwaiger Unterlagen öffentlich-rechtlich überlagert sind. Mit entsprechenden Depositalverträgen und Nutzungsauflagen sind geeignete Mittel und Maßnahmen bei der Hand, mit denen sich die befürchteten Benachteiligungen im Wettbewerb mit privatrechtlichen Konkurrenten vermeiden lassen. Die generelle Ausnahme der Anbletungspflichten für Sparkassen und andere öffentliche Unternehmen sollte daher überdacht werden. 4. Archive der politischen Parteien Nicht anwendbar sind die Archivgesetze auf die Unterlagen der Parteien und ihrer politischen Stiftungen 250 , die weder öffentliche Stellen des Bundes noch der Länder sind. Trotz der verfassungsrechtlichen Einbindung und öffentlichen Institutionalisierung durch Art. 21 GG sind die politischen
246
Für die Kirchen: BVerfGE 21, 362, (373 f.); E 42, 312 (321 f.) Amtliche Begründung zu § 13 des LArchG Nordrhein-Westfalen, abgedruckt bei Hockenbrink S. 87. 248 § 1 Abs. 2 Nr. 4 LArchG Sachsen-Anhalt. 249 Sparkassen sind rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die zur selbständigen Führung von Bankgeschäften i.S.v. § 1 Abs. 1 K W G befugt sind. Das materielle Sparkassenrecht regelt der Bund gemäß Art. 74 Nr. 11 GG im KWG, das formelle, die Organisation und interne Verfassung der Sparkassen betreffende Recht, die Länder in den Sparkassengesetzen. 250 Buchstab, Archive politischer Verbände und Parteien, Der Archivar 37 (1984) Sp. 431 ff. 247
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Parteien nicht-rechtsfähige Vereine des Zivilrechts und keine Träger öffentlicher Verwaltung. Sie gelten daher als private Archivträger 251 . Die privatrechtliche Rechtsnatur der Trägerkörperschaft kann jedoch nicht alleiniges Kriterium bleiben, wenn in einem „Privatarchiv" regelmäßig und zumindest in engem Zusammenhang mit der grundgesetzlichen Privilegierung der Stellung der Parteien nach Art. 21 GG Unterlagen mit öffentlichem Charakter oder öffentlicher Bedeutung archiviert sind. Dies ist etwa bei den Parteiarchiven in Gestalt der Nachlässe politischer Verantwortungsträger zumindest insoweit der Fall, als sich diese Unterlagen auf das öffentliche Amt beziehen oder in dessen Ausübung „privatdienstlich" 2 5 2 angefertigt wurden. Von Archivaren wird beklagt, daß beispielsweise die Bundeskanzler Adenauer, Kiesinger, Brandt, Schmidt und zuletzt Kohl wichtige dienstliche Schriftstücke der amtlichen Überlieferung entzogen haben. Diese finden sich zum Teil in den Archiven der Parteienstiftungen. 253 Ungeachtet der lediglich formal privatrechtlichen Natur sind die Parteien i.S.d. Art. 21 GG öffentlichrechtlich zu einer demokratischen Binnenstruktur und Rechenschaft über ihre Mittelverwendung verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht zählt sie zu den „Verfassungsorganen" 254 . Schon früh wurde daher eine darüberhinausgehende „Parteienöffentlichkeit" auch hinsichtlich von Informationen, namentlich gegenüber der Presse gefordert 255 . Buchstab nennt in seinem Geleitwort zur internationalen Archivtagung zum Thema Parteiarchive in Prag 1994 die Situation der Parteiarchive unzufriedenstellend und reformbedürftig. Wegen des erheblichen Einflusses der Parteien in Deutschland auf staatliche Tätigkeit müßten sich (öffentliche) archivarische Aufgaben in der Zukunft auch auf Parteien erstrecken 256 . Es fragt sich daher, ob und inwieweit das private Archivrecht der Parteien und politischen Stiftungen partiell öffentlichrechtlich überlagert ist. Nach der hier vertretenen Auffassung besteht zumindest grundsätzlich eine 251
Günther, Rechtsprobleme der Archivbenutzung, S. 124 f.; Buchstab Sp. 432; Freys S. 21 f. 252 s.o. A. V. 253 Blasius, Akten, Akten, Akten. Anmerkungen zum Hirsch-Bericht, FAZ , Samstag 8. Juli 2000, Nr. 156/S. 11. Zur Problematik der Abgabepflicht von Regierungsorganen, dem Umfang, der Abgrenzung staatlichen, Partei- und Privatunterlagen s.u. 5. Kap. I. 1. Und 2. 254 BVerGE 4, 27 (30); 5, 85 (135); 11, 239 (243); 27, 10 (17). 255 Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive und Informationsrecht der Presse, S. 61 ff. 256 Buchstab, Grundsätzliche Überlegungen und aktuelle Lage der Parteiarchive in Europa, in: Buchstab (Hrsg.), Das Gedächtnis der Parteien. Parteiarchive in Europa. Tagung der Sektion Archive und Archivare der Parlamente und politischen Parteien i m Internationalen Archivrat, Prag 18.-20.11.1994; S. 12, 18.
4. Kap.: Allgemeiner Teil
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Anbletungspflicht von Bundesparteien gegenüber dem Bundesarchiv bzw. dem jeweiligen Staatsarchiv 257 . Aufgrund des bei den Parteiarchiven konzentrierten Archivmaterials ehemaliger staatlicher Funktionsträger 258 liegt es nahe, ebenso das Nutzungsverhältnis dem Zugangsanspruch des Wissenschaftlers aus Art. 5 Abs. 3 GG zumindest anzugleichen. Ein Konflikt zeichnet sich für die Anbietungs- und Übergabepflicht bezüglich der o. g. „privatdienstlichen" Unterlagen und sonstigen bei Gelegenheit der Amtsausübung gefertigten Aufzeichnungen politischer Funktionsträger zwischen den staatlichen Archiven und den Archiven der politischen Parteien ab. Taktische Erwägungen des in der Sachverständigenanhörung erwähnten „archivischen Vertrauensverhältnisses" 259 treffen hier mit den rechtlichen einer Abgrenzung von „ i n Ausübung des Amtes" gefertigten, „bei Gelegenheit" gefertigten und privatdienstlichen und privaten Aufzeichnungen und Unterlagen zusammen. I V . Öffentlicher Archivar im höheren Archivdienst Die Anforderungen an die archivfachliche Qualifikation der Archivare gesetzlich zu regeln hätte angesichts der Bedeutung archivarischer Bewertungskompetenz und der Verpflichtung zu wissenschaftlicher Unabhängigkeit nahegelegen. Archivpersonal, das eine archivfachliche Ausbildung besitzt, gehört zu den nur z.T. gesetzlich vorgeschriebenen „archivfachlichen Voraussetzungen", die für die Einrichtung eines öffentlichen, insbesondere kommunalen Archivs gegeben sein müssen 260 . Dazu gehört u. a. die Befähigung, Texte und Handschriften zu lesen, Unterlagen zu bewerten und einzuordnen, Findmittel zu erstellen, die Archivbenutzung und Ausweitung gewährleisten zukönnen. Die Landesarchivgesetze enthalten nur vereinzelt Anforderungen für die berufliche Qualifikation eines Archivars („Befähigung zum höheren Archivdienst"). Lediglich drei Landesgesetzgeber haben diese Frage als für eine gesetzliche Regelung ausreichend wesentlich erachtet: § 2 Abs. 8 Nr. 1 LArchG Brandenburg bestimmt, daß archivfachliche Voraussetzung für die Einrichtung eines öffentlichen Archivs die Betreuung durch hauptamtlich oder hauptberuflich tätiges Archivpersonal ist, das eine archivfachliche Ausbildung besitzt; ebenso § 3 Abs. 6 a) LArchG Nordrhein-Westfalen. § 1 Abs. 5 LArchG Bremen fordert die Befähigung für eine Laufbahn des Archivdienstes, für Leiter die Befähigung für eine Laufbahn des höheren Archivdienstes. In § 2 Abs. 1 LArchG Baden-Württem257
s.u. Abschnitt B. I. 2. Buchstab Sp. 431, 433. 259 s.o. A. V. 2.; s.u. 5. Kap. A. 260 Ygi die einzige ausführliche Definition der archivfachlichen Vorausetzungen in § 2 Abs. 8 LarchG Brandenburg. Schreckenbach, L K V 1998 S. 292. 258
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
berg wird die Ausbildung für den Archivdienst immerhin kursorisch als Aufgabe der Landesarchivdirektion erwähnt. Die Voraussetzungen der archivfachlichen Qualifikation des Archivpersonals sind in den jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen der Länder geregelt 261 . Die historische Bewertungskompetenz öffentlicher Archivare, ihre daraus folgende weisungsunabhängige Sachwalterstellung und ihre Funktion als „Datentreuhänder" erfordern eine qualifizierte Ausbildung in den „anerkannten Grundsätzen des Archivwesens" (vgl. § 1 Abs. 4 LArchG Berlin). Dazu zählen auch die hier dargelegten verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Grundsätze. 5. Kapitel
Die Entstehung von öffentlichem Archivgut A. Die Anbietungs- und Übergabepflicht aller öffentlichen Stellen Die archivgesetzlichen Übernahmeregelungen bestimmen darüber, was zu zugänglichem Archivgut werden kann und zukünftiger historischer Forschung zur Verfügung steht. Sie sind für die zukünftige Quellenlage daher von ausschlaggebender Bedeutung. Die Entstehung von öffentlichem Archivgut ruht in rechtlicher Hinsicht auf zwei „Säulen": 1. der prinzipiellen Pflicht der abgebenden Stellen gegenüber den zuständigen Archiven, sämtliche Unterlagen, die nicht mehr für die laufende Verwaltung benötigt werden, den Archiven zur Erfassung anzubieten und bei Feststellung der Archivwürdigkeit zur Archivierung zu übergeben (archivgesetzliche Anbletungspflicht) 262 ; 261 Bsp. für Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen für den höheren Archivdienst: Baden-Württemberg VOen v. 11.3.1981 GBl. S. 230 (zuletzt geändert am 23.7.1993 GBl. S. 533) und v. 18.1.1974; Bayern V O v. 8.7.1982 GVB1. S. 490 (zuletzt geändert am 21.8.1987; GVB1. S. 393); Niedersachsen V O v. 3.9.1979 GVB1. S. 257 (zuletzt geändert am 12.11.1990 GVB1. S. 465); Nordrhein-Westfalen VO v. 28.7.1981 GVB1. S. 466 V O v. 3.9.1979 GVB1. S. 257 (zuletzt geändert am 10.7.1985 GVB1. S. 499); Rheinland-Pfalz VO. v. 8.5.1968 V O v. 3.9.1979 GVB1. S. 257 (zuletzt geändert am 2.1.1979 GVB1. S. 14); Saarland VO. v. 4.8.1989 GBl. S. 1217; Thüringen VO. v. 25.2.1994, GVB1. S. 293; zur Ausbildung: Rumschöttel, Zur Aus- und Weiterbildung der Archivare in der Bundesrepublik, in: FS Booms, S. 95 ff. 262 Bund: § 2 Abs. 1 S. 2, 3 „Anbletungspflicht"; LArchGe in: Bayern Art. 6 „haben anzubieten"; Berlin § 4 „sind verpflichtet ... sämtliche Unterlagen ... unverändert anzubieten"; Brandenburg § 4 Abs. 2 „sind verpflichtet anzubieten und zu übergeben"; Bremen § 3 Anbietung und Ablieferung „haben anzubieten"; Hamburg § 3 Anbietung und Ablieferung: „sind verpflichtet, alle Unterlagen ... anzubieten";
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut 2.
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speziellen Archivierungsermächtigungen, die die A n b i e t u n g und Übernahme bestimmter Unterlagen zulässig machen, die unter qualifizierte gesetzliche Geheimhaltungsvorschriften f a l l e n 2 6 3 .
D i e archivgesetzliche Anbletungspflicht hebt „einfache", „unqualifizierte" gesetzliche und sämtliche untergesetzlichen Geheimhaltungsvorschriften partiell, d.h. für die Z w e c k e der A r c h i v i e r u n g a u f 2 6 4 . Sie ist zugleich eine allgemein-datenschutzrechtliche Befugnisnorm, die entsprechend dem datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt ermöglicht, personenbezogene Unterlagen, die wegen Erledigung des Speicherzwecks zu löschen wären, zu a r c h i v i e r e n 2 6 5 . Spezielle Archivierungsermächtigungen
heben qualifizierte
Geheimhal-
tungsanordnungen, die gegenüber der allgemeinen archivgesetzlichen A n Hessen 4. Abschnitt Archivisches Verfahren § 10 Aussonderung und Anbietung von Archivgut: „sind verpflichtet, alle Unterlagen ... unverzüglich auszusondern und anzubieten"; Mecklenburg-Vorpommern § 6 Abs. 1 S. 2 „sind alle Unterlagen 30 Jahre nach ihrer Entstehung anzubieten"; Niedersachsen § 3 Ermittlung und Übernahme des Archivguts: „haben sämtliches Schriftgut ... in regelmäßigen Abständen im Originalzustand ... zur Übernahme anzubieten."; Nordrhein-Westfalen § 3 „Ablieferungspflicht"; Rheinland-Pfalz § 7 Anbletungspflicht „haben alle Unterlagen ... unverändert anzubieten"; § 8 „haben alle Unterlagen ... auszusondern und anzubieten"; Saarland § 8 Abs. 1; Sachsen-Anhalt §9 „haben alle Unterlagen ... unverzüglich ... spätestens 30 Jahre nach letzter Bearbeitung ... im Originalzustand zur Übernahme anzubieten"; Schleswig-Holstein § 6 „haben alle Unterlagen ... anzubieten"; Thüringen § 1 1 : „sind verpflichtet auszusondern und zur Übernahme anzubieten". Soweit es in § 3 Abs. 1 LArchG Baden-Württemberg heißt, „die Behörden, Gerichte und sonstigen Stellen bieten alle Unterlagen ... dem Staatsarchiv an", ist damit keine bloß organisationsrechtliche Feststellung getroffen. Daß auch hier eine Pflicht normiert wurde, ergibt sich aus § 3 Abs. 1 S. 3 LArchG Baden-Württemberg: „Anzubieten sind auch ..." 263 Zum Erfordernis archivgesetzlicher Regelungen s.o. 2. Kap. B. III., 3. Kap. A. 3., 4. Kap. A. I. und II. Zur Anbietungs- bzw. Abgabepflicht v.a. Uhl, Rechtsfragen der Aussonderung und Übernahme von Archivgut, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 61 ff.; Simitis, Programmierter Gedächtnisverlust oder reflektiertes Bewahren, in: FS Zeidler, S. 1475 ff. (1492, 1499); Nadler, Die Archivierung und Benutzung staatlichen Archivguts nach den Archivgesetzen des Bundes und der Länder, S. 22-32; aus allgemein datenschutzrechtlicher Sicht vgl. Bizer, Forschungsfreiheit, S. 336-340; zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Archivgesetze: Meilinger, Datenschutz i m Bereich von Information und Dokumentation, S. 238 ff. (240). 264 Zur Unterscheidung einfacher und qualifizierter Geheimhaltungsgebote s.o. 4. Kap. A. II. 1. 265 § 39 Abs. 2 BDSG 1990 bestimmt, daß entsprechende personenbezogene Daten zu einem anderen Zweck als den ursprünglichen Erhebungs- oder Übermittlungszweck nur verarbeitet oder genutzt werden dürfen, wenn die Änderung des Zwecks durch „besonderes Gesetz zugelassen ist". Dies ist durch die Anbletungspflicht als Übergabeermächtigungen geschehen. 13 Manegold
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
bietungspflicht aufgrund Spezialität vorrangig sind, „partiell", d.h. unter dem Vorbehalt der Abschottung zum Zweck der Erschließung und Benutzung auf. Die Archivgesetze haben sich nicht auf die Normierung einer an die abgebende Stellen adressierten Abgabe- und Archivierungsbefugnis beschränkt, die dem datenschutzrechtlichen und sonstigen geheimnisschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt an sich genügt hätte 2 6 6 . Die Archivgesetze normieren darüber hinausgehend eine umfassende Anbletungspflicht: Die abgebenden Stellen, Behörden, Gerichte und sonstigen Stellen des Landes sind gesetzlich dazu verpflichtet, grundsätzlich ohne inhaltliche Beschränkung alle Unterlagen, die zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben nicht mehr benötigt werden, dem zuständigen Archiv unverändert im Originalzustand anzubieten und auf Anforderung zu übergeben. Nach französischem Recht sind entsprechende Archivierungsermächtigungen in Gestalt von Anbietungs- und Übergabepflichten nicht erforderlich, da grundsätzlich alle Verwaltungsunterlagen mit Ausnahme bestimmter als geheimhaltungsbedürftig festgestellter Unterlagen und ausdrücklich durch Gesetz geschützter, v.a. Personal- und Sicherheitsakten bereits vor der Archivierung öffentlich zugänglich sind 2 6 7 . Das prinzipielle Verhältnis von Geheimhaltung und Öffentlichkeit ist umgekehrt, weswegen nicht die Archivierung einschließlich personenbezogener und geheimhaltungsbedürftiger Akten, sondern die Beschränkung des Aktenzugangs in den Archiven unter Gesetzes vorbehält steht 2 6 8 .
266
s.o. 2. Kap. B. ffl.; 3. Kap. B. I., s.u. 5. Kap. B. II. 2. Vgl. Loi no. 78-753 du 17 juillet 1978 sur 1'amelioration des relations entre I'administration et le public, modifie par la loi du 11 juillet 1979; Journal officiel vom 18 juillet 1978. Titre I: De la liberte d'acces aux documents administratifs; insbesondere Art. 1er; Art. 6. Nicht öffentliche Dokumente sind durch ministeriellen Erlaß in Abstimmung mit der zuständigen Kommission (Commission d'acces aux documents administratifs = C.A.D.A.) abschließend festzustellen. Daher stellt Art. 6 der Loi No. 79-18 du 3 janvier 1979 sur les archives schlicht fest, daß die Öffentlichkeit nach o. g. Gesetz in den Archiven bestehen bleibt. 268 s.o. 2. Kap. B. III. 267
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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I. Adressaten der Anbietungs- und Abgabepflicht 1. Bundeskanzler und Mitglieder der Bundes- und Landesregierungen, politische Spitzenbeamte a) Exekutivmitglieder als abgabepflichtige Stellen Der Präsident des Bundesarchivs Booms wandte sich mit allem Nachdruck dagegen, daß der Gesetzesentwurf der Bundesregierung die nach seiner Ansicht bestehende Rechtslage festschreibe, wonach Bundeskanzler und Bundesminister nicht gehalten seien, ihre Aufzeichnungen über dienstliche Vorgänge an das Bundesarchiv abzugeben 269 . Da Reichskanzler und Reichsminister früher Beamte gewesen seien, sei nicht einzusehen, warum die Vorschriften des § 6 Bundesministergesetzes nicht i m Sinne von § 61 Abs. 3 BBG ergänzt werden 2 7 0 . In der Sachverständigenanhörung wies der Präsident des Bundesarchivs weiter darauf hin, daß die Bundesregierung von diesem rechtlichen Instrument zugunsten des Bundesarchivs bislang keinen Gebrauch gemacht habe. Es komme zu „fragwürdigen Praktiken", z.B. dazu, daß das Bundesarchiv im Auftrag der Bundesregierung die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung ediert, dabei den Nachlaß eines Staatssekretärs anfordert, der nicht dem Bundesarchiv angeboten worden war, aber keine Genehmigung seitens der Bundesregierung bekommt. In einem anderen Fall habe ein Staatssekretär, der über Mitschriften von Kabinettsprotokollen verfüge, sich geweigert, diese auch bei Zusicherung der Geheimhaltung an das Bundesarchiv zu übergeben. Die Bundesregierung habe nicht von ihrem, durch § 61 Abs. 3 BBG eingeräumten Ermessen, die Unterlagen zur Archivierung an sich zu ziehen, Gebrauch gemacht. 269
Nach der Vorstellung der Bundesregierung sollte „die Bereitschaft von Eigentümern (z.B. Bundesministern), wertvolle Unterlagen, die zur Ergänzung des Archivguts des Bundes geeeignet sind, dem Bundesarchiv auf freiwilliger Basis zu übereignen oder sie bei ihm zu deponieren und nutzen zu lassen, durch dieses Gesetz angeregt werden." Aus archivfachlicher Sicht besonders bedeutsam sei die Möglichkeit, wertvolle Unterlagen privater Herkunft mit gesamtstaatlicher Bedeutung (Verbandsschriftgut, nachgelassene Papiere zeitgeschichtlich hervorragender Persönlichkeiten) für die Forschung zu sichern. Dabei sollte der Erwerb von Unterlagen „nicht-öffentlicher Herkunft" durch Vertrag mit dem Überlassenden möglich sein (Depositalvertrag), was die Regelung des § 2 Abs. 8 BArchG sicherstellen sollte. Vgl. die amtliche Begründung der Bundesregierung BT-Drs. 371/84 S. 10 f.; Veröffentlichte Gesetzesmaterialien des Parlamentsarchivs Nr. 23 S. 17; im folgenden: BT-Dokumentation. 270 § 61 Abs. 3 BBG: „Der Beamte hat, auch nach Beendigung des Beamtenverhältnisses, auf Verlangen des Dienstvorgesetzten ... amtliche Schriftstücke, Zeichnungen, bildliche Darstellungen sowie Aufzeichnungen jeder Art über dienstliche Vorgänge, auch soweit es sich um Wiedergaben handelt, herauszugeben. Die gleiche Verpflichtung trifft seine Hinterbliebenen und seine Erben." 1
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Der Abgeordnete Duve erklärte in diesem Zusammenhang: „Was können wir tun? Wir wollen ihnen helfen. Wir wollen den Kanzler an die Kandare nehmen". In der Sachverständigenanhörung des Innenausschusses nannten die Abgeordneten Duve und Weirich das Beispiel der persönlichen Aktenbestände der Bundeskanzler und Bundesminister 271 . Die Frage wurde nicht weiter vertieft, weil man sowohl auf Seiten der Archivsachverständigen als auch der juristischen Sachverständigen offenbar die archivgesetzliche Anbletungspflicht auch insoweit als ausreichend ansah 272 . In neuerer Zeit haben Archvare anläßlich der von der sog. „Hirsch-Kommission" untersuchten Vorgänge im Bundeskanzleramt anläßlich des Bundesregierungswechsels 1998 gerügt, daß die Trennung von Partei und Staat, von Privatem und Staatlichem in der Aktenüberlieferung der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen „lax" gehandhabt worden sei. Politiker betrachteten Dokumente oft als eine Art Privateigentum. Adenauer sammelte wichtige Akten seiner vierzehnjährigen Regierungszeit, insbesondere Dolmetscheraufzeichnungen über Gespräche mit ausländischen Staatsmännern und Diplomaten als einen „Privatschatz" und als „Rohmaterial für seine Memoiren" in seinem Haus Rhöndorf. Sämtliche späteren Kanzler seien ähnlich verfahren. 273 Damit ist zunächst zu fragen, ob der Amtsträger in leitender Funktion, insbesondere Bundesminister und der Bundeskanzler persönlich abgabepflichtige „Stelle" i.S.d. Archivgesetze ist. Die Frage stellt sich weiter bei politischen Spitzenbeamten und politischen Amtsträgern, Mitgliedern der Kollegialorgane der Bundes- und der Länderregierungen sowie parlamentarischen Staatssekretären und Bürgermeistern sowie nicht zuletzt bei Bundesrichtern 274. Diese Funktionsträger sind nicht in die Organisation der jeweiligen Behörde weisungsabhängig eingegliedert. Die nächste Frage betrifft den Umfang der Anbietungs- und Übergabepflicht politischer Funktionsträ271 MdB Weirich bildete das plastische Beispiel: „Altbundeskanzler fordert L K W an, um seine Akten abzutransportieren, da er Memoiren verfassen w i l l " ; BT-Drs. 10/3072, S. 80/101 (BT-Dokumentation S. 261). 272 Der Hinweis, daß sedes materiae bezüglich einer persönlichen Abgabepflicht der einzelnen Bundesminister auch das BundesministerG sein könne, wurde nicht weiterverfolgt. Insofern waren erkennbar taktische, psychologische Überlegungen bestimmend, weil man seitens des Bundesarchivs offenbar befürchtete, daß bei gesetzlicher Normierung von persönlichen Ablieferungspflichten und Zugriffsrechten wegen einer möglichen, vorherigen „Selbstzensur" und Bereinigung etwaiger Unterlagen durch den betroffenen Amtsträger eher weniger als mehr verläßliches Material zur Verfügung stehen werde. Sachverständigenanhörung BT-Innenausschuß, BT-Drs. 10/3072, S. 80/99 f., 80/106 f. (BT-Dokumentation S. 254 ff.). 273 Blasius, Akten, Akten, Akten. Anmerkungen zum Hirsch-Bericht, FAZ, Samstag 8. Juli 2000, Nr. 156/S. 11. 274 Buchmann, Erfahrungen mit dem Bundesarchivgesetz, Der Archivar 43 (1990) Sp. 40.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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ger hinsichtlich des Charakters der betroffenen Unterlagen als „öffentlich" oder „privat". Eine Änderung der Ministergesetze war nicht erforderlich, weil Regierungsmitglieder keine Beamten, sondern selbst „Stellen" i.S.d. Archivgesetze sind. Die Archivgesetze sprechen ausdrücklich von „Verfassungsorganen". Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 6 GG i.V.m. Art. 62 ff. GG ist anerkannt, daß Mitglieder der Bundesregierung über eigene Organrechte verfügen können 2 7 5 . Der Begriff des Verfassungsorgans umfaßt einzelne mit Organrechten ausgestattete Mitglieder eines Kollegialorgans. Der Sachverständige Baumann stellte sich auf den Standpunkt, daß „alle Akten aus dem Bundeskanzleramt und Bundesministerien grundsätzlich dem BArchG unterfall e n " 2 7 6 . Wortlaut und Entstehungsgeschichte sprechen dafür, daß auch Teile der Organe, also der Ministerpräsident, Bundeskanzler oder einzelne Minister und Staatssekretäre gemeint sind. Einzelne Amtsträger kommen daher nach Wortlaut, Sinn und Zweck der Archivgesetze als abgabepflichtige Stellen in Betracht. Auch § 6 Abs. 1 S. 2 BMinisterG, der Mitglieder der Bundesregierung vorbehaltlich einer Genehmigung zur Verschwiegenheit verpflichtet, kann einer Archivierung durch das zuständige Bundesarchiv nicht entgegenstehen. Denn diese Verschwiegenheitsverpflichtung ist durch das nachfolgende, speziellere Gesetz der umfassenden bundesarchivgesetzlichen Abgabepflicht „gelockert" bzw. ausgesetzt. b) Umfang der Abgabepflicht: Vermutung für die öffentliche Funktion. „Privatdienstliche" Schreiben Problematisch für den Umfang der Anbletungspflicht ist, ob und ggfs. welche Bedeutung die Qualifizierung entsprechender Unterlagen als „amtsbezogen", „mandatsbezogen", „parteibezogen", „privatdienstlich" oder privat hat. Beispielsweise unterhielt der Bundeskanzler a. D. Kohl im Bundeskanzleramt eine eigene „Privatregistratur", in der alles einsortiert wurde, was den Parteivorsitz der CDU, die Korrespondenz mit politischen Freunden u. ä. betraf. 2 7 7 Es liegt auf der Hand, daß es nicht möglich ist, Dienstkorrespondenz des Bundeskanzlers, die sein öffentliches Amt als Leiter der Exekutive betrifft, von derjenigen, die seine anderen politischen Ämter als Mitglied des Bundestages, als Parteivorsitzender oder nur einen „Privatmann" betrifft, klar zu trennen. Es liegt in der Natur des politischen Spitzenamts, daß tatsächlich alle Korrespondenz mit Ausnahme familiärer 275
Diese können sie auch im Organstreitverfahren antragsbefugt machen. BVerfGE 45, 1 (28); 67, 100 (127); Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rz 7. 276 A.a.O. BT-Drs. 10/3072, S. 80/104 (BT-Dokumentation S. 264). 277 Blasius, Akten, Akten, Akten. Anmerkungen zum Hirsch-Bericht, FAZ, Samstag 8. Juli 2000, Nr. 156/S. 11.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Schreiben etc. von der öffentlichen Amtsfunktion überlagert sein dürfte. Das ist Folge der demokratisch legitimierten, politischen Verantwortung und Macht. Im Zweifel spricht daher eine tatsächliche und rechtliche Vermutung für den öffentlichen Charakter aller Unterlagen, die sich in der Registratur des Amtes befinden. Insbesondere stellt sich die Frage, ob auch sogenannte „privatdienstliche" Unterlagen unter den Begriff der abzugebenden Unterlagen fallen. „Privatdienstliche" Unterlagen sind logisch unmöglich. Nach archivarischem Sprachgebrauch soll es sich um „privatdienstliche" Unterlagen 278 allerdings bei solchen Unterlagen handeln, die im dienstlichen Interesse angefertigt wurden, ohne die dienstliche, behördliche oder öffentliche Form zu wahren, etwa die Stellungnahme eines Behördenleiters zu Angelegenheiten, die in Zusammenhang mit seinem Amt stehen, aber auf Privatschriftbögen geschrieben sind 2 7 9 , oder bei Schreiben, die ein Amtträger bei Nichteinhaltung des Dienstweges direkt an den obersten Chef adressiert 280 . Nach der amtlichen Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 6 des Entwurfes eines B A r c h G 2 8 1 (dem späteren Abs. 8), sei eine ausdrückliche Vorschrift über privatdienstliche Aufzeichnungen von Beamten und Angestellten des Bundes nicht erforderlich, da § 61 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes und § 9 Abs. 3 und 4 BAT archivfachlichen Gesichtspunkten deswegen voll Rechnung trügen, weil der Dienstherr privatdienstliche Aufzeichnungen von Beamten jederzeit an sich ziehen könne. Damit steht eindeutig fest, daß privatdienstliche Aufzeichnungen zu den abzugebenden Unterlagen einer Stelle gehören, da sie bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben angefallen sind. Dies gilt v.a. für die Aufzeichnungen von Spitzenbeamten und politischen Verantwortungsträgern. 2. Vergleich zu Frankreich (versement des papiers lies ä Vexercice d'une fonction politique ) Nach Art. 3 No. 3) des französischen Archivgesetzes 282 zählen ausdrücklich auch die „minutes et repertoires des officiers publics ou ministeriels" (Urschriften und Verzeichnisse öffentlich Bediensteter) zu den öffentlich zu 278 Präsident des Bundesarchivs Booms in BT-Drs. 10/3072, S. 80/105 (BT-Dokumentation S. 265). 279 So beispielsweise die Sachverständigenberichte zur Anhörung, die auf Privatpapier angefertigt wurde. 280 Blasius, Akten, Akten, Akten. Anmerkungen zum Hirsch-Bericht, FAZ, Samstag 8. Juli 2000, Nr. 156/S. 11. 281 BT-Drs. 371/84 S. 10 (BT-Dokumentation S. 17 f.). 282 Loi no. 97-18 du 3 janvier 1979, Journal officiel, Lois et decrets, 5 janvier 1979, p. 43-46.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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archivierenden Unterlagen. Dazu zählen nach dem Wortlaut auch die privatdienstlichen Unterlagen, die Funktionsträger bei Gelegenheit oder aus Anlaß der Amtsausübung gefertigt haben. Für politische Funktionsträger gilt seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Verpflichtung ihre Unterlagen, die sie im Laufe ihrer Amtsausübung im Zusammenhang mit der politischen Funktion erstellt und gesammelt haben an das zuständige Archiv abzugeben (obligation du versement des papiers). Diese stehen grundsätzlich nicht im Privateigentum, sondern gehören zum domaine public. Die Abgabeverpflichtung war bereits in einem kaiserlichen Dekret vom 20. Februar 1809 geregelt und wurde durch das Decret No. 791038 vom 03.12.1979 dem Archivgesetz und dem Gesetz über den Zugang zu den Verwaltungsunterlagen angepaßt 283 . Die Verpflichtung steht jedoch unter keiner Sanktion und ist insbesondere nicht durch die Archive durchsetzbar. Ein Problem stellt auch die Abgrenzung von Unterlagen administrativen, politischen und privaten Charakters dar, die jeweils unterschiedlichen (Nutzungs-)Regimen unterfallen 284 . 3. Sicherheitsbehörden:
MAD, BND, BKA etc.
Adressaten der Anbietungs- und Abgabepflicht sind alle „Stellen" des Bundes bzw. der Länder, die Aufgaben öffentlicher Verwaltung und Rechtssprechung wahrnehmen. Maßgeblich ist nicht die öffentlichrechtliche Organisationsform der Stelle und nicht die Rechtsform der konkret in einer Akte betroffenen Handlung, sondern die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben 2 8 5 . Das ergibt sich aus dem einerseits weitestmöglichen Wortlaut der „Stelle" des Bundes oder des Landes und andererseits aus dem Zweck der Archivge-
283
Laveissiere, Le regime juridique des documents lies ä l'exercice d'une fonction politique: lacune ou laxisme? La Gazette des Archives, 130-131 (1985), p. 241 ff.; ders., Le Statut des archives en France, Revue administrative 1980, p. 253 ff. 255. V. a. juridiction Paris, 11 decembre 1865, D. 1865, II, 221 „papiers directement lies ä l'accomplissement d'une fonction publique". 284 Laveissiere p. 256. 285 Oldenhage schlägt die Heranziehung von § 1 Abs. 1, Abs. 4 V w V f G vor („Behörde im Sinne dieses Gesetzes ist jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt"), in: Archive im Konflikt zwischen Forschungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz, S. 11, 15. Dies kann nur in Bezug auf den materiell-funktionalen Behördenbegriff des § 1 Abs. 4 V w V f G gelten, nicht für die Einschränkung auf spezifisch öffentlich-rechtliche Handlungsformen, die für die Anbietungs- und Abgabepflicht keine Rolle spielen kann. Denn gerade auch fiskalische Tätigkeit einer öffentlichen Stelle kann für die wissenschaftliche Dokumentation von erheblichem Interesse sein. Ausgenommen von der Anbietungs- und Abgabepflicht sind nur die ausdrücklich im Gesetz genannten öffentlichen Unternehmen.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
setze, den Archiven eine grundsätzlich unbeschränkte Dokumentation zu ermöglichen 2 8 6 . Die Anbletungspflicht trifft alle Stellen unabhängig von ihrer Verwaltungsfunktion, also auch die Sicherheitsbehörden, denen die Wahrung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland obliegt (vgl. nur § 1 Abs. 1 BArchG; auf Bundesebene z.B. auch M A D , BND und B K A und die entsprechenden Länderstellen 287 ). Die Archivgesetze enthalten mit den besonderen außerordentlichen Fristverlängerungsmöglichkeiten und dem Instrument der Nutzungsversagung in Fällen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in Abhängigkeit von der Person des Nutzers und des Nutzungszwecks ausreichende Sicherheitsmaßnahmen für die Archive 2 8 8 . Dies entspricht der weiten Fassung des Begriffs öffentlicher Archive nach Art. 3 No. 1) und 2) des französischen Archivgesetzes. Danach ist ebenfalls die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und nicht die Rechtsform des Trägers entscheidend für die öffentliche Archivierung. 4. Beamtenrechtliche Bedeutung der Archivierungspflicht. Problem der eigenmächtigen Archivierung des weisungsgebundenen Beamten Bei der Ermessensausübung nach § 61 Abs. 3 BBG sind Interessen archivischer Dokumentation und der historischen Forschung zu berücksichtigen. Im Ergebnis läuft dies auf eine Ermessensreduzierung auf Null und einen Anspruch der Archivverwaltungen gegenüber dem jeweiligen Dienstherrn hinaus, archivwürdige Unterlagen beim Beamten herauszufordern und dem Archiv zur Bewertung und ggfs. zur Übernahme zu übergeben 289 . 286 In diesem Sinne Uhl S. 61, 85 f.; Oldenhage a.a.O.; unzutreffend Nadler, der „rein fiskalische Tätigkeiten" und Stellen „ohne öffentliche Befugnisse" ohne Beachtung des Wortlauts und der Gestzessystematik von der Anbletungspflicht ausnehmen will. Nadler S. 22. 287 Gesetze über die Nachrichtendienste § 7 M A D G , § 5 BNDG, § 12 BVerfSchG, die durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Datenschutzes vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954) eingeführt wurden. Dazu auch Uhl S. 96 Fn 62. Die Übergabe von Aufzeichnungen von Kommissionsmitgliedern der Parlamentarischen Kontrollkommission für die nachrichtendienstliche Tätigkeit des Bundes (Gesetz über die nachrichtendienstliche Tätigkeit des Bundes, § § 5 Abs. 1 Sätze 1, 2, 6, geändert durch G. v. 27.5.1992 BGBl. I S. 997) an das Parlamentsarchiv verstößt daher nicht gegen Verschwiegenheitspflicht des § 5 Abs. 1 S. 2 BNDG. 288 Ebenso Oldenhage, Bemerkungen zum BArchG, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477, 480; Nadler S. 20 f. 289 Die Entscheidung darüber, ob der Herausgabeanspruch geltend gemacht wird, trifft allein der Dienstvorgesetzte nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Der öffentlich rechtliche Herausgabeanspruch des Staates besteht - unabhängig von der Eigentumslage an den Unterlagen - im ausschließlichen „öffentlichen Interesse der
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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In umgekehrter Richtung fragt sich, ob der einzelne Beamte oder Richter aufgrund der archivrechtlichen Regelungen berechtigt ist, eigene Unterlagen, v.a. „privatdienstliche" Aufzeichnungen, die er für sich persönlich, z.B. für eine Veröffentlichung oder ein Urteil gemacht hat und die dem Grundsatz nach unter seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit fallen, dem zuständigen öffentlichen Archiv ohne oder u.U. gegen den Willen seines Dienstherrn zu überlassen. Es stellt sich die Frage, ob die beamtenrechtliche Pflicht, dienstliche Unterlagen abzugeben, durch Abgabe an das jeweilige Staatsarchiv erfüllt werden kann. Dies ist zumindest dann möglich, wenn die Aufzeichnungen offensichtlich nicht mehr zur Erfüllung aktueller Verwaltungsaufgaben benötigt werden. In einem vor Inkrafttreten des BArchG und des Landesarchivgesetzes entschiedenen Fall hat das V G Berlin bezüglich des privatdienstlich beurteilten Archivs eines ausscheidenden OLG/KG-Richters die Zulässigkeit und befreiende Wirkung einer solchen Archivierung bejaht 2 9 0 . Der Beamte könnte einem durch Leistungsklage gemäß §§172 BBG, 126 BRRG geltend gemachten Herausgabeanspruch des Dienstherrn die Abgabe an das Archiv als Erfüllungssurrogat entgegenhalten und so über einen früheren Anbietungszeitpunkt gegenüber dem Archiv an seinem Dienstherrn vorbei disponieren. Dagegen kann nicht angeführt werden, daß die Amtsverschwiegenheitsverpflichtung 291 des Beamten oder Richters deswegen nicht aufgehoben sein könne, weil er selbst nicht Adressat der archivgesetzlichen Abgabepflicht ist. Denn umgekehrt ist die Behörde zwar Adressatin der Abgabepflicht, aber nicht der gesetzlichen Verpflichtung zur Verschwiegenheit, die den einzelnen Amtsträger gegenüber dem Dienstherrn trifft. Die Verschwiegenheitspflicht ist daher ungeeignet die an die Trägerkörperschaft gerichtete Abgabeverpflichtung an das Archiv zu beschränken 292 . Das AmtsgeheimAllgemeinheit an der Geheimhaltung dienstlicher Vorgänge" (Plog/Wiedow u.a., Kommentar zum BBG, § 61 Rz 13). 290 YQ B e r i i n Az: V G 7 A 44/86 („Privatarchiv des Kammerrichters"); unveröffentlichtes Urteil des aus der Zeit vor Inkrafttreten des LArchG Berlin. Die Anbletungspflicht betrifft insbesondere auch die Obersten Bundesgerichte und die Mitglieder der Spruchkörper. Bis zum Inkrafttreten des BArchG hatten Bundesrichter es mitunter abgelehnt ihre Voten dem Bundesarchiv anzubieten und zu übergeben. Buchmann, Neue rechtliche Grundlagen des Archiv wesens. Erfahrungen mit dem BArchG, Der Archivar 43 (1990) Sp. 39 f. 291 Die Verpflichtung der Amtsverschwiegenheit dient dem Schutz der dienstlichen Belange der Behörde, dem Amtsgeheimnis sowie in zweiter Linie dem Schutz des von Amtshandlungen betroffenen Privaten, dem Privatgeheimnis gegenüber dem Informationsanspruch der Presse und einzelner Bürger. 292 Ebenso Freys, Das Recht der Nutzung und des Unterhalts von Archiven, S. 38, Fußn. 86; in Übernahme von Löfflers Ansicht zu § 4 LPG und Gleichsetzung der Begriffe im BArchG und in den LPGen: keinerlei Auswirkungen auf die Zulässig-
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
nis, dessen Schutz die Verschwiegenheitspflicht dient, wird durch eine Archivierung offenbar nicht tangiert. Die Dienstpflicht zur Verschwiegenheit steht einer eigenmächtigen Anbietung und Übergabe durch den Beamten an das Archiv als solche nicht entgegen. Gegen ein Recht auf eigenverantwortliche Archivierung durch den Beamten spricht aber möglicherweise die o. g. Gesetzesbegründung zum BArchG: auf eine ausdrückliche Vorschrift über „privatdienstliche" Aufzeichnungen von Beamten und Angestellten des Bundes werde deswegen verzichtet, weil eine solche „in Anbetracht der Regelungen der § § 6 1 Abs. 3 BBG und 9 Abs. 3 B A T und der entsprechenden Landesgesetze nicht erforderlich" sei. Diese Vorschriften trügen „archivfachlichen Gesichtspunkten in vollem Umfang Rechnung" 2 9 3 . Daraus folgt allerdings nicht, daß das Bestimmungsrecht des Dienstherrn über die Unterlagen und die Aufrechterhaltung der Verschwiegenheit durch den Beamten gegenüber archivgesetzlichen Bestimmungen stets prinzipiell Vorrang haben sollte. Denn die Kompetenz des Dienstherrn, darüber zu entscheiden, ob die betroffenen Unterlagen noch für die laufende Verwaltung benötigt werden, wird bei privatdienstlichen Unterlagen an sich nicht verletzt, da diese der Behörde vorher gerade nicht uneingeschränkt zur Verfügung standen. Auch die eigenmächtige Abgabe von privatdienstlichen Unterlagen durch den Spitzenbeamten oder Staatssekretärs oder obersten Richters - an das sachlich und funktional zuständige öffentliche Archiv - kann daher grundsätzlich seiner dienstrechtlichen Abgabepflicht mit befreiender Wirkung entgegengehalten werden. Soweit bei richterlichen Unterlagen die richterliche Unabhängigkeit berührt ist und nicht die Justizverwaltung, gilt dies erst recht für Unterlagen eines ausgeschiedenen Richters. 5. Berechtigte Stellen. § 2 Abs. 3 BArchG und Landesarchivgesetze „Anspruchs"-berechtigt für die Übergabe des Archivguts ist das zuständige Archiv. Die Zuständigkeit bestimmt sich nach Trägerschaft und organisatorischer Eingliederung der abgebenden Stelle. § 2 Abs. 1 i . V . m . Abs. 3 BArchG eröffnet die Möglichkeit, Unterlagen von nachgeordneten Stellen des Bundes mit territorial begrenzter Zuständigkeit an das jeweilige Landesarchiv zu übergeben. Dieses wird dadurch aber keit einer Abgabe von Unterlagen an Archive, „da Normadressaten nur die einzelnen Beamten sind, nicht aber die Behörde als Ganzes, die als solche nicht der Schweigepflicht unterliegt." Uhl S. 82 Fußn. 32. 293 BT-Drs. 371/84 S. 10 zu Abs. 6 des § 2 des Regierungsentwurfs.
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nicht zuständiges Archiv. In jedem Fall sollte das zuständige Bundesministerium die Möglichkeit haben, entsprechende Unterlagen - auch nachträglich - ins Bundesarchiv überführen zu lassen 294 . Daher bewirkt eine Übergabe derartiger Bundesunterlagen an ein Landesarchiv keinen Eigentumsübergang 295 . Voraussetzung ist die Zustimmung der zuständigen obersten Bundesbehörde und weiter, daß „die Wahrung schutzwürdiger Belange Dritter im Sinne des Absatzes 4 und der § § 4 und 5 durch Landesgesetz sichergestellt ist" (§ 2 Abs. 3 S. 1 2. Hs. BArchG). Sofern nicht wie nach den Landesarchivgesetzen in Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt dieselben Sperrfristen wie nach dem BArchG gelten 2 9 6 , ordnet die Mehrzahl der Landesarchivgesetze die entsprechende Geltung der §§ 2 Abs. 4 S. 2, §§ 4 und 5 Abs. 1 bis 7 und 9 BArchG für Bundesunterlagen ausdrücklich a n 2 9 7 . Das ist allerdings nicht der Fall für einfaches personenbezogenes Archivgut in Bayern, da Art. 10 Abs. 3 S. 5 LArchG Bayern lediglich für Unterlagen nach §§8, 10, 11 BArchG (Geheimhai tungs vor Schriften) die Geltung der Schutzfristen des § 5 BArchG anordnet. § 5 Abs. 3 S. 2 2. Alt. LArchG Niedersachsen bestimmt sogar umgekehrt die Geltung der wesentlich kürzeren landesgesetzlichen Sperrfristen für Archivgut nach § 2 Abs. 3 und §§8, 11 BArchG; lediglich für Unterlagen, die dem Sozialgeheimnis unterfallen (§ 10 BArchG), soll das Nutzungsregime des § 5 BArchG greifen. § 6 Abs. 4 LArchG Berlin regelt zwar, daß das Landesarchiv Berlin Bundesunterlagen gemäß § 2 Abs. 3 BArchG übernehmen „darf', ohne aber eine besondere Nutzungsanordnung zu treffen. Aus der amtlichen Begrün-
294 Amtliche Begründung der Bundesregierung zu § 2 Abs. 2 BArchG, BT-Drs. 11/498, S. 9, 10; Nadler S. 32, Fn 261; Oldenhage, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477, 482; Richter, Zur Änderung des baden-württembergischen Archivgesetzes vom 12. März 1990, Der Archivar 43 (1990) Sp. 566. 295 Anderes folgt auch nicht aus § 3 LArchG Hessen („gelten als Archivgut des Landes, soweit bundesrechtlich nichts anderes bestimmt ist"); im Ergebnis ebenso Oldenhage S. 11, 17. 296 § 3 Abs. 3 LArchG Rheinland-Pfalz, § 11 Abs. 2 und 3 LArchG Saarland, § 10 Abs. 3 LArchG Sachsen-Anhalt. 297 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6a Abs. 1 (Abs. 2); Brandenburg § 12 Abs. 1 (Abs. 2); Bremen § 11 Abs. 1 (Abs. 2); Hamburg § 5 Abs. 6 (Abs. 2 Nr. 4); Hessen § 3; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 5 (Abs. 6); Nordrhein-Westfalen § 12 Abs. 1 (Abs. 2); Sachsen § 4 Abs. 3 i . V . m . § 10 Abs. 5; Schleswig-Holstein § 12 Abs. 1 (Abs. 2); Thüringen § 3 Abs. 3 (§ 18 Abs. 2). In Klammern die Komplementärvorschrift für Unterlagen, die Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung i.S.v. §§ 8, 10, 11 BArchG unterliegen.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
dung ergibt sich, daß der Landesgesetzgeber in Berlin dies nicht für erforderlich gehalten h a t 2 9 8 . Diese Auffassung ist zutreffend, da § 2 Abs. 3 BArchG im Gegensatz zu § 10 BArchG gerade nicht die ausdrückliche Fortgeltungsanordnung durch das Landesarchivgesetz erfordert, sondern allein die „materielle" Sicherstellung schutzwürdiger Belange gebietet. Die Nutzungsrestriktion bzw. Abschottung und Sperrung nach den Landesgesetzen ist daher nach systematischer Gesetzesauslegung unabhängig vom Gesetzeswortlaut des BArchG. I I . Übernahmeverfahren. Zeitliche Vorgaben für die Anbletungspflicht 1. Optionsrecht der Archive,
Übernahmefristen
Mit der Anbletungspflicht korrespondiert ein einem befristeten Optionsrecht 2 9 9 vergleichbares Zugriffsrecht der Archive. Die „Option" muß - abhängig vom Unterlagentyp - binnen einer Entscheidungs- bzw. Übernahmefrist von 4 Monaten 3 0 0 , 6 Monaten 3 0 1 oder 1 Jahr 3 0 2 nach der ordnungsgemäßen, vollständigen Anbietung durch die abgebende Stelle ausgeübt werden, andernfalls fällt die Vernichtungskompetenz und -last an die abgebende Stelle. Dem Zweck der Fristen entspricht es, daß die abgebende Stelle beim Schweigen des zuständigen Archivs zur eigenverantwortlichen Vernichtung ermächtigt sein soll. Teilweise wird dies ausdrücklich bestimmt 3 0 3 , muß aber auch für die Fälle gelten, in denen nur das Erlöschen der Anbietungs- oder Ablieferungspflicht angeordnet w i r d 3 0 4 . Eine Verein298
Abgeordnetenhaus von Berlin Drs. 12/2302 S. 5, zu § 5 Abs. 4 des Entwurfs. Zum Begriff der Option vgl. Erman, BGB, 9. A. Rz 13 vor § 158 m.w.N. 300 Die mit 4 Monaten kürzeste Übernahmefrist setzt § 2 Abs., 5 S. 3 BArchG; Kritik von Buchmann, Der Archivar 43 (1990) Sp. 37, 40. 301 6 Monate LArchGe in: Bayern Art. 6 Abs. 4; Brandenburg § 5 Abs. 3 S. 1; Bremen § 3 Abs. 5; Hamburg § 3 Abs. 5 S. 2; Nordrhein-Westfalen § 3 Abs. 5; Rheinland-Pfalz § 8 Abs. 1; Saarland § 9 Abs. 1; Sachsen § 5 Abs. 4. 302 § 3 Abs. 3 S. 2 LArchG Baden-Württemberg: „Wenn das Staatsarchiv die Übernahme ablehnt oder nicht innerhalb eines Jahres über die Übernahme entschieden hat, sind die Unterlagen zu vernichten, wenn kein Grund zu der Annahme besteht, daß durch die Vernichtung schutzwürdige Belange des Betroffenen beeinträchtigt werden. Vorher dürfen Unterlagen nur mit Zustimmung des Staatsarchivs vernichtet werden." Weitere LArchGe in: Berlin § 6 Abs. 1 S. 2; Hessen § 10 Abs. 2 S. 1; Sachsen-Anhalt § 9 Abs. 5; Schleswig-Holstein § 7 Abs. 2; Thüringen § 11 Abs. 3. 303 LArchGe in: Baden-Württemberg § 3 Abs. 2 S. 3; Bayern Art. 6 Abs. 4 S. 2; Bremen § 3 Abs. 5; Hamburg § 3 Abs. 5 S. 2; Rheinland-Pfalz § 8 Abs. 1; Sachsen § 5 Abs. 4. 304 LArchGe in: Bremen § 3 Abs. 5; Nordrhein-Westfalen § 3 Abs. 5. 299
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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heitlichung der Übernahmefristen auf 1 Jahr erscheint sinnvoll und wünschenswert. D i e Dauer von 4 Monaten ist deutlich zu kurz und schränkt angesichts der personellen Ausstattung der A r c h i v e die Bewertungskompetenz der Archivare unzulässig ein. a) Massenunterlagen Selbst bei Massenunterlagen und solchen „offensichtlich geringer" Bedeutung liegt die Letztentscheidungs- und Bewertungskompetenz bei den Archivverwaltungen. N a c h dem ersten E n t w u r f der Bundesregierung war vorgesehen, solche „Unterlagen v o n offensichtlich geringer Bedeutung" v o n der Anbletungspflicht a u s z u n e h m e n 3 0 5 . D e m widersprach der Bundesrat i n seiner Stellungnahme m i t dem H i n w e i s , daß die Vertreter der Ursprungsbehörde nicht über die Frage der „offensichtlich" mangelnden A r c h i v w ü r d i g keit entscheiden könnten, da ihnen die differenzierten Kriterien und Bewertungsgrundsätze der Archivare nicht geläufig s e i e n 3 0 6 . U m der Papier- und Datenflut bei gleichzeitiger W a h r u n g der historischen Bewertungskompetenz Herr zu werden, sieht die M e h r z a h l der Archivgesetze normierte Übernahme- und Bewertungsverfahren v o r 3 0 7 . 305
§ 2 Abs. 5 Reg.entwurf, BT-Drs. 155/87 S. 1-14 (5). „Der Archivar hat nämlich nicht nur solche Akten im Auge, die die allgemeine politische Landesgeschichte betreffen, sondern in gleichem Maße die Aussagekraft der Akte für Fragen der Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Kirchen und Schulgeschichte, der Kunstund Literaturgeschichte." Bundesratsstellungnahme, BT-Drs. 155/87 S. 5. 307 füj. bestimmte nach allgemeinen Merkmalen bestimmbare Gruppen geringen „Archivwerts" können durch Vertrag zwischen dem Archiv und der abgebenden Stelle Ausnahmen von der Anbletungspflicht vereinbart werden. Gleichförmige Unterlagen und Massenschriftgut sowie Unterlagen von „offensichtlich geringer historischer Bedeutung" können nach den Archivgesetzen, mit Ausnahmen der Regelungen in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Saarland und Sachsen-Anhalt abstraktgenerell, durch vorherige Vereinbarung mit den abgebenden Stellen von der Anbletungspflicht ausgenommen werden. Diese könnten dann sofort von der abgebenden Stelle vernichtet werden. Aus der Formulierung - insbesondere von § 2 Abs. 6 BArchG („Unterlagen, die nach Auffassung der in Abs. 1 genannten Stellen und des zuständigen Archivs von offensichtlich geringer Bedeutung sind, brauchen nicht abgeboten zu werden.") ergibt sich, daß nach Auffassung beider Beteiligter, der abgebenden Stelle und des übernehmenden Bundesarchivs, eine offensichtlich geringe Bedeutung vorliegen muß. Die Norm dient so der Sicherung der Bewertungskompetenz der Archivare. Dabei müssen die Unterlagen sachlogisch nach generell abstrakten Merkmalen im voraus bestimmbar („normierte Übernahmeverfahren") sein. Kriterien der mangelnden Bedeutung müssen im beiderseitigen Einvernehmen mit der anbietenden Stelle festgelegt werden (Unterlagen, bei denen von vornherein feststeht, daß sie unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt historische Bedeutung erlangen können). Bund: § 2 Abs. 5 S. 1; Bayern Art. 6 Abs. 2; Berlin: § 4 Abs. 2; Brandenburg Abschnitt 2 § 4 Abs. 5 Bremen § 3 Abs. 3 S. 1; Hamburg § 3 Abs. 4; 306
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
b) Normierte Übernahmeverfahren Auf Seiten der Sachverwaltung zwingt die Masse anfallenden Schriftguts dazu, die Aussonderung sachgerecht zu planen. Die Aussonderung als Vorstufe der Archivierung kann dabei nur in Zusammenarbeit zwischen der aktenführenden Stelle und dem Archiv entschieden werden. Daher benötigt das Archiv eine Kenntnis der Aktenpläne und ein Recht auf Einsicht in die Akten, deren Aussonderung erwogen wird. Die Archivgesetze entscheiden sich für ein Kooperationsmodell nach dem Vorbild des § 1 Abs. 9 BArchG, der bestimmt, daß das Bundesarchiv die abgebenden Stellen „bei der Verwaltung ihrer Unterlagen berät" 3 0 8 . Vornehmliches Ziel des Beratungsauftrages ist es, „die fachlich-methodische Einheit von Registratur und A r c h i v " 3 0 9 , die in Deutschland im 19. Jahrhundert infolge des Funktionswandels der Archive verlorenging, dadurch zu überbrücken, daß bereits in der laufenden Registratur archivkundliche Gesichtspunkte zu beachten sind. Nach dem französischem Archivgesetz haben die abgebenden Stellen in Übereinstimmung mit der Archivverwaltung die Unterlagenarten und Dokumente, die zur Vernichtung freigegeben werden können und die Bedingungen ihrer Vernichtung abschließend zu regeln 3 1 0 . Die Bewertungskompetenz der Archivare ist also auch hier dem Grundsatz nach gewahrt. 2. 30jährige Regelfrist für die Vermutung der Aufgahenerledigung Im Ergebnis gehen alle Archivgesetze davon aus, daß nach einer 30jährigen Frist, die mit der „Entstehung", „letzten inhaltlichen Bearbeitung" oder „Schließung" der Unterlagen beginnt, Unterlagen grundsätzlich ins Archiv gelangen und zur archivarischen Nutzung bereit stehen sollen 3 1 1 .
Hessen Vierter Abschnitt Archivisches Verfahren § 12 Normierte Aus wähl verfahren; Nordrhein-Westfalen § 3 Abs. 4; Rheinland-Pfalz § 7 Abs. 3; Sachsen § 5 Abs. 8; Schleswig-Holstein § 6 Abs. 4; Thüringen § 11 Abs. 4, § 13 Normierte Bewertungsverfahren. 308 § 2 Abs. 2 S. 2 LArchG Baden-Württemberg; Bayern Art. 4 Abs. 5; Berlin § 2 Abs. 4. 309 So auch die amtliche Begründung der Bundesregierung zum Entwurf Drs. 371/84 S. 10 (BT-Dokumentation S. 17). 310 Art. 4 alinea 2, loi 79-18, JO du 5 janvier 1979, p. 43. 311 § 3 Abs. 1 LArchG Nordrhein-Westfalen sieht eine Höchstfrist von 60 Jahren vor; dafür sind allerdings die Stellen des Landes verpflichtet, alle Unterlagen „unverzüglich" nach Aufgabenerledigung anzubieten. Komplementär dazu die Definition des Zwischenarchivguts als „die von einem staatlichen Archiv zur vorläufigen Aufbewahrung übernommenen Unterlagen, aus denen die archivwürdigen Stücke noch nicht ausgewählt worden sind", in § 2 Abs. 4 LArchG Nordrhein-Westfalen.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Nach Ablauf dieser Frist gehen die Archivgesetze übereinstimmend von einer von den abgebenden Stellen zu widerlegenden Vermutung für die Erledigung der behördlichen Aufgaben und Entbehrlichkeit der Unterlagen für den Verwaltungsvollzug aus. In den Ländern wird versucht, dieses Ergebnis regelungstechnisch durch Anbietungs- und Übergabefristen zu bewältigen. Nachdem eine ursprünglich auch für das BArchG vorgesehene Anbietungsfrist v.a. an den Sonderinteressen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes gescheitert w a r 3 1 2 , wird allerdings § 5 Abs. 8 S. 1 BArchG eine vergleichbare Wirkung auf die abgebenden Stellen haben 3 1 3 . Unterschiede zwischen den Länderregelungen bestehen lediglich im Detail. Die Landesarchivgesetze in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Sachsen statuieren eine für die abgebenden Stellen verbindliche Höchstfrist von 30 Jahren 314 . Zu demselben Ergebnis führen auch die Archivgesetze in Brandenburg, Saarland, Schleswig-Holstein 315 . In Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Thüringen wird die 30 Jahresfrist als widerlegliche Regelvermutung für die Aufgabenerledigung gefaßt 316 . Ziffer 6.3. der bayrischen Aussonderungsbekanntmachung
Vgl. dazu Schmitz, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen. Einführung und Textabdruck, Der Archivar 43 (1990) Sp. 227 ff. (234); Uhl S. 103. 312 Uhl S. 101 Fn 70; Wyduckel, DVB1 1989 S. 329; Polley, Das Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes, NJW 1988 S. 2026 ff. 313 § 5 Abs. 8 BArchG bestimmt, daß bei der Benutzung von Unterlagen, die älter als 30 Jahre sind und noch in der Verfügungsgewalt der in § 2 Abs. 1 bezeichneten Stellen unterliegen, die Absätze 1 bis 7 (Nutzungsanspruch) entsprechend anzuwenden sind. S.u. 6. Kap. C. V. 4. 314 § 3 Abs. 1 Sätze 1 und 2 LArchG Baden-Württemberg und § 5 Abs. 1 S. 2 LArchG Sachsen lauten: „Die Behörden, Gerichte und sonstigen Stellen des Landes bieten alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr benötigen, dem Staatsarchiv an. Unabhängig davon (d.h. von der Aufgabenerfüllung, B. M.) sind alle Unterlagen jedoch spätestens 30 Jahre nach ihrer Entstehung dem Staatsarchiv anzubieten, sofern durch Rechtsvorschriften oder durch Verwaltungsvorschriften der obersten Landesbehörden nicht längere Aufbewahrungsfristen vorgesehen sind." Ebenso § 6 Abs. 1 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. Eine solche Verwaltungsvorschrift muß sich an die archivgesetzliche Vorgabe halten, daß die betroffenen Unterlagen für die Aufgabenerfüllung der Stelle tatsächlich erforderlich sein müssen. Das scheint Uhl zu übersehen (S. 102, 105); ebenso Nadler S. 89 f. (zum BArchG). § 3 Abs. 1 S. 3 LArchG Niedersachsen; § 9 Abs. 1 S. 1 LArchG Sachsen-Anhalt „Spätestens 30 Jahren nach der letzten inhaltlichen Bearbeitung ist jegliches Schriftgut zur Übernahme anzubieten." 315 § 4 Abs. 1 S. 2 LArchG Brandenburg; § 8 Abs. 1 S. 1 2. Hs. LArchG Saarland; § 6 Abs. 1 S. 2 LArchG Schleswig-Holstein: „Unterlagen sind spätestens 30 Jahre nach ihrer Entstehung anzubieten." 316 Art. 6 Abs. 1 S. 2 LArchG Bayern „Dies (die Erfüllung der Aufgaben) ist in aller Regel 30 Jahre nach der Entstehung anzunehmen." Vgl. aber auch Art. 7
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
bestimmt beispielsweise, daß die Frist nur aufgrund einer konkreten Einzelfallprüfung überschritten werden darf. Dabei ist eine Auflistung der betroffenen Unterlagen dem Staatsarchiv zu übergeben 317 . Das LArchG Bremen verpflichtet die abgebenden Stellen zur einer regelmäßigen Prüfung, ob Unterlagen zur Übernahme durch das Archiv angeboten werden können 3 1 8 . 3. Fristbeginn Die Bezugnahme auf den Entstehungszeitpunkt einer Unterlage birgt wegen der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Verwaltungsaufgaben 319 offensichtlich erhebliche Unwägbarkeiten, da nicht klar ist, nach welchen Kriterien eine Unterlageneinheit - für die einheitliche Bestimmung eines Zeitpunktes - zu bestimmen ist, und ob eine Teilung bezüglich einzelner Dokumente in Betracht kommt. Der Entstehungszeitpunkt hängt zunächst wesentlich von der Art der Aktenführung ab. Bei Sammelakten 320 wird dies anders aussehen als bei konsequenter Einzelfallaktenbildung 321 . Das Abstellen auf den Begriff der „Entstehung" sollte die Benutzung von Sammelakten, die stets fortgeschrieben und nicht abgeschlossen werden, für die jeweiligen Teile gleitend ermöglichen 322 . Bei laufend erneuerten Karteien oder registerähnlichen, „fluktuierenden" Datenbeständen, die nicht förmlich abgeschlossen werden, ist an die Anordnung einer Stichtagsabgabe für „Abschichtungsbestände" zu denken, wie dies § 3 Abs. 2 LArchG Niedersachsen für „automatisierte Dateien" vorsieht 3 2 3 .
Abs. 3 S. 2 LArchG Bayern zur Übernahme im Fall von Aufbewahrungsfristen über 30 Jahren; § 4 Abs. 1 S. 1 LArchG Berlin; nach § 3 Abs. 1 LArchG Hamburg „sollen" Unterlagen spätestens 30 Jahre nach ihrer Entstehung ausgesondert und angeboten werden, „soweit die Unterlagen nicht noch nachweislich (d.h. gegenüber dem Staatsarchiv, B. M.) im Geschäftsgang erforderlich" sind; § 10 Abs. 1 S. 1 LArchG Hessen; § 7 Abs. 1 Rheinland-Pfalz; § 11 Abs. 1 S. 2 LArchG Thüringen: „Dies sollte im Regelfall 30 Jahre nach Schließung der Unterlagen erfolgen." 317 Uhl S. 102 Fn 72. 318 § 3 Abs. 1 S. 3 LArchG Bremen. 319 Stellungnahme von Booms zur Anfrage des MdB Ströbele, in BT-Dokumentation S. 122; gegen die Statuierung fester Aussonderungsfristen auch Thieme, Verwaltungslehre, S. 461 Rz 700. 320 Zur Sammelaktenbildung neigen vor allem die Bauverwaltung und die klassischen Ministerien. Dazu v.a. die Hinweise zur „aussonderungsfreundlichen" Aktenbildung in den „Empfehlungen für die Schriftgutverwaltung", hrsg. vom Präsidenten des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragten für die Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung und vom Bundesminister des Inneren, 2. A., 1989. 321 Uhl S. 104. 322 Amtl. Begründung Bayern LT-Drs. 11/8185 S. 14 Anm. 10.3.1. 323 Vorschlag von Freys S. 32.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Die Frage, ob der letzte Bearbeitervermerk für den Fristbeginn oder ob der letzte materielle Zuwachs durch ein Einzelschriftstück maßgeblich ist, wird durch die Landesarchivgesetze unterschiedlich beantwortet: Nach dem LArchG Hamburg gilt eine Unterlage als „entstanden", wenn „ihr ... weder weitere Schriftstücke noch Bearbeitungsvermerke hinzugefügt werden" 3 2 4 . Auch in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt wird von der „letzten inhaltlichen Bearbeitung" ausgegangen 3 2 5 , in Thüringen und Rheinland-Pfalz förmlich von der „Schließung der Unterlagen" 3 2 6 bzw. dem „Abschluß" bei Verfahrens- und Personalakten 327 . Diese Sichtweise findet sich auch in anderen amtlichen Begründungen 328 . Danach könnte ein bloßer Bearbeitervermerk oder nur Wiedervorlagevermerk die Frist erheblich verlängern. Anders ist die Begründung des LArchG Bremen zu verstehen, derzufolge „bei einer Mehrzahl von Unterlagen, die untrennbar vereinigt sind (Akten), für den Fristbeginn grundsätzlich vom Zeitpunkt der Entstehung der jüngsten Unterlage" zu rechnen sei 3 2 9 . Die neue bayerische Aussonderungsbekanntmachung definiert in Übereinstimmung damit in Nr. 6.5: „Bei einer Mehrzahl von Einzelschriftstücken, die nach ihrem Inhalt untrennbar verbunden sind (z.B. Personalakten), entsteht die Unterlage erst mit dem jüngsten Einzelschriftstück" 330 . Das ist bei einem Bearbeitervermerk nicht anzunehmen, andererseits soll es auch nicht auf den Zeitpunkt der letzten inhaltlichen Entscheidung ankommen. 4. Bedeutung des § 5 Abs. 8 BArchG für die Durchsetzung der Anbletungspflicht § 5 Abs. 8 BArchG gewährt jedermann ein Zugangs- und Benutzungsrecht für Behördenschriftgut nach den Bestimmungen des BArchG 30 Jahre nach der Entstehung der jeweiligen Unterlagen jeder Stelle des Bundes. 324 Zu § 3 Abs. 1 LArchG Hamburg Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg Drs. 13/7111 S. 9. 325 Legaldefinition der „Entstehung" einer Unterlage in § 3 Abs. 5 LArchG Mecklenburg-Vorpommern; § 3 Abs. 1 S. 3 LArchG Niedersachsen. 326
§ 11 Abs. 1 S. 2 LArchG Thüringen. § 7 Abs. 1 S. 2 LArchG Rheinland-Pfalz. 328 Begründungen der Bayrischen Staatsregierung zu Art. 6 Abs. 1 LT-Drs. 11/ 8185; der sächsischen Staatsregierung zu § 5, LT-Drs. 1/2476, S. 32; in Hamburg zu § 3 in LT-Drs. 13/7111 S. 6; Nordrhein-Westfalen zu § 3 LT-Drs. 10/3372 S. 15; Schleswig-Holstein zu § 3 Abs. 5 LT-Drs. 12/1615 S. 20. Das LArchG SchleswigHolstein definiert in § 3 Abs. 5 den Begriff der Entstehung als den „Zeitpunkt der Vervollständigung einer Unterlage ..."; vgl. dazu auch Nadler S. 91 f. 329 Bürgerschafts-Drs. 12/1193 S. 18. 330 Zitiert nach Uhl a.a.O. 327
14 Manegold
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Dies dürfte im Ergebnis dazu führen, daß die abgabepflichtigen Stellen des Bundes im Interesse der eigenen Entlastung dem Bundesarchiv anbieten. Denn sie können gegenüber etwaigen Antragstellern die Erschließung und Bereitstellung nicht ebenso effektiv leisten wie das Bundesarchiv; zudem ist das Zugangsrecht nicht auf eine Auswahl archivwürdiger Unterlagen beschränkt, sondern bezieht sich grundsätzlich ausnahmslos auf alle Unterlagen. In der Begründung zum Entwurf der Bundesregierung heißt es dazu, daß es „insbesondere im Interesse der wissenschaftlichen Forschung unangemessen" sei, „das Recht auf Nutzung durch Dritte allein vom Aufbewahrungsort der Unterlagen abhängig zu machen" 3 3 1 . Diese müßten die Unterlagen auch bei der Ursprungsstelle benutzen können. I m BArchG findet sich also an gleichsam „versteckter" Stelle das bundesrechtliche Prinzip einer zumindest beschränkten Aktenöffentlichkeit. I I I . Rechtsnatur der Anbletungspflicht Die Rechtsnatur der Anbletungspflicht ist ungeklärt. Es stellt sich die Frage, ob mit der Anbletungspflicht ein Anspruch 3 3 2 , d.h. ein subjektives Recht des jeweiligen Archivs auf Übergabe korrespondiert, oder ob lediglich datenschutzrechtliche Ermächtigung gemeint ist und in der Folge rein objektive Organisationsnormen vorliegen 3 3 3 . 1. Kein subjektiv-öffentliches
Recht
Der Begriff des subjektiv öffentlichen Rechts ist auf Zivilpersonen zugeschnitten. Subjektiv-öffentliche Rechte richten sich grundsätzlich gegen den Staat, der nicht gleichzeitig ihr Träger sein kann. Ob staatlichen Stellen untereinander eigene subjektiv-öffentliche Rechte zustehen können, ist bereits rechtstheoretisch fraglich 3 3 4 . 331
Bundesrats-Drs. 371/84 S. 12 zu Abs. 7 des § 5 BArchG-Entwurfs. Richter spricht, ohne das Problem zu erörtern, von dem „den Archiven eingeräumten Anspruch auf daten-, Persönlichkeits- und geheimnisschutzrechtlich geschützte Unterlagen", in: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 237; Bannasch problematisiert die Rechtsnatur der Anbietungspflicht, in: Anbietung als archivgesetzliche Norm. Ein unbestimmter Rechtsbegriff, Sächsisches Archivblatt, Heft 2, 1993 S. 4 ff. 333 Objektives Organisationsrecht oder sekundäre „RechtsVerwirklichungsnorm", vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 439 f. 334 Forsthoff S. 452 f. „Die Behörde hat kein Recht auf Kompetenz." Die Zuweisung einer Kompetenz bedeutet in keiner Weise die Verleihung eines subjektiv öffentlichen Rechtes, sondern ist danach auf die institutionelle Sphäre beschränkt, der subjektive Rechte prinzipiell unbekannt sind. Diese bestehen nur zwischen Personen. Institutionen können als solche nicht Träger subjektiver Rechte sein, sondern 332
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Ein subjektiv-öffentliches Recht setzt Rechtsfähigkeit voraus. Nach herkömmlicher Auffassung sind die Archive nichtrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts 3 3 5 . Den Archiven fehlt mit der Rechtsfähigkeit die Fähigkeit, Träger eigener Rechte und Pflichten zu sein. Die fehlende Rechtspersönlichkeit der Landesarchive, die aufsichtsrechtlich in den Aufbau der Ministerialbehörden (meist dem Kultusministerium) als nachgeordnete Stellen eingegliedert sind, spricht daher dafür, daß es sich bei der bezeichneten Anbletungspflicht um rein behördeninternes Recht und kein subjektiv öffentliches Recht handelt 3 3 6 . Die Zuerkennung eigener Rechtsfähigkeit könnte nur durch ausdrückliche gesetzliche Regelung geschehen, die den Erfordernissen der Eindeutigkeit und Klarheit genügte. Die Archivgesetze billigen jedoch ausdrücklich keine Rechtsfähigkeit zu. 2. Organrecht Mit der Feststellung, daß es sich bei den archivgesetzlichen Anbietungsund Abgabepflichten um Innenrecht der Verwaltung handelt, ist die Frage nach einem justiziablen Anspruch der Staatsarchive gegen andere Stellen auf Abgabe bestimmter Unterlagen nicht abschließend beantwortet. Aus der Ablehnung eines subjektiv-öffentlichen Rechts folgt nicht, daß die Anbietungs- und Abgabepflichten objektiv-rechtliches Organisationsstatut sein müssen. Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der archivgesetzlichen Anbletungspflicht stützen nach einer neueren These zur Natur der Organrechte die Annahme einer Organstellung der Staatsarchive und des Bundesarchivs und die Austattung mit entsprechenden Organrechten 337 . nur dann, wenn sie durch Zuerkennung der Rechtsfähigkeit auch juristische Personen sind. Daher ist sie bei Überschreitung nicht in ihren Rechten verletzt. Die Annahme von subjektiv-öffentlichen Rechten staatlicher Institutionen wird als „Rückfall in die vorstaatliche Epoche landesherrlicher Hoheitsrechte" und der Privatrechte an öffentlichen Ämtern kritisiert. Vgl. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. A., 1905, S. 216 ff. Rechtssystematisch geht es um das Verhältnis einer Behörde bzw. eines Amtes, als einer Institution mit einer abgegrenzten Kompetenz, zum Staatsganzen. Diese Frage der allgemeinen Staatslehre durchlebte in der Entwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts verschiedene Stadien. Vgl. dazu, Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I Allgemeiner Teil, 10. A., S. 447 f., Fn 3. Zunächst wurde den Ämtern eine eigene Rechtssubjektivität beigelegt (v. Stein, Handbuch der Verwaltungslehre, 3. A. Bd. I., 1887, S. 27 ff.; ders. Staatsrecht I, S. 366: „Man kann deshalb das Amt selbst personifizieren und als das dauernde Subjekt von Rechten und Pflichten sich denken ..."). 335 s.o. A. II. 1. 336 I m Ergebnis ebenso Uhl S. 105; mit der Begründung „Ansprüche" seien zwischen Behörden eines Hoheitsträgers nicht gegeben, was die Möglichkeit von Organrechten außer Acht läßt; und Nadler S. 193. 14*
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
„Klassische", von der herrschenden Lehre und Rechtsprechung anerkannte verwaltungsrechtliche Organrechte wurden aus den körperschaftlichen „Verfassungen" der Universitäten und Kommunen für deren jeweilige Funktionsträger abgeleitet 338 . Für die Anerkennung dieser eigenständigen Rechtspositionen stand zunächst das Vorbild der durch demokratische Wahlen legitimierten Verfassungsorgane Pate 3 3 9 . Für die „Universitätsverfassung" ist der Repräsentationsgedanke allerdings von eingeschränkter Bedeutung. Der Legitimationsgrund liegt auch in der „Machtbalance von Partikularinteressen", ohne daß es zwingend auf demokratische Wählbarkeit des Organs ankommt. Auch ein Fall mittelbarer Staatsverwaltung ist nicht erforderlich. Organrechte sind nicht auf unterstaatliche körperschaftliche Strukturen beschränkt. In der neueren Lehre vollzieht sich ein Wandel bei der Annahme von Organrechten unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs und der Kontrolle der Staatsgewalt, die nicht mehr als „monistische" Einheit gedacht wird. Eigene Organrechte als Minus gegenüber eigener Rechtsfähigkeit und entsprechender subjektiver Rechte können sich nach einer in der neueren Lehre vertretenen Ansicht aus einer funktionalen Betrachtung ergeben, wenn und soweit durch Gesetz Rechtspositionen zugewiesen werden, welche öffentliche Stellen insoweit „vom Staat distanzieren". Bei Stellen, die nicht streng weisungsgebunden in den hierarchischen Aufbau der Verwaltung eingebunden sind, sondern in einem „gesetzlich ausbalancierten Verhältnis zu anderen Organen eigene Vorstellungen entwickeln und zur Geltung bringen sollen", kommt grundsätzlich die Annahme eigener Organrechte in Betracht 3 4 0 . 337 Nach der Organtheorie von Otto v. Giercke sollte den „Organpersönlichkeiten" der „Staatsorgane" zwar keine volle Rechtsfähigkeit zugesprochen werden, sie sollten aber „als relativ verselbständigte Elemente innerhalb der Willensorganisation einer vollen Verbandspersönlichkeit" gedacht werden (zitiert nach Forsthoff S. 448). In der neueren allgemeinen Verwaltungsrechts- und Staatsrechtslehre seit Jellinek (Allgemeine Staatslehre, S. 560 ff.; ders., Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 213 f.) hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die Behörden trotz eigener Willensausübung nach außen „keine Rechte zu eigenem Recht", sondern lediglich Kompetenzen ausüben. Forsthoff wendet sich daher gegen die Verwendung des Organbegriffs überhaupt (S. 449). 338 Vgl. Organe der Gemeinde im Kommunalverfassungsstreit: Gemeinderat, Gemeinderatsmitglied, OVG Münster N V w Z 1983 S. 486, Kopp/Schenke, VwGO, § 6 1 Rz 11 m.w.N.; im Bereich der Hochschule (Studentenschaft) OVG Lüneburg DVB1. 1978 S. 272. 339 Zur Entwicklung des Organrechtsbegriffs in der Rechtssprechung, Eyermann/ Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. A., § 40 Rz 31 m.w.N. 340 Kopp/Schenke a.a.O. § 42 Rz 80 f. m.w.N.; Schenke, Rechtssprechungsübersicht zum Verwaltungsprozeß, JZ 1996 S. 1008 f.; Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen i m öffentlichen Recht, S. 72 f. § 14 Rz 3.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Nach einer von Schenke vertretenen Ansicht sollen durch Gesetz begründete oder anerkannte „wehrfähige Innenrechtspositionen" im Bereich desselben Verwaltungsträgers bestehen, ohne daß es auf eine demokratische Legitimation des Organs ankommen soll. Die ausdrückliche gesetzliche Zuerkennung einer entsprechenden „Organpersönlichkeit" ist nicht erforderlich: Organschaftliche, „wehrfähige" Rechte sind funktionale Rechte, keine subjektiv öffentlichen Rechte. Sie sind diesen strukturell angenähert 341 . Pietzner und Ronellenfitsch schlagen die Abgrenzungskriterien der „speziellen Zuordnung" und „Staatsdistanz" für die Begründung solcher wehrhafter Innenrechtspositionen v o r 3 4 2 a) Staatsdistanz Die gerichtlich und fachaufsichtlich nicht überprüfbare Bewertungskompetenz und Bewertungsunabhängigkeit der Archivare für Fragen der (historischen) Archivwürdigkeit spricht für die Zubilligung eines durchsetzbaren Organrechts gegenüber den Staatsbehörden „im Namen" der Geschichte und unabhängigen Dokumentation. Die Archive nehmen die Stellung eines rechtlich von der abgebenden Stelle unabhängigen Treuhänders der geschichtlichen Überlieferung ein. Dafür spricht vor allem die von der abgebenden Stelle der Staatsverwaltung abweichende Interessenlage der Archive. Nachdem durch die Archivgesetze ein subjektiv öffentliches Recht auf Archivzugang für Dritte anerkannt wurde, nehmen die Archive eine Mittlerstellung zwischen der an fortdauernder Geheimhaltung interessierten Sachverwaltung und der auf wissenschaftliche Erschließung ausgerichteten Tätigkeit der Archivare und Benutzer ein. ' Für eine Verselbständigung der Archivverwaltungen gegenüber den abgebenden Stellen sprechen verschiedene Einzelregelungen der Archivgesetze: Dies ist zuförderst die Normierung von umfassenden Abgabepflichten und die gesetzlich geschützte Bewertungskompetenz der Archivare. Die archivgesetzlichen Normierungen der Abgabepflicht der abgebenden Stellen lassen bereits vom Wortlaut her eine spezielle Zuordnung eigener organschaftlicher Rechte, die eine gewisse „Staatsferne" begründen, erkennen. Andernfalls hätten es die Gesetzgeber bei einfachen Abgabeermächtigungen belassen können. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern sind die abgebenden Stellen zusätzlich verpflichtet, auf eigene Kosten Aussonderungs341 342
Kopp/Schenke a.a.O.; Schenke JZ 1996 S. 1008. Pietzner/Ronellenfitsch S. 123.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
nachweise zu erstellen. Die amtliche Begründung spricht von einer „Bringepflicht" 3 4 3 . Weiter spricht dafür, daß einige Archivgesetze ausdrücklich ein Akteneinsichts- und Zugangsrecht der Landesarchive gegenüber den abgebenden Stellen positiviert haben, was überflüssig wäre, wenn die Aussonderung allein die Entlastung der abgebenden Stelle bezweckte. Zur Durchsetzung der Abgabepflicht durch die Archivverwaltungen bestimmen u. a. § 6 Abs. 3 LArchG Berlin, § 5 Abs. 2 LArchG Brandenburg und § 5 Abs. 4 S. 2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern, daß Vertretern des Landesarchivs zur Erfüllung ihrer Aufgaben Zutritt zu den Registraturen der Behörden, und Einsicht in alle vorhandenen Unterlagen sowie die dazugehörigen Findmittel und Programme zu gewähren i s t 3 4 4 . Dies war ursprünglich, solange das Archiv verlängerte Registratur des Archivträgers war, eine Frage der Amtshilfe und der behördeninternen Organisationshoheit. Allein um dem datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt im Hinblick auf die Zweckbindung gerecht zu werden, hätten die Anbietungs- und Übernahmeregelungen genügt. Zudem beschränkt sich die Zutrittsermächtigung nicht auf personenbezogene Unterlagen, sondern ausnahmslos auf alle Unterlagen. Das spricht dafür, die Zutrittsermächtigung nicht als eine lediglich datenschutzrechtliche Ermächtigung zu werten, die eine Verselbständigung des Staatsarchivs nicht bezweckt. Das Einsichts- und Zugangsrecht der Archivverwaltung spricht daher neben der Anbletungspflicht für die gesetzliche Zubilligung einer organrechtlichen Selbständigkeit der Staatsarchive in den betroffenen Ländern. Solange dem Forscher ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Archivzugang zusteht, ist die historische Forschung als Institution gesichert. Dies gilt jedoch immer nur für den status quo und nicht für die Voraussetzungssicherung zukünftiger Forschung, die eine Sicherung der Unabhängigkeit der Archive gegenüber den abgebenden Stellen erfordert. Die objektivrechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit drängt ebenso wie das Grundrecht auf Datenschutz auf die Zubilligung einer partiellen institutionellen Unabhängigkeit.
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LT-Mecklenburg-Vorpommern Drs. 2/2310, S. 22. Vgl. auch § 11 Abs. 2 LArchG Hessen, § 5 Abs. 2 LArchG Schleswig-Holstein und § 12 Abs. 2 LArchG Thüringen. Die übrigen Archivgesetze beschränken sich in diesem Zusammenhang auf eine „Beratungspflicht" bzw. ein „Beratungsrecht" der Archive gegenüber den abgebenden Stellen der Sachverwaltung: Bayern § 4 Abs. 5; Brandenburg § 3 Abs. 2; Bremen § 1 Abs. 3; Hamburg § 1 Abs. 4; Rheinland-Pfalz § 6 Abs. 5; Sachsen § 4 Abs. 5. 344
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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b) Besondere Zuordnung Eine besondere Zuordnung der Anbletungspflicht zugunsten der Archive, die die Annahme organrechtlicher Stellung stützt, ergibt sich aus ihrer näheren archivgesetzlichen Ausgestaltung und Absicherung: Ein Teil der Archivgesetze sieht feste Anbietungs- und Abgabefristen vor, die die abgebenden Stellen gegenüber dem Archiv einzuhalten haben 3 4 5 . Das Landesarchivgesetz Hamburg überträgt nach dem Ablauf der Frist der Verwaltung die Pflicht, gegenüber dem Archiv nachzuweisen, daß etwaige Unterlagen nicht mehr im Geschäftsgang benötigt werden 3 4 6 . § 3 Abs. 1 S. 2 LArchG Nordrhein-Westfalen enthält nur auf den ersten Blick eine Regelung, die mit dieser Sicht unvereinbar erscheint: danach sind Unterlagen spätestens 60 Jahre 347 nach der Entstehung als „Zwischenarchivgut" gemäß § 2 Abs. 4 zur vorläufigen Aufbewahrung zu übergeben. Obwohl über die Aufgabenerledigung und über die Erforderlichkeit der Unterlagen, die ja Hilfsmittel der Verwaltung waren, die abgebende Stelle zunächst grundsätzlich allein entscheidet, soll ein Zugriffsrecht des Staatsarchivs nach der bestimmten Höchstfrist in jedem Fall bestehen. Die Zuerkennung organschaftlicher Rechte würde zwar einen Bruch mit der traditionellen Auffassung des Archivwesens bedeuten, das von der Verwaltungslehre bislang den Hilfsfunktionen der Verwaltung (verlängerte Registraturen) zugeordnet worden ist. Es ist allerdings der Wille der Parlamentarier erkennbar geworden, die Stellung der Archive prinzipiell zu stärken. Die Archivgesetze sind daher über den gesetzestechnisch vorgegebenen datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt deutlich hinausgegangen. Daß andererseits keines soweit gegangen ist, die Archive vollständig aus der Ministerialzuständigkeit auszugliedern und ihnen eigene Rechtsfähigkeit zu gewähren, widerspricht nicht der Annahme von Organrechten. Eine grundlegende Änderung des Aufbaus der Archivorganisation war nicht erforderlich und verwaltungstechnisch nicht geboten. Immerhin haben aber die Landesarchivdirektionen in Baden-Württemberg und Sachsen die Funktion oberster Landesbehörden und verdrängen die Kultusministerien bezüglich der Sperrfristverkürzung 348 .
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s.o. II. 1. Gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 LArchG Hamburg „sollen Unterlagen spätestens 30 Jahre nach ihrer endgültigen Enstehung ausgesondert und angeboten werden, soweit sie nicht noch nachweislich im Geschäftsgang erforderlich sind oder soweit nicht Rechtsvorschriften andere Fristen bestimmen." 347 Schmitz, Der Archivar 43 (1990) Sp. 227-242 (234): eine kürzere Frist scheiterte am Widerstand der Verwaltungsträger. 348 s.o. A. II. 2. 346
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Im Ergebnis ist es daher folgerichtig, dem Bundesarchiv und den Staatsarchiven ein Organrecht auf Anbietung und Abgabe von Unterlagen gegenüber den jeweiligen Stellen der Exekutive und Rechtsprechung zuzubilligen. Die Abgabe von Unterlagen durch die öffentlichen Archive gegenüber den jeweiligen Behörden ist - vorbehaltlich etwaiger gesetzlicher Fristen und des Nachweises der Erforderlichkeit für den Geschäftsgang - verwaltungsgerichtlich durchsetzbar. Anders als bloße Kompetenzen können Organrechte grundsätzlich in einem Insichprozeß 349 geltend gemacht werden. Ein eigenständiges Institut des Innenrechtsstreits ist von der Verwaltungsgerichtsordnung zwar nicht anerkannt; die Verwaltungsgerichtsordnung kennt aber auch kein allgemeines, übergeordnetes Verbot eines solchen Insichprozesses. Streitigkeiten zwischen dem Fiskus und anderen Hoheitsträgern werden beispielsweise allgemein für möglich gehalten 350 . Der Organstreit dient dem Schutz der Organrechte und ist kein objektives Beanstandungsverfahren 351. Statthafte Klagearten sind daher die Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO und die allgemeine Leistungsklage 352 . I V . Strafrechtliche Sanktionen Werden durch Mitarbeiter der abgabe- und archivierungspflichtigen Stellen Unterlagen vorsätzlich der Archivierung durch das zuständige Archiv entzogen, können im Einzelfall durchaus strafrechtliche Sanktionen insbesondere wegen Verstoßes gegen § 133 StGB, § 274 Abs. 1 Nr. 2, §§ 303 a, 303 b I Nr. 1, 303 c StGB abhängig von der konkreten Konstellation in Betracht kommen. Im Einzelnen können sich komplizierte Auslegungs- und Abgrenzungsfragen ergeben, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können. Tatbestandsvoraussetzung des § 133 StGB (Verwahrungbruch) ist, daß „sich in dem Gewahrsam die besondere dienstliche Herrschafts- und Verfügungsgewalt äußert, die den jeweiligen staatlichen Aufgaben der verwahrenden
349 Sogenannte intrasubjektive Streitigkeiten, innerhalb desselben Trägers der Staatsgewalt, im Gegensatz zu intersubjektiven; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rz 528; Kopp/Schenke, VwGO, § 61 Rz 11; § 63 Rz 7; Schenke w i l l den Begriff des „In-sich-Prozesses" nicht auf Organrechte anwenden, die seiner Ansicht nach sogar Klagebefugnis i.S.v. § 42 VwGO begründen; Kopp/Schenke, VwGO § 42 Rz 80 f.; vgl. auch Pietzner/Ronellenfitsch S. 123; allgemein: Hoppe, Organstreitigkeiten vor den Verwaltungs- und Sozialgerichten, S. 195 ff. 350 Pietzner/Ronellenfitsch S. 72 f. m.w.N. 351 OVG Rheinland-Pfalz, DÖV 1984 S. 155; Pietzner/Ronellenfitsch S. 121 ff. (123) m.w.N. 352 Vgl. statt vieler Kopp/Schenke, VwGO § 43 Rz 10 f., § 42 Rz 80; Redeker/ von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, § 43 Rz 14 f.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
217
Dienststelle entspringt". 353 Fraglich ist, ob die archivgesetzliche Anbietungs- und ggfs. Archivierungspflicht zu den solchermaßen strafrechtlich geschützten, staatlichen Aufgaben der verwahrenden Dienststelle gehört. Dies müßte nach dem in dieser Arbeit vertretenen verfassungsrechtlichen Rang der Archivaufgaben und der Rechtsnatur der Abgabepflicht der Fall sein. Entsprechende rechtswidrige Weisungen eines Dienstvorgesetzten zur Aktenunterdrückung begründeten den Tatvorwurf der Anstiftung oder u.U. auch der Täterschaft oder mittelbaren Täterschaft. §§ 274 Abs. 1, 303 a ff. (202 a) StGB dürften in der Regel allerdings an eigentumsrechtlichen Erfordernissen („nicht gehört"; „nicht für ihn bestimmt") scheitern. V. Zusammenfassung Die Archivgesetze beschränken sich nicht auf einseitige, an die abgebenden Stellen adressierte Ermächtigungen zur Übergabe personenbezogener oder sonstiger „sensibler" Unterlagen an das zuständige öffentliche Staatsarchiv, sondern statuieren eine umfassende Anbietungs- und Abgabepflicht, die den Staatsarchiven ein Organrecht auf Anbietung und Übergabe gewähren, die verwaltungsgerichtlich im Wege der Feststellungs- oder Leistungsklage durch die Staatsarchive durchsetzbar ist. Die Anbletungspflicht richtet sich auch an Teile von Verfassungsorganen, Mitglieder der Regierungen und oberste Richter bezüglich ihrer aus Anlaß der Amtsausübung entstandenen Unterlagen. Dies gilt nicht für den nachgeordneten weisungsgebundenen Beamten; §§ 61 Abs. 3 BBG und 9 Abs. 3 B A T werden insoweit nicht außer Kraft gesetzt.
B. Umfang und Grenzen der Anbletungspflicht. Übergabeermächtigungen Im Prinzip gilt die Anbletungspflicht inhaltlich und kompetenziell ausnahmslos: Sämtliche Unterlagen müssen von allen Stellen des Bundes oder jeweiligen Landes dem zuständigen Archiv vollständig und unverändert 354 angeboten werden, ohne daß die abgebende Stelle selbst über die Kassation und Vernichtung archivierbarer Unterlagen entscheiden kann. 353
BGHSt 38, 386; Dreher/Tröndle § 133 StGB Rz 3. § 4 Abs. 1 LArchG Berlin, § 3 Abs. 1 LArchG Niedersachsen bestimmen, daß die Unterlagen „unverändert" bzw. „ i m Originalzustand" anzubieten sind. Vor dem Hintergrund des Gesetzesbegriffs der Archivwürdigkeit und der Sicherung der Unabhängigkeit und Bewertungskompetenz der Archivare kommt diesen Bestimmungen nur deklaratorische Bedeutung zu. Sie sollen die Authentizität und Aussagekraft der Quellen schützen. Vgl. dazu Amtl. Begründung Bayern zu Art. 9 Abs. 1, LT-Drs. 1/8185 S. 13. 354
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
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I . Archivierung personenbezogener Unterlagen 1. Archivierung als datenschutzrechtliches Löschungssurrogat D i e A r c h i v i e r u n g personenbezogener Unterlagen ist nach allen Archivgesetzen Sperrungs- und Löschungssurrogat, soweit G r u n d der Löschungspflicht Zweckerreichung ist und die gesetzlichen Abschottungsmaßnahmen, insbesondere Sperrfristen und Schutz gegen unbefugte Benutzung beachtet werden. Das Ergebnis ist insoweit für alle Archivgesetze gleich. D i e Landesarchive sind berechtigt, zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben jedenfalls rechtmäßig erhobene, personenbezogene Daten zu v e r a r b e i t e n 3 5 5 . Z w e i Regelungstypen für die A r c h i v i e r u n g personenbezogener Unterlagen lassen sich unterscheiden: 1. D i e neueren Landesarchivgesetze
verpflichten ausdrücklich zur A n b i e -
tung und Übernahme „personenbezogener Unterlagen, die (1) personenbezogene Daten enthalten, welche nach einer Rechtsvorschrift des Landes gelöscht oder vernichtet werden müßten oder nach Rechtsvorschriften des Bundes oder des Landes gelöscht werden könnten, sofern die Speicherung (oder Erhebung) der Daten nicht unzulässig war oder (2) personenbezogene Daten i m Sinne des ... Datenschutzgesetzes ... enthalten oder(3) einem Berufs- oder Amtsgeheimnis oder sonstigen Rechtsvorschriften über die Geheimhaltung unterliegen. Die nach § 203 Abs. 1 Nr. 4 und 4 a des Strafgesetzbuches geschützten Unterlagen einer Beratungstelle dürfen nur in anonymisierter Form angeboten werden und übergeben werden" 3 5 6 . 2. § 2 Abs. 4 S. 2 BArchG und § 11 Abs. 2 LArchG Niedersachsen, § 3 Abs. 1 S. 2 LArchG Baden-Württemberg 357, § 10 Abs. 1 LArchG Hessen 355
Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen s.o. 2. Kap. B. III. So die gleichlautende Fassung der LArchGe in: Brandenburg § 4 Abs. 2, 3; Bremen § 3 Abs. 2 Nr. 1 und 2; Mecklenburg-Vorpommern § 6 Abs. 2 Nr. 1; Nordrhein-Westfalen § 3 Abs. 2 Nr. 1,2; Saarland § 8 Abs. 2; sinngemäß entsprechend die LArchGe in Hamburg § 3 Abs. 2; Rheinland-Pfalz § 7 Abs. 2 i . V . m . § 1 Abs. 4; Schleswig-Holstein § 6 Abs. 2 LArchG. Art. 6 Abs. 1 S. 3 LArchG Bayern spricht einfacher nur von „personenbezogenen Daten ..., einschließlich datenschutzrechtlich gesperrter Daten". Unnötig komplizierte Verweisungen auf die jeweiligen LDSGe finden sich in den LArchGen von Berlin § 4 Abs. 1 und Sachsen-Anhalt § 9 Abs. 2 Nr. 2, ohne daß sich Abweichungen in der Sache ergäben. 357 § 3 Abs. 1 Sätze 2-5 LArchG Baden-Württemberg: „Anzubieten sind auch Unterlagen, die durch Rechtsvorschriften über Geheimhaltung geschützt sind, wenn die abgebende Stelle im Benehmen mit dem Staatsarchiv festgestellt hat, daß schutzwürdige Belange des Betroffenen durch geeignete Maßnahmen unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls angemessen berücksichtigt werden. Die erforderlichen Maßnahmen müssen bereits vor der Übergabe durchgeführt oder festgelegt werden. Unterlagen, die durch § 203 Abs. 1 Nr. 4 und 4a StGB geschützt sind, 356
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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sowie der gleichlautende § 11 Abs. 2 LArchG Thüringen statuieren keine ausdrückliche Anbietungs- und Übergabeermächtigungen für personenbezogene Unterlagen, sondern beschränken sich auf die Bestimmung, daß bei Übernahme personenbezogener Daten die schutzwürdigen Belange Betroffener angemessen zu berücksichtigen sind. Dem liegt die verfassungsrechtlich zutreffende Annahme zugrunde, daß die gesetzliche Verpflichtung zur Anbietung und Übergabe „sämtlicher" Unterlagen zur Überwindung des einfachen datenschutzgesetzlichen Sperr- und Löschungsgebots wegen Aufgabenerledigung genügt. Im Ergebnis bestehen keine Abweichungen. 2. Archivierung von unzulässig erhobenen Unterlagen Rechtlich und praktisch problematisch sind diejenigen Fälle, in denen die Löschungspflicht aufgrund bereits unzulässiger, gesetzwidriger Erhebung oder Speicherung 358 besteht, und nicht lediglich ein Fall der Zweckerreichung bzw. Aufgabenerledigung vorliegt. Es fragt sich, ob in den Fällen, in denen die rechtswidrige Erhebung von personenbezogenen Daten erst bei der Archivierung der jeweiligen Unterlagen oder später nach der Archivierung erkannt wird, das Archiv deren Archivwürdigkeit gleichwohl prüfen und Übergabe wegen eines möglicherweise hervorragenden historischen Werts an sich verlangen kann bzw. die Archivierung aufrechterhalten bleibt. Die abgebende Stelle könnte sich der Vernichtungspflicht durch Übergabe an das Archiv auf diese Weise „entziehen". Uhl führt das einprägsame Beispiel polizeilicher Videoüberwachungsaufzeichnungen an, die im Zusammenhang mit dem Bau der atomaren Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf auf damals im Jahr 1987 unzureichender Rechtsgrundlage gefertigt worden waren und gegen den Protest des bayrischen Staatsarchivs vernichtet wurden 3 5 9 .
dürfen nur in anonymisierter Form übergeben werden. Geheimhaltungsvorschriften des Bundes bleiben unberührt." § 6a LArchG Baden-Württemberg: Unterlagen von Stellen des Bundes, bundesrechtliche Geheimhaltungsvorschriften. Zur Änderung des LArchG vom 12.3.1990, GBl. 1990 S. 89, Richter, Der Archivar 43 (1990) Sp. 565 ff. 358 Legaldefinitionen in § 3 Abs. 4 BDSG (1990): Erheben ist das Beschaffen von Daten über einen Betroffenen; Speichern i.S.v. § 3 Abs. 5 Nr. 1 BDSG ist das Erfassen, etc. auf einem Datenträger; Uhl 87 ff. zum Verhältnis Archivierung zu Löschungs- und Vernichtungsgeboten. 359 Uhl S. 65 f.; 96 f. Heute gelten Art. 45 Abs. 3 und 4 PAG Bayern danach kann die Löschung auch unzulässig erhobener Daten unterbleiben, wenn die Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken erforderlich ist, es erfolgt eine gesetzliche Sperrung, für die dann die archivgesetzliche Anbletungspflicht als Surrogat wirkt. Eine entsprechende Regelung enthält auch Art. 8 Abs. 3 Bayrisches Verfassungsschutzgesetz vom 24.08.1990.
220
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
In der Praxis dürfte es um diejenigen Fälle gehen, in denen der Umstand rechtswidriger Erhebung zunächst nicht erkannt, die entsprechende Unterlage angeboten und als archivwürdig archiviert wird. Hier stellt sich die Frage, ob die Archivierung die unzulässige Erhebung „geheilt" hat, wenn der Umstand später zu einem Zeitpunkt nach der Archivierung - bei der Erschließung oder der Entscheidung über eine Nutzungsfreigabe - festgestellt wird. Eine rechtswidrige Archivierung führte nicht dazu, daß das Archiv automatisch aus datenschutzrechtlicher Sicht zu jeder weiteren „Verarbeitung" und auch zur Vernichtung der betroffenen Unterlagen unzuständig ist, solange die unzulässige Erhebung von Daten erst nach der Archivierung erkannt wird. Bei der Abgabe an Archive handelt es sich unbeschadet der Rechtsnatur der Abgabepflicht um die Übermittlung von personenbezogenen Daten innerhalb des öffentlichen Bereiches. Für diesen Fall regelt die überwiegende Zahl der Landesdatenschutzgesetze die Verantwortung für die Überprüfung der Zulässigkeit der Übermittlung 3 6 0 . Dem Grundsatz nach trägt die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung zwar die übermittelnde, also die abgebende Stelle. Erfolgt die Übermittlung auf Ersuchen des Empfängers - hier Anbietung und Abgabe auf Ersuchen des Archivs - prüft die übermittelnde Stelle nur, ob das Übermittlungsersuchen im Rahmen der Aufgaben des Empfängers liegt. Im Ergebnis muß dann das zuständige Archiv die Zulässigkeit der Übermittlung prüfen, ist datenschutzrechlich zuständige Stelle und zur erforderlichen Vernichtung berufen. Andererseits ist die Erstreckung der Pflicht zur Anbietung (bzw. des Anspruchs auf Übergabe) als solcher auf unzulässig erhobene personenbezogene Daten rechtslogisch problematisch. Denn wenn die abgebende Stelle die unzulässige rechtswidrige Erhebung und Speicherung vor der Archivierung erkennt, hat sie ihrer prinzipiell vorrangigen Löschungspflicht nachzukommen. Anders als i m Fall der erst mit Aufgabenerledigung entstehenden datenschutzrechtlichen Löschungs- und archivgesetzlichen Anbletungspflicht, kann der Widerspruch nicht durch die gesetzliche Übergabeermächtigung in Gestalt der generalklauselartigen Abgabepflicht gelöst werden. Genügte diese bei der Zweckerreichung dem einfachen Gesetzesvorbehalt (Ersetzung der zweckgebundenen Einwilligung durch parlamentarisches 360 Bund: § 15 BDSG; Baden-Württemberg § 13 Abs. 2 LDSG; Bayern Art. 17 LDSG; Berlin § 12 Abs. 3 LDSG; Brandenburg § 14 Abs. 3 LDSG; Bremen § 13 Abs. 3 LDSG; Hamburg § 14 LDSG; Hessen § 14 Abs. 2 LDSG; Niedersachsen § 11 Abs. 3 LDSG; Nordrhein-Westfalen § 14 LDSG; Rheinland-Pfalz § 6 LDSG; Saarland § 14 Abs. 3 LDSG; Sachsen § 13 Abs. 2 LDSG; Sachsen-Anhalt § 11 Abs. 2 LDSG; Schleswig-Holstein § 12 Abs. 3 LDSG; Thüringen § 21 Abs. 2 LDSG.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Gesetz), ist im Fall der rechtswidrigen Erhebung grundsätzlich eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für die wirksame Archivierung erforderlich, weil es sich in der Regel um einen typischen Fall der Eingriffsverwaltung und einen direkten Grundrechtseingriff handeln wird. Die generalklauselartige Anbietungs/?/7/c/*f kann sich daher als solche nicht auf Unterlagen mit rechtswidrig erhobenen, personenbezogenen Daten beziehen. Dies setzte voraus, daß die Archivierung auch insoweit funktionales Äquivalent der Löschung ist. Dazu müßten die Archivgesetze die Pflicht an sich ausdrücklich auch auf unzulässig erhobene Daten erstrecken. Es fragt sich aber, ob die in Unkenntnis erfolgte Archivierung gleichwohl wegen der positiven Bewertungsentscheidung über die Archivwürdigkeit Bestand haben kann, und ob die Archivierung (VA) lediglich im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens ggfs. unter Berücksichtigung der Archivwürdigkeit zu widerrufen ist oder bestandskräftig bleibt (§ 48 VwVfG), oder aber nichtig ist (§ 44 VwVfG) und das Archiv bei späterer Kenntniserlangung die Unterlagen stets vernichten muß. Eine Nichtigkeit der Archivierung dürfte bei realistischer Betrachtung in aller Regel ausscheiden, weil ein besonderes Maß an Rechtswidrigkeit vor oder bei der Archivierung auffallen dürfte. Denkbar ist auch die interessante Konstellation, daß sich nach der Archivierung herausstellt, daß die Archivwürdigkeit gerade auf dem Umstand der Rechtswidrigkeit der Speicherung beruht. a) Ausdrückliche Ausnahmen von der Anbletungspflicht für unzulässig erhobene Daten nach den Landesarchivgesetzen Die überwiegende Anzahl der Landesarchivgesetze nimmt unzulässig gespeicherte 361 bzw. unzulässig erhobene 362 Daten ausdrücklich von der Anbletungspflicht aus. In diesen Fällen scheint die Archivierung als Löschungsurrogat stets auszuscheiden. Wird der Umstand rechtswidriger Erhebung oder Speicherung später entdeckt, müßten entsprechende Unterlagen auch trotz einer im Einzelfall hohen Archivwürdigkeit vernichtet werden. Ein
361 § 4 Abs. 2 Nr. 1 letzter Hs. LArchG Brandenburg: „ . . . sofern die Speicherung nicht unzulässig war ..."; ebenso LArchGe in: Bremen § 3 Abs. 2 Nr. 1; Hamburg § 3 Abs. 2 S. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 6 Abs. 2 Nr. 1 2. Hs.; Nordrhein-Westfalen §3 Abs. 2 S. 1; Rheinland-Pfalz § 7 Abs. 2 Nr. 1 i . V . m . § 1 Abs. 4 LArchG; Saarland § 8 Abs. 2 Nr. 1; Sachsen-Anhalt § 9 Abs. 3. 362 § 10 Abs. 1 S. 2 LArchG Hessen: „ . . . unberührt unzulässig erhobene oder verarbeitete Daten"; Schleswig-Holstein § 6 Abs. 2 S. 2; „Unberührt bleiben Vorschriften über die Löschung unzulässig erhobener Daten"; ebenso § 11 Abs. 2 S. 2 LArchG Thüringen.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
aufwendiger und w o h l nur hypothetischer A u s w e g könnte allein die Einhol u n g der E i n w i l l i g u n g Betroffener sein. A u c h die Landesarchivgesetze i n Bayern und Berlin, die i n komplizierter Weise auf die j e w e i l i g e n L D S G e verweisen, führen zu keinem anderen E r g e b n i s 3 6 3 . § 3 Abs. 3 S. 2 L A r c h G Niedersachsen bestimmt, daß unzulässig erhobene Daten, die dem Staatsarchiv übermittelt sind, dort „ a u f Ersuchen der übermittelnden Stelle zu löschen" sind. Dies läßt die M ö g l i c h k e i t offen, daß die abgebende Stelle nach Verhandlungen m i t dem A r c h i v v o n einem Ersuchen Abstand n i m m t und der A r c h i v w ü r d i g k e i t unter bestimmten U m ständen doch Vorrang z u k o m m e n könnte.
b) Vorrang der archivarischen Bewertung und Archivierung nach B A r c h G und L A r c h G Baden-Württemberg? Nach der Begründung der Bundesregierung z u m ursprünglichen E n t w u r f des B A r c h G sollte die archivische Bewertung i n der Tat stets vorrangig gegenüber allen Löschungsgeboten sein, solange schutzwürdige Belange Betroffener nicht verletzt würden. D e m trat der Bundesrat indirekt m i t der Forderung nach der A n o n y m i s i e r u n g als Regelmaßnahme entgegen, was j e d o c h aus guten Gründen unterblieb. D i e unterschiedlichen Auffassungen
363 Art. 11 Abs. 4 S. 1 LArchG Bayern bestimmt, daß „Unterlagen zu vernichten sind, wenn sie zum Zeitpunkt der Abgabe an das Archiv von der abgebenden Stelle hätten vernichtet werden müssen". Art. 11 Abs. 4 S. 2 i . V . m . Art. 6 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 LArchG Bayern differenziert: „Unterlagen sind nicht zu vernichten, wenn die sich aus anderen Vorschriften ergebenden Vernichtungspflichten erst nach der Abgabe an das Archiv entstehen." Für diesen Fall gilt eine besondere unverkürzbare Sperrfrist von 60 Jahren (Art. 11 Abs. 4 S. 3 LArchG Bayern). Im Falle unzulässig gespeicherter bzw. unzulässig nicht gelöschter personenbezogener Daten fragt sich, zu welchem Zeitpunkt die Löschungspflicht entsteht. Nach dem bayrischen LDSG besteht eine objektivrechtliche Löschungspflicht, die unabhängig vom Zeitpunkt eines Antrags des Betroffenen ist. Wird der Umstand der rechtswidrigen Speicherung oder Erhebung nach der Archivierung festgestellt, sind die entsprechenden Daten durch das Landesarchiv als zuständiger Behörde zu vernichten, ohne daß der Archiv Würdigkeit Vorrang zukommen kann. § 4 Abs. 1 LArchG Berlin i . V . m . § 17 Abs. 4, Abs. 2, Abs. 3 Berliner LDSG bestimmen, daß die datenverarbeitende Stelle anstelle der wegen Aufgabenerfüllung an sich gebotenen Sperrung oder Löschung personenbezogener Daten Unterlagen einem öffentlichen Archiv überantworten kann. In diesem Falle ist die Archivierung Sperrungssurrogat. Bei unzulässiger Speicherung und Erhebung ist jedoch zwingend die Einwilligung des Betroffenen für die Archivierung erforderlich. Aus der Fassung des § 17 Abs. 3 S. 2 2. Hs. Berliner LDSG ergibt sich, daß die Löschungspflicht im Falle unzulässiger Speicherung objektives Recht ist, die Verwaltung also unabhängig von einer zeitigen Antragstellung des Betroffenen auch nach der Archivierung zur Löschung verpflichtet ist.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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der Bundesregierung und des Bundesrats über die Zulässigkeit der A r c h i vierung v o n Unterlagen m i t unzulässig erhobenen Daten wurden nicht offen diskutiert, sondern sollten offensichtlich durch die systematisch unklare Bestimmung des § 2 Abs. 7 B A r c h G zur D e c k u n g gebracht werden. Deren Wortlaut „Rechtsvorschriften über die Verpflichtung zur Vernichtung v o n Unterlagen bleiben unberührt" ist allerdings ungeeignet, die entscheidende Frage der Spezialität des B A r c h G und ihres Umfangs gegenüber allgemeinen Datenschutzbestimmungen zu beantworten. Legt man den Wortlaut n ä m l i c h nicht restriktiv aus, würden alle Archivierungsermächtigungen, insbesondere die F u n k t i o n der Archivierung als Löschungssurrogat obsolet. D i e Entstehungsgeschichte des B A r c h G gibt jedenfalls keinen eindeutigen Aufschluß 364. 364 Der erste und zweite Gesetzesentwurf des BArchG der Bundesregierung (vom 24.08.1984 BR-Drs. 371/84 bzw. vom 19.06.1987 BT-Drs. 11/498) bestimmte in § 2 Abs. 3 Nr. 2: „Anzubieten und zu übergeben sind auch Unterlagen, die 2. nach Rechtsvorschriften des Bundes ganz oder teilweise vernichtet werden müßten oder könnten, wenn sie anonymisiert werden; wird durch eine Anonymisierung der Wert der Unterlagen i m Sinne von § 3 (ArchivWürdigkeit, B. M.) beeinträchtigt, so sind sie unverändert anzubieten und zu übergeben, wenn die schutzwürdigen Belange Betroffener durch andere Maßnahmen angemessen berücksichtigt werden können . . . " Der Bundesrat wandte sich in seiner Stellungnahme zwar nicht ausdrücklich gegen die Zulässigkeit der Archivierung rechtswidrig gespeicherter Daten, verlangte aber, die Anonymisierung als Regelmaßnahme festzuschreiben (BR-Drs. 155/87 vom 05.06.1987; BT-Dokumentation S. 24). In der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates (Anlage 3 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung 19.06.1987, BT-Drs. 11/498) wird der Vorschlag zurückgewiesen: „Die Regelung ... soll klarstellen, daß Löschungs- und Berichtigungspflichten oder -ermächtigungen im Grundsatz zurücktreten müssen, wenn es sich um Unterlagen von bleibendem Wert (...) handelt." Die jetzige Fassung des § 2 Abs. 4 Nr. 2 und Satz 2 BArchG geht zurück auf die Beschlußempfehlung des Innenauschusses des Bundestages vom 19.11.1987 (BTDrs. 11/1215). Aus der Begründung ergibt sich, daß die Änderung auf die Forderung des Bundesdatenschutzbeauftragten Baumann zurückzuführen war, daß abgebende Behörde und Bundesarchiv gezwungen werden müßten, sich über Schutzmaßnahmen abzustimmen, nachdem auf Drängen der SPD-Fraktion und der historischen Sachverständigen die Möglichkeit der Anonymisierung wegen der Gefahr der „Geschichtsfälschung" aus dem Gesetzeswortlaut gestrichen worden war. Der Innenausschuß empfahl in diesem Zusammenhang die Einfügung des jetzigen § 2 Abs. 7 BArchG: „Rechtsvorschriften über die Verpflichtung zur Vernichtung von Unterlagen bleiben unberührt"; mit der Begründung, die neu eingefügte Vorschrift stelle sicher, daß die Rechtsvorschriften über die Verpflichtung zur Vernichtung von Unterlagen grundsätzlich bestehen bleiben. Bereichsspezifische Regelungen könnten hier nicht getroffen werden. A n der Archivierbarkeit rechtswidrig erhobener Daten nach dem Regierungsentwurf wurde nicht ausdrücklich Anstoß genommen; es heißt aber: „ursprünglich war vorgesehen, daß diese Rechtsvorschriften hinter den Vorschriften des BArchG zurückweichen sollten." (BT-Drs. 11/1215 S. 6; = BT-Dokumentation S. 83). Danach
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Nach einer Ansicht soll die archivarische Bewertung zumindest im Geltungsbereich des BArchG und des LArchG Baden-Württemberg wegen des später, im Jahr 1990 erlassenen § 20 BDSG stets Vorrang haben. Nach der Ansicht Uhls sollen alle bundesgesetzlichen Löschungsgebote des BDSG und anderer Gesetze hinter die bundesarchivgesetzliche Anbletungspflicht zurückzutreten. Uhl konstatiert im Ergebnis für das BArchG die Zulässigkeit und Bestandskraft der Archivierung auch von Unterlagen mit unzulässig erhobenen und gespeicherten Daten. Die Archivklausel des § 20 Abs. 8 BDSG 1990 ordne den Vorrang von § 2 Abs. 1 bis 6, 8 und 9 des BArchG gegenüber § 20 Abs. 2 Nr. 1 BDSG an und nehme § 2 Nr. 7 BArchG gerade aus 3 6 5 : § 20 Abs. 2 Nr. 1 BDSG gebietet die Löschung personenbezogener Daten für den Fall, daß ihre „Speicherung" unzulässig war. Von dieser weiter gefaßten Alternative sei die unzulässige Erhebung erfaßt, da die unzulässige Erhebung die unzulässige Speicherung grundsätzlich nach sich ziehe (vgl. § 3 Abs. 5 Nr. 1 BDSG). Da § 2 Abs. 7 BArchG („Rechtsvorschriften über die Verpflichtung zur Vernichtung von Unterlagen bleiben unberührt") von der später im Jahr 1990 in Kraft getretenen Vorranganordnung des § 20 Abs. 8 BDSG-1990 ausgenommen sei, bedeute dies, daß § 2 Abs. 7 BArchG die Löschungsund Sperrungspflicht im Falle unzulässiger Speicherung und Erhebung nicht überleite. § 20 BDSG sei daher keine dem BArchG vorgehende Bestimmung i.S.d. § 2 Abs. 7 BArchG. Dies habe zur Folge, daß die Archivierung auch im Fall unzulässiger Erhebung ein Löschungssurrogat sei. Für dieses Ergebnis stützt Uhl sich auf die Gesetzesbegründung zum BDSG, wo es heißt: „Die Regelung soll ermöglichen, daß personenbezogenen Daten, die zu löschen wären, dem Bundesarchiv angeboten werden und, sofern ihnen bleibender Wert im Sinne des § 3 BArchG zukommt, zu übergeben sind. Es wird klargestellt, daß § 18 (§ 20 endgültige Fassung) keine dem Bundesarchivgesetz vorgehende Rechtsvorschrift über die Vernichtung von Unterlagen im Sinne des § 2 Abs. 7 BArchG i s t 3 6 6 . Das Ergebnis entspricht ohne Zweifel archivfachlichen und wissenschaftlichen Interessen. Es erscheint auch im Hinblick auf die Archivaufgabe der unabhängigen Forschungssicherung nicht hinnehmbar und sinnwidrig, eine Pflicht zur Vernichtung für den realistischen Fall anzunehmen, daß sich die Rechtswidrigkeit der Datenerhebung erst bei der Erschließung oder Nutzungsfreigabe herausstellt. Dies gilt umsomehr, wenn gerade in der Rechts-
sollte jedenfalls bis zum Erlaß des o. g. § 20 Abs. 8 BDSG die Archivierung unzulässig erhobener oder gespeicherter Daten nicht möglich sein. 365 Uhl S. 88; ebenso wohl auch Ordemann/Schomerus, BDSG, § 20 Anm. 9 m.w.N. 366 BT-Drs. 11/4306 zu Art. 1 Abschnitt B zu § 18 Abs. 7.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Widrigkeit ein hervorragender historischer Wert begründet ist. Sollten etwa die berühmten „Nixon Tapes" der Watergate-Affäre, die heute über das Internet vertrieben werden, nach hypothetisch anwendbarem deutschem Recht wirklich zwingend zu vernichten sein? Auch werden etwa nach dem StasiUnterlagenG umfangreiche personenbezogene Daten archiviert, die kaum rechtsstaatswidriger erhoben sein könnten. Die Verweisungsregelung des BArchG ist allerdings wegen der Eindeutigkeitsanforderungen des Gesetzesvorbehalts für den Fall des Grundrechtseingriffs Zweifeln ausgesetzt 367 . Das inhaltliche Verhältnis von § 2 Abs. 7 BArchG zu § 20 BDSG 1990 ist trotz der Gesetzesbegründung zur Archivklausel des BDSG nicht eindeutig. Es bleibt unklar, ob ein Fall zeitlichen Vorrangs des späteren Gesetzes gegenüber dem älteren (lex posterior derogat legi posterori) oder sachlicher Spezialität des bereichsspezifischen gegenüber dem allgemeinen Datenschutzgesetz vorliegt. Bundes- und Landesgesetzgeber bleiben daher zu einer gesetzlichen Klärung des unbefriedigenden Zustands aufgerufen, die archivischer Praxis und der verfassungsrechtlichen Archivaufgabe gerecht wird. I I . Archivierung von Unterlagen, die Geheimhaltungsvorschriften unterliegen Alle Archivgesetze gehen im Grundsatz übereinstimmend davon aus, daß mit den archivgesetzlichen Anbietungs- und Ablieferungspflichten einfache, „unqualifizierte" Rechtsvorschriften über Geheimhaltung, die lediglich die unbefugte, d.h. nicht durch Gesetz gestattete Offenbarung untersagen, für den Zweck der Archivierung und Archivgutnutzung ebenso überwunden werden wie der einfache datenschutzrechtliche Gesetzesvorbehalt. Unklar bleibt allerdings, wann einfache, „unqualifizierte" Rechtsvorschriften über Geheimhaltung vorliegen. Diese Unterscheidung wird in den Landesarchivgesetzen von Berlin und Niedersachsen vermieden. Die Gesetzgeber in Berlin und Niedersachsen sahen von speziellen landesgesetzlichen Übergabeermächtigungen offenbar deswegen ab, weil sie die archivgesetzliche Anbletungspflicht als prinzipiell vorrangiges Spezialgesetz gegenüber allen landesrechtlichen Geheimhaltungsanordnungen ansehen. Im Gegensatz dazu hielten die übrigen Gesetzgeber es für geboten, für die umfassende Dokumentation staatlicher Tätigkeit und zur Sicherung breiter, historischer und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung 368 spezielle, 367 Uhl widerspricht sich insoweit, weil er für § 3 Abs. 1 LArchG Baden-Württemberg trotz des weiten Wortlauts der Anbletungspflicht ein dem BArchG entsprechendes Ergebnis ablehnt, weil das LDSG keine Regelung enthalte. a.a.O. S. 91. 1
Manegold
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
archivgesetzliche Übermittlungsbestimmungen zu schaffen, die spezielle Geheimhaltungs- und Datenschutzvorschriften zum Zweck der Archivierung und späteren Benutzung durch Dritte partiell aufheben oder „lockern" (Übergabeermächtigungen). Sie werden durch Archivklauseln in einigen „vorarchivgesetzlichen" Sondergesetzen ergänzt, die jedenfalls in Verbindung mit der allgemeinen Anbletungspflicht eine Archivierung und spätere Nutzung ermöglichen. Exemplarsich ist hier das Melderecht zu nennen 369 . Soweit die Archivgesetze Schutzklauseln zu Art. 10 GG enthalten 370 , die Unterlagen, deren Offenbarung gegen das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis verstoßen würde, von der Anbletungspflicht ausdrücklich ausnehmen, haben sie nur deklaratorischen Charakter. Der Schutzbereich des Art. 10 GG, der die Vertraulichkeit individueller Kommunikation im Brief-, Post-, Telefonverkehr schützt, wird nicht berührt bei Briefen, die an öffentliche Stellen adressiert oder vom Empfänger willentlich übergeben oder rechtmäßig beschlagnahmt wurden 3 7 1 . 1. „Lockerung " spezieller, bundesgesetzlicher Geheimhaltungsvorschriften durch § 2 Abs. 4 Nr. 1 und §§ 8, 10 BArchG Da bundesgesetzliche Geheimhaltungsvorschriften durch ein Landesgesetz wegen Art. 31 GG nicht überwunden werden können, sind § 2 Abs. 4 Nr. 1 und Nr. 2 BArchG in Verbindung mit den Überleitungsvorschriften 368 Amtliche Begründungen Bund BT-Drs. 11/498 vom 19.6.1987 S. 1-14 zu § 2 Abs. 3 des Entwurfs; LT-Drs.-Baden-Württemberg LT-Drs. 9/3345 vom 17.7.1986; Einleitung und zu § 3 LArchG Baden-Württemberg; dazu auch Freys S. 32 ff.; Uhl S. 66 ff. 369 § 10 BArchG i . V . m . § 71 SGB X ; § 10 Abs. 5 S. 2 MRRG ermächtigt die Länder zu regeln, unter welchen Voraussetzungen in den Fällen der Aufgabenerledigung und des Löschungsgebots Daten vor ihrer Löschung oder gesonderten Aufbewahrung dem zuständigen Archiv zur Übernahme angeboten werden. Von dieser Ermächtigung hat die Mehrzahl der Landesgesetzgeber zwischenzeitlich Gebrauch gemacht. (MRRG vom 16.08.1980 BGBl. I. S. 1429 ff., geändert durch ÄndG v. 24.02.1983, BGBl. I S. 179, 186; dazu: Fricke/Oldenhage, Die Archivklausel im Melderechtsrahmengesetz, Der Archivar 34 (1981) Sp. 360-364; Bericht des Innenausschusses zum MRRG-ÄnderungsG, BT-Drs. VIÖ/4333 S. 1, 4. Eine vergleichende Darstellung dieser Regelungen aus archivarischer Sicht bei Fricke, Die neuen Landesmeldegesetze, Der Archivar 39 (1986) Sp. 445-454; Uhl S. 83 f. 370 § 2 Abs. 1 S. 2 BArchG; Art. 6 Abs. 1 S. 4 LArchG Bayern; § 4 Abs. 3 LArchG Brandenburg, § 6 Abs. 2 S. 4 LArchG Mecklenburg-Vorpommern; § 7 Abs. 1 S. 2 LArchG Rheinland-Pfalz; § 3 Abs. 2 S. 2 LArchG Hamburg. 371 Amtliche Begründungen: zu § 2 Abs. 1 S. 2 BArchG BT-Drs. 371/84 S. 8; Bayerischer Landtag LT-Drs. 11/8185; Maunz/Dürig, GG, Art. 10 Rz 10 ff. Uhl (S. 86 f.) ordnet die Klausel nicht zutreffend ein. Dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG gemäß hätte Art. 10 GG ausdrücklich genannt werden müssen; Jarass/Pieroth, GG, Art. 10 GG Rz 3 f.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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der §§ 8, 9, 10, 11 BArchG von besonderer Bedeutung für den Umfang der Anbietungs- und Übergabepflichten in Bund und Ländern, ohne daß es auf eine Beurteilung der den Landesarchivgesetzen in Berlin und Niedersachsen einerseits und den übrigen Archivgesetzen andererseits zugrundeliegenden unterschiedlichen Konzepte hier ankommt. Der Katalog des § 2 Abs. 4 Nr. 1 BArchG zielt auf die partielle Aufhebung vier ausgewählter bundesgesetzlicher Geheimhaltungsvorschriften ab. Für Unterlagen, die den bundesrechtlichen Geheimhaltungsvorschriften des Steuer- oder Sozialgeheimnisses unterliegen (§ 30 AO und § 35 SBG X), ermöglichen § § 8 und 10 BArchG die Übernahme durch Landes- und Kommunalarchive unter der Voraussetzung, daß bundesgesetzliche Schutzstandards für Steuerunterlagen „sinngemäß angewendet" werden ( § 8 S. 2 BArchG) bzw. für Sozialverwaltungsunterlagen „gesetzliche Vorschriften der Länder", die Schutzfristen des BArchG „nicht unterschreiten" ( § 1 0 Nr. l b ) BArchG, § 71 Abs. 1 S. 2 SBG X ) 3 7 2 a) Steuergeheimnis Nach dem in § 30 der Abgabenordnung (AO) normierten Steuergeheimnis ist es Amtsträgern und ihnen Gleichgestellten untersagt, Verhältnisse, die ihnen beim Besteuerungsverfahren bekannt geworden sind, sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse unbefugt zu offenbaren. § 30 AO Abs. 4 Nummern 1 bis 5 listen abschließend die Gründe auf, nach denen die Offenbarung der Kenntnisse zulässig ist, ohne die Archivierung zu nennen. § 30 Abs. 4 Nr. 2 A O läßt die Offenbarung nur zu, „soweit sie durch
372
Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit Länder und Kommunen bei der Übernahme und Nutzungsgewährung von bundesrechtlichen Bestimmungen abweichen dürfen, sofern sie sich dabei i m verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen bewegen. Die unterschiedlichen Formulierungen in §§ 8 und 11 BArchG scheinen dies zuzulassen. In dem ursprünglichen Gesetzesentwurf des § 10 a BArchG, der auf Änderungsvorschlag des Bundesrates zur Ergänzung des § 2 Abs. 4 BArchG zurückgeht, hieß es nur „wenn die schutzwürdigen Belange Betroffener durch geeignete Maßnahmen angemessen berücksichtigt werden." (BR-Drs. 155/87 vom 05.06.1987, S. 14). Aus der Beschlußempfehlung des Innenausschusses vom 19.11.1987 Drs. 11/1215 S. 14 ergibt sich jedoch, daß dem Änderungsvorschlag des BR nur mit der Maßgabe zugestimmt werden sollte, daß bei der Übergabe und Nutzung von Unterlagen, die Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung unterliegen, der Schutz der Belange des Betroffenen „nicht hinter den übrigen Schutzvorschriften des BArchG zurückbleibt und eine Gleichbehandlung in Bund und Ländern gewährleistet ist." Trotz der abweichenden Formulierungen in §§ 8, 10 und 11 BArchG sollten jeweils bundesarchivgesetzliche Nutzungsbedingungen übernommen werden. Andernfalls wäre zumindest i m Falle des § 11 BArchG bereits die Übernahme unzulässig, da § 11 als Bedingung gefaßt ist und die Übernahme der bundesarchivgesetzlichen Sperrfristen zwingend anordnet. 1*
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Gesetz ausdrücklich zugelassen ist." § 2 Abs. 4 Nr. 1 B A r c h G mußte daher § 30 A O ausdrücklich nennen. A u f diese Weise wurde eine verfassungsr e c h t l i c h 3 7 3 und sogar strafrechtlich b e d e n k l i c h e 3 7 4 Praxis der A r c h i v i e r u n g v o n Steuerunterlagen aufgrund finanzbehördlicher
Verwaltungsvorschriften
aufgegeben. § 9 B A r c h G stellt Archivare und Amtsträger i n A r c h i v e n den Amtsträgern der Finanzverwaltung i m H i n b l i c k auf die materiellen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse „ g l e i c h " . D i e dienstrechtliche Amtsverschwiegenheit w i r d allerdings durch das archivgesetzliche Erschließungs- und Nutzungsrecht entsprechend modifiziert und nicht auf die Archivare „erstreckt". Für die A n b i e t u n g und Übergabe v o n Stellen des Bundes an Staatsarchive der Länder ist § 2 Abs. 3 i n Verbindung m i t Abs. 4 Nr. 1 B A r c h G die Ermächtigungsnorm; für Stellen der Länder und der K o m m u n e n ist dies § 8 B A r c h G , der i n Satz 2 zugleich bestimmt, daß diese die Bestimmungen des § 5 Abs. 3 B A r c h G inklusive der 80jährigen Schutzfrist zu beachten haben375.
373
In der Zeit vor Erlaß des BArchG versuchte die Finanz Verwaltung in Verwaltungsvorschriften (Ministerbeschlüssen und internen Rundschreiben), die Staatsarchive zu Steuerarchiven im Sinne der A O „umzufirmieren" und die Archivare formal zu Steuerbeamten zu erklären. Diese Praxis war wegen des datenschutzrechtlichen Zweckbindungs- und Gesetzesvorbehalts unzulässig, weil damit auch wesentliche Änderungen in der Aufgabenzuweisung nur durch oder aufgrund eines parlamentarischen Gesetzes oder zumindest einer Rechtsverordnung hätten durchgeführt werden können; Meilinger, Datenschutz im Bereich von Information und Dokumentation, S. 207 f. Ziffer 3.1.1.1.2.; Oldenhage, Archivrecht?, in: Boberach/Booms (Hrsg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs, S. 187 (200); Steinmüller, Datenschutz im Archivwesen, Der Archivar, 33 (1980) Sp. 175 ff., 181 f.; Uhl S. 68; Zorn, Die Bewertung von Schriftgut der Finanz Verwaltung. Ein Erfahrungsbericht und Diskussionsbeitrag, Der Archivar 35 (1982) Sp. 421-442 (429). 374 Soweit den Steuerdaten im Einzelfall ein „materieller Geheimnischarakter zukommt, kann § 203 Abs. 2 i. V. m. Abs. 4 StGB einer Archivierung entgegenstehen. Das Steuergeheimnis ist zwar grundsätzlich durch den Tod des Betroffenen zeitlich begrenzt. Einer wissenschaftlichen Verwertung standen aber erhebliche Unsicherheiten entgegen, da von einer mutmaßlichen Einwilligung regelmäßig nicht ausgegangen werden kann; Steinmüller Sp. 182; Dreher/Tröndle, StGB, § 203 Anm. 2, 3, Meilinger S. 136 f., 207. 375 Die Bedeutung von § 8 i. V. m. § 2 Abs. 4 BArchG für den Bereich der Landesverwaltung und der Landesarchive übersehen Freys S. 34 f. und Nadler S. 187 ff. Die Landesgesetzgeber konnten auf eine ausdrückliche Bezugnahme auf § 8 verzichten. Die Landes- und Kommunalarchive dürfen die 80-Jahres-Frist nicht unterschreiten. Vgl. dazu die amtlichen Begründungen: Baden-Württemberg LT-Drs. 9/ 3345 S. 5; Bayern LT-Drs. 11/8185; Hamburg LT-Drs. 13/7111; Hessen LT-Drs. 12/3944; Nordrhein-Westfalen LT-Drs. 10/3372; Rheinland-Pfalz LT-Drs. 11/2802; Uhl S. 69 Fn 10.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
229
Sofern nicht wie nach den Landesarchivgesetzen in Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt ohnehin dieselben Sperrfristen wie nach dem BArchG gelten 3 7 6 , ordnet die Mehrzahl der Landesarchivgesetze die entsprechende Geltung der §§ 2 Abs. 4 S. 2, §§ 4 und 5 Abs. 1 bis 7 und 9 BArchG für Unterlagen, die §§8, 10 oder 11 BArchG unterfallen, ausdrücklich a n 3 7 7 . Im Bereich des Steuergeheimnisses haben diese Bestimmungen nur deklaratorische Funktion: wo eine ausdrückliche landesgesetzliche Bezugnahme auf das Nutzungsregime des § 8 BArchG fehlt, gilt § 8 S. 2 BArchG unmittelbar. Von dieser Sichtweise sind die Gesetzgeber in BadenWürttemberg und Sachsen ausgegangen, da hier § 6a Abs. 2 LArchG Baden-Württemberg bzw. § 10 Abs. 5 LArchG Sachsen nur auf §§ 10 oder 11 BArchG Bezug nehmen. Dies gilt auch für das LArchG Berlin, wo eine entsprechende Fortgeltungsanordnung überhaupt fehlt. Problematisch ist das LArchG Niedersachsen, das in § 5 Abs. 3 S. 1 für Unterlagen, die sonstigen Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung unterfallen, die Geltung der kürzeren landesgesetzlichen Sperrfristen anordnet. Da § 8 BArchG von „sinngemäß anzuwenden" spricht, liegt, insoweit das Steuergeheimnis betroffen ist, also ein Fall von nachrangigem, nichtigen Landesrecht vor. Dies gilt nur für die Nutzungsregelung; die Übernahme entsprechender Steuerunterlagen durch Landesarchive wird dadurch nicht berührt. § 8 BArchG gilt unmittelbar; die Bundesgesetzgebungskompetenz folgt als Annex aus der Steuergesetzgebungskompetenz für die A O 3 7 8 . b) Sozialgeheimnis § 71 Abs. 1 S. 3, § 84 Abs. 6 SGB X i . V . m . § 2 Abs. 4 Nr. 1 BArchG Die öffentliche Verwaltung erhebt in kaum einem anderen Bereich eine vergleichbare Fülle personenbezogener Daten, wie im Bereich des Sozialrechts 379 . Die Anknüpfung an das allgemeine Sozialgeheimnis im Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches führt dazu, daß wesentliche Bereiche staat376 Vgl. § 3 Abs. 3 LArchG Rheinland-Pfalz, § 11 Abs. 2 und 3 LArchG Saarland, § 10 Abs. 3 LArchG Sachsen-Anhalt. 377 LArchGe in: Bayern Art. 10 Abs., 3 S. 5; Brandenburg § 12 Abs. 2; Bremen § 11 Abs. 2; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 4; Hessen § 16 Abs. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 6; Nordrhein-Westfalen § 12 Abs. 2; Schleswig-Holstein § 12 Abs. 2; Thüringen § 18 Abs. 2. 378 Unzutreffend Nadler S. 188 f. 379 §§ 2 bis 10 des SGB-AT; dazu Schulin, Sozialrecht, S. 394 f. Rz 943. Der Begriff der Sozialdaten i.S.d. § 35 SGB-AT umfaßt alle Angaben über persönliche und sachliche Verhältnisse, die i m Zusammenhang mit dem sozialrechtlichen Ver-
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
licher Steuerung im Sozialbereich der zukünftigen historischen Forschung erschlossen werden. Dies ist umso mehr zu begrüßen, als die Rechtsprechung den Geltungsbereich des Sozialgeheimnisses extensiv auslegt 380 . Angesichts des quantitativ und qualitativ erheblichen Ausmasses staatlicher Tätigkeit in diesen Bereichen, die die gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Realität besonders stark prägt, war der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus verpflichtet, ein Mindestmaß an historisch-wissenschaftlicher Dokumentation in diesem Bereich zu ermöglichen 3 8 1 . Das sozialrechtliche Sonderdatenschutzrecht der §§ 67-78 SGB X ist unnötig kompliziert und unübersichtlich. Es gilt nach § 35 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGB-AT auch für Daten Verstorbener. Nur wenn „schutzwürdige Interessen des Verstorbenen" (!) oder seiner Angehörigen nicht beeinträchtigt werden „können", soll eine Verarbeitung oder sonstige Nutzung zulässig sein 3 8 2 . Gemäß § 67 d SGB X ist eine Übermittlung von Sozialdaten nur zulässig, soweit eine gesetzliche Übermittlungsbefugnis i m SGB X vorliegt, die durch das Artikelgesetz des § 10 BArchG als Archivklausel des § 71 Abs. 1 S. 2 SGB X geschaffen wurde. Sie gestattet eine Übermittlung von Sozialdaten an öffentliche Archive, „soweit sie erforderlich ist für die Erfüllung der gesetzlichen Pflichten zur Sicherung und Nutzung von Archivgut nach den § § 2 und 5 des Bundesarchivgesetzes oder entsprechenden gesetzlichen Vorschriften der Länder, die die Schutzfristen dieses Gesetzes nicht unterschreiten" 383 . fahren nach SGB A T und SGB X erhoben und verarbeitet werden, sowie Betriebsund Geschäftsgeheimnisse. 380 BVerfGE 91, 123: Die Tatsache des Bezugs von Sozialhilfe gehört bereits zu den personenbezogenen Daten. Es spielt keine Rolle, ob den persönlichen oder sachlichen Verhältnissen, um die es im Einzelfall geht, etwas anhaftet, das als diskriminierend empfunden werden kann. Maßgeblich ist allein, daß bei der Preisgabe der Eigenschaft von Bezügen als „Sozialleistung" schon wegen der damit verbundenen Offenbarung des wirtschaftlichen Status des Leistungsempfängers ein Geheimhaltungsinteresse anzuerkennen ist. Vgl. Hase, in: Borchert/Hase/Walz u.a. (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum SGB X, § 69 Rz 87 m. w. N. 381 Zur hervorragenden Bedeutung von „Sozialdaten" und Daten der Leistungsverwaltung bereits Meilinger S. 60 ff. Ziffer II. 3.2.2. 382 Nach § 67 Abs. 1 SGB X hat jeder Anspruch darauf, daß die ihn betreffenden Sozialdaten i.S.d. § 35 Abs. 1 S. 1 SGB-AT von den Leistungsträgern nicht „unbefugt" erhoben, verarbeitet oder genutzt werden (Sozialgeheimnis). Nach § 67 Abs. 2 SGB X ist eine Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten nur unter den Voraussetzungen der §§ 67a-78 SGB X zulässig, die die Offenbarungsgrenzen abschließend regeln. §§ 67a-78 SGB X enthalten ein unübersichtliches Sonderdatenschutzrecht für Sozialdaten, das besonders strenge Anforderungen an die Datenerhebung, -Verarbeitung und -nutzung stellt. Aus § 37 S. 2 SGB-AT ergibt sich, daß sozialrechtliche Sonderregelungen in den übrigen Büchern des SGB den Standard der §§35 SGB-AT i . V . m . §§ 67a ff. SGB X nicht unterschreiten dürfen.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
231
Damit ist die unverkürzbare 80-jährige Schutzfrist des § 5 Abs. 3 BArchG für personenbezogenes Archivgut i.S.d. BArchG einschlägig. Aus der Formulierung des § 71 Abs. 1 S. 3 SGB X ergibt sich, daß die Landesarchivgesetze die Schutzfrist des § 5 Abs. 3 BArchG ausdrücklich aufnehmen müssen. Dies ist mit Ausnahme des LArchG Berlin in allen Landesarchivgesetzen, die die 80-Jahres-Sperrfrist unterschreiten, geschehen 384 . Die Archivierung entsprechender Unterlagen dürfte daher in Berlin de lege lata unzulässig sein. c) § 32 Gesetz über die Deutsche Bundesbank, § 9 Kreditwesengesetz § 32 des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank macht die Offenbarung von Informationen über Angelegenheiten, Einrichtungen und Geschäfte der Bundesbank durch deren (ehemalige) Beschäftigte von der konkreten Genehmigung des Zentralbankrats oder des Bundesbankpräsidenten abhängig, die durch § 2 Abs. 4 Nr. 1 BArchG ersetzt wird. § 9 des Gesetzes über das Kreditwesen verbietet den beim Bundesaufsichtsamt Beschäftigten nur das „unbefugte Offenbaren" und stellt keine qualifizierte Geheimhaltungsvorschrift dar, so daß an sich eine befugende Norm in Gestalt der allgemeinen Anbletungspflicht, jedenfalls die Vörratsregelung der Nr. 2 hätte genügen müssen. Das Bundesaufsichtsamt arbeitet jedoch gemäß § 7 K W G mit der Bundesbank zusammen, so daß insoweit 383 Die Archivklausel des § 71 Abs. 1 S. 2 SGB X wird ergänzt durch eine ausdrückliche Ausnahme vom Löschungsgebot in § 86 Abs. 6 SGB X (vgl. § 10 Nr. 2 und 3 BArchG): da § 84 Abs. 2 S. 2 SGB X die Löschung nach Aufgabenerledigung zur Pflicht macht, ist in § 84 Abs. 6 SGB X eine Archivklausel eingefügt, die im Hinblick auf § 2 Abs. 7 des BArchG archivierte Sozialdaten vom Löschungsgebot ausnimmt. Die Archivierung von gemäß § 76 Abs. 1 SGB X besonders geschützten Sozialdaten i.S.d. § 203 Abs. 1, Abs. 3 StGB (spezifische Berufsgeheimnisse der Ärzte, Psychologen, Rechtsanwälte, Sozialarbeiter, etc.) wird nach § 76 Abs. 2 Nr. 2 SGB X ermöglicht, der insoweit Funktion eines strafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes hat. Diese verbleiben unter dem Regime dieser Berufsgeheimnisse; sie dürfen grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen übermittelt werden, unter denen der Träger des Berufsgeheimnisses diese selbst weitergeben dürfte. Zu den einzelnen strafrechtlichen Offenbarungsbefugnissen und Offenbarungspflichten (§§ 807 ZPO, § 34 ErbschaftsStG, 100 SGB X, etc.) siehe Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. A., Band 5, § 203 StGB Rz 75-88. 384 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6a Abs. 2; Bayern Art. 10 Abs., 3 S. 5; Brandenburg § 12 Abs. 2; Bremen § 11 Abs. 2; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 4; Hessen § 1 6 Abs. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 6; Nordrhein-Westfalen § 12 Abs. 2; Sachsen § 10 Abs. 5; Schleswig-Holstein § 12 Abs. 2; Thüringen § 18 Abs. 2. In Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt brauchte eine entsprechende Erstreckungsklausel daher nicht aufgenommen zu werden.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Inkongruenzen mit den Offenbarungsstandards bei der Bundesbank nicht entstehen sollten. Aufgrund dieser faktischen Verknüpfung hat man es als nicht vertretbar angesehen, § 9 K W G unter § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG zu subsumieren 385 . 2. Bundesgesetzliche Vorratsregelung in § 2 Abs. 4 Nr. 2 und § 11 BArchG Nach § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG werden „andere als in Nr. 1 genannte Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung"
für die Archivierung im Bundesarchiv, in den Staatsarchiven und sonstigen öffentlichen Archiven in den Ländern und Kommunen für die Zwecke der Archivierung partiell ausgesetzt. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 1 1 BArchG gilt dies auch für die spätere Nutzung durch die historische Forschung 386 . § 11 BArchG gewinnt so den Charakter einer „Vorratsregelung": noch zu erlassenden Gesetzen des Bundes und der Länder, die Geheimhaltungstatbestände enthalten, muß grundsätzlich keine Archivklausel mehr beigefügt werden 3 8 7 . a) Normative Funktion des § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG Problematisch ist die Reichweite der Vörratsregelung der § § 2 Abs. 4 Nr. 2, 11 BArchG. Nach dem Wortlaut gilt § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG für sämtliche bundesrechtlichen Rechtsvorschriften (Gesetze und sonstige Normen) über Geheimhaltung, also alles, was nicht unbefugt offenbart werden soll. Daß Rechtsvorschriften des Bundes - und der Länder (s. u.) über Geheimhaltung, die „nur eine unbefugte Offenbarung" untersagen, hinter die archivgesetzlichen Anbletungspflichten zurücktreten, wird jedenfalls im Ergebnis auch von der herrschenden Meinung nicht mehr bestritt e n 3 8 8 . Unklar und umstritten bleibt allerdings, wann und warum das der Fall ist. Daß besondere Berufsgeheimnisse einer Archivierung im Ergebnis keinesfalls im Wege stehen, folgt bereits im Umkehrschluß aus § 9 BArchG, der die Berufsgeheimnisse auf die öffentlichen Archivare „erstreckt". Ent385 386 387 388
Amtliche Begründung BT-Drs. 371/84 S. 9. Uhl S. 61 (69) Fn 10 m . w . N . Ebenso Uhl a.a.O. Uhl S. 81, Fn 32 m.w.N.; Freys S. 37, 57.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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sprechende Unterlagen sollten also eindeutig archiviert werden. Unklar ist, ob die „besonderen Berufs- und Amtsgeheimnisse" i.S.d. § 39 BDSG, die als solche zwar nur die unbefugte Offenbarung untersagen, deren Zweckbindungslockerung nach § 39 Abs. 2 BDSG allerdings eines „besonderen Gesetzes" bedarf, bereits durch die allgemeine archivgesetzliche Anbietungs- und Übergabepflicht oder erst durch § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG und entsprechende Länderbestimmungen „gelockert" werden. Unklar ist mithin auch die normative Funktion der Vörratsregelung der §§ 2 Abs. 4 Nr. 2, 11 BArchG. Setzt bereits die allgemeine Anbletungspflicht einfache Offenbarungsverbote außer Kraft, kommt § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG nur deklaratorische, keine „öffnende" Bedeutung zu. Den Archivgesetzen liegen insofern unterschiedliche Konzeptionen zugrunde, wie der Vergleich insbesondere des BArchG mit den LArchGen Niedersachsens und beispielsweise Brandenburgs zeigt. Eindeutig ist lediglich der kompetenzielle Ausgangspunkt, daß bundesgesetzliche Geheimhaltungsregelungen nur durch den Bund aufgehoben werden können. b) Generalklausel statt Einzelaufzählung Die Frage der erforderlichen Regelungsdichte für die „Datenöffnungsklauseln" des BArchG war umstritten und ist nicht abschließend geklärt worden. Der Innenausschuß des Bundestages hatte die Sachverständigen für Datenschutz um Stellungnahme zur Frage der Regelungsdichte gebeten 389 . Der Bundesdatenschutzbeauftragte Baumann trat sowohl in seiner schriftlichen Stellungnahme als auch in der mündlichen Anhörung mit Nachdruck für eine Numerus-clausus-Lösung ein, da der Gesetzgeber so gezwungen werde, sich mit jeder einzelnen Geheimhaltungsvorschrift auseinanderzusetzen und die Güterabwägung durch Anhaltspunkte in den Gesetzesmaterialien erleichtert werde. Einen praktischen Bedarf und eine Rechtfertigung für eine Vorratsregelung, die auch künftig zu schaffende Geheimhaltungsvorschriften durchbricht, könne er nicht erkennen. Er halte eine abschließende Aufzählung für besser als die vorgesehene Pauschalregelung. Andererseits äußerte Baumann nicht eindeutig die Ansicht, daß eine Auflistung aus gesetzestechnischen Gründen für die Zulässigkeit einer Archivierung erforderlich sei. In der Anhörung beschränkte sich Baumann auf die zweideutige Feststellung, daß die vorgeschlagene Regelung der §§ 2 Abs. 4, 8, 10, 389 F r a g e n j 5 d e s Innenausschusses an die Sachverständigen für Datenschutz: „Sind Sie der Auffassung, daß alle Geheimhaltungspflichten, die durch die Pflicht zur Übergabe an das Bundesarchiv durchbrochen werden sollen, im Gesetz aufzuzählen sind mit der Folge, daß auch die Notwendigkeit der Durchbrechung i m einzelnen zu begründen ist?" (Innenausschuß des B T Ausschußdrucksache 10/112, S. 2; BT-Dokumentation S. 95.
234
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
11 BArchG „einem kursorischen Überblick nach datenschutzrechtlichen Kautelen" genüge 390 . Im Gegensatz dazu schlug der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Leuze die generalklauselartige Fassung der Abgabepflicht im LArchG Baden-Württemberg („Anzubieten sind auch Unterlagen, die durch Geheimhaltungsvorschriften geschützt sind ...") auch für das BArchG vor. „Besondere Geheimhaltungspflichten" würden dann einer Archivierung nicht entgegenstehen. Leuze hat eine pauschale, gesetzliche Vorratsregelung als „Lockerung" auch besonderer Geheimhaltungsbestimmungen also normativ für ausreichend gehalten 391 . Der hessische Datenschutzbeauftragte Simitis äußerte ausdrücklich die Ansicht, daß eine „Vorratsregelung" ausreichend und geboten sei: „Die gesetzlichen Geheimhaltungsbestimmungen des Bundesrechts werden mit der Regelung der Übergabepflicht im BArchG als lex posterior abgeändert". Allerdings sei im Gesetz klarzustellen, daß bis zum Ablauf der archivischen Sperrfrist die besonderen Geheimhaltungsbestimmungen sich auch auf das Archivgut des Bundesarchivs erstrecken. Eine gesetzliche Aufzählung der einzelnen Geheimhaltungsvorschriften könne zwar geeignet sein, mehr Klarheit zu schaffen, sei aber aus gesetzestechnischen und datenschutzrechtlichen Gründen im Bundesgesetz nicht erforderlich 392 . Im Ergebnis wurde die von Baumann geforderte Aufzählung von bundesgesetzlichen Geheimhaltungsnormen im BArchG entsprechend der Liste des B M I aus dem Jahre 1987 3 9 3 deswegen als ungeeignet und im Ergebnis als 390
Stenografisches Protokoll BT-Innenausschuß 10. Wahlperiode Nr. 80 S. 80/ 102, BT-Dokumentation S. 261 ff. Baumann hatte aus dem datenschutzrechtlichen Zweckbindungsgrundsatz abgeleitet, daß der Gesetzgeber an der „Schnittstelle" zwischen Archiv und Exekutive, „genau regeln müsse, welche Daten für den Zweck der Archivierung an das Bundesarchiv übergeben werden dürfen" (Stellungnahme Innenausschuß des BT, Ausschußdrucksache 10/112, S. 71, 80; BT-Dokumentation S. 155). 391 Nach der Ansicht der Sachverständigen Leuze sollten die allgemeinen Datenschutzgesetze der Weitergabe an Archive ohnehin nicht entgegenstehen, sondern nur spezielle Geheimhaltungsregelungen. Abgesehen von diesen benötige im Ergebnis lediglich die Nutzung durch Dritte die Regelung in Form eines Parlamentsgesetzes, da die allenfalls existierenden Verwaltungsvorschriften nicht der Wesentlichkeitstheorie entsprächen. An anderer Stelle äußert Leuze hingegen widersprüchlich, es sei sachlich geboten für jedes einzelne Geheimnis unter Berücksichtigung des damit verfolgten Zwecks zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Durchbrechung zugunsten der Archive zugelassen oder verlangt werden könne (Leuze, Stellungnahme für Innenausschuß des BT, Ausschußdrucksache 10/112, S. 7 f., 11; BT-Dokumentation S. 95). 392 Innenausschuß des BT, Ausschußdrucksache 10/112, S. 53; BT-Dokumentation S. 137. 393 Abgedruckt bei Uhl S. 75, 76, 77.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
235
entbehrlich angesehen, w e i l eine Aufzählung der intervallmäßigen A k t u a l i sierung bedürft hätte und zwingend lückenhaft gewesen wäre. 3. Generalklauseln in den
zur Geheimhaltungslockerung Landesarchivgesetzen
Sämtliche Landesarchivgesetze außer i n B e r l i n und Niedersachsen enthalten entsprechende
„Öffnungsklauseln",
die die Anbletungspflichten
aus-
drücklich auf Unterlagen erstrecken, die - „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung unterliegen" ( § 3 Abs. 1 S. 2 LArchG Baden-Württemberg und § 3 Abs. 3 Nr. 2 LArchG Hamburg), - „unter einem besonderen Geheimnisschutz stehen oder sonstigen Geheimhaltungsvorschriften unterliegen" (Art. 6 Abs. 1 Nr. 2 LArchG Bayern), - „einem Berufs- oder Amtsgeheimnis oder sonstigen Rechtsvorschriften über Geheimhaltung unterliegen" (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 S. 1 LArchG Brandenburg, § 3 Abs. 2 Nr. 2 LArchG Bremen, § 6 Abs. 2 Nr. 2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern, § 3 Abs. 2 Nr. 2 LArchG Nordrhein-Westfalen, § 8 Abs. 2 Nr. 2 LArchG Saarland), - „besonderen Rechtsvorschriften über Geheimhaltung oder über den Datenschutz unterworfen sind" ( § 1 0 Abs. 1 S. 3 LArchG Hessen), - „nach gesetzlichen oder sonstigen Vorschriften geheimzuhalten sind oder einem Berufs- oder Amtsgeheimnis unterliegen" (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 LArchG Rheinland-Pfalz), - „dem Datenschutz und dem Geheimschutz unterliegen, soweit Rechtsvorschriften nichts anderes bestimmen" (§ 5 Abs. 1 S. 3 LArchG Sachsen), - „Rechtsvorschriften des Bundes oder Landes über Geheimhaltung unterliegen" (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 b) LArchG Sachsen-Anhalt), - „besonderen Geheimhaltungvorschriften unterliegen" (§ 6 Abs. 1 S. 1 LArchG Schleswig-Holstein), - „besonderen Rechtsvorschriften über Geheimhaltung oder über Datenschutz unterliegen" (§ 11 Abs. 2 S. 1 LArchG Thüringen). W ü r d e diesen Bestimmungen v o n erheblich abweichender begrifflicher Reichweite normative B e d e u t u n g 3 9 4 für den U m f a n g der Anbletungspflichten zukommen, führte dies zu unsinnigen Ergebnissen: 394
Unter den Begriff der „Rechtsvorschrift" fallen alle Rechtsnormen mit Außenwirkung, also Gesetze im materiellen Sinne, d.h. eine hoheitliche Anordnung, die für eine unbestimmte Vielzahl von Personen allgemeinverbindliche Regelungen enthält (Verfassung, förmliches Gesetz, Rechts Verordnung, Satzung). Unter den erheblich weiteren Begriff der „Vorschriften" fallen auch alle Anordnungen der Verwaltung, die für den außerhalb der Verwaltung stehenden Bürger keine Rechtsbeziehungen begründen (keine „AußenWirkung"). Als Sammelbegriff hat sich der Begriff der Verwaltungsvorschriften (Durchführungsvorschriften, Richtlinien, Erlasse, Dienstan-
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Kann beispielsweise mit dem Begriff „Geheimhaltungsvorschriften" gemeint sein, daß nur (?) untergesetzliche Geheimhaltungsanordnungen zurücktreten, nicht aber höherrangige „Rechtsvorschriften" über Geheimhaltung. Ist im umgekehrten Fall, in denen die Anbletungspflicht sich ausdrücklich auf Unterlagen bezieht, die „Rechtsvorschriften" über Geheimhaltung unterfallen, gemeint, daß Verwaltungsrichtlinien über Geheimhaltung, also Verschlußsachenanweisungen und -einstufungen der Behörde, als solche der Archivierung wirksam entgegenstehen (etwa eine wie die Erfahrung zeigt gar nicht hypothetische Anweisung des Inhalts: „Ausgesonderte Verschlußsachen brauchen dem zuständigen Staatsarchiv nicht angeboten zu werden"). Bereits aus dieser Überlegung folgt, daß den o.g. Bestimmungen jeweils nur „klarstellende", deklaratorische, jedoch keine eigenständige normative Öffnungsfunktion zukommen kann. Die spezialgesetzliche, archivrechtliche Anbletungspflicht ist insoweit ausreichend. 4. Verzicht auf Generalklauseln zur Geheimhaltungslockerung in den Landesarchivgesetzen von Berlin und Niedersachsen Die Landesarchivgesetzgeber in Berlin und Niedersachsen verzichten konsequenterweise - auf eine Klausel zur „Geheimhaltungslockerung" ganz. Die Formulierung in § 4 Abs. 1 S. 1 LArchG Berlin „ . . . sämtliche Unterlagen, die nicht mehr im Geschäftsgang ... benötigt werden" und in § 3 Abs. 1 LArchG Niedersachsen „sämtliches Schriftgut" sollen sämtliche landesrechtlichen Geheimhaltungsvorschriften und -bestimmungen erfassen und aussetzen. In der amtlichen Begründung zum niedersächsischen Landesarchivgesetz heißt es dazu: „Damit das Staatsarchiv seinen Archivierungsauftrag erfüllen kann, wird in (§ 3 Abs. 1) Satz 1 eine umfassende gesetzliche Anbletungspflicht begründet. Die Pflicht gilt grundsätzlich auch für Schriftgut, das Geheimhaltungs-, Sperrungs-, Löschungs- oder Vernichtungsvorschriften unterliegt. Davon ausgenommen sind lediglich solche Daten, für die der Landesgesetzgeber wegen der Unzulässigkeit der Speicherung, beispielsweise wenn das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 Abs. 1 GG verletzt würde, oder in bereichsspezifischen Regelungen eine vorrangige gesetzliche Löschungspflicht festgesetzt h a t " 3 9 5 . Weisungen) herausgebildet. Ihre Zulässigkeit ergibt sich ohne besondere gesetzliche Grundlage aus der Organisationsgewalt und der Weisungsbefugnis der hierarchisch übergeordneten Behörde. Vgl. Creifeld/Kaufmann (Hrsg.), Rechtswörterbuch, Stichworte: Rechtsvorschrift, S. 944; Verwaltungsvorschrift S. 1317. 395 Amtliche Begründung der Landesregierung vom 15.12.1992 zu § 3 LArchG Niedersachsen in LT-Drs. 12/4271 S. 12; vgl. auch Gesetzesbegründung in Berlin:
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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5. Stellungnahme: Deklaratorische Funktion des § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG und der entsprechenden Landesbestimmungen. Vorrang der Anbletungspflicht Zieht man aus dem kompetenziellen Standpunkt von Simitis vom Vorrang des späteren Gesetzes (lex posterior derogat legi anteriori) die Konsequenz und legt zutreffend zugrunde, daß aus verfassungsrechtlichen Gründen keine höhere Regelungsdichte erforderlich ist, ist die - spezialgesetzliche - allgemeine Anbietungs- und Übergabepflicht des BArchG geeignet, sämtliche vorher und nachher ergangenen Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung - sowohl gesetzliche als auch erst recht untergesetzliche - partiell auszusetzen und unter das Nutzungsregime der Sperrfristen zu stellen, sofern nicht ein späteres spezielles Bundesgesetz die Archivierung für die jeweilige Unterlagenart ausdrücklich ausschließt. Denn für „einfache" Geheimhaltungsvorschriften, die nicht selbst die Archivierung ausdrücklich verbieten, ist die Übergabepflicht vorrangige befugende Norm. § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG zielt danach als speziellere Regelung gerade auf die Aussetzung „qualifizierter" Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung ab, die nicht lediglich die unbefugte Offenbarung untersagen. § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG hat für das Bundesarchiv lediglich deklaratorische und nur für die Archivierung in Landesarchiven i . V . m . § 11 BArchG als „Überleitungsvorschrift" normative Bedeutung. Auch aus manchen Gesetzesbegründungen der Länder ergibt sich im Ergebnis, daß die o.g. Gesetzesfassungen nur „klarstellen" sollen, daß in der Tat sämtliche Unterlagen anzubieten und ggfs. zu übergeben sind 3 9 6 . LT-Drs. 12. Wahlperiode 12/2302 S. 5: Darunter fallen gesperrte Daten und solche, die „besonderen GeheimhaltungsVorschriften" unterliegen. 396 Vgl. insbesondere die amtliche Begründung zu § 3 LArchG Bremen: „Unterlagen, die unter besonderem gesetzlichen Geheimnisschutz stehen oder sonstigen GeheimhaltungsVorschriften im weitesten Sinne unterliegen" (LT-Drs. 12/1193 vom 26.03.1991 S. 13). In der ausführlichen amtlichen Begründung der bayrischen Landesregierung (Bay-LT-Drs. 11/8185 S. 11 Ziffer 6.1.3. zu Art. 6 LArchG Bayern) heißt es: „Geheimhaltungs- und Datenschutzvorschriften sollen der Anbletungspflicht generell nicht entgegenstehen, weil die Schutzfristen und Benutzungsvorschriften, insbesondere die Möglichkeit der Einzelfallauflage bzw. -untersagung und Sperrfristverlängerung ausreichen, um sowohl schutzwürdige Belange Betroffener oder Dritter als auch überwiegende Interessen des Gemeinwohls angemessen zu berücksichtigen. Die Anbletungspflicht ermöglicht die Übergabe aller Unterlagen, die einem Berufsgeheimnis unterliegen. Es handelt sich um keine „unbefugte" Offenbarung (vgl. §§ 203, 353b StGB). Auch Unterlagen der Polizei, des Verfassungsschutzes, der zivilen Verteidigung und insbesondere auch deren Verschlußsachen sind anzubieten, sobald sie nicht mehr für die Verwaltung benötigt werden, ebenso Unterlagen, die
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Den unterschiedlichen Begriffen kommt daher jedenfalls im Bereich der Anbletungspflichten 397 nur deklaratorische Bedeutung zu, mögen manche Sachverständige auch von einer normativen, öffnenden Funktionen im Sinne einer „Übergabeermächtigung" ausgegangen sein. Die gesetzlichen Anbletungspflichten der Archivgesetze setzen alle Geheimhaltungsvorschriften im weitesten Sinne partiell aus. Sie haben das Regel- und Ausnahmeverhältnis der Archivierung zu vormals wegen Spezialität vorrangigen gesetzlichen Geheimhaltungs- und Vernichtungsanordnungen umgekehrt. Die Archivierbarkeit kann entweder nur durch ein ausdrückliches Archivierungsverbot im jeweiligen Gesetz ausgeschlossen werden; oder eine Archivierung scheidet aus, weil der Zweck eines spezialgesetzlichen Vernichtungs- oder Löschungs- oder Geheimhaltungsgebots offenkundig entgegensteht. Die Anbletungspflicht erstreckt sich daher ipso iure auf sämtliche Unterlagen des Bundes oder der Länder, die jeder Art von Vorschriften, Einzelanordnungen, Verschlußsachen, Rechtsvorschriften, Rechtsverordnungen, Gesetzen, etc. über Geheimhaltung im weitesten Sinne unterfallen, unabhängig vom Zeitpunkt ihres Erlasses, es sei denn daß ausnahmsweise ein späteres Parlamentsgesetz eine spezielle Sperrungs- oder Löschungspflicht anordnet. Dies kann nach richtiger Auffassung nur durch eine ausdrückliche Ausnahme von der Archivierungspflicht in einem späteren Gesetz geschehen. 6. Gegenüber dem BArchG vorrangige spezialgesetzliche bundesrechtliche Geheimhaltungs geböte ? Dies nötigt zu einer vorurteilsfreien Überprüfung der vorgeblichen Spezialität von Löschungs- und Geheimhaltungsgebote gegenüber dem BArchG und den Landesarchivgesetzen. Die Archive werden hier Überzeugungsarbeit zu leisten haben 3 9 8 . Unter Rückgriff auf Meilingers ältere, vor dem Erlaß der Archivgesetze verfaßte A r b e i t 3 9 9 werden nach wie vor u.a. die nach gesetzlichen Bestimmungen gelöscht werden müssen, sofern diese Pflicht nicht wegen rechtswidriger Datenerhebung besteht." Mecklenburg-Vorpommern-LT-Drs. 2/2310 S. 20 f.; Hamburg LT-Drs. 13/7111 S. 7; Hessen LT-Drs. 12/3944 S. 14; Niedersachsen LT-Drs. 12/4271 S. 12; Nordrhein-Westfalen LT-Drs. 10/3372 S. 15; Rheinland-Pfalz LT-Drs. 11/2802 S. 21; Saarland LT-Drs. 10/945 S. 11; Sachsen-Anhalt LT-Drs. 2/383 S. 21; SchleswigHolstein LT-Drs. 12/1615 S. 23; Thüringen LT-Drs. 1/1005 S. 16. 397 Anders die Begriffe für besondere Nutzungssperrfristen und Einzelfall versagungen. S.u. 6. Kap. C. V. und VI. 398 I m Ergebnis ebenso Uhl S. 82. 399 Meilinger, Datenschutz i m Bereich von Dokumentation und Information, dort S. 207 ff.; Meilinger konnte 1983 allerdings die Lösung durch umfassende archivgesetzliche Anbletungspflichten nicht berücksichtigen.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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folgenden Gesetze als gegenüber der Anbletungspflicht des B A r c h G vorrangig a n g e f ü h r t 4 0 0 . Dies ist i m Ergebnis unzutreffend: a) § 61 Personenstandsgesetz D i e Bedeutung der Personenstandsbücher (Geburts-, Heirats- und Sterberegister bzw. Bücher) für die historische Forschung braucht nicht gesondert begründet zu werden. Für bestimmte Fragestellungen neuerer Geschichte k o m m t diesen Quellen eine „ M o n o p o l s t e l l u n g " zu, da bestimmte Forschungsvorhaben m i t dem Zugang „stehen oder fallen". Personenstandsbücher sind hervorragende Quellen, der Genealogie und historischen D e m o graphie und S o z i o l o g i e 4 0 1 . 400
Uhl S. 84 f., 92 ff.; Freys S. 35 ff.; Nadler S. 24 ff., 50. Dazu geben die Sachverhalte folgender Gerichtsentscheidungen Aufschluß: Beschluß des Landgerichts Frankenthal vom 30. Januar 1985 (FamRZ 1985 S. 615 ff. = NJW 1985 S. 2539 = StAZ 1985 S. 310 ff., dazu Anm. Bayer in FamRZ 1986, S. 642 ff.). Die nach §§ 49 Abs. 1, 48 Abs. 2 PStG, 20 Abs. 1, 21 FGG eingelegte Beschwerde eines Geschichtsprofessors einer nordrhein-westfalischen Universität wies das L G zurück: Das Gericht untersagte dem Forscher die Einsicht und Durchsicht von Heirats- und Geburtsbüchern der Jahrgänge 1927, 1936, 1955 und 1964 zum Zwecke statistischer Erhebungen i m Rahmen eines Forschungsvorhabens „Soziale Mobilität und Heiratsverhalten in Deutschland i m 19. und 20. Jahrhundert", weil der Schutz der Persönlichkeit bei Gewährung der vom Antragsteller begehrten Einsicht nicht gewährleistet sei. Vielmehr müsse es dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, angesichts der Rechtsprechung des BVerfG die Vorschrift des § 61 PStG dergestalt zu ändern, daß für Forschungsvorhaben bestimmte Daten aus den Standesregistern unter gesetzlich zu definierenden Voraussetzungen weitergegeben werden dürften, da allein der Gesetzgeber in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen könne. Weitere Beschlüsse des Landgerichts Aachen vom 29. April 1988 (Az 3 T 383/ 87; unveröffentlicht): zum Forschungsvorhaben des Stadtarchivs mit dem Arbeitstitel „Von der Emanzipation zum Holocaust - Die jüdische Gemeinde in Aachen von 1805 bis 1942" und des Amtsgerichts Paderborn vom 4. Januar 1990 (Az 32 ABS. 3 63/88) und des Landgerichts Paderborn vom 18. Mai 1990 (Az 5 T 71/90): Das Stadtarchiv Lippstadt plante eine Dokumentation über die Jüdische Bevölkerung in Lippstadt i m Anschluß an eine Ausstellung zum Thema „Das Leben und Leiden der jüdischen Minderheit in Lippstadt vom Mittelalter bis zu den letzten Deportationen 1942". Dafür begehrte das Stadtarchiv, daß seinen Mitarbeitern vom Standesbeamten die Durchsicht der Register oder sonstiger Unterlagen gestattet werden sollte, die für die Feststellung nötig und ausreichend sind, welche Juden im Zeitraum ab 1. Oktober 1884 bis Dezember 1945 dem Standesamt als verstorben gemeldet worden sind. Dabei sollte eine jeweils möglichst vollständige namentliche Liste der jüdischen Mitbürger erstellt werden. Entsprechend dieser Zielsetzung verbot sich eine Anonymisierung sowohl bei der Durchsicht der Register als auch der Veröffentlichung der Ergebnisse. Nachdem das Amtsgericht den Einsichts- und Durchsichtsantrag gemäß § 45 Abs. 1 PStG mit pauschalem Hinweis auf das Urteil des BVerfG zum VolkszählungsG abgelehnt hatte, gab das Landgericht dem Antrag mit der Maßgabe statt, daß Einsicht zu gewähren sei, soweit dies für die Feststellung des 401
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Dennoch sollen nach h. M Personenstandsbücher selbst aus dem Zeitraum v o n 1876 bis 1938 grundsätzlich nicht A r c h i v g u t werden können. Eine Übergabe v o n Personenstandsbüchern an A r c h i v e und ihre Nutzung zur historischen Forschung sei generell ausgeschlossen 4 0 2 , w e i l § 61 Personenstandsgesetz 4 0 3 (PStG) die Einsicht i n Personenstandsbücher v o m Vorliegen eines „rechtlichen Interesses" abhängig m a c h e 4 0 4 . Dabei w i r d übersehen, daß § 61 PStG ausschließlich das unmittelbare Verhältnis z u m Benutzer des Personenstandsregisters regelt. Das Gesetz sagt nichts zur Frage der Aufgabenerledigung und Entbehrlichkeit für die abgebende Stelle und über eine vorrangige Vernichtung oder Löschung. Vorausgesetzt die Unterlagen sind zur E r f ü l l u n g v o n Verwaltungsaufgaben tatsächlich nicht mehr erforderlich, fallen Personenstandsbücher daher grundsätzlich unter die archivgesetzlichen Anbietungs- und Abgabepflich.405
ten
Forschungszweckes erforderlich sei, welche Juden in dem angegebenen Zeitraum verstorben gemeldet wurden. 402 So Freys S. 38 und Nadler S. 73. Bedauern über die vorgebliche Lücke der Archivierung äußert Oldenhage, Bemerkungen zum Bundesarchivgesetz, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477 (485); Uhl S. 85, hält eine Anpassung an Bedürfnisse der Forschung für dringend geboten. Dies soll sogar gelten, wenn eine Landesregierung von der Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung gemäß § 70 a Abs. 1 Nr. 3 PStG Gebrauch gemacht und den Personenstandsarchiven Archiv-Aufgaben übertragen hat. Vgl. Amtliche Begründung zum LArchG Nordrhein-Westfalen, LT-Drs. 10/ 3372 S. 12. 403 Personenstandsgesetz i.d.F. v. 8.8.1957, BGBl. I S. 1126; geändert am 26.6.1990, BGBl. I. S. 1163. 404 Privatpersonen gestattet § 61 Abs. 1 S. 3 PStG die Durchsicht der Personenstandsbücher, wenn sie ein „rechtliches Interesse" geltend machen können. Dagegen ist ein bloß „berechtigtes Interesse" nicht ausreichend. Das bedeutet, daß die Durchsicht der Personenstandsbücher zur „Verfolgung von Rechten und der Abwehr von Ansprüchen erforderlich sein muß"; Masfeller/Hoffmann, PStG, 22. Lieferung 1985, § 61 RZ 21; vgl. auch Amtsgericht Hamburg, StAZ 1981 S. 136. Teilweise sind bestimmte Lockerungen eingeführt worden: für Einsicht in die Zivilstandsregister oder die Nebenregister, die vor 1876 geführt worden sind, genügt in manchen Ländern bereits ein berechtigtes Interesse, das bei einem „ernsthaften Forschungsvorhaben" in der Regel bejaht wird. Vgl. DVOen zum PStG: Nordrhein-Westfalen v. 10.12.1974 (StAZ 1975, 55); Rheinland-Pfalz v. 3.4.1981 (StAZ 1981, 288); BadenWürttemberg v. 5.12.1983 (StAZ 1984, 56); Bremen v. 11.2.1986 (StAZ 1986, 151). Dagegen wenden andere Standesämter weiterhin § 61 PStG auch auf ihre vor 1876 geführten staatlichen Register an. Zwecke privater Forschung läßt die weitaus h.M. nicht ausreichen und lehnt die Durchsicht mit dem pauschalen Hinweis ab, die in Art. 5 Abs. 3 GG garantierte Forschungsfreiheit finde ihre Grenze an den Rechten Dritter. Dabei wird vielfach in verfassungsrechtlich nicht zulässiger Weise zwischen „privater" und staatlicher" Forschung differenziert; Bayer, Die Durchsicht von Personenstandsbüchern zum Zwecke historischer Forschung, FamRZ 1985 S. 646; ders. Jus 1989 S. 191, 201.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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b) Gesetze über die Geheimdienste In den Gesetzen über den Bundesverfassungschutz § 27 BVerfSchG, den militärischen Abschirmdienst § 13 MADG, den Bundesnachrichtendienst § 11 BNDG wird die Geltung des § 20 BDSG ausgesetzt, so daß die Vorrangregelung des § 20 Abs. 8 BDSG zugunsten des BArchG für diese Bereiche formal nicht gilt. Das BDSG beschränkt sich auf Unterlagen, die sich auf natürliche Personen beziehen. Die übrigen Unterlagen der Geheimdienste sind daher unzweifelhaft unter Beachtung der besonderen Abschottungsmöglichkeiten anzubieten 406 . Aber auch bezüglich der personenbezogenen Geheimdienstunterlagen spricht bereits der Wortlaut des § 2 Abs. 4 S. 1 BArchG und der in den Beratungen des Innenausschusses des Bundestages zu Tage getretene Wille der Parlamentarier, eine umfassende Dokumentation und eine „nachgeholte" historische Kontrolle der verborgenen staatlichen Tätigkeit zu ermöglichen, für eine Archivierbarkeit. Die exekutivische „Eigenkontrolle" und die Kontrolle durch die nur anlaßbezogen tätig werdenden parlamentarischen Kontrollkommisionen wird von einem Teil der Literatur als unzureichend angesehen 407 . Die Datenschutzbeauftragten Leuze und Simitis sind von einem Vorrang auch einer pauschalen Vorratsregelung für zukünftige Gesetze selbstverständlich ausgegangen. Daher kann nicht von einem Vorrang der Gesetze über die Geheimdienste gegenüber dem BArchG ausgegangen werden. Auch Abhörprotokolle nach § 7 Abs. 3 „G-10 Gesetz" 4 0 8 sind grundsätzlich archivierbar. Das „G-10-Gesetz" stammt aus dem Jahr 1968 und fällt unter den Vorbehalt des späteren Gesetzes. Auch hier kann eine ausreichende Abschottung in Archiven gewährleistet werden. Für eine Archivierbarkeit spricht in Anbetracht der auch nachträglich nicht erforderlichen Be405 Da § 70 a Abs. 1 Nr. 3 PStG eine historische Funktion der Personenstandsregister grundsätzlich anerkennt, ist nicht einsehbar, daß die betroffene Behörde nicht selbständig über eine Abgabe an die zuständigen Kommunal- und Staatsarchive entscheiden kann, damit eine bestmögliche und einheitliche wissenschaftliche Auswertung erfolgen kann. Lediglich die negative Bewertungskompetenz der Archive über eine Vernichtung ist im Fall der Archivierung nach dem gesetzlichen Zweck des PStG ausgeschlossen. A. A. Uhl, Freys a.a.O. 406 Vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 BArchG, amtliche Begründung in BT-Drs. 371/84. 407 So Hirsch, Die Kontrolle der Nachrichtendienste. S. 321 ff.; Borgs-Maciejewski, Zur parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste, ZRP 1997 S. 362 f. 408 Das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Art. 10 GG, G10) vom 13.8.1968 (BGBl. I S. 949) sieht eine strenge Zweckbindung an die Katalogtaten des § 2 und 3 „G10" vor. § 7 Abs. 4 „G10" schreibt die Vernichtung mit Ausnahme von Daten vor, die zur gerichtlichen Nachprüfung der Überwachungsmaßnahme gespeichert werden. Diese sind nur zu sperren und für die gerichtliche Überprüfung zu verwenden. 1
Manegold
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
nachrichtigung des Betroffenen über den „Lauschangriff' das Argument einer „nachgeholten" öffentlichen Kontrolle. c) Bundeswahlordnung, Bundesstatistikgesetz, Volkszählungsgesetz, Personalausweis- und Paßgesetz, Kriegsdienstverweigerungsgesetz, § 80 Abs. 2 AusländerG Bei Unterlagen, die o.g. Gesetzen unterfallen, soll nach herkömmlicher Auffassung wegen qualifizierter, fristbewehrter Vernichtungsbestimmungen bei Erreichung des Erhebungszwecks eine Archivierung als Löschungssurrogat nicht in Betracht kommen: § 90 Bundeswahlordnung verfügt die unverzügliche Vernichtung der Wahlbenachrichtigungen, Wählerverzeichnisse, Wahlscheinverzeichnisse und Wahl Vorschlagslisten 6 Monate nach der Wahl und aller übrigen Wahlunterlagen bis 60 Tage vor der Wahl des neuen Bundestages 409 . Im Falle von § 12 Bundesstatistikgesetz und § 15 Abs. 2 bis 5 Volkszählungsgesetz und den entsprechenden Landesvorschriften sind die öffentlichen statistischen Ämter zur frühestmöglichen Löschung der sogenannten „Hilfsmerkmale" verpflichtet 410 . Dies gilt auch nach § 2a Abs. 3 Personalausweisgesetz 411 und § 21 Abs. 4 Paßgesetz 412 und für Akten über das Anerkennungsverfahren von Kriegsdienstverweigerern, die gemäß § 2 Abs. 6 K D V G 6 Monate nach Beendigung des Zivildienstes zu vernichten sind 4 1 3 . § 80 Abs. 2 AusländerG gebietet i.V.m. § 8 Abs. 2 AusländerG 4 1 4 die Vernichtung von allen Unterlagen über Ausweisung und Abschiebung nach Ablauf von 10 Jahren. Das Gesetz wurde in Kenntnis der §§ 8, 10, 11 BArchG erlassen und ist nach dem BArchG in Kraft getreten. Die Landesarchive müssen danach die Abgabe modellhafter Bestände fordern können, was angesichts der gesellschaftlich nicht absehbaren Bedeutung der Migration und Einwanderung naheliegt. 409
BWO vom 08.03.1994 BGBl. 1994 I S. 495 ff. BGBl. 1987 I S. 2078 ff. 411 BGBl. 1986 I S. 548. 412 BGBl. 1986 I S. 537; 1990 I S. 2018; weitere Beispiele insbesondere zum Löschungsgebot des Art. 45 Abs. 4, Abs. 5 Bayrisches Polizeiaufgabengesetz bei Uhl S. 96 ff. mit einer Liste weiterer bundesgesetzlicher Löschungspflichten S. 98 f. Fußn. 68. 413 Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung und des Zivildienstes vom 28.02.1983, BGBl. 1983 I S. 203; zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.12.1990, BGBl. I 1990 S. 2809. 414 Gesetz über die Neuregelung des Ausländerrechts vom 09.07.1990, BGBl. I 1990 S. 1354 f. 410
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Es liegen keine Fälle eines abschließenden Offenbarungskataloges oder eines ausdrücklichen Archivierungsverbotes, sondern Fälle der Zweckerreichung vor. Maßgeblich muß daher sein, ob der Zweck der konkreten Löschungsvorschrift einer Archivierung - Archivwürdigkeit unterstellt - auch unter Beachtung der Sperrfristen und gesetzlichen Möglichkeiten zur Nutzungsbeschränkung tatsächlich entgegensteht. Das sollte bei Löschungsund Vernichtungsgeboten wegen Erreichung des Erhebungszwecks grundsätzlich nicht der Fall sein. Bei ausreichender institutioneller und faktischer Abschottung insbesondere gegenüber der erhebenden Behörde erscheint weder das Wahlgeheimnis noch das informationelle Selbstbestimmungsrecht gefährdet. Ein Archivierungsverbot besteht daher nicht. I I I . Archivierung von Verschlußsachen 7. Funktion der Verschlußsacheneinstufung und ihre normative Bedeutung für die Archivierung Die Verschlußsacheneinstufung (VS-Einstufung) konkretisiert das allgemeine Amts- und Dienstgeheimnis und bestimmt seine Grenzen durch die dienstrechtlich verbindliche Feststellung dessen, was im Einzelfall vertraulich ist (vgl. §§ 61 BBG, 9 BAT). Bei VS handelt es sich um „besondere Amtsgeheimnisse" 415 . Verschlußsacheneinstufungen sind ein verwaltungsinternes, organisatorisches Hilfsmittel zur Sicherung einer gleichmäßigen verwaltungsinternen Handhabung von Geheimhaltung. Die VS-Einstufung kann sowohl ein spezialgesetzlich vorgegebenes Geheimhaltungsgebot durchsetzen (gesetzesgeleitete VS), als auch im Rahmen der Organisationsgewalt der jeweiligen Behörde und der dienstrechtlichen Weisungsbefugnis des Dienstherrn eine bestimmte, „materielle" Geheimhaltungspflicht für die jeweiligen Amtsträger „konstituieren". Die Verschlußsacheneinstufung ist nicht gesetzlich, sondern in behördeninternen Verwaltungsvorschriften, den Verschlußsachenanweisungen (VSA) geregelt. Die Geheimschutzordnung des Bundestages (GSO-BT) wurde der VSA der Bundesregierung nachgebildet 416 . Sie ist Bestandteil der Geschäftsordnung des Bundestages. Der Begriff der VS-Sachen ergibt sich aus § 13 GSO-BT; die Definitionen der Geheimhaltungsgrade „Streng geheim" 415 § 9 Abs. 3 S. 2 LArchG Schlewig-Holstein, § 6 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. 416 GSO-BT erlassen als Anlage 3 aufgrund von § 17 GeschO des Bundestages; ergänzt durch Ausführungsbestimmungen zur Geheimschutzordnung des deutschen Bundestages vom 19.09.1975 in der Fassung und Bekanntmachung vom 02.07.1980, BGBl. I S. 1237; zur GeschO a.F. § 21a; Trossmann: Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Kommentar zur GeschO-BT, § 21 a Rz 3, 4.1.ff. 1*
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
und „ g e h e i m " decken sich m i t dem Wortlaut der
Nutzungsversagungs-
gründe, die die Archivgesetze v o r s e h e n 4 1 7 . VS-Einstufung u n d V S A sind als solche keine tauglichen Archivierungshindernisse. D e n n sie fallen als binnenrechtliche Konkretisierung des A m t s geheimnisses nicht unter den datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt und können als solche der archivgesetzlichen Anbletungspflicht nicht entgegenstehen. Für die Zulässigkeit der Übergabe von VS-Unterlagen als solcher an ein öffentliches A r c h i v ist daher keine ausdrückliche parlamentsgesetzliche Lockerungsvorschrift erforderlich. D i e allgemeine archivgesetzliche Anbletungspflicht g e n ü g t 4 1 8 . Dies g i l t unabhängig davon, ob man die A n bletungspflicht als subjektives Organrecht oder als objektivrechtliches Organisationsrecht ansieht. Es k o m m t allein auf den archivgesetzlichen Tatbestand der Aufgabenerledigung an. D i e Frage, ob eine VS-Unterlage zur Erfüllung der j e w e i l i g e n Aufgaben
zur jederzeitigen
Verfügung
der abgebenden
Stelle
gehalten
werden muß, ist unabhängig von der Frage zu beurteilen, ob ein etwaiges
417 Verschlußsachen (VS) sind Angelegenheiten aller Art, in allen Formen der Darstellung von Kenntnissen, die durch besondere Sicherheitsmaßnahmen gegen die Kenntnis durch Unbefugte geschützt werden müssen. § 2 GSO-BT definiert die Geheimhaltungsgrade „Streng geheim" (Abs. 1: Kenntnis durch Unbefugte gefährdet den Bestand der Bundesrepublik oder eines Landes) und „geheim" (Abs. 2: Kenntnis durch Unbefugte gefährdet die Sicherheit der Bundesrepublik oder eines Landes). Diese decken sich mit den Versagungsgründen, die die Archivgesetze für die Nutzung vorsehen. Anders verhält es sich jedoch mit den geringeren Graden VS-„Vertraulich" (Abs. 3: Kenntnis durch Unbefugte gefährdet die „Interessen" oder das „Ansehen" der Bundesrepublik) sowie VS-„Nur für den Dienstgebrauch", unter den alle Unterlagen fallen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Dieser Auffangtatbestand öffnet der VS-Einstufung einen weitestmöglichen Spielraum. § 3 Abs. 1 konkretisiert einen (geheimnisrechtlichen) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Wahl der Geheimhaltungsgrade: Von den Geheimhaltungstufen ist nur der unbedingt notwendige Gebrauch zu machen. VS sind nicht höher einzustufen, als es ihr Inhalt erfordert, wobei die Kompetenz zur Einstufung die herausgebende Stelle hat (Abs. 2). § 3 bestimmt, daß unter Beachtung des Grundsatzes aus § 3 Abs. 1 GSO sich der Geheimhaltungsgrad einer VS nach dem Inhalt des Teiles der VS zu richten habe, der den höchsten Geheimhaltungsgrad erfordere, sowie in Abs. 3, daß die herausgebende Stelle die VS-Einstufungen staffeln und befristen kann. § 4 Abs. 3, 4 erlaubt den Umgang mit diesen Kategorien nur denjenigen, die zum Umgang mit VS ermächtigt und zur Geheimhaltung förmlich verpflichtet worden sind. 418 s.o. II. 2. Sofern manche Archivgesetzgeber für die Statuierung der Anbietungs- und Übergabepflicht am Begriff der Vorschriften über Geheimhaltung, Geheimnisvorschriften bzw. Geheimhaltungsvorschriften anknüpfen, haben diese Regelungen für die Archivierung von VS-Schriftgut keinen konstitutiven Charakter; vgl. z.B. LArchG Bayern Art 10 Abs. 2 S. 4, LArchG Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 3. Das scheint Polley zu übersehen. Polley, Variatio delectat? ... in: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 38 f.
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Geheimhaltungsbedürfnis oder Offenbarungsverbot besteht. Umgekehrt kann auch bei einer archivierbaren bzw. archivierten VS-Unterlage die Aufrechterhaltung der VS-Einstufung erforderlich sein. Ihrem Schutz dienen dann die besonderen archivgesetzlichen Nutzungsbeschränkungen, wobei im einzelnen noch zu klären ist, ob besondere Sperrfristen, Fristverlängerungen, Nutzungsauflagen oder Einzelfallversagungen einschlägig sind 4 1 9 . 2. Die Anbietung und Abgabe von Verschlußsachen a) VS des Bundes im Geheimarchiv des Bundesarchivs Die Abgabe von Verschlußsachen an das Bundesarchiv bedurfte nach Ansicht der Bundesregierung deswegen keiner besonderen gesetzlichen Regelung, weil „die Verschlußsachenanweisungen schon jetzt die Abgabe von Unterlagen mit VS-Graden, gegebenenfalls nach entsprechender Herabstufung, an das Bundesarchiv zulassen" 420 . Dies ist zwar im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung zutreffend: die internen VSA sind gegenüber der gesetzlichen Anbietungs- und Übergabepflicht des BArchG zwingend nachrangig. Das Abgabeverfahren für Verschlußsachen des Bundes an das Bundesarchiv wird in den Verwaltungsrichtlinien des Bundesministers des Innern „Richtlinien für die Abgabe von Verschlußsachen an das Geheimarchiv des Bundesarchivs" vom 20. März 1991 geregelt 421 . § 2 der VS-Richtlinie bestimmt, daß das Bundesarchiv ein Geheimarchiv unterhält, das die Aufgabe hat, als streng geheim, geheim und VS-vertraulich eingestufte Verschlußsachen, die für die Verwaltung nicht mehr oder nicht mehr laufend benötigt werden, bis zur Aufhebung der VS-Einstufung und Übernahme in die Archivbestände des Bundesarchivs aufzubewahren. Die Stellen des Bundes, 419
Die Archivierung von - nicht formal durch die abgebende Stelle herabgestuften - VS-Unterlagen führt aber u.U. i m Zusammenhang mit den gesetzlichen Benutzungsregelungen für die ursprünglich rein binnenrechtliche VS-Einstufung über die Zuordnung zu einer bestimmten Archivgut-Schutzkategorie zu einer belastenden Außen Wirkung: die Bestätigung der VS-Einstufung durch die Archiv Verwaltung durch Subsumtion unter eine bestimmte Kategorie von Archivgut und unter ein bestimmtes Sperrfristenregime ist vom Standpunkt des Nutzers ein belastender, feststellender Verwaltungsakt mit Außen Wirkung. Die Kompetenz der Archive ergibt sich aus der übergabeermächtigenden Funktion der Anbletungspflichten, s.u. 6. Kap. C. 420 Begründung der Bundesregierung zu § 2 Abs. 3 (späterer § 2 Abs. 4) BArchG, in: BT-Drs. 371/84 S. 9. 421 Verschlußsachen-Archivrichtlinien/VS-ArchivR: (IS 4-606 522-1/7) unveröffentlicht, abgedruckt in: Der Archivar 45 (1992) Sp. 224; zuständige Stelle ist das Geheime Bundesarchiv-Zwischenarchiv, Bundesgrenzschutzstraße 100, St. Augustin, Tel. 02241/21003.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
gemäß § 1 der Richtlinie Bundesbehörden, bundesunmittelbare Körperschaften, Anstalten und Stiftungen und Gerichte des Bundes haben alle nicht mehr benötigten VS dem Geheimarchiv des Bundes anzubieten. Eine Ausnahme besteht gemäß § 10 der Richtlinie für VS der Bundesministerien der Auswärtigen Angelegenheiten und der Verteidigung, die „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen dieser Richtlinie eigene Bestimmungen erlassen". Die abgebende Stelle soll jeweils vor der Abgabe von VS prüfen, ob die Einstufung aufgehoben werden kann mit der Folge, daß die Unterlagen direkt an das offene Bundesarchiv abgegeben werden können. Im umgekehrten Fall bestimmt § 4 Abs. 3 S. 3, 4 der Richtlinie Grundsätze für die VS-Einstufung von Zwischenarchivgut. Danach soll die Einstufung für jede „Aufbewahrungseinheit" einheitlich sein und in der Regel 30 Jahre nach dem Entstehungsjahr der zuletzt entstandenen VS aufgehoben werden, wobei der Gesamtzeitraum zwischen Entstehung der VS und der Aufhebung nicht 60 Jahre übersteigen soll. M i t diesem Zeitrahmen lehnt sich die Richtlinie an archivgesetzliche Bestimmungen an. Das Geheimarchiv teilt der abgebenden Stelle mit, welche der angebotenen VS von ihm dauerhaft übernommen werden und welche vernichtet werden können. Das Geheimarchiv kann zur Vereinfachung des Anbietungsverfahrens im voraus Arten von VS-Archivgut bezeichnen, die grundsätzlich übernommen werden bzw. nicht anzubieten sind. Dem Grundsatz nach ist also auch beim Geheimarchiv des Bundes das Bewertungsmonopol der Archivare gewahrt. Bedenken bestehen insoweit nicht. Wegen der gegenüber VS und VSA höherrangigen Norm der archivgesetzlichen Anbletungspflicht muß die Aufrechterhaltung der Geheimhaltung allerdings für die Erfüllung laufender Verwaltungsaufgaben erforderlich sein. Die abgebende Stelle muß dies gegenüber dem Archiv begründen. § 9 VS-Archivrichtlinie bestimmt, daß die Nutzung der VS durch Dritte (Wissenschaftler) nur mit vorheriger Zustimmung der abgebenden Stelle erfolgen darf, „soweit die Nutzung im staatlichen Interesse liegt und mit der Geheimhaltungsbedürftigkeit der VS vereinbar ist". Für das Zwischenarchiv gilt aber jedenfalls der Nutzungsanspruch gemäß § 5 Abs. 8 BArchG, der § 9 VS-Archivrichtlinie überlagert. b) VS der Länder Auch dem Wortlaut der L A r c h G e 4 2 2 und den amtlichen Begründungen 423 läßt sich der übereinstimmende Wille der Landesarchivgesetzgeber entneh422
§ 11 Abs. 2 S. 2 LArchG Saarland erstreckt die Anbietungs- und Übergabepflicht ausdrücklich auf VS, indem zum Begriff der „besonderen Geheimhaltungs-
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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men, daß die abgebenden Stellen i n j e d e m F a l l Verschlußsachen, ohne daß eine förmliche Herabstufung oder Aufhebung des VS-Grades durch die Ausgangsbehörde zwingend erforderlich ist, dem zuständigen Landes- bzw. Staatsarchiv anzubieten und gegebenenfalls zu übergeben haben, sobald die V S für die Erfüllung der j e w e i l i g e n Verwaltungsaufgaben nicht mehr benötigt w e r d e n 4 2 4 . D i e abgebenden Stellen können sich keinesfalls der Abgabepflicht durch eine beliebig ausgreifende und nicht gerichtlich nachprüfbare VS-Einstufung entziehen. Für die Staatsarchive der Länder bietet sich die M ö g l i c h k e i t , nach dem Vorbild des Geheimarchivs i m Bundesarchiv gleichfalls spezielle Zwischenarchive zu schaffen, die den Erfordernissen des Geheimnisschutzes w i e den Erfordernissen der archivarischen Bewertung gleichermaßen Rechnung tragen. 3. Verstoß der Aussonderungsbekanntmachung-VS der Bayrischen Staatsregierung vom 12. Januar 1993 gegen Art. 6 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 LArchG Bayern Vor diesem Hintergrund überrascht die ergänzende „Bekanntmachung der Bayrischen Staatsregierung über Richtlinien für die Aussonderung, A n b i e -
vorschrift" „insbesondere auch Verschlußsachen" gezählt werden. Aus § 3 Abs. 3 S. 4 LArchG Bremen („Einzelheiten der Archivierung von VS regelt der Senat durch Verwaltungsvorschrift") und § 6 Abs. 2 S. 4 LArchG Mecklenburg-Vorpommern folgt mittelbar, daß VS von der Anbletungspflicht umfaßt sind. Dies folgt auch aus der Benutzungsregelung in § 5 Abs. 2 S. 3 LArchG Niedersachsen, die bestimmt, daß „Verschlußsachen nur genutzt werden dürfen, wenn die Vertraulichkeit aufgehoben ist" (ob durch die abgebende Stelle oder das Archiv, bleibt offen). Nach der amtlichen Begründung zu § 7 Abs. 2 Nr. 2 LArchG Rheinland-Pfalz, der „gesetzliche und sonstige Vorschriften" aufhebt, zählen dazu „insbesondere auch VS-Unterlagen". Nach § 5 Abs. 1 S. 3 LArchG Sachsen sind alle Unterlagen anzubieten, die „dem Datenschutz und dem Geheimschutz unterliegen, soweit Rechtsvorschriften nicht anderes bestimmen"; VS sind vom Wortlaut erfaßt. Dies trifft auch auf diejenigen LArchGe zu, die in der Übergabeermächtigung die Gruppe „sonstige Vorschriften über Geheimhaltung" nicht ausdrücklich erwähnen. Die Ubergabeverpflichtung für VS-Unterlagen folgt bereits aus der allgemeinen gesetzlichen Anbietungs- und Übergabeverpflichtung infolge der Nachrangigkeit der VS-Einstufung gegenüber den Archivgesetzen. Diese Landesgesetzgeber stimmen insoweit in der Frage überein, daß eine Sonderregelung entbehrlich ist. 423 Vgl. die amtlichen Begründungen insbesondere zu den LArchGen in: Mecklenburg-Vorpommern LT-Drs. 2/2310 S. 20 zur Gesetzesspezialität; Hamburg LTDrs. 13/7111 S. 7; Hessen LT-Drs. 12/3944 S. 14; Niedersachsen LT-Drs. 12/4271 S. 12; Nordrhein-Westfalen LT-Drs. 10/3372 S. 15; Rheinland-Pfalz LT-Drs. 11/ 2802 S. 21; Saarland LT-Drs. 10/945 S. 11; Sachsen-Anhalt LT-Drs. 2/383 S. 21; Schleswig-Holstein LT-Drs. 12/1615 S. 23; Thüringen LT-Drs. 1/1005 S. 16. 424 Ebenso Schreckenbach, L K V 1998 S. 291 f.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
tung und Übernahme von Verschlußsachen durch Archive vom 19.09.1991" (Aussonderungsbekanntmachung-VS), die die Verschlußsachenanordnung „ergänzen" s o l l 4 2 5 . Diese sieht bestimmte untergesetzliche Einschränkungen der archivgesetzlichen Anbletungspflicht vor. Auch § 16 Abs. 4 der Bekanntmachung der Bayrischen Staatsregierung über die Änderung der Sicherheitsrichtlinien vom 12. Januar 1993 4 2 6 bestimmt, daß „ausgesonderte Sicherheitsakten dem (...) Bayrischen Hauptstaatsarchiv grundsätzlich nicht angeboten zu werden brauchen."
Diese Anordnung steht im Widerspruch zur vorrangigen archivgesetzlichen Anbietungs- und Übergabeverpflichtung aus Art. 6 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 LArchG Bayern, der bestimmt, daß sämtliche Unterlagen, die „unter einem besonderen Geheimschutz stehen oder sonstigen Geheimhaltungsvorschriften unterliegen", anzubieten und zu übergeben sind. Dies erstaunt um so mehr, weil die bereits zitierte amtliche Begründung zum bayrischen LArchG ausdrücklich hervorhebt, daß „insbesondere die Übernahme als Archivgut von ... Unterlagen der Polizei, des Verfassungsschutzes und der zivilen Verteidigung sowie Verschlußsachen" durch Art. 6 LArchG Bayern ermöglicht werden s o l l 4 2 7 . Die Aussonderungsbekanntmachungen sind daher insoweit rechtswidrig und unwirksam. Hier bietet sich die Möglichkeit an, nach dem Vorbild des Geheimarchivs im Bundesarchiv ein Zwischenarchiv für VS zu schaffen.
I V . Verhältnis der Archivierung zu „materiellen" Berufsgeheimnissen i.S.d. § 203 StGB 7. Strafrechtliche Rechtfertigungsfunktion der Landesarchivgesetze Unabhängig von den Fragen, ob Unterlagen unter die in § 2 Abs. 4 BArchG genannten Vorschriften oder andere verwaltungsrechtliche Rechtsvorschriften über Geheimhaltung fallen oder personenbezogenes Archivgut sind, können jegliche Unterlagen nach dem Willen der Beteiligten zugleich materiellen Geheimnischarakter haben und Gegenstand eines durch § 203 StGB geschützten besonderen Amts- oder Berufsgeheimnisses sein. Das 425
Bayrische Aussonderungsbekanntmachung-VS vom 19.09.1991 Staatsanzeiger Nr. 48, Allgemeines Ministerialblatt S. 892; abgedruckt in: Der Archivar 47 (1994) Sp. 304. 426 Nr. B I I I 3-05A-3-27. Allgemeines Ministerialblatt 1993, S. 215, auszugsweise abgedruckt in: Der Archivar, 47 (1994) Sp. 303 f. 427 LT-Bayern LT-Drs. 11/8185 S. 7 Nr. 3; S. 11 Anm. 6.1.3.; Übergabe von VS-Sachen S. 14.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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sind Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und an deren Geheimhaltung der Betroffene ein sachlich begründetes Interesse hat 4 2 8 . Die Archivierung derartiger Unterlagen ist nur möglich, wenn die in der Übergabe an den zuständigen Archivar liegende Offenbarung das Berufsgeheimnis nicht verletzt, sondern unabhängig von der datenschutzrechtlichen Übermittlungsermächtigung strafrechtlich gerechtfertigt ist. Auch nach Erlaß der Landesarchivgesetze werden gegen die öffentliche Archivierung von Unterlagen im Sinne des § 203 StGB aus strafrechtlicher Sicht weiterhin Bedenken geltend gemacht 429 . Dabei wird übersehen, daß die Landesarchivgesetze wirksame, berufsrechtliche Offenbarungsbefugnisse geschaffen und mithin strafrechtliche Rechtfertigungsfunktion haben, zumindest soweit es um die Übermittlung an das zuständige öffentliche Archiv geht. Als Rechtfertigungsgrund im Sinne des § 203 StGB ist lediglich eine „befugende" Norm erforderlich und ausreichend. § 203 Abs. 2 S. 2 2. Hs. StGB erfordert keine eigenständige, (bundes)datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnis, sondern ist auf die strafrechtliche Funktion beschränkt. Die landesarchivgesetzlichen Abgabepflicht hat daher neben der datenschutzrechtlichen Übermittlungsfunktion gleichzeitig die Funktion eines strafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes im Hinblick auf § 203 Abs. 2 S. 2 2. Hs. S t G B 4 3 0 . § 203 StGB schafft keine neuen, bundesrechtlichen Geheimnisvorbehalte, die nur durch ein Bundesgesetz „gelockert" werden könnten, sondern ordnet lediglich im Wege der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG) strafrechtliche Sanktionen für die Verletzung bestimmter, in aller Regel lan428
So die gängige strafrechtliche Definition; vgl. statt vieler: Dreher/Tröndle, StGB, § 203 Rz 2. 429 Beispielsweise ist Langkeit der Ansicht, daß der angestellte Arzt, der Unterlagen an ein Staatsarchiv abgibt, strafbar sei. Langkeit, Umfang und Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, NStZ 1994 S. 6 ff., 8: Strafbarkeit des Arztes, der Unterlagen an einen haupt- oder nebenberuflichen Archivar weitergibt. Dieser könne dem abgebenden Arzt nicht persönlich zugeordnet werden, da ihn keine persönliche Verantwortung gegenüber dem konkreten Arzt treffe; ebenso Freys S. 35. Vor Erlaß der Archivgesetze war eine Archivierung ärztlicher Patientendaten ohne Anonymisierung oder Einwilligung grundsätzlich rechtswidrig. Zur Rechtslage vor der Archivgesetzgebung, Meilinger S. 208 f. 430 Zur strafrechtlichen Lehre: Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Bd. 5 § 203 StGB, Rz 13, 74, 92 ff., 118; Dort auch zum Problem der Inkongruenz des § 203 Abs. 2 S. 2 StGB mit den datenschutzrechtlichen Grundsätzen des BVerfG (E 65, 1-71). Landesrechtliche Bestimmungen über Offenbarungsbefugnisse oder -pflichten im Bereich des § 203 StGB, welche das Merkmal „unbefugt" ausfüllen, sind nach allgemeiner Meinung zulässig. Dies ergibt sich aus einem Umkehrschluß aus Art. 4 Abs. 2 EGStGB. Dabei müssen die Offenbarungsrechte nach h.M. nicht ausdrücklich begründet werden; sie können sich auch durch Gesetzesauslegung ergeben, Jähnke Rz 74, 94.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
desrechtlicher funktions- und berufsspezifischer Geheimhaltungsvorschriften an. Diese werden tatbestandlich vorausgesetzt. Für die berufs- und standesrechtlichen Geheimhaltungspflichten, ergibt sich die Gesetzgebungskompetenz der Länder ebenso wie für deren „Lokkerung" aus Art. 70 GG. Da die materiellen Geheimnisse ihren Geltungsgrund allgemein i m Berufsrecht der Ärzte, etc. und in den Organisationsund Verfahrensregelungen der jeweiligen Stellen haben, sind die Länder für die Ausgestaltung des Verfahrens der jeweiligen Stelle kompetent 431 . 2. Strafrechtliche Funktion von § 2 Abs. 4 S. 2, § 2 Abs. 7 und § 9 BArchG: Verlängerung der Berufsgeheimnisse in das Bundesarchiv Weil die jeweiligen Berufsrechte in aller Regel in die Länderkompetenz fallen, mußte der Bundesgesetzgeber im Gegensatz zu den Landesgesetzgebern einen anderen regelungstechnischen Weg wählen. M i t § 2 Abs. 4 S. 2 und § 9 BArchG wird der öffentliche Archivar durch eine allgemeine gesetzliche Anordnung den entsprechenden berufsrechtlichen Schweigepflichten unterstellt. Bizer spricht von einer „Verlängerung der Berufsgeheimnisse in die Archive" hinein, ohne allerdings die strafrechtliche Rechtfertigungsfunktion zu erkennen 432 . Kompetenzlücken werden durch die gewählte Lösung umgangen. Folgt die Archivierung den jeweiligen archivgesetzlichen Vorgaben, ist sie daher zugleich - für den Berufsträger - strafrechtlich gerechtfertigt. 431
Vgl. Gesetzesbegründung Baden-Württemberg, LT-Drs. 9/3345 S. 8, in: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 107. Bei den öffentlichen Stellen, deren Mitarbeiter Geheimhaltungspflichten i.S.d. § 203 Abs. 1 StGB unterliegen, handelt es sich um Stellen der Länder oder Kommunen. Sofern ausnahmsweise bundesrechtlich verankerte Geheimhaltungspflichten betroffen sind, ist die Übermittlungsnorm für die jeweiligen Unterlagen an die Kommunal- und Landesarchive § 11 BArchG. Anderer Ansicht ohne Begründung sind Freys a.a.O. und ihm folgend Uhl a. a. O. Soweit die Landesgesetzgeber beispielsweise in § 3 Abs. 1 S. 5 LArchG BadenWürttemberg für die Übergabe von Unterlagen nach § 203 Abs. 1 Nr. 4 und 4 a StGB und nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 LArchG Nordrhein-Westfalen auch für die unter § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB fallenden Unterlagen deren vorherige Anonymisierung fordern, ergibt sich die Gesetzgebungskompetenz für diese zusätzliche Verschärfung aus der Gesetzgebungskompetenz der Länder für den Datenschutz im Bereich ihrer Verwaltungsorganisationshoheit und den Bereich der Wissenschaftsorganisation. 432 Bizer S. 338. Einen vergleichbaren Weg hat der französische Gesetzgeber in Art. 2 des französischen Archivgesetzes eingeschlagen. Loi 79-18 du 3 janvier 1979 sur les archives, JO 5 janvier 1979 p. 43: Tout fonctionnaire ou agent charge de la collecte ou de la conversation d'archives en application des dispositions de la presente loi est tenu au secret professionnel en ce qui concerne tout document qui ne peut etre legalement mis ä la disposition du public.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Der Wortlaut der §§ 2 Abs. 4 S. 2, 9 BArchG ist weiter als es der Zweck des BArchG zuläßt. Die pauschalen Fortgeltungsanordnungen können angesichts des Zwecks der Archivierung nur soweit gelten, als die Archivierung unter Berücksichtigung tatsächlicher und rechtlicher Abschottungsmöglichkeiten, durch die 80jährige Sperrfrist des BArchG, etwaige Nutzungsanonymisierung (ausnahmsweise) nicht als Löschungs- oder Vernichtungssurrogat in Betracht kommt. Sie sind entsprechend der strafrechtlichen Funktion teleologisch zu reduzieren. Denn jedenfalls mit Ablauf der jeweiligen besonderen Sperrfrist sind entsprechende Unterlagen grundsätzlich durch Dritte nutzbar, ohne daß eine Verletzung des materiellen Geheimnisses in Betracht kommt. Problematisch ist allerdings, ob eine fehlerhafte Ermessensausübung über eine Sperrfristverkürzung oder Nutzungsfreigabe die strafrechtliche Rechtfertigungsfunktion entfallen läßt. Das hätte einschneidenden Einfluß auf die entsprechende Bereitschaft der Archivare. V. Zusammenfassung Die Archivgesetze verpflichten nur zum Teil ausdrücklich zur Anbietung und Übergabe datenschutzrechtlich gesperrter Daten; die Mehrheit der Archivgesetze verpflichtet zur Anbietung „sämtlicher" Unterlagen. Eine solche Vorratsregelung genügt grundsätzlich dem datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt. Dies ist nicht der Fall bei der Archivierung personenbezogener Daten, deren Erhebung bereits rechtswidrig war. Auch wenn die Archivwürdigkeit gerade in dem Umstand der rechtswidrigen Speicherung besteht und die Rechtswidrigkeit erst nach der Archivierung festgestellt wird, sind die entsprechenden Unterlagen de lege lata zu vernichten. Eine Gesetzesänderung ist insofern wünschenswert. Unterlagen, die besonderen Vorschriften über Geheimhaltung unterliegen, sind prinzipiell ebenfalls dem Archiv anzubieten und auf Anforderung dem Archiv zu übergeben. Ob und für welche Geheimhaltungsvorschriften ausdrückliche Archivierungsermächtigungen erlassen werden müssen, wird von den Archivgesetzen nicht eindeutig und uneinheitlich geregelt. Einfache Geheimhaltungsvorschriften, die lediglich die unbefugte Offenbarung untersagen, werden nach richtiger Ansicht bereits durch die allgemeine gesetzliche Archivierungspflicht partiell aufgehoben. Dies gilt auch für die rein behördenintern, dienstrechtlich wirkende Einstufung als Verschlußsache (VS), die als solche einer Archivierung nicht entgegensteht. Unklar ist, wann qualifizierte Geheimhaltungsvorschriften vorliegen, die nicht durch die allgemeine Archivierungspflicht „gelockert" werden, sondern der ausdrücklichen Aufhebung durch den jeweiligen Gesetzgeber bedürfen. Angesichts des klaren Wortlauts der archivgesetzlichen Anbletungspflicht ist dies nur bei qualifizierten Löschungsgeboten, ausdrücklichen Ar-
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
chivierungsverboten sowie dann anzunehmen, wenn eine Archivierung mit dem Zweck der Geheimhaltungsvorschrift schlechthin unvereinbar erscheint. Eine Archivierung von Geheimdienstunterlagen, Personenstandsunterlagen und Unterlagen der Ausländerbehörden ist daher entgegen der h. M. zulässig und geboten. Die Anbietungs- und Übergabepflichten der Archivgesetze haben strafrechtliche Rechtfertigungsfunktion im Rahmen von § 203 StGB.
C. Archivierung von nicht-öffentlichen Unterlagen privaten Ursprungs. Deposital- und Ergänzungsarchivgut 1. Ermächtigung zur Archivierung privater
Unterlagen
Mit Ausnahme des LArchG Saarland ermächtigen alle Archivgesetze zumindest die Landes- bzw. die Staatsarchive zum Erwerb von Unterlagen nichtöffentlichen Ursprungs. Die Staatsarchive der Länder können auch Archivgut anderer Stellen und Privater aufgrund von Vereinbarungen oder letztwilliger Verfügungen verwahren, erhalten, erschließen und allgemein nutzbar machen sowie andere Stellen und Private bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben unterstützen, soweit daran ein öffentliches Interesse besteht, mit der Maßgabe, daß besondere Vereinbarungen mit den Eigentümern oder besondere Festlegungen in den letztwilligen Verfügungen unberührt bleiben 4 3 3 . Im Hinblick auf die Primäraufgabe der Landesarchive spricht man von privatem Ergänzungsarchivgut 434 oder Depositalgut, weil die Übernahme in der Regel aufgrund eines privatrechtlichen Depositalvertrages 435 geschieht. Der Depositalvertrag ist ein „Archivvertrag" eigener Art, der Elemente des Verwahrungs-, Auftrags- und Leihvertrages (vgl. §§ 598 ff., 688 ff. BGB) verbindet. Er kann als einseitig verpflichtender und als gegenseitiger Vertrag ausgestaltet werden. Das zivilrechtliche Eigentum wird nicht berührt.
433 § 2 Abs. 8, § 5 Abs. 1 S. 2 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 2 Abs. 4; Bayern Art. 4 Abs. 4; Berlin § 2 Abs. 3; Brandenburg § 14 Abs. 3 Nr. 3; Abs. 5 Nr. 3; Bremen § 1 Abs. 2 Nr. 2; Hamburg § 1 Abs. 2, § 4 Abs. 3; Hessen § 14 S. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 5 Abs. 3; Niedersachsen § 1 Abs. 4; § 3 Abs. 7; Nordrhein-Westfalen § 1 Abs. 2, § 2 Abs. 3; § 7 Abs. 2 S. 3; RheinlandPfalz § 3 Abs. 7; Sachsen § 4 Abs. 4; Sachsen-Anhalt § 5; Schleswig-Holstein § 4 Abs. 3; Thüringen § 16 Abs. 1 S. 2. 434 §§ 1 Abs. 2 Nr. 2, 2 Abs. 2 LArchG Bremen: „ . . . archivwürdige Unterlagen anderer Herkunft, soweit sie der Ergänzung des nach Abs. 1 archivierten Archivguts dienen." 435 § 7 Abs. 1 LArchG Sachsen.
5. Kap.: Die Entstehung von öffentlichem Archivgut
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Es verbleibt dem abgebenden Depositar und gegebenenfalls dessen Rechtsnachfolgern 436 . 2. Datenschutzrechtlicher Gesetzesvorbehalt und Archivierung privater Unterlagen Bei der öffentlichen Archivierung weifen nicht die eigenen Daten des Abgebenden, die von seiner schlüssig mit dem Depositalvertrag erklärten Einwilligung umfaßt sind, sondern personenbezogene Daten über Dritte, über die der Private u.U. verfügt, Probleme auf. Denn deren (präsumptive) ursprüngliche Einwilligung gegenüber dem Depositar deckt i m Zweifel nicht die öffentliche Archivierung. Zwar beschränkt § 27 BDSG die Anwendbarkeit des datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts und Schutzstandards für Private auf Fälle der „geschäftsmäßigen, gewerblichen oder beruflichen" Sammlung und dateimäßigen Verarbeitung personenbezogener Daten durch Private. BDSG-Vorschriften gelten daher nicht für die aktenmäßige Bearbeitung durch Private und jegliche Verarbeitungen zu ideellen, karitativen, gemeinnützigen und persönlich-privaten Zwecken. Das gilt jedoch nur für den Privaten selbst, nicht für das öffentliche Archiv, das auch bei und für die Übernahme („Verarbeitung") personenbezogener Daten in privaten Unterlagen der datenschutzgesetzlichen Bindung unterfällt. Für die datenschutzrechtliche Bindung des öffentlichen Archivs ist insbesondere die Frage, ob ein Depositalvertrag oder eine Übereignung der Unterlagen mit der Folge, daß öffentliches Archivgut entsteht, vorliegt, ohne Bedeutung 437 . Das Eigentum entscheidet allerdings über die Entstehung öffentlichen Archivguts (Widmungsfähigkeit) und die Fortgeltung privater Nutzungseinschränkungen und Auflagen. 436 K G Z U M 1986 S. 550, 552; BGH, NJW 1988 S. 332, 333 (Nachlaß von Ödön v. Horvath); Günther, Zur Übernahme fremden Archivguts durch staatliche Archive, Archivalische Zeitschrift, 1996 S. 37 ff., 51 ff.; ders. in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 144 f. Zur Regelung der Nutzbarmachung, Erschließung, Kostenbeteiligung, zukünftigen Eigentumserwerbs durch das Archiv, unzeitigen Rückgabeverlangens durch den Depositar auch das vom niedersächsischen Hauptstaatsarchiv auf der Grundlage von § 3 Abs. 7 S. 2 LArchG Niedersachsen entwickelte Formular. 437 Ordemann/Schomerus, BDSG § 27 Anm. 2.1. und 3.1. mit kritischer Anmerkung und der Forderung restriktiver, „verfassungskonformer" Auslegung dieser Ausnahmebestimmungen; Freys S. 124. In Übereinstimmung damit definiert § 1 BArchG Archivgut grundsätzlich ohne Unterschied der Herkunft und Eigentumsverhältnisse Zu den entsprechenden landesarchivgesetzlichen Konstruktionen Günther, Zur Übernahme fremden Archivguts durch staatliche Archive, Archivalische Zeitschrift, 1996 S. 37 ff.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Die o.g. Bestimmungen haben daher nicht lediglich deklaratorischen Charakter. Davon scheint das LArchG Saarland auszugehen, das zwar in § 1 1 Abs. 1 S. 2 LArchG Saarland bestimmt, daß besondere Vereinbarungen mit den Eigentümern von Archivgut, das nicht dem Saarland gehört, und testamentarische Bestimmungen unberührt bleiben sollen, aber keine Übergabeermächtigung enthält. Bei konsequenter Anwendung des datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts ist allerdings davon auszugehen, daß dort, wo eine archivgesetzliche Ermächtigung zur Archivierung privater Unterlagen fehlt, eine Übernahme etwaiger personenbezogener Daten Dritter ausscheiden müßte. Das ist im Saarland der Fall und gilt auch für andere öffentliche, aber nichtstaatliche Archive der Kommunen und Universitäten in den Ländern, in denen sich wie z.B. in Baden-Württemberg die Ermächtigung ausdrücklich nur auf „Staatsarchive" erstreckt. 6. Kapitel
Das Recht auf Archivbenutzung A . Archivbenutzungsanspruch und allgemeine Sperrfrist I. Gesetzliche Garantie der Archivöffentlichkeit 1. „Jedermann-Anspruch" Vor dem Inkrafttreten der Archivgesetze 438 bestand nur für die Kommunalarchive ein gesetzlicher Anstaltsbenutzungsanspruch aus den jeweiligen Gemeindeordnungen 439 . Ein durch förmliches Gesetz verbürgtes subjektivöffentliches Recht auf Archivbenutzung war daher ein Hauptanliegen der 438 Zum Archivbenutzungsrecht vor Inkrafttreten der Archivgesetze: Lepper, Die Staatlichen Archive und ihre Benutzung, DVB1. 1963 S. 315 ff.; Miller, Staatliche Archive - Behörden oder Einrichtungen, Der Archivar 16 (1963) Sp. 139; Boberach, Die Archivbenutzung und archivarische Arbeit im Wandel von Interessen und Methoden, Der Archivar 28 (1975) Sp. 19 ff.; Oldenhage, Archivrecht? in: Boberach/Booms (Hrsg.), Aus der Arbeit der Archive, S. 187, 190 f., ders., Brauchen wir ein Archivgesetz?, Der Archivar 33 (1980) Sp. 165, 167; Schöntag, Archiv und Öffentlichkeit i m Spiegel der Benutzungsordnungen für die staatlichen Archive in der Bundesrepublik Deutschland, Der Archivar 30 (1977) Sp. 375 ff.; Meilinger, Datenschutz im Bereich von Information und Dokumentation, 1984, S. 231 ff.; König, Archivgesetzgebung zwischen Datenschutz und Forschungsfreiheit, Der Archivar 38 (1985) Sp. 193, 198. 439 V G H München BayVBl. 1985 S. 366 ff., s.o. 3. Kap. A. I. 1.; Schrittenloher, Die Benutzerordnungen der Stadtarchive mit besonderer Berücksichtigung von Rechtsfragen, Mitteilungen für die Archivpflege in Bayern, 1969 (15) S. 49 ff.; Zuhorn, Archivpflege in: Peters (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 2, S. 210 ff.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Archivgesetzgebung 440 . In der Ausgestaltung als ein „Jedermann-Anspruch" 4 4 1 kommt der Wille der Gesetzgeber zum Ausdruck, eine prinzipielle Archivöffentlichkeit gesetzlich zu garantieren 442 . Der Benutzungsanspruch des § 5 BArchG gilt auch für die im Bundesarchiv errichtete Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R 4 4 3 . Eine Einschränkung auf deutsche Staatsbürger oder ein staatlicher Gegenseitigkeitsvorbehalt für die Benutzung durch Ausländer ist bewußt verworfen worden. Von der Gegenseitigkeitsklausel des § 2 Abs. 2 der früheren Benutzungsordnung des Bundesarchivs wurde abgerückt. Dahinter steht die Erwägung, durch konsequente Anwendung im Gegenzug Benutzern aus Deutschland ausländische Archive zugänglich zu machen und so schrittweise zur Öffnung insbesondere osteuropäischer Archive beizutragen 444 . Durch die archivgesetzlichen Nutzungsregelungen wird der kompetenzielle und materielle Abwägungsrahmen für den Ausgleich widerstreitender öffentlicher und privater Interessen mit denjenigen der historischen Forschung geschaffen. Vorbildlich dafür ist die Systematik des LArchG Brandenburg. §§ 7 ff. LArchG Brandenburg trennen den Archivzugang durch die abgebende Stelle, durch Betroffene 445 , durch Dritte, die Schutzfristen, die Einschränkung und den Ausschluß und Benutzung von Archivgut von Stellen des Bundes. 440
s.o. 4. Kap. A. I. und V. 2. Bund: §§ 5, 6 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6; Bayern Art. 10; Berlin § 8; Brandenburg: §§ 7-12; Bremen §7; Hamburg § 5; Hessen: §§ 14 ff.; Mecklenburg-Vorpommern §§ 9 ff.; Niedersachsen § 5; Nordrhein-Westfalen § 5 ff.; Rheinland-Pfalz § 3; Saarland § 10; Sachsen § 9; Sachsen-Anhalt § 10; SchleswigHolstein §§ 9 ff.; Thüringen: §§ 16 ff. 442 Für den historischen Forscher folgt der Anspruch nach richtiger Auffassung bereits unmittelbar aus Art. 5 Abs. 3 GG (s.o. 3. Kap. A. V.). Wenn einige LArchGe ausdrücklich hervorheben, daß neben natürlichen auch juristische Personen nutzungsberechtigt sind (z.B. Art. 10 Abs. 1 LArchG Bayern), hat dies nicht nur deklaratorische Bedeutung. Allerdings können auch juristische Personen (Universitäten) Grundrechtsträger der Wissenschaftsfreiheit sein. 443 Dolatowski/Meiburg, Die Stiftung der Parteien und Massenorganisationen der DDR i m Bundesarchiv, Der Archivar 51 (1998) Sp. 287 ff. (290). 444 Buchmann, Erfahrungen mit dem BArchG, Der Archivar 43 (1990) Sp. 42, stellt eine deutliche Verbesserung der Beziehungen zu osteuropäischen Ländern fest. Zustimmend Oldenhage, Bemerkungen zum BArchG, Der Archivar 41 (1988) Sp. 478, 488. Die Kritik Graniers, Zur Benutzung von Archivgut des Bundes nach dem BArchG, Der Archivar 42 (1989) Sp. 390, greift daher nicht. 445 Die Rechte Betroffener haben nur Hilfscharakter für die Durchsetzung datenschutzrechtlicher Informations-, Gegendarstellungs- und Berichtigungsansprüche. Die Mehrzahl der Archivgesetze (außer LArchGe Brandenburg, Hessen, NordrheinWestfalen) bezeichnet diese Rechte zutreffend als Schutz- nicht als Nutzungsrechte. Ebenso Günther, Rechtsprobleme der Archivbenutzung, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 132; Oldenhage a.a.O. 441
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
2. Benutzungsordnungen Die Modalitäten des Benutzungsverhältnisses, des Antragsverfahrens und der Benutzerpflichten sollen in Benutzungsordnungen geregelt werden. Rechtsverordnungsermächtigungen zu deren Erlaß enthält die Mehrzahl der Archivgesetze. Die Zuständigkeiten sind uneinheitlich. Teilweise ist das Innenressort, das Kulturressort mitunter auch das Kollegialorgan der Landesregierung zuständig 446 . Soweit Ermächtigungen nicht gesetzlich positiviert sind (Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen), deckt die Organisationsgewalt die Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses 447 . Einer besonderen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für dessen nähere normative Ausgestaltung bedarf es nach den Grundsätzen zur öffentlich-rechtlichen Anstaltsnutzung nicht 4 4 8 . Die Benutzung erfolgt in der Regel durch Einsichtnahme in die Originalarchivunterlagen 449 . Die Vorlage von Originalen scheidet aus, wenn ihr Bestand gefährdet ist (§ 2 Abs. 1 BundesArchBV). Die Archivbenutzung kann auch durch Beantwortung von Anfragen, durch Vorlage oder Abgabe von Reproduktionen, durch Versendung oder durch Ausleihe ermöglicht werden. In welchen Fällen eine Auskunftserteilung in Betracht kommt, ist von der Konstellation im Einzelfall, den beteiligten Interessen auch dritter Personen und der Kapazität der Archivverwaltung abhängig. Obwohl Findmittel nicht zum eigentlichen Archivgut gehören, muß der Archivbenutzungsanspruch diese als notwendige Voraussetzung und Effektuierung mit umfassen 450 . Da es sich bei einer Archivbenutzungsordnung 446 § 6 BArchG ermächtigt den Bundesminister des Innern (BMI), ohne Zustimmung des Bundesrates; Bundesarchiv-Benutzungsverordnung-BArchBV vom 29. Oktober 1993 (BGBl. I S. 1857); LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 6 S. 4: Landesregierung als Kollegialorgan; Bayern Art. 15: Staatsregierung; Berlin § 8 Abs. 9: Senator für kulturelle Angelegenheiten; Brandenburg § 17 Abs. 1 und Abs. 2: Minister durch Runderlaß; Bremen § 8; Hamburg § 5 Abs. 9: „durch Verwaltungsvorschrift (Benutzungsordnung)"; Hessen § 19 Abs. 1 Nr. 2; MecklenburgVorpommern § 14 Nr. 2; Niedersachsen § 5 Abs. 5; Nordrhein-Westfalen § 8; Rheinland-Pfalz § 9 Abs. 4 S. 2; Saarland § 12; Sachsen § 16 Nr. 2. 447 Fraglich ist, ob die Ressortzuständigkeit für die Archivnutzung durch eine einfache organisatorische Weisung des Regierungschefs geändert werden kann. 448 Günther S. 154 ff. m.w.N.; zur Ausgestaltung des Anstaltsnutzungsverhältnisses Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, S. 334 ff. Belegexemplare: § 14 Nr. 2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. 449 Z.B. § 1 Archivbenutzungsordnung der baden-württembergischen Staatsarchive vom 29.08.1988 (ArchBO GBl. 1988 S. 250), V O der Landesregierung aufgrund von § 6 Abs. 6 S. 4 LArchG. 450 Nach § 1 Abs. 3 ArchBO Baden-Württemberg gelten die für die Nutzung von Archivgut getroffenen Bestimmungen auch für die Nutzung von Findmitteln und sonstigen Hilfsmitteln „entsprechend".
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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um untergesetzliches Recht handelt, ist diese nicht geeignet, gesetzliche oder verfassungsrechtliche Maßstäbe einzuschränken. 3. Verhältnis des BArchG zu landesarchivgesetzlichen Benutzungsregelungen Für den Fall, daß Unterlagen von Stellen des Bundes, die sonst dem Bundesarchiv angeboten werden müßten, gemäß § 2 Abs. 3 BArchG von Landesarchiven übernommen und archiviert werden, bestimmt die Mehrzahl der Landesarchivgesetze die Geltung der bundesrechtlichen Benutzungsvoraussetzungen und Sperrfristen durch entsprechende Klauseln, sofern nicht wie in Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt dieselben Sperrfristen statuiert werden 4 5 1 . § 5 Abs. 3 S. 2 LArchG Niedersachsen ordnet für den Fall, daß Stellen des Bundes gemäß § 2 Abs. 3 BArchG dem niedersächsischen Staatsarchiv Unterlagen anbieten, die kürzeren landesgesetzlichen Sperrfristen des § 5 Abs. 2 LArchG Niedersachsen an. Da die Übergabe und Archivierung in der freien Entscheidung des Bundes steht und die niedersächsischen Sperrfristen wirksam und nicht verfassungswidrig, sondern gegenüber dem BArchG vorzugswürdig sind, ist eine Archivierung gem. § 2 Abs. 3 BArchG nicht etwa rechtlich unmöglich oder gar unzulässig, wie Nadler meint 4 5 2 . Da die Länder die Verfahrenskompetenz trifft, ist kein Eigentumsübergang erforderlich. Dasselbe gilt für das LArchG Bayern, wo ebenfalls eine an § 2 Abs. 3 BArchG anknüpfende Norm fehlt. Soweit §§ 8, 10, 11 BArchG betroffen sind, ordnet § 10 Abs. 3 S. 5 LArchG Bayern allerdings die Schutzfristen des § 5 BArchG an. Es ergibt sich aber eine Abweichung der besonderen Sperrfristen für personenbezogenes Schriftgut des Bundes ebenso wie in Niedersachsen. Diese ist aber nicht verfassungsrechtlich verbindlich vorgeschrieben. Mit der Übergabe durch Stellen des Bundes an das bayrische Staatsarchiv werden Unterlagen diesem Regime also ebenfalls wirksam unterstellt.
451 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6a Abs. 1; Berlin § 6; Brandenburg § 12 Abs. 1; Bremen § 11 Abs. 1; Hamburg § 1; Hessen § 3; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 5; Nordrhein-Westfalen § 12 Abs. 1; Sachsen § 10 Abs. 5; SchleswigHolstein § 12 Abs. 1; Thüringen § 3 Abs. 3 S. 2. 452 Nadler, Die Archivierung und Benutzung staatlichen Archivguts, S. 187 f. 17 Manegold
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
I L Verfahrensfragen 1. Glaubhaftmachen eines berechtigten Interesses Die Mehrzahl der Landesarchivgesetze macht die Archivbenutzung von der Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses an der Benutzung des Archivguts abhängig 453 , das nach den Legaldefinitionen der Art. 10 Abs. 2 S. 2 LArchG Bayern, § 9 Abs. 2 LArchG Brandenburg, § 9 Abs. 1 S. 2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern neben wissenschaftlichen und publizistischen auch familiengeschichtliche, heimatkundliche sowie unterrichtliche Zwecke umfaßt 4 5 4 . Im Unterschied zum „rechtlichen Interesse" wird unter dem Rechtsbegriff des „berechtigten Interesses" jedes verständige, durch die Sachlage gerechtfertigte Interesse verstanden 455 . Das Erfordernis des berechtigten Interesses dient dem Ausschluß rechtsmißbräuchlicher, dem Archivierungszweck zuwiderlaufender Benutzungsanträge. Weil die Angabe der zur Einsichtnahme begehrten Quelle praktisch zwingend erforderlich ist, werden sich daraus meistens konkludent der Benutzungszweck und das Interesse ergeben. Wenn im Nutzungsantrag ein plausibles wissenschaftliches Vorhaben ausformuliert wird, ist es auch für die gesamte Zulassung zu vermuten. Bei wissenschaftlichen Nutzungszwecken ist das berechtigte Interesse regelmäßig gegeben 456 . Soweit Bizer annimmt, den Archivaren sei mit der Überprüfung der Glaubhaftmachung eines wissenschaftlichen Interesses ein zusätzliches „Zulassungsermessen" eingeräumt, kann dem nicht gefolgt werden. Aus dem Erfordernis der Glaubhaftmachung folgt keine Einräumung eines Ermessens 457 .
453
LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 1; Bayern Art. 10 Abs. 2 S. 1; Brandenburg § 9 Abs. 1 S. 1; Bremen § 7 Abs. 1 S. 1; Hamburg § 5 Abs. 1; Hessen § 14 S. 1; Mecklenburg-Vorpommern § 9 Abs. 1 S. 1; Niedersachsen § 5 Abs. 1 S. 1; Hamburg § 5 Abs. 1; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 1 S. 1; RheinlandPfalz § 3 Abs. 1; Sachsen § 9 Abs. 1; Thüringen § 16 Abs. 1 S. 1. 454 Sofern letztere Zwecke in manchen LArchGen fehlen ( § 1 4 S. 2 LArchG Hessen; § 11 Abs. 1 LArchG Saarland; § 5 Abs. 1 LArchG Hamburg) oder bestimmte Archivgesetze keine Legaldefinition des berechtigten Interesses enthalten (LArchGe in: Baden-Württemberg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Schleswig-Holstein), oder wie in Bund, Berlin und Schleswig-Holstein auf die Anspruchsvoraussetzung verzichtet wird, ist auf den Widmungszweck zurückzugreifen, der aus der Aufgabendefinition der Staatsarchive und der Archivgutdefinition abzuleiten ist. 455 Stelkens/Bonk/Leonhardt, V w V f G § 13 Rz 15; Knack/Claussen V w V f G § 13 Rz 4.1. 456 Ausdrücklich LArchGe in: Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 1 S. 2; Hessen § 14 S. 2; Bayern Art. 10 Abs. 2 S. 2.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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2. Nutzung zum Zwecke der Rechtsverfolgung Die Archivgutnutzung im „rechtlichen Interesse" ist vom „berechtigten Interesse" umfaßt. Die Nutzung von Archivgut zum Zwecke des Rechtsnachweises geschieht ebenfalls in Verfolgung des Archivierungszwecks 458 . Der Benutzungsanspruch ergibt sich aus den allgemeinen Vorschriften. Die allgemeine und die besonderen Schutzfristen sind, sofern sie den Schutz des Antragstellers als Betroffenen bezwecken, im Wege der teleologischen Reduktion auszuschließen. An dieser Stelle ist auf die selbständigen zivilrechtlichen Ansprüche der §810 BGB, § 25 UrhG hinzuweisen. In § 810 BGB findet sich der allgemeine Rechtsgedanke der Beweissicherung und Ermöglichung der Rechtsdurchsetzung, der ursprünglich erster Archivzweck gewesen ist: § 810 BGB gibt demjenigen ein Einsichtsrecht gegen den Besitzer einer Urkunde, dessen - private - Rechte durch die Urkunde betroffen sind 4 5 9 . § 25 UrhG gewährt im Falle urheberrechtsfähiger Archivalien dem Urheber oder dessen Rechtsnachfolger ein Zugangs- und Nutzungsrecht zur Herstellung von Vervielfältigungen 460 . 3. Mehrere Antragsteller;
Sammelanträge
Über die Zulassung zur Benutzung wird in einem förmlichen Antragsverfahren auf der Grundlage der jeweiligen VerwaltungsVerfahrensgesetze entschieden 461 . Die Entscheidung über die Benutzungserlaubnis ergeht als Verwaltungsakt ggfs. mit Nebenbestimmungen. Bei wissenschaftlichen Projekten in Teamarbeit besteht ein Bedürfnis, Benutzungsauflagen, wie etwa die Verpflichtung zur Vertraulichkeit und Veröffentlichungsanonymisierung unabhängig Wechsel von Projektmitarbeitern zu gewährleisten 462 . Damit es nicht erforderlich ist, diese jeweils neu zu verpflichten, wird in der Praxis 457 Bizer, Forschungsfreiheit, S. 341 Fn 77. Zur Glaubhaftmachung Bannasch, Archivgutbenutzung in Baden-Württemberg, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 193 f. 458 Vgl. § 3 Abs. 2 LArchG Niedersachsen; Günther S. 132 f.; Oldenhage, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477 ff., 486. 459 Dies ist der Fall, „wenn die Urkunde in seinem Interesse errichtet oder in der Urkunde ein zwischen ihm und einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet ist oder wenn die Urkunde Verhandlungen über ein Rechtsgeschäft enthält ...". § 810 BGB wird ergänzt durch weitere Sondervorschriften, die für den Fall, daß ein öffentliches Archiv Besitzer der betreffenden Urkunde ist, weiter anzuwenden sind, u.a. §§ 42, 144 ZVG, §§ 34, 78 FGG. Palandt/Thomas, BGB, vor § 809 Rz 3. 460 Dazu Freys, Das Recht des Unterhalts von Archiven, S. 117. 461 Günther S. 149. 17*
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
ein verantwortlicher Projektleiter für alle Mitarbeiter des Vorhabens Anträge stellen. Beim Auswechseln eines Mitarbeiters tritt dieser kraft seines Arbeitsvertrages in die Regelungen der Benutzungsgenehmigung automatisch ein, die durch die Überleitung den Charakter einer Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 S. 2 VwVfG gewinnt. I I I . Allgemeine Sperrfrist Fast alle Archivgesetze statuieren drei Benutzungssperrfristen: eine allgemeine Sperrfrist mit genereller Auffangfunktion, die unabhängig vom Inhalt und dem Gefährdungspotential des Archivguts gilt; eine besondere Schutzfrist für „personenbezogenes" Archivgut sowie eine weitere besondere Schutzfrist, die bei besonderen, qualifizierten Anordnungen einer Geheimhaltung gelten soll. Dem entspricht die hier vorgeschlagene Einteilung des Archviguts in drei Schutzgutkategorien. 1. Abgrenzung zu Benutzungsgrenzjahren Weil Sperrfristen vom Entstehungsdatum des jeweiligen Dokuments abhängig sind, spricht man von „gleitenden" Fristen gegenüber festen „Benutzungsgrenzjahren", die vereinzelt bis unmittelbar vor dem Inkrafttreten mancher Landesarchivgesetze galten. Danach wurde ein bestimmter Zeitpunkt, ein Benutzungsgrenzjahr festgelegt, von dem ab „rückwärts" die Archive der Benutzung offenstanden. Maßgeblich waren dabei in der Regel Daten politischer Umbrüche: Ein frühes Beispiel von damals ungewöhnlicher Liberalität ist das Vatikanische Archiv, das Papst Leo XIII. im Jahr 1881 bis zur Investitur seines Vorgängers Pius IX., dem Grenzjahr 1846 öffnete 4 6 3 . § 10 Abs. 3 S. 5 LArchG Sachsen-Anhalt bestimmt, daß die allgemeine Sperrfrist nicht für Unterlagen gilt, die vor dem 3.10.1990 entstanden sind. Bis zum Inkrafttreten des bayrischen Archivgesetzes am 22.9.1989 galt als Grenzjahresdatum der 8.5.1945 464 . Hier liegen typische Benutzungsgrenzjahre vor. Ihre eindeutige Regelung dient der Verwaltungsvereinfachung und Rechtsklarheit. Als allgemeines Regelungsmodell erschien die Einführung fester Grenzjahre allerdings aus gesetzgeberischer Perspektive nicht zweckmäßig wegen der Notwendigkeit, jeweils durch Parlamentsentscheidung das jeweilige Grenzjahr laufend anzupassen. Auch beließe eine strikte Grenzjahreslösung den Archiv Verwaltungen im Zweifel 462
Diskussionsbeiträge von Schmitz, Taddey, Gallwas und Schneider beim Kolloqium zu Ehren von Richter in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 111, 116, 121. 463 Granier, Benutzungsgrenzjahre in öffentlichen Archiven, Der Archivar 29 (1976) Sp. 197; Freys S. 91 Fn 2. 464 Amtl. Begründung Bay. LT-Drs. 11/8185 S. 14 Anm. 10.3.1.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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einen geringeren Abwägungsspielraum; sie wäre auch wegen Art. 1 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1, 5 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich bedenklich. 2. Regelsperrfrist
von 10 oder 30 Jahren
Die Archivgesetze gehen von einer generellen archivrechtlichen Sperrfrist für jegliche Nutzungsart unabhängig von einer datenschutzrechtlichen oder geheimnisrechtlichen Qualifikation aus, deren Dauer überwiegend 30 Jahre 465 nach endgültiger Entstehung der jeweiligen Unterlagen beträgt (allgemeine Sperrfrist). In den neueren Landesarchivgesetzen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns und Schleswig-Holsteins beträgt die allgemeine Sperrfrist nur 10 Jahre 466 . Das LArchG Hessen spricht in § 15 Abs. 1 S. 2 von „genereller Schutzfrist". Das Schutzgut ist aber gerade bei der allgemeinen, generellen Sperrfrist unklar und umstritten. Die 30jährige Fristdauer stützt sich auf ausländische Parallelen und die langjährige Übung der Archiv Verwaltungen, für die eine allgemeine Sperrfrist seit den siebziger Jahren zum überkommenen Bestand archivrechtlicher Regelungen gehört. Sie geht zurück auf die Empfehlung des Internationalen Archivkongresses in Madrid von 1968 4 6 7 und steht in Ubereinstimmung mit § 80 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien vom 8. Mai 1958 (GGO I ) 4 6 8 und den entsprechenden Regelungen der Länder 4 6 9 . Die allgemeine Sperrfrist ist nach allen Archivgesetzen in der Regel durch das Landes- bzw. Staatsarchiv im Rahmen freien Ermessens verkürz-
465 Bund § 5 Abs. 1 S. 1; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 2; Bayern Art. 10 Abs. 3 S. 1; Berlin § 8 Abs. 2 S. 1; Bremen § 7 Abs. 2 S. 1; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 1; Hessen § 15 Abs. 1 S. 1; Niedersachsen § 5 Abs. 2 S. 1; NordrheinWestfalen § 7 Abs. 2 S. 1; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 3 S. 1; Saarland § 11 Abs. 1 S. 1; Sachsen § 10 Abs. 1 S. 1; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 3 S. 1; Thüringen § 17 Abs. 1 S. 1. 466 LArchGe in: Brandenburg § 10 Abs. 1; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 1 S. 1; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 3. 467 Dahm, Der VI. Int. Archivkongreß in Madrid 1968, Der Archivar 22 (1969) Sp. 11; Granier Sp. 199. 468 § 80 GGO I (abgedruckt in Der Archivar 18 (1965) Sp. 183) legt fest, daß Ministerialakten 30 Jahre nach ihrer Entstehung der wissenschaftlichen Forschung offenstehen. Eine frühere Einsichtnahme bedurfte der persönlichen Genehmigung des zuständigen Ministers oder eines seiner Staatssekretäre; Die entsprechende Bestimmung der Benutzungsordnung des Bundesarchivs § 5 Abs. 1 (abgedruckt in: Der Archivar 23 (1970) Sp. 70) bezog sich darauf. Akten, die älter waren als 30 Jahre, standen daher grundsätzlich schon vor der Geltung des BArchG der wissenschaftlichen Forschung unabhängig von ihrem Standort offen. 469 Z.B. § 67 Abs. 1 GGO der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
bar 4 7 0 . Eine schlüssige Antragstellung auf Fristverkürzung ist grundsätzlich bereits im konkreten Benutzungsantrag zu sehen. 3. Geltungsausnahmen: Publizitätsklauseln und DDR-Schriftgut Vom Geltungsbereich der allgemeinen archivrechtlichen Sperrfrist sind diejenigen Unterlagen gesetzlich ausgenommen, die von vornherein zur Veröffentlichung vorgesehen oder bereits allgemein bzw. der Öffentlichkeit zugänglich waren. Voraussetzung der Sperrfristenausnahme ist also eine finale Veröffentlichungsbestimmung durch die abgebende Stelle. Alle Archivgesetze enthalten entsprechende Publizitätsklauseln 471 . Nach dem Wortlaut genügt der Umstand der faktischen Bekanntheit des jeweiligen Unterlageninhalts nicht. Greift die Fristausnahme hier nicht, kommt eine Verkürzung im pflichtgemäßen Ermessen in Betracht. Im Interesse an einer zeitnahen Aufarbeitung der DDR-Geschichte 472 enthalten die Archivgesetze in den neuen Ländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR im einzelnen divergierende Ausnahmeklauseln für DDR-Schriftgut. Diese Bestimmungen lehnen sich an die Vorschrift des § 2a Abs. 4 BArchG an, die für die Stiftung „Archiv der Parteien und Massenorganisationen der D D R " ein Sonderregime anordnet. Sie sind daher bei Zweifeln über die inhaltliche Reichweite übereinstimmend mit dieser auszulegen. § 10 Abs. 3 S. 5 LArchG Sachsen-Anhalt, § 17 Abs. 2 S. 2 i . V . m . § 3 Abs. 2 LArchG Thüringen nehmen Archivgut von der Anwendung der allgemeinen 30jährigen Sperrfrist aus, das „in Wahrnehmung staatlicher Aufgaben durch die SED, übrige Parteien und Massenorganisationen der ehe470
Bund: § 5 Abs. 5 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 2; Bayern Art. 10 I V ; Berlin: § 8 Abs. 4; Brandenburg § 10 Abs. 5, 9; Bremen § 7 Abs. 4 S. 1, 2; Hamburg § 5 Abs. 4; Hessen § 15 Abs. 4 S. 1; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 4 S. 1; Niedersachsen § 5 Abs. 5; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4 durch den Kultusminister - wenn keine andere Zuständigkeit - ausdrücklich, vorher- festgelegt; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4; Saarland § 11 Abs. 5; Sachsen § 10 Abs. 4; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 4; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 5; Thüringen § 17 Abs. 5. 471 Prinzip der Archivgesetzgebung, keine zusätzlichen Zugangshindernisse zu statuieren: Bund: § 5 Abs. 4 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 3; Bayern Art. 10 Abs. 3 S. 1; Berlin § 8 Abs. 6 S. 1; Brandenburg § 10 Abs. 8; Bremen; § 7 Abs. 3; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 1 S. 2: Hessen § 15 Abs. 2 S. 1; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 3 Nr. 1; Niedersachsen § 5 Abs. 6; Nordrhein-Westfalen § 7; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 3 S. 3; Saarland § 11 Abs. 4 S. 2; Sachsen § 10 Abs. 2 S. 1; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 3 S. 4; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 4 Nr. 1: Thüringen § 17 Abs. 2 S. 1. 472 Amtliche Begründung zu § 10 LArchG Mecklenburg-Vorpommern LT-Drs. 2/ 2310 S. 25.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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maligen DDR sowie der mit ihnen verbundenen Organisationen und juristischen Personen", soweit sie „Funktionsvorgänger des Landes oder einer kleineren Einheit" waren, angefallen ist und das „nicht personenbezogen" ist. Aus dem Verhältnis der Spezialität der unterschiedlichen Sperrfristen zueinander ergibt sich, daß im Falle personenbezogenen Schriftguts die besondere Sperrfrist unbeschadet weitergilt 4 7 3 . § 10 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 4 Abs. 2 Sätze 2 und 3 LArchG Sachsen nehmen „Archivgut der Rechtsvorgänger des Freistaates Sachsen und der Funktionsvorgänger der aktuellen öffentlichen Stellen des Freistaats sowie aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990 ... das Archivgut der ehemaligen staatlichen oder wirtschaftsleitenden Organe, der Kombinate, Betriebe, Genossenschaften und Einrichtungen" und „der Parteien, gesellschaftlichen Organisationen und juristischen Personen" von der generellen Sperrfrist und von der besonderen 60jährigen Sperrfrist „für Unterlagen, die besonderen Geheimhaltungsvorschriften unterliegen", aus. Auch das LArchG Brandenburg enthält in § 10 Abs. 6 eine Ausnahme von der allgemeinen Sperrfrist sowie von besonderen Geheimhaltungsvorschriften für „Unterlagen und Archivgut von Stellen sowie von Parteien und Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen Republik." Eine entsprechende Ausnahme statuiert auch § 10 Abs. 3 Nr. 3 i . V . m . § 2 Abs. 2 S. 2-3, Abs. 3 LArchG Mecklenburg-Vorpommern. In Thüringen und Sachsen-Anhalt ist ausdrücklich nur die allgemeine Sperrfrist ausgenommen, in Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hingegen auch die besonderen Schutzfristen für Archivgut, das besonderen Rechtsvorschriften über Geheimhaltung unterliegt. Weil damit Regelungen über Geheimhaltung aus der Zeit der DDR betroffen sind, hat die Ausnahmeregelung insoweit nur klarstellende Funktion, als eine alte Geheimhaltungsanordnung nach Zweck, Funktion oder Verfahren rechtsstaatswidrig ist, oder kraft Einigungsvertrag nicht fortgilt. I V . Fristbeginn 1. Gegenständliche Anknüpfung der allgemeinen Sperrfrist: Unabhängigkeit der Archive von der abgebenden Stelle? Da sich die Fristdauer und Fristbeginn der Anbletungspflicht und der allgemeinen Sperrfrist für die Benutzung decken (nämlich 30 Jahre seit „Entstehung" der Unterlage) 474 , beschränkt sich der Anwendungsbereich der all473
Amtliche Begründung LArchG Sachsen-Anhalt LT-Drs. 2/383 S. 28 zu § 10 Abs. 3 S. 5 LArchG: „Eine Schmälerung des Persönlichkeitsschutzes ist hiermit nicht verbunden, weil das Gesetz für die Benutzung von Archivgut mit personenbezogenen Inhalt besondere Vorkehrungen trifft."
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
gemeinen Sperrfrist an sich von vornherein auf die Fälle der „vorzeitigen" Archivierung. Für den Beginn der allgemeinen Sperrfrist stellt sich die Frage, ob die Archive bei der Bildung der jeweiligen Archivguteinheit, auf die sich die allgemeine Sperrfrist bezieht, zwingend an die Vorgaben der abgebenden Stelle gebunden sind; mit anderen Worten, wer über die Bildung von Akten- bzw. Archivguteinheiten, die Bezugsobjekt der allgemeinen Sperrfrist sind, letztlich entscheidet. In der Praxis wird der Begriff der Entstehung auch bei gleichlautenden Archivgesetzen unterschiedlich gehandhabt. So ist das Bundesarchiv dazu übergegangen, die 30jährige Sperrfrist nicht nach dem Ende der Laufzeit eines Aktenstückes zu messen, sondern nach Art eines gleitenden Fristbeginns auf das einzelne Schriftstück zu beziehen 475 . Im Staatsarchiv Baden-Württembergs hingegen besteht die Auffassung, daß die Fristen mit der Schließung der Akten, der Weglegung im Bereich der Justiz beginnen. Maßgeblich ist danach der letzte materielle Zuwachs, wobei allerdings Wiedervorlagevermerke und Benutzungsvermerke grundsätzlich nicht zählen sollen 4 7 6 . Für eine eigenständige Kompetenz des Archivs spricht die Bewertungskompetenz und Erschließungsaufgabe der Archive. Die historische Bewertungskompetenz der Archivverwaltung hat nach der Archivierung gegenüber der jeweiligen Einheitenbildung der abgebenden Stelle den Vorrang. Nur wenn zugleich ein Verstoß gegen konservatorische Regeln vorläge, also der Originalzustand oder Ausagegehalt manipuliert würde, dürfte die Archivverwaltung an die indirekten, faktischen Vorgaben der abgebenden Stelle gebunden sein. Der Wortlaut des § 5 Abs. 1 S. 1 BArchG („Archivgut aus einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Zeit") ist offen; ebenso scheint dies der Fall zu sein bei § 5 Abs. 2 Nr. 1 des LArchG Hamburg „ . . . mit Ablauf des 30sten Jahres nach ... endgültiger Entstehung". Abweichungen bestehen bei den Landesarchivgesetzen, die den Zeitpunkt genauer definieren: § 3 Abs. 5 i . V . m . § 10 Abs. 1 LArchG MecklenburgVorpommern, § 5 Abs. 2 S. 1 LArchG Niedersachsen und § 10 Abs. 3 S. 1 LArchG Sachsen-Anhalt knüpfen an die „letzte inhaltliche Bearbeitung" 474 Ausnahmen: BArchG mangels verbindlicher Anbietungsfrist, Brandenburg: 10-Jahres-Sperrfrist gemäß § 10 Abs. 1 LArchG; § 9 Abs. 3 S. 1 LArchG Schleswig-Holstein; § 3 Abs. 1 S. 1 LArchG Nordrhein-Westfalen: „unverzügliche" Anbietung ohne Frist, s.o. 5. Kap. A. II. 1. und 2. 475 Lenz, Erfahrungen mit dem BArchG in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 53; Beschlußempfehlung und Bericht des BT-Innenausschusses BT-Drs. 11/1215 abgedruckt bei Bannasch/Maisch (Hrsg.) Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 227. 476 Taddey, Erfahrungen mit dem baden-württembergischen LArchG, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 57 f. Amtliche Begründung zu § 3 LArchG MecklenburgVorpommern LT-Drs. 2/2310 S. 19.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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des Schriftguts an, § 17 Abs. 1 S. 1 LArchG Thüringen an die förmlich zu verstehende „Schließung der Unterlagen" durch die Behörde. 2. Zeitpunkt der behördlichen Kernentscheidung Die Zwecke der Anbietungs- und allgemeinen Sperrfrist sind nicht dekkungsgleich. Der Anbietungsfrist lag die Regelvermutung einer Entbehrlichkeit der jeweiligen Unterlagen für die laufende Verwaltung nach 30 Jahren zugrunde. Bestimmend für die Beibehaltung der allgemeinen Sperrfrist war dagegen der Schutz der „verwaltungsinternen Information" und der jeweiligen Entscheidungsträger. Dabei ist zu beachten, daß es sich bei den archivierten Unterlagen stets um bereits abgeschlossene Vorgänge handelt, so daß der Prozeß der jeweils betroffenen Entscheidung selbst nicht mehr geschützt sein kann, sondern daß es nur um einen abstrakt-institutionellen Schutz dieser exekutiven Entscheidungsfindung gehen kann. Der Schutzmaßstab muß demzufolge noch einmal „nach unten" korrigiert werden. Schutzgut der allgemeinen Sperrfrist kann nur der Kernbereich der jeweiligen Organisations- und Entscheidungsgewalt sein 4 7 7 . Entsprechend dem „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung" 478 handelt es sich um den Initiativ-, Beratungs- und Willensbildungsbereich. Daher muß grundsätzlich der Zeitpunkt der einen Vorgang inhaltlich bestimmenden maßgeblichen Entscheidung ausschlaggebend sein und nicht das jeweilige zu einer Akte gehörige „Nachspiel". Das schematische Anknüpfen an das Datum des letzten Zuwachses oder letzten Bearbeitung, d.h. möglicherweise nur Wiedervorlagevermerks vor der förmlichen Schließung ist eine Pauschalierung der Nutzungssperre, die allein der Verwaltungsvereinfachung dient und auf ihre jeweilige Verhältnismäßigkeit zu überprüfen ist. Ohne eine generalisierende Betrachtung wird nicht auszukommen sein, man muß sich aber ihres Charakters jeweils bewußt sein, und ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit im Einzelfall prüfen. Die Anknüpfung an den Zeitpunkt des jüngsten Bearbeitervermerks oder der Hinzufügung des jüngsten Blattes kann angesichts des Schutzzwecks der allgemeinen Sperrfrist nicht zwingend sein. Unsinnig wäre es daher, unter der „Entstehung von Unterlagen" stets das jeweilige letzte Einzelschriftstück und den Zeitpunkt zu verstehen, zu welchem es dem Konvolut der Akte hinzugefügt worden ist, ohne auf dessen konkreten Inhalt und Bedeutung für den Vorgang zu achten.
477
s.o. 3. Kap. B. II. 2. BVerfGE 67, 100, 139 f.: abgeleitet aus dem Demokratieprinzip in Verbindung mit dem Gewaltentrennungsprinzip. 478
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
V. Vergleich zu Frankreich: die „Auffangfrist" nach Art. 6 Abs. 3 des französischen Archivgesetzes In der parlamentarischen Diskussion wurde insbesondere auf das Vorbild des französischen Archivgesetzes verwiesen, das eine allgemeine Sperrfrist von 30 Jahren statuiere. Dabei wurde jedoch übersehen, daß der Sperrfrist des Art. 6 Satz 3 des französischen Archivgesetzes 479 wegen des in Frankreich bestehenden Prinzips der Verwaltungsöffentlichkeit, das in den Archiven fortwirkt, von vornherein eine andere, gegenüber den deutschen Archivgesetzen sehr eingeschränkte Hilfsfunktion im wesentlichen für personenbezogene Unterlagen zukommt, die nicht von speziellen Archivgutkategorien und besonderen Sperrfristen erfaßt werden. Der Anwendungsbereich der archivgesetzlichen Sperrfristen ist nach Art. 6 Absätze 1 und 2 des französischen Archivgesetzes von vornherein auf die Unterlagenkategorien beschränkt, die entweder nicht vom Anwendungsbereich des Gesetzes No. 78-753 vom 17.07.1978 über den freien Zugang zu Verwaltungsunterlagen 480 erfaßt werden, oder nach Art. 6 dieses Gesetzes geheimgehalten werden können. Dies sind zunächst nur konkret personenbezogene Akten (documents de caractere nominatif), da alle nicht personenbezogenen Verwaltungsunterlagen (de caractere non nominatif) grundsätzlich nach Art. 1 Abs. 1, Art. 2, Art. 6 und Art. 13 des Gesetzes No. 78-753 vom 17.07.1978 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 des französischen Archivgesetzes No. 79-18 auch nach ihrer Archivierung öffentlich zugänglich bleiben. Nach der Systematik des französischen Archivgesetzes ist die 30 Jahresfrist weiter nur dann anwendbar, wenn Unterlagen, die nach den Geheimhaltungsvorbehalten des Art. 6 des Gesetzes vom No. 78-753 vom 17.07.1978 geheimgehalten werden können bzw. geheimzuhalten sind, nach ihrer Archivierung nicht von einer der besonderen Sperrfristen des Art. 7 des französischen Archivgesetzes erfaßt werden. 479
Loi No. 79-18 du 3 janvier 1979 sur les archives, Journal officiel (JO), Lois et decrets, du 5 janvier 1979 p. 43-46. Art. 6 Abs. 3 erstreckt die 30 Jahresfrist auf „tous les autres documents", d.h. diejenigen Unterlagen, die nicht unter Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 oder Art. 7 fallen. Für alle Dokumente, die nicht unter das Gesetz 78-753 fallen, mithin für alle documents nominatifs ist das Archivgesetz unmittelbar einschlägig. Duchein, Les innovations aportees par la loi du 3 janvier 1979, La gazette des archives, No. 107 (1979), p. 229 ff., p. 236. 480 Loi No. 78-753, JO, Lois et decrets, 18 Juillet 1978 p. 2851-2852: „loi portant diverses mesures d'amelioration des relations entre 1' administration et le public et diverses dispositions d'ordre administratif social et fiscal". Fa vier, La communication des archives contemporaines en France, La Gazette des Archives, No. 130131, 1985, p. 202, 203; Laveissiere, Legislation et jurisprudence. Le Statut des archives en France, La revue administrative, 1979, p. 253 ff., 265 f. Im einzelnen s.u. B. II., C. IV., D. III.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Das Regel-Ausnahmeverhältnis von Publizität und Geheimhaltung ist also umgekehrt 481 . Die 30 Jahresfrist ist keine allgemeine Sperrfrist, sondern hat nur eine begrenzte Auffangfunktion vornehmlich für personenbezogene Unterlagen, die nicht unter eine der speziellen personenbezogenen Aktentypen des Art. 7 Archivgesetz fallen 4 8 2 . V I . Verfassungskonforme Auslegung der allgemeinen Sperrfrist 1. Gesetzesbegründungen zur allgemeinen Sperrfrist a) Internationale Üblichkeit Die Mehrzahl der amtlichen Begründungen zur allgemeinen archivgesetzlichen Sperrfrist verweist auf den „notwendigen Schutz verwaltungsinterner Informationen" 483 . Teilweise wird in der allgemeinen Sperrfrist eine „Fortwirkung der Amtsverschwiegenheit in die Archive hinein" gesehen 484 . Manche Gesetzesbegründungen beschränken sich darauf, lediglich auf die internationale Üblichkeit zu verweisen 485 . Diese Verweise bezogen sich namentlich auf Frankreich und sind in dieser allgemeinen Form nicht haltbar (s.o.). b) „Kontinuität und Effizienz amtlicher Tätigkeit" Die Begründung der Bundesregierung erwähnt im Zusammenhang mit der allgemeinen Sperrfrist den Persönlichkeitsrechtsschutz, staatliche Sicherheitsinteressen, die Effizienz der Verwaltung, die aus Gründen der Rechts481 Dies übersieht allerdings auch Laveissiere (a.a.O. p. 265) der auf die deutsche Archivpraxis verweist. 482 s.u. B II. und C. IV. 483 Amtliche Begründungen: der Bundesregierung zu § 5 Abs. 1 BArchG BTDrs. 371/84; zu § 6 LArchG Baden-Württemberg LT-Drs. 9/3345 abgedruckt bei Bannasch/Maisch, Archivrecht S. 111; zu § 7 Abs. 2 LArchG Nordrhein-Westfalen LT-Drs. 10/3372 S. 19; ebenso zu § 17 Abs. 1 LArchG Thüringen LT-Drs. 1/1005 S. 19. 484 Amtliche Begründung zu § 3 Abs. 3 LArchG Rheinland-Pfalz LT-Drs. 11/ 2802 S. 16. Anders: Granier geht davon aus, daß der Beamte ein „Recht auf Geheimhaltung" habe. Damit seine Unabhängigkeit geschützt werde, schulde ihm die Gesellschaft einen Vorschuß an Vertrauen (a.a.O. Benutzungsgrenzjahre in öffentlichen Archiven, Der Archivar 29 (1976), Sp. 197). Der Vorstellung eines allgemeinen Geheimnisvorbehalts liegt jedoch eine obrigkeitsstaatlichem Denken verhaftete Archivtradition zugrunde, die durch die moderne Archivgesetzgebung endgültig abgelöst wurde; ebenso Freys S. 98. 485 Sachsen Anhalt LT-Drs. 2/383 S. 27; Saarland LT-Drs. 10/945 S. 14; Hessen LT-Drs. 12/3944 S. 17.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Sicherheit eine gesetzliche Festlegung verlange. Eine starre Festlegung, wann genau im Einzelfall diese und andere Sperrfristen einsetzen, sei angesichts der Vielzahl des Archivguts und der unterschiedlichen Benutzungszwecke zu vermeiden. Andererseits müsse für die jeweils gewünschte Information festgestellt werden, daß die jeweils eingreifende Sperrfrist bei Betroffenheit mehrerer Rechtsgüter abgelaufen sei 4 8 6 . Eine ausführlichere Abgrenzung gegenüber den Schutzzwecken der besonderen Sperrfristen enthält die Begründung zum LArchG Hamburg. Danach dient die 30jährige Sperrfrist „dem notwendigen Schutz verwaltungsinterner Informationen und damit der Kontinuität und Effizienz amtlicher Tätigkeit; dem Schutz öffentlicher Bediensteter in der unabhängigen Ausübung ihrer dienstlichen Pflichten; dem Schutz von Unterlagen, die entweder noch nicht als Archivgut in das Staatsarchiv gelangt sind ... oder dort noch nicht abschließend archivisch bearbeitet worden sind ... und insoweit einer Benutzung mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht zur Verfügung gestellt werden können" 4 8 7 .
Allein die Begründungen in Schleswig-Holstein und zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern lassen erkennen, daß man die allgemeine Sperrfrist selbst bei der geringen Dauer von 10 Jahren - als problematisch einschätzte: Der Festlegung einer grundsätzlichen allgemeinen Schutzfrist liege, wie der Festlegung der anderen Schutzfristen, eine notgedrungen „generalisierende Betrachtung" zugrunde, der es allerdings bedürfe, um eine Vielzahl von Benutzungswünschen, die „in der Regel" wegen vorrangiger Schutzinteressen der abgebenden Stellen oder Betroffener ablehnend ausfallen würden, auszuschließen, ohne daß - so ist zu ergänzen - die Archiwerwaltung i m Einzelfall die Unterlagen auf konkurrierende Rechte prüfen und die ablehnende Entscheidung begründen muß. Die allgemeine Schutzfrist diene der Normenklarheit und der Rationalisierung 488 . Zwei Gesichtspunkte kristallisieren sich danach heraus: zum einen dient die allgemeine Sperrfrist dem abstrakt institutionellen Schutz der als Verfassungsgüter geschützten Organisationsgewalt, Eigen Verantwortung und Entscheidungsfreiheit der abgebenden Stelle. Diese können durch eine unkontrollierte Offenlegung auch zurückliegender interner Verwaltungsvorgänge in der Tat auch dann noch beeinträchtigt sein, wenn die konkreten Unterlagen nicht mehr für die laufende Verwaltung benötigt werden, weil der jeweilige Vorgang zwar abgeschlossen ist, die Entscheidungsträger aber 486
Amtliche Begründung der Bundesregierung zu § 5 Abs. 1 BArchG a. a. O. Amtliche Begründung des Hamburger Senats zu § 5 LArchG Hamburg Bürgerschafts-Drs. 13/7111 S. 9. 488 Amtliche Begründungen: Schleswig-Holstein zu § 9 Abs. 3 LArchG, LT-Drs. 12/1615 S. 27; übernommen von Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern zu § 10 LArchG LT-Drs. 2/2310 S. 24. 487
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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weiterhin tätig sind. Die Sperrung ist insofern ein geeignetes Mittel. Daß eine generelle Sperre von 30 Jahren zu diesem Zweck erforderlich sein soll, leuchtet allerdings schon deswegen nicht ein, weil immerhin drei Landesgesetzgeber die Frage der Fristdauer erheblich anders beurteilt haben. Ein zwingendes Erfordernis für die erhebliche Dauer von 30 Jahren besteht also nicht. Die Fristdauer wird weiter beeinflußt durch den Gesichtspunkt des Schutzes der Funktionsfähigkeit der Archive, die dadurch, daß das Begründungsund Überprüfungserfordernis im Einzelfall wegfällt, für die Erschließung des Materials und andere Archivaufgaben Zeit gewinnen und so „entlastet" werden. Bei genauerer Betrachtung ist allerdings auch dieses Argument insofern nicht schlüssig, als die Archive laufend Unterlagen übernehmen und laufend entsprechende Entscheidungen fällen müssen. Zudem gehört neben der Erschließung auch die Bearbeitung von Nutzungsanträgen zu den gesetzlichen Archivaufgaben, ohne daß ein Rangverhältnis auszumachen ist. Die Archive benötigen einen gewissen „Zeitpuffer", um im Einzelfall zur Not ohne nähere Prüfung bei generalisierender Betrachtung eine Nutzung versagen zu können. Die Sperrfrist ist dazu grundsätzlich geeignet, gewinnt so aber den Charakter einer maximalen Bearbeitungsfrist. Die Dauer von 30 Jahren ist dazu allerdings nicht erforderlich und unverhältnismäßig. Schließlich kommt der allgemeinen Sperrfrist mittelbar Bedeutung als subsidiäre Hilfs- und Bearbeitungsfrist für - an sich durch besondere Sperrfristen geschützte - Rechtsgüter zu, weil beispielsweise auch in sachbezogenem Archivgut vereinzelt in ihrer Bedeutung übersehene personenbezogene, vertrauliche und geheimhaltungsbedürftige Angaben enthalten sein könnten, die besonderen Schutzes bedürfen, ohne dabei die gesamte Einheit zu personenbezogenem oder gesetzlich besonders geschütztem Archivgut zu machen 489 . Dieser Betrachtung liegt eine generalisierende Betrachtungsweise zugrunde, die ihrerseits verhältnismäßig sein muß. Ein unabweisbares Bedürfnis für eine 30jährige Dauer besteht jedenfalls auch unter diesem Gesichtspunkt eindeutig nicht. c) Taktische Erwägungen Ein weiteres Argument, das für allgemeine Sperrfristen ins Feld geführt wird, ist unter dem Blickwinkel der Überlieferungssicherung bedenkenswert: die Bereitschaft der Behörden, Akten an Archive abzugeben, würde durch eine „vorzeitige" Publizität negativ beeinflußt, weil der Beamte bei fehlender Vertraulichkeit zu „uniformen Verhaltensweisen" neige 4 9 0 . Um 489
Oldenhage, Persönlichkeitsschutz und Datenschutz, Der Archivar 34 (1981) Sp. 474.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
sich nicht zu exponieren und sich nicht einer Kritik zu Lebzeiten oder eigenen Amtszeiten auszusetzen, würde der Amtsträger nur „inhaltslose Akten" produzieren und nur historisch uninteressante Unterlagen zur Verfügung stellen. Granier beruft sich diesbezüglich auf nicht näher dargestellte - und von anderer Seite bestrittene 491 - Erfahrungen mit der Rechtslage in Schweden, Finnland und den USA, wo die allgemeine Öffentlichkeit von Verwaltungs- und Regierungsakten teilweise schon früh zum gesetzlichen Leitbild geworden i s t 4 9 2 . Die jeweilige Behördentätigkeit folgt allerdings grundsätzlich Sachgesetzen und rechtlichen Vorgaben. Andererseits kann die Erwartung auf Überraschungsfunde in Akten nicht bestimmend für die Frage der Sperrfristdauer sein. Den Archiven stehen zudem mit den besonderen Sperrfristen und Einzelfallversagungsermächtigungen andere geeignete, weniger einschneidende Mittel zu Gebote, das „archivische Vertrauensverhältnis" zu den abgebenden Stellen vorausschauend zu bewahren. 2. Nichtanwendung bei wissenschaftlichen
Forschungsvorhaben
Die Umkehrung des Regel-Ausnahmeverhältnisses für den Archivbenutzungsanspruch, zu der die allgemeine Sperrfrist führt, kann im Falle wissenschaftlicher Archivnutzung nur soweit gehen, wie es zur effektiven Wahrung der Schutzzwecke der besonderen Sperrfristen, d.h. vorrangiger Rechtsgüter auch bei generalisierender Betrachtungsweise zwingend geboten ist, daß eine Sperrung aller sonstigen Informationen und Unterlagen einer Archivguteinheit für eine Frist von 10 oder 30 Jahren vorgenommen wird. Denn nach dem Prinzip praktischer Konkordanz kann kein verfassungsrechtlich geschütztes Interesse von vornherein für sich Vorrang beanspruchen 493 . Für eine reine Bearbeitungsfrist sind jedenfalls 30 Jahre unverhältnismäßig lang bemessen und nicht erforderlich 494 . Die Allgemeine Sperrfrist ent490
Diskussionsbeiträge von Oldenhage (S. 32) und Engelhard (S. 41), Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), Wissenschaftsfreiheit und ihre rechtlichen Schranken. 491 Hillner, Diskussionsbeitrag, Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.) S. 67, 68. 492 Der ,Freedom of information act' von 1966 räumt jedem US-Bürger das Recht ein, die Einsichtnahme in amtliche Unterlagen einzuklagen. Neben dem Zugangsrecht des Betroffenen ist das Verhältnis von Geheimhaltung und Offenbarung umgekehrt worden; dazu Wollenteit, Informationsrechte des Forschers i m Spannungsfeld von Tranparenzforderungen und Datenschutz. S. 63, 70 f. Nach Granier soll dies aber zu einer unkontrollierten Ausweitung der Vertraulichkeitseinstufungen geführt haben; Granier Sp. 200 Fn 22 (unter Verweis auf Böschenstein, Geschichtsforschung und Staatsgeheimnis, in: Festgabe Hans von Gryerz zum 60. Geburtstag, Bern 1967, S. 17 f. Dort aber ebenfalls ohne Belege). 493 s.o. 3. Kap. B. I. 1., 5.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
271
hebt die Archivverwaltung auch nicht etwa davon, später zu prüfen, ob personenbezogenes oder besonders geheimhaltungsgeschütztes Archivgut vorliegt. Die Prüfung wird nur bis zum Fall der Antragstellung aufgeschoben, nicht aufgehoben. Bei wissenschaftlichem Nutzungsinteresse besteht andererseits ein Anspruch auf Prüfung des unter die allgemeine Sperrfrist fallenden Materials dahingehend, ob im Einzelfall vorrangige Rechtsgüter entgegenstehen. Zumindest bei wissenschaftlichen Nutzungsanträgen kann die allgemeine Sperrfrist nur Bestand haben, wenn sie verfassungskonform dahin ausgelegt wird, daß sie regelmäßig zu Zwecken wissenschaftlicher Forschung aufzuheben ist, wenn kein hinreichender Grund zur Annahme besteht, daß im Einzelfall vorrangige Interessen einer Benutzung entgegenstehen. Im Ergebnis kann eine Ablehnung nur darauf gestützt werden, daß die Überprüfung einen Fall besonderer Sperrfristen oder einen anderen „wichtigen Grund" (Einzelversagungsgrund) ergeben hat. Die allgemeine Sperrfrist wird so zur „Hilfsfrist" der besonderen Sperrfristen. Die allgemeine Sperrfrist ist daher bei wissenschaftlichen Forschungsvorhaben grundsätzlich auf „Null" zu verkürzen, solange keine besonderen Schutzinteressen der besonderen Sperrfristen bestehen. Die Archive haben von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen, für die Verkürzung der allgemeinen Sperrfrist extensiven Gebrauch zu machen. Eine förmliche Handhabung als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, wie es der formalen gesetzlichen Konstruktion entspricht, ist im Fall wissenschaftlicher Forschung verfassungswidrig. Die allgemeine Sperrfrist kann nur als subsidiäre Bearbeitungsfrist Bestand haben. 3. Verkürzungsermächtigungen
für die allgemeine Sperrfrist
Die archivgesetzlichen Voraussetzungen weichen z.T. erheblich voneinander ab. a) Einfache Ermessensklauseln Eindeutig ist der Wortlaut der LArchGe in Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. Diese Landesarchivgesetze enthalten gesetzliche Ermessensklauseln, die die Verkürzung in das pflichtgemäße Ermessen des Landesarchivs stellen. Eine Verkürzung ist im Einzelfall ohne weiteres möglich und geboten, sofern keine besonderen gesetzlichen Versagungsgründe oder Rechtsvorschriften zum Schutze Dritter entgegenstehen495 . 494
Im Ergebnis ablehnend wegen fehlender Zweckmäßigkeit auch Freys S. 100.
272
3. Teil: Archivverwaltungsrecht
b) Ermessensklauseln i.V.m. der Zustimmung der abgebenden Stelle Sofern nach dem BArchG und den Landesarchivgesetzen in Bayern, Rheinland-Pfalz und Saarland zusätzlich noch die ausdrückliche Zustimmung der abgebenden Stelle gefordert w i r d 4 9 6 , dürfen diese die Zustimmung zur Fristverkürzung nur mit der Begründung verweigern, daß ein archivgesetzlicher Versagungsgrund vorliegt. Diesen muß das Archiv gegenüber dem Antragsteller darlegen. c) Verkürzung im „überwiegenden öffentlichen Interesse"? Von dieser Systematik scheinen die Landesarchivgesetze in Berlin, Hessen, Sachsen und Thüringen diamentral abzuweichen, indem die Fristverkürzung vom Vorliegen eines öffentlichen Interesses, nach § 8 Abs. 4 LArchG Berlin von einem „überwiegenden" öffentlichen Interesse und der Zustimmung der abgebenden Stelle abhängig gemacht w i r d 4 9 7 . Nach § 8 Abs. 5 LArchG Berlin liegt ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Nutzung von Archivgut vor Ablauf der Schutzfrist in der Regel dann vor, wenn die Person oder der historische Vorgang, auf die in dem gesperrten Archivgut Bezug genommen wird, von besonderer oder exemplarischer Bedeutung für die Erforschung der Geschichte oder das Verständnis der Gegenwart ist.
Die amtlichen Begründungen in Hessen, Sachsen und Thüringen definieren das öffentliche Interesse nicht, sondern nennen allein die Interessen der zeitgeschichtlichen Forschung 498 , die offenbar mit dem öffentlichen Interesse insofern gleichgestellt werden. Ein spezifisch „öffentliches" Interesse 495
LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 2 (Verkürzungskompetenz hat die Landesarchivdirektion); Brandenburg § 10 Abs. 5 („soweit öffentliche Interessen und §§11, 12 nicht entgegenstehen"); Bremen § 7 Abs. 4 S. 1 („bei bestimmten Benutzungsanträgen für bestimmtes Archivgut"); Hamburg § 5 Abs. 4 („soweit besondere Versagungsgründe nicht entgegenstehen"); Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 4 S. 1 („wenn Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen"); Niedersachsen § 5 Abs. 5 S. 1; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4 S. 1; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 4 S. 1 („sofern keine Versagungsgründe vorliegen"); Schleswig-Holstein § 9 Abs. 5 („durch das Landesarchiv, wenn Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen"). 496 § 5 Abs. 5 S. 1, 6 BArchG, LArchGe in: Bayern Art. 10 Abs. 4; RheinlandPfalz § 3 Abs. 4 Nr. 1; Saarland § 11 Abs. 5 S. 1 (im Einvernehmen mit der abgebenden Stelle für wissenschaftliche Forschungsvorhaben). 497 LArchGe in: Berlin § 8 Abs. 4 (durch das Landesarchiv mit Zustimmung der abgebenden Stelle, „wenn und soweit dies im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt"); Hessen § 15 Abs. 4 S. 1 („wenn es im öffentlichen Interesse liegt"); Sachsen § 10 Abs. 4 S. 1; Thüringen § 17 Abs. 5 S. 1.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
273
i.S. eines staatlichen Interesses ist also auch nach der Vorstellung der Gesetzgeber nicht erforderlich 499 . Soweit sich die Verkürzungsvoraussetzung des „überwiegenden öffentlichen Interesses" nach dem Wortlaut dieser LArchGe nicht auf die personenbezogene Sperrfrist bezieht (dann keine Funktion als datenschutzrechtliche Übergabeermächtigung), liegt ein Redaktionsversehen vor. Die Verkürzungsermächtigungen sind entsprechend verfassungskonform auszulegen. V I I . Zusammenfassung In nutzungsrechtlicher Hinsicht sind drei Kategorien von Archivgut zu unterscheiden: allgemeines, personenbezogenes und „geheimhaltungsbedürftiges" Archivgut. Für die erste ordnen die Archivgesetze eine allgemeine Sperrfrist für die Benutzung von überwiegend 30 Jahren an, die mit „der Entstehung" der Unterlagen beginnt. Sie gilt nicht für DDR-Schriftgut und für solche Unterlagen, die zur Veröffentlichung bestimmt waren. Hierin kommt das archivgesetzliche Prinzip zum Ausdruck, keine zusätzlichen Zugangshindernisse zu errichten. Maßgeblicher Fristbeginn ist nicht der letzte Aktenzuwachs, sondern die jeweils den Vorgang prägende, letzte inhaltliche Entscheidung der Behörde. Von den archivgesetzlichen Fristverkürzungsermächtigungen ist im Bereich von Art. 5 Abs. 3 GG verfassungskonform extensiv Gebrauch zu machen. Angesichts des Archivzugangsrechts des historischen Forschers aus Art. 5 Abs. 3 GG kann die allgemeine Sperrfrist nur als vorläufige Bearbeitungsfrist Bestand haben, mit dem Ziel zu ermitteln, ob im Einzelfall personenbezogenes oder sonst geheimhaltungsbedürftiges Archivgut vorliegt. Ist dies nicht der Fall, ist die Benutzung zu gewähren. Der Hinweis mancher Gesetzesbegründungen auf eine „allgemeine" Sperrfrist nach dem Vorbild des französischen Archivgesetzes ist unzutreffend. Diese bezieht sich wegen der grundsätzlichen Publizität der Verwaltungsunterlagen nach französischem Recht von vornherein nur auf besonders gesetzlich geschützte, personenbezogene Unterlagen und auf Archivgut allgemein. Von einer international verbindlichen „allgemeinen" Sperrfrist von 30 Jahren kann nicht ausgegangen werden.
498 Hessen LT-Drs. 12/3944 S. 19 (Besondere Bedeutung für die Geschichte oder das Verständnis der Gegenwart), von Thüringen in LT-Drs. 1/1005 S. 21 wortgleich übernommen. 499 Zum Begriff des öffentlichen Interesses als Voraussetzung der Verkürzung der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut, s.u. B. III. 1
Manegold
274
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
B. Nutzung personenbezogenen Archivguts I. Besondere Sperrfristen für personenbezogenes Archivgut 1. Fristdauer
der Sperrfrist
für personenbezogenes Archivgut
Neben der allgemeinen Sperrfrist sehen alle Archivgesetze eine besondere Sperrfrist für die Kategorie personenbezogenen Archivguts vor, die zumeist 10 Jahre beginnend mit dem Tode des Betroffenen dauert 5 0 0 . Das BArchG und die Landesarchivgesetze in Rheinland-Pfalz und im Saarland statuieren eine Frist von 30 Jahren nach dem Tode des Betroffenen 501 . Die Vorschriften schützen Familienangehörige, Nachkommen und Rechtsnachfolger und ergänzen durch bereichsspezifischen Datenschutz den Persönlichkeitsschutz 502 . Der Bundesgesetzgeber ging bei der 30jährigen Frist nach dem Tode des Betroffenen von einer seinerzeit noch üblichen internationalen Praxis zum Schutz der Familienangehörigen 503 aus, die sich wohl an der typischen Generationendauer orientierte. Die Landesgesetzgeber haben sich überwiegend an einer Analogie zu § 22 K U G orientiert. Diese Vorschrift bestimmte de lege lata als einzige die verbindliche Dauer eines postmortalen Persönlichkeitsrechtsschutzes auf 10 Jahre 5 0 4 . Da es aus verfassungsrechtlicher Sicht ausschließlich um den Persönlichkeitsschutz Angehöriger gehen kann, besteht für postmortale Sperrfristen als solche keine verbindliche grundrecht500 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 2 S. 3; Bayern Art. 10 Abs. 3 S. 2; Berlin § 8 Abs. 3; Brandenburg § 10 Abs. 3; Bremen § 7 Abs. 2 S. 2; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 2; Hessen § 15 Abs. 1 S. 3; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 1 S. 3; Niedersachsen § 5 Abs. 2 S. 4; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 2 S. 3; Sachsen § 10 Abs. 1 S. 3; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 3 S. 2; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 3 S. 3; Thüringen § 17 Abs. 1 S. 2. Dazu Nadler S. 124 ff.; Bizer, Forschungsfreiheit, S. 340. 501 Bund: § 5 Abs. 2 BArchG; LArchGe in: Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 3 S. 2 und Saarland § 11 Abs. 3 S. 1. 502 Begründung Hamburger-Bürgerschaft Drs. 13/7111 S. 9; Bundesregierung BT-Drs. 371/84 S. 11. 503 Booms BT-Dokumentation S. 266; öffentliche Sachverständigenanhörung zum Entwurf eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut, in: Stenographisches Protokoll über die 80. Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 14. Oktober 1985, Protokoll Nr. 80 S. 80/106. 504 § 22 Kunsturhebergesetz vom 9. Januar 1907 in der Fassung vom 2.3.1974 (BGBl. I I I 440-3), das auf den Schutz von Bildnissen beschränkt ist. Amtliche Begründungen: Hessen LT-Drs. 12/3944 S. 17 f.; Bremen Bürgerschafts-Drs. 12/1193 S. 18; Hamburg Bürgerschafts-Drs. 13/7111 S. 9. Freys zieht Regelungen des Urheberpersönlichkeitsrechts (Schutz gegen Entstellungen bis zu 50 Jahren nach der Darbietung nach § 83 Abs. 3 UrhG) und zeitliche Begrenzungen der Immaterialgüterrechte in §§ 15, 16 PatG heran. Freys S. 94 Fn 16. Zum K U G s.u. 6. B. III. 2.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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liehe Mindestvorgabe von 30 Jahren für den Gesetzgeber 505 . Die kürzere Frist der Landesarchivgesetze wird zudem durch den „Mephisto"-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts gestützt: danach erschien bereits die 8jährige Frist seit dem Tode verfassungsrechtlich bedenklich 506 . Sollte das Todesdatum nicht, bzw. nur mit „unvertretbarem" oder „nur mit hohem Aufwand" 5 0 7 zu ermitteln sein, so gilt eine 9 0 - 5 0 8 , 100- 5 0 9 , bzw. 110- 5 1 0 jährige Sperrfrist seit der Geburt. Eine weitere Gruppe von Archivgesetzen regelt auch den Fall, daß das Geburtsdatum (aus den jeweiligen Unterlagen?) nicht ermittelt werden kann und statuiert für diesen Fall eine Schutzfrist von 60 Jahren 511 - in Berlin 70 Jahren 512 - nach Entstehung der Unterlagen. Aus diesen Regelungen läßt sich im Umkehrschluß ableiten, daß Lebensdaten in den jeweiligen Unterlagen (Geburts- und Sterbedatum) zumindest in diesen Fällen nicht notwendiges Tatbestandsmerkmal des personenbezogenen Archivguts sein sollten 5 1 3 .
505
s.o. 3. Kap. B. I. 3., 4. Amtliche Begründung zu § 7 Abs. 3 LArchG Berlin Abgeordetenhaus Drs. 12/3202 S. 6: der Berliner Gesetzgeber bezieht sich auf die grundsätzlichen Ausführungen des BVerfG in E 30, 173, (218, 226) zum Problem der Fortwirkung des Schutzes der Menschenwürde über den Tod hinaus (s.o. 3. Kap. B. I. 3., 4. Gründgens-Gorsky gegen Nymphenburger Verlagsanstalt, Beschluß des 1. Senats vom 24.02.1971, Todesdatum von Gustav Gründgens war der 07.10.1963). Für die Wahl einer Schutzfrist von 10 Jahren nach dem Tod der Betroffenen sei entscheidend, daß das Persönlichkeitsrecht mit zunehmender Zeit nach dem Tode „schwächer" und die Gefahr einer nachteiligen Einwirkung darauf mit nachlassender Erinnerung an die Person geringer werde. Zugleich müßte das Interesse am möglichst frühzeitigen Zugang zum Archivmaterial berücksichtigt werden. 507 § 17 Abs. 1 S. 2 LArchG Thüringen. 508 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 2 S. 3; Bayern Art. 10 Abs. 3 S. 2; Berlin § 8 Abs. 3; Brandenburg § 10 Abs. 3; Bremen § 7 Abs. 2 S. 2; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 1 S. 3; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 2 S. 3; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 3 S. 2; Thüringen § 17 Abs. 1 S. 2. 509 LArchGe in: Hessen § 15 Abs. 1 S. 2; Niedersachsen § 5 Abs. 2 S. 4; Sachsen § 10 Abs. 1 S. 3. 510 § 5 Abs. 2 BArchG, § 3 Abs. 3 S. 2 LArchG Rheinland-Pfalz. 511 LArchGe in: Brandenburg § 10 Abs. 3 S. 3; Bremen § 7 Abs. 2 S. 2 2. Hs.; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 2 S. 3; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 1 S. 3; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 3 S. 4. 512 § 8 Abs. 3 S. 5 LArchG Berlin. 513 Polley, Der Grundsatz der Amtsuntersuchung ..., in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 75. 506
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276
3. Teil: Archivverwaltungsrecht
2. Verhältnis
der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archiv gut zur allgemeinen Sperrfrist
Die besondere Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut ist wegen ihrer Berechnung und ihrem Schutzzweck entsprechend unabhängig von der allgemeinen Sperrfrist und der besonderen Sperrfrist für geheimhaltungsbedürftiges Archivgut, die „unbeschadet" von den Lebensdaten gelten 5 1 4 . Beide Berechnungsansätze stehen nicht wahlweise zur Verfügung, sondern sind grundsätzlich in der jeweiligen Spezialität zur Anwendung zu bringen. Wenn die 10-Jahresfrist bereits innerhalb der allgemeinen 30-Jahres-Sperrfrist abläuft, würde dann weiterhin der überschießende Rest der 30-Jahres Sperrfrist greifen 5 1 5 . Nach hier vertretener Auffassung kann jedoch die allgemeine Sperrfrist nur als subsidiäre Hilfs- und Bearbeitungsfrist bestehen. Liegt kein Grund zur Annahme einer besonderen Sperrfrist vor und besteht kein Einzelfallversagungsgrund, ist ein weiterer, unbegründeter Verschluß des Archivguts unzulässig. Ist die personenbezogene Sperrfrist abgelaufen, ist das Archivgut zur Benutzung freizugeben, es sei denn schutzwürdige Belange Angehöriger oder besonders „sensible Daten" erfordern eine Einzelfallversagung. 3. Der Begriff
des „personenbezogenen Archivguts"
Der Gesetzesbegriff des „personenbezogenen Archivguts" ist nicht einheitlich gefaßt. § 8 LArchG Berlin enthält in Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 S. 2 gar zwei widersprüchliche Legaldefinitionen des Gesetzesbegriffs „personenbezogenen Archivguts", die eine klare Handhabung von vornherein unmöglich machen 5 1 6 . a) Regelungstypen der Legaldefinitionen Das BArchG und die Landesarchivgesetze in Bayern, Hessen, RheinlandPfalz, Saarland, Sachsen sowie Thüringen (1. Gruppe) 511 sprechen von „Archivgut, das - bzw. ,,soweit"(!) 5 1 8 - es sich auf eine natürliche Person bezieht." 514
LArchGe in: Bremen § 7 Abs. 2 S. 2; Hessen § 15 Abs. 1 S. 3; Saarland § 11
Abs. 3. 515
Polley S. 74; amtliche Begründungen zu: § 15 Abs. 1 LArchG Hessen LTDrs. 12/3944 S. 18; § 17 Abs. 1 LArchG Thüringen LT-Drs. 1/1005 S. 20; § 7 Abs. 3 LArchG Berlin Abgeordetenhaus Drs. 12/3202 S. 6. 516 § 8 Abs. 3 LArchG Berlin: „das sich nach seinem wesentlichen Inhalt auf eine natürliche Person bezieht"; aber § 8 Abs. 4 S. 2 LArchG Berlin zur Fristverkürzung weiter gefaßt: „Archivgut, das sich auf eine natürliche Person bezieht".
277
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
Die Mehrzahl der neueren Landesarchivgesetze in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein (2. Gruppe) 519 geht qualifizierend von „Archivgut, das sich seiner Zweckbestimmung oder seinem wesentlichen Inhalt nach auf eine natürliche Person bezieht",
aus. Nach der zitierten Bestimmung in § 8 Abs. 3 S. 1 LArchG Berlin zählt auch Berlin zur 2. Gruppe, da die zweite Alternative die erste mit umfaßt. Wegen eines stets erforderlichen finalen Bezugs können die Landesarchivgesetze in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen zu einer 3. Gruppe zusammengefaßt werden. Nach den Landesarchivgesetzen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt 520 ist es erforderlich, das sich das Archivgut „seiner Zweckbestimmung nach ... auf eine natürliche Person bezieht."
§ 5 Abs. 2 S. 4 LArchG Niedersachsen vermeidet den Begriff und schränkt den Anwendungsbereich der besonderen, personenbezogenen Schutzfrist nach klaren, formalen Kriterien ein (dazu s.u.). Nach den Bestimmungen der ersten Gruppe soll nicht daß sich die äußeren Lebensdaten aus der betroffenen selbst entnehmen lassen. Personenbezogenes Archivgut kennzeichnet sein, daß „in ihm in der Regel eine Vielzahl Einzelangaben enthalten i s t " 5 2 1 .
erforderlich sein, Archivguteinheit soll dadurch gevon persönlichen
Im wesentlichen lassen sich daher zwei Regelungstypen unterscheiden: Die Landesarchivgesetze der 3. Gruppe (Baden-Württemberg, SachsenAnhalt, Niedersachsen) fordern nach dem insoweit klaren Gesetzeswortlaut eine finale, also formal nach äußeren Merkmalen zu bestimmende Zweckbestimmung der Unterlagen, die für einen konkreten Menschen angelegt worden sein müssen, während die übrigen Archivgesetze für eine Wertung nach weiteren inhaltlichen Kriterien bereits auf der Ebene des Gesetzesbegriffs offen sind. 517
Bund: § 5 Abs. 2 BArchG; LArchGe in: Bayern Art. 10 Abs. 3 S. 2; Hessen § 15 Abs. 1 S. 3; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 3 S. 2; Saarland § 11 Abs. 3; Sachsen § 10 Abs. 1 S. 3; Thüringen § 17 Abs. 1 S. 2. 518 § 3 Abs. 3 S. 2 LArchG Rheinland-Pfalz; offenbar soll eine Teilung von Archivguteinheiten zulässig sein. 519 LArchGe in: Brandenburg § 10 Abs. 3; Bremen § 7 Abs. 2 S. 2; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 3 Abs. 4; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 2 S. 3; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 3 S. 2. 520 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 2 S. 3; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 3 S. 2. 521 Amtliche Begründung zu § 10 Abs. 3 LArchG Sachsen-Anhalt LT-Drs. 2/ 383, S. 27.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
b) Bedeutung der „generalisierenden Betrachtung" für den unbestimmten Gesetzesbegriff Der Begriff des personenbezogenen Archivguts ist nicht deckungsgleich mit dem Begriff der personenbezogenen Daten, sondern autonom zu bestimmen. Ihm liegt eine generalisierende Betrachtung zugrunde 522 . Denn archivfachliche und datenschutzrechtliche Anforderungen an die Systematisierung, Erfassung und Bildung von Akteneinheiten widersprechen sich. Der Gesetzesbegriff ist entstanden aus dem Sachzwang, daß sich Archivguteinheiten, wegen des damit verbundenen völlig unverhältnismäßigen personellen Arbeitsaufwandes weder technisch, noch inhaltlich wegen des damit verbundenen Verstoßes gegen archivarische und konservatorische Grundsätze in schutzwürdige Individualdaten und frei benutzbare Sachdaten „fragmentieren" lassen. Die registrative und archivsystematische Einteilung in Sach- und Personalakten, sowie Sachakten mit Personenbezug läuft den datenschutzrechtlichen Erfordernissen nicht parallel. Häufig werden in Sachakten schutzwürdige Interessen Betroffener berührt 5 2 3 . Umgekehrt müssen in Akten mit formalem Personenbezug nicht regelmäßig schutzwürdige Belange berührt sein; etwa weil ausschließlich rechtmäßig öffentlich bekannt gewordene Umstände berührt sind oder sich aus einer gesetzlichen Wertung fehlende Schutzwürdigkeit ergibt. Allein die Nennung von Personenangaben oder gelegentliche Einzelangaben zu Personen machen aus Archivgut nicht personenbezogenes Archivgut. Nach bislang gängiger archivwissenschaftlicher Systematik war es möglich und üblich Unterlagen mit Personenbezug, einschließlich sogar der Personalakten zu den „Sachakten" i m archivtheoretischen Sinn zu rechnen, den sogenannten „Sachakten mit Personenbetreff 4524 . Der Wortlaut der Archivgesetze greift daher nicht auf die aus der Verwaltungslehre gängige Unterscheidung zwischen Sach- und Personalakten zurück. Andererseits gibt es klar abgrenzbare Unterlagentypen, die erfahrungsgemäß eine höhere Dichte schutzwürdiger Personendaten enthalten als andere, und die bereits an bestimmten, äußeren Merkmalen zu erkennen sind. Eine Auswertung und Abwägung der konkret beteiligten und ermittelbaren Interessen erscheint bei einer generalisierenden Betrachtung deswegen nicht erforderlich, weil die überwiegende Wahrscheinlichkeit vorrangiger Geheim522 Amtliche Begründung zu § 3 Abs. 4 LArchG Mecklenburg-Vorpommern LTDrs. 2/2310 S. 18. 523 Amtliche Begründung Hamburg Bürgerschafts-Drs. 13/7111 S. 9: auch sogenannte Sachakten können ihrem wesentlichen Inhalt nach personenbezogenen Akten sein. 524 Dies schlägt Papritz in seinem archivwissenschaftlichen Standardwerk vor, Archivwissenschaft Bd. 1 S. 323 ff.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
279
haltungsinteressen den Verwaltungsaufwand einer Einzelfallermittlung und Versagungsbegründung nicht rechtfertigt. Der Gesetzgeber war im Rahmen der Herstellung „praktischer Konkordanz" grundsätzlich auf eine generalisierende Betrachtungsweise angewiesen, derzufolge eine neue datenschutzrechtliche Kategorie von Archivgut gebildet werden sollte. Bei dieser sollte ohne konkrete und vollständige Prüfung des Akteninhalts erfahrungsgemäß mit schutzwürdigen personenbezogenen Angaben zu rechnen sein. c) Weite Auslegung: materielle Abwägung auf Begriffsebene Einig waren sich alle Gesetzgeber darüber, daß allein die beiläufige Erwähnung einer natürlichen Person eine archivrechtliche Qualifikation zu personenbezogenem Archivgut nach sich ziehen dürfe, da sonst der Benutzungszweck der öffentlichen Archive ernsthaft gefährdet schien 5 2 5 . Eine extensive Auslegung, derzufolge sämtliche Archivalien, in denen Namen natürlicher Personen genannt werden, zu personenbezogenem Archivgut werden, ist nach allen Archivgesetzen unhaltbar. Das ergibt sich bei richtigem Verständnis bereits aus dem Wortlaut, da dem Partizip des Verbs beziehen „bezogen" stets eine finale, zweckbezogene Komponente innewohnt. Der Bundesrat hatte daher zur Klarstellung die engere Fassung mit der Einschränkung der Zweckbestimmung auch für das BArchG vorgeschlagen, damit nicht weitreichende Schutzbestimmungen auf Archivgut ausgedehnt würden, in dem sich nur auch Angaben über natürliche Personen befinden526 Andererseits sollten Personalakten im Sinne der §§56 BRRG, 90 BBG, 29 SoldatenG, 40 Abs. 1 S. 5 Disziplinare), 83 BetrVG in jedem Fall umfaßt sein 5 2 7 . Ebenso sollten Prozeß-, Steuer-, Kranken- und Kreditakten typischerweise aber nicht abschließend zu personenbezogenem Archivgut zählen 5 2 8 . 525 Amtliche Begründungen: Mecklenburg-Vorpommern LT-Drs. 2/2310 S. 18; Bayern in LT-Drs. 11/8185 S. 14 Anm. 10.3.2.; Schleswig-Holstein zu § 9 Abs. 3 LArchG LT-Drs. 12/1615 S. 28. 526 Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf der Bundesregierung, BR-Drs. 155/87 S. 7, BT-Dokumentation S. 29. 527 Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtssprechung vom materiellen Personalaktenbegriff aus. Personalakten sind eine Sammlung von Urkunden und Vorgängen, welche die persönlichen und dienstlichen Verhältnisse eines Beamten betreffen, sofern sie in innerem Verhältnis mit dem Beamtenverhältnis stehen (BVerwGE 49, 89; BVerwG NJW 1976 S. 204). Vorgänge, die den Beamten „ i n seinem Dienstverhältnis betreffen", müssen dabei zwingend zu den Akten genommen werden. Vorgänge, die den Beamten „persönlich betreffen und bei seiner Dienststelle enstanden oder ihr zugegangen sind", können zu den Akten genommen werden (BVerwGE 59, 355).
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Aus der Gesetzesfassung der ersten und zweiten Gruppe („bezieht", „seinem wesentlichen Inhalt nach bezieht") ergibt sich weiter, daß diese Gesetzgeber von einer ausdrücklichen Beschränkung auf bestimmte der Verwaltungslehre geläufige formale Typen von Akten, etwa Personal-, Prüfungs-, Patienten-, Steuer-, Bewährungs- und Strafakten, Abstand nehmen wollten. Damit hatte sich die Auffassung von Simitis durchgesetzt: Nach der Stellungnahme des hessischen Datenschutzbeauftragten Simitis in der Anhörung im Innenausschuß des Bundestages sollte gerade die finale Einschränkung des Archivguts auf einen zweckbestimmten Personenbezug verfassungsrechtlich unzulässig sein, da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht nur für solche Unterlagen Geltung beanspruche, die zu einer bestimmten Person geführt worden sind. Allein die weite Fassung in der Form eines allgemeinen Personenbezugs sei daher grundrechtskonf o r m 5 2 9 . Das führte zu einer zusätzlichen Abwägung auf der Begriffsebene, wie sie auch zum datenschutzrechtlichen Begriff der schutzwürdigen Belange vertreten wird. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Einstufung von Unterlagen als „personenbezogenes Archivgut" wegen ihrer forschungseinschränkenden Wirkung isoliert angefochten werden kann, mit der Folge, daß ein Gestaltungsurteil zur Nutzungsfreigabe führte 5 3 0 . Die enge Fassung der Landesarchivgesetze der dritten Gruppe ist keinesfalls verfassungswidrig, wie Simitis meint. Es ist gerade nicht „verfassungsrechtlich geboten", daß die Begriffsbildung (hier die Bildung von Archivgutkategorien) sich ausschließlich an maximalem oder optimalem Datenschutz orientiert, solange ein effektiver Schutz von Betroffenen auf andere Weise gewährleistet ist und Ausnahmeregelungen eine Einzelfallabwägung zulassen. Problematisch bleibt in jedem Fall, welcher Art die personenbezogenen Daten sein müssen und in welcher „Dichte" sie vorliegen müssen, um die Einschränkung der Forschungsfreiheit zu rechtfertigen, die in der Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Nutzung und Geheimhaltung bei einer Sperrfrist stets liegt. d) Verfassungskonforme restriktive Auslegung: formale Anknüpfung an Aktentypen Wegen der weitreichenden Folgen für die Forschungsfreiheit muß der Begriff des personenbezogenen Archivguts ein Mindestmaß an Klarheit auf528
Amtliche Begründung zum LArchG Hamburg Bürgerschafts-Drs.
13/7111
S. 9. 529 530
Stellungnahme vom 11.09.1985 Beigabe 1 zur Aussch.-Drs. 10/112 S. 54. s.u. E. II.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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weisen und eine einheitliche Handhabung gewährleisten. Ein Gesetzesbegriff soll Rechtssicherheit ermöglichen. Das ist bei der Formulierung „personenbezogenes Archivgut" deswegen zweifelhaft, weil gerade nicht an die archivarische Übung angeknüpft wird (s.o.). Entscheidender Ausgangspunkt für die Sperrfrist-Anknüpfung an den unbestimmten Rechtsbegriff „personenbezogenen Archivguts" ist die Annahme, daß Archivgut, das sich nach seiner Zweckbestimmung oder seinem wesentlichen Inhalt nach auf eine natürliche Person bezieht, in der Regel eine Vielzahl schützenswerter Einzelangaben enthalten wird und daß deswegen eine gesetzliche Regelvermutung vorrangiger Interessen und die pauschale Schrankenerhöhung gerechtfertigt seien (generalisierende Betrachtung) 5 3 1 . Dabei wird aufgrund dieser generalisierenden Betrachtungsweise in Kauf genommen, daß im Einzelfall die schutzwürdigen Belange eines Betroffenen tatsächlich nicht überwiegen oder gar nicht bestehen. Dann muß der Gesetzesbegriff aber wenigstens zur Verwaltungsvereinfachung geeignet sein, andernfalls würden Forschungsfreiheit und Rechtsstaatsgebot durch den konturlosen, „schwammigen" Gesetzesbegriff unzulässig mißachtet: Denn erfordert bereits die Ermittlung der Tatbestandsmerkmale eines hinreichenden Personenbezugs zur Ermittlung der Archivgutkategorie erheblichen Amtsermittlungsaufwand, kann und muß nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Einzelfallversagung oder Fristverlängerung wegen besonderer schutzwürdiger Belange ausgesprochen und sachlich begründet werden. Die Entlastung der Archivverwaltung, die die generalisierende Betrachtungsweise mit der Bildung der Archivgutkategorie „personenbezogenen" Archivguts gerade bezweckte, wird durch den von Simitis geforderten weiten Begriff nicht erreicht. Kann die überwiegende Wahrscheinlichkeit der Gefährdung schützenswerter Belange eines Dritten aber nicht anhand offenkundiger Merkmale festgestellt werden, ist der Begriff des „personenbezogenen Archivguts" ein ungeeignetes gesetzgeberisches Mittel. Weil es auf willkürliche Schätzung hinausläuft, beeinträchtigt es die Forschungsfreiheit unverhältnismäßig. Rechtssicherheit und Gründe verfassungsrechtlicher Verhältnismäßigkeit sprechen daher für eine restriktive Auslegung auch der Legaldefinitionen der Mehrheit der Archivgesetze (erste, zweite Gruppe) unter formaler Einschränkung auf Personal-, Prozeß-, Steuer-, Kreditakten, die „final" zur Person des Betroffenen geführt wurden. Auch der Entwurf eines bundeseinheitlichen Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut vom „Arbeitskreis Archiv" der Konferenz der Datenschutzbeauftragten vom 531
Amtliche Begründung zu § 6 LArchG Baden-Württemberg: Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 111; Hockenbrink S. 53.
282
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
4.11.1983 geht in § 6 Abs. 3 S. 3 Entwurfs vom engen Begriff personenbezogenen Archivguts aus, das sich nach seiner Zweckbestimmung auf natürliche Personen bezieht 5 3 2 . 4. Verhältnis
zum Amtsermittlungsgrundsatz
Für eine restriktive Auslegung des Gesetzesbegriffs des personenbezogenen Archivguts spricht auch sein nicht eindeutig klärbares Verhältnis zum Amtsermittlungsgrundsatz des § 24 VwVfG. Dieser findet bei der Ermittlung der Lebensdaten Anwendung 5 3 3 . Hier ergibt sich in der Praxis die große Wahrscheinlichkeit widersprüchlicher Ergebnisse: denn lassen sich bestimmte Lebensdaten einer natürlichen Person nicht ohne größeren Aufwand, d.h. gerade nicht aus dem betroffenen Archivgut ermitteln, fragt sich zunächst, ob dieses gleichwohl überhaupt als personenbezogenes Archivgut eingestuft werden soll bzw. kann. Eine Gruppe von Landesarchivgesetzen knüpft an diesen Umstand gleichwohl ganz erhebliche Verlängerungen der Sperrfristen 534 . Wertungswidersprüche sind vorprogrammiert. Grundsätzlich entspricht es der Amtsermittlungspflicht des § 24 Abs. 1 S. 1 V w V f G und der entsprechenden Landesgesetze, daß die Archive die zur Entscheidung über die Archivbenutzung erforderlichen Daten zu ermitteln haben. Wieweit die Ermittlungspflicht im Rahmen eines Aufklärungsermessens der Archivverwaltung reicht, bestimmt sich nach dem Gewicht der beteiligten Interessen 535 . Die Ermittlung von Lebensdaten darf im Einzelfall keinen unvertretbaren Aufwand bereiten. Darüber, was unter einem unver532 Anlage zur Sachverständigenstellungnahme gegenüber dem BT-Innenauschuß, BT-Dokumentation S. 147. 533 Günther, Rechtsprobleme der Archivbenutzung, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 167. Polley, Der Grundsatz der Amtsuntersuchung i m Archivbenutzungsrecht, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 73. Die ergänzende Anwendbarkeit der VwVfGe i m Bereich des Archivverwaltungsrechts ergibt sich aus §§ 1, 9 VwVfG. Die Entscheidung über Archivgutnutzung nach den ArchGen ist öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit, die nach außen auf den Erlaß eines V A gerichtet ist. Insofern mußte dieser Fall nicht durch die Archivgesetzgeber ausdrücklich geregelt werden. Das übersieht Nadler S. 126. 534 LArchGe in: Berlin § 8 Abs. 3 S. 5; Brandenburg § 10 Abs. 3 S. 3; Bremen § 7 Abs. 2 S. 2 2. Hs.; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 2 S. 3; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 1 S. 3; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 3 S. 4. 535 Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, § 24 Rz 18 f. Aus der Mitwirkungsobliegenheit des § 26 Abs. 2 S. 2 VwVfG folgt lediglich, daß der Antragsteller ihm bereits bekannte Tatsachen und Beweismittel anzugeben hat. Eine Mitermittlungspflicht, bei der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken nur, müßte gesetzlich statuiert und durch einen Verwaltungsakt, gegebenenfalls durch eine Auflage zur Nutzungsgenehmigung konkretisiert sein. Ohne gesetzliche Ermächtigung in den Ar-
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
283
tretbaren, unverhältnismäßigen bzw. hohen Aufwandes zu verstehen ist, enthalten die Archivgesetze keine Anhaltspunkte. In der parlamentarischen Anhörung ging der Präsident des Bundesarchivs in Bezug auf den absoluten Versagungsgrund in § 5 Abs. 5 Nr. 4 BArchG von einem Arbeitsaufwand eines fachlichen Mitarbeiters von einem Arbeitstag als Richtwert aus 5 3 6 . Da die Erschließung von Archivgut für die Benutzung die Zentralaufgabe der Archivverwaltungen ist, wird man auch von höherem zeitlichen und sachlichen Ermittlungsaufwand, jeweils in Abhängigkeit vom Benutzungszweck und dessen wissenschaftlicher Bedeutung ausgehen können 5 3 7 . Bei der Bestimmung von ungewissen Zeiträumen, mithin auch von Lebensdaten kommt eine Schätzung auf der Grundlage bekannter Tatsachen in Betracht dergestalt, daß der angenommene Sachverhalt der wahrscheinlichste sein muß. Die Schätzungsbefugnis ergibt sich dabei grundsätzlich aus dem konkreten materiellen Recht 5 3 8 . Aus dem Grundsatz der Verwaltungspraktikabilität und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt, daß eine schätzende Gefahrenprognose nur dort unzulässig ist, wo der positive Nachweis fehlender Gefährdung (als „negatives Tatbestandsmerkmal") materielle Voraussetzung des Anspruchs ist. Bereits aus der Regelung der besonderen, aber verkürzbaren Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut ergibt sich, daß das Archivgesetz von einer typischen Gefahrenlage ausgeht, deren Einschätzung im Einzelfall hinter privilegierten Interessen zurücktreten kann. Für die Benutzung personenbezogener Archivunterlagen darf daher grundsätzlich auch das wahrscheinliche durchschnittliche Lebensalter eines Betroffenen für die Fristermittlung zugrundegelegt werden. Maßgeblich sind die Bedeutung der Einsicht für die Durchführung eines konkreten Forschungsvorhabens und die Wahrscheinlichkeit und Schwere einer eventuellen Persönlichkeitsverletzung des Betroffenen. Von einer endgültigen und abschließenden Ermittlung der Lebensdaten kann daher in solchen Fällen abgesehen werden. Die Abwägung erfolgt im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der schutzwürdigen Interessen. Im Fall von Unterlagen aus dem hohen Lebensalter kommt die Stattgabe eines Benutzungsantrages auf der Grundlage der begründeten Annahme, daß der Betroffene nicht mehr lebt, in Betracht 5 3 9 .
chivgesetzen kann eine solche Mitwirkungspflicht durch Benutzungsordnungen allein nicht wirksam werden. 536 Sachverständigenanhörung Stenographisches Protokoll 80. Sitzung des BT-Innenausschusses am 14. Oktober 1985, Protokoll Nr. 80 S. 80/110, BT-Dokumentation S. 270. 537 Polley S. 73; Günther S. 167. 538 Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, § 24 Rz 18 f. (BVerwG NJW 1986 S. 1122 zum Erschließungsbeitragsrecht).
284
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
5. Stellungnahme: § 5 Abs. 2 LArchG Niedersachsen Die Lösung des Landesarchivgesetzes Niedersachsen, das auf den Begriff des personenbezogenen Archivguts verzichtet, ist daher vorzugswürdig. Der Wortlaut des § 5 Abs. 2 LArchG Niedersachsen hat Leitbildfunktion für die gebotene restriktive Auslegung des Begriffs des personenbezogenen Archivguts in den übrigen Archivgesetzen, indem ein eindeutiger praxisnaher Bezug auf den jeweiligen Akteninhalt als Voraussetzung für die besondere Sperrfrist gefordert wird. „Archivgut darf erst 30 Jahre nach der letzten inhaltlichen Bearbeitung des Schriftgutes genutzt werden. ... Ist das ... Archivgut zur Person Betroffener geführt und ist deren Geburts- oder Sterbedatum bekannt oder mit vertretbarem Aufwand aus dem Archivgut zu ermitteln, so darf es frühestens 10 Jahre nach dem Tode der Person oder, falls das Sterbedatum nicht feststellbar ist, 100 Jahre nach deren Geburt genutzt werden. Im übrigen sind schutzwürdige Interessen Betroffener, soweit sie ohne besonderen Aufwand erkennbar sind, angemessen zu berücksichtigen."
Diese Systematik hat gegenüber den sonstigen Gesetzesfassungen entscheidende Vorteile: Der unbestimmte und kaum einheitlich auszulegende „Rechts"-Begriff des „personenbezogenen Archivguts", an den alle anderen Archivgesetze übereinstimmend anknüpfen, wird vermieden zugunsten einer eindeutig aus dem Archivgut selbst zu bestimmenden Voraussetzung. Außerdem wird das systematische Verhältnis der verschiedenen Fristen und damit das Prüfungsverhältnis der verschiedenen Archivgutkategorien zueinander für jedermann verständlich gemacht. Es wird klargestellt, daß die besondere Sperrfrist zum Schutz des Persönlichkeitsrechts natürlicher Personen dem Schutzzweck entsprechend unabhängig von den übrigen Sperren besteht und stets zusätzlich zu prüfen ist. Durch die Beziehung auf den konkreten Inhalt des Archivguts und den Ermittlungsaufwand wird zugleich sowohl den Bedingungen der Archivarbeit und Benutzung als auch dem tatsächlichen Gefährdungspotential Rechnung getragen. Denn es entspricht der 539
Nach § 3 Verschollenheitsgesetz (Verschollenheitsgesetz vom 15. Januar 1951 (BGBl. I S. 63) in der Fassung vom 31.08.1990) ist die Todeserklärung zulässig, wenn seit dem Ende des letzten Jahres, in dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, zehn Jahre oder, wenn der Verschollene zur Zeit des Todeserklärung das achtzigste Lebensjahr vollendet hätte, fünf Jahre verstrichen sind. Dieser Ansatz ist auf die Benutzung von personenbezogenem Archivgut zu übertragen, wenn es sich beispielsweise um sensible Unterlagen aus der frühen Jugend eines Betroffenen handelt. In Übereinstimmung damit hatte der Präsident des Bundesarchivs Booms in der Anhörung des Innenauschusses des Bundestages die Ansicht vertreten, daß mit zunehmendem Alter des Betroffenen sein und das Schutzbedürfnis seiner Angehörigen abnehme (Aussch.-Drs. S. 80/105; BT-Dokumentation S. 265). Seine Anregung, daher eine 90-jährige Frist seit der Geburt ausreichen zu lassen, wurde vom Bundesgesetzgeber nicht umgesetzt.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
285
Lebenserfahrung, daß die Archivnutzung von Individualdaten einer Person, deren Lebensdaten sich weder aus dem Archivgut selbst ergeben noch durch Nachfragen bei erreichbaren Stellen („ohne besonderen Aufwand") ermitteln lassen, die Freiheit der Persönlichkeit auch etwaiger Hinterbliebener wenig beeinträchtigt. Es ist daher nicht einzusehen, daß diese bereits vor der Stufe der Abwägung Vorrang vor der Freiheit der Forschung und Information haben soll. Formal betrachtet steht einem Eingriff in die Forschungsfreiheit eine nicht konkrete Gefährdung des Persönlichkeitsrechts gegenüber, deren Gefährdungspotential zudem deswegen gering ist, weil bei der Archivarbeit zunächst nur das „Forum Internum" betroffen ist. Eine Gefährdung kann ausgeschlossen werden, indem sich der Nutzer vertraglich unter Vertragstrafeversprechen zur Vertraulichkeit bezüglich „sensibler Daten" verpflichtet und dem Nutzer weiter Veröffentlichungsauflagen gemacht werden, die eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts Betroffener etwa durch Pseudonymisierung weitestgehend ausschließen.
I I . Vergleich zu Frankreich: Art. 7 des französischen Archivgesetzes Der Conseil d'Etat erkannte in seinem erwähnten Votum zum französischen Archivgesetz 540 die Datenschutzrechte Dritter als absolut vorrangig an und schlug als Schutzmaßnahme eine Schutzfrist für entsprechende Archivgutkategorien, die „private Informationen" enthalten, von 100 bis 120 Jahren seit der Geburt vor, die wegen der stetig wachsenden Lebenserwartung zu berücksichtigen sei 5 4 1 . Das französische Archivgesetz 542 kennt in Anerkennung dieser Grundsätze keine allgemeine Archivgutkategorie „personenbezogenen" Archivguts, sondern differenziert in Art. 7 No. 1 bis 5 verschiedene Sperrfristen für bestimmte Informationen mit privatem oder persönlichem Charakter, die in der Regel durch klare äußere Merkmale bestimmt werden können: (1) 150 Jahre seit der Geburt für Unterlagen, die individuelle Informationen mit medzinischem Charakter enthalten (renseignements individuels de caractere medical, Art. 7 No. 1); 540
s.o. Teil I I 3. Kap. A. VI. Avis du Conseil d'Etat sur la loi des archives, section de lTnterieur du 19 avril 1979, seance pleniere du 28 avril 1979; dazu Ducrot, Comment fut elaboree et votee la loi sur les archives du 3 janvier 1979, La Gazette des Archives, No. 104 (1979) p. 17, 28 f.; Laveissiere, Legislation et Jurisprudence. Le Statut des archives de France, La revue administrative 1979 (I), p. 141. 542 Loi No. 79-18 vom 03.01.1979 sur les archives. Journal officiel (JO), Lois et decrets vom 05.01.1979, p. 43-46. Fristkategorien in Art. 7 No. 1-5. 541
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
286
(2) 120 Jahre seit der Geburt für Personalakten (dossiers de personnels, Art. 7 No. 2); (3) 100 Jahre seit der Entscheidung oder der Schließung der Akten für Unterlagen, die sich auf Gerichtsverfahren beziehen (documents relatifs aux affaires portees devant les juridictions), eingeschlossen Gnadenakte, Notariatsakten, Zivilstands- und Meldeunterlagen (Art. 7 No. 3); (4) 100 Jahre seit der hoheitlichen Erhebung (recensement ou enquete) für Unterlagen, die individuelle Informationen mit Bezug auf das Privatund Familienleben enthalten (documents ayant trait ä la vie personelle et familiale) und sonstige private Tatsachen, die in statistischen Unterlagen enthalten sind (faits et comportements d'ordre prive, collectes dans le cadre des enquetes statistiques, Art. 7 No. 4); (5) 60 Jahre seit der Entscheidung für Unterlagen, die Informationen über das Privatleben enthalten, oder die Sicherheit des Staates oder der nationalen Verteidigung betreffen, deren Liste durch den Conseil d'Etat festgesetzt wird (Art. 7 No. 5). Die Voraussetzungen sind zum einen wesentlich enger gefaßt als beim unbestimmten Begriff des „personenbezogenen Archivguts". Zum anderen sind personenbezogene Daten betroffen, die nach deutschem Recht nicht oder nur in anonymisierter Form archiviert werden können (etwa statistische Unterlagen und Zensusdaten der No. 4, Meldeunterlagen der No. 3, Krankenakten der No. 1). Alle Sperrfristen mit Ausnahme der No. 4, die hoheitlich, zwangsweise erhobene Individualdaten betreffen, sind im Rahmen freien Ermessens durch die Archivverwaltungen verkürzbar. Lediglich für die statistischen Unterlagen der Ziffer 4 gilt eine Mindestfrist von 100 Jahren (Art. 8). Die oben im Zusammenhang mit der Begründung der allgemeinen Sperrfrist erwähnte 30jährige Sperrfrist des Art. 6 S. 3 des französischen Archivgesetzes hat im wesentlichen Auffangfunktion für Unterlagen mit personenbezogenem Inhalt (du caractere nominatif), die nach Art. 1 S. 1 des Gesetzes No. 78-753 als Personenakten nicht zugänglich sind, aber nicht unter eine der o. g. Kategorien fallen 5 4 3 . Dem Begriff des „personenbezogenen Archivguts" am ehesten vergleichbar ist der Auffangtatbestand des Art. 7 No. 5, der die allgemeinen Geheimhaltungsinteressen des Bürgers für sein Privatleben und des Staates für Sicherheit auf eine Stufe stellend eine verkürzbare 60 Jahresfrist seit der betroffenen Entscheidung statuiert. Auf die Lebensdaten wird nicht abgestellt.
543
s.o. A. V.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
287
I I I . Geltungsausnahmen der personenbezogenen Sperrfrist 7. Archiv gut, das sich auf „Amtsträger in Ausübung eines öffentlichen Amtes" bezieht (Amtsträgerklausel) Amtliche Handlungen eines öffentlichen amtlichen und privatdienstlichen Unterlagen zen, Terminkalendern, etc.), also klassischen sagen in der Regel auch etwas über seine Fällen „personenbezogenes Archivgut" vor?
Entscheidungsträgers, die in (Entwurfsmanuskripten, NotiSachakten dokumentiert sind, Person aus. Liegt in solchen
Aber auch der umgekehrte Fall wirft ungeklärte Fragen auf: Oldenhage nennt das Beispiel der (privaten) Bewerbungsunterlagen des späteren Reichskanzlers Heinrich Brüning, die dieser als junger Mann zur Bewerbung auf eine Arbeitsstelle eingereicht hatte. Sie fanden sich später in der Personalakte des beamteten Ministers und Reichskanzlers wieder; ein aufschlußreiches Detail für den Werdegang. Bei der Personalakte eines Beamten handelt es sich auch nach der engen formalen Definition um typisches personenbezogenes Archivgut. Die Personalakte hätte grundsätzlich erst 30 Jahre nach dem Tode freigegeben werden können. Als der Historiker Morsey etwa sieben Jahre nach dem Tod von Brüning (1970) die Unterlagen einsehen wollte, halfen sich Archivar und Historiker mit einem „Trick" darüber hinweg: man einigte sich zur Zitierweise auf ein Formelzitat („R43") unter Weglassung des Zusatzes „Personalakten" und gab die Akte frei 544. a) Überblick über die verschiedenen Amtsträgerklauseln In den Landesarchivgesetzen von Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Schleswig-Holstein wird im Ergebnis die Geltung der besonderen personenbezogenen und zum Teil auch der allgemeinen Sperrfrist im Falle von „Amtsträgern in Ausübung eines öffentlichen Amtes" ausgesetzt. Zum Teil bestehen verwirrende Abweichungen im Wortlaut und in den Rechtsfolgen 545 . 544
Oldenhage, in: Akademiebeiträge S. 11 ff., 20. Das ist eine historische und juristische Manipulation. 545 Sperrfristausnahmen für Archivgut, „das sich auf die Tätigkeit natürlicher Personen in Ausübung öffentlicher Ämter bezieht" (§ 8 Abs. 6 S. 2 LArchG Berlin); für „Archivgut, das die Tätigkeit von Amtsträgern dokumentiert, soweit sie in Ausübung eines öffentlichen Amtes oder einer öffentlichen Funktion gehandelt haben und sofern sie nicht selbst Betroffene sind. Hat die Tätigkeit in personenbezogenem Archivgut ihren Niederschlag gefunden, sind die schutzwürdigen Interessen Dritter angemessen zu berücksichtigen" ( § 1 0 Abs. 8 LArchG Brandenburg); „Die Schutzfristen gelten nicht für ... personenbezogenes Archivgut, das die Tätigkeit von Perso-
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
§ 15 Abs. 2 S. 2 LArchG Hessen ordnet schlicht an: „Amtsträger in Ausübung ihrer Ämter sind keine betroffenen Personen". Das bedeutet nach der Gesetzessystematik ebenfalls eine Geltungsausnahme für die besondere Sperrfrist. § 5 Abs. 5 S. 4 BArchG und die Landesarchivgesetze in Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt sowie zusätzlich auch von Schleswig-Holstein 546 statuieren keine Geltungsausnahmen von der besonderen Sperrfrist, sondern bestimmen, daß „für Amtsträger in Ausübung ihres Amtes" „die" Schutzfristen unter erleichterten Voraussetzungen verkürzt werden können, „wenn die schutzwürdigen Belange der Betroffenen angemessen berücksichtigt werden". Die übrigen Landesarchivgesetze verzichten auf eine Amtsträgerklausel 5 4 7 . Es stellt sich die Frage, ob das zu anderen Ergebnissen i m Einzelfall führt. b) Amtliche Begründungen zur Amtsträgerklausel In der ausführlichen amtlichen Begründung zum LArchG Hamburg heißt es: Soweit die Tätigkeit von Inhabern öffentlicher Ämter betroffen sei, könne grundsätzlich nur die allgemeine Sperrfrist gelten: dies sei geboten und gerechtfertigt, da die amtliche Tätigkeit von Politikern, Richtern, Staatsanwälten, Fach- und Verwaltungsbeamten von vornherein vielfältig gebunden, kontrolliert und in besonderem Maße der Öffentlichkeit verpflichtet sei. Die Dokumentation dieser amtlichen Tätigkeit und deren Bekanntgabe an Dritte unterliege nicht der Selbstbestimmung des Amtsträgers, da er insoweit nicht als Privatperson, sondern in Ausübung eines übertragenen Amtes gehandelt habe; er müsse es hinnehmen, wenn Angaben über
nen dokumentiert, soweit sie in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt haben und ihre persönlichen Lebensverhältnisse nicht betroffen sind" ( § 1 0 Abs. 3 Nr. 2 LarchG Mecklenburg-Vorpommern, § 9 Abs. 4 Nr. 4 i. v. m. Abs. 6 S. 2 LArchG Schleswig-Holstein). Zum Teil verwirrende Abweichungen auch bei den Rechtsfolgen: In Mecklenburg-Vorpommern werden sämtliche Sperrfristen ausgesetzt, in Schleswig-Holstein soll die allgemeine Sperrfrist weitergelten. Zusätzlich bestimmt § 9 Abs. 6 S. 2 LArchG Schleswig-Holstein, daß „für" ... „Amtsträger in Ausübung ihres Amtes die Schutzfristen darüber hinaus verkürzt werden können, wenn die schutzwürdigen Belange der betroffenen ... Amtsträger, anderer Betroffener oder Dritter angemessen berücksichtigt werden." 546 LArchGe in: Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4 S. 2; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 4 Nr. 3; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 6. 547 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 2; Bayern Art. 10 Abs. 4; Bremen § 7 Abs. 3, Abs. 4; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4; Saarland § 11 Abs. 5; Niedersachsen § 5 Abs. 5 S. 1.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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sein amtliches Wirken Dritten im Zuge der Archivgutbenutzung zugänglich gemacht werden, was in aller Regel nicht vor Ablauf der 30jährigen Schutzfrist erfolgen könne. Demgegenüber sei die Privatsphäre des Amtsträgers nur berührt, „wenn Akten über den Amtsträger als Betroffenen geführt" würden (Beispiele: Personal- und Prüfungsakten). Der Zweck der Geltungsausnahme liege darin, der zeitgeschichtlichen Forschung und der Öffentlichkeit - vor allem für die Zeit des Nationalsozialismus - die Möglichkeit zu geben, „sich mit der dienstlichen Tätigkeit von Amtsinhabern zu befassen", wenn die allgemeine Schutzfrist abgelaufen sei 5 4 8 . In der Sachverständigenanhörung zum BArchG wollte Simitis eine Amtsträgerklausel - die später nur eingeschränkt in § 5 Abs. 5 S. 4 BArchG übernommen wurde - allerdings in erster Linie nur als Maßnahme dagegen verstehen, daß „nicht jede Paraphe eines Beamten, die einen Hinweis auf seine Person enthält", als personenbezogenes Archivgutstück qualifiziert werde 5 4 9 . Im Ansatz ging es also nicht um eine Art nachgeholte Verwaltungskontrolle, sondern um Sicherstellung der öffentlichen Nutzbarkeit des Archivs überhaupt. Beim Reichskanzler handelt es sich um einen Amtsträger; seine Personalakten fallen aber nur soweit unter den Wörtlaut der Amtsträgerklauseln, als sie im Zusammenhang mit der Amtsführung stehen. Das ist beim Einstellungs-Lebenslauf nicht der Fall, könnte aber bei den Teilen der Personalakte, die sich auf die Amtsführung bezieht, gerade anzunehmen sein, obwohl formal eine „personenbezogene" Personalakte vorliegt. Ein Interesse der Forschung und Öffentlichkeit ist bei der zentralen Figur des Reichskanzlers unabweisbar. c) Stellungnahme: deklaratorische Bedeutung Der Amtsträgerausnahme liegt im Kern die fehlende Grundrechtsfähigkeit der öffentlichen Hand zugrunde. Soweit es sich um auch personenbezogene Angaben und Informationen im Zusammenhang mit der Ausübung des Amtes handelt, kann das Persönlichkeitsrecht des Amtsträgers nach Art. 1 Abs. 3 GG von vornherein nicht berührt sein. Die Grundrechte gelten dem Schutz vor der staatlichen Gewalt und können daher nicht von den Vertretern dieser Gewalt in Anspruch genommen werden. Die Ausnahme der Grundrechtsgeltung für Träger öffentlicher Gewalt in Ausübung ihres
548 Amtliche Begründung zu § 5 Abs. 3 LArchG Hamburg Bürgerschaft-Drs. 13/ 7111 S. 10. Ähnlich die amtliche Begründung zu § 9 Abs. 6 LArchG SchleswigHolstein LT-Drs. 12 1615 S. 29. 549 Diskussionsbeitrag in der öffentlichen Anhörung des Innenauschusses des Bundestages, S. 80/89. 1
Manegold
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Amtes wird auf die Abbildung und Dokumentation staatlicher Tätigkeit übertragen. Die Ausnahme der Fristgeltung ist gerechtfertigt, weil und soweit die dokumentierte Tätigkeit der betroffenen Amtsträger der Öffentlichkeit verpflichtet ist, und eine Beschränkung der Benutzung von Archivgut, das zwar auch personenbezogene Angaben über Amtsträger enthält, aus Datenschutzgründen nicht geboten ist. Die Ausnahme der Grundrechtsgeltung ist ausschließlich situationsbezogen, jeweils „in Ausübung des Amtes" und nicht generell personenbezogen abzugrenzen. Denn auch die Preisgabe von amtsführungsbezogenen Archivunterlagen kann - abhängig vom Inhalt - ein staatlicher Eingriff in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht sein. Die Publizität ist auf den dienstlichen Wirkungskreis zu beschränken. Was die privaten Lebensverhältnisse betrifft, ist der Status eines Amtsinhabers grundsätzlich nicht anders als der eines jedes Bürgers. Private Lebensverhältnisse sind nicht grundsätzlich deswegen weniger schützenswert, „weil" es sich um einen Amtsträger handelt550 Die Amtsträgerklausel ist verfassungskonform auszulegen. Sie hat lediglich die deklaratorische Bedeutung klarzustellen, daß öffentliche Amtsträger bezogen auf die Ausübung ihrer Ämter keine „Betroffenen" im Sinne des Datenschutzgesetzes sind (vgl. § 15 LArchG Hessen). Bereits der Wörtlaut der Fristverkürzungsermächtigungen des BArchG und der LArchGe in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein („wenn die schutzwürdigen Belange der Betroffenen ... berücksichtigt werden") sind daher unsinnig und widersprüchlich. Im Ergebnis ist bei Erfüllung der Tatbestandvoraussetzungen der Amtsträgerklausel die besondere Sperrfrist ohnehin stets auf „Null" zu reduzieren, weil kein schutzwürdiger „Betroffener" bzw. kein personenbezogenes Archivgut existiert. Das LArchG Sachsen-Anhalt legt in § 10 Abs. 3 S. 2 für die besondere Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut den engen finalen Begriff von „Archivgut, das sich nach seiner Zweckbestimmung auf natürliche Personen bezieht", zugrunde. Gleichwohl ist in § 10 Abs. 4 Nr. 3 eine erleichterte Verkürzung dieser Frist für „Archivgut über Personen der Zeitgeschichte und Amtsträger in Ausübung ihres Amtes" vorgesehen. Das ist widersprüchlich, weil es Archivgut, das sich seiner Zweckbestimmung nach auf natürliche Personen bezieht und gleichzeitig die Amtsausübung dokumentiert („in Ausübung ihres Amtes") an sich nicht geben kann; es sei denn man versteht darunter etwa auch Personalakten eines Beamten. 550
Bizer, Forschungsfreiheit, S. 273 ff.; ders., Archivgesetzliche Zugangsregeln, Der Archivar 46 (1993) Sp. 420; ders., Postmortaler Persönlichkeitsschutz?, N V w Z 1993 S. 653 ff.; Hoffmann-Riem, Alternativ Kommentar zum GG, Art. 5 Rz 63; Stern, Staatsrecht I I I / l , S. 1383 f.; Maunz/Dürig-Herzog, GG, Art. 5 Rz 107.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Da dem BArchG und dem LArchG Rheinland-Pfalz die weite Definition des personenbezogenen Archivguts zugrundeliegen (das „sich auf eine natürliche Person bezieht" oder „in seinem wesentlichen Inhalt ... nach bezieht" s.o.), ergeben sich zumindest insofern keine systematischen oder logischen Widersprüche. Widersprüchlich und systemwidrig sind § 10 Abs. 3 Nr. 2 LArchG Mecklenburg* Vorpommern und § 9 Abs. 4 Nr. 4 i. v. m. Abs. 6 S. 2 LArchG Schleswig-Holstein („Die Schutzfristen gelten nicht für ... personenbezogenes Archivgut, das die Tätigkeit von Personen dokumentiert, soweit die in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt haben und ihre persönlichen Lebensverhältnisse nicht betroffen sind"). Denn personenbezogenes Archivgut kann in den genannten Ausnahmefällen der „Amtsträgerklausel" richtigerweise gerade nicht vorliegen; es gibt keinen „Betroffenen". Soweit die o.g. Landesarchivgesetze auf eine Amtsträgerklausel verzichten, ist dies zu begrüßen und führt nicht zu anderen Ergebnissen. Entsprechende Abwägungsgesichtspunkte finden beim unbestimmten Rechtsbegriff der schützenswerten Belange Berücksichtigung. Im Falle Baden-Württembergs und Niedersachsens ist dies nur konsequent, da der enge Gesetzeswortlaut der Landesarchivgesetze hier die Anwendung der besonderen personenbezogenen Sperrfrist auf Archivgut beschränkt, das seiner Zweckbestimmung nach, „final" für natürliche Personen angelegt wurde. Legt man diesen formalen und finalen Bezug zugrunde, ist ein Fall der Amtsträgerklausel nach richtigem Verständnis nicht denkbar. Im Ergebnis ist die Amtsträgerklausel nicht geeignet, für die Frage des Ausgleichs von Persönlichkeitsschutz und Forschungsinteressen eine Vereinfachung oder Rechtsklarheit zu schaffen. Im übrigen besteht bei den politischen Funktionsträgern in Nazi-Deutschland und der DDR die in den Gesetzesbegründungen angeführte rechtsstaatliche Bindung und öffentliche Verpflichtung der Amtsträger gerade nicht, allenfalls diejenige Brünings in der Weimarer Zeit. Das eingangs genannte Beispiel der Personalakten des ehemaligen Reichskanzlers Brüning ist mit der Amtsträgerklausel nicht zu lösen. 2. Archivgut, das sich auf eine „Person der Zeitgeschichte " bezieht (Zeitgeschichtsklausel) a) Überblick über die verschiedenen Zeitgeschichtsklauseln Brüning war jedoch zumindest als Reichskanzler eine herausragende „Person der Zeitgeschichte": Nach § 5 Abs. 5 S. 4 1. Alt. BArchG und den Landesarchivgesetzen von Rheinland-Pfalz (§ 3 Abs. 4 S. 2), Sachsen1*
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Anhalt (§ 10 Abs. 4 Nr. 3) und Schleswig-Holstein (§ 9 Abs. 6 S. 2) soll die besondere Sperrfrist unter erleichterten Voraussetzungen, bei angegemessener Berücksichtigung schutzwürdiger Belange verkürzt werden, wenn Personen der Zeitgeschichte betroffen sind. § 10 Abs. 8 1. Alt. LArchG Brandenburg setzt die besondere Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut für „Personen der Zeitgeschichte" aus, „soweit sie in Ausübung einer öffentlichen Funktion gehandelt haben." § 17 Abs. 5 Nr. 1 S. 2 LArchG Thüringen bestimmt, daß im Falle der Fristverkürzung für personenbezogenes Archivgut, soweit es sich nicht um Personen der Zeitgeschichte handelt, die Forschungsergebnisse ohne personenbezogene Angaben zu veröffentlichen sind (vgl. auch § 15 Abs. 4 S. 2 2. Hs. LArchG Hessen). Daraus folgt möglicherweise im Umkehrschluß, daß nach Ablauf der Sperrfrist eine Veröffentlichung von Privatdaten stets zulässig sein könnte. Auch das Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (StUG) greift im Zusammenhang mit der Verwendung von personenbezogenen Informationen zu Zwecken der historischen Forschung auf den unbestimmten Rechtsbegriff der „Person der Zeitgeschichte" zurück 5 5 1 . b) Vermutung für den Öffentlichkeitswert einer Veröffentlichung im „Bereich der Zeitgeschichte" nach § 23 K U G Der vordatenschutzrechtliche, originär presserechtliche Begriff der „Zeitgeschichte" ist § 23 Nr. 1 Kunsturhebergesetz (KUG von 1907) entlehnt. Das KUG zählt zu den ersten Versuchen des deutschen Gesetzgebers, zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit an Information und Unterhaltung und dem privaten Interesse am Schutz der eigenen Persönlichkeit einen angemessenen Ausgleich zu schaffen 552 . Die wesentliche Weichenstellung für 551
§ 32 Abs. 1 Nr.3 Stasi-Unterlagen-Gesetz, vom 20.12.1991, BGBl. I S. 2272: „(1) Für die Forschung zum Zwecke der politischen und historischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatsssicherheitsdienstes sowie für Zwecke der politischen Bildung stellt der Bundesbeauftragte folgende Unterlagen zur Verfügung: ... 3.) Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung ihres Amtes, soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind . . A u f die besondere Problematik dieser generalisierenden Lockerungsklausel im Zusammenhang mit rechtsstaatswidrig gewonnenen Informationen kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Vielfach handelt es sich in der Praxis dabei um Personen, die erst im Zusammenhang mit der Diskussion um die jeweiligen Akten jene Bekanntheit gewonnen haben, die sie zu Personen der Zeitgeschichte macht. Vgl. dazu Monika Marons Stellungnahme in der FAZ-Wochenendbeilage, Bilder und Zeiten, S. 1 vom 7. Oktober 1995.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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den Persönlichkeitsschutzes durch die § § 2 2 ff. K U G lag darin, daß nicht das Untersagungsrecht des Abgebildeten v o n seinem „berechtigten Interesse" abhängig ist, sondern umgekehrt das Veröffentlichungsrecht. Das datenschutzrechtliche E i n w i l l i g u n g s p r i n z i p und der datenschutzrechtliche Gesetzesvorbehalt sind damit bereits a n g e l e g t 5 5 3 . Von diesem Einwilligungserfordernis bestimmt § 23 Abs. 1 Nr. 1 K U G eine gesetzliche Ausnahme für „Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte". D i e Vorschriften des K U G finden i m Presserecht entsprechende A n w e n d u n g auf das „ L e b e n s b i l d " einer Person, also die gesamte Darstellung einer Person i n der Öffentlichkeit, nicht nur bei bildlicher D a r s t e l l u n g 5 5 4 .
552 Technische und gesellschaftliche Neuerungen ließen um 1900 angesichts der entstehenden Medienöffentlichkeit neue Gefährdungen der Persönlichkeit offenbar werden. Bis dahin fehlte es an jeglicher Vorschrift zum Schutz des Abgebildeten bzw. Dargestellten. Die Gesetzeslücke sollte durch §§ 22-24 K U G geschlossen werden. Konkreter Anlaß zum Gesetzeserlaß waren technische Neuerungen auf dem Gebiet der Blitzlicht-Photographie: Photoreporter waren nachts in das Leichenzimmer des verstorbenen Reichskanzlers v. Bismarck eingedrungen, um dort vom aufgebahrten Leichnam Aufnahmen zu machen. Die Erben begehrten Herausgabe und Vernichtung der Photounterlagen. In einem der letzten Urteile des 19. Jahrhunderts stellte das Reichsgericht darauf ab, daß diese Photounterlagen durch Hausfriedensbruch am Hausrecht des Verstorbenen, das auf die Erben übergegangen war, erlangt worden seien, und gab der Klage unter dem Gesichtspunkt der condictio ob iniustam causam statt (Urt. v. 28.12.1899, in RGZ 45, 170 ff.). Es gebe nur besondere, gesetzlich geregelte Persönlichkeitsrechte, wie das in § 12 BGB positivierte Namensrecht. Ein Recht am eigenen Bild mußte erst vom Gesetzgeber geschaffen werden. Vgl. die amtliche Begründung zu § 22 K U G bei Osterrieth/Marwitz, Das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie, S. 161 ff.; Schricker/Gerstenberg § 22 K U G Rz 1. 553 § 22 KUG: „Bildnisse dürfen nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden. Die Einwilligung gilt i m Zweifel als erteilt, wenn der Abgebildete dafür, daß er sich abbilden ließ, eine Entlohnung erhielt. Nach dem Tode des Abgebildeten bedarf es bis zum Ablauf von 10 Jahren der Einwilligung der Angehörigen des Abgebildeten. Angehörige im Sinne dieses Gesetzes sind der überlebende Ehegatte und die Kinder des Abgebildeten, und wenn weder Ehegatte noch Kinder vorhanden sind, die Eltern des Abgebildeten". Das Gesetz stellte also bereits klar, daß das Schutzbedürfnis nicht mit dem Tod der Person endete, sondern bis zum Ablauf von 10 Jahren danach fortbesteht, wobei dann nicht die Erben, sondern die nahen Angehörigen die Schutzbedürftigen sind. Die 10jährige Schutzfrist für den postmortalen Persönlichkeitsschutz ist nicht nur ein „mentalitätsgeschichtlicher" Anhaltspunkt für die Dauer des postmortalen Persönlichkeitsschutzes, sondern ist durch die LArchGe bestätigt worden. Unklar ist allerdings bis heute, ob es sich dabei um eine Art Familienpersönlichkeitsrecht handelt, das den Angehörigen selbst unmittelbar zusteht oder, ob diese einen Ausfluß des Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen im Wege der gesetzlichen Prozeßstandschaft geltend machen können. Dazu schon Osterrieth/Marwitz S. 163; Löffler, Presserecht, § 6 Rz 50 ff. 554 Löffler § 6 Rz 54.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Die Archivgesetze gehen über den Wortlaut des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG hinaus. Sprach dort die Formulierung „Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte" dafür, nicht jedes Bildnis einer Person der Zeitgeschichte auch als Bildnis in diesem Sinne anzusehen, stellen die Archivgesetze ausdrücklich auf den Begriff der „Person der Zeitgeschichte" ab. Dies lag deswegen nahe, weil der Bereich archivischer Dokumentation nicht in nur die Bilddokumentation und -berichterstattung betrifft, sondern typischerweise andere Informationsträger und nicht-visuelle Informationen. Eine weitere Einschränkung war deswegen nicht erforderlich, weil aufgrund der archivarischen Bewertung davon ausgegangen werden kann, daß Archivgut über Personen der Zeitgeschichte, stets „nach Inhalt und Charakter objektiv geeignet und bestimmt ist, den damit angesprochenen Verkehrskreisen als zeitgeschichtliche Dokumentation zu dienen" 5 5 5 . Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers des KUG umfaßt der Begriff der Zeitgeschichte „ i m weitesten Sinne nicht nur das eigentliche politische, sondern auch das soziale, wirtschaftliche und Kulturleben des Volkes ... Die Vorschrift ... trägt den Bedürfnissen des öffentlichen Lebens Rechnung. Es erscheint nicht angängig, die Verwertung des Bildnisses von Personen, die dem öffentlichen Leben angehören, schlechthin an die Genehmigung des Abgebildeten zu knüpfen, vielmehr wird der Allgemeinheit ein gewisses publizistisches Anrecht an der freien Darstellung solcher Personen einzuräumen sein" 5 5 6 .
Zur Zeitgeschichte gehören seither alle Begebenheiten, für die ein berechtigtes Informationsinteresse der - auch regionalen - Öffentlichkeit besteht 5 5 7 . Die Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung erfordert, daß eine sachliche Verbindung, ein „innerer Zusammenhang" des/der Betroffenen zum Zeitgeschehen durch die fragliche Darstellung erkennbar wird. Nur bei Vorliegen eines solchen inneren Zusammenhangs kann die Abbildung durch ein anerkennenswertes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit gerechtfertigt sein 5 5 8 . Im Bereich des Presserechts spricht man bei Personen, die - aus welchem Anlaß auch immer - für die Öffentlichkeit aufgrund eines solchen inneren Zusammenhangs interessant sind, von „Personen der ZeitgeschichteNach herkömmlicher Auffassung zählen zu den „Personen der Zeitgeschichte" nicht nur alle Personen, die - selber in welchem gesellschaftlichen Bereich auch immer - „Zeitgeschichte machen", sondern auch 555
Schricker/Gerstenberg, Urheberrecht, Anhang zu § 60 UrhG/§ 23 K U G Rz 6. Amtliche Begründung bei Osterrieth/Marwitz S. 172 f. 557 So bereits RGZ 125, 80/81; OLG München GRUR 1964, 42; Schricker Rz 8 m.w.N. 558 Schricker/Gerstenberg, a.a.O. OLG Frankfurt GRUR 1991, 49 f. OLG Karlsruhe GRUR 1989, 823 f. 556
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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solche Personen, die durch die möglicherweise auch ungewollte Verknüpfung mit Ereignissen vorübergehend in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Das Verbreiten und das Herstellen, von Bildern einer „Person der Zeitgeschichte" ist - ohne Einwilligung des Betroffenen - solange nicht rechtswidrig, als der Betroffene ein berechtigtes Interesse im Einzelfall behauptet und darlegt. Die Presse trifft im Rahmen ihrer allgemeinen presserechtlichen Sorgfaltspflicht, - alle Nachrichten vor ihrer Verbreitung mit der sich aus den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit, Inhalt und Herkunft zu prüfen, - eine besondere Rechtsgüterabwägungspflicht bezüglich der Persönlichkeitsrechte Betroffener 559 . Bei dieser Güter- und Interessenabwägung hat die Presse zu prüfen, ob für die vorgesehene Veröffentlichung ein ausreichender „Öffentlichkeitswert" gegeben ist. Dieser liegt nach der Rechtsprechung des BVerfG stets dann vor, wenn es sich um einen „Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt" 560. Bei Personen der Zeitgeschichte spricht dann eine gesetzliche Vermutung für das Vorliegen eines solchen „Öffentlichkeitswerts", die bei Nachweis eines berechtigten Interesses seitens des Betroffenen (§ 23 Abs. 2 KUG) widerlegt werden kann. c) Absolute und relative Personen der Zeitgeschichte Der BGH hat in einer Vielzahl von Entscheidungen den Grundsatz entwickelt, daß Vorgänge aus dem Privat- und Intimbereich auch von Personen der Zeitgeschichte zumindest grundsätzlich nicht veröffentlicht werden dürfen 5 6 1 . Dieser Gundsatz erfährt für sog. „absolute Personen der Zeitgeschichte" Einschränkungen. Der BGH unterscheidet zwischen „absoluten" und „relativen" Personen der Zeitgeschichte. Die ersten stehen lebenslang und möglicherweise über den Tod hinaus im öffentlichen Interesse. Dabei soll es sich um „Prominente aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Unterhaltung im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses" handeln. Re559 § 6 der Landespressegesetze, Art. 3 LPG Bayern und § 3 Berlin; Löffler Rz 43 ff. und 97 f. 560 Ständige Rspr. BVerfGE 7, 198 (202); E 12, 113 (127); E 24, 278 (282); E 35, 202 (224); E 42, 163 (170). Erst wenn der „Öffentlichkeitswert" grundsätzlich vorliegt, ist die Abwägung vorzunehmen, ob im konkreten Fall das Informationsinteresse der Öffentlichkeit stärker wiegt als der Schaden, der dem Betroffenen durch die Veröffentlichung droht. Das Persönlichkeitsrecht tritt stets dann zurück, wenn der Öffentlichkeitswert eindeutig überwiegt und der Pressevertreter sich auf das Grundrecht der Pressefreiheit berufen kann. Diese Abwägungsrechtsprechung hat eine lange Tradition. Bereits das Kammergericht stellte in den 20er Jahren maßgeblich darauf ab, ob das Interesse der Öffentlichkeit oder das Interesse der Einzelperson überwiegt (KG in JW: 1924 S. 1780; 1925 S. 378; 1928 S. 365). 561 BGHZ 73 S. 120; 25 S. 200 (Politiker Kohl und Biedenkopf gegen „Stern", abgehörtes Telefongespräch).
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
lative Personen der Zeitgeschichte finden lediglich aufgrund eines einmaligen Ereignisses erhöhtes Interesse 562 . Bei der Unterscheidung zwischen „absoluten" und „relativen" Personen der Zeitgeschichte geht es also keinesfalls um eine formale Kategorisierung, sondern um die Abgrenzung des Zeitgeschichtlichen, das durch ein anzuerkennendes Informationsbedürfnis gekennzeichnet i s t 5 6 3 . Absolute Personen der Zeitgeschichte müssen „ihrer andauernden Popularität Tribut zollen und im Sinne einer Sozialpflichtigkeit eine weitgehende Einschränkung des Bildnisschutzes in Kauf nehmen, die nicht auf ihr öffentliches Wirken beschränkt bleibt, sondern auch die Privatsphäre erfaßt." Es gelte der Grundsatz: „Absolute Personen der Zeitgeschichte müssen die Veröffentlichung ihrer Bildnisse hinnehmen, auch wenn diese sie nicht bei der Wahrnehmung einer öffentlichen Funktion zeigen, sondern ihr Privatleben im weiteren Sinne betreffen" 564 . I m Gegensatz dazu bezieht sich die Abbildungsfreiheit bei relativen Personen der Zeitgeschichte ausschließlich auf eine Abbildung der Person im Zusammenhang mit dem zeitgeschichtlichen Vorgang, mit dem sie vorübergehend in der Regel zufällig verknüpft ist. Das Interesse der Öffentlichkeit darf nicht auf Neugier oder Sensationslust beruhen, sondern es muß ein „echtes Informationsbedürfnis" bestehen 565 . Die Unantastbarkeit des Intimbereichs gilt grundsätzlich auch für absolute Personen der Zeitgeschichte. Das Recht auf Intim- und Privatsphäre tritt auch bei Personen der Zeitgeschichte nur zurück, wenn sich der Betroffene auch diesbezüglich bewußt in die Öffentlichkeit begibt 5 6 6 . Andererseits sind in der presserechtlichen Rechtsprechung Fälle bekannt, in denen es etwa aus „schwerwiegenden staatspolitischen Gründen" sogar geboten sein kann, über Vorgänge aus dem Bereich der Intimsphäre einer absoluten Person der Zeitgeschichte zu berichten, wenn etwa die Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit politischer Funktionsträger direkt berührt i s t 5 6 7 .
562
Vgl. statt vieler B G H AfP 1996, 138 ff. - Caroline von Monaco; erstmals Neumann-Duesberg, Bildberichterstattung über absolute und relative Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, JZ 1960 S. 114 ff. 563 OLG Hamburg Z U M 1995, 878/880, Schricker/Gerstenberg/Götting Rz 9. 564 BGH AfP 1996, 139. 565 Schricker/Gerstenberg/Götting Rz 12. 566 BayOLG in NJW 1980 S. 1669, Beobachtung eines Liebespaars, das öffentlich Zärtlichkeiten austauscht. 567 Löffler führt das Beispiel des britischen Verteidigungsministers Profumo aus dem Jahre 1963 an (Rz 47).
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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d) Stellungnahme: Verfassungskonforme Auslegung. Beschränkung auf „absolute Personen der Zeitgeschichte" Die von der Zivilrechtsprechung - im Rahmen von §§ 22, 23 KUG - entwickelten Rechtsfiguren der relativen und absoluten Person der Zeitgeschichte sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich zwar im Grundsatz nicht zu beanstanden. Als „abkürzende Ausdrucksweisen" für Personen verstanden, die unabhängig von einem bestimmten zeitgeschichtlichen Ereignis auf Grund Ihres Status oder ihrer Bedeutung allgemein öffentliche Aufmerksamkeit finden und deren Bildnis die Öffentlichkeit deshalb um der dargestellten Person willen der Beachtung wert findet, sei ihre Benutzung verfassungsrechtlich im Grundsatz unbedenklich. Die Begriffe sind verfassungsrechtlich aber nur tragfähig, sofern die Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und den berechtigten Interessen des Abgebildeten bei der Rechtsanwendung im Einzelfall nicht unterbleibt. Das Faktum der Bekanntheit einer Person führt nicht per se zu einem normativ schutzwürdigen Interesse an einer umfassenden Information. Indem für die Bestimmung „berechtigter" Informationsinteressen maßgeblich an der „Bedeutung", der Stellung oder Leistung der betreffenden Person angeknüpft werde, werde der Pressefreiheit aus verfassungrechtlicher Sicht Rechnung getragen. 5673 Die abkürzende Ausdrucksweise ist also nur tragfähig, wenn die grundsätzliche Interessenabwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Abgebildeten, die darin zum Ausdruck kommt, auch tatsächlich im Einzelfall durchgeführt wird und nicht durch den formelhaften Einsatz der Rechtsfiguren der absoluten und relativen Person der Zeitgeschichte und darauf bezogene starre Grenzziehungen vereitelt w i r d . 5 6 7 b Folgende wesentliche Unterschiede des Pressewesens gegenüber dem öffentlichen Archivwesen drängen sich auf: Die Archive haben als staatliche Anstalten des öffentlichen Rechts eine andere Funktion als die freie, unabhängige Presse. Die öffentlichen Archive unterliegen - anders als private Presseorgane - direkter grundrechtlicher Bindung aus Art. 1 Abs. 3 GG. Diese unmittelbare Grundrechtsbindung wirkt sich auf die Interessen- bzw. Grundrechtsabwägung aus. Im Bereich öffentlicher Dokumentation sind nicht in erster Linie die Bildberichterstattung, sondern v.a. auch schriftliche Informationen betroffen, die von ihrer Natur aus andere, u.U. nachhaltigere Verletzungen des Persönlichkeitsrechts hervorrufen können. Andererseits ist die Verbreitung der Informationen und mithin das Gefahrenpotential bei der Benutzung von Archivgut zumindest zunächst im Vergleich zu den Massenmedien wesentlich geringer. 567a 567b
BVerfG NJW 2001, 1921, 1923. BVerfG NJW 2001, 1923.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Bei der Nutzungsfreigabe von öffentlichem Archivgut im Rahmen der Archivgesetze ersetzt ein nach pflichtgemäßem Ermessens festzustellender spezifisch „archivischer", im Gegensatz zum presserechtlichen „Öffentlichkeitswert" die datenschutzrechtliche Einwilligung betroffener Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Das ist nicht denkbar und erforderlich, soweit ein „Amtsträger in Ausübung seines öffentlichen Amts" involviert ist, weil dieser insoweit nicht durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung oder durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird (s.o.). Der archivgesetzliche Wirkungsbereich der Amtsträgerklausel kann sich mit demjenigen der Zeitgeschichtsklausel prinzipiell nicht überschneiden. Dies haben einige Archivgesetzgeber übersehen. Umgekehrt müssen Amtsträger, soweit sie Personen der Zeitgeschichte sind und es deshalb zu akzeptieren haben, daß sich die privaten Medien auch mit ihrem Privatleben befassen, nicht automatische Freigabe personenbezogener Daten durch die staatlichen Archive dulden. Wer als Einwohner, Fahrzeughalter, Leistungsempfänger oder Patient die Verarbeitung seiner Angaben durch die Verwaltungsbehörde hinnehmen muß, hat dieser gegenüber grundsätzlich Anspruch auf Datenschutz. Weder die Verwaltungsbehörde noch ein staatliches Archiv, das die Unterlagen übernommen hat, kann diesen Anspruch mit der Begründung negieren, der Betroffene sei Politiker und Person der Zeitgeschichte und habe daher keinen Schutzanspruch. Insofern bleibt auch die absolute Person der Zeitgeschichte schutzbedürftiger Grundrechtsträger. Unbedenklich ist die Freigabe von Archivgut daher nur, soweit der status quo ante des aufgrund gesteigerten Interesses vor der Archivierung ohnehin öffentlich Bekanntgewordenen öffentlich erhalten wird. Dies entspricht dem der Archivgesetzgebung zugrundeliegenden Prinzip, keine neuen Zugangsund Geheimhaltungsschranken zu statuieren. Soweit allerdings Informationen und Daten betroffen sind, die nicht bereits außerhalb und unabhängig von staatlichen Quellen bekannt geworden sind, oder solche die eine Amtsausübung betreffen, bedarf es der Überprüfung, ob und inwiefern der Begriff der „Person der Zeitgeschichte" auf den Bereich des öffentlichen Datenschutzes und der Wissenschaftsfreiheit übertragen werden kann. Für die Archive verbietet sich ein Automatismus der tatsächlichen Vermutung für einen Öffentlichkeitswert etwaiger Informationen bei Personen der Zeitgeschichte. Es kommt nur eine entsprechende Anwendung der presserechtlichen Grundsätze zum „Öffentlichkeitswert" und eine entsprechende Heranziehung presserechtlicher Rechtsprechung zur presserechtlichen Sorgfaltspflicht in Betracht. Denn die Archive haben zwar u.a. auch eine der Presse tendeziell angenäherte öffentliche Informationsfunktion, aber als öffentliche Anstalten (noch) keine Funktion als unabhängige „vierte
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Gewalt" 5 6 8 . Eine Übernahme des im zivilrechtlichen Zusammenhang entwickelten Begriffs der Person der Zeitgeschichte in das öffentliche Archivrecht ist nur unter Beachtung der unmittelbaren Grundrechtsverpflichtung der öffentlichen Archive und abgebenden Stellen aus Art. 1 Abs. 3 GG zulässig. Bei der Auslegung des Begriffs der Person der Zeitgeschichte ist grundrechtskonform auf eine konkludente vorweggenommene Einwilligung oder einen Grundrechts-Schutzverzicht abzustellen 569 . Zutreffend stellt auch die neuere zivilrechtliche Rechtsprechung zur Beurteilung der Frage, ob ein Betroffener zum Kreis der absoluten Personen der Zeitgeschichte gehört, als entscheidendes Kriterium darauf ab, ob und in welchem Maß der Betroffene das Interesse der Öffentlichkeit selbst aktiv hervorgerufen hat 5 7 0 . Dies ist auch im Bereich des Privatsphären- und Geheimnisschutzes denkbar, wenn die betroffene Person der Zeitgeschichte auf Privatheit und Geheimhaltung bewußt verzichtet hat. Hat der Betroffene das Interesse der Öffentlichkeit regelmäßig selbst aktiv und willentlich hervorgerufen, erscheint eine Übertragung des Begriffs der absoluten Person der Zeitgeschichte auf die Archivgesetze grundsätzlich grundrechtskonform und zulässig. Denn bei absoluten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte in diesem Sinn ist dann regelmäßig von einem Eigeninteresse daran auszugehen, in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Das Recht der Berichterstattung in Fällen negativer Nachrichten ist dann Ausgleich und wahrheitsgemäße Objektivierung der grundsätzlich gewollten Publizität 5 7 1 . Der archivgesetzliche Begriff der Person der Zeitgeschichte ist daher verfassungskonform, restriktiv im Sinne des zivilrechtlich entwickelten Begriffs der absoluten Person der Zeitgeschichte auszulegen. Beim eingangs 568
s.o. 2. Kap. A. 2. , B. 2. und 3. Kap. A. III., 4. Kap. A. V. 1. Zum Grundrechts verzieht: Robbers, Jus 1985 S. 925 ff.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rz 158 ff.; Sachs, VerwArch 1985 S. 398 ff.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 92 ff. 570 OLG Hamburg AfP 1995, 512 f. DDR-Politiker; BverfG NJW 1992, 3288; BVerfG Z U M 1994 1994, 636. 571 Vgl. OLG Stuttgart AfP 1981 S. 362 f. Allerdings stellt sich im Bereich von Art. 1 Abs. 3 GG sogleich die Frage, ob ein solches Verhalten die öffentlichen Archive zu einer weiteren Verbreitung bzw. Vertiefung etwaiger Informationen ermächtigen kann. Dies ist grundsätzlich nur solange zulässig, als im konkreten Fall Tatsachen vorliegen, die die Annahme einer vorweggenommenen konkludenten Einwilligung tatsächlich stützen. Was im Bereich der Presseveröffentlichung dafür sprechen kann, mag i m Bereich öffentlich archivierter Informationen gerade nicht für die Freigabe durch die öffentliche Hand genügen. Andernfalls sind im Einzelfall überwiegende, verfassungsgeschützte, konkrete Interessen der Allgemeinheit oder Rechte Dritter zu ermitteln, wie zum Beispiel die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die öffentliche Bedeutung eines konkreten Forschungsvorhabens im Einzelfall, die einen Eingriff rechtfertigen. 569
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
genannten Beispiel der Personalakten des ehemaligen Reichskanzlers Brüning ist ein überwiegender archivischer Öffentlichkeitswert anzunehmen, da es sich hier nach gefestigter Terminologie zweifelsfrei um eine absolute Person der Zeitgeschichte handelt.
e) Abgrenzung von § 32 Abs. 1 Ziffer 3 erster Teilstrich StUG: Vorrang des Rechtsstaatsprinzips vor Forschungs- und Medieninteressen Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Verwendung von Unterlagen mit personenbezogenen Informationen zur Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, die die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in nicht anonymisierter Form zur Verfügung stellt, ist § 32 Abs. 1 Ziffer 3 erster Teilstrich StUG i . V . m . § 34 Abs. 1 StUG. Danach stellt die Behörde für die Forschung zum Zwecke der politischen und historischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes sowie für Zwecke der politischen Bildung Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger in Ausübung eines öffentlichen Amtes zur Verfügung, soweit diese nicht Betroffene oder Dritte sind, und soweit durch die Verwendung keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen der genannten Personen beeinträchtigt werden. Umstritten ist dabei, ob der Zusatz „soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind" lediglich verdeutlichen soll, dass Informationen über Personen der Zeitgeschichte nur geschützt sind, soweit sie der Privatsphäre dieser Personen entstammen, oder ob durch diese Bestimmung gerade auch diesen Personen aufgrund der rechtstaatswidrigen Erlangung der Informationen vorrangiger Opferschutz zugestanden werden soll. Die forschungsfreundliche Ansicht der Bundesbeauftragten, derzufolge Informationen über Personen der Zeitgeschichte und Amtsträger nur dann nicht zugänglich gemacht werden dürften, wenn sie der Privatsphäre dieser Personengruppe zuzuordnen seien, wurde durch das V G Berlin (Urteil vom 4. Juli 2001, Az VG 1 A 389.00) auf die vorbeugende Unterlassungklage des ehemaligen Bundeskanzlers Kohl gegen die Bundesbeauftragte verworfen. Betroffene und Dritte i.S.d. §§ 6, 7 StUG sollten immer uneingeschränkt geschützt werden, auch wenn es sich hierbei um Personen der Zeitgeschichte handelt. Dies gelte auch angesichts des Umstandes, dass der forschungs- und medienprivilegierenden Vorschrift des § 32 StUG im Ergebnis nur noch ein sehr eingeschränkter Anwendungsbereich eröffnet bleibe. Sie gilt in erster Linie nur für Verantwortliche der ehemaligen DDR, d.h. Personen der Zeitgeschichte und Amtsträger, die keine Betroffenen oder Dritte i.S.d. §§ 6, 7 StUG sind. Damit wird nach dem StUG im klaren Gegensatz zu den Bestimmungen der Archivgesetze dem Opferschutz aufgrund der rechtsstaatswidrigen Er-
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
301
langung der personenbezogenen Informationen prinzipieller Vorrang eingeräumt. Die „böse Quelle" indiziert zwar nicht den personenbezogenen Charakter von Informationen, aber die Ausnahme von der sonst geltenden Ausnahme, dass personenbezogene Unterlagen über absolute Personen der Zeitgeschichte grundsätzlich einer Öffentlichkeit unterliegen. I V . Archivgesetzliche Forschungsklauseln zur Verkürzung der Sperrfristen für personenbezogenes Archivgut 1. Regelungstypen archivgesetzlicher
Forschungsklauseln
Alle Archivgesetze enthalten spezielle Abwägungs- und Übermittlungsklauseln zugunsten wissenschaftlicher Forschung, die eine Verkürzung der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut gestatten. Bereichsspezifische Forschungsklauseln waren erforderlich, um eine klare und bestimmte Eingriffsermächtigung zu schaffen und etwaigen Betroffenen Transparenz zu sichern. Die normative Funktion der Forschungsklauseln liegt in der Ersetzung der Einwilligung Betroffener und der Eingriffs-Ermächtigung der Archive zur Beschränkung des Persönlichkeitsrechts. Sie ist begründet in dem dreipoligen Verhältnis zwischen Archiv, Forscher und Betroffenen, in dem die Archivverwaltung zur Herstellung „Praktischer Konkordanz" widerstreitender grundrechtlicher Interessen berufen ist. Abgesehen von der Übermittlungsermächtigung kommt den Klauseln die materielle Funktion zu, das durch grundrechtliche Wertungen geleitete Verkürzungsermessen auf gesetzlicher Ebene nachzuzeichnen (zweipoliges Verhältnis zwischen Archiv und Forscher). Die Forschungsklauseln haben Rechtfertigungs- und Übermittlungs- und ermessenleitende Funktion 5 7 2 . Die Regelungen leiden an einer verwirrenden Vielfalt von Kombinationen unbestimmter Rechtsbegriffe und Ermessensklauseln. Die (jeweilige) besondere Schutzfrist für personenbezogenes Archivgut kann nach pflichtgemäßem Ermessen verkürzt werden. Die Verkürzung ist nur zulässig, wenn die Benutzung für ein „bestimmtes" oder „benanntes" wissenschaftliches Forschungsvorhaben „unerläßlich", „notwendig" oder „erforderlich" ist, und wenn - die Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange Betroffener durch angemessene Maßnahmen ausgeschlossen wird, oder wenn die schutzwürdigen Belange von Personen der Zeitgeschichte und Amtsträgern in Ausübung ihres Amtes „ange572
Bereichsspezifische Forschungsklausel sind mittlerweile fester Bestandteil der allgemeinen und besonderen Datenschutzgesetze. Ihre verfassungsrechtliche Notwendigkeit ist weitgehend anerkannt. Simitis in FS Zeidler, S. 1475 (1494 f.); Bizer S. 76 ff., 171, S. 181 f., S. 187 Fn 137 m.w.N.
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
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messen berücksichtigt" werden (1. Gruppe: Bund, Rheinland-Pfalz, SachsenAnhalt, Schleswig-Holstein und B e r l i n ) 5 7 3 ; - sichergestellt ist, daß schutzwürdige Belange des Betroffenen nicht beeinträchtigt werden oder das öffentliche Interesse an der Durchführung des Forschungsvorhabens die schutzwürdigen Belange erheblich überwiegt (2. Gruppe: Brandenburg, Bremen, Hessen, Saarland, Sachsen, Thüringen) 5 7 4 . - die schutzwürdigen Belange Betroffener durch geeignete Maßnahmen bzw. durch Anonymisierung oder andere Maßnahmen „angemessen berücksichtigt" werden; in Baden-Württemberg Bestimmung, daß bei Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken ein Absehen von einer (Nutzungs-) Anonymisierung bei erheblich überwiegendem wissenschaftlichen Interesse möglich ist (5. Gruppe: Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen) 575 ; 573 BArchG § 5 Abs. 5 Sätze 2, 3; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4 Nr.3 (Nr. 2: wenn „die Benutzung zur Wahrnehmung der Aufgaben des Landtags, der Organe des Landtags und der Abgeordneten sowie der Landesregierung erforderlich ist und eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange Betroffener und Dritter durch geeignete Maßnahmen ausgeschlossen werden kann"); Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 4 Nr. 2 und 3: Schleswig-Holstein § 9 Abs. 6 Nr. 2 und S. 2. Gemäß § 8 Abs. 4 LArchG in Berlin können Schutzfristen durch das Landesarchiv verkürzt werden, „wenn und soweit dies i m überwiegenden öffentlichen Interesse liegt"; eine Verkürzung der personenbezogenen Sperrfrist ist nur zulässig, wenn „durch geeignete Maßnahmen gegenüber dem Nutzer sichergestellt ist, daß die schutzwürdigen Belange der Betroffenen nicht beeinträchtigt werden." § 8 Abs. 5 bestimmt, daß ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Nutzung von Archivgut in der Regel dann gegeben ist, „wenn die Person oder der historische Vorgang, auf die in dem gesperrten Archivgut Bezug genommen wird, von besonderer oder exemplarischer Bedeutung für die Erforschung der Geschichte oder das Verständnis der Gegenwart ist". Nach dem LArchG Berlin gilt die personenbezogene besondere Sperrfrist nicht für Unterlagen, die „Amtsträger in Ausübung ihres Amtes" betreffen, so daß man für Berlin zu demselben Ergebnis wie oben gelangt (Beschränkung der Eingriffs- und Übermittlungsermächtigung auf die Fallgruppen Amtsträger und Person der Zeitgeschichte). 574
LArchGe in: Berlin § 8 Abs. 4; Brandenburg § 10 Abs. 5, Abs. 9; Bremen § 7 Abs. 4 Nr. 3; Hessen § 15 Abs. 4 S. 1: S. 2; Saarland § 11 Abs. 5 alle Schutzfristen im Einvernehmen mit der abgebenden Stelle (§ 11 Abs. 5 S. 3: Personenbezogene Daten dürfen in Forschungsergebinssen nur veröffentlicht werden, wenn die Betroffenen eingewilligt haben oder dies für die Darstellung unerläßlich ist); Sachsen § 10 Abs. 4; Thüringen § 17 Abs. 5 S. 2 Nr. 1. 575 Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 2-5: „Bei der Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken kann von einer Anonymisierung abgesehen werden, wenn das wissenschaftliche Interesse an der Offenbarung wegen der Bedeutung des Forschungsvorhabens die schutzwürdigen Belange des Betroffenen erheblich überwiegt und das Forschungsvorhaben sonst nicht durchgeführt werden könnte"; Hamburg § 5 Abs. 4; Niedersachsen § 5 Abs. 5 „Die Benutzungsordnung kann für bestimmte Arten von Archivgut abweichend kürzere Schutzfristen festlegen, wenn öffentliche Interessen oder schutzwürdige Belange Betroffener nicht entgegenstehen, 2.) die Nutzung zur Durchführung eines wissenschaftlichen Forschungsvorhabens oder zur Erfüllung der öffentlichen Aufgaben von Presse und Rundfunk erforderlich ist und schutzwürdige
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- durch geeignete Maßnahmen sichergestellt ist, daß schutzwürdige Belange des Betroffenen oder Dritter nicht beeinträchtigt werden oder deren Wahrung sichergestellt ist (4. Gruppe: Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, NordrheinWestfalen) 576 .
Die 1. Gruppe beschränkt die Möglichkeit der Frist Verkürzung von vornherein auf Archivgut, das sich auf Personen der Zeitgeschichte und Amtsträger in Ausübung ihres Amtes bezieht, denn nur hier reicht eine „angemessene Berücksichtigung" schutzwürdiger Belange aus, deren Beeinträchtigung sonst strikt ausgeschlossen ist. Da Amtsträger als solche keine „Betroffenen" sein können, kann an sich kein personenbezogenes Archivgut mit der entsprechenden Frist vorliegen. Nach den Regelungen der 2. Gruppe ist eine Beeinträchtigung auch schutzwürdiger Belange jedoch offensichtlich grundsätzlich möglich, wenn und soweit das öffentliche Interesse an der Durchführung des Forschungsvorhabens die schutzwürdigen Belange erheblich überwiegt. Bedenkt man, daß in den Landesarchivgesetzen von Brandenburg, Hessen und Sachsen, die der 2. Gruppe angehören, die Geltung der besonderen personenbezogenen Sperrfrist für Unterlagen, die „Amtsträger in Ausübung ihres Amtes", in Brandenburg auch „Personen der Zeitgeschichte" betreffen, ausgesetzt ist, wird deutlich, daß gesetzessystematisch auch unabhängig von diesen Fällen eine Verkürzung hinsichtlich nicht anonymisierter personenbezogener Akten (ohne Einwilligung und ohne Nutzungsanonymisierung) möglich ist. Zu demselben Ergebnis gelangt man für die 3. Gruppe, da hier systematisch weiter gefaßt nur eine „angemessene Berücksichtigung" bzw. „hinreichende Wahrung" schutzwürdiger Belange verlangt wird. In Hamburg ist die Geltung der personenbezogenen Sperrfrist, soweit Amtsträger in Ausübung eines öffentlichen Amtes betroffen sind, ohnehin ausgesetzt 577 . Bestätigt wird dieses Ergebnis durch die Ausnahmebestimmung zur Regelanonymisierung des LArchG Baden-Württemberg. Den Landesarchivgesetzen der 4. Gruppe liegt eine andere dogmatische Struktur hinsichtlich des Begriffs der „schutzwürdigen" Belange zugrunde. Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange soll hier stets ausgeschlossen sein. Geht man aber für diese LArchGe davon aus, daß eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange in den Fällen der Nutzungsanonymisierung und Einwilligung ohnehin stets ausgeschlossen ist, machte die VerkürzungsInteressen der Betroffenen durch geeignete Maßnahmen hinreichend gewahrt werden." 576 LArchGe in: Bayern Art. 10 Abs. 4; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 4 Nr. 2 und 3; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4 S. 3: zuständig ist der Kultusminister, wenn keine andere Zuständigkeit ausdrücklich festgelegt wurde. 577 Amtliche Begründungen: Hamburg Bürgerschafts-Drs. 13/7111 S. 10; Niedersachsen LT-Drs. 12/4271 S. 18.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
ermächtigung keinen Sinn, wenn man die „geeigneten Maßnahmen" auf Nutzungsanonymisierung und E i n w i l l i g u n g beschränken wollte. Eine solche Beschränkung läßt sich dem Wortlaut dieser Gesetze jedenfalls nicht entnehmen. Daraus folgt, daß nach den Regelungen i n Bayern und NordrheinWestfalen die A b w ä g u n g m i t Forschungsinteressen - nach den Abwägungsgesichtspunkten, w i e sie i n den Begriffen der Person der Zeitgeschichte und des Amtsträgers i n Ausübung seines öffentlichen Amtes vertypt sind bei der Auslegung des Begriffs der „schutzwürdigen" Belange erfolgen muß. Der B e g r i f f der schutzwürdigen Belange hat demnach j e nach Archivgesetz verschiedene F u n k t i o n e n 5 7 8 . Eine zusätzliche Sonderbestimmung zur Privilegierung wissenschaftlicher Forschung i n A r c h i v e n findet sich i n § 9 Abs. 4 des L A r c h G SchleswigHolstein und § 10 Abs. 4 Nr. 2 L A r c h G Mecklenburg-Vorpommern. D i e Sperrfristen gelten nicht, soweit eine oberste Landesbehörde i n einem besonderen i m L D S G geregelten Verfahren festgestellt hat, daß das öffentliche Interesse an einem Forschungsvorhaben vordringlich i s t 5 7 9 .
578
Der erstmals in § 1 Abs. 1 BDSG der ersten Fassung 1977 enthaltene unbestimmte Rechtsbegriff wurde im § 1 Abs. 1 BDSG des Jahres 1990 durch den Begriff „Persönlichtkeitsrecht" ersetzt und ist z.B. in §§ 16 Abs. 1 Nr. 2, 20 Abs. 3 Nr. 2, 28 Abs. 1 Nr. 2und 29 Abs. 2 Nr. 2 BDSG 1990 mit „schutzwürdige Interessen" enthalten. Allgemein: Auernhammer, BDSG § 1 Rz 3, 6; Bizer, Forschungsfreiheit, S. 76 f., 171, 181 f., 244 ff. Der Begriff der schutzwürdigen Belange umschreibt nach der herrschenden Ansicht alle datenschutzrechtlichen Interessen eines Betroffenen im Bereich der Persönlichkeitssphäre: Privatsphäre, Geheimsphäre, Intimsphäre. Was im einzelnen schutzwürdige Belange sind, kann nicht abstrakt, sondern nur „unter Berücksichtigung der Art der Daten und des konkreten Verwendungszusammenhanges" bestimmt werden. Die Archivgesetze geben durch die Amtsträgerklauseln und die Klauseln „Persönlichkeiten der Zeitgeschichte" betreffend Kriterien der Schutzwürdigkeit vor. Nach einer verbreiteten Ansicht soll im Rahmen des Begriffs der „schutzwürdigen Belange" eine zusätzliche Abwägung zwischen dem Interesse des Betroffenen und des Empfängers der Daten neben der Frage der „angemessenen Berücksichtigung" erforderlich sein. Der Gesetzgeber habe diesen Konflikt nicht abschließend regeln können, so daß eine „weitere Abwägung" beim Tatbestand erforderlich sei; Bizer, Forschungsfreiheit, S. 245 ff. Fn 30, 39 m. w. N; Simitis/Dammann/Mallmann/Reh, BDSG-Kommentar, Simitis in der Einleitung Rz 27 ff. 30; Reh zu § 1 Rz 8 ff.; Simitis in FS Zeidler, S. 1489 f. 579 § 9 Abs. 4 Nr. 3 LArchG Schleswig-Holstein statuiert eine generelle Schutzfristenausnahme unter den Voraussetzungen des § 28 LDSG. Danach ist die Datenverarbeitung für wissenschaftliche Zwecke ohne Einwilligung der Betroffenen zulässig, „wenn die zuständige oberste Aufsichtsbehörde feststellt, daß das öffentliche Interesse an der Durchführung des jeweiligen Forschungsprojektes die schutzwürdigen Belange der oder des Betroffenen erheblich überwiegt und der Zweck der Forschung auf andere Weise nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erreicht werden kann"; vgl. § 10 Abs. 4 Nr.2 LArchG Mecklenburg-Vorpommern.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Vorzugswürdig ist die 2. Gruppe, da hier die Voraussetzungen der Eingriffs- und Übermittlungsbefugnis und Anforderungen, die an das Forschungsvorhaben zu stellen sind, getrennt werden. Der Gesetzestext stellt in wünschenswerter Klarheit heraus, daß ein Eingriff auch in grundsätzliche schutzfähige und schutzwürdige Positionen des Betroffenen in Betracht kommt, ohne dabei abschließend auf die problematischen Begriffe des Amtsträgers in Ausübung eines öffentlichen Amtes und der Person der Zeitgeschichte abzustellen. Dies kann in der 1. Gruppe zu einer unzulässigen Einschränkung der Forschungsfreiheit oder einer Überdehnung der Gesetzesbegriffe bei verfassungskonformer Forschungsprivilegierung führen. Die Lösung hat den methodischen Vorzug, eine Vermischung von Tatbestandsauslegung und Rechtsfolgenkonkretisierung im Rahmen des Ermessens auszuschließen. 2. Teleologische Reduktion des Verkürzungsermessens bei Einwilligung und Nutzungsanonymisierung
auf Null
Nach der überwiegenden Anzahl der Archivgesetze „kann" die personenbezogene Sperrfrist verkürzt werden, wenn der Betroffene oder im Falle seines Todes seine „Angehörigen" der Benutzung zustimmen 5 8 0 . Im Fall der Einwilligung scheidet eine Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts entweder bereits mangels Tatbestandserfüllung jedenfalls aber wegen Rechtfertigung grundsätzlich aus. Der Zweck der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut ist weggefallen. Es geht deswegen nicht um „Verkürzung" dieser Sperrfrist, was ein Verkürzungsermessen impliziert, sondern es liegt ein Fall der teleologischen Reduktion und damit der Ermessensreduzierung „auf Null" vor. Eine Weitergabeermächtigung ist ebensowenig erforderlich. Soweit öffentliche Interessen, die eine Versagung der Nutzung im Einzelfall rechtfertigen, nicht entgegenstehen, hat der wissenschaftliche Forscher bei Einwilligung des Betroffenen einen Anspruch auf Nutzung des personenbezogenen Archivguts. Zutreffend ist daher die Lösung der Landesarchivgesetze in Hessen, Sachsen und Thüringen 5 8 1 , die eine Benutzung personenbezogener Akten 580
BArchG § 5 Abs. 4 S. 3; LArchGe: Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 3; Bayern Art. 10 Abs. 4 S. 2; Berlin § 8 Abs. 4 S. 2; Brandenburg § 10 Abs. 9 N r . l ; Bremen § 7 Abs. 4 N r . l ; Hamburg § 5 Abs. 4 S. 3; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 4 Nr. 1; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4a); Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4 N r . l ; Saarland § 11 Abs. 5Nr.l; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 4 Nr. 1; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 6 N r . l . 581 LArchGe: Hessen § 15 Abs. 4 S. 3; Sachsen § 10 Abs. 4 S. 3; Thüringen § 17 Abs. 6. Manegold
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
„unabhängig von den festgelegten Schutzfristen" schlicht für zulässig erklären, wenn die Person auf die sich das Archivgut bezieht, oder im Fall ihres Todes ihre Angehörigen zugestimmt haben. Konsequenterweise wird die Einwilligung im LArchG Niedersachsen nicht erwähnt (§ 5 Abs. 5). Wer in einem zeitraubenden Procedere die Einwilligung einholen muß bzw. kann, ist gesetzlich nicht geregelt. Grundsätzlich ist entsprechend dem Amtsermittlungsgrundsatz davon auszugehen, daß dies den Archivverwaltungen zur Last fällt. Es sind zudem Fälle denkbar, in denen die Preisgabe der Betroffenen- oder Angehörigenidentität bereits einer Verletzung des geschützten Geheimnisses gleichstünde. Hier verböte sich ein Tätigwerden des Antragstellers von vornherein. In anderen Konstellationen ist es jedoch durchaus denkbar und i m Sinne der Verwaltungsökonomie sinnvoll, das Beibringen der Einwilligung dem Antragsteller und Nutzungsinteressenten zu überlassen. Die Einwilligung ist von dem überlebenden Ehegatten, nach dessen Tod von seinen Kindern, und wenn weder ein Ehegatte noch Kinder vorhanden sind, von den Eltern der betroffenen Person einzuholen. Da diese dem zivilen Erbrecht entlehnte Reihenfolge nicht ohne weiteres auf den Datenschutz übertragen werden kann, stellt das LArchG Thüringen klar, daß die Zustimmung der Angehörigen die mutmaßliche Einwilligung des Betroffenen voraussetzt. Es handelt sich um eine beispielhaften Aufzählungen derjenigen Personen, die aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeit in erster Linie als Betroffene im datenschutzrechtlichen Sinn in Betracht kommen, und gleichzeitig ohne großen Verwaltungsaufwand anhand formaler Kriterien ermittelt werden können, wie das bei den zivilrechtlichen Erben der gesetzlichen Ordnung in aller Regel der Fall ist. Insofern erscheint es aber systemwidrig und unsinnig auch „Partner einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft", die ja völlig unabhängig von familienrechtlichen Wertungen als datenschutzrechtlich Betroffene in Betracht kommen, einzubeziehen, wie dies in Brandenburg geschehen ist, weil damit keine Verwaltungserleichterung erreicht wird, sondern vielmehr neue Wertungsprobleme entstehen. Im Einzelfall sind Interessenkonstellationen denkbar, in denen das Geheimhaltungs- und Schutzinteresse des unmittelbar Betroffenen der Zustimmung Angehöriger widersprechen kann. Unklar ist, wer sich in einem solchen Fall zu dessen „Sachwalter" machen darf. Die zulässige gesetzliche Pauschalierung muß im Einzelfall mit grundrechtlichen Erfordernissen in Einklang gebracht werden. Auch im Fall der Nutzungsanonymisierung, die vom BArchG und dem LArchG von Baden-Württemberg als Regelmaßnahme zur „angemessenen Berücksichtigung" schutzwürdiger Belange Betroffener bei der Fristverkürzung vorgesehen ist, geht es nicht um die Ausübung eines Frist-Verkürzungs-Ermessens durch das Archiv. Es liegt ein Fall der Ermessensreduzie-
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rung auf Null vor: denn auch im Fall der Nutzungsanonymisierung scheidet eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange, ebenso wie im Fall der rechtfertigenden bzw. tatbestandsausschließenden Einwilligung, in aller Regel aus. Es liegt bereits kein personenbezogenes Archivgut vor, so daß die personenbezogene Sperrfrist nicht greift. Die praktisch entscheidende Frage ist, ob der Antragsteller einen Anspruch gegenüber dem Archiv darauf hat, daß dies die Möglichkeiten einer Nutzungsanonymisierung abhängig vom Forschungs- oder sonstigen Recherchevorhaben abschließend prüft und diese ggfs. mit Hilfe anonymisierter Reproduktionen selbst und auf öffentliche Kosten durchführt. Der Anspruch auf Prüfung der Anonymisierungsmöglichkeiten, ist mit dem nach aller Ansicht stets gegebenen Anspruch auf Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen identisch. Denn wenn eine Nutzungsanonymisierung möglich und sinnvoll ist, besteht keine Grundrechtskollision, der Archivbenutzungsanspruch ist mithin ohne Sperrfrist grundsätzlich sofort gegeben. Der Umfang und die Kostentragung der Nutzungsanonymisierung sind sinnvollerweise in den Archivbenutzungsverordnungen zu regeln, die Archivgesetze schweigen zu dieser praktisch wichtigen Frage. 3. Verkürzungsvoraussetzung: erheblich überwiegendes öffentliches oder wissenschaftliches Interesse? Den archivgesetzlichen Forschungsklauseln liegen bezüglich der Anforderungen an die Datenübermittlungsermächtigung (Übermittlungsfunktion) unterschiedliche Konzeptionen zugrunde: Die Landesarchivgesetze von Brandenburg (§ 10 Abs. 9 Nr. 3), Bremen (§ 7 Abs. 4 Nr. 3), Hessen (§ 15 Abs. 4 S. 2), Sachsen (§ 10 Abs. 4 S. 2) und Thüringen (§15 Abs. 5 Nr. 1, s.o. 2. Gruppe) machen die Verkürzung der personenbezogenen Sperrfrist von der positiven Feststellung eines „erheblich überwiegenden öffentlichen Interesses an der Durchführung" des konkreten Forschungsvorhabens abhängig 582 . § 8 Abs. 4 S. 1 LArchG Berlin, der für alle Sperrfristen gilt, und § 11 Abs. 5 Nr. 3 LArchG Saarland fordern lediglich ein „überwiegendes öffentliches Interesse". Keine ausdrückliche Erwähnung des öffentlichen Interesses als Voraussetzung der Verkürzung der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut findet sich in § 5 Abs. 5 S. 3, 4 BArchG und den Landesarchiv582 Nach den LArchGen in Hessen § 15 Abs. 4 S. 1, Sachsen § 10 Abs. 4 S. 1, Thüringen § 17 Abs. 5 S. 1 war bereits die Verkürzung der allgemeinen Sperrfrist vom Vorliegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses abhängig, dagegen enthalten die LArchGe in Brandenburg und Bremen insoweit einfache Ermessensklauseln. *
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
gesetzen von Baden-Württemberg (§ 6 Abs. 4 S. 2), Bayern (Art. 10 Abs. 4 S. 3), Hamburg (§ 5 Abs. 4 S. 3), Mecklenburg-Vorpommern (§ 10 Abs. 4 Nr. 2), Niedersachsen (§ 5 Abs. 5 Nr. 2 2. Alt), Nordrhein-Westfalen (§ 7 Abs. 4b), Rheinland-Pfalz (§ Abs. 4 Nr. 3 und S. 2), Sachsen-Anhalt (§ 10 Abs. 4 Nr. 2, Nr. 3), Schleswig-Holstein (§ 9 Abs. 6 Nr. 2 und S. 2). Das LArchG Baden-Württemberg bestimmt, daß bei Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken ein Absehen von einer (Nutzungs-) Anonymisierung bei erheblich überwiegendem wissenschaftlichen Interesse möglich ist, ohne daß ein spezifisch öffentliches Interesse an der Durchführung des Forschungsvorhabens explizit festgestellt werden müßte und ohne daß ein überwiegendes wissenschaftliches Interesse auf die Fälle der Person der Zeitgeschichte oder des Amtsträgers in Ausübung seines Amtes beschränkt würde. Hier scheint ein überwiegendes wissenschaftliches Interesse zu genügen, ein überwiegendes öffentliches Interesse hingegen nicht erforderlich zu sein, zumindest nicht positiv festgestellt werden zu müssen (s.o. 1., 3. und 4. Gruppe).
a) Überwiegendes Allgemeininteresse Bizer hält bereits eine von ihm sogenannte „offene Abwägungsklausel" wie in § 11 Abs. 5 Nr. 3 LArchG Saarland für verfassungswidrig, weil sie nicht gerade ein „erhebliches" Überwiegen des spezifisch öffentlichen über das private Geheimhaltungsinteresse erfordere. Ein erhebliches Überwiegen des spezifisch öffentlichen Interesses sei unverzichtbarer Bestandteil der Abwägung. Allein ein wissenschaftliches Interesse könne einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungrecht nicht rechtfertigen. Dies ergebe sich aus der „ungleichen Gewichtigkeit der unterschiedlichen Abwägungspositionen" des grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts einerseits gegen ein näher zu konkretisierndes öffentliches Interesse 583 . Nach Bizers Auffassung müßten sämtliche Forschungsklauseln der 1., 3. und 4. Gruppe mithin verfassungswidrig sein. Es stellt sich die Frage, ob ein überwiegendes wissenschaftliches Interesse als solches einen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht rechtfertigen kann oder ob stets durch das Gesetz und im Einzelfall ausdrücklich zusätzlich festgestellt werden muß, daß das konkrete Forschungsvorhaben in einem überwiegenden spezifisch öffentlichen Interesse liegt, das die schutzwürdigen Belange des Betroffenen vielleicht sogar erheblich überwiegt. 583
Bizer, Forschungsfreiheit, S. 208, 212, 248 f.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Nach dem datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts, wie ihn das BVerfG im „Volkszählungsurteil" entwickelt hat, sind „Einschränkungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts im überwiegenden Allgemeininteresse" zulässig 584 . Das Erfordernis des überwiegenden Allgemeininteresses ist nicht mit dem Begriff des überwiegenden spezifisch öffentlichen Interesse gleichzusetzen 585 . Das Allgemeininteresse ist für grundrechtlich geschützte, kollidierende Interessen Dritter offen und nicht auf spezifisch öffentliche Interessen des Gemeinwohls beschränkt. Beispielsweise wären sonst privatrechtliche Auskunftsansprüche (Vaterschaftsklagen, Rechnungslegung, etc.) nicht vor öffentlichen Gerichten zwangsweise durchsetzbar, soweit sie personenbezogene Daten betreffen. Nach der offenen Schrankenkonzeption des BVerfG ist ein spezifisch öffentliches Interesse, das das Datenschutzinteresse sogar erheblich überwiegen muß, gerade nicht zwingend erforderlich. b) Öffentliches Interesse als „Mischtatbestand" Es ist anerkannt, daß der unbestimmte, verwaltungsrechtliche Begriff des öffentlichen Interesses auf unterschiedliche Weise private Interessen umfaßt. Insbesondere können konkurrierende Grundrechte im Einzelfall öffentliche Interessen verwirklichen. Dies ist in besonderem Maße bei der Verwirklichung freier Wissenschaft und Forschung der Fall, was im fehlenden Gesetzes vorbehält des Art. 5 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommt. Häberle spricht insofern von „Grundrechten ,als' öffentlichen Interessen", die dem Bürger „Gemeinwohlzuständigkeit" geben 5 8 6 . Dogmatisch handelt es sich beim Begriff des öffentlichen Interesses um einen „Mischtatbestand", der auch Interessen Dritter umfaßt 5 8 7 . Ein rechtlich geschütztes Interesse Dritter kann also grundsätzlich auch zur Rechtfertigung der Fristverkürzung und des Archivzugangs (Datenüber584
BVerfGE 65, 1 ff., 43 ff.: M i t Rücksicht auf die Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des Bürgers gestattet das BVerfG Einschränkungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts „ i m überwiegenden Allgemeininteresse" auf einer verfassungsgemäßen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen muß. s.o. 2. Kap. B. III., 3. Kap. B. I. 2. und 5. 585 Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 32 f f ; Stichwort „Allgemeininteresse" in: Deutsches Rechtslexikon, hrsgg. von. Horst Tilch, Bd. I, S. 128 f.; so aber offenbar Bizer S. 171 f., 206. 586 Häberle S. 710 f.: Es bestehe ein Primat aber kein Monopol des (spezifisch) öffentlichen Interesses (S. 712). 587 Häberle S. 595 ff. Häberle unterscheidet hinsichtlich des Einflusses privater Interessen drei Typen der Auslegung des öffentlichen Interesses: den pluralistischen Typus (S. 54, 57), den Typus tatbestandlicher Kopplung mit privaten Interessen (S. 60) und die Delegation öffentlicher Interessen in Gestalt treuhänderischer Wahrnehmung durch Private (S. 71).
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
mittlung) genügen, wenn eine gesetzliche Übermittlungsermächtigung besteht. Dies ist mit den Archivierungs- und Nutzungsregelungen der Archivgesetze der Fall. Für die gesetzliche Regelungsdichte bleibt das aus der Art der Daten und des konkreten Verwendungszusammenhangs jeweils zu ermittelnde Gefahrenpotential maßgeblich. Das ist bei der Archivierung allein aufgrund der Zeitablaufs zu den Geschäften der laufenden Verwaltung und der Eingrenzung auf historische Forschungszwecke durch die archivische Bewertung und Kassation denkbar gering. Bizers Auffassung, derzufolge für die Verkürzung der personenbezogenen Sperrfrist stets ein erheblich überwiegendes öffentliches Interesse durch allgemeines Gesetz und im Einzelfall festgestellt werden müßte, ist jedenfalls für das Archivwesen unzutreffend. Aus der archivgesetzlichen Positivierung des Archivzugangsrechts ergibt sich, daß das Verkürzungsermessen der Archivverwaltung gerade auch im Interesse des Benutzers eingeräumt wurde. An einer unabhängigen Forschung als solcher besteht ein starkes öffentliches Interesse. Dieses abstrakte Interesse läßt sich jedoch nicht automatisch auf den konkreten Abwägungsfall übertragen. Im Extremfall würde dies sonst bedeuten, daß jedes Forschungsinteresse sich vorbehaltlich anderer, geeigneter Schutzauflagen stets dann durchsetzen könnte, wenn seine Durchführung je nach Fragestellung vom erwünschten Datenzugang abhängt. I m Einzelfall kann das Interesse eines Forschers in Wahrnehmung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG das Allgemeininteresse verwirklichen, muß es aber nicht. Da der Archivzugang des historischen Forschers nach der hier vertretenen Auffassung vom Abwehrrecht des Art. 5 Abs. 3 GG umfaßt ist, wäre es andererseits aber verfassungswidrig für eine etwaige Verkürzung der besonderen personenbezogenen Sperrfrist stets zwingend ein erheblich überwiegendes öffentliches Interesse zu fordern. Die Verengung des Verkürzungsermessens auf das ein erheblich überwiegendes spezifisch öffentliches Interesse an einem Forschungsvorhaben ist verfassungsrechtlich auch deswegen bedenklich, weil dies im Ergebnis auf staatliches Wissenschaftsrichtertum hinausläuft. Dem steht die Freiheitsverbürgung des Art. 5 Abs. 3 GG entgegen. Die Forschungsklauseln der 1., 3. und 4. Gruppe sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bei der 2. Gruppe ist in Fällen geringerer Schutzwürdigkeit des Betroffenen bzw. eines geringen Gefahrenpotentials die „Schwelle" zu einem „erheblich überwiegenden öffentlichen" Interesse entsprechend früher überschritten.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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c) Stellungnahme: „Politische" Wertung im Einzelfall Eine wertende Abwägung bezüglich der öffentlichen Bedeutung eines Forschungsvorhabens läßt sich nicht vermeiden. Die Wertung der Interessen ist dabei zwingend „politisch" in dem Sinn, daß ein öffentliches Interesse an der Durchführung eines Forschungsvorhabens statthaft, aber auch konkret zu begründen ist. Dies ist durch die Forschungsklauseln vorgezeichnet, was insbesondere die Legaldefinition des öffentlichen Interesses in § 8 Abs. 5 LArchG Niedersachsen zeigt. Der Vorteil der Forschungsklauseln besteht in der Schaffung eines Verfahrensrahmens, der zu Begründung und Offenlegung im Einzelfall zwingt. Die Bedeutung eines Forschungsvorhabens für die Allgemeinheit ist ein deutliches Indiz für einen Vorrang des Forschungsinteresses im Rahmen des Ausgleichs schutzwürdiger Belange Betroffener mit denen der Forschung. Nach allen Archivgesetzen ist grundsätzlich die Prüfung und Feststellung der spezifisch öffentlichen Bedeutung des konkreten Forschungsvorhabens geboten, die sich nicht allein auf den Hinweis auf den verfassungsrechtlichen Rang der Forschungsfreiheit beschränken darf, sondern inhaltlich weitend Stellung nimmt. Das Vorliegen eines erheblich überwiegenden, spezifisch öffentlichen Interesses kann aber nach grundrechtskonformer Auslegung nicht in jedem Fall zwingende Voraussetzung der Fristverkürzung sein. Wird die öffentliche Bedeutung eines Forschungsvorhabens verneint, kommt eine Fristverkürzung gleichwohl dann in Betracht, wenn die konkret betroffenen Belange eines Dritten, etwa wegen der Art der betroffenen Informationen oder des Forschungsvorhabens, weniger schutzbedürftig erscheinen. Dies ist eine Folge des verhältnismäßigen, möglichst schonenden Ausgleichs (praktische Konkordanz). 4. Fristverkürzungskompetenz Der Frage, welches die zur Ausübung des Verkürzungsermessens berufene Stelle ist (Verkürzungskompetenz), kommt wegen der Gefahr staatlichen Wissenschaftsrichtertums besondere Bedeutung zu. Die Verkürzungskompetenz ist in den Archivgesetzen unterschiedlich geregelt. Zum überwiegenden Teil liegt die Kompetenz bezüglich aller Sperrfristen in der Hand der Landesarchivdirektion bzw. sonstiger Archivverwaltungen 588 oder 588
LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 2 Landesarchivdirektion; Berlin § 8 Abs. 4 S. 1 Landesarchiv; ebenso Brandenburg § 10 Abs. 5 und 9, wobei gem. § 13 Abs. 1 oberste Archivbehörde das zuständige Ministerium ist; Bremen; § 7 Abs. 4; Hessen § 15 Abs. 4; Niedersachsen § 5 Abs. 5; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4 S. 3; Sachsen § 10 Abs. 4; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 5, 6; Thüringen § 17 Abs. 5.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
sie liegt in der Hand des Kultusministers, soweit keine anderen Zuständigkeiten festgelegt sind. Teilweise ist allerdings die (förmliche) Einwilligung oder Zustimmung der abgebenden Stelle erforderlich 589 . Auch hier laufen die beteiligten Interessen der abgebenden Stelle der Exekutive oder Judikative, des Betroffenen und des Forschers nicht parallel. Dem Interessenausgleich wird am besten ein unabhängiger „Sachwalter" gerecht. Soweit die Archive allein entscheiden, wächst ihnen eine „Schiedsrichterrolle" zu, die wiederum auf eine organisatorische Selbständigkeit und Weisungsunabhängigkeit der Archive drängt. 5. Verfahrensrechtliche
Voraussetzung zur Fristverkürzung
Verfahrensrechtliche Voraussetzung ist stets die Stellung eines Antrags, dessen weitere Voraussetzungen in den entsprechenden BenutzungsVerordnungen geregelt sind. Beispielhaft wird hier auf § 2 Abs. 1 und 5 und § 3 der Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg vom 29. August 1988 5 9 0 (BWArchBO) eingegangen: Danach ist der Antrag schriftlich unter Angabe der Art der wissenschaftlichen Arbeit an die Landesarchivdirektion zu stellen. Bei personenbezogenem Archivgut hat der Antragsteller entweder selbst die schriftliche Einwilligung der Betroffenen Personen beizufügen - was selbstverständlich nur möglich ist, wenn er deren Identität bereits unabhängig von der Archivguteinsicht kennt - oder eingehend zu begründen, warum eine Verkürzung der Sperrfrist unerläßlich ist. Verfahrensrechtliche Voraussetzung ist die hinreichende Bestimmung eines Forschungsvorhabens. Denn eine Abwägung setzt notwendigerweise die Konkretisierung des „Abwägungsmaterials", d. h. des Forschungszwecks auf ein bestimmtes Forschungsvorhaben voraus, ohne das sich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht durchführen ließe. Eine hinreichend bestimmte Fassung des Forschungsgegenstandes dürfte in aller Regel gleichzeitig Voraussetzung dafür sein, daß der Wissenschaftscharakter eines Vorhabens gegeben ist. Soll bei einer Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken von der Anonymisierung personenbezogener Daten abgesehen werden, so hat der Antragsteller außerdem zu begründen, warum das wissenschaftliche Interesse an der Offenbarung wegen der Bedeutung des Forschungsvorhabens die schutzwürdigen Belange des Betroffenen erheblich überwiegt und das Forschungsvorhaben sonst nicht durchgeführt werden kann. Auf Verlangen des Staats589
Bund § 5 Abs. 5 S. 6 BArchG; LArchGe in: Bayern Art. 10 Abs. 4 S. 1; Hamburg § 5 Abs. 4; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4 N r . l ; Saarland § 11 Abs. 5. 590 Erlassen aufgrund § 6 Abs. 6 S. 4 LArchG Baden-Württemberg, Der Archivar 42 (1989) Sp. 567-572.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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archivs sind dem Antrag ergänzende Angaben und Unterlagen, bei Hochschularbeiten Stellungnahmen der akademischen Lehrer beizufügen (BWArchBO § 2 Abs. 5 Sätze 2 bis 4). Als Sanktion sieht § 3 Abs. 2 Nr. 4 der BWArchBO vor, daß die Benutzungsgenehmigung nach § 49 L V w V f G widerrufen werden kann, wenn der Nutzer „Persönlichkeitsrechte sowie schutzwürdige Belange Dritter nicht beachtet".
V. Nutzungsauflagen als Voraussetzung der Fristverkürzung Angemessene Maßnahmen zur Wahrung schutzwürdiger Belange Betroffener können in erster Linie als Nebenbestimmungen (Auflagen und Bedingungen) zur Nutzungsgenehmigung angeordnet werden. Sie können mit der Entscheidung über die Fristverkürzung durch eine auflösende Bedingung verknüpft werden. Nebenbestimmungen zur Benutzungszulassung haben wesentliche Bedeutung für die optimale Realisierung der Forschungsfreiheit und der Herstellung einer „praktischen Konkordanz", bei der sowohl die Persönlichkeitsrechte eines Betroffenen als auch die Forschungsfreiheit nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu optimaler Entfaltung gelangen. Sie sind gegenüber der Totalsperre der starren gesetzlichen Fristen, die nach dem hier gewählten Standpunkt keine abschließende Regelung, sondern nur Ausgangspunkt zur Sicherung eines Mindeststandards sein können, die vorzugswürdige, flexible Lösung, die weniger in die Forschungsfreiheit eingreift bei gleichzeitiger angemessener Berücksichtigung schutzwürdiger Belange. Die jeweils der Gefährdungslage und dem konkreten Forschungsinteresse anzupassenden Nebenbestimmungen müssen sich am verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot orientieren. Den Nebenbestimmungen obliegt es in erster Linie, mögliche Nachteile und weitere, für die Durchführung des Forschungsvorhabens nicht erforderliche Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts Dritter im Falle einer Fristverkürzung auszugleichen bzw. zu verhindern, und die individuelle Verantwortung des Forschers für die möglichen Folgen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ggfs. durch Sanktionen sicherzustellen 591 .
591
Sicherstellung individueller Forschungsfolgenverantwortung: Trute: Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 165 f.; Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung, S. 95 ff.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
1. Zulässigkeit von Nebenbestimmungen Da die Entscheidungen über die Zulassung zur Archivbenutzung und über die Fristverkürzung außer in Bayern und Nordrhein-Westfalen stets als Ermessensentscheidung ausgestaltet ist, folgt die Zulässigkeit von Nebenbestimmungen aus § 36 Abs. 2 VwVfG. In den Archivgesetzen Bayerns und Nordrhein-Westfalens sind die Ermächtigungsgrundlagen für die Erteilung von Auflagen und Bedingungen zur Benutzung von Archivgut ausdrücklich positiviert 5 9 2 . § 36 Abs. 2 VwVfG stellt den Erlaß von Nebenbestimmungen in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde. Entsprechend dem Ermächtigungszweck der Archivgesetze sind die Archive zum Erlaß „sachbezogener und sachgerechter" Nebenbestimmungen ermächtigt, die sich im Rahmen der Zwecke der Archivbenutzung halten 5 9 3 . In den übrigen Fällen ergibt sich ihre Zulässigkeit i m Falle der Fristverkürzung konkludent auch aus dem Begriff der „geeigneten Maßnahmen" zur Beachtung schutzwürdiger Belange 5 9 4 , weil es sich gegenüber einer Totalsperre um das die Forschungsfreiheit weniger einschränkende Mittel handelt. Nebenbestimmungen können grundsätzlich auch im Rahmen eines verwaltungsaktsersetzenden, öffentlich-rechtlichen Verwaltungsvertrages durchgesetzt werden. 2. Auflagen und Bedingungen als Alternativen für die Anonymisierung und Sperrung Die folgenden, nicht abschließenden Maßnahmen zur Wahrung schutzwürdiger Belange Betroffener sind vorrangig auf ihre jeweilige Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit für die konkrete Archivgutnutzung zu überprüfen 595: - förmliche Verpflichtung des Archivgutnutzers 596 : zur Vertraulichkeit, Aufzeichnungen und Reproduktionen nicht Dritten zugänglich zu machen; zur Rückgabe der Reproduktionen nach Benutzung bzw. Unter592
Art. 10 Abs. 2 S. 3 LArchG Bayern; § 7 Abs. 5 S. 2 LArchG NordrheinWestfalen. 593 Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 264 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 281; BVerwGE 36, 145, 154. 594 Bund § 5 Abs. 5 S. 3 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 6 S. 3; Berlin § 8 Abs. 4 S. 3; Hamburg § 5 Abs. 4 S. 2, Abs. 5 S. 1; Niedersachsen § 5 Abs. 4 S. 1, Abs. 5 S. 2 Nr. 2; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4 Nr. 2, 3; SachsenAnhalt § 9 Abs. 4 Nr. 2 b); Schleswig-Holstein § 9 Abs. 6 Nr. 2. 595 Von Booms vorgeschlagene Alternativen zur Anonymisierung, Stellungnahme BT-Drs. 10/3072; Beigabe 1 zur Aussch.-Drs. 10/112 S. 24 f. BT-Dokumentation S. 109.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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sagung der Vervielfältigung; zur Anonymisierung und/oder Pseudonymisierung in der Veröffentlichung im Falle einer Benutzung nicht anonymisierter Unterlagen (Publikationsauflage); - die Regelungen können mit Sanktionsandrohungen, Nutzungsversagung und Vertragsstrafeunterwerfung aufgrund eines Verwaltungsvertrages verbunden werden 5 9 7 . - die Verpflichtung zur Einholung der Zustimmung des Betroffenen oder seines Rechtsnachfolgers könnte als Auflage oder aufschiebende Bedingung zur Nutzungsgenehmigung ergehen. Liegt sie vor, ist mangels Kollision grundsätzlich keine Grundrechtsabwägung mehr vorzunehmen; - weitere Benutzerauflagen: der Benutzer kann seine Forschungsthematik mit dem Archiv abklären und klären, welche Formen von nachträglicher Codierung, Pseudonymisierung oder auch offener Namensnennung bei der geplanten Darstellung geboten sind, und so sicher stellen, daß er selbst geeignete Maßnahmen bei der Verwertung der Archivalien treffen wird, um die schutzwürdigen Belange zu achten; - freiwillige Vorlage des Manuskripts vor der Veröffentlichung des Forschungsergebnisses beim Archiv und/oder beim Betroffenen zur Erlangung des Einverständnisses für die Veröffentlichung: der Wissenschaftler sollte sein Manuskript vor der Veröffentlichung „freiwillig" dem Archiv und/oder dem Betroffenen vorlegen. Eine hoheitliche Vörlageverpflichtung ist angesichts des Zensurverbots und des Art. 5 Abs. 3 GG problematisch. Eine solche Auflage stünde grundsätzlich unter dem Vorbehalt des Gesetzes: die selbständig durchsetzbare Auflage stellt kein bloßes Minus gegenüber der Totalversagung der Fristensperre dar, sondern eine eigenständige Belastung, die zwangsweise durchsetzbar i s t 5 9 8 . Vörzugswürdig ist die Realisierung der Auflagen im Rahmen eines (teilweise verwaltungsaktersetzenden) Verwaltungsvertrages, der nach VwVfG ohne weiteres zulässig ist. Er kann auch als Anlage zum schriftlichen Nutzungsantrag abgeschlossen und auch teilweise als Vertrag zugunsten Dritter/Betroffener gefaßt werden 5 9 9 . 596 Zur archivrechtlichen Verpflichtungserklärung: Heibach, Sondergenehmigungen für wissenschaftliche Forschungen nach der Anordnung über die Sicherung und Nutzung der Archive der Katholischen Kirche, in: Ammerich, Beiträge zum Archivwesen der Katholischen Kirche Deutschlands, S. 63 ff. Vorschlag des baden-württembergischen Staatarchivs für eine archivbenutzungsrechtliche Verpflichtungserklärung, in: Bannasch, Zeitgeschichte S. 182. 597 Je nach Interessenkonstellation und Öffentlichkeitswert könnte sich die Vertragsstrafenhöhe an der neueren Schmerzengeldrechtsprechung des BGH bei rechtwidrigen Presseveröffentlichungen orientieren. 598 Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 238, 265; Meyer/BorgsMaciejewski, VwVfG, § 36 Rz 33.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Falls diese V A - N e b e n b e s t i m m u n g e n ungeeignet sind, k o m m e n ggfs. auch folgende Maßnahmen subsidiär i n Betracht: - Erteilung v o n mündlichen Auskünften durch das A r c h i v - Benutzung von Archivalienreproduktionen i n anonymisierter oder nichtanonymisierter F o r m - Verweis auf andere A r c h i v a l i e n , i n denen dieselben Informationen enthalten sind, ohne daß sie den j e w e i l i g e n Schutz Vorschriften
unterworfen
sind - Verweis auf bereits veröffentlichte Informationen - Einholung v o n Datenschutzgutachten. Der Anwendungsbereich ist v o n vornherein sehr eingeschränkt u n d setzt meist die Zugriffsmöglichkeit auf „ A l t e r n a t i v q u e l l e n " voraus. Sollte tatsächlich ein F a l l der Austauschbarkeit m i t veröffentlichten Quellen vorliegen, liegt ganz offensichtlich kein F a l l der „ U n e r l ä ß l i c h k e i t " vor. Vorschnelle Gleichsetzungen des Aussagegehalts der archivierten Quelle m i t 599 Der Vertraulichkeitsverpflichtung (Auflage) kann folgende Formulierung zugrundegelegt werden: Verpflichtungserklärung als Anlage zum Antrag auf Nutzungsgenehmigung von Frau/Herrn (Nutzer/in) vom Der Nutzer/in verpflichtet sich gegenüber dem Archiv und gegenüber etwaigen Betroffenen, soweit sie in Betracht kommen: 1. bei der Nutzung von Archivgut, Findmitteln, Reproduktionen und der daraus gefertigten Aufzeichnungen sowie bei der weiteren Verwertung der aus der Nutzung der genannten Unterlagen gewonnenen Erkenntnisse Urheber- und Persönlichkeitsschutzrechte sowie schutzwürdige Belange Dritter zu beachten; 2. bei der Wiedergabe der bei der Nutzung gewonnenen Erkenntnissen, soweit keine schriftliche Ausnahmegenehmigung vorliegt, die schutzwürdigen Belange von Personen durch Anonymisierung/Pseudonymisierung zu berücksichtigen und alle Angaben, die Rückschlüsse auf die persönlichen Verhältnisse Betroffener oder Dritter zulassen, zu unterlassen; 3. über die bei der Nutzung bekanntgewordenen Vorgänge im übrigen stets Stillschweigen zu bewahren. 4. Aufzeichnungen sowie Reproduktionen von Archivgut oder von Findmitteln, aus welchen sich Rückschlüsse auf einzelne Personen ergeben, mit der gebotenen Sorgfalt zu behandeln und „Dritten" ohne Zustimmung des verwahrenden Staatsarchivs nicht zugänglich gemacht werden; 5. eine namentliche Veröffentlichung nur nach vorheriger Vorlage des Manuskripts beim Archiv im Einvernehmen mit der zuständigen Archivleitung und/oder nach vorheriger schriftlicher Einwilligung Betroffener oder ihrer Angehörigen vorzunehmen; 6. bei Verstoß gegen eine der o.g. Auflagen für jeden Fall der Zuwiderhandlung eine angemessene Vertragsstrafe in Höhe von an das Archiv zu zahlen. Für diesen Fall erkläre ich mich mit der sofortigen Rücknahme der Nutzungsgenehmigung einverstanden. Unterschrift
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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der der veröffentlichten Informationen verbieten sich. Vor allem darf nicht das Archiv hoheitlich über die Ersetzbarkeit entscheiden.
V I . Veröffentlichung der Forschungsergebnisse Die Veröffentlichung personenbezogener Daten ist datenschutzrechtlich die intensivste Form der Übermittlung 6 0 0 . Daher ist die Veröffentlichung personenbezogener Daten dem Grundsatz nach nur mit der Einwilligung des Betroffenen oder seiner Angehörigen möglich. Dem steht entgegen, daß die Publikation auch personenbezogener historischer Forschungsergebnisse zu den existentiellen Wirkungsmechanismen der Forschung gehört, ohne die fachliche Auseinandersetzung in manchen Bereichen nicht möglich ist. Gleichzeitig liegt gerade in der Veröffentlichung die potentielle Gemeinwohlorientierung der Forschung begründet. Insbesondere eine anonymisierte Darstellung oder eine Pseudonymisierung kann dem wissenschaftlichen und dem öffentlichen Interesse an der Publizität von Forschungsergebnissen über die Zeitgeschichte widersprechen 601 .
7. Die „Historikerklausel"
der Datenschutzgesetze
§ 40 Abs. 4 Nr. 2 BDSG und die entsprechenden Landesdatenschutzgesetze enthalten in den sogenannten „Historikerklauseln" Durchbrechungen des datenschutzrechtlichen Einwilligungsprinzips zugunsten zeitgeschichtlicher Publikationen: danach darf die wissenschaftliche Forschung betreibende Stelle personenbezogene Daten auch im Falle fehlender Einwilligung veröffentlichen, „ wenn dies für die Darstellung von Forschungsergebnissen über Ereignisse der Zeitgeschichte unerläßlich ist" 602. Soweit in BadenWürttemberg und Sachsen zusätzlich „überwiegende schutzwürdige Be600 Denn bei dieser „Übermittlung auf Vorrat" ist „weder vorhersehbar noch bestimmbar, wer ... Kenntnis erlangen wird." BVerfGE 78, 77 (84, Entmündigung); Simitis in FS Zeidler, S. 1504 f.; Bizer, Forschungsfreiheit, S. 268 ff. Ordemann/ Schomerus, BDSG, § 40 Amn. 3.1. 601 Simitis a.a.O. Bizer S. 269. 602 Bund: § 40 Abs. 4 Nr. 2 BDSG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 30 Abs. 4 Nr. 2 „.überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen nicht entgegenstehen"; Berlin: § 30 Abs. 5 b); Brandenburg § 28 Abs. 5 Nr. 2 ; Bremen § 21 ohne Veröffentlichungsklausel; Hamburg § 27 Abs. 5; Hessen: § 33 ohne Veröffentlichungsklausel; Mecklenburg-Vorpommern § 30 Abs. 6 Nr. 2; Niedersachsen § 25 Abs. 5 Nr. 2; Nordrhein-Westfalen § 28 Abs. 5 Nr. 2; Rheinland-Pfalz § 25 Abs. 4: nur mit Einwilligung des Betroffenen; Saarland § 28 Abs. 6b); Sachsen § 30 Abs. 4 Nr. 2 „ . . . und überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen nicht entgegenstehen." Sachsen-Anhalt § 27 Abs. 4 Nr. 2; Schleswig-Holstein § 28 Abs. 7 Nr. 2; Thüringen § 25 Abs. 4 Nr. 2.
3. Teil: Archivverwaltungsrecht
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lange des Betroffenen" nicht entgegenstehen dürfen, bedeutet dies lediglich eine Klarstellung; dieselbe Abwägung vollzieht sich im Rahmen des Begriffs „unerläßlich" der übrigen Gesetze 603 . Diese allgemeindatenschutzrechtlichen Regelungen werden bereichsspezifisch ergänzt durch § 11 Abs. 5 S. 3 Nr. 1 und Nr. 2 des LArchG Saarland und § 15 Abs. 4 S. 2 2. Hs. des LArchG Hessen, die bestimmen, daß „soweit es der Forschungszweck zuläßt, die Forschungsergebnisse ohne personenbezogene Angaben zu veröffentlichen sind". 2. Verhältnis
der „Historikerklausel"
zur besonderen Sperrfrist
Das Verhältnis der archivgesetzlichen Sperrfristen zu den datenschutzgesetzlichen „Historikerklauseln" ist problematisch und insbesondere für den Fall des Ablaufs der Schutzfristen zu klären. Es fragt sich nämlich, ob das Anonymisierungsgebot der Landesdatenschutzgesetze auch nach dem Ablauf der archivgesetzlichen Regelspenfristen selbständig weitergilt, oder ob hier das Spezialitäts-Verhältnis der Archivgesetze gegenüber den allgemeinen Datenschutzgesetzen entgegensteht. Wenn der Begriff der (wissenschaftlichen) Archivgutnutzung bzw. die Widmung zu öffentlichem Archivgut die (wissenschaftliche) Veröffentlichung der jeweiligen Archivdaten umfaßt, folgte daraus, daß zumindest archivierte personenbezogene Daten nach Ablauf der gesetzlichen Sperrfristen grundsätzlich veröffentlicht werden dürfen. Die Archivgesetze enthielten dann auch insoweit eine bereichspezifische, spezielle und vorrangige Regelung. Entscheidend sind der Begriff der Archivgutnutzung und der Widmungszweck. Gegen eine weite Auslegung des Begriffs der Archivgutnutzung wird angefühlt, daß damit die Rechte der Betroffenen deswegen nicht hinreichend berücksichtigt würden, weil ein erheblicher Unterschied zwischen der bloßen Einsichtnahme im Archiv oder der personenbezogenen Veröffentlichung bestehe. Es werde sinnwidrig zwischen öffentlich archivierten und sonstigen Daten differenziert 604 . Auf der anderen Seite fällt die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG. Die verfassungskonforme Auslegung des gesetzlichen Widmungszwecks des Archivgutes zur wissenschaftlichen Nutzung spricht dafür, daß die entsprechende Veröffentlichung als Endzweck der wissenschaftlichen Archivgutnutzung durch die Sperrfristen mitgeregelt ist. 603 604
Das übersieht Bizer, Forschungsfreiheit, S. 270. Bizer a. a. O.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Dagegen kann nicht angeführt werden, daß dies zu kuriosen Ergebnissen führe, weil im Ergebnis wegen der archivischen Bewertungsentscheidung und Widmung zu öffentlichem Archivgut zwischen öffentlich archivierten und nicht archivierten Quellen mit personenbezogenen Angaben zurecht unterschieden wird. Der Anwendungsbereich der Datenschutzgesetze ist zudem beschränkt: Amtsträger in Ausübung eines Amtes und ggfs. auch Personen der Zeitgeschichte scheiden bereits wegen beschränkten Grundrechtsschutzes und der allgemeinen Historikerklauseln aus dem Konfliktfeld aus. Jedenfalls ist für den gesetzlichen Regelfall des Ablaufs der archivgesetzlichen Sperrfristen für personenbezogenes Archivgut mit dem Zugang zu personenbezogenen Archivdaten auch deren Veröffentlichung grundsätzlich zulässig 605 . Sollte dieses Ergebnis im Einzelfall schutzwürdige Belange verletzen, kommt nach wie vor eine Publikationsauflage und Vertraulichkeitsverpflichtung in Betracht; als ultima ratio kann auch eine Fristverlängerung geboten und verhältnismäßig sein. Dies gilt selbstverständlich nicht im Fall der Fristverkürzung der besonderen Schutzfristen. Hier gelten die Nutzungsauflagen der Fristverkürzungentscheidung (s.o.) und uneingeschränkt die Historikerklausel der LDSGe. Die Historikerklauseln sind als allgemeine Regelungen ergänzend für die Periode von der Fristverkürzung bis zu ihrem regelmäßigen Ablauf heranzuziehen. Nach Ablauf der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut gelten sie für archivierte Daten nicht.
V I I . Schutzrechte Betroffener Die Archivgesetze gewähren Betroffenen Auskunfts- und Einsichtsrechte 6 0 6 sowie spezielle Gegendarstellungsansprüche 607. Vernichtungs- und 605 Die in einigen Archivgesetzen ausdrücklich erwähnten, zur Benutzung berechtigenden „publizistischen Interessen" führen zum gleichen Ergebnis; andernfalls entstünden Wertungswidersprüche. LArchGe in: Hessen § 14 S. 2; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 1 S. 2: Bayern Art. 10 Abs. 2 S. 2. 606 Archivrechtliche Auskunfts- und Einsichtsansprüche: Bund § 4 Abs. 2 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 5 Abs. 1 (§ 12 LDSG); Bayern Art. 11 Abs. 1; Berlin § 9 Abs. 1; Brandenburg § 8 Abs. 1; Bremen § 5 Abs. 1 S. 1; Hamburg § 6 Abs. 1 (§ 18 LDSG); Hessen § 17 Abs. 1 S. 2 (3); Mecklenburg-Vorpommern § 11 Abs. 1; Niedersachsen § 6 Abs. 1, 2, 3; Nordrhein-Westfalen § 6 Abs. 1 S. 1; Rheinland-Pfalz § 4 Abs. 1; Sachsen § 6 Abs. 1 S. 2; Schleswig-Holstein § 11 Abs. 1; Thüringen § 19 Abs. 1. 607 Archivrechtliche Gegendarstellungsansprüche: Bund § 4 Abs. 3 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 5 Abs. 2 (Abs. 3); Bayern Art. 11 Abs. 3; Berlin § 9 Abs. 2 (i.V.m. § 10 Abs. 2, Abs. 3 LandespresseG), § 9 Abs. 3; Brandenburg § 8 Abs. 2-4; Bremen § 5 Abs. 2 S. 2; Hamburg § 6 Abs. 3 (Abs. 2);
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Löschungsansprüche des Betroffenen gelten fort, soweit die Archivierung als Löschungssurrogat nicht entgegensteht 608 .
1. Auskunftsanspruch Die Auskunftsansprüche richten sich zwar gegen das verwahrende Archiv, aber die Unterlagen „gelten" in Bezug auf den Anspruch weiterhin als solche der abgebenden Stelle, so daß etwaige sondergesetzliche Einschränkungen fortwirken 6 0 9 . § 4 Abs. 2 S. 1 BArchG, § 8 Abs. 1 LArchG Brandenburg, § 6 Abs. 1 LArchG Sachsen, § 11 Abs. 1 LArchG SchleswigHolstein stellen den Auskunftsanspruch des Betroffenen darüber, welche Informationen über ihn archiviert sind, unter den Vorbehalt der namentlichen Erschließung des Archivguts. Andere Landesarchivgesetze fordern „erschlossenes" 610 Archivgut oder „Verzeichnung der personenbezogenen Daten nach archivfachlichen Kriterien" 6 1 1 oder stellen den Auskunftsanspruch unter den Vorbehalt „vertretbaren" bzw. „angemessenen" Verwaltungsaufwandes 612 . Wo dieser Vorbehalt fehlt, wie z.B. in den LArchGen Bremen und Hamburg, dieohne gesetzliche Einschränkung auf bestehende Auskunftsansprüche verweisen 613 , wird man den Vorbehalt des vertretbaren Verwaltungsaufwandes als immanente Schranke annehmen müssen 614 .
Hessen § 17 Abs. 2-5; Mecklenburg-Vorpommern § 11 Abs. 2; Niedersachsen § 6 Abs. 4; Nordrhein-Westfalen § 4 Abs., 8 S. 2; Rheinland-Pfalz § 4 Abs. 2 S. 4 (2); Saarland § 5 Abs. 4; Sachsen § 6 Abs. 2 S. 2; Sachsen-Anhalt § 6 Abs. 4; Schleswig-Holstein § 11 Abs. 2; Thüringen § 19 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5. 608 Bund § 2 Abs. 7 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 5 Abs. 3 S. 2 ist nach Archivierung ausgeschlossen (!); Bayern Art. 11 Abs. 4; Berlin keine Regelung; Brandenburg § 8 Abs. 4 S. 2; Bremen § 5 Abs. 2 1. Alt.; Hamburg keine Regelung; Hessen § 17 Abs. 4; Niedersachsen keine Regelung; Nordrhein-Westfalen keine Regelung; Rheinland-Pfalz § 4 Abs. 2 S. 3; Saarland § 5 Abs. 1; Sachsen § 6 Abs. 1 S. 1; Sachsen-Anhalt § 6; Schleswig-Holstein § 11 Abs. 3; Thüringen § 19 Abs. 4. 609 Amtliche Begründung zu Art. 11 Abs. 1 LArchG Bayern, BayLT-Drs. 11/ 8185 S. 15; Schlewig-Holstein LT-Drs. 12/1615 S. 30 zu § 10 Abs. 3. 610 § 17 Abs. 1 LArchG Hessen; § 19 Abs. 1 LArchG Thüringen. 611 § 9 Abs. 1 LArchG Berlin. 612 § 5 Abs. 1 S. 2 LArchG Baden-Württemberg; § 6 Abs. 1 LArchG NordrheinWestfalen. 613 § 5 Abs. 1 LArchG Bremen; § 6 Abs. 1 LArchG Hamburg i . V . m . § 18 LDSG Hamburg. 614 Unter diesen Umständen gewähren LArchGe und BArchG ein ausdrückliches Wahlrecht der Archivverwaltung zwischen Auskunfterteilung und der Gewährung von Einsichtnahme, die weniger Verwaltungsaufwand erfordern dürfte. Wahlrecht in: Nordrhein-Westfalen § 6 Abs. 1 S. 1; Rheinland-Pfalz § 4 Abs. 1 S. 1; Saarland § 5 Abs. 5 S. 1, 2; Schleswig-Holstein § 11 Abs. 1 S. 1.
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2. Gegendarstellungsanspruch Die archivgesetzlichen Gegendarstellungsansprüche 615 sind nach dem Vorbild der Pressegesetze 616 gebildet. Sie beziehen sich nur auf Tatsachenbehauptungen und stellen datenschutzrechtlich einen Kompromiß zwischen dem Begehren des Betroffenen auf Richtigstellung seines „Bildes" für die „Nachwelt" und dem Vermeiden des zumeist nicht vertretbaren Aufklärungsaufwandes 617 für die Ermittlung der richtigen Tatsachen- und Rechtslage dar. Zur näheren Ausgestaltung des archivrechtlichen Gegendarstellungsanspruchs kann auf die Darstellungen zum Presserecht verwiesen werden, die entsprechend unter Beachtung der archivrechtlichen Interessenkonstellation anzuwenden sind. Das gilt vor allem für das Erfordernis der Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses, das einige Gesetze auch für das archivrechtliche Gegendarstellungsrecht fordern 6 1 8 . Gelingt dem Betroffenen die Glaubhaftmachung nicht, ist stets eine Richtigstellung beizufügen. Die Beifügung verändert den Aussagegehalt einer Archivunterlage, ihre „Authentizität" nicht nachteilig 6 1 9 . Dem auswertenden Forscher dient die Beifügung einer Gegendarstellungserklärung durch die Erweiterung des Quellenmaterials und den Hinweis auf einen Interessenkonflikt 620 . 615 Archivrechtliche Gegendarstellungsansprüche: BArchG § 4 Abs. 3; LArchGe: Baden-Württemberg § 5 Abs. 2; Bayern Art. 11 Abs. 3; Berlin § 9 Abs. 2; Brandenburg § 8 Abs. 2-5; Bremen § 5 Abs. 2; Hamburg § 6 Abs. 2-3; Hessen § 17 Abs. 2-5; Niedersachsen § 6 Abs. 4; Nordrhein-Westfalen § 4 Abs. 8; RheinlandPfalz § 4 Abs. 2; Sachsen § 6 Abs. 2; Schleswig-Holstein § 11 Abs. 2; Thüringen § 19 Abs. 2. 616 Löffler, Presserecht, § 11 Rz 31 ff., zum Tatsachenbegriff Rz 79 ff. 617 Amtliche Begründung der Bundesregierung zu § 4 Abs. 1 des Entwurfs BArchG BT-Drs. 371/84, S. 11. „ . . . ein förmliches Verfahren der Festellung, ob die Behauptung der Unrichtigkeit zutrifft oder nicht, würde in der Regel einen zu großen Verwaltungsaufwand verursachen. Auch aus diesem Grunde soll dem Bundesarchiv die Möglichkeit gegeben werden, in den Fällen, in denen durch die Anonymisierung historisch wertvolle Angaben vernichtet würden, von dem Betroffenen eine Darstellung aus seiner Sicht zu verlangen, soweit dadurch dessen schutzwürdige Belange angemessen berücksichtigt werden. Dieses Verfahren erweitert auch die Quellenbasis für die Forschung, ist also hinsichtlich des Verwaltungsaufwandes insoweit vertretbar." Ebenso die amtliche Begründung zu § 4 Abs. 8 LArchG Nordrhein-Westfalen, Nordrhein-Westfalen LTDrs. 10/3372 S. 18. 618 LArchGe in: Baden-Württemberg § 5 Abs. 2 S. 1; Bayern Art. 11 Abs. 3 S. 1; Berlin § 8 Abs. 2; Hamburg § 6 Abs. 3; Hessen § 17 Abs. 2 S. 1; Niedersachsen § 6 Abs. 4 S. 3; Sachsen § 6 Abs. 2 S. 2; Thüringen § 19 Abs. 2 S. 1. 619 Unzutreffend daher Nadler S. 111 f. 620 Amtlichen Begründungen: Bundesregierung zu § 4 Abs. 1 BT-Drs. 11/498; Bremen Senat-Drs. zu § 5 Abs. 2 12/1193; Hamburg Senats Drs. 13/7111, S. 12. Hecker, Neuere Entwicklungen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes im Archivwesen unter besonderer Berücksichtigung der bayrischen Verhältnisse, Der Archivar 21 Manegold
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Auf Archivgut privater Herkunft („Ergänzungsarchivgut") sind die Schutzbestimmungen entsprechend übertragbar. Eine zivilrechtliche Übereignung ist datenschutzrechtlich nicht erforderlich. Liegt eine Übereignung von privatem Schriftgut und mithin eine zu öffentlichem Archivgut gewidmete Sache vor, sind die öffentlichen Nutzungs- und Schutzrechte unmittelbar einschlägig. Die Durchsetzung der Schutzrechte steht unter dem Vorbehalt der Regelungen des Depositalvertrages, solange keine Übereignung an das Archiv stattgefunden hat und „echtes" Depositalgut vorliegt 6 2 1 , da sonst unzulässig in das Privateigentum eingegriffen würde 6 2 2 . Dem Willen des Depositalgebers muß ggfs. durch Auflagen Rechnung getragen werden; der Auskunfts- und Gegendarstellungsanspruch ist „vertragsfest" 623 . Im einzelnen bestehen auch hier abweichende archivgesetzliche Regelungen in Bund und Ländern 6 2 4 .
V I I I . Abschottung gegen die Benutzung durch die abgebende Stelle Hat die Archivierung die Funktion eines Löschungs- oder Sperrungssurrogat für personenbezogene Daten, darf die abgebende Stelle auch „als Dritter" das Archivgut nicht zu den Zwecken nutzen, zu denen es erhoben worden i s t 6 2 5 . In jedem Fall ist es ausgeschlossen, daß abgebende Stellen über das Archiv einen unzulässigen Zugriff auf personenbezogenes Material erhalten 626 . Die Archivierung darf nicht zum „Umgehungsinstrument" des 36 (1983) Sp. 263, 267; König, Archivgesetzgebung zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit, Der Archivar 37 (1985) Sp. 193, 201; Bull/Damann, DÖV 1982 S. 213, 222; Nadler S. 110, S. 312. 621 Günther, Rechtsprobleme der Archivbenutzung, S. 138; Nadler S. 37. 622 Günther S. 138; Nadler S. 153. 623 Müller, Rechtsprobleme bei Nachlässen in Bibliotheken und Archiven, S. 43. 624 § 4 Abs. 2 BArchG; § 6 Abs. 1, Abs. 6 Nr. 5 LArchG Baden-Württemberg: der Vorbehalt abweichender Regelungen beschränkt sich auf das Nutzungsrecht. Anders aber nach Art. 11 LArchG Bayern: danach gelten die Schutzrechte Dritter bei privatem Archivgut grundsätzlich nicht. Andere LArchGe bestimmen den Vorrang des Depositalvertrages: § Abs. 3 LArchG Sachsen; § 4 Abs. 3 S. 2 LArchG Schleswig-Holstein; § 3 Abs. 7 LArchG Niedersachsen. Dazu Günther S. 53 ff. 625 Spezialgesetzliche Nutzungen bleiben vorrangig: insbesondere § 96 StPO. Günther S. 165. 626 Amtliche Begründung bei Hockenbrink, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, S. 47; LT-Drs. 10/3372 S. 18; Hessen § 15 Abs. 3 S. 2: LT-Drs. 12/3944 S. 18. Problematisch ist insofern die Formulierung des LArchG Niedersachsen in § 5 Abs. 7 S. 2: „Die Nutzung von Archivgut durch die Einrichtungen oder Stellen, von denen es übernommen worden ist, unterliegt keinen Einschränkungen durch dieses Gesetz." Dies suggeriert, daß das Archivgut seinen Rechtscharakter als Verwaltungsmittel nicht geändert habe.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Datenschutzes w e r d e n 6 2 7 . D i e datenschutzrechtliche Bedeutung der A r c h i vierung als Löschungs- oder Sperrungssurrogat gegenüber der abgebenden Stelle stellt die Fassung des § 5 Abs. 8 S. 1 L A r c h G H a m b u r g (ähnlich § 15 Abs. 3 S. 2 L A r c h G Hessen, § 10 Abs. 2 2. Hs. L A r c h G M e c k l e n burg« Vorpommern) deutlich heraus: „Der Benutzung durch die Stellen, bei denen das Archivgut entstanden ist, stehen die Schutzfristen nur entgegen, wenn die Aufbewahrung im Staatsarchiv gesetzlich vorgeschriebene Sperrung, Vernichtung oder Löschung ersetzt . . . " U m die Kontinuität der Verwaltungstätigkeit i n den übrigen Fällen zu sichern, ermächtigen die Landesarchivgesetze 6 2 8 die abgebende Stelle dazu, unabhängig von Benutzungsgrenzjahren und Schutzfristen auf „ i h r " Schriftgut z u r ü c k z u g r e i f e n 6 2 9 . § 10 Abs. 3 L A r c h G Sachsen und § 17 Abs. 4 S. 2 L A r c h G Thüringen beschränken sich darauf, die archivgesetzlichen Schutzfristen für den Fall der Benutzung durch die abgebende Stelle auszusetzen. I m strengen Sinn handelt es sich bei dieser Nutzungsart nicht u m eine A r chivnutzung, w e i l das A r c h i v g u t nicht als A r c h i v g u t , sondern als Registraturgut genutzt wird, d. h. ohne daß zur Aufgabenerledigung auf die spezifische Archivierungsleistung zurückgegriffen w i r d 6 3 0 . Infolge des Wechsels der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit handelt es sich dabei u m einen A k t der Rechts- und A m t s h i l f e zwischen der abgebenden Stelle und dem zuständigen A r c h i v 6 3 1 . K e i n Fall der A m t s h i l f e liegt allerdings i m F a l l der Zwischenarchivierung vor, bei d e m die Unterla627
Simitis in FS Zeidler, S. 1499. Freys spricht insofern von „amtshilfefestem Schutz gegen Zweckentfremdung" der archivierten Daten. Freys S. 85. 628 Das BArchG verzichtet demgegenüber auf eine derartige Regelung. Aus dem Gesetz geht daher nicht hervor, ob die Schutzfristen grundsätzlich für alle Stellen des Bundes einschließlich oder mit Ausnahme der abgebenden Stelle gelten sollen. In § 5 Abs. 8 des ursprünglichen Entwurfs der Bundesregierung, BT-Drs. 11/498 S. 5, war vorgesehen, daß diese gelten sollten, wenn und soweit Unterlagen bei ihnen (den abgebenden Stellen) hätten gesperrt werden müssen. Diese Privilegierung ist nicht übernommen worden, so daß davon auszugehen ist, daß die abgebende Stelle des Bundes wie jeder Benutzer zu behandeln ist, soweit schutzwürdige Belange Dritter im Wege stehen. Kritisch Polley, Variatio delectat?, in: Polley, Archivgesetzgebung, S. 21, 30; Nadler ist der Ansicht, die fehlende Privilegierung sei Folge des Verzichts auf eine feste Anbietungs- und Übergabefrist (S. 163). 629 Amtliche Begründungen: Baden-Württemberg zu § 6 LT-Drs. 9/3345; Bayern zu Art. 10 Abs. 5, LT-Drs. 11/8185 S. 15 Nr. 10.5.1.; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 5 LT-Drs. 11/2802 S. 17; Hamburg § 5 Abs. 8 S. 2, Senats-Drs. 13/7111 S. 11; Bremen § 6, Bürgerschafts-Drs. 12/1193 S. 17; Thüringen § 17 Abs. 4 S. 2, LTDrs. 1/1005 S. 20; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 4 Nr. 2; LT-Drs. 12/1615 S. 28; Saarland § 10 Abs. 1, LT-Drs. 10/945 S. 13; Berlin § 7 Abs. 7, AbgeordnetenhausDrs. 12/2302 S. 12; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 6 LT-Drs. 2/383 S. 29. 630 Günther (S. 160 ff.) spricht von amtlicher Nutzung und ist gegen deren Einordnung als einer Benutzungsform neben anderen Formen der Benutzung in den Archivgesetzen und Benutzungsordnungen (S. 164). 2
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
gen in der datenschutzrechtlichen Verantwortlichkeit der abgebenden Behörde verbleiben 632 . Die Anordnungen waren notwendig, da sich aus den allgemeinen Grundsätzen der Rechts- und Amtshilfe keine Durchbrechung der Schutzfristen zugunsten datenschutzrechtlich anderer Stellen ergeben kann. I X . Zusammenfassung Dem Schutz personenbezogener Daten in archivierten öffentlichen Unterlagen dient die besondere Sperrfrist für „personenbezogenes Archivgut", die nach dem Vorbild des KUG zumeist 10 Jahre, nach dem BArchG 30 Jahre beginnend mit dem Tod des Betroffenen beträgt. Der unterschiedlich definierte unbestimmte Gesetzesbegriff des personenbezogenen Archivgut ist verfassungskonform restriktiv auszulegen. Eine pauschale Sperre ist nur gerechtfertigt, wenn das Archivgut zur Person Betroffener geführt und deren Geburts- oder Sterbedatum mit vertretbarem Aufwand von 1 bis 2 Mitarbeitertagen aus dem Archivgut zu ermitteln ist. Dabei ist grundsätzlich auch eine Schätzung der Lebensdaten aufgrund konkreter Anhaltspunkte in der Akte zulässig. Im Unterschied dazu statuiert das französische Archivgesetz unterschiedliche Sperrfristen für jeweils gesetzlich gefaßte Unterlagentypen mit persönlichen und privaten Angaben. Die von einigen Landesarchivgesetzen statuierte Fristausnahme für Archivgut, das sich auf Amtsträger in Ausübung ihres Amtes bezieht, konkretisiert lediglich die Fälle der ohnehin fehlenden Grundrechtsberechtigung von Funktionsträgern der öffentlichen Gewalt. Persönliche Daten, die bei Gelegenheit der Amtsausübung erfaßt wurden, fallen nicht unter diese Befreiung. Dafür ist analog des presserechtlichen Begriffs der Person der Zeitgeschichte auf den konkreten Öffentlichkeitswert abzustellen und eine konkrete Interessenabwägung vorzunehmen, die eine Kenntnisnahme durch den Forscher und auch eine Veröffentlichung rechtfertigen kann Die besonderen Sperrfristen sämtlicher Archivgesetze sind im überwiegenden Interesse der Forschung auch dann zu verkürzen, wenn kein Fall der auch konkludenten Einwilligung des Betroffenen, wozu auch die Angehörigen zählen, vorliegt oder eine vorrangige Nutzungsanonymisierung nicht möglich ist. Dazu muß zwar grundsätzlich ein öffentliches Interesse an der Durchführung des Forschungsvorhabens begründet werden. Ein erheblich überwiegendes öffentliches Interesse an der Fristverkürzung ist 631 So das unveröffentlichte Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 27. Januar 1982, AZ: 3 K 1017/81, zitiert nach Heydenreuther, Der Archivar 40 (1987) Sp. 75, 77; Lepper, DVB1. 1963 S. 315, 318, Günther S. 161; anderer Ansicht Freys S. 84 f. 632 Günther S. 162.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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jedoch nur bei erheblicher Beeinträchtigung persönlicher Belange erforderlich. Umgekehrt kann auch ein einfaches wissenschaftliches Interesse in Fällen geringer Beeinträchtigung genügen, ohne daß ein spezifisch öffentliches Interesse an der Fristverkürzung bestehen muß. Eine Beschränkung der Fristverkürzung auf die Fallgruppen des „Amtsträgers in Ausübung seines Amtes" und der „Person der Zeitgeschichte" ist nicht zulässig. Mit dem Ablauf der besonderen Sperrfrist ist grundsätzlich auch die Veröffentlichung der jeweiligen Daten erlaubt. Die jeweiligen archivgesetzlichen Sperrfristen gelten auch für privates Depositalgut und können durch Vereinbarung im Depositalvertrag nicht unterschritten, wohl aber überschritten werden.
C. Nutzung von Archivgut, das „der Geheimhaltung44 unterliegt I. Überblick über die Geheimhaltungsregelungen der Archivgesetze 1. Besondere Sperrfristen, Fristverlängerungsanordnung und Nutzungsversagungsgründe für geheimhaltungsbedürftiges Archivgut Archivgut, das Vorschriften über Geheimhaltung im weiteren Sinne unterfällt, bildet nach allen Archivgesetzen mit Ausnahme desjenigen Bremens eine besondere Archivgutkategorie, die dem Regime spezieller Sperrfristen unterfällt. Der Vergleich der Tatbestände und Gesetzesbegründungen offenbart eine erhebliche terminologische und konzeptionelle Uneinheitlichkeit bezüglich des Regelungsgegenstandes der „Geheimhaltung": Die besonderen Sperrfristen werden angeknüpft an Archivgut, das „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung" 633 oder „anderen" oder „besonderen" „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung" 634 , „besonderen Geheimhaltungsvorschriften" 635 , „besonderen gesetzlichen Geheimhaltungsvorschriften" 6 3 6 und/oder „einem besonderen Amtsgeheimnis" 637 und „beson633 BArchG §§ 2 Abs. 4 Nr. 2, 5 Abs. 3; LArchGe in: Baden-Würtemberg § 6 Abs. 2 S. 2; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 3 S. 3: „aufgrund von Rechtsvorschriften geheimzuhalten". 634 LArchGe in: Berlin § 8 Abs. 2 S. 2; Brandenburg § 10 Abs. 2, 5, § 11 Abs. 1 Nr. 3; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 2 S. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 1 S. 2; Sachsen-Anhalt §§ 9 Abs. 2 N r . l b ) , 10 Abs. 3 S. 3. 635 LArchGe in: Bayern Art. 10 Abs. 3 S. 4; Hamburg § 5 Abs. 1 Nr. 3; Hessen § 15 Abs. 1 S. 2; Saarland § 11 Abs. 2; Sachsen § 10 Abs. 1 S. 2; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 3 S. 2; Thüringen § 17 Abs. 3 S. 1. 636 § 5 Abs. 2 S. 2 LArchG Niedersachsen. 637 LArchG Schleswig-Holstein und LArchG Mecklenburg-Vorpommern a. a. O.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
deren Schutzvorschriften" 638 unterfällt. Dabei können die besonderen Sperrfristen 3 0 6 3 9 , 5 0 6 4 0 , 6 0 6 4 1 und 8 0 6 4 2 Jahre betragen. Zusätzlich enthalten die Landesarchivgesetze in Bayern, Brandenburg, Sachsen und dem Saarland Bestimmungen, nach denen die Nutzung im Einzelfall zu versagen oder einzuschränken ist, wenn „Gründe des Geheimnisschutzes es erfordern" 643 , „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung verletzt würden" 6 4 4 , bzw. die Nutung versagt werden kann, „soweit es besonderen gesetzlichen Geheimhaltungsgründen unterliegt" 6 4 5 . In Bayern, Brandenburg und Sachsen sind demnach die Voraussetzungen für die generelle Sperrfrist qualifizierter, die Einzelfallversagung ist als weiter gefaßter Auffangtatbestand konzipiert. Demgegenüber überrascht § 11 Abs. 2 Satz 2 LArchG Saarland, demzufolge die 80-Jahres Frist sogar ausdrücklich „insbesondere bei Verschlußsachen" und bei untergesetzlichen „Geheimhaltungsvorschriften" greifen soll. Die Einzelfallversagung stellt hier die höhere Anforderung einer „besonderen gesetzlichen Geheimhaltungsvorschrift". Es fragt sich, ob die Bestimmung in der Praxis tatsächlich dazu führen soll, daß selbst nach Ablauf der 80-Jahres Sperrfrist die Benutzung weiter auf unbestimmte Zeit versagt werden kann. § 5 Abs. 5 S. 5 BArchG sieht vor, daß die allgemeine und besondere Sperrfrist für geheimhaltungsbedürftige Unterlagen i.S.v. § 2 Abs. 4 BArchG um bis zu 30 auf maximal 110 Jahre (!) verlängert werden kann. Die Landesarchivgesetze sehen in ihrer Mehrzahl mit Ausnahme von Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und SchleswigHolstein, ebenfalls die Möglichkeit der Sperrfristverlängerung bis zu einer Obergrenze von 2 0 6 4 6 bzw. 3 0 6 4 7 Jahren vor, wenn dies im öffentlichen 638
LArchG Saarland a.a.O. LArchG Brandenburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern a. a. O. 640 LArchG Niedersachsen a. a. O. 641 LArchGe in: Baden-Würtemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thüringen, jeweils a.a.O. Die Fristdauer von 60 Jahren der LArchGe ergab sich aus der Pauschalerwägung, daß eine Verdoppelung der bislang üblichen allgemeinen Sperrfrist wohl ausreichen werde, um etwaige besondere Geheimhaltungsbedürfnisse zu schützen; vgl. Buchmann, Der Archivar 43 (1990) Sp. 37 ff., 43. 642 BArchG; LArchGe in: Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt. 643 Art. 10 Abs. 2 Nr. 3 LArchG Bayern. 644 LArchGe in: Brandenburg § 11 Abs. 1 Nr. 3, Sachsen § 9 Abs. 2 Nr. 3. 639
645
§ 11 Abs. 7 Nr. 1 LArchG Saarland. LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 1; Brandenburg § 10 Abs. 11; Bremen § 7 Abs. 4 S. 3; Hamburg § 5 Abs. 3; Hessen § 15 Abs. 5; NordrheinWestfalen § 7 Abs. 4; Thüringen § 17 Abs. 7. 647 LArchGe in: Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 3 S. 3; Bayern Art. 10 Abs. 4 S. 3. 646
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Interesse 6 4 8 geboten ist. § 17 Abs. 7 L A r c h G Thüringen n i m m t die besondere Sperrfrist davon a u s 6 4 9 . I n den Ländern, deren Landesarchivgesetze keine Fristverlängerungsmöglichkeit vorsehen, greifen die besonderen Versagungs- und Einschränkungsmöglichkeiten als Ausgleichsvorschriften
im
Einzelfall 650. I n keiner amtlichen Begründung werden anschauliche, konkrete Beispiele für die pauschalen Geheimhaltungsvorschriften genannt, die über die i m B A r c h G aufgezählten Gesetze oder den H i n w e i s auf „Verschlußsachen" hinausgehen. Weitere Unterschiede bestehen hinsichtlich des Wortlauts der jeweils korrespondierenden Anbietungs- und Übergaberegelungen. A u c h soweit der unbestimmte Gesetzesbegriff der „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung" auch i n § 4 Abs. 2 Nr. 2 der Landespressegesetze verwandt wird, ist er ungeklärt und umstritten. I m Presserecht ist daher die Frage aufgeworfen worden, ob die Klassifizierung eines Vorganges als „ g e h e i m " nach einer internen Verschlußsachenanordnung den grundrechtl i c h fundierten Anspruch der Presse auf Auskunft v o n staatlichen Behörden überhaupt einschränken k a n n 6 5 1 . 648 § 5 Abs. 3 LArchG Hamburg: „aus Gründen des Gemeinwohls"; LArchG Rheinland-Pfalz a. a. O. „unter Anlegung strengster Maßstäbe." 649 § 7 Abs. 4 S. 3 LArchG Bremen stellt lediglich die allgemeine Sperrfrist unter die Verlängerungsmöglichkeit, da eine besondere Sperrfrist für geheimhaltungsbedürftiges Archivgut nicht besteht. 650 LArchGe in: Berlin § 8 Abs. 8;Niedersachsen § 5 Abs. 4; Sachsen § 9 Abs. 2; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 2. 651 Starck AfP 1978 S. 171, 177 m.w.N.; Löffler, Presserecht Rz 103. § 4 Abs. 2 Nr. 2 LPG (außer in Berlin und Hessen) verweist auf „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung", um den Informationsanspruch der Presse gegenüber den Behörden zu beschränken. Auch der presserechtliche Begriff der Geheimhaltungsvorschriften ist umstritten. Löffler zählt beispielhaft insbesondere strafrechtliche Vorschriften (§§ 93 ff., 203, 353 b und 353 c StGB) sowie „Angelegenheiten entsprechend § 17 der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT, Geheimschutzordnung, Anlage 3 zur GO-BT), das sind VS-Sachen, auf (Presserecht, Rz 98-104 zu § 4 LPG). Die Vorschrift der Landespressegesetze soll nach Löffler den „Einklang mit anderweitig geregelten Enthaltungspflichten" herstellen, nach dem Grundsatz „was anderweitig untersagt ist, kann presserechtlich nicht gefordert werden" (a.a.O. § 4 Rz 99). Dieser generalisierenden Formulierung läßt sich nur entnehmen, daß der presserechtliche Informationsanspruch Rechtsnormen gegenüber, die ausdrücklich Geheimhaltung anordnen, nachrangig ist, läßt jedoch keinen Aufschluß über die erforderliche Ranghöhe der Geheimhaltungsvorschrift und den Grad ihrer Bestimmtheit zu. Löffler äußert die widersprüchliche Meinung, Verschlußsachen (beispielsweise nach § 1 7 GO-BT i . V . m . der BT-Geheimschutzordnung) fielen unter den Vorbehalt, nicht jedoch die Vorschriften über die Dienstverschwiegenheit (Rz 103, 104). Groß vertritt die Ansicht, diese Bestimmungen fielen nicht unter § 4 Abs. 2 LPGe, sondern stünden der „Auskunftspflicht schlechthin entgegen" (Groß, Presserecht, S. 148 f.). Die ausdrückliche Geheimhaltungsanordnungen in Gesetzen seien immanente Schranken des Presseauskunftsanspruches.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Der wohl praktisch entscheidendste konzeptionelle Unterschied besteht hinsichtlich der Verkürzbarkeit der besonderen Sperrfrist; denn sie ist nach dem BArchG und dem LArchG Sachsen-Anhalt eine unverkürzbare, absolute Mindestfrist für alle Unterlagen, die „Rechtsvorschriften des Bundes (und des Landes) über Geheimhaltung unterliegen". Hinzu kommt, daß auch die Möglichkeiten der Archive zur Verlängerung der Sperrfristen stark voneinander abweichen. Diese Diskrepanzen sind nicht nur dem Benutzer schwer vermittelbar, sondern können zu einer schweren Behinderung historischer Forschung führen (z.B. wenn eine Untersuchung, die bundesweit geplant war, auf Unterlagen eines Bundeslandes beschränkt bleiben müßte), so daß Vereinheitlichung eine sowohl archivfachliche als auch gesetzgeberische Herausforderung ersten Ranges darstellt 652 . 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz von Archivgut
und Geheimhaltung
Mit dem Fristablauf müßte der Geheimhaltungsgrund ipso iure fortfallen, es sei denn die Frist wird verlängert. Im Gegensatz dazu steht die Versagung im Einzelfall, die auch in der Person des Nutzers, konkreten Nutzungszwecks, der beabsichtigten Veröffentlichungsart begründet sein kann. Fristverlängerung und Einzelfallversagung sind nicht austauschbar; ihr Verhältnis ist allerdings nach den ArchGen unklar. Ist öffentliches Schriftgut einmal archiviert und damit grundsätzlich zur künftigen Benutzung gewidmet, so folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, daß die besondere Sperrfrist dem Grundsatz nach nur soweit gelten kann, wie der jeweilige Geheimhaltungsgrund es i m Einzelfall erfordert. Denn die Teile des Archivguts, auf die sich der Geheimhaltungsgrund nicht bezieht, müssen zugänglich bleiben 6 5 3 . In den Fällen, in denen wegen unvertretbaren Verwaltungsaufwandes oder wegen Sinnentleerung bzw. Zerstörung des Archivguts eine solche Trennung nicht möglich ist, bedeutet die Bildung einer solchen „gemischten" Archivguteinheit eine Pauschalierung, die zweck- und verhältnismäßig sein muß. Das Schutzinteresse des geheimhaltungsbedürftigen Teils darf daher nicht außer Verhältnis zur Sperrung des Rests stehen, andernfalls ist die gesamte Archivguteinheit zur Benutzung freizugeben. Neben den nicht im einzelnen geregelten Auflagen und sonstigen Nebenbestimmungen ist die Fristverlängerung nur eine ultima ratio, wenn selbst 652
Lenz, Erfahrungen mit dem BArchG, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 56. Amtliche Begründung zu § 3 Abs. 3 S. 4 LArchG Rheinland-Pfalz LT-Drs. 11/2802 S. 16: „Es ist stets zu prüfen, wie weit der jeweilige Hinderungsgrund im Einzelfall reicht." 653
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6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
die gesetzlichen Sperrfristen ausnahmsweise nicht genügen sollten und Nutzungsbeschränkungen zur Wahrung eventuell schützensweiter Belange Dritter und öffentlicher Geheimhaltungsinteressen nicht geeignet sind und wegen der zu erwartenden Anzahl von Nutzungsanträgen eine Entlastung der Archivverwaltung geboten ist. Der Anwendungsbereich ist also eingegrenzt. Im Grunde ist ein Regelungsbedürfnis neben den Einzelfallversagungsgründen nicht erkennbar. Sinnvoller wäre eine Rechtsverordnungsermächtigung, die die oberste Archivbehörde zur - begründeten - Nutzungsversagung für eine bestimmte Gruppe von Archivgut auch nach Ablauf der jeweiligen Sperrfristen ermächtigt, wenn dies ausnahmsweise erforderlich und verhältnismäßig sein sollte. 3. Erschließung geheimhaltungsbedürftigen
Archivguts
Die besonderen Sperrfristen gelten nach ihrem Wortlaut nur für die Benutzung, nicht für Maßnahmen der Erschließung. In der „Explorationsphase" ergibt sich das Problem, daß die Findmittel zur Erschließung geheimhaltungsbedürftiger (auch personenbezogener) Aktenbestände ebenfalls den entsprechenden Sperrfristen unterliegen können, weil auch sie geheimhaltungsbedürftige Daten enthalten. In seinem Erfahrungsbericht forderte der Historiker Michael Ruck daher eine „generelle Lösung", die Rechtssicherheit gewährleisten müsse. Die Benutzungssperre dürfe keine Erschließungsperre sein 6 5 4 . In Art. 10 Abs. 3 S. 6 LArchG Bayern wird dies ausdrücklich festgestellt 6 5 5 , gilt aber auch für die übrigen Archivgesetze: denn wenn die Sperrfristen für die Benutzung des Archivguts selbst auch auf die entsprechenden Findmittel angewendet würden, hätte dies zur Folge, daß die Planung von künftigen Forschungsvorhaben gegebenenfalls stark und unkontrollierbar eingeschränkt werden könnte. Zwar scheidet, anders als bei der Nutzungsversagung, eine gerichtliche Kontrolle der Erschließung aus, da kein unmittelbarer Anspruch auf Erschließung besteht. Andererseits handelt es sich bei der Erschließung um einen besonders sensiblen Bereich, da sie unverzichtbare Grundrechtsausübungsvoraussetzung der Forschungsfreiheit in Archiven ist. Rechnet man die Arbeit mit Findmitteln in der „Explorationsphase" zum Schutzbereich der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, ergibt sich entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für den Zeitpunkt und die Detailliertheit der Erschließung von schützenswerten VS-Unterla654
Ruck, Erfahrungen mit der Nutzung von Archivgut, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 103 (105). 655 Art. 10 Abs. 3 S. 6 LArchG Bayern Die Schutzfristen gelten nicht für Maßnahmen nach Art. 9 Abs. 1 Sätze 2 und 4, nämlich die Ordnung und Erschließung nach archivwissenschaftlichen Gesichtspunkten.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
gen und anderen geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen, daß von einem Verzeichnis und der Nennung solcher Unterlagen grundsätzlich nur soweit und solange abgesehen werden kann, als es das im Einzelfall zu schützende öffentliche Geheimhaltungsinteresse zwingend erfordert. I I . Unverkürzbare 80-Jahres Sperrfristen des BArchG und des LArchG Sachsen-Anhalt § 5 Abs. 3 BArchG statuiert eine 80jährige Sperrfrist, für Archivgut nach § 2 Abs. 4 BArchG. Diese Sperrfrist ist nicht gemäß § 5 Abs. 5 verkürzbar, sondern ist als zwingende gesetzliche Mindestfrist für alle Unterlagen, die „Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung unterliegen" ausgestalt e t 6 5 6 . Aus der Verweisungsregel des § 10 Abs. 3 S. 3 des LArchG Sachsen-Anhalt, der dem BArchG regelungstechnisch vergleichbar auf die Anbletungspflicht des § 9 Abs. 2 Nr. 1 a) und b) LArchG Sachsen-Anhalt verweist, folgt, daß auch in Sachsen-Anhalt nicht nur das Archivgut i.S.d. § 2 Abs. 4 BArchG, das Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung unterfällt, sondern zusätzlich auch dasjenige, das „Rechtsvorschriften des Landes über Geheimhaltung" unterliegt erst frühestens nach 80 Jahren seit Entstehen genützt werden darf, ohne daß das LArchG bezüglich der Landesvorschriften eine Verkürzung vorsieht. Die Sperrfrist des § 10 Abs. 3 S. 3 ist nicht gemäß § 10 Abs. 4 verkürzbar 657 , sondern ebenfalls analog der Bundesregelung bis zu 30 Jahren verlängerbar. Aus der Verweisung auf § 9 Abs. 2 Nr. 1 b) LArchG Sachsen-Anhalt folgt weiter, daß sogar Daten, die nur „gelöscht werden ... könnten" unter die Sperrfrist fallen. Das erscheint bereits auf den ersten Blick unverhältnismäßig. 1. Entstehungsgeschichte des § 5 Abs. 3 BArchG Der erste Entwurf der Bundesregierung ging für Unterlagen, die den Geheimhaltungsvorschriften der Abgabenordnung, des Sozialgesetzbuches, des Bundesbankgesetzes und Kreditwesengesetzes unterliegen, von einer 60-Jahresfrist aus, die auf die genannten Vorschriften beschränkt w a r 6 5 8 . Die Verlängerung der Fristdauer auf 80 Jahre und die Ausweitung auf andere Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung ist auf eine Beschlußempfehlung des Innenausschusses vom 9.11.1987 zurückzuführen. Zu 656 § 2 Abs. 4 Nr. 1, 2 BArchG: insbesondere § 30 AO, § 35 SGB I, § 32 BundesbankG, § 9 KWG. 657 Die Schutzfrist soll nach der amtlichen Begründung absolut gelten und insbesondere ohne Einwilligung der Betroffenen nicht verkürzt werden können; SachsenAnhalt LT-Drs. 2/383 S. 27. 658 BT-Drs. 371/84, BT-Dokumentation S. 12 ff.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
331
den fraglichen Punkten enthält der Bericht der Abgeordneten Hämmerle, Hirsch, Neumann und Schmidt-Bott keine Gründe. Die Verlängerung scheint ein Entgegenkommen auf Forderungen des Bundesdatenschutzbeauftragten zu § 2 Abs. 4 Nr. 2 BArchG zu sein. Der Datenschutzbeauftragte hatte mit Schreiben vom 29.10.1987 den Ausschußvorsitzenden aufgefordert, ausdrücklich im Gesetz durch Auflistung klarzustellen, welche Geheimhaltungsvorschriften umfaßt seien. Der Ausschuß folgte jedoch der Auffassung der Bundesregierung, wonach dieses wegen der großen Zahl und häufigen Gesetzesänderungen in diesem Bereich als gesetzestechnisch inopportun angesehen wurde; als „Ausgleich" sollte dann offenbar die 80-Jahresfrist wirken 6 5 9 . Da § 30 AO und § 35 SGB I in erster Linie dem Individualschutz Betroffener dienen, muß an sich eine vorzeitige Nutzung jedenfalls dann zulässig sein, wenn die Einwilligung der Betroffenen - des ursprünglichen Adressaten und eventueller Angehöriger vorliegt. Bereits diese einfache Überlegung zeigt, daß die Gesetzesbegründung in sich unschlüssig ist. Trotz der weitreichenden, forschungsverhindernden Folgen der 80 Jahres Sperrfrist liegt ihr offenbar keine klare oder auch nur dogmatische Konzeption des Gesetzgebers zugrunde. Oldenhage weist angesichts der nachdrücklichen Kritik, die bereits die allgemeine 30-Jahresfrist in der dritten Lesung erfahren hat, und der daraufhin erfolgten Ablehnung des gesamten Entwurfs durch die Länder Baden-Württemberg und Niedersachsen im Innenausschuß, darauf hin, daß der Rigorismus der nicht verkürzbaren 80-Jahresfrist zur Disposition zu stellen sei 6 6 0 . Demgegenüber unterstreicht Buchmann in seinem Erfahrungsbericht auf dem Archivtag 1990 den Sicherungsaspekt der Norm, durch die das Bundesarchiv erstmals in den Besitz solcher Unterlagen gelange, die „sonst nicht archiviert werden könnten" 6 6 1 . Dem liegt allerdings eine unzutreffende Ansicht zu Reichweite und Rechtsnatur der archivgesetzlichen Anbletungspflicht zugrunde. Die Anwendbarkeit ist von vornherein auf Archivunterlagen beschränkt, die unter spezifischem Bundesgesetzesrecht entstanden sind. Nur bei diesen greift der Gesichtspunkt des besonders schutzwürdigen Vertrauens in bestimmte Geheimhaltungstatbestände. In den übrigen Fällen ist die Anwendung der 80-Jahresfrist durch teleologische Reduktion auszuschließen. Demnach können „geheime" Unterlagen auch aus einer Zeit direkt vor der Gründung der Bundesrepublik oder vergleichbare Unterlagen aus der ehemaligen DDR grundsätzlich im Rahmen der allgemeinen Vorschriften be659 660 661
BT-Drs. 11/1215, BT-Dokumentation S. 82. Oldenhage, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477, 490. Buchmann, Der Archivar 43 (1990) Sp. 37, 43.
332
3. Teil: Archivverwaltungsrecht
nutzt werden, da sie nicht bundesrechtlichen Geheimhaltungsnormen unterfallen 6 6 2 . 2. Verhältnis
zu Landesrecht
Die unverkürzbare 80-Jahresfrist ist um so bedeutsamer, als die Masse des unter diese Vorschrift fallenden Archivguts in die archivische Zuständigkeit der Länder fällt, die sie gemäß §§ 8, 10, 11 BArchG zu beachten haben. Die meisten Landesarchivgesetze ordnen die Geltung der Standards der §§ 2 und 5 BArchG ausdrücklich a n 6 6 3 . Keine entsprechende Bestimmung findet sich im Landesarchivgesetz Berlin, in Brandenburg und Niedersachsen nur bezüglich des Sozialgeheimnisses 664 . Weitere Probleme ergeben sich in Niedersachsen aus § 5 Abs. 3 S. 2 LArchG und im Saarland aus § 1 1 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 LArchG. Die Norm bestimmt, daß für die Nutzung von Archivgut, das nach Rechtsvorschriften des Bundes der Geheimhaltung unterliegt, die landesgesetzlichen Fristen, also die 50-Jahresfrist gelten sollen; die saarländische Fristverkürzungsermächtigung bezieht sich nach ihrem Wortlaut auch auf die bundesgesetzlichen besonderen Geheimhaltungsfristen. Aus dem Wortlaut des § 10 Nr. 1 BArchG bzw. § 71 Abs. 1 S. 2 SGB X („... oder entsprechenden gesetzlichen Vorschriften der Länder, die die Schutzfristen dieses Gesetzes nicht unterschreiten ...") folgt an sich, daß anders als im Fall von §§ 8 und 11 BArchG, eine entsprechende Klausel im Landesgesetz enthalten sein sollte. Nadler folgert daraus, daß bereits die Übernahme aller nach Bundesgesetzen geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen durch das Landesarchiv in diesen Fällen unzulässig sei 6 6 5 . Das kann jedenfalls nicht hinsichtlich der §§ 8 und 11 BArchG gelten, die die Stellen der Länder und Kommunen nur unter der Bedingung zur Übernahme ermächtigen, daß die Standards „entsprechend" der §§ 2, 5 BArchG tatsächlich eingehalten werden. Die zitierten Landesgesetze haben daher insoweit nur deklaratorischen Charakter; das Bundesrecht gilt unmittelbar 6 6 6 . Erst wenn ein Landesarchiv anläßlich einer konkreten Nutzungs662
Lenz, Erfahrungen mit dem BArchG, in Bannasch, Zeitgeschichte, S. 55. LArchGe in: Baden-Württemberg § 6a; Bayern Art. 10 Abs. 3 S. 5; Bremen § 11 Abs. 2; Hamburg § 5 Abs. 2 Nr. 4; Hessen § 16 Abs. 2; Nordrhein-Westfalen § 12 Abs. 2; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 3 S. 4 i.V.m. Abs. 4 S. 3; Sachsen § 10 Abs. 5; Schleswig-Holstein § 12 Abs. 2; Thüringen § 18 Abs. 2. 664 § 10 Abs. 4 LArchG Brandenburg und § 5 Abs. 3 S. 1 LArchG Niedersachsen in Bezug auf § 71 Abs. 1 S. 2 SGB X und § 10 Nr. 1 BArchG. 665 Nadler S. 129. 666 s.o. Kap. 4. A IL; 5. Kap. B. II. 1. 663
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
333
genehmigung den Standard der unverkürzbaren Sperrfrist des § 5 Abs. 3 BArchG unterschreitet, liegt eine gegen vorrangiges Bundesgesetz verstoßende, unwirksame Einzelfallregelung vor. Die Landesregierung in Niedersachsen hat aus der Formulierung „entsprechend" in § 11 BArchG ausweislich ihrer Begründung zu § 5 Abs. 3 S. 2 LArchG einen „Freiraum" entnommen, den die §§ 8 und 11 BArchG dem Land einräumten, um eine einheitliche Nutzung des Landesarchivguts zu ermöglichen 667 . Das widerspricht an sich dem Wortlaut und der Begründung des Bundesrates zu § 11 BArchG, der eine „Gleichbehandlung" in Bund und Ländern sicherstellen sollte 6 6 8 .
I I I . Verkürzbare besondere Sperrfristen in den Ländern 7. Verkürzung,
soweit Rechtsvorschriften
nicht entgegenstehen
Die 30-, 50-, 60- und 80-Jahres Fristen der Landesarchivgesetze sind demgegenüber grundsätzlich verkürzbar, soweit Rechtsvorschriften, besondere Einzelfallversagungsgründe, die besondere Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut bzw. das öffentliche Interesse 669 nicht entgegenstehen 670 . Die wissenschaftsprivilegierende Forschungs-Abwägungsklausel bezieht sich nur nach den Landesarchivgesetzen von Niedersachsen, RheinlandPfalz und des Saarlandes ausdrücklich auf alle Sperrfristen. In den Fällen, in denen die Verkürzbarkeit für die besonderen Sperrfrist für sonstiges geheimhaltungsbedürftiges Archivgut nicht besteht, folgt nach der hier vertretenen Auffassung zum grundrechtlich indizierten Archivzugangsrecht ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Geheimhaltung im Einzelfall direkt aus Art. 5 Abs. 3 GG. Denn eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung zur Sperrfristverkürzung ist außerhalb des datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht erforderlich. Der wissenschaftliche Archivbenutzer hat demnach stets einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Verkürzung der jeweiligen Sperrfrist. 667
Amtliche Begründung der niedersächsischen Landesregierung in LT-Drs. 12/ 4271 S. 17. 668 Begründung des Bundesrates zum Änderungsvorschlag zu § 10 a Entwurfs der Bundesregierung, § 11 in BT-Drs. 11/1215 S. 14; Dokumentation S. 84. 669 § 10 Abs. 5 S. 1 LArchG Brandenburg. 670 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 2; Bayern Art. 10 Abs. 4 S. 1; Brandenburg § 10 Abs. 9; Hamburg § 5 Abs. 4 S. 1; Mecklenburg-Vorpommern § 10 Abs. 4 S. 1; Niedersachsen § 5 Abs. 5 S. 1; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4 S. 1; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4; Saarland § 11 Abs. 5 S. 1; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 5.
334
3. Teil: Archivverwaltungsrecht
2. Verkürzung nur im überwiegenden öffentlichen Interesse ? Nach dem Wortlaut der Landesarchivgesetze in Hessen, Sachsen und Thüringen soll umgekehrt die Verkürzung der besonderen GeheimhaltungsSperrfristen nur zulässig sein, „wenn es im öffentlichen Interesse liegt", in Berlin sogar nur „wenn und soweit dies im überwiegenden öffentlichen Interesse l i e g t " 6 7 1 . Dieses Erfordernis ist, soweit es nicht um die Funktion der gesetzlichen Eingriffsermächtigung in schutzwürdige Belange Betroffener im Falle der jeweils auch umfaßten personenbezogenen Sperrfrist geht, mit Art. 5 Abs. 3 GG unvereinbar. Es widerspricht insoweit auch der Gesetzessystematik der genannten Landesarchivgesetze, die ein subjektiv-öffentliches Recht auf Archivbenutzung statuieren. Die Ermessensentscheidung über die Fristverkürzung ist bereits aus diesem Grund, ohne daß es auf den oben geschilderten unmittelbaren Archivzugangsanspruchs aus Art. 5 Abs. 3 GG ankommt, dem subjektiven Interesse des Nutzers zu dienen bestimmt. Insofern scheinen Redaktionsversehen vorzuliegen. Die genannten Landesarchivgesetze sind verfassungskonform dahin auszulegen, daß für einen Anspruch auf Verkürzung der besonderen Geheimhaltungs-Sperrfrist kein öffentliches Interesse gerade an der Fristverkürzung bestehen muß, sondern nur nicht entgegenstehen darf.
3. Verlängerung der allgemeinen Sperrfrist nach § 7 Abs. 4 LArchG Bremen Das LArchG Bremen sieht von der Statuierung einer besonderen Sperrfrist und der Bildung einer entsprechenden Archivgutnutzungskategorie für „geheimhaltungsbedürftige" Unterlagen ab. Stattdessen gelten die allgemeine Sperrfrist von 30 Jahren sowie die besondere für personenbezogenes Archivgut. § 7 Abs. 4 S. 3 LArchG Bremen bestimmt, daß die allgemeine Schutzfrist „für bestimmtes Archivgut" um höchstens 20 Jahre verlängert werden „kann, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten ist", was nach der amtlichen Begründung der Sicherung öffentlicher Geheimhaltungsinteressen insbesondere in Gestalt von Verschlußsachen dient 6 7 2 . Somit wird der ungeklärte Gesetzesbegriff der „Geheimhaltungsvorschrift" oder der „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung" überhaupt ver671 LArchGe in: Berlin § 8 Abs. 4 S. 1; Hessen § 15 Abs. 4 S. 1; Sachsen § 10 Abs. 4 S. 1; Thüringen § 17 Abs. 5 S. 1. 672 Bremische Bürgerschaft Drs. 12/1193 S. 20.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
335
mieden 6 7 3 . Eine archivgesetzliche Überleitung verwaltungsinterner, nicht gesetzesgeleiteter und nicht inhaltlich überprüfbarer VS-Einstufung durch eine Blankettnorm scheidet aus. Das Regel-Ausnahme Verhältnis von Sperrung und Zugänglichkeit wird umgekehrt: aus der Gesetzesfassung ergibt sich, daß sowohl die ablehnende Entscheidung über einen Antrag auf Fristverkürzung als auch die Einzelfallentscheidung nach Satz 3 über eine Fristverlängerung begründet werden muß. Sofern erhebliche öffentliche Sicherheitsinteressen und das abstrakte Vertrauen auf diese betroffen ist, gilt der Versagungsgrund des § 7 Abs. 5 Nr. 1 LArchG Bremen „wesentliche Nachteile für das Wohl der Bundesrepublik Deutschland". Ein öffentliches oder privates Vertrauen auf Geheimhaltung, das nur durch eine besondere Sperrfrist geschützt werden könnte, erkennt das LArchG Bremen nicht an. Daraus folgt weiter, daß das Landesarchiv grundsätzlich selbst in eigener Kompetenz, ggfs. in Abstimmung mit den abgebenden Stellen über das Vorliegen besonderer Geheimhaltungsbedürftigkeit und angemessene Schutzmaßnahmen entscheidet, anders als bei der Subsumtion unter die besonderen Sperrfristen. I V . Tatbestandsvoraussetzungen der besonderen Sperrfristen für geheimhaltungsbedürftiges Archivgut 7. Erste Gruppe: Rechtsnormerfordernis Das BArchG und die Landesarchivgesetze in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt knüpfen an den Begriff der „Rechtsvorschriften über Geheimhaltungdie Landesarchivgesetze in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und SchleswigHolstein hingegen an den Begriff der „besonderen Rechtsvorschriften über Geheimhaltung" an, der in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein allerdings um den Begriff des „besonderen Amtsgeheimnisses", also die VS-Einstufung ergänzt wird. Der Begriff der Rechtsvorschriften über Geheimhaltung erfordert ein materielles Gesetz, eine Rechtsnorm über Geheimhaltung mit Außenwirkung. Die Geheimhaltung muß also mindestens durch eine Satzung oder Rechtsverordnung angeordnet werden. Das LArchG Niedersachsen geht darüber hinaus und nennt den qualifizierten Begriff der „besonderen gesetzlichen Geheimhaltungsvorschriftenwofür nach herkömmlichem Verständnis ein förmliches Parlamentsgesetz erforderlich ist. Die Qualifikation der „beson673
Auch die Übernahmevorschrift des § 5 Abs. 5 des LArchG Bremen nennt den „Geheimnisschutz" oder „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung" nicht gesondert. Für eine derartige ausfüllungsbedürftige Blankettvorschrift hat der Landesgesetzgeber in Bremen insgesamt kein Bedürfnis gesehen.
336
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
deren" Geheimhaltung soll offenbar bedeuten, daß das Gesetz spezifische Geheimhaltungsanordnungen selbst treffen muß, und daß ausfüllungsbedürftige Blankettnormen ausgeschlossen sein sollen. Der Schutzzweck der besonderen Sperrfrist zur Geheimhaltung soll nach den amtlichen Begründungen das „besondere Vertrauen der Öffentlichkeit in die Aufrechterhaltung bestimmter Geheimnisse" oder das „allgemeine Vertrauen in die Wirksamkeit der Geheimhaltung des Geheimnisses bzw. der Geheimhaltungsvorschrift" und eventueller „besonderer Vereinbarungen mit abliefernden Stellen" sein. Dies erfordere den Schutz durch eine generelle Sperrfrist - und nicht nur durch die Möglichkeit einer Einzelfallversagung 6 7 4 . Ein solcher abstrakt-genereller Schutz eines Geheimnisses aufgrund eines angeblichen, allgemeinen Vertrauens in die Wirksamkeit des Geheimnisschutzes kann nur bei einer Geheimnisanordnung durch eine Norm mit Außenwirkung bestehen. Aus einem systematischen Vergleich der Sperrfristanordnungen mit den jeweiligen korrespondierenden Archivierungsermächtigungen für geheimhaltungbedürftiges Archivgut lassen sich keine verbindlichen Aussagen für die Sperrfristanwendung gewinnen. Bei der Auslegung der Begriffe ist die entgegengesetzte Funktion der Übergabe- und Nutzungsbestimmungen zu beachten. Die systematische Gesetzesauslegung offenbart insofern wiederum nur die geradezu willkürlich erscheinenden, unterschiedlichen Konzeptionen der Archivgesetze 675 . 674 Amtliche Begründungen: Baden-Württemberg LT-Drs. 9/3345 S. 8, 9 zu § 6 Abs. 2 S. 2; abgedruckt bei Bannasch/Maisch, Archivrecht in Baden-Württemberg, S. 111; Nordrhein-Westfalen, in: Hockenbrink, Archivgesetz Nordrhein-Westfalen, S. 52; Bundesregierung zu § 5 Abs. 1 erster Entwurf Drs. 371/84 BT-Dokumentation S. 18. 675 s.o. 5. Kap. B. II. Ob und inwieweit die Übergaberegelungen außerhalb des datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts überhaupt konstitutive Öffnungswirkung haben sollten, war unklar (vgl. § 3 Abs. 1 LArchG Niedersachsen, § 4 Abs. 1 LArchG Berlin). Verweis der Sperrfrist- auf die Anbietungsregelung (Verweisungstechnik) in §§ 2 Abs. 4, 5 Abs. 3 BArchG und §§ 9 Abs. 2 Nr. 1, 10 Abs. 3 S. 3 LArchG SachsenAnhalt. Identischer Wortlaut von Anbietungs- und Sperrfristregelung in: BadenWürttemberg § § 3 Abs. 1 S. 2; 6 Abs. 2 S. 2 „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung"; Nordrhein-Westfalen § § 3 Abs. 2 Nr. 2, 7 Abs. 2 S. 2 „besondere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung". Uneinheitlich in den übrigen LArchGen: Die jeweils zuerst zitierte Vorschrift ist die Anbietungs- bzw. Übergaberegelung, die zweite die Fristanordnung: Brandenburg § 4 Abs. 2 Nr. 3 (Anbietung) „Berufs- oder Amtsgeheimnis oder sonstige Rechtsvorschriften über Geheimhaltung", § 10 Abs. 2 (Nutzung) „besondere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung"; Mecklenburg-Vorpommern § 6 Abs. 2 ebenso; Rheinland-Pfalz § 7 Abs. 2 Nr. 2 (Anbietung) „nach gesetzlichen oder sonstigen Vorschriften geheimzuhalten sind", § 3 Abs. 3 S. 2 (Nutzung) „aufgrund von Rechtsvorschriften geheimzuhalten"; Schleswig-Holstein
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
337
Gemeinsam ist den o. g. Archivgesetzen der ersten Gruppe, daß ohne ein materielles Gesetz, das die Geheimhaltung selbst anordnet, die besonderen Sperrfristen nicht greifen. Verschlußsachen, die k e i n spezielles, gesetzliches Geheimhaltungsgebot konkretisieren, sollen - auch ohne förmliche Herabstufung - angeboten und übergeben werden, unterfallen aber m i t Ausnahme von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern als solche nicht der besonderen Sperrfrist. B e i V S ist eventuell ein besonderer Einzelversagungsgrund, beispielsweise einer der § 9 Abs. 2 L A r c h G Schleswig-Holstein genannten Versagungsgründe einschlägig. D i e Gesetze dieser ersten Gruppe stimmen allerdings i n den Versagungsgründen nicht überein; insbesondere nicht i n der Nennung eines Blankettversagungsgrundes für Geheimhaltung, auf den die Landesarchivgesetze dieser Gruppe verzichten (vgl. Sonderregelung i m LArchG Bremen)676.
2. Zweite
Gruppe: untergesetzliche über Geheimhaltung
Vorschriften
D i e Gesetzesfassungen i n Bayern, Hamburg, Hessen, Saarland, Sachsen, Thüringen wählen den weiteren B e g r i f f der „besonderen Geheimhaltungsvorschriften" als A n k n ü p f u n g für die besondere S p e r r f r i s t 6 7 7 . Der B e g r i f f § 6 Abs. 2 S. 1 (Anbietung) „besonderen Geheimhaltungsvorschriften unterliegen", § 9 Abs. 3 S. 2 (Nutzung) „besondere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung". 676 Amtliche Begründung zu § 9 Abs. 2 LArchG Schleswig-Holstein, LT-Drs. 12/1615 S. 27, „Belange des Gemeinwohls z.B. VS-Sachen"; vgl. Einzelfallversagungsgründe in § 5 Abs. 6 (Nr. 5 andere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung) BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 6; Berlin § 8 Abs. 8 (Nr. 5 andere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung); Brandenburg § 11 (Abs. 1 Nr. 3 Rechtsvorschriften über Geheimhaltung); Niedersachsen § 5 Abs. 4 (nur Gefahr für das Wohl des Bundes oder eines Landes und für den Erhaltungszustand des Archivguts); Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 5 (Nr. 5 andere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung); Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 2 (Nr. 4 andere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung); Schleswig-Holstein § 9 Abs. 2 (Nr. 1 andere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung). 677 Bei den Anbletungspflichten werden umgekehrt gesetzliche Geheimhaltungsbestimmungen aufgehoben. Daraus folgt, daß die Anbletungspflicht, die nur gesetzliche Geheimhaltungsvorschriften ausdrücklich „lockert" und sonstige untergesetztliche VS nicht nennt, diese als nachrangige Regelungen umfaßt: Bayern Art. 6 Abs. 1 Nr. 2 (Anbietung) „besonderer gesetzlicher Geheimhaltungsschutz"; Art. 10 Abs. 3 S. 4 (Nutzung) „besonderer Geheimhaltungs Vorschriften"; Hamburg § 3 Abs. 2 Nr. 2 (Anbietung) „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung", § 5 Abs. 2 Nr. 3 (Nutzung) „besondere Geheimhaltungs Vorschriften"; Hessen § 10 Abs. 1 S. 3 (Anbietung) „besondere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung", § 15 Abs. 1 S. 2 (Nutzung) „besondere Geheimhaltungs Vorschriften"; Saarland: § 8 Abs. 2 Nr. 2 (Anbietung) „Rechtsvorschriften über die Geheimhaltung", § 11 Abs. 2 (Nutzung) „besonderen 2
Manegold
338
3. Teil: Archivverwaltungsrecht
der Geheimhaltungs Vorschrift erfordert kein materielles, dem Veröffentlichungsgebot unterliegendes Gesetz. Bestätigt wird dies durch die ausdrückliche Regelung in § 11 Abs. 2 S. 2 des LArchG Saarland, derzufolge dazu „insbesondere Verschlußsachen" gehören. Hier sollte offenbar auch Schriftgut, das nicht aufgrund gesetzlicher Regelungen, sondern möglicherweise nur aufgrund interner Einzelfallanweisung geheimgehalten werden soll, der besonderen Sperrfrist unterfallen. Verschlußsachen sollen danach unabhängig von der Aufhebung der VS-Einstufung durch die abgebende Stelle abzugeben und dann durch die besondere Sperrfrist gegen unbefugte Nutzung geschützt sein 6 7 8 . Wird die ggfls. noch erforderliche Vertraulichkeit von archivierten Verschlußsachen durch die besondere Sperrfrist geschützt, erscheint es als logische Folge der spezialgesetzlichen Regelung, daß die VS-Einstufung ipso iure durch Ablauf der Sperrfrist entfällt 6 7 9 .
V. Nutzung von Verschlußsachen (VS) Aus der Sicht des Bundesarchivs werden VS-Unterlagen des Bundes viel zu spät und zu zögerlich herabgestuft, so daß sich eine immer „größere Schere" zu den benutzbaren Sachakten ergibt 6 8 0 . Der Ausschließungsgrund der „Gefährdung des Wohls der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder" diene, obgleich er in der Benutzungspraxis eine geringe Rolle spielt 6 8 1 , vielmehr den abgebenden Stellen regelmäßig als Argument, einer Herabstufung von VS-Sachen zu widersprechen. Die bislang weder koordiGeheimhaltungs und Schutzvorschriften"; Sachsen: § 5 Abs. 1 S. 3 (Anbietung) „Datenschutz oder Geheimschutz unterliegen, soweit Rechtsvorschriften nicht anderes bestimmen", § 10 Abs. 1 S. 2 (Nutung) „besonderen Geheimhaltungs Vorschriften unterliegen"; Thüringen: § 11 Abs. 2 S. 1 (Anbietung) „besondere Rechtsvorschriften über Geheimhaltung", § 17 Abs. 3 S. 1 (Nutzung) „besonderen Geheimhaltungsvorschriften unterliegt". 678 Eine Blankettbestimmung für Geheimnisschutz zählt bei der Mehrzahl der zuletzt genannten LArchGe außer in Hessen und Thüringen zu den Einzelversagungsgründen: Bayern Art. 10 Abs. 2 (Nr. 3 Gründe des Geheimnisschutzes); Hamburg § 5 Abs. 5 (Nr. 5 Rechtsvorschriften über Geheimhaltung verletzt würden); Hessen § 16 Abs. 1; Saarland § 11 Abs. 7 (Nr. 1 besondere gesetzliche Geheimhaltungsvorschriften); Sachsen § 9 Abs. 2 (Nr. 3 Rechtsvorschriften über Geheimhaltung); Thüringen § 18 Abs. 1. 679 Polley in: Archivgesetzgebung, S. 39 f. Nach der Hamburger Begründung zu § 3 Abs. 2 LArchG Hamburg scheinen auch gerade VS-Sachen unter den Begriff des „besonderen gesetzlichen oder sonstigen Geheimnisschutzes" zu fallen. 680 Lenz, Erfahrungen mit dem BArchG, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 53: etwa erst im Jahre 1995 die Kabinettsprotokolle von 1954. Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, hrsg. vom Bundesarchiv, Bd. 1. 681 Lenz S. 52.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
339
nierte noch kontrollierte Praxis der Bundesministerialbehörden, das „Etikett »geheim4, »streng geheim4 oder »Verschlußsache4 zu vergeben", wird daher entschieden kritisiert 6 8 2 . Im Extremfall können einfache VS-„Nur-für-denDienstgebrauch" einer 60-Jahres-Sperrfrist unterfallen. Sollte irrtümlicherweise auch eine VS-Einstufung aufgrund Verschlußsachenanweisung (VSA) unter den Begriff der Rechtsvorschrift über Geheimhaltung nach dem BArchG subsumiert werden, würde dies im Ergebnis auf eine unverkürzbare besondere Schutzfrist von 80 Jahren hinauslaufen. Mit der Einrichtung eines geheimen Zwischenarchivs für noch nicht herabgestufte VS-Unterlagen, für die die abgebende Stelle die volle Verfügungsgewalt behält, erwartete man bislang, diese zu einer frühzeitigen Abgabe zu motivieren. Sollte die VS-Einstufung bereits durch die abgebende Stelle etwa anläßlich der Archivierung ausdrücklich - oder, soweit das nach der jeweiligen VSA rechtlich möglich ist, konkludent - aufgehoben worden sein, handelt es sich um Archivgut, das den allgemeinen Nutzungsbestimmungen unterfällt. Handelt es sich um Archivgut, bei dem die VS-Einstufung noch besteht, sind Gesetzeswortlaut und amtliche Begründungen terminologisch widersprüchlich und geben keinen endgültigen Aufschluß 683 . 7. Erste Gruppe: Einzelfallversagung wegen Gefährdung des Wohls der Bundesrepublik oder eines der Länder a) Prinzipieller Vorrang der nicht aufgehobenen VS-Einstufung vor der Archivierung Nach den Archivgesetzen der o.g. ersten Gruppe (Bund, Baden-Württemberg, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt) mit Ausnahme der LArchGe Mecklenburg-Vorpommern und SchleswigHolstein, wo die VS als „besondere Amtsgeheimnisse" unter die besondere Sperrfrist fallen, wird die ggfs. noch erforderliche Vertraulichkeit von archivierten Verschlußsachen (VS) nach dem Gesetzeswortlaut nicht durch die besondere Sperrfrist geschützt. Dies ist nach dem Gesetzeswortlaut auch in Niedersachsen und Bremen der F a l l 6 8 4 , entgegen dem Gesetzeswortlaut des 682 Stolleis, Juristische Zeitgeschichte, Ein neues Fach? Einleitung S. 8 Fn 4. Dabei ist beispielsweise ein Teil der wichtigen außenpolitischen Dokumente der 50er Jahre, die im Geheimarchiv des Bundes liegen, über ausländische Publikationen greifbar oder kann in englischen, französischen oder amerikanischen Archiven eingesehen werden. 683 Polley S. 40. 684 Auch die amtliche Begründung zu § 7 LArchG Bremen, das keine besondere Sperrfrist für geheimhaltungsbedürftiges Archivgut kennt, geht von einer Archivierung von VS und Anwendung der Einzelfallversagungsgründe aus (Bremische Bürgerschaft Drs. 12/1193 S. 20.; s.o. 5. Kap. B. II. 3., III. 2.). 2*
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
340 LArchG
Bayern
nach
der
amtlichen
Begründung
allerdings
auch
in
Bayern 6* 5. Das niedersächsische und nordrhein-westfälische L A r c h G sprechen das Verhältnis der archivgesetzlichen Benutzungsregeln für VS-Sachen u n d die Herabstufung bzw. Aufhebung des VS-Grades ausdrücklich an: § 5 Abs. 2 S. 3 L A r c h G Niedersachsen bestimmt, daß Verschlußsachen erst genutzt werden dürfen, wenn die Vertraulichkeit - f ö r m l i c h durch die abgebende Stelle(?) - aufgehoben worden ist. N a c h § 7 Abs. 2 S. 3 L A r c h G N o r d rhein-Westfalen dürfen Verschlußsachen nur m i t Z u s t i m m u n g der abgebenden Stelle benutzt werden. Für die Archivgesetze dieser Gruppe g i l t der prinzipielle Vorrang der nicht aufgehobenen VS-Einstufung vor der Archivierung, was ein B l i c k auf die amtliche Begründung der Bundesregierung z u m B A r c h G und die Praxis des Bundesarchivs nach w i e vor b e s t ä t i g t 6 8 6 .
685
Das LArchG Bayern zählt zwar nach dem Wortlaut zur o.g. zweiten Gruppe. Nach der insoweit abweichenden, einschränkenden amtlichen Begründung des bayrischen LArchG fallen Verschlußsachen und ehemalige Verschlußsachen als solche aber ausschließlich unter Art. 10 Abs. 2 Nr. 3 LArchG Bayern, Einzelfallversagung „wegen Gründen des Geheimnisschutzes" (Bay. LT-Drs.il/8185 Anm. 10.2. S. 14). Nach der amtlichen Gesetzesbegründung soll die besondere Sperrfrist nur gelten „bei Archivgut, das auf Grund spezieller Vorschriften geheimgehalten werden muß, um das Vertrauen in die Wirksamkeit des Geheimnisschutzes nicht zu beeinträchtigen". Aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß VS-Unterlagen grundsätzlich nicht darunter fallen sollen, da ein Vertrauensschutz nur bei speziellen, nach außen wirkenden, in der Regel also gesetzlich begründeten Geheimhaltungsvorschriften denkbar ist (Anm. Nr. 6.1.3.). 686
Die amtliche Begründung der Bundesregierung geht davon aus, daß die spezielle Versagungsvorschrift § 5 Abs. 6 Nr. 1 und nicht die besondere 80-Jahresfrist dem Schutz der Vertraulichkeit und Aufrechterhaltung eines etwaigen Verschlußsachenstatus dient. Archivgut, das noch als Verschlußsache eingestuft ist, könne nur benutzt werden, soweit dies die - vorrangige, von der Archivierung unberührte Verschlußsachenanweisung bzw. VS-Einstufung zulassen. Daß die VS-Einstufung nicht durch die Archivierung berührt werden soll, geht mittelbar aus dem Versagungsgrund zur Archivgutbenutzung in den Fällen der „Gefährdung des Wohls der Bundesrepublik Deutschland" hervor. Dieser bezieht sich auf die VS-Einstufung und soll nach der amtlichen Begründung klarstellen, daß solches Archivgut nur nach Maßgabe der Verschlußsachenanweisung nutzbar sein soll (BT-Drs. 371/84; BT-Dokumentation S. 18 f.; BT-Drs. 11/1215, BT-Dokumentation S. 81). Die Verschlußsachen des Bundes unterfallen auch in der Benutzungspraxis keinen besonderen Sperrfristen, sondern stehen vorrangig unter dem Regime der VS-Einstufung und ihrer Aufhebung durch die abgebende Stelle (Lenz, Erfahrungen mit dem BArchG, in: Bannasch, Zeitgeschichte, S. 51 ff.; Oldenhage, Der Archivar 41 (1988) Sp. 478, 483, 492).
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
341
b) Begründungsbedürftige Einzelfallversagung Die Gesetzgeber in Bund, Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, SachsenAnhalt gehen offenbar davon aus, daß eine Freigabe zur Nutzung als Archivgut die förmliche Aufhebung der VS-Einstufung voraussetzt. Nach der Systematik der Archivgesetze kann die Nutzungsversagung bezüglich der öffentlich archivierten VS allerdings nicht unter bloßen Hinweis auf den Fortbestand der rein internen, dienstrechtlichen VS-Einstufung geschehen, sondern muß bei Subsumtion unter die archivgesetzlichen Einzelfallversagungsgründe inhaltlich überprüft und begründet werden. Dies folgt schon aus der Vielfalt denkbarer Geheimhaltungsgründe und den unterschiedlichen VS-Stufen. In Betracht kommt in erster Linie der Versagungsgrund „Grund zu der Annahme, daß das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährdet würde", der sich insoweit mit der Systematik der VS-Anweisungen deckt, allerdings hohe Anforderungen an die Begründung stellt 6 8 7 . 2. Zweite Gruppe: Geltung der besonderen Sperrfrist bei VS-Einstufung a) Aufhebung der VS-Einstufung durch Fristablauf In Hamburg, Hessen, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen fallen nicht aufgehobene VS grundsätzlich unter die besonderen Sperrfri687 Die Blankettversagungsgründe, die sich auf entgegenstehende Rechtsvorschriften über Geheimhaltung oder § 203 StGB beziehen, kommen nicht in Betracht, soweit sie in den Archivgesetzen dieser Gruppe überhaupt genannt werden. Denn die VS-Einstufung als solche bzw. die VS-Anweisung sind keine Rechtsvorschriften. § 203 StGB bezieht sich auf materielle Geheimnisse privater Personen. Die LArchGe von Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 2 Nr. 1-4, Bremen § 7 Abs. 5 Nr. 1-4- sowie Niedersachsen § 5 Abs. 4 verzichten auf einen Blankettversagungsgrund wegen entgegenstehender Rechtsvorschriften über Geheimhaltung ganz. Der Versagungsgrund „Grund zu der Annahme, daß schutzwürdige Belange Dritter entgegenstehen" greift nach der Systematik der Sperrfristen nur subsidiär ein, wenn in Ausnahmefällen die besondere Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut sich wegen der besonderen Eigenart der Daten als unzureichender Schutz erweist. Es bleibt daher nur der erste Grund „Gefährdung für das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines Landes". Eine Ausnahme macht insofern das LArchG Bayern, dessen Art. 10 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 „wenn Gründe des Geheimnisschutzes es erfordern" zumindest nach dem Wortlaut geringere Anforderungen an die Art der Gefährdung stellt.
342
3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
sten für geheimhaltungsbedürftiges Archivgut. Diese haben l e d i g l i c h Geheimhaltungsvorschriften b z w . Vorschriften über Geheimhaltung als Tatbestandsvoraussetzung. D a m i t w i r d zugleich betont, daß die öffentliche A r c h i vierung v o n V S auch ohne ihre förmliche Herabstufung die Regel ist. Eine Zwischenarchivierung i n Geheimarchiven soll nicht die Regel sein. Entscheidend ist allein, daß die V S nicht mehr für die Erfüllung der laufenden Geschäfte benötigt werden. Dies ergibt sich auch aus den amtlichen Begründungen688. Aus der Spezialiät der Archivgesetze folgt, daß der A b l a u f der besonderen, hier j e 60-Jahres-Sperrfristen (30-Jahresfrist i n Schleswig-Holstein) grundsätzlich ipso iure die förmliche Herabstufung durch die abgebende Stelle ersetzt. Dafür spricht auch, daß die Landesarchivgesetze i n Hamburg, Hessen, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen Einzelfallversagungsgründe unterhalb der Schwelle der Rechtsvorschriften über Geheimhaltung anders als das L A r c h G Bayern (s.o.) nicht kennen. V S werden daher als solche, d.h. allein aufgrund des Fortbestands der VS-Einstufung nicht von den Einzelversagungsgründen erfaßt.
688 Nach der amtlichen Begründung in Hamburg sollen archivierte VS-Sachen stets unter die besondere (verkürzbare) Sperrfrist von 60 Jahren fallen, die für besondere Geheimhaltungs vor Schriften gilt, nicht jedoch unter die Einzelfall Versagungsgründe des § 5 Abs. 5 Nr. 5 LArchG Hamburg, die nur bei Rechtsvorschriften eingreifen sollen. Ergänzt wird die Regelung durch § 5 Abs. 3, Abs. 5 S. 2 LArchG Hamburg: Nach § 5 Abs. 3 LArchG Hamburg können die abgebenden Stellen die Sperrfristen „für bestimmtes bei ihnen entstandenes Archivgut" um höchstens 20 Jahre auf maximal 80 Jahre verlängern, „soweit dies aus Gründen des Gemeinwohls geboten ist" (Bürgerschafts-Drs. 13/7111 Anm. zu § 3, S. 7). Vergleichbar ist die Rechtslage nach der bereits zitierten Regelung des LArchG Saarland in § 11 Abs. 2 und Abs. 7 LArchG Saarland: Verschlußsachen sollen als solche regelmäßig der besonderen Sperrfrist unterfallen. Der Einzelfall Versagungsgrund des § 11 Abs. 7 Nr. 1 erfordert demgegenüber nämlich ausdrücklich „besondere gesetzliche Geheimhaltungsvorschriften" und ist demnach nicht als Auffangtatbestand konzipiert (LT-Saarland Drs. 10/945 S. 14, 15). Im Widerspruch dazu betont allerdings auch die Begründung zum saarländische LArchG den Vorrang der VS-Einstufung bei archivierten VS-Sachen. Archivgut, das noch als Verschlußsache eingestuft ist, könne nur benutzt werden, soweit es die Verschlußsachenanweisung (VSA) zulasse (LT-Saarland Drs. 10/945 S. 16). Nach der amtlichen Begründung der Landesregierung Schleswig-Holstein soll der bloß „noch formal bestehenden", inhaltlich nicht mehr erforderlichen VS-Einstufung noch die Bedeutung eines besonderen Amtsgeheimnisses mit der Folge der Geltung der besonderen Sperrfrist zukommen (amtliche Begründung zu zu § 9 LArchG Schleswig-Holstein, LT-Drs. 12/1615 S. 27, 28). In Hessen, Thüringen und Sachsen schweigen die amtlichen Gesetzesbegründungen zur Frage der Benutzung von VS (Hessen LT-Drs. 12/3944 zu § 15 Abs. 1 S. 2 S. 17; Thüringen LT.-Drs. 1/1005 S. 20 zu § 17 Abs. 3).
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
343
b) Kompetenzkonflikte Die Organisationsgewalt der abgebenden Stellen wird durch die Archivgesetze hinsichtlich der Aufhebung der VS-Einstufung begrenzt. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zur ersten Gruppe. Da die besondere Sperrfrist in den o. g. Fällen prinzipiell verkürzbar ist, besteht die Möglichkeit nach der Archivierung einen entsprechenden Antrag auf Fristverkürzung im überwiegenden wissenschaftlichen Interesse zu stellen. Die Nutzer können so mittelbar auf die Aufhebung der VS-Einstufung mithilfe des Verwaltungsgerichts hinwirken, ohne daß das Verwaltungsgericht durch Gestaltungsurteil die VS-Einstufung als solche aufheben müßte. Nach dem LArchG Hamburg und dem LArchG Saarland muß das Landesarchiv für die Fristverkürzungsentscheidung allerdings die Zustimmung der abgebenden Stelle einholen 6 8 9 . Nach den Landesarchivgesetzen von Hessen, Sachsen und Thüringen scheint das zumindest nicht zwingend der Fall zu sein 6 9 0 . Dies gilt ebenfalls nach § 9 Abs. 5 und 6 LArchG Schleswig-Holstein, der das Landesarchiv zur Fristverkürzung ermächtigt, „wenn Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen". Das kann die VS-Einstufung selbst oder die VSA ebensowenig sein wie die Organisationsgewalt der abgebenden Stelle. 3. Vergleich
und Stellungnahme
In der 1. Gruppe sind die Gesetzgeber davon ausgegangen, daß das beste Ergebnis für die Archive und die Interessen zukünftiger historischer Forschung über einen prinzipiellen Vorrang der VS-Einstufung vor archivgesetzlichen Regelungen erreicht werde. Zwar wird die Organisationsgewalt und Kompetenz der abgebenden Stelle grundsätzlich nicht tangiert, weil eine Nutzung ohne Herabstufung durch die abgebende Stelle grundsätzlich nicht möglich ist und die VS-Einstufung von der gebotenen Archivierung prinzipiell unberührt bleibt, aber die Versagung der Nutzung einer ins öffentliche Archiv gelangten VS muß im einzelnen begründet werden. Dabei können die Archive auf informelle Weise auf die abgebenden Stellen einwirken. Dies dürfte in der Praxis dazu führen, daß VS vor Herabstufung nicht angeboten und dem Archiv übergeben werden, 689 § 5 Abs. 5 S. 6 BArchG; LARchGe in: Hamburg § 5 Abs. 4; Saarland § 11 Abs. 5; Bayern Art. 10 Abs. 4 S. 1; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 4 Nr. 1. 690 LArchGe in: Hessen § 15 Abs. 4; Thüringen § 17 Abs. 5; Baden-Württemberg § 6 Abs. 4 S. 2; Berlin § 8 Abs. 4 S. 1; Brandenburg § 10 Abs. 5, 9; Bremen; § 7 Abs. 4; Niedersachsen § 5 Abs. 5; LArchG Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 4 S. 3: „Über die Verkürzung oder Verlängerung der Sperrfristen entscheidet, soweit keine anderen Zuständigkeiten festgelegt sind, der Kultusminister."; Sachsen § 10 Abs. 4.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
obwohl sie für die Erfüllung der Aufgaben der abgebenden Stelle nicht mehr verfügbar sein müssen. Dies zeigt das Beispiel des Bundesarchivs. Bei den Archivgesetzen der 2. Gruppe soll die Archivierung von VS ungeachtet der Tatsache, daß die vielgestaltigen VS-Einstufungen als solche nicht den „Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit in die Aufrechterhaltung des Geheimnisschutzes" durch eine abstrakt-generelle, gesetzliche Sperre gebieten, - durch eine besondere Sperrfrist gesichert werden. Das von den Gesetzesbegründungen angeführte „Interesse der Allgemeinheit oder Öffentlichkeit an der Aufrechterhaltung von VS" ist bereits ein terminologisches Paradoxon. Allerdings hoffte man offenbar die abgebenden Stellen unter Hinweis auf die pauschal, ohne Ansehung des tatsächlichen, materiellen Geheimhaltungsbedürfnisses angeordnete besondere archivgesetzliche Sperrfrist, zur Anbietung zu bewegen. Aus der archivgesetzlichen Unterwerfung der VS-Einstufung als „besonderem Amtsgeheimnis" unter das Sperrfristenregime folgt, daß der Ablauf der besonderen Sperrfrist ohne eine förmliche Aufhebung seitens der abgebenden Stelle das Erlöschen der Einstufung bewirkt. Das ist logische Folge der speziellen und höherrangigen, parlamentsgesetzlichen Anordnung. Die daraus entstehenden Kompetenzkonflikte haben die Archivgesetze nicht gelöst. Andererseits müßte auch hier wegen der unterschiedlichen Geheimhaltungsgrade eine Einzelfallprüfung vorgenommen werden, ob die VS-Einstufung jeweils noch erforderlich ist. Die jeweilige VS-Einstufung müßte auf ein Vorliegen eines gesetzlichen Versagungsgrundes untersucht werden. Im Ergebnis sind die tatsächlichen Möglichkeiten des Archivs, auf Archivierung hinzuwirken beschränkt, auch wenn man nach der hier vertretenen Ansicht die Möglichkeit einer Organklage des Archivs auf Abgabe von VS befürwortet. Die Archivierung und Nutzung von VS-Unterlagen wird durch die taktische Überlegung kompliziert, daß die Abgabebereitschaft der abgebenden Stelle unmittelbar durch die Abschottung der von ihr als sensibel eingestuften Unterlagen im Archiv beeinflußt wird. Wegen des nach herkömmlicher Auffassung nach wie vor fehlenden, durchsetzbaren Übergabeanspruchs des öffentlichen Archivs gegenüber der abgebenden Stelle sind Archive und Benutzer daher auf die Bildung und Aufrechterhaltung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Archiven und abgebenden Stellen angewiesen, das durch eine an sich wünschenswerte, von den Archivgesetzen ermöglichte liberale Nutzungspraxis des Archivs „gestört" werden kann. An der Sicherung zukünftiger historischer Forschung über die ehemals „verborgene" staatliche Tätigkeit besteht schon aus diesem Grund ein vordringliches Interesse. Welche der beiden Gruppen vom Standpunkt zukünftiger historischer Forschung vorzugswürdig ist, läßt sich nicht allgemein beantworten.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Solange die Staatsarchive nach der herrschenden Meinung keinen durchsetzbaren rechtlichen Anspruch gegenüber abgebenden Stellen auf Anbietung und Übergabe haben, bleibt die „Quellenausbeute" in diesem Bereich dem Verhandlungsgeschick und der Verantwortung der Archivare überlassen. Auf der anderen Seite steht die nicht widerlegte Befürchtung, im Falle der gerichtlichen Durchsetzung eines Übergabeanspruchs der Archive gegenüber abgebenden Stellen „nurmehr inhaltlose" und „bereinigte" Akten zu erhalten. Einen Königsweg, der allen Anforderungen gerecht wird, scheint es auch im Bereich des staatlichen Geheimhaltungsinteresses ebensowenig wie im Falle des Individualdatenschutzes zu geben. Der Gegenstand der öffentlichen Archivierung von VS scheint sich einer strikten gesetzlichen Normierung zu entziehen. Um so wichtiger ist es daher aber, die organisatorische Unabhängigkeit der Archive gegenüber Weisungen und Einflußnahmeversuchen der Exekutive zu schützen und ggfs. stärken.
4. Bedeutung des Aktenzugangsrechts des § 5 Abs. 8 BArchG für VS Die Konzeption des BArchG, die VS nicht der besonderen Sperrfrist zu unterwerfen, sondern dem - begründungspflichtigen - Einzelfallversagungsgrund des § 5 Abs. 6 Nr. 1 BArchG, erweist sich als folgenreich im Hinblick auf § 5 Abs. 8 BArchG, dessen Tragweite für die Ressortsverwaltungen weder von Seiten der Verwaltung noch seitens der historischen Forschung bislang voll realisiert worden ist. § 5 Abs. 8 BArchG ist von zentraler Bedeutung für die wissenschaftliche Verwendung aller Unterlagen von Stellen des Bundes, deren Entstehung länger als 30 Jahre zurückliegt. Die Vorschrift lautet: „Bei der Benutzung von Unterlagen, die älter als 30 Jahre sind und noch der Verfügungsgewalt der in § 2 Abs. 1 bezeichneten Stellen unterliegen, sind die Absätze 1 bis 7 (des § 5; B. M.) entsprechend anzuwenden."
Der eindeutige Wortlaut bezieht sich auf alle Unterlagen, die älter als 30 Jahre sind, ohne geheimhaltungsbedürtiges Schriftgut als solches auszuschließen. Dazu wird lediglich auf § 2 Abs. 4 verwiesen, dessen 80-JahresSperrfrist allerdings Rechtsvorschriften voraussetzt (s.o.). Dazu zählt die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien über die VS-Einstufung als bloß interne Verwaltungsvorschrift nicht. Daraus folgt, daß auch bei VS „Geheim" oder „Streng geheim", soweit deren Geheimhaltung nicht auf speziellen Gesetzen beruht, was oft der Fall sein dürfte, auf die Einzelbegründung des § 5 Abs. 6 Nr. 1 zurückzugreifen ist. Das kann mit erheblichem Verwaltungsaufwand für die Bundesstellen verbunden sein. Eine dar-
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
über hinausgehende Pflicht der Entstehungsbehörde zur Hilfestellung im Sinne einer Erschließung des Materials scheidet allerdings aus. Daraus ergibt sich dem Grundsatz nach eine Umqualifizierung der bei der Ursprungsbehörde verbliebenen Unterlagen in öffentliche Sachen in beschränktem, zulassungsbedürftigem Gemeingebrauch. Die Stellen des Bundes sind Anspruchsadressaten eines prinzipiellen Benutzungsanspruchs. In der Bundesrepublik Deutschland fehlt bislang ein Gesetz über die allgemeine Öffentlichkeit von Verwaltungsunterlagen. Das BArchG enthält mithin an versteckter Stelle eine grundsätzliche Regelung über die allgemeine Zugänglichkeit von Verwaltungsunterlagen, die über den zeitlichen Rahmen von zeithistorischer Forschung mit entscheidet. V I . Versagung und Einschränkung der Benutzung in Einzelfallen 7. Überblick über die Nutzung sversagungsgründe Alle Archivgesetze sehen spezielle Einzelfallversagungsgründe vor, die dem Schutz der öffentlichen Sicherheit vor erheblichen Gefahren und der Funktion der Archive gegen Beeinträchtigung dienen 6 9 1 . Nach den Archivgesetzen in Bund, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, MecklenburgVorpommern und Schleswig-Holstein ist die Benutzung unzulässig bzw. einzuschränken oder zu versagen, soweit 1. Grund zu der Annahme besteht, daß das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährdet würde, oder 2. Grund zu der Annahme besteht 692 , daß schutzwürdige Belange Dritter entgegenstehen, oder 3. der Erhaltungszustand des Archivguts gefährdet würde, oder 4. ein nicht vertretbarer Verwaltungsaufwand entstehen würde 6 9 3 , oder 691
§ 5 Abs. 6 BArchG; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 6; Bayern Art. 10 Abs. 2 S. 3; Berlin § 8 Abs. 8; Brandenburg § 11; Bremen § 7 Abs. 5; Hamburg § 5 Abs. 5; Hessen § 16; Mecklenburg-Vorpommern § 9 Abs. 2 Nr. 1-6; Niedersachsen § 5 Abs. 4; Nordrhein-Westfalen § 7 Abs. 5; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 2; Saarland § 11 Abs. 2; Sachsen § 9 Abs. 2; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 2; Thüringen § 18. 692 „Grund zu der Annahme besteht": diese Fassung geht zurück auf einen Änderungsvorschlag des BT-Innenausschusses zu § 5 Abs. 5 BArchG, BR-Drs. 155/87 (BT-Dokumentation S. 31). Es soll verhindert werden, daß die Archiv Verwaltung zu einer detaillierten Prüfung und zum positiven Nachweis schutzwürdiger Belange Dritter im Einzelfall gezwungen ist, die in der Praxis wegen zu großen Aufwandes nicht zu erfüllen wäre.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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5. die Geheimhaltungspflicht nach § 203 Abs. 1 bis 3 StGB oder anderen Rechtsvorschriften des Bundes (oder Landes) über Geheimhaltung verletzt w ü r d e 6 9 4 , 6. soweit Vereinbarungen m i t derzeitigen oder früheren Eigentümern entgegenstehen695. Andere Archivgesetze enthalten zusätzlich einen Blankettversagungsgrund für entgegenstehende Rechtsvorschriften über G e h e i m h a l t u n g 6 9 6 , andere verzichten auf einen zusätzlichen Versagungsgrund für Geheimnisse D i e Versagungsgründe der N u m m e r n 1 bis 4 sind allgemein anerkannt und finden sich z. T . i n anderer Reihenfolge auch i n den Landesarchivgesetzen Baden-Württembergs, Bayerns, Brandenburgs, Bremens, des Saarlands, Sachsens, Sachsen-Anhalts und T h ü r i n g e n s 6 9 8 . Das L A r c h G Niedersachsen 693
Das LArchG Rheinland-Pfalz nennt in § 3 Abs. 2 Nr. 1-5 neben allen anderen Gründen nicht wie das BArchG den unvertretbaren Verwaltungsaufwand. Da dieser an sich aus dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip folgt und weniger eine normative als faktische Schranke ist und die ausdrückliche Nennung nur deklaratorischen Charakter hat, gilt er allerdings auch hier. 694 In Ergänzung zu § 5 Abs. 6 Nr. 5 regelt § 5 Abs. 7 BArchG, daß auch nach Erlöschen dieser Geheimhaltungspflicht eine Einschränkung und Versagung einer Benutzungsgenehmigung möglich sein soll, wenn besonders sensible Unterlagen, die der Schweigepflicht im Sinne des § 203 Abs. 1 oder 3 StGB unterlegen haben, noch Informationen enthalten, deren Benutzung schutzwürdige Belange Dritter entgegenstehen. Eine Ermächtigung der Archivverwaltung war wegen des weitergehenden Benutzungsanspruches notwendig. Das BArchG zählt in § 5 Abs. 6 Nr. 5 2. Alternative noch alle „anderen Rechtsvorschriften des Bundes über Geheimhaltung" hinzu, was laut amtlicher Begründung klarstellen sollte, daß Rechtsvorschriften des Bundes prinzipiell nicht verletzt werden dürften. Insoweit können sich allerdings Wertungswidersprüche mit der Fristenregelung des § 5 Abs. 3 i . V . m . § 2 Abs. 4 ergeben, die sich auf dieselben Vorschriften beziehen. 695 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 6 Nr. 5; Berlin § 8 Abs. 8 Nr. 4; Brandenburg § 11 Abs. 1 Nr. 6; Hamburg § 5 Abs. 5 S. 2: „Vereinbarungen mit Eigentümern privaten Archivguts bleiben unberührt"; Mecklenburg-Vorpommern § 9 Abs. 2 Nr. 6; Rheinland-Pfalz § 3 Abs. 2 Nr. 5; Sachsen § 9 Abs. 2 Nr. 6; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 2 Nr. 6. Wo dieser Versagungsgrund fehlt, sind die Gesetzgeber davon ausgegangen, daß entsprechende Depositalien im privaten Eigentum verbleiben und nicht öffentliches Archivgut werden. Näher dazu s.u. D. 696 LArchGe in: Bayern Art. 10 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 „Gründe des Geheimnisschutzes es erfordern"; Brandenburg § 11 Abs. 1 Nr. 3 „Rechtsvorschriften über Geheimhaltung"; Saarland § 11 Abs. 2 Nr.l. „besonderen gesetzlichen Geheimhaltungsvorschriften unterliegt"; Sachsen § 9 Abs. 2 Nr. 3 wie Brandenburg. 697 LArchGe in: Baden-Württemberg a.a.O., Bremen § 7 Abs. 5 Nr. l ^ t ; Hessen § 1 6 Abs. 1 Nr. 1-3; Niedersachsen § 5 Abs. 4; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 2 Nr. 1-4; Thüringen § 18 Nr. 1-4. 698 LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 6 Nr. 1-4; Bayern Art. 10 Abs. 2 S. 3 Nr. 1, 3, 4, 5; Brandenburg § 11 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 5; Abs. 2 „ Nach § 203
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
enthält keine abschließende Aufzählung der Gründe, sondern nennt die Versagungsgründe Nr. 1 und 3 als Regelbeispiele; das Landesarchivgesetz in Hessen nennt nur die ersten d r e i 6 9 9 , § 5 Abs. 4 LArchG Niedersachsen bestimmt, daß die Einzelfallversagung nach Ablauf der Sperrfristen greift. Dies gilt nach dem Spezialitätsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für alle Archivgesetze. Der Versagungsgrund Nr. 2 stellt klar, daß ein Schutz des Persönlichkeitsrechts eines Betroffenen nicht abschließend durch die besondere Sperrfrist zugunsten personenbezogenen Archivguts gewährleistet ist. Für den Fall, daß „sensible" Daten in Archivgut enthalten sind, das nach den Umständen kein personenbezogenes ist, soll eine Nutzungsversagung oder -einschränkung möglich sein. Da die Sperrfrist aber der Regelfall ist, stellt die Versagung hohe Anforderungen an eine Begründung. Die Versagungsgründe Nr. 3 und Nr. 4 sind der Archivgut- bzw. Anstaltsnutzung immanent und vorgegeben und haben daher nur deklaratorischen Charakter. 2. Begründung der Nutzungsversagung wegen Gefährdung des Staatswohls im Einzelfall Von normativer Bedeutung ist daher in erster Linie die Verweigerung des Archivzugangs aufgrund einer Einzelfallversagung wegen Gefährdung des Staatswohls. Dies gilt vor allem für die Archivgesetze der ersten Gruppe. Aber auch bei der zweiten Gruppe kann die Versagung der Nutzung bzw. der Fristverkürzung nach der öffentlichen Archivierung nicht einfach mit dem Hinweis auf die besondere Sperrfrist, d.h. den formalen Fortbestand der VS-Einstufung ausreichend begründet werden. Das folgt bereits aus den verschiedenen Geheimhaltungsgraden der VS-Einstufung, hinter denen vielgestaltige und keinesfalls gleichrangige Interessen auf Geheimhaltung stehen. Nimmt die abgebende Stelle für sich in Anspruch, eine „konstitutive", nicht gesetzesgeleitete VS-Einstufung, die nicht ein gesetzlich vorgegebenes Geheimhaltungsgebot konkretisiert, trotz Aufgabenerledigung aufrechtzuerhalten und so Unterlagen der Benutzung i m Archiv oder gemäß § 5 Abs. 8 BArchG zu entziehen, spricht die archivgesetzliche Anbletungspflicht und Widmung zu öffentlichem Archivgut dafür, zumindest die Abs. 1 und 3 des StGB geschützte Unterlagen (...) dürfen vor Ablauf der Schutzfristen nur in anonymisierter Form benutzt werden"; Bremen § 7 Abs. 5 Nr. 1-4; Saarland § 11 Abs. 2 Nr. 2-5; Sachsen § 9 Abs. 2 Nr. 1-6; Sachsen-Anhalt § 10 Abs. 2 Nr. 1-4; Thüringen § 18 Nr. 1-4. 699 Nr. 4 folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip; Niedersachsen § 5 Abs. 4 Nr. 1-2; Hessen § 16 Abs. 1 Nr. 1-3.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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Schlüssigkeit der VS-Einstufung darzulegen: die Befugnis zu einer „konstitutiven", nicht gesetzesgeleiteten VS-Einstufung folgt aus der dienstrechtlichen Organisationsgewalt der staatlichen Hoheitsträger und findet ihre Grenzen in derselben. Die Rechtmäßigkeit der VS-Einstufung und die Erforderlichkeit ihrer Aufrechterhaltung im Archiv bedarf im Zusammenhang mit der Benutzung der jeweiligen Unterlagen als Archivgut zumindest in dieser Hinsicht der Überprüfung. Ein früher von Rechtsprechung und Literatur angenommener Grundsatz, daß im Zweifel zugunsten der Behördeneinschätzung zur Geheimhaltung zu entscheiden sei, ist abzulehnen 700 . Damit ist die Grundlage für einen Gesetzesvorbehalt im Bereich staatlicher Geheimhaltung gelegt, wie er moderner Rechtsstaatsauffassung angemessen ist. Die Annahme einer Gefährdung des Wohls der Bundesrepublik oder eines der Länder erfordert erheblich weniger als die Gefährdung ihres Bestandes oder ihrer Sicherheit (vgl. § 92 Abs. 1, 3 StGB). Die Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen dürfte ausreichend aber auch erforderlich sein. Dafür ist in Anlehnung an § 353 b StGB die Gefährdung öffentlicher Belange von einigem, durch die Verfassung und die verfassungsmäßige Ordnung geschützten Gewicht und Rang darzulegen 701 . Entscheidend sind daher die formalen Anforderungen, die an eine ablehnende Begründung zu stellen sind. Auch die Einzelfallversagung wegen Gefährdung des Staatswohls bedarf der schriftlichen Begründung. Einer Begründung bedarf es nur dann nicht, wenn ein Fall des § 39 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG vorliegt, sich also die Begründung aus einer Rechtsvorschrift ergibt. Eine interne Verschlußsachenanordnung oder -einstufung als solche ist daher keine hinreichende Grundlage. Die abgebende Stelle soll deswegen substantiiert über die Art der Schriftstücke, die Natur der zurückgehaltenen Informationen, die Notwendigkeit der Geheimhaltung und den Grad des Geheimhaltungsbedürfnisses, der den Informationen ihrer Ansicht nach zukommt, bis an die Grenze der Offenbarung darlegen. Sie muß eine möglichst dichte Plausibilitätskontrolle ermöglichen, um einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß der Gesetzgeber wegen der unübersehbaren Vielgestaltigkeit und der Natur des Geheimnisschutzes nicht in der Lage ist, das Verwaltungshandeln in diesem Bereich an feste normative Maßstäbe zu binden. Eine substantielle Begründung zwingt die abgebende Stelle zudem zu einer kritischen Selbstvergewisserung in einem Bereich, der in der Regel sowohl parlamentarischer als auch gerichtlicher Kontrolle entzogen i s t 7 0 2 . 700
Düwel, Das Amtsgeheimnis, zur Literatur und Rechtsprechung der 50er und 60er Jahre, S. 231 m . w . N . 701 Schönke-Schröder/Lenckner, StGB, § 353 b Rz 9.
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
Auch wenn legale Geheimhaltungsinteressen nur eine unvollständige Auskunft zulassen, ist die Behörde daher nicht ihrer Verpflichtung enthoben, die Gründe ihrer Weigerung verständlich zu machen 7 0 3 . Eine verwaltungsgerichtliche oder archivbehördliche Nachprüfung der Abwägung der abgebenden Stelle muß zumindest auf offensichtliche Fehler möglich sein. Mindestvoraussetzung ist die Nachvollziehbarkeit der behördlichen Entscheidung im Sinne einer Geeignetheits- und „Schlüssigkeitsprüfung": Für die Darlegung der Weigerungsgründe ist es erforderlich und ausreichend, daß die Behörde ihre Wertung der Tatsachen als geheimhaltungspflichtig so einleuchtend darlegt, daß das Archiv bzw. der Antragsteller und ggf. das Verwaltungsgericht - diese Wertung unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Belange noch als triftig anerkennen kann. Dazu ist darzulegen, warum eine konkrete Einsicht oder Auskunft über die einzelnen Erkenntnisse nicht ohne Offenbarung oder Gefährdung der jeweiligen geschützten Rechtsgüter möglich sein soll. Dabei kann es erforderlich sein, die Art der gesammelten Informationen allgemein zu umschreiben, andererseits sind konkrete Nachteile, die bei Vorlage der strittigen Akten zu befürchten stehen, zu nennen. Insgesamt muß die ablehnende Entscheidung hinreichend erkennen lassen, daß die Entscheidung auf der Grundlage einer Abwägung unter Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls getroffen worden ist. Kann die Behörde die konkreten Gründe ihrer Weigerung nicht offenbaren, so muß sie angeben, weshalb ihr dies nicht möglich ist, denn ohne die 702 Für die Anforderungen, die an den Inhalt einer Nutzungsversagung wegen entgegenstehenden Geheimhaltungserfordernissen zu stellen sind, bietet sich ein Rückgriff auf die von der Rechtsprechung zu §§ 62 BBG, 99 Abs. 2 VwGO sowie §§54 Abs. 3, 96 StPO zur Zeugnisverweigerung entwickelten Grundsätze an. Die Übertragung des strengen strafprozessualen Maßstabs ist wegen des prinzipiellen aus Art. 5 Abs. 3 GG folgenden Archivzugangsanspruchs des historischen Forschers und dem Gebot des Art. 19 Abs. 4 GG diesbezüglich, effektiven Rechtsschutzes zu gewährleisten, gerechtfertigt und geboten. Das Gebot auf effektiven Rechtsschutz gebietet die gerichtliche Nachprüfbarkeit einer behördlichen Entscheidung auch und gerade in tatsächlicher Hinsicht. Zum Verhältnis historischer Forschung und nationaler Sicherheit v.a. nach dem US-amerikanischem Freedom of Information Act: Wollenteit, Informationsrechte des Forschers im Spannungsfeld von Transparenzforderungen und Datenschutz, S. 85 ff. 703 BVerwGE 74 S. 115 (120 f.) = NJW 1986 S. 2329 = N V w Z 1986 S. 338 = DVB1. 1986 S. 1207; zu § 96 StPO und Verfassungsschutzakten: Diese sind „ i m Rahmen des § 96 StPO unter Rechtsstaatlichen Bedingungen nicht schon ihrem Wesen nach geheimhaltungsbedürftig." Vgl. zur Maßstabsbildung auch das Urteil des OVG Berlin N V w Z 1987 S. 817 (820) zur Frage der Auskunft über „Erkenntnisse" des Landesverfassungsschutzes über einen Bewerber im öffentlichen Dienst; Redeker/v. Oertzen, VwGO § 99 Rz 10. Zur historischen Entwicklung Düwel S. 229 ff.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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wenigstens grobe Kenntnis dieser Gründe lassen sich die Interessen, die für oder gegen die Geheimhaltungsbedürftigkeit des behördlichen Wissens sprechen, nicht hinreichend sicher beurteilen 704 . Der bloße Hinweis auf die wahrzunehmenden Aufgaben, auf die einschlägigen Normen, die Wiederholung des Gesetzestextes, der Hinweis auf ein gesetzliches Geheimhaltungsgebot oder der Hinweis auf die „aus der Natur der Sache" folgende Geheimhaltungsbedürftigkeit der Erkenntnisse reichen nicht aus; ebensowenig die Beteuerung, es habe eine Prüfung und Abwägung stattgefunden. Allerdings stößt die Mitteilung der wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe, auf die die Weigerung gestützt wird, auf Grenzen, wenn die Begründung keine Rückschlüsse auf den Inhalt der - personenbezogenen oder sonstigen - schutzbedürftigen Geheimdaten zulassen soll. Die Darlegung der Gründe der Geheimhaltung wird dann unter Umständen nur allgemeiner Art sein können, wenn die nähere Konkretisierung auf eine Offenbarung der geheimzuhaltenden Tatsachen selbst hinauslaufen würde." Es ist aber zumindest eine „umrißhafte Darstellung" zu geben 705 . 3. Benutzung von Unterlagen, die nach § 203 Abs. 1 bis 3 StGB geschützt sind Das BArchG und die Landesarchivgesetze von Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein untersagen die Nutzung, soweit die Geheimhaltungspflicht nach § 203 Abs. 1 bis 3 StGB oder anderen Rechtsvorschriften des Bundes (oder Landes) über Geheimhaltung verletzt würde. Hier ist das Verhältnis zum Ablauf der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut zu klären. Grundsätzlich scheidet nach Ablauf der allgemeinen und der beiden besonderen Schutzfristen über geheimhaltungsbedürftiges und personenbezogenes Archivgut bei öffentlich archivierten Unterlagen der Straftatbestand des § 203 StGB und auch der Qualifikationstatbestand des § 353 b StGB aus. Der Ablauf der Sperrfristen ersetzt grundsätzlich den strafrechtlichen Offenbarungsgrund. Im Ergebnis kann der spezielle Versagungsgrund daher nur sicherstellen, daß ohne Anonymisierung eine Fristverkürzung stets unzulässig ist. Im Ergebnis bestehen keine Unterschiede für die Archivgutnutzung. § 11 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 LArchG Brandenburg und § 7 Abs. 4 S. 3 LArchG Bremen bestimmen lediglich, daß nach § 203 Abs. 1 und 3 des StGB geschützte Unterlagen vor Ablauf der Schutzfristen nur in anonymisierter Form benutzt werden dürfen. 704 705
BVerwG a.a.O. m . w . N . OVG Berlin und BVerwG a.a.O.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
In den Ländern, in denen eine zwingende Übergabeanonymisierung für Unterlagen nach § 203 Abs. 1 Nr. 4, 4 a StGB vorgesehen ist, besteht kein Grund für die Anwendung weder der allgemeinen noch der besonderen Sperrfristen noch zur Statuierung eines entsprechenden Versagungsgrundes. Zwingende Übergabeanonymisierung finden sich in den LArchGen: BadenWürttemberg § 3 Abs. 1; Brandenburg § 4 Abs. 2 Nr. 3; Nordrhein-Westfalen § 3 Abs. 2 Nr. 2; Saarland § 8 Abs. 2 S. 2.
V I I . Vergleich zu Frankreich: die Systematik der Geheimhaltungsvoraussetzungen für nicht personenbezogene Unterlagen (documents de caractere non nominatifs) nach dem französischen Archivgesetz Ein Rechtsverordnungsvorbehalt für Geheimhaltung besteht nach französischem Recht. Art. 6 S. 2 des französischen Archivgesetzes 706 knüpft an Art. 2 und Art. 6 des Gesetzes über die Verbesserung der Information zwischen Verwaltung und Öffentlichkeit vom 18. Juli 1978 a n 7 0 7 . Danach sind grundsätzlich alle Unterlagen ohne konkreten Personenbezug (de caractere non nominatif), die vom Staat und sonstigen öffentlichen Körperschaften und Einrichtungen herrühren, öffentlich zugänglich, sofern diese nicht unter den Voraussetzungen des Art. 6 der Geheimhaltung unterliegen 708 . Die öffentlichen Stellen können die Freigabe von Unterlagen verweigern, deren Weitergabe die notwendige Geheimhaltung der folgenden Bereiche verletzte: (1) des Kernbereichs der exekutiven Eigen Verantwortung (porte atteinte au secret des deliberations du Gouvernement et des autorites responsables relevant du pouvoir executifs); (2) der nationalen Verteidigung und der Außenpolitik (au secret de la defense nationale, de la politique exterieure; (3) des Währungsgeheimnisses und Finanzpolitik (ä la monnaie et au credit public); (4) der laufenden Justizverfahren devant les juridictions);
(au deroulement des procedures engagees
(5) des Privatgeheimnisses, der Personal- und Krankenakten (au secret de la vie privee, des dossiers personnels et medicaux); 706
Loi no. 79-18 du 3 janvier 1979 sur les archives, JO du 5 janvier 1979 p. 44. Loi no. 78-753 du 17 juillet 1978 sur F amelioration des relations entre F administration et le public, JO du 18 juillet 1978. 708 „Sous reserve de F article 6 les documents administratifs sont en plein droits communicables (...) qu'ils emanent des administrations de FEtat, des collectivites territoriales, des etablissement publics ou des organismes (...) charges de la gestion d'un service public." 707
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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(6) der Betriebsgeheimnisse (au secret en mati&re commerciale et industrielle); (7) der Ermittlung in Steuer- und Zollsachen (ä la recherche par les services competents, des infractions fiscales et douanieres); (8) der durch Spezialgesetze geschützten Geheimnisse (aux secrets proteges par la loi).
Die Liste der hierunter fallenden Verwaltungsunterlagen ist durch ministeriellen Erlaß/Rechtsverordnung (arretes ministeriels) nach Abstimmung mit der zuständigen unabhängigen Kommission (commission d'acces aux documents administratifs = C.A.D.A.) abschließend festzustellen 709 . Die weiteren Zugangsvoraussetzungen und Verfahren sind beispielsweise in detaillierter Form festgelegt und veröffentlicht im Decret no. 79-1035 vom 3. Dezember 1979, Art. 6 für die Archive des Verteidigungsministeriums710 oder im Decret no. 80-1980 vom 1. Dezember 1980 für das Außenministerium, Art. 8 7 1 1 . Dort sind u.a. als „sehr geheim" (tres secret) oder „defense nationale" klassifizierte Unterlagen von der Öffentlichkeit für eine Sperrfrist von 60 Jahren seit der Entstehung ausgeschlossen. Danach besteht für die Geheimhaltung von Verwaltungsunterlagen mit nicht personenbezogenem Charakter grundsätzlich ein Gesetzesvorbehalt, der in der Regelungsdichte durch Dekrete abgeschwächt ist. Die unabhängige Kommission C.A.D.A. wacht allerdings über die Handhabung der ministeriellen Dekrete und die Begründung der Informationsverweigerung im Einzelfall und erstattet jährlichen, zu veröffentlichenden Bericht (Art. 5 des o.g. Gesetzes 78-753). Das Archivgesetz No. 79-18 ist nach Art. 13 des Gesetzes 78-753 und Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes 79-18 nachrangig.
V I I I . Zusammenfassung Dem Schutz vornehmlich öffentlicher Geheimhaltungsinteressen sollen besondere Sperrfristen von erheblich abweichender Dauer (30 bis 80 Jahre seit der Entstehung der Unterlagen) und unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen dienen (teilweise ist ein parlamentarisches Gesetz erforderlich, teilweise soll ein „besonderes Amtsgeheimnis", etwa in Gestalt einer Verschlußsacheneinstufung genügen). Zudem weichen die Fristverkürzungsvoraussetzungen voneinander ab. Die mit 80 Jahren längste Sperrfrist für aufgrund bloßer „Rechtsvorschriften" geheimzuhaltendes Schriftgut nach 709 Guide de l'acces aux documents administratifs, p. 104 ff., hrsg. von La Documentations Francaise und die jährlichen Berichte der C.A.D.A. 710 JO du 5 decembre 1979 p. 3055. 711 JO du 6 decembre 1980 p. 2876. 23 Manegold
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3. Teil: Archivverwaltungsrecht
dem BArchG ist sogar unverklirzbar. Bereits diese unübersichtliche und inkohärente Rechtslage kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung bundesweiter, wissenschaftlicher Forschungsprojekte führen. Was im einzelnen unter einer Rechtsvorschrift, die Geheimhaltung anordnet, zu verstehen ist, wird durch kein Archivgesetz erklärt. Die Gesetzgeber sind zu einer gesetzlichen Klärung in Gestalt einer Rechtsverordnungsermächtigung, die den jeweils zuständigen Minister zur Aufzählung von im einzelnen genannten geheimhaltungsbedürftigen Unterlagentypen ermächtigt, und zur Vereinheitlichung aufgerufen. Sollen VS aufgrund des förmlichen Fortbestands der VS-Einstufung unter besondere Sperrfristen fallen, wird diese mit dem Ablauf der Sperrfrist grundsätzlich ipso iure wirkungslos. Nach richtiger Auffassung sind bloß verwaltungsintern wirkende VS-Einstufungen als solche nicht automatisch als Anknüpfung für besondere Sperrfristen geeignet, sondern bedürfen der Begründung der Geheimhaltung gegenüber dem Archiv oder der Nutzungsversagung gegenüber dem Nutzer im Einzelfall. Es ist zu prüfen, ob die jeweilige VS ein verhältnismäßiges Mittel im Rahmen zulässiger Exekutivgewalt ist. Dies ist bis an die Grenze der Offenbarung der jeweiligen vertraulichen Informationen zu begründen. Durch § 5 Abs. 8 BArchG wird eine begrenzte Öffentlichkeit von Unterlagen sämtlicher Stellen des Bundes nach den Nutzungsvorschriften des BArchG geschaffen. Ein subjektives Recht auf Kenntnisnahme und Einsicht nach den Vorschriften des BArchG gilt unabhängig von einer Archivierung und der Archivwürdigkeit für alles Schriftgut, das älter als 30 Jahre ist, einschließlich nicht archivierter VS.
D. Nutzung von Archivgut Privater (Depositalgut) 7. Bedeutung der Eigentumsübertragung für private Nutzungsauflagen Soweit ehemals privates Archivgut zu Eigentum an die Archive übertragen wird, wird es zu öffentlichem Archivgut, das durch die Archivierung zur öffentlichen Nutzung gewidmet w i r d 7 1 2 . Der archivgesetzliche Benutzungsanspruch und seine Schranken gelten dann unmittelbar 713 . Sollen für diesen Fall zusätzliche Benutzungsbeschränkungen aufgrund privaten Willens weitergelten, so müßte deren Fortgeltung durch Gesetz 712
Heydenreuther, Die Archivierung von literarischen Nachlässen, Der Archivar 41 (1988) Sp. 667, 669; ders., Eigentumsverhältnisse am Nachlaß eines Hochschullehrers, Der Archivar 42 (1989) Sp. 135, 140. 713 Oldenhage, Der Archivar 41 (1988) Sp. 477, 486; Günther S. 144, 147.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
ausdrücklich angeordnet sen ist dies geschehen, ehemaligen Eigentümers dem Saarland jedenfalls liegt 7 1 5 .
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werden. In Baden-Württemberg, Berlin und Sachindem ausdrücklich der Vorrang des Willens des angeordnet w i r d 7 1 4 ; in Bayern, Brandenburg und soweit eine einseitige, letztwillige Verfügung vor-
Für die übrigen Landesarchivgesetze muß konstatiert werden, daß es mangels gesetzlicher Anordnung im Fall des Eigentumserwerbs nicht zulässig ist, den Willen des Privaten, soweit er über die archivgesetzlichen Einschränkungen hinausgeht, zum Inhalt der Nutzung zu machen. Der Vorrang von Vereinbarungen oder letztwilliger Verfügungen im Falle der Übereignung von privatem Archivgut an ein öffentliches Archiv ist in diesem Fall gesetzestechnisch nicht gesichert. Wenn der Wille des Privaten garantiert werden muß, sollte es hier bei der Übernahme als Depositalgut bleiben.
2. Depositalvertragliche
Nutzungsauflagen
Bleibt das Privateigentum am Archivgut im Rahmen eines typischen Depositalvertrages bestehen, ist der Archivbenutzungsanspruch dem Grundsatz nach eine „weitergeleitete" private Gestattung 716 . Die archivgesetzlichen Nutzungsschranken gelten allerdings dem Grundsatz nach ebenfalls, da es insofern nicht auf die privatrechtliche Eigentumslage ankommt. Die archivgesetzlichen Bestimmungen haben hier den Charakter einer den Inhalt und die Schranken des privaten Eigentums konkretisierenden Regelung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 G G 7 1 7 . Von besonderer Bedeutung sind Nutzungsauflagen für die Frage, ob mit der Übergabe an ein öffentliches Archiv eine urheberrechtsfähige Unterlage ein „veröffentlichtes Werk" i.S.v. § 6 Abs. 1 UrhG wird. Ein solches liegt nicht vor, wenn beispielsweise ein Manuskript einem (öffentlichen) Archiv mit der Maßgabe überlassen wird, daß es nur bei Nachweis eines besonderen Interesses eingesehen werden kann, denn solange ist es keinem unbeschränkten Personenkreis zugänglich 718 . 714
LArchGe in: Baden-Württemberg § 5 Abs. 6 Nr. 5; Berlin § 8 Abs. 3 Nr. 4; Sachsen § 9 Abs. 2 Nr. 6. 715 LArchGe in: Bayern Art. 4 Abs. 4; Brandenburg § 9 Abs. 1 S. 2; Saarland § 11 Abs. 1 S. 2. 716 Heydenreuther, Der Archivar 43 (1990) Sp. 472 ff.; Der Archivar 42 (1989) Sp. 135 ff.; Axer, Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sache, S. 48 ff. m.w.N. 717 Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 14 Rz 133 ff. 718 OLG Zweibrücken GRUR 1997, 363 f.; Schricker/Katzenberger § 6 UrhG Rz 14. 23*
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Liegen besondere Vereinbarungen mit dem privaten Eigentümer vor, gehen diese nach allen Archivgesetzen den gesetzlichen Nutzungsbestimmungen v o r 7 1 9 . Werden nähere Nutzungsvoraussetzungen und Grenzen im Depositalvertrag oder auch in letztwilligen Verfügungen 720 geregelt, dürfen die Vereinbarungen über die Nutzung, die mit dem Privaten getroffen werden, die archivgesetzlichen Schutzstandards zugunsten Betroffener oder des Allgemeinwohls nicht unterschreiten. Die Archivverwaltung dürfte eine solche Vereinbarung nicht eingehen und wäre nicht an sie gebunden 721 . Entsprechende einseitige letztwillige Verfügungen gingen möglicherweise zu Lasten eines Dritten und wären aufgrund öffentlich-rechtlicher Überlagerung unbeachtlich. Die archivgesetzlichen Standards können durch den Depositalvertrag nur verschärft werden. Dies gilt nicht zuletzt für die eine amtliche Nutzung privater Deposita.
E . Rechtsschutzfragen I. Widerspruch und Verpflichtungsklage Typischerweise wird der Streitgegenstand eine ablehnende Entscheidung der Archivverwaltung möglicherweise im Benehmen mit der abgebenden Stelle bezüglich eines Antrags auf Sperrfristverkürzung sein. Dabei handelt es sich um einen Verwaltungsakt, auf den der 8. Abschnitt der Verwaltungsgerichtsordnung 722 Anwendung findet. 1. Widerspruchsbehörde: Bundesarchiv, Landeshaupt- bzw. Staatsarchive Zunächst ist daher der Widerspruch gegen die Nutzungsversagung, Ablehnung der Fristverkürzung etc. der statthafte Rechtsbehelf. Widerspruchs719 § 5 Abs. 1 S. 2 BArchG: „Vereinbarungen zugunsten von Eigentümern privaten Archivguts bleiben unberührt"; LArchGe in: Baden-Württemberg § 6 Abs. 1 S. 1, zusätzlich § 5 Abs. 6 Nr. 5: „Die Nutzung ist zu versagen, soweit Vereinbarungen mit derzeitigen oder früheren Eigentümern entgegenstehen"; Bayern Art. 4 Abs. 4; Berlin: § 8 Abs. 8 Nr. 4; Brandenburg § 9 Abs. 1 S. 2, § 11 Abs. 1 Nr. 6; Bremen § 7 Abs. 1 S. 2; Hamburg § 5 Abs. 5 S. 2; Hessen § 14 Abs. 1 S. 2; Mecklenburg-Vorpommern § 9 Abs. 2 Nr. 6; Niedersachsen § 3 Abs. 7 S. 2; NordrheinWestfalen § 7 Abs. 2 S. 4; Rheinland-Pfalz § Abs. 2 Nr. 5; Saarland § 11 Abs. 1 S. 2; Sachsen § 7 Abs. 3, § 9 Abs. 2 Nr. 6; Sachsen-Anhalt § 5 Abs. 2, § 10 Abs. 1 S. 3; Schleswig-Holstein § 9 Abs. 2 Nr. 6; Thüringen § 16 Abs. 1 S. 2. 720 LARchGe in: Sachsen § 7 Abs. 3, Sachsen-Anhalt § 5 Abs. 2; Bayern Art. 4 Abs. 4. 721 Ggfs. liegt ein Fall des § 59 Abs. 2 Nr. 1 V w V f G vor. 722 VwGO i.d.F. v. 19.03.1991 BGBl. I I I 340-1.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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behörde ist gemäß § 73 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in aller Regel das Staats- oder Landeshauptarchiv bzw. das Bundesarchiv, da diese Stelle über die Fristverkürzung entscheidet und die nächsthöhere Behörde eine oberste Bundesoder Landesbehörde i s t 7 2 3 . Bei Kommunalarchiven entscheidet in der Regel der jeweilige kommunale Träger gemäß § 73 Abs. 1 Nr. 3 VwGO über den Widerspruch. 2. Kontrolldichte
des Verwaltungsgerichts
gemäß §114 VwGO
Bei ablehnendem Widerspruchsbescheid kommt die Verpflichtungsklage vor dem Verwaltungsgericht in Betracht. Weigert sich der Archivträger die streitbefangenen Archivunterlagen auch dem Verwaltungsgericht vorzulegen, ist das Verwaltungsgericht auf eine Plausibilitätskontrolle angewiesen 7 2 4 . Das Archiv hat glaubhaft zu machen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verweigerung des Zugangs vorliegen. Der Behörde obliegt es, ihre Ansicht weitestmöglich zu substantiieren und entsprechend der o.g. Grundsätze zu begründen 725 . Die hier vertretene Auffassung zum grundrechtlichen Archivzugangsrecht des historischen Forschers unmittelbar aus Art. 5 Abs. 3 GG ändert zwar nicht den Ermessenscharakter der Behördenentscheidung über die Fristverkürzung oder Fristaufhebung als solchen, führt aber zu einer erheblichen Einengung des Ermessensrahmens und Erhöhung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte. Sobald keine zwingenden, überwiegenden Gründe zur Zugangsverweigerung im Sinne der besonderen Sperrfristen oder der Einzelfallversagungsgründe plausibel dargelegt werden, ist das Ermessen auf „ N u l l " geschrumpft; das Verwaltungsgericht hat ein Bescheidungsurteil zu erlassen. 3. Archiv-Schiedsausschuß
gemäß §10 LArchG Schleswig-Holstein
Der Eigengesetzlichkeit der historischen Forschung und des Archivwesens kommt § 10 LArchG Schleswig-Holstein durch die Schaffung eines „pluralistisch zusammengesetzten" Schiedsausschusses als entscheidender Widerspruchsstelle entgegen 726 . 723
Unzutreffend Nadler S. 190. Ziegler, Die gerichtliche Kontrolle der Geheimhaltungsmittel der Exekutive, ZRP 1988 S. 25, 27. 725 s.o. C. V. 2. 726 Gemäß § 68 Abs. 2 VwGO bleiben Vorschriften, nach denen im Vorverfahren Ausschüsse oder Beiräte an die Stelle einer Behörde treten, unberührt, wobei diese auch abweichend bei der erlassenden Behörde - hier dem Landesarchiv von Schleswig-Holstein - eingerichtet werden können. Nach § 10 Abs. 1 S. 2 LArchG Schles724
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
Der Schiedsausschuß besteht aus drei Mitgliedern, die jeweils über besondere Kenntnisse auf dem Gebiet des Archivwesens, des Datenschutzes und der wissenschaftlichen Forschung mit Archivgut verfügen müssen und vom Minister für Bildung und Wissenschaft berufen werden. Die Entscheidungsfrist beträgt 3 Monate. Bei den Entscheidungen des Schiedsausschusses handelt es sich um vollumfänglich im Rahmen des § 114 VwGO nachprüfbare Ermessensentscheidungen. Dem Schiedsauschuß wird trotz seiner pluralistischen Zusammensetzung kein gerichtsfreier Beurteilungsspielraum eingeräumt. I I . Anfechtung der Zuordnung von Archivgut zur Archivgutkategorie personenbezogenen oder geheimhaltungsbedürftigen Archivguts? Die Zuordnung von Verwaltungsschriftgut zu der entsprechenden Archivgutkategorie ist wegen der daraus gesetzlich folgenden Sperrfristanordnung durch die Archivverwaltung möglicherweise eine Einzelfallregelung mit unmittelbarer Außenwirkung. Der Zuordnung von Archivgut unter die Fristenregime für personenbezogenes und geheimhaltungsbedürftiges Archivguts kommt eine unmittelbar nach außen wirkende zugangsbeschränkende Regelungswirkung zu. Dies gilt auch wenn man nicht davon ausgeht, daß aus Art. 5 Abs. 3 GG ein unmittelbarer Archivzugangsanspruch für den historischen Forscher folgt. Mindestregelungsgehalt ist in jedem Fall die gesetzesvollziehende Einzelfallfestsetzung (Subsumtion) unter die besondere archivgesetzliche Nutzungskategorie. Bei der Anwendung der besonderen Sperrfrist für personenbezogenes Archivgut könnte wegen der eigenständigen Wertungen dieses unbestimmten Rechtsbegriffs, die die Archivverwaltung vorzunehmen hat, ein selbständig anfechtbarer belastender Verwaltungsakt vorliegen. Es stellt sich die Frage, ob daher ein „isoliertes" Vorgehen gegen die Einstufung der begehrten Unterlagen in die besondere Archivgutkategorie personenbezogenen oder geheimhaltungsbedürftigen Archivguts in Betracht kommt mit der Folge, daß die allgemeinen Nutzungsbestimmungen (allgemeine Sperrfrist, erleichterte Verkürzung) gelten. Das Rechtsschutzbedürfnis fehlte dann auch in denjenigen Fällen nicht, in denen die allgemeine Sperrfrist noch nicht abgelaufen ist, da der allgemeinen Sperrfrist beim Archivzugangsanspruch aus Art. 5 Abs. 3 GG keine eigenständige zugangsverhindernde Wirkung zukommt. Eine selbständige „isolierte" Anfechtbarkeit ist im Ergebnis aber deswegen abzulehnen, weil die Zuordnung zur Kategorie personenbezogenen Arwig-Holstein bleibt das Recht, durch Klage die Verweigerung der Nutzung des Archivguts anzufechten, unberührt.
6. Kap.: Das Recht auf Archivbenutzung
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chivguts auch in Zweifelsfällen grundrechtlich vorgezeichnete Schranken nachzeichnet. Die entsprechende Bescheidung ist daher einer baugenehmigungsrechtlichen „modifizierenden Auflage" vergleichbar, die nicht isoliert angefochten werden kann. Eine isolierte Anfechtung ist auch deswegen nicht sinnvoll, weil in den Fällen, in denen die Anwendung des Nutzungsregimes für personenbezogenes Archivgut zutrifft, gleichwohl eine Fristverkürzung oder Nutzungsgewährung unter Auflagen in Betracht kommen kann, die vom Anfechtungsbegehren nicht umfaßt wäre. Es bleibt daher bei der Verpflichtungsklage. Im Fall der Kategorie geheimhaltungsbedürftigen Archivguts ist bereits die „Zuordnung" anders zu beurteilen, da hier keine eigene Entscheidung der Archivverwaltung vorliegt. Es kommt im Falle gesetzlicher Geheimhaltungsanordnungen darauf an, ob die Archivverwaltung entsprechendes Archivgut selbst einer bestimmten Geheimhaltung zugeordnet hat, oder aber die entsprechende Einstufung - einer wiederholenden Verfügung ohne eigenen Regelungsgehalt vergleichbar - von der abgebenden Stelle übernommen hat. Die Archive übernehmen die von der abgebenden Stelle vorgenommene VS-Einstufung einer wiederholenden Verfügung vergleichbar ohne eigene Sachprüfung der Einstufung. Die abgebende Stelle bleibt trotz des Wechsels der generellen Zuständigkeit für das nunmehr entstandene Archivgut für die Herabstufung oder Aufhebung der VS-Grade zuständig. Die Aufhebung der VS-Einstufung durch die in der Regel allein sachverständige Behörde ist dann Voraussetzung für die Änderung des archivgesetzlichen Nutzungsregimes. In der Zuordnung von Archivgut, insbesondere von archivierten VS, liegt bereits keine eigenständige Regelung der Archiv Verwaltung mit unmittelbarer Außen Wirkung. Eine isolierte Anfechtung scheidet daher aus. I I I . Vergleich zu Frankreich: Rechtsschutz nach Art. 7 der loi no. 78-753 durch C.A.D.A. und Verwaltungsgerichte Der Erlaß des französischen Archivgesetzes No. 79-18 vom 3. Januar 1979 7 2 7 steht in engem Zusammenhang mit der Forderung nach einer „transparenten Verwaltung". Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde das Gesetz No. 78-753 vom 17. Juli 1978 über das Recht auf Zugang zu Dokumenten der öffentlichen Verwaltung erlassen („Gesetz über verschiedene Maßnahmen zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Verwaltung und der Öffentlichkeit") 7 2 8 , dessen erster Titel von der „Freiheit des Zugangs zu Verwaltungsakten" handelt. Artikel 1 und 2 des Gesetzes statuie727 Loi No. 79-18 du 3 janvier 1979 sur les archives, Journal officiel (JO), Lois et decrets, du 5 janvier 1979 p. 43-46. Duchein, Les innovations aportees par la loi du 3 janvier 1979, La gazette des archives, No. 107 (1979), p. 229 ff.
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3. Teil: Archiv verwaltungsrecht
ren im Grundsatz die Öffentlichkeit aller nicht „personenbezogenen" Akten (documents administratifs de caractere non nominatif). Unabhängig davon hat jeder Staatsbürger das Einsichtsrecht als „Betroffener" in die ihn betreffenden Vorgänge. Nach Artikel 13 wird der Zugang zu Dokumenten durch die Abgabe an die Archive nicht berührt, was durch Art. 6 Abs. 2 des französischen Archivgesetzes (loi no. 79-18) bestätigt wird. Artikel 6 des Gesetzes No. 78-753 ermächtigt die Verwaltung bzw. die Archive, durch begründete Entscheidung in abschließend gesetzlich bestimmten Fällen die Herausgabe oder Bekanntgabe zu verweigern, die in einer abschließenden Aufzählungsliste durch das jeweils zuständige Ministerium nach Stellungnahme der unabhängigen Kommission über den Zugang zu Verwaltungsdokumenten (C.A.D.A. = commission d'acces aux documents administratifs) zu bestätigen sind 7 2 9 . Die Verweigerung der Information bzw. des Aktenzugangs muß nach Art. 7 Abs. 1 förmlich, schriftlich begründet werden (sous forme de decision ecrite motivee). Ein Schweigen der Behörde bzw. des Archivs von 2 Monaten gilt als ablehnende Entscheidung. In diesem Fall hat der Antragsteller zunächst die Entscheidung der C.A.D.A. herbeizuführen. Die verweigernde Stelle, bzw. das Archiv hat die C.A.D.A. binnen 2 Monaten über die Geheimhaltungsgründe zu informieren. Bis zu dieser Stellungnahme ist die Klagefrist für eine verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage gehemmt, über die der Verwaltungsrichter nach Art. 7 Abs. 3 innerhalb einer Frist von 6 Monaten zu entscheiden hat.
728 Loi No. 78-753, JO, Lois et decrets, 18 Juillet 1978 p. 2851-2852: „loi portant diverses mesures d'amelioration des relations entre 1'administration et le public et diverses dispositions d'ordre administratif social et fiscal". 729 s.o. C. IV.: „secret des deliberations du Gouvernement et des autorites responsables relevant du pouvoir executif, - au secret de la defense nationale, de la politique exterieure, - ä la monnaie et au credit public, ä la surete de l'Etat et ä la surete publique, - au secret de la vie privee, des dossiers personnels et m&iicaux, au deroulement des procedures engage devant les juridictions, - ou de facon generale, aux secrets proteges par la loi". Der Zivilstand zählt nach Ansicht des Conseil d'Etat und der C.A.D.A. nicht zu den documents administratifs, sondern zu den documents nominatifs.
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Be13/ Der §9
7. Bremen, LArchG vom 07.05.1991; GVB1. Nr. 18/1991, S. 159; amtliche Begründung: Bremische Bürgerschaft, Drs. 12/1193 vom 26.03.1991, S. 6 ff.; BremArchivBO vom 01.03.1993 (BremGBl. 1993, S. 99). 8. Thüringen, LArchG vom 23.04.1992; GVB1. Nr. 10/1992, S. 139; amtliche Begründung, LT-drs. 1/1005, vom 09.01.1992, S. 12 ff.; dazu Schilling, Thüringer
382
Anhang Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut, Der Archivar 45 (1992) Sp. 549 ff.
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Amtsträger 287 Anbietung von Archivgut siehe Anbletungspflicht Anbletungspflicht 54, 130, 153, 192 ff. - Beamtenrechtliche Bedeutung 200 - Regierungsmitglieder
195
110
- Bewertungsmonopol 156 f.
Anstalt 63, 179 f., 215 - freiheitssichernde Funktion 182 - organisationsrechtliche gung 63, 105
Verselbständi-
- Archivar und Forschungsfreiheit Archivaufgaben Archivbegriffe
- Forschungsfreiheit
der
Archive
55
- Kassation 46, 172 - Neutralität 46
191
- Archivdienst
100 Auskunftsanspruch 320 Auftragsarchivierung 177
Bewertung, archivarische - Bewertungskompetenz 156, 174
- Umfang 217 ff.
Archivar
- gestuftes Teilhabe-/Freiheitsverhältnis
Benutzungsgrenzjahre 260
- Rechtsnatur 210 ff. Anonymisierung
Archiv-Schiedsausschuß Schleswig-Holstein 357 Archivwürdigkeit 172 Archivzugangsrecht 74, 97 ff.
86
191
Bundesarchiv - Gründung 131 - nicht rechtsfähige Anstalt 63
171
Bundesarchivgesetz, Entstehung 151 ff.
19
130 ff.,
Archivbenutzung 254 ff. Archivdienst Archivgut
191
Datenschutz
167
- Ergänzungsarchivgut
252
- geheimhaltungsbedürftiges Archivgut 335 ff. - personenbezogenes Archivgut 121 ff., 253, 276 ff.
59 ff.,
Archivgutnutzung siehe Archivbenutzung, Archivzugangsrecht Archivierung 167, 192, 218, 225, 243, 248, 252
- Abschottung 162 - Anbietung personenbezogener Unterlagen 218 ff. - Anonymisierung 110, 158, 161 - Archivierung 59 ff. - Archivierungsermächtigung - Archivierung 60 ff.
als
- informationelle 56 ff., 109 ff.
Selbstbestimmung
- rechtswidrig erlangter Unterlagen 63, 219, f., 222, 300
-Postmortaler
Archivierungsermächtigung
Demokratie 48, 55
130
DDR-Schriftgut
130
Löschungssurrogat
114 ff., 119 262
arverzeichnis
384 Depositalien
Geschichtswissenschaft 34, 36
- Depositalvertrag 252
- Bedeutung der Archive 36
- Ergänzungsarchivgut
252
- Eigengesetzlichkeit 87, 90 - historische Methode 36, 94
- Nutzung von Depositalgut 354
- öffentliche Funktion 34
Erschließung 169
- Zeitgeschichte 39 Gesetzgebungskompetenzen für das Archivwesen
Forschungsfreiheit
- Bundeskompetenzen 141 ff.
- Archivzugang und Öffentlichkeit 74, 82 ff., 97 ff. - Bedeutung für die Organisation öffentlicher Archive 52 ff. - Begriff 80 ff.
- Länderkompetenzen 150
- Eingriff 98, 101 - Forschungsverbot 92, 95, 101 ff. - Forschungs voraus Setzungen 52, 75, - historische Forschungsfreiheit
94
- juristische Forschungsfreiheit
95
- Schutzbereich 82 ff. Frankreich - französisches Archivrecht 198, 266, 285, 352, 359
25 f., 105,
Historikerklausel - Historikerklausel der Datenschutzgesetze 317 Informationsanspruch siehe gangsrecht Informationsfreiheit 69 Informationsmonopol 74 ff. ius archivi 24 Kommunalarchive
Gegendarstellung 321 Geheimhaltung
Archivzu-
187
Legitimationsfunktion, historische 32
- Berufsgeheimnisse 248 f. - besondere Sperrfristen 325 - bundesrechtliche Geheimhaltungsvorschriften 232, 238 - einfacher Geheimhaltungs vorbehält 138 - Geheimhaltung und Erschließung 329 - Gesetzgebungskompetenzen
Hardenberg 27 ff.
139 f.
- Geheimhaltungsvorschriften 138 ff., 225 ff. - geheimhaltungsbedürftiges Archivgut 335 ff. - qualifizierter Geheimhaltungsvorbehalt 138 - Sozialgeheimnis 227
Neutralität: Begriff und Bedeutung für öffentliche Archive 45 ff. Parlamentsarchive Parteiarchive
184
189
Postmortaler Persönlichkeitsschutz 114 ff. Preußische Reformdiskussion 27 ff. Sperrfristen - allgemeine Sperrfristen 260 f. - Berechnung 263 f. - besondere Sperrfristen 274 ff., 325 ff.
- Steuergeheimnis 229
- Amtsträgerklausel 287 f.
- taugliches Mittel 125 - Verhältnismäßigkeit 328
- geheimhaltungsbedürftiges gut 330, 333, 335
- Verschlußsachen, VS siehe Verschlußsachen
- Zeitgeschichtsklausel 291 ff.
Archiv-
- personenbezogene Sperrfristen
274
Sachwortverzeichnis - verfassungskonforme Auslegung 123, 267 f. - Verkürzung 271 ff., 301 ff., 307 STUG, Stasi-Unterlagen-Gesetz 163, 300 Übergabepflicht siehe Anbletungspflicht, Archivierung Verschlußsachenarchivierung 243 ff. - Aussonderungsbekanntmachungen „ V S " 247
385
- Begriff 243 - Verschlußsacheneinstufung 243 Veröffentlichung - Forschungsergebnisse 317 Zugangsrecht siehe Archivzugangsrecht Zeitgeschichte - Begriff 39 - Person der Zeitgeschichte 291 ff. - Zeitgeschichtsklausel 291