Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie: Herausgegeben:Öhler, Markus; Becker, Michael 3161485920, 9783161571039, 9783161485923

Die Aufsatzsammlung vereinigt neben einer thematischen Einleitung zwölf Beiträge, deren Schwerpunkt auf der Rezeption un

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German Pages 447 [465] Year 2006

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
MICHAEL BECKER und MARKUS ÖHLER: Zwischen Henoch, den Rabbinen und heute. Die Herausforderung der Theologie durch die Apokalyptik
II. Jesus und das Neue Testament
JÖRG FREY: Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik
EVE-MARIE BECKER: Markus 13 re-visited
KLAUS-MICHAEL BULL: „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden“ (Röm 14,10). Zur Funktion des Motivs vom Endgericht in den Argumentationen des Römerbriefes
PAUL METZGER: Eine apokalyptische Paulusschule? Zum Ort des Zweiten Thessalonicherbriefs
HEIKE OMERZU: Die Himmelsfrau in Apk 12. Ein polemischer Reflex des römischen Kaiserkults
III. Frühchristliche Kontexte
WILHELM PRATSCHER: Die Parusieerwartung im 2. Klemensbrief
ENNO EDZARD POPKES: Von der Eschatologie zur Protologie: Transformationen apokalyptischer Motive im Thomasevangelium
JUTTA LEONHARDT-BALZER: Apokalyptische Motive im Johannes-Apokryphon
IV. Zur Umwelt des Neuen Testaments
IMRE PERES: Positive griechische Eschatologie
MICHAEL BECKER: Apokalyptisches nach dem Fall Jerusalems. Anmerkungen zum frührabbinischen Verständnis
V. Theologiegeschichtliche und systematische Perspektiven
ALF CHRISTOPHERSEN: Die „Freiheit der Kritik“. Zum theologischen Rang der Johannesoffenbarung im Werk Ferdinand Christian Baurs
ULRICH H.J. KÖRTNER: Enthüllung der Wirklichkeit. Hermeneutik und Kritik apokalyptischen Daseinsverständnisses aus systematisch theologischer Sicht
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Bandes
Register
Stellenregister
Sachregister
Autorenregister
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Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie: Herausgegeben:Öhler, Markus; Becker, Michael
 3161485920, 9783161571039, 9783161485923

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament • 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie • Judith Gundry-Volf Martin Hengel • Otfried Hofius • Hans-Josef Klauck

214

Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie Herausgegeben von

Michael Becker und Markus Ohler

Mohr Siebeck

MICHAEL BECKER, geboren 1958; Studium der Katholischen und Evangelischen Theologie in Frankfurt/M., Heidelberg, Oberursel und München; 2000 Promotion; Habilitand am neutestamentlichen Institut der ev. Theologischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München. MARKUS OHLER, geboren 1967; 1996 Promotion; 2001 Habilitation; zur Zeit a.o. Universitätsprofessor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien.

ISBN 3-16-148592-0 ISBN-13 978-3-16-148592-3 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) 978-3-16-157103-9 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.

Vorwort Die Apokalyptik ist im vergangenen Jahrzehnt wieder auf ein gesteigertes Interesse gestoßen. Dabei fand nicht nur im wissenschaftlichen Bereich eine lebhafte Diskussion um die Phänomene statt, sondern der Topos hat auch Eingang in manche Alltagsdiskussion gefunden. Freilich wird nach wie vor darum gerungen, wie sich denn die Erscheinungen überhaupt auf den Begriff und einen einheitlichen Nenner bringen lassen. Daß für das Verständnis die frühjüdische und frühchristliche Produktion apokalyptischer Texte eine entscheidende Rolle spielt, steht außer Frage. In der Forschung zeigt sich aber auch, daß die literarische Ebene nur einen Aspekt einer umfassenderen Erscheinung darstellt. Darüber hinaus wurde deutlich, daß auch eine Beschränkung auf die jüdisch-christliche Tradition nur einen Ausschnitt aus einem wesentlich umfangreicheren Traditionsspektrum erfaßt. Vor dem Hintergrund dieser Horizonterweiterung werden allerdings auch immer speziellere Fragen laut. Diese können nur in detaillierter Analyse an einzelnen Texten einer Antwort näher gebracht werden. Der vorliegende Band verbindet daher verschiedene Perspektiven, die in ihrer Gesamtheit einen repräsentativen Querschnitt wichtiger Diskussionsfelder der letzten Jahre spiegeln. Methodische Fragestellungen und die großen Linien des Verständnisses nehmen dabei breiten Raum ein. Doch kommt die vielfältige frühchristliche, frühjüdische und pagane Diskussion ebenso zu Wort, wie die Geschichte der Forschung und die theologische Aktualisierung. Deutlich wird jedenfalls einmal mehr der enorme Einfluß der mit dem Stichwort „Apokalyptik" verbundenen Denkstrukturen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen im Kern auf zwei Tagungen zurück. Anfang Februar 2003 fand im Rahmen der alljährlich im Studienzentrum Josefstal abgehaltenen Semesterabschlußtagungen der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Veranstaltung unter der Überschrift „Apocalypse Now - or never? Ein exegetischer und religionswissenschaftlicher Dauerbrenner" statt. Und im Mai des gleichen Jahres folgte in Wien die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft neutestamentlicher Assistentinnen und Assistenten zum Thema: „Apokalyptik als bleibende Herausforderung neutestamentlicher Theologie - Jüdische, neutestamentliche und frühchristliche Perspektiven". Beide Tagungen machten auf je unterschiedliche Weise auf das

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Vorwort

große Interesse an apokalyptischen Themen und Konzepten aufmerksam. Es zeigte sich auch, daß die Diskussion die Enge des Horizonts bloßer Konventikelfrömmigkeit verlassen hat und trotz des vorüber gegangenen zweiten Millenniums durch die Ereignisse im Gefolge des 11. Septembers nichts an Aktualität eingebüßt hat. Viele haben zur Durchfuhrung der Tagungen beigetragen. Unser Dank gilt stellvertretend für sie insbesondere unserem Kollegen Dr. Enno Edzard Popkes (Jena/München) für die federführende Organisation. Bei der Redaktion der Beiträge wurde auf eigene Ressourcen zurückgegriffen. Unser besonderer Dank gilt jedoch Dr. Harald Baumgartner und Frau Iris Haidvogel (Wien) für die Erstellung der Register. Prof. Jörg Frey ist zu danken für die Aufnahme in die Reihe der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament". Dies gilt auch dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Frau Tanja Mix und der Herstellungsabteilung, für die gewohnt kompetente und freundliche Betreuung. Abschließend gilt unser Dank allen Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre Untersuchungen dazu beigetragen haben, daß dieses Projekt gelingen konnte. Es erfüllt uns auch mit besonderer Freude, daß die fruchtbare Arbeit in der Arbeitsgemeinschaft neutestamentlicher Assistentinnen und Assistenten hierdurch einen sichtbaren Ausdruck gewonnen hat.

München und Wien, im Mai 2006

Michael Becker und Markus Ohler

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

I. Einfiihrung MICHAEL BECKER u n d MARKUS OHLER

Zwischen Henoch, den Rabbinen und heute. Die Herausforderung der Theologie durch die Apokalyptik

3

II. Jesus und das Neue Testament JÖRG FREY

Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik

23

E V E - M A R I E BECKER

Markus 13 re-visited

95

KLAUS-MICHAEL BULL

„Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden" (Rom 14,10). Zur Funktion des Motivs vom Endgericht in den Argumentationen des Römerbriefes

125

PAUL METZGER

Eine apokalyptische Paulusschule? Zum Ort des Zweiten Thessalonicherbriefs

145

HEIKE OMERZU

Die Himmelsfrau in Apk 12. Ein polemischer Reflex des römischen Kaiserkults

167

VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Frühchristliche Kontexte WILHELM PRATSCHER

Die Parusieerwartung im 2. Klemensbrief

197

ENNO EDZARD POPKES

Von der Eschatologie zur Protologie: Transformationen apokalyptischer Motive im Thomasevangelium

211

JUTTA LEONHARDT-BALZER

Apokalyptische Motive im Johannes-Apokryphon

235

IV. Zur Umwelt des Neuen Testaments IMRE PERES

Positive griechische Eschatologie

267

MICHAEL BECKER

Apokalyptisches nach dem Fall Jerusalems. Anmerkungen zum frührabbinischen Verständnis

283

V. Theologiegeschichtliche und systematische Perspektiven ALF CHRISTOPHERSEN

Die „Freiheit der Kritik". Zum theologischen Rang der Johannesoffenbarung im Werk Ferdinand Christian Baurs

363

ULRICH H . J . KÖRTNER

Enthüllung der Wirklichkeit. Hermeneutik und Kritik apokalyptischen Daseinsverständnisses aus systematisch theologischer Sicht

383

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Bandes

403

Register Stellenregister

405

Sachregister

431

Autorenregister

439

I. Einführung

„Und die Wahrheit wird offenbar gemacht" 1 Zur Herausforderung der Theologie durch die Apokalyptik von MICHAEL BECKER u n d M A R K U S OHLER

Theologische Überzeugungen wie historische Vorurteile ließen die Herausforderung, welche die Apokalyptik für die neutestamentliche Theologie wie die Theologie überhaupt - darstellt, über eine lange Zeit eher von sich abprallen, als daß man sich ihr wirklich gestellt hätte 2 . Zu bizarr schienen die weltbildhaften Konzepte, zu different die eschatologischen Hoffnungen und Zukunftserwartungen, zu anders die Essenz der Ansätze, als daß ein aufgeklärtes christliches Selbstverständnis auf der Basis eines neuzeitlichen Geschichts- und Wahrheitsbewußtseins mit den apokalyptischen Vorstellungen kompatibel bzw. kommunikabel gemacht werden könnte 3 . Statt dessen versuchte man im Gefolge der Vorentscheidung Rudolf Bultmanns, das christliche Kerygma von seiner zeitbedingten Einkleidung nicht nur zu unterscheiden, sondern sich ganz von dieser als krude empfundenen Vorstellungswelt zu befreien. Die Differenz zwischen modernen und antiken Verstehensbedingungen wurde oft dazu benutzt, um diesen lästigen Ballast loszuwerden - nicht oder nur in geringem Maß aber dazu, um sich um eine theologische Aufarbeitung der historischen Grundlagen zu bemühen. Erschwerend kam freilich hinzu, daß die eschatologischen Hoffnungen des 1 Diese dem 4 Esra-Buch (Kap. 6,28) entlehnte Spitzenaussage umreißt den Anspruch, mit welchem die Apokalyptiker auftreten, in besonderer Weise. Sie macht unmißverständlich die Herausforderung sichtbar, um welche gerungen wird, und vor welche sich auch die Theologie immer wieder neu gestellt sieht. 2 Siehe dazu den Beitrag von JÖRG FREY in diesem Band sowie K. KOCH, Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schändlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh 1970. 3 Vgl. die Kontroverse zwischen Klaus Koch und Folker Siegert zur Frage nach dem Verhältnis Jesu zur „Apokalyptik" in der Zeitschrift für Neues Testament (ZNT 2 [1999] Heft 3).

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Michael Becker und Markus

Ohler

frühen Christentums weithin unerfüllt blieben, was eine Belastung der gesamten Diskussion darstellt. Dennoch stieß jener kerygma-theologische Eklektizismus auch auf Widerspruch. Zumindest sah man je länger desto deutlicher, wie eng die christliche Botschaft mit den Sprach- und Ausdrucksmitteln ihrer Zeit verwoben ist. Allerdings bietet ein Rückzug auf das Historische nur bedingt einen Ausweg. Vielmehr kommt es darauf an, in Auseinandersetzung mit den apokalyptischen Vorstellungen und den historischen Gegebenheiten zu einem Verständnis zu gelangen, welches die zeitgenössischen Fragen und theologischen Probleme mit diesen Ansätzen zu integrieren vermag. Dessenungeachtet begann sich in der Zwischenzeit die Ausgangssituation nachhaltig zu verändern. Dies gilt zum einen im Blick auf die Veränderung der Lebensumstände am Ausgang des 20. Jahrhunderts, welche sich in den sich wandelnden Umweltbedingungen, der Ressourcenverknappung, in Gewalt und Terror spiegelt, die in den Ereignissen des 11. Septembers 2001 eskalierten. Zum andern haben dazu auch vielfältige Veränderungen in der Erforschung der frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung selbst geführt. Insbesondere die gewandelte Quellenlage und neue Analyseansätze haben zu einer neuen Einschätzung apokalyptischer Vorstellungen und Modelle beigetragen. Sie betreffen sowohl die Erforschung der alttestamentlichen und frühjüdischen Textbasis, die Analyse der konzeptionellen Voraussetzungen als auch die Vorstellungsweiten als solche. Darüber hinaus hat die Erweiterung des Forschungshorizonts durch die Einbeziehung von ähnlichen Phänomenen aus der paganen - sowohl vorderorientalischen als auch hellenistischen - Umwelt zu einer wesentlich breiteren Wahrnehmung der Erscheinungen geführt. Schließlich ist auch die Aufarbeitung der vielfältigen Wirkungen im Judentum wie im Christentum zu nennen. Hierbei fallt auf, daß es insbesondere theologische Motive waren, durch welche es bis in unsere Tage hinein immer wieder zu einer deutlichen Ausgrenzung der „Apokalyptik" kam, wobei sie freilich oft einseitig mit Endzeitberechnungen, dem Hang zur Vertröstung und den bisweilen blutigen Gewaltszenarien identifiziert wurde 4 . Daß die neutestamentliche wie die systematische Theologie die Herausforderung angenommen haben, vermag nicht nur der vorliegende Band auf vielfältige Weise zu belegen, in welchem mit unterschiedlichen Methoden und Frageansätzen ein weiter Kreis im neutestamentlich-frühchristlichen Bereich, seiner Umwelt und in der theologischen Rezeption abgeschritten wird. Durch einige Ergänzungen bereichert, welche das Bild abrunden, ist die vorliegende Publikation hauptsächlich zwei Tagungen entwachsen: Anfang Februar 2003 fand im Rahmen der alljährlich im Studienzentrum Jo4

An dieser Stelle einen Forschungs- oder Literaturüberblick zu bieten, erscheint angesichts der weitläufigen Diskussion vermessen.

„ Und die Wahrheit wird offenbar

gemacht"

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sefstal abgehaltenen Semesterabschlußtagungen der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Veranstaltung unter der Überschrift „Apocalypse Now - or never? Ein exegetischer und religionswissenschaftlicher Dauerbrenner" statt. Und im Mai des gleichen Jahres folgte in Wien die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft neutestamentlicher Assistentinnen und Assistenten, welche zum Thema hatte: „Apokalyptik als bleibende Herausforderung neutestamentlicher Theologie - Jüdische, neutestamentliche und frühchristliche Perspektiven". Beide Tagungen machten auf je unterschiedliche Weise auf das große Interesse an apokalyptischen Themen und Konzepten aufmerksam, das über das Millennium hinaus durch die Ereignisse im Gefolge des 11. Septembers nichts an Spannkraft eingebüßt hat. Doch was ist eigentlich „Apokalyptik"? Dieser Einleitungsbeitrag will dazu eine Hinführung bieten und das konzeptionelle Netzwerk transparent machen, in welches sich die einzelnen Aufsätze einzeichnen lassen. Er will darin nicht auf die Beiträge vorausgreifen, die oftmals eigene Akzente setzen und auf diese Weise bereits deutlich machen, daß es bei allen Gemeinsamkeiten um ein sehr vielfältiges Phänomen mit unterschiedlichen Aktualisierungen geht. Bekanntlich erhielt das Phänomen vom Präskript der Johannesapokalypse (Apk 1,1) seine Bezeichnung, doch ist die Terminologie ¿TTOKd\ui|us nicht nur deutlich älter 5 , sondern es zeigt sich zugleich, daß auf der Basis allein dieser Terminologie wohl keine Eindeutigkeit im Hinblick auf die Erscheinung zu erreichen ist. Das als „Apokalyptik" markierte Phänomen ist nämlich einerseits spezifischer als der allgemeine Vorgang einer Gottesoffenbarung, so daß gewiß nicht alle Gottesoffenbarungen als „apokalyptisch" gekennzeichnet werden können, und es ist andererseits breiter als der literarische Niederschlag in den sogenannten „Apokalypsen". Gerade im frühjüdischen wie im frühchristlichen Bereich kommt ein inhaltlicher Aspekt zum Tragen, der über den allgemeinen Akzent einer Gottesoffenbarung hinaus auch auf eine spezifische Ausprägung im Zusammenhang des Gottesglaubens Israels wie im christlichen Bereich hindeutet. Denn bei den Vorgängen im Umkreis apokalyptischer Vorstellungen han5

Hierbei ist freilich zu beachten, daß mit dem Wortstamm im Kontext der Septuaginta eine Reihe von „Aufdeckungsvorgängen" verbunden sind, die von einem unmittelbar sinnfälligen Verständnis insbesondere im sexuellen Bereich (vgl. Ex 20,26; Lev 18,6-19; 20,11.17-21 u.ö.) bis hin zu abstrakten Übertragungen z.T. auch in einem theologisch relevanten Kontext reichen (vgl. 1 Sam 2,27; 3,7.21; 9,15; Ps 97,2; Sir 42,19; Am 3,7; Jes 52,10; 53,1; 56,1 u.ö.). Vgl. dazu M. SMITH, On the History of AnOKAATEITQ and AIIOKAAT^IX, in: D. Hellholm (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East. Proceedings of the International Colloquium on Apocalypticism, Uppsala, August 12-17, 1979, Tübingen 2 1989, 9-20.

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Michael Becker und Markus Ohler

delt es sich stets um mehr als nur die Selbstkundgabe Gottes oder die Mitteilung bestimmter Offenbarungsworte. Die Texte deuten dies an, indem sie einerseits von Geheimnissen der himmlischen Wirklichkeit reden, die geoffenbart werden, und indem sie andererseits von der Geschichte insgesamt - vor allem von deren „wahrer" Bedeutung handeln, die sie von ihrem Ende her angesichts des Urteils Gottes erhält. Dies schließt einen intensiven Interpretationsvorgang ein 6 , aber zugleich auch den Anspruch auf eine umfassende Lebensorientierung. Insofern geht es in diesen Texten auch nicht um die Stärkung einer Konventikel-Mentalität, zumal in zahlreichen Texten eine breitere Adressatengruppe mit einer universalen Zielsetzung angesprochen wird. Dennoch besteht bei fast allen Äußerungen ein situativer Bezug, insofern sich die zentrale Frage der Gottesoffenbarung durch geschichtliche Umstände in grundlegender Weise herausgefordert sieht 7 . Hierbei werden krisenhafte Zustände ebenso thematisiert wie allgemeine Ermahnungen und Trost 8 . „Apokalyptik" befaßt sich insofern nicht allein mit Eschatologie oder spezieller noch mit Gerichtsvorstellungen und der Erwartung eines nahen Endes der Geschichte, sondern sie umfaßt ein wesentlich weiteres Feld, zu dem auch andere Aspekte konstitutiv hinzugehören. Aus dem Blickwinkel moderner Kommunikationstheorien wird ein symbolisches Universum aufgebaut, zu dessen Grundelementen über die eschatologischen Aspekte hinaus beispielsweise auch die himmlische Welt mit ihren zahlreichen Geheimnissen und übernatürliche Wesen gehört. Sie und viele weitere Dinge konstituieren eine Weltsicht, die der Bewältigung der eigenen Gegenwart dient. Bemerkenswert hieran ist freilich, daß die zumeist bildhaften Darstellungen eine umfassende Sicht der Wirklichkeit im Spiegel einer himmlischen Parallelwelt präsentieren. Die zweifelsohne vorhandenen Erfahrungen von Fremdherrschaft, kultureller Überfremdung, Unrecht und Gewalt werden hier durch die Bilder mit der Überwindung des Bösen und der Heraufführung neuen Heils konfrontiert. Und durch die erschlossenen Ge-

6 Vgl. F. H A H N , Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einfuhrung, BTS 36, Neukirchen-Vluyn 1998, 2. 7 Vgl. K. SCHMID , Die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels als Heilsparadox. Zur Zusammenführung von Geschichtstheologie und Anthropologie im Vierten Esrabuch, in: J. Hahn/(Chr. Ronning) (Hg.), Zerstörungen des Jerusalemer Tempels. Geschehen Wahrnehmung - Bewältigung, WUNT 147, Tübingen 2002, 183-206, der die „Apokalyptik" „als theologische Reaktion auf Evidenzverluste theokratischer Konzeptionen" charakterisiert, „die durch diesen Konzeptionen widersprechende politische Ereignisse motiviert sind" (a.a.O. 198). Darüber hinaus sind aber noch weitere Faktoren und auch andere Deutungsansätze wie etwa die Ansätze der Kognitionstheorie zu bedenken, welche die Problematik im Horizont „kognitiver Dissonanz" zu beschreiben suchen. 8 J.J. COLLINS, Daniel. With an Introduction to Apocalyptic Literature, FOTL 20, Grand Rapids 1984, 22.

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heimnisse soll Hilfe bei der Bewältigung der Wirklichkeit geboten werden, indem sie in einer heillos erscheinenden Gegenwart Orientierung und Gewißheit bringen. So bizarr und mitunter abstrus auch manches Detail erscheinen mag, die Verbreitung insbesondere der Danieltradition im frühen Judentum deutet doch an, daß hier Konzepte vorliegen, die nicht nur von Konventikeln als tragfahig empfunden wurden und deren Gehalt unter Berücksichtigung einer symbolischen Repräsentation sogar einem heutigen Wirklichkeitsverständnis noch etwas zu bieten hat - mehr jedenfalls als es die kerygma-theologische Ablehnung je zuließ. An dieser Stelle sollen noch einige generelle hermeneutische Überlegungen vorausgeschickt werden, da gegenüber dem Stichwort „Apokalyptik" und den dadurch erfaßten Phänomenen erneut Widerspruch laut geworden ist. Die Tatsache nämlich, daß es sich bei dieser Bezeichnung um einen Begriff der Wissenschaftssprache und nicht der antiken Texte selbst handelt, wird bisweilen gegen die Relevanz und Kohärenz dieses Phänomens eingewendet 9 . Richtig daran dürfte sein, daß - wie angedeutet - eine in der Tat sehr vielfältige Erscheinung unter diesen Begriff subsumiert wird, weshalb ein Etikett „apokalyptisch" manchmal seine Prägnanz zu verlieren droht. Freilich waren umgekehrt auch begrifflich-konzeptionelle Differenzierungsversuche bislang nicht immer erfolgreich, so daß sehr genau ermittelt werden muß, was sich hinter der einen oder anderen Definition wirklich verbirgt 10 . Bedenklicher als beispielsweise eine umgangssprachliche oder konventionelle Aufweichung erscheint aber, daß man die Vielfalt der Erscheinungen dadurch reduzieren will, daß man den Begriff sehr eng faßt - sei es dadurch, daß man die Untersuchung auf die literarische Gattung „Apokalypse" beschränkt oder das Lesersignal einer direkten Offenbarungsmitteilung durch einen Autor zum exklusiven Kriterium erhebt. Manche der auf diese Weise erzielten Reduktionen mögen nach außen hin zwar konsequent erscheinen, doch wird man den zur Diskussion stehenden Problemen dadurch keineswegs besser gerecht. Gerade die Verwicklung der Phänomene in den Lauf der Geschichte speziell des Gottesvolkes - wie die Offenbarung himmlischer Geheimnisse deuten auf ein äußerst komplexes Geschehen hin, das es empfehlenswert erscheinen läßt, eine gewisse Inkongruenz auf der Ebene des literarischen 9 Vgl. dazu das Main Paper des General Meetings der SNTS 2004 in Barcelona von MICHAEL WOLTER: Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, NTS 51 (2005), 171-191. 10 Siehe dazu den informativen Überblick bei P.D. HANSON/J.J. COLLINS/A. YABRO COLLINS, Art. Apocalypses and Apocalypticism, AncBD I, New York 1992, 279-292, bes. 2 7 9 r. u. l.Sp.

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Niederschlags in Kauf zu nehmen, solange sich kohärente Entwicklungslinien der Vorstellungen und Konzepte nachzeichnen lassen. Die Pluralität der Erscheinungen, die sich nicht in ein terminologisch vollkommen stringentes Konzept zwängen läßt, gehört geradezu zu dem innovativen Potential des Phänomens „Apokalyptik", wodurch man immer wieder auf neue Anforderungen reagieren konnte. Daß darin auch eine Gefahr liegt, ist nicht in Abrede zu stellen, doch hieße es die konzeptuellen Möglichkeiten zu unterschätzen, wenn man sie rein formal definieren wollte. Insofern sei nochmals betont, daß ein rein literarischer Erfassungsversuch des Phänomens „Apokalyptik" wohl zu kurz greift". Es geht stets auch um Modelle und Konstruktionen, welche eine Wirklichkeitserfahrung im jeweiligen Offenbarungsgeschehen beschreibbar machen wollen. Nicht zuletzt deshalb wird man immer wieder auf apokalyptische Denkstrukturen verwiesen selbst in Schriften, welche der Gattung nach nicht als Offenbarungsschriften erfaßt werden können oder sich nicht explizit als solche zu erkennen geben. Allerdings gab es bereits in biblischer und frühjüdischer Zeit gravierende Unterschiede bezüglich der Qualität und der quantitativen Verteilung apokalyptischer Traditionen, so daß auch deshalb eine Varianz des Befundes normal erscheint. Doch hat es in der jüdischen Geschichte offenbar immer wieder Situationen gegeben, die gleichsam als Kristallisationskerne für derartige Traditionen dienten, wobei sowohl Erfahrungen des Konflikts religiöser oder politischer Ansprüche als auch Faktoren im sozialen Horizont mit unterschiedlichen Gewichtungen eine Rolle spielen 12 . Neben Wissenstraditionen, deren Heimat man in der Nähe zu priesterlichen Kreisen verorten möchte, sind ebenso Traditionen vorhanden, die priesterlichen Kreisen kritisch gegenüberstanden. Daneben existiert aber auch anderes Material, das auf eine deutliche Opposition zu verschiedenen politischen Unterdrückungssituationen wie zur hellenistischen Überfremdung hindeutet - und dennoch lassen sich die Apokalypsen in keinem Fall generell auf Reaktionen auf Verfolgungen begrenzen. Diese Vielfalt läßt Skepsis gegenüber der Vorstellung einer einheitlich verorteten apokalyptischen Be-

11 Vgl. M. HENGEL, Paulus und die frühjüdische Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 302-417 (327); C.C. ROWLAND, Apocalyptic: The Disclosure of Heavenly Knowledge, in: W. Horbury/W.D. Davies/J. Sturdy (Hg.), The Cambridge History of Judaism Vol. ILL: The Early Roman Pe-

riod, C a m b r i d g e 1999, 7 7 6 - 7 9 7 (778). 12 H.-J. FABRY, Die frühjüdische Apokalyptik als Reaktion auf Fremdherrschaft. Zur Funktion von 4Q246, in: B. Kollmann/W. Reinbold/A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum. Festschrift Hartmut Stegemann, BZNW 97, Berlin/New York

1999, 84-98.

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wegung aufkommen 13 . Dennoch ist trotz all dieser Argumente noch kein überzeugender Einwand gegen die Existenz einer entsprechenden religiösen Strömung 14 geboten worden. Weiterhin erscheint es nur wenig sinnvoll, wenn man sich den Phänomenen auf eine solche Weise nähern wollte, daß man die häufig genannten Kriterien 15 apokalyptischer Vorstellungen im Sinne einer „Positivliste" abhakt. Obwohl gewiß Kennzeichen genannt werden können, existiert keine „Checkliste", die eine einfache Entscheidung per Mustervergleich erlauben würde. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung der gesamten Kriteriologie, da sich oft charakteristische Abweichungen feststellen lassen und eine Anpassung im Blick auf den Forschungsstand manche Ansichten fragwürdig oder überholt erscheinen läßt. Doch - und hier liegt die Berechtigung des Ansatzes - treten bestimmte Merkmale gerade in apokalyptischen Texten besonders häufig auf. Hierzu gehören neben formalen Elementen (wie z.B. den Visionen und Auditionen, dem pseudepigraphen Charakter vieler Schriften und dem Ablauf der Himmelsreisen) auch inhaltliche Aspekte (wie die Offenbarung himmlischer Geheimnisse, dualistische Strukturen, welche auf ein polares Gegenüber von Gott und widergöttlichen Mächten zielen, Retter- und Mittlergestalten, oder eine Periodisierung weltgeschichtlicher Abläufe - teilweise mit einem kataklysmischen Ende und der Bestimmung der Gegenwart als letzter Zeit) und theologische Intentionen (wie die konsequent jenseitige Ausrichtung des Heils, die Theozentrik insgesamt sowie der eng mit den Geheimnissen und der Geschichtsperiodisierung verbundene Heilsplan Gottes, dem die gesamte Schöpfung unterworfen ist) 16 . Im Blick auf die Herkunft apokalyptischer Vorstellungen bestehen sehr kontrovers geführte Diskussionen. Nimmt man nur die alte Streitfrage, ob der Ursprung der Vorstellungen eher in der Prophetie oder der Weisheit

13 J.J. COLLINS, Art. Apocalypses and Apocalypticism - Early Jewish Apocalypticism, AncBD I, New York 1992, 282-288 (284 [l.Sp.]). 14 K. KOCH, Einleitung zur Apokalyptik, in: ders., Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur (Ges. Aufs. Bd. 3) hg. v. U. Glesmer u. M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1996, 109-134 (120-124). 15 Siehe dazu insbesondere das einflußreiche Referat entsprechender Charakteristika bei PH. VIELHAUER, Einleitung, in: E. Hennecke/W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 3 1963, 407-427; DERS., Apokalyptik des Urchristentums. Einleitung, a.a.O., 428-454. Vgl. dazu die teilweise nur leichte Überarbeitung von Georg Strecker: PH. VIELHAUER/G. STRECKER, Einleitung, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 6 1997, 491-515; DIES., Apokalyptik des Urchristentums. Einleitung, a.a.O., 516-547. 16 Siehe hierzu die tabellarische Übersicht bei J.J. COLLINS, The Jewish Apocalypses, Semeia 14 (1979), 21-59 (28); vgl. KOCH, Einleitung (s. Anm. 12), 121-123.

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gelegen hat 17 , so scheint dabei allerdings eine wenig fruchtbare Alternative aufgerissen zu werden. Sie kann freilich nicht schon damit ad acta gelegt werden, daß man eine Mischform propagiert. Weiterhin hat die Apokalyptikforschung gezeigt, daß die frühesten Textzeugnisse noch weit vor das kanonische Danielbuch reichen. Darüber hinaus deutet der handschriftliche Befund bei den in Qumran gefundenen Fragmenten zum Henochbuch (vor allem 4QEnastr a ) auf eine Entstehung, die deutlich vor die makkabäische Krise in das dritte vorchristliche Jahrhundert weist 18 . Damit werden nicht nur sozialgeschichtliche Modelle, die primär die eskalierende politische Situation in der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts für die Entstehung der Apokalyptik verantwortlich machen wollen, suspekt, sondern von den Texten her erscheinen kontroverse kulturelle respektive kulturgeschichtliche Aspekte im frühhellenistischen Verständnis eine viel größere Bedeutung zu besitzen als lange Zeit angenommen. Die ebenso kontrovers geführte Diskussion um die Astronomie bzw. Astrologie wie auch um andere kulturelle Errungenschaften - speziell auf dem Gebiet der Medizin und „Heiltechnik" im weitesten Sinn - kann hier als ein Indikator dafür dienen, wie umstritten diese Kulturgüter offenbar waren, da sie unübersehbare Auswirkungen auf das gesamte religiös-kulturelle Gefiige besaßen 19 . In solchen Situationen auf Offenbarungswissen zur Legitimation zurückgreifen zu können, macht einen unschätzbaren Vorteil aus, der freilich keineswegs unumstritten war und auch nicht einheitlich zur Anwendung kam. Es zeigt sich jedoch insgesamt, daß die Einschätzung der älteren Apokalyptikforschung, die sich in einem hohen Maß auf die Zukunfts- und speziell Naherwartungen konzentrierte, angesichts der durch die Qumranfunde erweiterten Textbasis und eines weitergehenden Textverständnisses revidiert werden muß. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß der Befund nicht in falsche Alternativen auseinandergerissen werden darf. Die keineswegs zu leugnenden, sehr vielfältigen zeitlichen Aspekte sind in ein Gesamtbild

17 Zu dieser primär von G. VON RAD (vgl. Theologie des Alten Testaments II, München s 1984, 3 1 6 - 3 3 8 ; DERS., Weisheit in Israel, München 3 1985, 3 3 7 - 3 6 3 ) initiierten Diskussion s. P. VON DER OSTEN-SACKEN, Die Apokalyptik in ihrem Verhältnis zu Prophetie und Weisheit, München 1969; sowie A. BEDENBENDER, Der Gott der Welt tritt auf den Sinai. Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik, ANTZ 8, Berlin 2000, 6 2 - 7 0 . 18 Zur Danieltradition vgl. J.J. COLLINS, Art. Daniel/Danielbuch, RGG 4 II, 5 5 6 - 5 5 9 ; DERS., Daniel, Hermeneia, Minneapolis 1993, 2 9 - 3 8 ; zur Henochtradition (insbesondere dem astronomischen Buch) vgl. J.T. MlLIK, The Books of Enoch. Aramaic Fragments from Qumrän Cave 4, Oxford 1976, 7 - 2 2 . 2 7 3 f . ; J. VANDERKAM, Enoch and the Growth of an Apocalyptic Tradition, CBQMS 16, Washington 1984, bes. 7 9 - 8 8 . 19 Vgl. dazu M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus, W U N T II 144, Tübingen 2002, 9 4 - 1 0 5 .

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einzubeziehen, das als solches ein weitaus differenzierteres Gefüge darstellt als dies zuvor angenommen wurde. Insbesondere sind auch die jeweils sehr unterschiedlichen Intentionen der einzelnen apokalyptischen Texte mit zu berücksichtigen. Hinzu kommt schließlich auch, daß einige der neu in Qumran gefundenen Weisheitstexte 20 Zeugnis darüber geben, daß es enge Verbindungen zwischen weisheitlichen und prophetischen Traditionselementen gegeben hat. Darüber hinaus läßt eine Fülle von weiteren Faktoren z.B. im mantischen und schriftgelehrten Bereich eine entsprechende Alternative als zu einfach erscheinen 21 . Insgesamt kann im Blick auf die genannten Texte zudem von einer Apokalyptisierung bzw. Dualisierung der Weisheit gesprochen werden 22 . Ein prophetischer Hintergrund ist zwar gerade im Blick auf die eschatologischen Vorstellungen wohl nicht zu leugnen, doch differieren beide Ansätze dennoch ganz erheblich, so daß sich eine lineare oder gar monokausale Ableitung verbietet. Im Netzwerk einzelner Aspekte droht freilich oft der Verlust einer übergeordneten Orientierung. Diese bietet insbesondere die formgeschichtliche Untersuchung der Erscheinungen an. Sie spiegelt freilich auch die gesamte Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Debatte 23 . Denn es hat sich herausgestellt, daß es wohl zwei verschiedene Texttypen gibt, die jedoch eng miteinander verknüpft sein können 24 . Der erste, zeitlich strukturierte Typus konkretisiert sich insbesondere in Geschichtsapokalypsen 25 , die prophetischen Denkmustern in vielem nahe zu stehen scheinen, da sie eindeutig 20

Vgl. bes. IQ bzw. 4QInstruction und IQ bzw. 4QMysteries. Ein weisheitlich-schriftgelehrter Hintergrund erscheint insgesamt plausibler, doch wird man dabei bedenken müssen, daß sich einerseits die relevanten Texte deutlich von einer Weisheit unterscheiden, wie sie das Proverbien-Buch und Jesus Sirach, aber auch Hiob und Kohelet repräsentieren, und andererseits wird man auch bei einzelnen Schriften verschiedene Akzentuierungen zu berücksichtigen haben, die jeweils eine unterschiedlich große Nähe zu weisheitlichen und prophetischen Elementen belegen. 22 Mit J.J. COLLINS (The Place of Apocalypticism in the Religion of Israel, in: ders., Seers, Sibyls and Sages in Hellenistic-Roman Judaism, SJSJ 54, Leiden/New York/Köln 1997 [= 2001], 39-57 [57]), ist insgesamt wohl zu Recht von einer „new creation" zu sprechen. Vgl. DERS., Wisdom, Apocalypticism and the Dead Sea Scrolls, in: a.a.O., 369-383; J. FREY, Different Patterns of Dualistic Thought in the Qumran Library, in: M. Bernstein/F. Garcia Martinez/J. Kampen (Hg.), Legal Texts and Legal Issues. Proceedings of the Second Meeting of the International Organization of Qumran Studies, Cambridge 1995, Published in Honor of J.M. Baumgarten, StTDJ 23, Leiden 1997, 275-335. 23 Zur Gattungsdiskussion siehe insbes. J.J. COLLINS, Introduction: Towards the Morphology of a Genre, Semeia 14 (1979), 1-20; vgl. DERS., Daniel (s. Anm. 8), bes. 6 24; DERS., Art. Apocalypses (s. Anm. 10), 283(l.Sp.)-284(r.Sp.); vgl. auch HANSON, Art. Apocalypses (s. Anm. 10), 280(l.Sp.)-281(l.Sp.). 24 Vgl. COLLINS, Jewish Apocalypses (s. Anm. 10), bes. 22-24. 25 Hierzu gehören insbesondere Daniel 7 - 1 2 , das Buch der Traumvisionen und Wochenapokalypse in 1 Hen; das 4. Esra-Buch und die syrische Baruch-Apokalypse. 21

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zeitlich organisiert sind. Hinzu kommen geschichtliche Erfahrungen mit den real sich immer wieder ablösenden Weltreichen und ihren Herrschern. Deren Existenz läßt zwar die Frage nach der Gegenwart Gottes bei seinem Volk laut werden und es beginnt sich eine universale Perspektive Bahn zu brechen. Auf der anderen Seite deutet sich aber in der Erfahrung der Unbeständigkeit dieser Weltreiche auch ein Ausweg aus der brüchig gewordenen Erfahrung der Gottesnähe an, insofern die Geschichte so interpretiert wird, daß ein Gefälle besteht, da ihr Zielpunkt auf die Ablösung dieser Reiche durch die universale Gottesherrschaft hinausläuft. Daneben existiert allerdings auch ein räumlich, spatial-,jenseitig' ausgerichteter Vorstellungskomplex, der insbesondere durch die vielfaltig angelegte Konzeption von Himmelsreisen eine prägnante Umsetzung erfährt 26 . Insgesamt ist augenfällig, daß ein sehr komplexes Netzwerk von Vorstellungen und Konzepten vorliegt, die sich teils sinnvoll ergänzen, aber teils auch nicht vollkommen kompatibel miteinander erscheinen. Deutlich ist jedenfalls, daß die in der älteren Forschung so dominante Konzentration auf den zeitlichen Aspekt - vor allem in Gestalt eines Äonen-Dualismus und durch die Betonung der eschatologischen Naherwartung - angesichts der Ergebnisse der Gattungsforschung nicht mehr haltbar ist. Ein gemeinsamer Nenner aller apokalyptischen Denkbewegungen und -muster liegt dennoch im Welt- bzw. Geschichtsverständnis. Hierbei wird sowohl ein weisheitliches Ordnungsdenken als auch ein eher prophetisch akzentuierter Ansatz propagiert, der an der Geschichtsmächtigkeit Gottes festhält, aber zugleich dessen Transzendenz betont. Die Einführung einer kosmischen Ebene mit wirkmächtigen Zwischenwesen bietet schließlich neue und weitergehende Erklärungsmöglichkeiten des Weltgeschicks wie auch eine gewisse Entlastung Gottes von den Übeln dieser Welt. Allerdings wird auch dies bereits in den antiken Texten kontrovers diskutiert, da es ebenso starke Strömungen gegeben hat, die die Eigenverantwortlichkeit des Menschen für den Zustand der Welt betonen. Hierin unterscheidet sich tendenziell auch die Mehrheit der jüngeren Texte von zahlreichen älteren. Insbesondere das nach der Tempelzerstörung entstandene 4. Esra-Buch und die syrische Baruch-Apokalypse zeigen hier durch die Einbeziehung der Tora exklusive Züge, da sie die Menschen bei ihrer Verantwortlichkeit behaften. Hier spiegeln sich auch sonst im Frühjudentum verbreitete Ansätze und es zeigt sich, daß keineswegs zwangsläufig ein unüberwindlicher Graben zwischen einer Torafrömmigkeit und apokalyptischen Denkmustern bestanden haben muß. Darüber hinaus spie26 Hierzu gehören sehr unterschiedliche Texte wie das Wächterbuch, die Bilderreden und das astronomische Buch in 1 Hen sowie 2 Hen, ApkAbr 15-32 und zahlreiche andere Texte. Diese Tradition findet daneben auch in der jüdischen Mystik sowie in gnostischen Texten eine gewisse Fortsetzung.

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len noch andere, teilweise konkurrierende anthropologische Konzepte wie der „böse Trieb" und das „böse Herz" - eine Rolle, die ebenso deutlich das Dilemma menschlicher Verantwortlichkeit andeuten 27 . Insgesamt treffen sich allerdings fast alle Ansätze vom Standort göttlicher Weisheit aus in der Möglichkeit einer neuen Orientierung in der Erfahrung der Angefochtenheit der eigenen Existenz. Hierbei ist es gleichgültig, ob es um die Erläuterung der Entstehung der als böse verstandenen Gegenwart geht, oder um ein auf eine Verhaltensänderung angelegtes Denken, oder um das contrafaktische Festhalten an der Geschichtsmächtigkeit Gottes. Daß hierbei nicht nur aus heutiger Sicht eine Reihe von Problemen bestehen, braucht nicht eigens betont zu werden. Ebenso braucht nicht gesondert erwähnt zu werden, daß insbesondere die frühjüdischen apokalyptischen Texte, deren strukturelle und konzeptionelle Eigenarten hier allenfalls angedeutet werden konnten, den Hintergrund für zahlreiche neutestamentliche Vorstellungen und Muster bilden. Doch sei über die unübersehbaren Gemeinsamkeiten bereits an dieser Stelle auch auf einen Unterschied aufmerksam gemacht, der leicht in der Fülle der Parallelen unterzugehen droht. Denn die vielleicht bedeutsamste Differenz zwischen der frühjüdischen und der frühchristlichen Apokalyptik besteht im Hinblick auf das eschatologische Verständnis selbst bzw. im Blick auf den Anbruch des Heils. Denn, was die meisten jüdischen Texte anbelangt, so ist dort ein bereits gegenwärtiger Anbruch des Heils weithin ausgeschlossen. Als eine gewisse Ausnahme können hier allenfalls manche spiritualisierende Vorstellungen im Sinne einer Partizipation am himmlischen Gottesdienst oder das Auftreten messianischer Prätendenten wie des Bar Kokhba dienen, doch bleiben auch diese Vorstellungen hinter den urchristlichen Auffassungen von einem bereits in der Gegenwart sich ereignenden Heilsanbruch zurück. Bedeutend ist freilich insbesondere auch das, was dieses Verständnis mit den zukünftigen Erwartungen macht. Denn die27 Hier besteht ein breites Diskussionsfeld unterschiedlicher Ansätze. Aufschlußreich erweist sich darin beispielsweise die Diskussion um das Verständnis des cor malignum zwischen KLAUS KOCH (s. bes. Esras erste Vision. Weltzeiten und W e g des Höchsten, in: ders., Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur [Ges. Aufs. Bd. 3] hg. v. U. Glesmer u. M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1996, 7 7 - 1 0 6 [ 9 0 - 9 2 Anm. 11]), EGON BRANDENBURGER (Adam und Christus. Exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu Rom 512-21 [l.Kor. 15], W M A N T 7, Neukirchen 1962, 2 7 - 3 6 ; DERS., Die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen. Das literarische und theologische Problem des 4. Esrabuches, AThANT 68, Zürich 1981, 191 mit Anm. 109) und WOLFGANG HARNISCH (Verhängnis und Verheißung der Geschichte. Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syr. Baruchapokalypse, FRLANT 97, Göttingen 1969, 4 2 - 5 1 ) . Doch gilt es hier ein größeres Umfeld mit verschiedenen Übergängen (vgl. bes. TestXII und 1QS sowie vor allem 4 Esr) und Wandlungen mitzubedenken. Mit der Integration psychologisch-anthropologisch interpretierbarer Faktoren wird allerdings wiederum die Bandbreite apokalyptischer Vorstellungen und Konzepte sichtbar.

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se erfahren eine Modifikation: die Zukunft bringt nicht die Verwirklichung des Heils, sondern dessen Vollendung - eine Vollendung, die freilich bereits in der Gegenwart Jesu Christi angebrochen ist bzw. war. Hier liegt ein Schnittpunkt, in welchem die mit Jesus und dem frühen Christentum verbundenen Heilserwartungen kulminieren - ein Schnittpunkt, in dem sich nicht nur Gegenwart und Zukunft der Erwartungen treffen, sondern auch die Hoffnung und deren Verzögerung - mit unabsehbaren Konsequenzen für das Welt- und Geschichtsverständnis insgesamt wie dem Potential für neue Konflikte im Blick auf die angedeutete Vollendung. Damit sind in recht groben Strichen wichtige Züge und Bestandteile apokalyptischer Vorstellungen skizziert. Sie bieten den Rahmen, in welchem die nachfolgenden Beiträge ihren Standort beziehen. Diese sind ähnlich plural angelegt wie die „Apokalyptik" selbst und benutzen verschiedene methodische Ansätze, um sich den Erscheinungen zu nähern. Die Beiträge vereint, daß sie insbesondere die Auswirkungen apokalyptischer Konzeptionen im frühchristlichen Bereich in den Blick nehmen. Sie betrachten die Aufnahme und Rezeption entsprechender Erscheinungen teils direkt in neutestamentlichen und frühchristlichen Texten teils aber auch im Spiegel der zeitgenössischen Umwelt und sie nehmen darüber hinaus die Wirkungen bis in unsere Tage auf. Einige inhaltliche Anmerkungen seien an dieser Stelle zur Orientierung noch mit auf den Weg gegeben. Die ersten fünf Beiträge sprechen als Rezeptionsort apokalyptischer Vorstellungen das Neue Testament selbst an. Ausgehend von der Jesustradition über das Markusevangelium, den Römerbrief, den 2. Thessalonicherbrief sowie schließlich die Johannesapokalypse stehen dabei zentrale Textbereiche im Mittelpunkt der jeweiligen Untersuchungen. Neben dem Interesse an den historischen Bezügen werden dabei auch literarische, argumentationstheoretische und sozialgeschichtliche Aspekte in den Blick genommen. JÖRG FREY knüpft in seinen Einleitungsbeitrag an die aktuelle exegetische Diskussion um die Zuordnung Jesu zur Apokalyptik an. „Das angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten", wie es Klaus Koch in einem treffenden Diktum zum Ausdruck gebracht hat, gibt den Tenor der Diskussion bis in die Gegenwart an. Sie kulminiert in der Aufassung, Jesu Verkündigung entweder von ihren zeitbedingten zum Teil jüdisch partikularistischen und ,mythologisch'-spekulativen Vorstellungen zu distanzieren, um auf diese Weise den ethischen Kern oder das ,Kerygma' herauszupräparieren. Demgegenüber geht FREY den Weg einer historischen Rückfrage auf der Höhe der Forschung. Dabei sind Verschiebungen in der Forschungsgeschichte zu beachten, welche weder eine Abwertung der Apokalyptik noch die Entgegensetzung Jesu zu ebendieser erlauben. Der Übergang

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zu einem deskriptiven Ansatz, die differenziertere Gattungsbestimmung, die Einbeziehung nicht-literarischer Phänomene und Ähnliches mehr trugen zu diesen Veränderungen bei. Darüber hinaus wurde die zeitliche Ansetzung der Phänomene aufgrund des handschriftlichen Befundes nach vorne korrigiert, was auch dazu fährte, die Apokalyptik von einer einseitigen Verortung als bloße Krisenliteratur deutlicher abzuheben. Zu Wandlungen kam es auch hinsichtlich der Einordnung der Zukunfts- bzw. Naherwartung, welche vormals sehr dominant erschien. Dies alles trägt zu einer differenzierteren Beurteilung der Gestalt Jesu von Nazareth bei, der offenbar „stärker an apokalyptische Elemente angeknüpft und diese wesentlich positiver aufgenommen hat, als dies die exegetische Forschung lange Zeit zugestehen wollte". Dies wird im Gegenüber zu aktuellen Alternativentwürfen unter historischen Gesichtspunkten plausibel zu machen gesucht, wobei dem Verhältnis zu Johannes dem Täufer ebenso eine Schlüsselrolle zukommt wie dem urchristlichen Osterglauben, wodurch Herkunft und Wirkung bezeugt werden. Im Zentrum der Verkündigung Jesu steht die Basileia, deren Zukünftigkeit wie Gegenwärtigkeit als komplementäre Bestandteile erfaßt werden, wobei letztere im Sinne einer „aufs Äußerste gesteigerte(n) Apokalyptik" gedeutet wird, welche in der Bindung des Bösen durch die Exorzismen ihren prägnanten Ausdruck findet. Insofern widersprechen die Gegenwartsaussagen nicht einer apokalyptischen Interpretation, sondern die sich Bahn brechende eschatologische Gottesherrschaft „läßt sich sachgemäßer als auf ihn selbst konzentrierte und insofern gesteigerte Form apokalyptischen Denkens verstehen". Dies wird durch weitere apokalyptische Elemente in der Verkündigung Jesu - wie der Rede vom „Menschensohn", der Gerichtsvorstellung, der Auferstehungshoffnung und Aspekten der Wiederherstellung Israels - unterstützt. Abgeschlossen werden die Ausführungen durch einige hermeneutische Überlegungen, welche die Relevanz wie die bleibende Herausforderung der dargelegten Ergebnisse für die neutestamentliche Wissenschaft im Rahmen der Theologie insgesamt beleuchten. Die Apokalyptisierung und Literarisierung prophetisch-eschatologischer Überlieferungen ist Thema des Beitrags von EVE-MARIE BECKER, die dieser Fragestellung im Blick auf Mk 13 nachgeht. Mittels narratologischer, kompositionskritischer, motivgeschichtlicher und historischer Untersuchungen werden verschiedene Aspekte des Textes verständlich: Der vormarkinischen Wachstumsprozeß, die Verankerung vieler Motive in traditioneller Prophetie und Apokalyptik, sowie die zeitgeschichtliche Einbindung, die der Evangelist selbst vorgenommen hat. Dabei wird der Zusammenhang der markinischen Komposition mit dem jüdischen Krieg und der Tempelzerstörung durch einen Vergleich mit Josephus deutlich.

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Unter primär funktionalen Gesichtspunkten geht KLAUS-MICHAEL BULL dem Motiv des Endgerichts in der Argumentation des Römerbriefes nach. Seine Textauswahl konzentriert sich auf Ausschnitte aus den Kapiteln 2 und 14. BULL bedient sich dabei einer von J. Kopperschmidt im Anschluß an S. Toulmin entwickelten Argumentationsanalyse, deren Hauptziel in der Herstellung eines rational motivierten Einverständnisses gesehen wird. Ein wichtiges Ergebnis der Analyse von Rom 2,1-16 ergibt sich vor allem daraus, daß Paulus die Gerichtsvorstellung nicht selektiv einsetzt, sondern Juden wie „Heiden" in gleicher Weise dem Gericht unterstellt sieht. Zudem wird die Gerichtsvorstellung an den argumentationstheoretisch wichtigen Schaltstellen eingesetzt. Sie ist die gemeinsame theologische Basis, die Paulus und seine intendierten Adressaten verbindet. Ähnliches gilt auch für den Argumentationszusammenhang in Kapitel 14, da auch dort die Gerichtsvorstellung als Argument in der Auseinandersetzung zwischen den Gruppierungen eingesetzt wird. Sie hat daher als die gemeinsame Traditionsbasis zu gelten - auch wenn ein gewisser Spielraum für Interpretationen bleibt. Im Rahmen einer Aktualisierung apokalyptischer Vorstellungen stellt sich unmittelbar die Frage nach deren Funktion im jeweiligen Argumentationszusammenhang. PAUL METZGER deutet den 2. Thessalonicherbrief nicht als Dokument einer „Paulusschule", sondern verortet den Brief in einem Traditionsstrom, dem auch die Johannesapokalypse entstammt. Die starke apokalyptische Prägung des Pseudonymen Briefes zeigt eine enge Verwandtschaft mit der Johannesapokalypse: Die hohe Bedeutung von Gegenfiguren, das vor allem im 2. Thessalonicherbrief besonders wichtige Motiv der Verzögerung sowie die für beide Texte wahrscheinliche zeitgeschichtliche Verortung. All dies verweist darauf, den 2. Thessalonicherbrief als Zeugnis apokalyptischer und nicht paulinischer Theologie zu interpretieren. In ihrem Beitrag zu Apk 12 zeigt HEIKE OMERZU beispielhaft die polemische Absicht vieler apokalyptischer Texte. Der Seher Johannes nimmt nämlich nicht nur alttestamentlich-jüdische Elemente positiv auf, sondern spielt in seinem Text auch in Einzelheiten auf den römischen Kaiserkult und seine Intensivierung durch Domitian an. Pagane mythologische Motive, die in der Kaiserverehrung eine Rolle spielten, und konkrete vor allem auf Münzen dokumentierte Entwicklungen in der 80er Jahren des 1. Jahrhunderts wurden vom Apokalyptiker aufgenommen, um seine Gegendarstellung einer Heilsgeschichte zu verfassen. Dies verdeutlicht auch die zeitliche wie geographische Kontextgebundenheit apokalyptischer Überlieferungen. Drei weitere Beiträge nehmen sich des frühchristlichen Umfeldes an. Mit dem 2. Klemensbrief, dem Thomas-Evangelium und dem JohannesApokryphon stehen dabei sehr unterschiedlich akzentuierte Schriften und

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Interessen zur Diskussion, die einen verschiedenartigen Umgang mit apokalyptischen Traditionen bezeugen, die von affirmativer Bestärkung bis zu einer Entapokalyptisierung von bekannten Jesustraditionen reicht. Für eine apokalyptische Prägung des Christentums in der Mitte des 2. Jahrhunderts kann der 2. Klemensbrief stehen, dem sich der Beitrag von WILHELM PRATSCHER widmet. An dieser Schrift zeigt sich unter anderem, daß das Problem der Parusieverzögerung und der Zweifel an einem Ende der Welt bewältigt werden mußte. Typisch für den Verfasser des 2. Klemensbriefes ist dabei die paränetische Wendung, die er der apokalyptischen Erwartung gibt: Erst wenn die Adressaten und Adressatinnen das rechte Verhalten an den Tag legen, könne mit einer Gegenwart des Reiches Gottes gerechnet werden. Gegen eine implizite präsentische Erwartung setzt der Verfasser allerdings apokalyptische Traditionen, so daß im Endeffekt die Äonenwende auf eine Zeit nach dem individuellen Tod angesetzt wird. Wird bei der Rückfrage nach der Botschaft Jesu gewöhnlich bei den ältesten Quellen angesetzt, so wendet sich ENNO EDZARD POPK.ES in seinem Beitrag zur Transformation apokalyptischer Motive in der Jesusverkündigung mit dem Thomas-Evangelium einem jüngst vieldiskutierten, aber in seinem Quellenwert auch höchst umstrittenen Dokument zu. Leitendes Interesse ist dabei die Auseinandersetzung mit dem aktuell diskutierten Bild eines unapokalyptischen Jesus. Dazu werden verschiedene apokalyptische Motive im Thomas-Evangelium herausgearbeitet, wobei auffallt, daß diese nur im koptischen Textbestand vorhanden sind. Insbesondere Logion 51 sowie fünf weitere Stellen werden untersucht und in ihrem Aussagegehalt erörtert. Dabei wird eine Vernetzung der Aussagen deutlich, wobei inhaltlich die Erwartung einer zukünftigen „neuen Welt" zugunsten einer protologischen Aussage zurückgewiesen wird. Trotz erheblicher Interpretationsprobleme, lassen sich gnostische Überlegungen kaum bestreiten. In einer weiterführenden Klärung wird schließlich versucht, die apokalyptischen Motive funktional und religionsgeschichtlich einzuordnen. Auch hier kann nur eine Differenz zum neutestamentlichen Befund festgehalten werden, da der „neuen Welt" im Thomas-Evangelium keine positive Bedeutung zukommt. Abschließend wird eine Korrelation zu den beiden Codices gesucht, die in den Nag Hammadi-Schriften in unmittelbarer Nachbarschaft zum Thomas-Evangelium stehen. Auffällig daran ist, daß sich dort vor allem Parallelen zu dem Traditionsgut finden, zu welchem es kein neutestamentliches Vergleichsmaterial gibt (EvThom 19,1; EvPhil 57). Hier zeigt sich ein eigener Überlieferungsstrang mit Affinität zu gnostischen Konzeptionen. Das Johannes-Apokryphon zeigt vielseitige Anknüpfungspunkte mit apokalyptischen Traditionen. JUTTA LEONHARDT-BALZER arbeitet hierzu

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im Dialog mit der gnostischen Prägung des Werkes formale wie inhaltliche Aspekte heraus. Neben der Form eines Offenbarungsgespräches wird sowohl dem ausgeprägten Dualismus nachgegangen als auch den angelologischen und dämonologischen Denkstrukturen, wobei auch starke astrologische Einflüsse registriert werden. Die ausgesprochen negative Weltsicht spitzt sich in einem Kampfgeschehen und einer allgemeinen Gerichtserwartung zu. Hierbei gibt es nur für die einzelne Seele bzw. die vom Handeln der Pronoia besonders angesprochenen Nachfahren Seths eine Rettung. Über die apokalyptischen Motive hinaus zeigt sich vor allem eine eher typisch gnostische Rückbesinnung auf das ursprüngliche Schöpfungshandeln. Trotz der unübersehbaren Bezüge zwischen apokalyptischen und gnostischen Vorstellungen wäre es allerdings zu kurz gedacht, hinter der gnostischen Umformung bloß enttäuschte apokalyptische Erwartungen als Anlaß zu vermuten. Die weiteren Beiträge nehmen sich des zeitgeschichtlichen Umfeldes und der forschungsgeschichtlichen Aktualisierung im Blick auf die apokalyptischen Vorstellungen an. Mit dem paganen Traditionen und den Auffassungen in frührabbinischer Zeit stehen dabei zwei sehr weite Horizonte zur Diskussion, deren Bedeutung vor allem darin liegt, daß sie auf unterschiedliche Weise sowohl über die Rezeptionsmöglichkeiten wie deren Beschränkungen in der Umwelt des frühen Christentums Auskunft geben. Daß die neutestamentlichen Autoren und Autorinnen in ihren eschatologischen Aussagen auch von paganen Erwartungen hinsichtlich einer Existenz nach dem Tod geprägt waren, zeigt der Beitrag von IMRE PERES. Er faßt darin die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift in dem Sinne zusammen, daß er die Eigenheiten einer positiven griechischen Eschatologie beschreibt, wie sie etwa in der Orphik, den Mysterien, aber auch bei Plato oder Kallimachos zum Ausdruck kommen. Dazu gehören etwa die Hoffnung auf eine Entrückung zu den Göttern und ein ewiges Zusammenleben mit ihnen, die Rede von einer Vergöttlichung bzw. Gotteskindschaft und ähnliches mehr. Vergleiche mit neutestamentlichen Texten zeigen, daß diese trotz aller Differenzen sowohl konzeptionell als auch in einzelnen Motiven pagane Erwartungen aufnahmen und transformierten. Dadurch konnte auch die Rezeption frühchristlicher Apokalyptik bei einem paganen Publikum gelingen. In seinem Beitrag zur jüdischen Rezeption apokalyptischer Ansätze nach der Tempelzerstörung geht MICHAEL BECKER auf eine Reihe von verschiedenen Phänomenen ein. Neben der Forschungsdiskussion werden zunächst methodische Probleme und deren Bedeutung im Blick auf die frührabbinischen Texte erörtert. Darüber hinaus werden die geschichtlichen Entwicklungen - vor allem hinsichtlich der Bedeutung des Bar Kokhba-Aufstands - für die Gesamtentwicklung sowie die Bedeutung zeitgenös-

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sischer Apokalypsen - wie dem 4. Buch Esra und der syrischen Baruchapokalypse - in die Diskussion einbezogen. Deutlich wird bereits hier, daß die Ereignisse dieser frühen Epoche eine ganz entscheidende Bedeutung für die Haltung und das Verständnis der frühen Rabbinen sowie einen Wandel in der Darstellung ihrer Auffassungen zukommt. Entgegen dem vielfach geäußerten Urteil, daß apokalyptische Traditionen von den Rabbinen nicht oder nur negativ rezipiert wurden, zeigt sich einerseits die Notwendigkeit einer historischen Differenzierung und andererseits verraten die in den Texten noch wahrnehmbaren Spuren apokalyptischer Vorstellungen mehr über die Rabbinen und ihre Einordnung in die Entwicklung des zeitgenössischen Judentums als gewöhnlich den Quellen zugetraut wird. Die beiden abschließenden Beiträge stellen endlich die Verknüpfung zum Heute her. Denn es war gerade Ferdinand Christian Baur, der mit seiner Art und Weise, Theologie als „historisch-kritische Wissenschaft" zu betreiben, einen Meilenstein auf dem Weg zu einem modernen Verständnis darstellt. Eine Aktualisierung wird allerdings weder in einer Repristinierung eines apokalyptischen Kultes noch in einer Verdrängung apokalyptischer Traditionen, sondern allenfalls in einer bewußten Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen bestehen können. ALF CHRISTOPHERSEN handelt in seinem Beitrag zur Rezeption der Johannesoffenbarung im Werk Ferdinand Christian Baurs über einen für die Frühzeit der Apokalyptikforschung sehr wichtigen Autor. Entscheidet sich Baur in der Frage der Authentizität allein für die Johannesapokalypse, so wird sie im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen zu einem Paradigma im Gesamtbild der frühchristlichen Entwicklung, das auf zwei gegensätzlichen Strömungen aufruht. Hierbei werden vor allem die juden- und heidenchristlich ausgerichteten Ansätze gegenübergestellt, wie sie prototypisch in den echten Paulusbriefen und eben der Johannesapokalypse identifiziert werden. Späterhin profiliert Baur seinen Ansatz vor allem gegen de Wette, wobei dann auch die Briefliteratur in die Diskussion mit einbezogen wird. In Auseinandersetzung mit Auberlen und Hengstenberg kommt Baur schließlich in der pointierten Gegenüberstellung von Paulusbriefen und Johannesapokalypse zu einer sehr kritischen Bewertung der Apokalypse als Ausdruck eines zu überwindenden Judaismus'. Deren letztlich ungeschichtlicher Umgang mit der Geschichte widerstreitet nach Baur dem Christentum, da er auf keine Entwicklung, sondern eine plötzlich hereinbrechende Katastrophe abhebe und ein von Rache geleitetes Denken vertrete. Über den Horizont frühchristlicher Aussagen hinaus ist zu fragen, welche Bedeutung die Apokalyptik in der heutigen Zeit (noch) hat. ULRICH H J . KÖRTNER geht dieser Frage nach und sieht angesichts der gesellschaft-

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liehen Stimmung der Bedrohung die Auseinandersetzung mit der Apokalyptik als eminent wichtige Aufgabe der Theologie an. Dies hat sowohl in Anknüpfung als auch in Kritik zu geschehen, denn apokalyptisches Denken ist ein zweideutiges Phänomen. KÖRTNER versteht in diesem Sinne das Christentum als Aufhebung der Apokalyptik - nicht im Sinne einer Negation, sondern als Weg zu einer Haltung des Mutes, auch angesichts des Wissens um die Katastrophalität der Welt.

II. Jesus und das Neue Testament

Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik 1 von JÖRG FREY

1. „Jesus apokalyptisch?" ein Disput und seine hermeneutisehen Implikationen Im dritten Heft der neugegründeten „Zeitschrift für Neues Testament" erschien 1999 eine bemerkenswerte Kontroverse zwischen Klaus Koch, dem emeritierten Hamburger Alttestamentier, und Folker Siegert, dem in Münster lehrenden Judaisten und Neutestamentier, über die Frage, inwiefern der irdische „Jesus apokalyptisch" gewesen oder überhaupt „Jesus apokalyptisch" zu deuten sei 2 . Während Koch aus seiner stupenden Kenntnis der jüdischen Apokalyptik, insbesondere des Danielbuches und der aramäischen Texte von Qumran, die Verkündigung Jesu, seine Rede vom ,Reich Gottes' und vom .kommenden Aion', seine Selbstbezeichnung als ,der Menschensohn' und seine Kritik am zeitgenössischen Tempelkult sowie die früheste Deutung der Ostererfahrungen historisch-kritisch vor dem Hintergrund der jüdischen Apokalyptik erklärt, nimmt Siegert in seiner 1

Meinem Kollegen Eckart Otto zum 19. August 2004 gewidmet. Die Studie geht auf einen Vortrag zurück, der am 6.2.2003 im Rahmen der neutestamentlich-religionswissenschaftlichen Studientagung der Evangelisch-theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München gehalten und für den Druck wesentlich erweitert wurde. Meinen Mitarbeitern Dr. Michael Becker und Juliane Schlegel (München) danke ich herzlich für die Mithilfe bei der Erstellung der Endfassung und bei den Korrekturen. 2 K. KOCH, Jesus apokalyptisch, ZNT 3 (1999), 4 1 ^ 9 ; F. SlEGERT, Die Apokalyptik vor der Wahrheitsfrage - Gedanken eines Lesers zum vorstehenden Artikel von Klaus Koch, ZNT 3 (1999), 50-52. Der Titel des Aufsatzes von Koch „Jesus apokalyptisch" hält semantisch geschickt die beide zeitlichen Dimensionen der Frage offen: Geht es um die Vergangenheit des irdischen oder ,historischen' Jesus (also ,War Jesus Apokalyptiker?') oder geht es um den gegenwärtigen Verstehensrahmen und damit um die theologische Wahrheit der apokalyptischen Elemente in der Predigt Jesu (in dem Sinne, in dem dann Siegert die Frage aufgreift)?

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Antwort eine ganz andere Perspektive und Position ein. Er stellt die Apokalyptik vor die „Wahrheitsfrage" - und das Urteil fällt vernichtend aus. Möge es auch einer „exegetical correctness" entsprechen, zu den neutestamentlichen Texten religionsgeschichtliche Parallelen aus der jüdischen Apokalyptik (und anderen Traditionsströmen) zu sammeln und vor diesem Hintergrund „exegetische Richtigkeiten" zusammenzutragen - eine theologische Wahrheit sei darin jedenfalls nicht zu finden. Siegert fragt: Was ist ,wahr' an der Apokalyptik? „Welcher Apokalyptiker seit ,Daniel' hätte etwas Wahres oder wenigstens Richtungweisendes über die vor ihm liegende Zukunft zu sagen gewußt?" 3 Sind die apokalyptischen Aussagen über das nahe Ende nicht ein „Pseudo-Wissen", dessen einzige Wahrheit die Wahrheit „des Protestes" der „Zukurzgekommenen der Geschichte" ist, dem aber sachlich erwiesenermaßen keine Wahrheit zukomme 4 ? So mündet Siegerts Plädoyer schließlich in die Aussage, daß der Glaube sich „nicht aus visionären Ereignissen, sondern aus der im Wort der Versöhnung erfahrenen Gotteskindschaft" 5 nähre. Nicht die weltanschaulich überholten Worte der Naherwartung Jesu, sondern „das Kerygma" oder die Aussage, daß Jesus Christus selbst „das Wort Gottes" ist, das uns „als Wort der Versöhnung" anspricht 6 , seien theologisch ,wahr'. Diese Antwort von einem Exegeten und Historiker, der in der spätantiken Religionsgeschichte bestens ausgewiesen ist und an dessen philologischer und religionswissenschaftlicher Kompetenz kein Zweifel bestehen kann, gibt zu denken. Der Disput zwischen Koch und Siegert ist gerade deshalb aufschlußreich, weil er nicht zwischen einem religionsgeschichtlich .aufgeklärten' Historiker und einem primär dogmatisch interessierten Theologen vor sich geht, vielmehr zeigen sich bei zwei gleichermaßen religionswissenschaftlich kompetenten Autoren völlig konträre Perspektiven. Und die neutestamentliche Wissenschaft sieht sich vor der Aufgabe, beide Perspektiven in angemessener Weise zu verbinden - sofern sie sich nicht mit bloß historischen oder religionshistorischen Erklärungen' zufriedengeben will 7 . Die Fragen entzünden sich an den Aussagen der jüdischen Apokalyptik, die nach Siegerts Urteil in vielem als „Pseudo-Wissen" über Gott, die Welt und ihre Zukunft und damit als falsche Prophetie anzusprechen sind, weil das in ihnen erwartete und farbenprächtig vorgestellte Ende bis heute nicht 3

SlEGERT, Apokalyptik (s. Anm. 2), 50. A.a.O., 50. 5 A.a.O., 52. 6 A.a.O., 51. 7 Ein solcher Rückzug auf rein historisches .Erklären' erfolgt zwar gelegentlich mit Hilfe der Sammlung von religionsgeschichtlichen .Parallelen', aber solche Parallelen fuhren als solche noch nicht zu einem hinreichenden Verstehen der aufgegebenen Texte oder der hinter ihnen stehenden geschichtlichen Phänomene. 4

Jesus und die Apokalyptik

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eingetreten ist. Sie entzünden sich nicht allein, aber besonders heftig an der Gestalt Jesu von Nazareth, die für christliche Verkündigung und Theologie schlechterdings grundlegende Bedeutung hat. Das hermeneutische Problem zeigt sich besonders, wenn man die Frage nach der Wahrheit des Gegenstandes der Betrachtung nicht ausklammert. Und eine derart uninteressierte' Betrachtung scheint selbst dort nicht zu gelingen, wo man behauptet, völlig ,undogmatisch' an die Frage nach Jesus und seinen religionsgeschichtlichen Kontexten heranzugehen. Keine historische und religionsgeschichtliche Beschäftigung mit Jesus erfolgt völlig frei von der Frage nach der Bedeutung dieser Gestalt8, und insofern steht jede historische Nachfrage in einem hermeneutischen Zirkel, in dem ein Vorverständnis, ein mögliches applikatives Interesse und die Frage nach der Wahrheit', auf die Kriterien und Resultate der historischen Rekonstruktion zurückwirken9. Im Rahmen der theologischen Interpretation der Gestalt Jesu haben sich diese Fragen seit den Anfangen der historischen Bibelwissenschaft besonders an der Eschatologie, konkret: der Enderwartung Jesu und des Urchristentums, entzündet10. Die kritische Beobachtung, daß das von Jesus und seinen Jüngern erwartete baldige Ende mit dem Anbruch des Reiches Gottes bzw. der Parusie nicht eingetreten war, hatte die christliche Lehre insgesamt in den Verdacht des .Betrugs' gebracht und damit umgekehrt Versuche ausgelöst, aus apologetischen Gründen zumindest Jesus selbst solche Erwartungen abzusprechen, diese im geistigen oder moralischen Sinn um-

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Prinzipiell gilt dies für jede Beschäftigung mit einer Gestalt der Vergangenheit, für die Gestalt Jesu in Anbetracht der durch ihn ausgelösten Wirkungsgeschichte a forteriori. Jede Beschäftigung mit ihm impliziert in irgendeiner Weise eine Stellungnahme zur Frage nach seiner Bedeutung. Zu den geschichtswissenschaftlichen Problemen s. jetzt J. SCHRÖTER/A. EDDELBÜTTEL (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichtstheoretischer und theologischer Perspektive, TBT 127, Berlin/New York 2004, besonders J. RÜSEN, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte - Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, ebd., 19-32, der das Verhältnis zwischen der historisches Wissen erzeugenden Fachwissenschaft und der von Interessen und Orientierungsbedürfnissen geprägten Lebenspraxis reflektiert, aber damit auch zeigt, daß es keine von den genannten praktischen Bedürfnissen völlig freie Geschichtsbetrachtung geben kann. 9 Dies zeigt nicht zuletzt der kritische Blick auf die Diskussionen des nordamerikanischen ,Jesus-Seminar', deren resultierendes Jesusbild alles andere als ,undogmatisch' ist (dazu s.u. Abschnitt 4.). 10 Nach der Feststellung von A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (= 2. Aufl. 1913), UTB 1302, Tübingen 9 1984, 65, war der Wolfenbütteler Ungenannte, Hermann Samuel Reimarus, „der erste, der nach achtzehn Jahrhunderten wieder ahnte, was Eschatologie sei", und dabei zugleich „die Vorstellungswelt Jesu historisch, d.h. als eschatologische Weltanschauung", erfaßte. Vgl. H.S. REIMARUS, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (hg. G. Alexander) I—II, Frankfurt a. M. 1972 (dort besonders Bd. II).

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zuinterpretieren oder als bloße .Akkomodation' an das Fassungsvermögen seiner jüdischen Zeitgenossen zu deuten 11 . Mit der zunehmenden Erforschung und Erschließung der jüdischen Apokalyptik hat sich im 19. Jahrhundert das Befremden über deren teils bizarre Vorstellungen weiter verstärkt, so daß man weite Teile der neutestamentlichen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts mit einem treffenden Diktum von Klaus Koch charakterisieren kann als „das angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten"12. Dieses Bemühen „hält bis heute an" 13 - wie der Blick auf neuere Interpretationen der Gestalt Jesu von Nazareth lehrt 14 . Die Alternative läßt sich - vereinfacht - so formulieren: Wenn die geschichtliche Gestalt Jesu von Nazareth grundlegend und maßstäblich für die christliche Verkündigung und Theologie bzw. für ein gegenwärtiges religiöses Selbstverständnis sein soll, dann kann man Jesus nicht ohne gleichzeitige Distanzierung aus dem Kontext der zeitbedingten, jüdischpartikularistischen, ,mythologisch'-spekulativen Vorstellungen, wie sie in apokalyptischen Texten begegnen, verstehen. Wenn sich andererseits herausstellen sollte, daß Jesus historisch in diesem Rahmen dachte und lehrte, dann kann er - zumindest als historische Gestalt - nicht mehr wegweisend für eine gegenwärtige religiöse oder ethische Orientierung sein. Bedeutung kann ihm dann nur so zukommen, daß nicht das historische Auftreten des irdischen Jesus von Nazareth, sondern ein durch Abstraktion gewonnenes Substrat zugrunde gelegt wird, so z.B. der von der Schale der zeitbedingten Vorstellungen gelöste ethische Kern oder das historischer Rückfrage letztlich nicht mehr zugängliche ,Kerygma'. Doch dann stellt sich die andere Frage, inwiefern dieses Substrat noch etwas mit der geschichtlichen Gestalt Jesu von Nazareth zu tun hat, auf die sich doch die urchristliche Verkündigung grundlegend zurückbezieht. Hier lag der Ansatz der einst von Ernst Käsemann gegenüber der kerygmatheologischen .Orthodoxie' seines Lehrers Rudolf Bultmann aufgeworfenen ,neuen Frage' nach dem

11 Vgl. dazu J. FREY, Die johanneische Eschatologie I: Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997, 10-12. 12 K. KOCH, Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schädlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh 1970, 55; zitiert auch in DERS., Jesus apokalyptisch (s. Anm. 2), 42. 13 KOCH, Jesus apokalyptisch (s. Anm. 2), 42. 14 Vgl. als Beispiele fiir die ,uneschatologische' Interpretation der Gestalt Jesu bei M. BORG, Jesus. A New Vision, San Francisco 1987; DERS., Meeting Jesus Again for the First Time, San Francisco 1994; DERS., A Temperate Case for a Non-Eschatological Je-

s u s , F o u n d a t i o n s a n d F a c e t s F o r u m 2 . 3 ( 1 9 8 6 ) , 8 1 - 1 0 2 ; J . D . CROSSAN, T h e

Historical

Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1991; im deutschsprachigen Raum s. auch H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft, BThS 20, NeukirchenVluyn 1993. Zu den Argumenten s.u. Abschnitt 4.

Jesus und die

Apokalyptik

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historischen Jesus 15 . Doch hat interessanterweise auch Käsemann in seiner berühmten These, daß „die Apokalyptik die Mutter aller christlichen Theologie" gewesen sei 16 , den historischen Jesus von dieser ,Mutter' wie auch von der durch das Kerygma begründeten christlichen Theologie' abgerückt und für ihn im Sinne der klassischen Propheten-Anschluß-Theorie nur eine Anknüpfung an die alttestamentlichen Propheten gelten lassen 17 . Auch Käsemann ist somit aus theologischen Gründen den Konsequenzen der in der neuen Fragestellung aufgebrochenen historischen Einsichten ausgewichen. Ich möchte im folgenden die Frage, inwiefern Jesus historisch im Rahmen der frühjüdischen Apokalyptik verstanden werden kann, in mehreren Schritten aufnehmen. Wesentlich ist zunächst ein knapper forschungsgeschichtlicher Überblick (2). Weiterführend ist m.E. ein Blick auf die Wandlungen des Bildes der Apokalyptik in der neueren Forschung (3). Erst auf diesem Hintergrund läßt sich sachgemäß nach apokalyptischen Motiven in der Verkündigung Jesu und ihrem Stellenwert fragen (4), wobei die eingangs gestellten hermeneutischen Fragen nicht aus dem Blickfeld geraten und in einer knappen Schlußreflexion (5) noch einmal aufgeworfen werden sollen.

2. Das , angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten': die antiapokalyptische Apologetik der älteren neutestamentlichen Forschung Das von Klaus Koch für die neutestamentliche Forschung konstatierte „angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten" 18 läßt sich zu15 E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, ZThK 51 (1954), 125-153 (in: DERS., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 187-214). Vgl. zu den Phasen der Jesusforschung J. FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin/New York 2002, 2 7 3 - 3 3 6 (275ff.; zu Käsemann 286-289). 16 E. KÄSEMANN, Die Anfänge der christlichen Theologie, ZThK 57 (1960), 162-185 (180), abgedruckt in: DERS., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 8 2 - 1 0 4 (100). 17 Vgl. E. KÄSEMANN, Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, ZThK 59 (1962), 257-284, abgedruckt in: DERS., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 105-131 ( 1 0 7 - 1 1 0 u.ö.). Die nachösterliche Apokalyptik ist nach Käsemann zwar „die älteste Variation und Interpretation des Kerygma", doch kommt ihr damit „nicht unbedingt sachliche Prävalenz" zu (ebd., 111 Anm. 5). Käsemann selbst sah die nach seiner Auffassung für die Apokalyptik kennzeichnende Naherwartung der Parusie „durch die nachösterliche Geisterfahrung aufgelöst" (ebd., 105). 18

S.o. Anm. 9 und 10.

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nächst anhand der älteren und neueren Jesusforschung illustrieren. In ihr zeigt sich weithin eine antiapokalyptische Tendenz, die sich auch angesichts einer wachsenden Zahl verfügbarer Quellen und stetig verfeinerter Methoden durchzuhalten scheint19. Dabei verbinden sich in aufschlußreicher Weise negative Urteile über die jüdische Apokalyptik und theologische Stellungnahmen zur Bedeutung der Gestalt Jesu zu einer Antithese, die - aus heutiger Sicht - sowohl von dogmatischen (Vor-)Urteilen über den ,historischen Jesus' als auch von historischen Fehlurteilen über ,die jüdische Apokalyptik' bestimmt ist20. 2.1. Die Abwertung der Apokalyptik von Lücke bis Bultmann a) In der großen Sammlung der alt- und neutestamentlichen ,Pseudepigraphen' von Johann Albert Fabricius (1713) werden überwiegend nach Kirchenväter-Zeugnissen einige Schriften mit dem Titel ,Apokalypsisl erwähnt, doch erscheinen diese in Verbindung mit dem gewählten Oberbegriff der ,Pseudepigraphie' letztlich als - am Kanon gemessen - betrügerische Fälschungen21. Und auch nachdem der Forschungsbegriff .Apokalyptik' durch Friedrich Lücke in die exegetische Wissenschaft eingeführt worden war22, haftete dieser Traditionslinie immer wieder der Makel an, daß die meisten ihrer Zeugnisse eben nicht biblisch, sondern apokryph und

19 S. zum Folgenden die nützliche Darstellung bei W. ZAGER, Begriff und Wertung der Apokalyptik in der neutestamentlichen Forschung, EHS.T 358, Frankfurt a. M. 1989; weiter J.M. SCHMIDT, Die jüdische Apokalyptik. Die Geschichte ihrer Erforschung von den Anfängen bis zu den Textfunden von Qumran, Neukirchen-Vluyn 1969. 20 Zu beachten ist die scharfe Kritik dieser Forschungstendenz bei K. MÜLLER, Die frühjüdische Apokalyptik. Anmerkungen zu den Anfangen ihrer Geschichte, zu ihrem Erscheinungsbild und zu ihrer theologischen Wertung, in: DERS., Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, SB AB 11, Stuttgart 1991, 35-174 (38-52). Vgl. die Kurzfassung dieses Artikels in seinem TRE-Artikel: DERS., Art. Apokalyptik III. Die jüdische Apokalyptik. Anfänge und Merkmale, TRE 3, 1978, 202-251. 21 J.A. FABRICIUS, Codex Pseudepigraphicus Veteris Testamenti, Hamburg/Leipzig 1713. Vgl. dort 11: „Apocalypsis Adami"; 401: „Apocalypsis a Sethianis supposita"; 838: „Apocalypsis Moysis"; 1072: „Eliae prophetia & apocalypsis"; 1162: „Esdrae apocalypsis". Vgl. MÜLLER, Apokalyptik (s. Anm. 20), 41. 22 S. zuerst F. LÜCKE, Apokalyptische Studien und Kritiken, ThStKr 2 (1829), 285320; dann grundlegend DERS., Commentar über die Schriften des Evangelisten Johannes. Vierter Theil, erster Band: Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offenbarung Johannis und in die gesammte apokalyptische Litteratur, Bonn 1832, 22-155. Nach eigenen Angaben (ebd., 23) greift Lücke auf eine Schrift von KARL IMMANUEL NLTZSCH, Bericht an die Mitglieder des Rehkopfschen Prediger-Vereins über die Verhandlungen v. J. 1820, Wittenberg 1822, zurück. Vgl. dazu SCHMIDT, Apokalyptik (s. Anm. 19), 98-100; A. CHRISTOPHERSEN, Friedrich Lücke (1791-1855) I-II, TBT 94, Berlin/New York 1999 (I, 368-373). Diese Schrift Nitzschs ist mittlerweile verschollen (s. CHRISTOPHERSEN, ebd., 368f., Anm. 2).

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Apokalyptik

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somit Nachahmungen und .unechte Schößlinge' des Kanonischen seien 23 . Das Modell für Lückes Darstellung sind die beiden kanonischen Apokalypsen, die Johannesoffenbarung (von deren Überschrift der Begriff .Apokalyptik' abgeleitet ist) und als kanonischer Prototyp das Danielbuch. Dabei schließt die kanonische Apokalyptik des Danielbuches nach Lückes Überzeugung eng an die Propheten an: Während Daniel noch „eine natürliche Stufe und Entwickelungsform des prophetischen Geistes" 24 repräsentiere, komme es außerhalb des Kanons oft zu einer „Entartung des prophetischen Geistes" 25 . Auch die christliche Apokalyptik findet bei Lücke noch eine eher positive Bewertung. Sie ist legitim, weil Jesus selbst an die „jüdischen prophetischen und apokalyptischen Vorstellungen seiner Zeit angeknüpft" habe 26 , wobei er allerdings zugleich mit der „Universalität, Unendlichkeit, Urbildlichkeit und Wesenhafitigkeit seines Reiches" 27 alle partikularen Beschränktheiten der jüdischen Apokalyptik und „alle Jüdische apokalyptische Zeit- und Stundenberechnung" 28 aufhebe. Insofern nimmt Lücke durchaus wahr, daß Jesus Vorstellungen der jüdischen Apokalyptik positiv rezipiert, aber er erscheint doch bereits in dieser ersten Gesamtdarstellung der , Apokalyptik' als ihr eigentlicher Überwinder. b) Während Lücke der biblischen Apokalyptik wegen ihres universalgeschichtlichen Ansatzes positiv gegenüberstand, findet sich bei anderen Gelehrten, die sich im 19. Jahrhundert mit dem Thema befaßten, eine stärker negative theologische Bewertung: Für Eduard Reuß, der 1843 einen großen Artikel über die ,Johanneische Apokalypse' schrieb 29 , besteht Apokalyptik - wie für Lücke - wesentlich in der Zukunftserwartung, aber prä23 Vgl. LÜCKE, Commentar 1 (s. Anm. 22), 41. Schon in der Tatsache, daß „Lücke seine Behandlung der apokalyptischen Literatur zwischen die Eckpfeiler Buch Daniel und Johannesoffenbarung spannt" liegt nach A. CHRISTOPHERSEN, Die Begründung der Apokalyptikforschung durch Friedrich Lücke. Zum Verhältnis von Eschatologie und Apokalyptik, KuD 47 (2001), 1 5 8 - 1 7 9 (163), „eine dogmatische Grenzsetzung vor". Zu Lückes Apokalyptikbegriff und zu den bei ihm vorherrschenden Wertungen s. SCHMIDT, Apokalyptik (s. Anm. 19), 9 8 - 1 1 9 ; ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 2 2 - 4 0 ; H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, StUNT 23, Göttingen 1999, 2 3 - 2 7 . 24

LÜCKE, Commentar 1 (s. Anm. 22), 25. A.a.O., 26. 26 F. LÜCKE, Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offenbarung des Johannes oder Allgemeine Untersuchungen über die apokalyptische Litteratur überhaupt und die Apokalypse des Johannes insbesondere. Erste Abtheilung: Das erste Buch, über den Begriff und die Geschichte der apokalyptischen Litteratur überhaupt (Commentar über die Schriften des Evangelisten Johannes IV/1 [2. Aufl.]), Bonn 1852, 215. 27 LÜCKE, Versuch (s. Anm. 26), 216. 28 A.a.O., 217. 29 E. REUSS, Art. Johanneische Apokalypse, Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste 11/22, Leipzig 1843, 7 9 - 9 4 S. dazu SCHMIDT, Apokalyptik (s. Anm. 25

19), 1 2 0 - 1 2 6 ; ZAGER, B e g r i f f (S. A n m . 19), 4 0 - 4 8 .

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ziser in der AfaÄerwartung. Während sich die ältere prophetische Verkündigung auf gegenwärtige Verhältnisse beziehe, ziele die Apokalyptik auf künftige Zustände und die Beschreibung ihrer sichtbaren Begleiterscheinungen. Damit rückt die Apokalyptik in einen Gegensatz zur alttestamentlichen Prophetie. Und da gerade in der Naherwartung „Alle augenscheinlich im Irrthum" geblieben sind 30 , kann auch das, was die Apokalyptik ausmacht, letztlich nichts anderes sein als ein Produkt der menschlichen Phantasie, d.h. jenes geistigen Vermögens, das „am wenigsten geeignet ist, höhere Eingebung ungetrübt aufzunehmen" 31 . Damit ist die Apokalyptik wirkungsvoll in einen Gegensatz zur ,wahren Prophetie' bzw. zur Offenbarung gebracht. Der „rein menschliche Ursprung der Apokalyptik" 32 zeige sich am klarsten in ihren Zahlenspekulationen, denn nach Reuß' Überzeugung gibt Gott „keine mathematischen Räthsel zum Zeitvertreib und Kopfzerbrechen" 33 auf. Er zeigt sich des weiteren in der „affectirtefn] R ä t selhaftigkeit der Einkleidung" der apokalyptischen Weissagungen, die den „dürren Worten" der echten Weissagung entgegenstehe 34 . Die Herausbildung der durch Phantasterei und Effekthascherei charakterisierten Apokalyptik wird bei Reuß schließlich rationalistisch-psychologisierend mit dem Motiv der Enttäuschung älterer Hoffnungen in der nachexilischen Zeit erklärt 35 . Auf dieser Grundlage unterscheidet Reuß auch Jesu Verkündigung selbst „einzelne eschatologische Abschnitte in den Reden Jesu" 36 - schroff von der Apokalyptik, denn nach seiner rationalistisch geprägten Auffassung kann Jesus eine solche Naherwartung, wie sie für die Apokalyptik vorauszusetzen sei, keinesfalls geteilt haben. Das hier gezeichnete Bild der Apokalyptik und das dogmatisch geprägte Bild der Verkündigung Jesu werden somit beide zur gegenseitigen Abgrenzung zugespitzt. Und wenn Reuß den .jüdischen, sinnlicheren, gröberen Bildern" der Apokalyptik die „reinere, einfachere, geistigere Gestaltung christlicher Eschatologie" gegenüberstellt 37 , dann deutet sich darin schon die später einflußreiche, aber historisch problematische, da primär auf gegensätzlichen Definitionen basierende Antithese von ,Apokalyptik' und ,Eschatologie' an.

30

REUSS, Apokalypse (s. Anm. 29), 80. A.a.O., 80. 32 ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 43 33 REUSS, Apokalypse (s. Anm. 29), 81. 34 A.a.O., 81. Reuß stellt diese in Anspielung auf Martin Luthers Vorrede zur Johannesoffenbarung von 1522 (WA.DB VII, 404) den „dürren Worten" der eigentlichen Offenbarung gegenüber. 35 So SCHMIDT, Apokalyptik (s. Anm. 19), 123. 36 REUSS, Apokalypse (s. Anm. 29), 80. 37 A.a.O., 80. 31

Jesus und die

Apokalyptik

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c) Auch bei anderen bedeutenden Gelehrten des 19. Jahrhunderts wie Adolf HilgenfelcP8, Otto Pßeiderer39 oder Emil Schürer40 begegnen derlei abwertende Urteile über die jüdische Apokalyptik: Sie sei eine „Nachbildung der Prophetie"41, eine „Nachblüthe"42 und darin epigonal und künstlich, und manche ihrer Bilder seien wirr und geschmacklos. Der Apokalyptik gehe es um die Frage, „wie und wann die ... Weltherrschaft endlich auf das Gottesvolk übergehen werde"43. Ihr Ziel sei der „endliche Sieg des Judenthums über alle seine äusseren und inneren Feinde"44. Theologisch erscheint die jüdische Apokalyptik damit als Ausdruck eines national-jüdischen Partikularismus45, religionsgeschichtlich gilt sie als eine besondere Form des ,spätjüdischen' Synkretismus46. Psychologisch wird die Apokalyptik als ein Produkt der unerfüllten Hoffnungen und der Leiden in der nachexilischen Zeit erklärt47. Markant äußerte sich der große Göttinger Alttestamentier und Orientalist Julius Wellhausen. Ihm zufolge ist die jüdische Apokalyptik „immer messianisch und immer utopisch; ihr Gott ist ein Gott der Wünsche und der Illusion. Sie malt sich auf dem Papier ein Ideal, zu dem in der Wirklichkeit keine Brücke hinüberführt, welches plötzlich durch das Eingreifen eines deus ex machina in die Welt gesetzt werden soll. Sie empfindet nicht, wie die alte echte Prophetie, das schon im Wer-

38 A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Jena 1857; DERS., Die jüdische Apokalyptik und die neuesten Forschungen, ZWTh 3 (1860), 301-362; DERS., Jüdische Apokalyptik und Christenthum, ZWTh 31 (1888), 2 5 7 278; s. dazu SCHMIDT, Apokalyptik (s. Anm. 19), 127-147; ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 48-55. 39 Vgl. O. PFLEIDERER, Das Urchristenthum, seine Schriften und Lehren, Berlin 1887 (2. Aufl., 2 Bde., Berlin 1902); zum Apokalyptikbegriff s. ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 56-64. 40 E. SCHÜRER, Lehrbuch der Neutestamentlichen Zeitgeschichte, Leipzig 1874, 511-563; DERS., Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, 2., neubearb. Aufl. des Lehrbuchs der Neutestamentlichen Zeitgeschichte, II, 1886, 417-466; zu Schürers Darstellung der Apokalyptik s. ZAGER Begriff (s. Anm. 19), 64-71. 41 HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik (s. Anm. 38), 10. 42 PFLEIDERER, Urchristenthum 1 (s. Anm. 39), 307. 43 HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik (s. Anm. 38), 12. 44 A.a.O., 10. 45 E. SCHÜRER, Rez. W. Bousset, Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum, ThLZ 17 (1892), 445 (zitiert bei ZAGER, Begriff [S. Anm. 19], 70). 46 Vgl. W. BALDENSPERGER, Die messianisch-apokalyptischen Hoffnungen des Judentums (= 3. Aufl. von: Das Selbstbewußtsein Jesu im Lichte der messianischen Hoffnungen seiner Zeit. Erste Hälfte), Straßburg 1903, 189, nach dem „die ganze Epoche, in welche das Aufblühen der Apokalyptik fallt, einen hervorragend synkretistischen Charakter trägt". 47 Vgl. W. BOUSSET, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Tübingen 2 1906, 242-245; J. WELLHAUSEN, Israelitische und Jüdische Geschichte, Berlin "1958, 195f.

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den Begriffene voraus und stellt auch keine Ziele für das menschliche Handeln auf, die schon in der Gegenwart Geltung haben oder haben sollten. Sie schaut nicht das lebendige Tun der Gottheit, sondern hält sich an den heiligen Buchstaben, in dem sie die Verbriefung ihrer Wünsche sieht, und behandelt ihn als Quelle für ihre dogmatische Spekulation." 48

Von einem derart negativen Bild der jüdischen Apokalyptik konnte man Jesus nur deutlich abrücken. Wellhausen verband ihn im Sinne der sogenannten „Propheten-Anschluß-Theorie"49 mit den großen Propheten, nicht mit den epigonalen Verfallserscheinungen des sogenannten .Spätjudentums'50. Und selbst wenn die frühen Christen - was auch Wellhausen unabweisbar schien - von der glühenden Hoffnung auf das kommende Gottesreich beseelt waren, so habe sich doch Jesus selbst von dieser Haltung unterschieden. Er sei viel eher als Lehrer aufgetreten, der „in ungezwungenem Wechsel über dies und jenes" lehrte, „evidente Wahrheiten, mit Rücksicht auf die Bedürfnisse eines allgemeinen Publikums"51 - nicht aber apokalyptische Spekulationen! d) Man könnte meinen, daß eine solche ,Verdrängung' der Apokalyptik mit dem Aufkommen der .konsequenten Eschatologie' bei Johannes Weiß und Albert Schweitzer ein Ende haben müßte, sahen doch diese Interpreten nicht nur Johannes den Täufer, sondern auch den irdischen Jesus religionsgeschichtlich als eine von der jüdischen Apokalyptik geprägte Gestalt an52. Aber auch diese Anerkenntnis der Zukünftigkeit und Jenseitigkeit des von Jesus verkündigten Gottesreiches konnte nur unter dem Vorzeichen geschehen, daß die damit verbundenen Denkkategorien definitiv einer vergangenen Welt zugehören und daher keine Verbindlichkeit mehr für die eigene religiöse Gegenwart beanspruchen können53. Die historischen Ein-

48 WELLHAUSEN, Geschichte (s. Anm. 47), 195f. Zum Apokalyptikbild Wellhausens s. ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 176-178. 49 S. dazu KOCH, Ratlos (s. Anm. 12), 35f. 50 Zu dieser ,Spätjudentums'-Theorie, die das Ende Israels im Grunde mit dem babylonischen Exil gekommen und dann in den beiden jüdischen Aufständen 66-70 und 132-135 n.Chr. endgültig besiegelt sieht s. kritisch MÜLLER, Apokalyptik (s. Anm. 20),

38—40. 51

J. WELLHAUSEN, Einleitung in die drei synoptischen Evangelien, Berlin 1905, 106. Vgl. J. WEISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1 1892; 2 1900; A. SCHWEITZER, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschunge, Tübingen 1906; DERS., Geschichte 9 (s. Anm. 10). S. dazu B. LANNERT, Die Wiederentdeckung der neutestamentlichen Eschatologie durch Johannes Weiß, TANZ 2, Tübingen 1989; ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 87-112; FREY, Eschatologie I (s. Anm. 11), 4 3 ^ 7 . 53 Vgl. SCHWEITZER, Geschichte 9 (s. Anm. 10), 623: „Die primitive, spätjüdische Metaphysik, in der Jesus seine Weltanschauung ausspricht, erschwert die Übersetzung seiner Ideen in die Formeln unserer Zeit in außerordentlicher Weise. Die Aufgabe ist überhaupt unlösbar, sobald man darauf ausgeht, ... zwischen Bleibendem und Vergängli52

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sichten in den ,eschatologischen' Charakter der Predigt Jesu wurden also nur in der Weise rezipiert, daß man sie zugleich systematisch-theologisch eliminierte 54 . Insofern unterschied sich die (von Albert Schweitzer so genannte) ,konsequente Eschatologie' von der klassischen liberalen Theologie vor allem darin, daß man sich bewußt machte, daß man das eigene Bild des Reiches Gottes und seines ethischen Gehaltes nicht mehr biblizistisch mit der historisch zu erhebenden Verkündigung des irdischen Jesus begründen konnte 55 . Die führte letztlich zur konsequenten systematischen Neutralisierung der historisch wahrgenommenen eschatologischen oder gar apokalyptischen Züge der Verkündigung Jesu 56 . e) Diese Linie der Abwertung der Apokalyptik und der Distanzierung des irdischen Jesus von ihr setzt sich - mit wenigen Ausnahmen - auch bei den großen Forschern des 20. Jahrhunderts fort. So erfuhr die Apokalyptik auch im einflußreichen Werk Rudolf Bultmanns eine starke theologische Abwertung: Alle Apokalyptik ist Phantasie, Wunschbild, nichtiger Traum 57 . Sie gilt nicht nur als Spielart eines zeitgeschichtlichen mythologischen Denkens, das dem .modernen Menschen' unglaubhaft geworden ist 58 , sondern darüber hinaus auch als eine grundsätzlich unangemessene Auffassung des christlichen Kerygmas. Im Gegensatz zu den apokalyptischen Spekulationen und Wunschbildern fordere die Offenbarung gerade die „Preisgabe aller menschlichen Wunschbilder, Preisgabe alles Besitzenund Verfügenwollens - auch des Verfugenwollens über die Zukunft" 5 9 . Demgegenüber entfalte die Apokalyptik eine gegen das .eigentliche' Verchem zu scheiden." Die liberale Unterscheidung zwischen .Schale' und .Kern' wird damit abgelehnt. 54 Vgl. U.H.J. KÖRTNER, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988, 22: Die .konsequente Eschatologie' kam sachlich „der konsequenten Ausscheidung der Eschatologie gleich". 55 Bei SCHWEITZER fuhrt dies zu einem Rückgriff auf die .Jesusmystik': „Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art" (Geschichte 9 [s. Anm. 10], 629). 56 Vgl. FREY, Eschatologie I (s. Anm. 11), 45f. 57 S. die Zusammenstellung der negativen Wertungen bei ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 231. 58 Vgl. das berühmte Zitat aus R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie (in: H.W. Bartsch [Hg.], Kerygma und Mythos I, Hamburg-Volksdorf 1948, 15-48 [18]): „Die mythische Eschatologie ist im Grunde durch die einfache Tatsache erledigt, daß Christi Parusie nicht, wie das Neue Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat, sondern daß die Weltgeschichte weiterlief und - wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist - weiterlaufen wird". Vgl. auch DERS., Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum, in: ders., Glauben und Verstehen IV, Tübingen 1965, 9 1 - 1 0 3 (100): „Das apokalyptische Gemälde vom Ende der Welt und vom Weltgericht, die Vorstellung von dem mit den Wolken des Himmels wiederkehrenden Jesus als Richter erscheint uns heute als Mythologie; denn die alte Vorstellung vom Himmel ist über uns vergangen, und wir wissen, daß es im Kosmos kein Oben und Unten gibt". 59

R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen

10

1941, 270.

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ständnis des Glaubens und gegen die geforderte radikale Selbstpreisgabe gerichtete eigenmächtig-menschliche Aktivität. Unter der Maßgabe seiner existentialen Hermeneutik findet Bultmann schon innerhalb des Neuen Testaments eine Tendenz zur ,Entmythologisierung' der apokalyptischen Aussagen. Diese lasse sich bereits bei Paulus erkennen und erfolge dann noch viel stärker, fast konsequent, im Johannesevangelium 60 . Selbst in der Verkündigung des irdischen Jesus beobachtet Bultmann - soweit er sich auf deren Rekonstruktion einläßt 61 - das Phänomen einer eigentümlich gebrochenen' Apokalyptik: Zwar sei das Kommen der Gottesherrschaft hier - wie die ,konsequente Eschatologie' richtig gesehen habe - „ein wunderbares Geschehen, das sich ohne Zutun der Menschen allein von Gott her ereignet" 62 , aber von der jüdischen Apokalyptik unterscheide sich dieses Verständnis dadurch, daß diese Macht „die Gegenwart völlig bestimmt" 63 und das Jetzt zur eschatologischen Zeit werden lasse. Jesus ist daher für Bultmann dezidiert nicht ein „Apokalyptiker im eigentlichen Sinn" 64 - wobei man fragen kann, was hier „eigentlich" heißen soll - , sondern eine „prophetische Persönlichkeit" 65 . Er hebt sich ab von der Apokalyptik vor ihm und nach ihm, von den eschatologischen Hoffnungen des zeitgenössischen Judentums wie von denen der frühen Gemeinde, indem er auf Ausmalungen, Spekulationen und Berechnungen verzichtet und im Grunde „alle Vorstellungen, die sich menschliche Phantasie von der Gottesherrschaft machen kann, völlig [verwirft]" 66 . Mögen die frühen Christen nach Ostern ihre Gegenwart wieder apokalyptisch gedeutet haben (was für Bultmann erst bei Paulus in nuce und dann im Johannesevangelium konsequent überwunden ist), so ist doch Jesus auffällig anders. Diese Denkfigur, mit der Jesus aus dem Strom der Religionsgeschichte letztlich isoliert wird, findet sich interessanterweise auch bei dem Exegeten, der sich selbst und anderen die Frage nach dem historischen Jesus' aus theologischen Gründen verboten lassen sein wollte.

60

S. die Darstellung bei FREY, Eschatologie I (s. Anm. 11), 103-118. Vgl. R. BULTMANN, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 2 1964; DERS., Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament, in: ders., Glauben und Verstehen III, Tübingen 1965, 91-106. 61 Vgl. zunächst R. BULTMANN, Jesus (1926), UTB 1272, Tübingen 1983; dann die Ausfuhrungen in DERS., Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., hg. v. O. Merk, UTB 630, Tübingen 1984, 2-34. 62 BULTMANN, Theologie (s. Anm. 61), 3; vgl. DERS., Jesus (s. Anm. 61), 28. 63 BULTMANN, Jesus (s. Anm. 61), 38. 64 R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 1 9 2 1 , 1 1 3 . 65 R. BULTMANN, Die Erforschung der synoptischen Evangelien, in: ders., Glaube und Verstehen IV, Tübingen 1965, 1-41 (28). Beide Zitate sind zusammengestellt bei ZAGER, B e g r i f f (s. A n m . 19), 2 2 6 . 66

BULTMANN, Jesus (s. Anm. 61), 31.

Jesus und die

Apokalyptik

35

Am schroffsten findet sich diese Denkfigur bei einem hermeneutisch ganz anders ausgerichteten Interpreten, dem Erlanger Neutestamentier Ethelbert Stauffer, der in den 30er und 40er Jahren im ganzen Neuen Testament ein apokalyptisches Weltbild anerkannt und von Johannes dem Täufer über Paulus bis hin zum vierten Evangelisten lauter Ausdrucksformen der Apokalyptik herausgearbeitet hatte 67 . Doch ab Mitte der 50er Jahre begann Stauffer, Jesus in schroffem Gegensatz zu den Aussagen der späteren vorchristlichen Apokalyptik zu sehen. Hätten Johannes Weiß und Albert Schweitzer darin recht, daß Jesus das Reich Gottes als ,kommend' erwartet hätte, dann wäre ja „Jesus nur einer von vielen Apokalyptikern seiner Zeit", was seine Wirkung nicht erklären würde 68 . Stauffer rechnet deshalb mit Mißverständnissen der Urchristenheit, in der Jesus apokalyptisiert worden sei: „Vielleicht war ... der historische Jesus gar kein Apokalyptiker im hocheschatologischen Sinne, vielleicht haben nur die Zeitgenossen ihn so apokalyptisch verstanden, vielleicht hat erst die Jüngergemeinde nach Ostern ihm die hocheschatologischen Zukunftsworte in den Mund gelegt." 69 So kommt Stauffer letztlich zu der abwegigen These, das Johannesevangelium lasse sich als Zeuge für den unapokalyptischen Charakter des historischen Jesus heranziehen. In ihm finde sich der „Protest des letzten Apostels gegen die Mißdeutung und Verzeichnung Jesu" 70 , gegen die Rejudaisierung und Apokalyptisierung der Jesusbotschaft im Urchristentum. Dem historischen Jesus gehe es eben nicht um die Zukunft, sondern allein um die Gegenwart, seine Verkündigung sei vor allem ,Kairosbotschaft' 7 1 . So forderte Stauffer ab 1956 (!) programmatisch die „Entjudaisierung der Jesusüberlieferung" 72 . Damit gelangt er in bedenkliche Nachbarschaft zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Jesusforschung. Zugleich zeigt sich bei ihm noch einmal in frappierender Weise,

67

S. zu Stauffer und seinem Apokalyptikbild ZAGER, Begriff (S. Anm. 19), 2 3 7 - 2 4 6 . Die ältere Auffassung Stauffers ist zusammengefaßt in E. STAUFFER, Die Theologie des Neuen Testaments, Stuttgart 1941; s. zu seinem späteren Jesusbild DERS., Jesus. Geschichte und Verkündigung, ANRW II/25/3, Berlin/New York 1985, 3 - 1 3 0 . Die programmatische Wende zeigt sich in DERS., Agnostos Christos. Joh. ii.24 und die Eschatologie des vierten Evangeliums, in: The Background of the N e w Testament and ist Eschatology, Festschrift C.H. Dodd, Cambridge 1956, 281-299. 68 STAUFFER, Agnostos Christos (s. Anm. 67), 281. 69 A.a.O., 282. Vgl. DERS., Jesus (s. Anm. 67), 39: „Er ist kein Apokalyptiker, der die Zeichen der Zeit deutet. Er ist kein Zeitkritiker und Zukunftsplaner. Er ist kein Botschafter des nahen Weltendes. Er ist kein Apokalyptiker, der die Schrecken und Freuden der Zukunft ausmalt. Er ist kein Apokalyptiker, der über das Leben nach dem Tode Auskunft gibt. Er ist kein Apokalyptiker, der die Geheimnisse der anderen Welt enthüllt." 70 STAUFFER, Agnostos Christos (s. Anm. 67), 286. 71

V g l . STAUFFER, J e s u s ( s . A n m . 6 7 ) , 8 1 .

72

E. STAUFFER, Die Botschaft Jesu. Damals und heute, Berlin/München 1959, 10.

36

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zu welch problematischen Konstruktionen die Forschung zu greifen bereit war, um nur Jesus vor der Apokalyptik zu retten'. 2.2. Die Entgegensetzung Jesu zur Apokalyptik Ich breche hier meinen Durchgang ab und fasse noch einmal knapp zusammen, wie sich in der neutestamentlichen Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts die negativen Urteile über die jüdische Apokalyptik und die Einordnung der Gestalt Jesu klassisch gegenüberstehen 73 . a) Zukunfts- bzw. Naherwartung: Während die Apokalyptiker ganz von der Zukunfts- oder gar von der JVaAerwartung bewegt waren und diese Zukunft .berechneten' 74 , habe Jesus auf jede Berechnung des Endes oder auf die Bestimmung seiner Vorzeichen verzichtet. Für viele Interpreten ist er - wie die großen Propheten des Alten Testaments - primär Künder einer religiösen Botschaft für seine eigene Zeit, während die Zukunftsvoraussagen der Apokalyptiker als spekulatives Pseudo-Wissen und Produkt menschlicher Phantasie erscheinen. Ihr Offenbarungsanspruch gilt schon durch den erwiesenen Irrtum in ihren apokalyptischen Berechnungen als falsifiziert, und ihre Aussagen werden psychologisch als ein Produkt der Enttäuschung über die mißlichen Zustände der eigenen Zeit erklärt. In diesen Kategorien wollte und konnte man jedoch Jesus nicht zeichnen. So wurde er auf unterschiedliche Weise - mit den Modellen von ,Kern' und .Schale', durch eine .mystische' Interpretation seiner Bedeutung oder durch die Interpretation im Rahmen eines existentialen Zeitverständnisses - von den temporal konkreten Zukunftserwartungen der jüdischen und frühchristlichen Apokalyptik abgerückt. Dahinter zeigt sich eine apologetische Denkfigur, die bis in die ,Akkomodationstheorie' Johann Salomo Semlers75 und die Klassifikation der Eschatologie als einem minderrangigen Lehrstück in der Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers16 zurückreicht. Ob ein solches Verfahren historisch plausibel ist, bleibt hingegen fraglich. b) Bildhaftigkeit: Mit dem Aspekt der temporalen Bestimmtheit der apokalyptischen Aussagen verbindet sich auch die bildhafte Konkretion ihrer Vorstellungen. Während in der Apokalyptik die bunte Ausmalung von Himmel und Hölle, von Gericht und Heil vorherrsche und die spekulative Phantasie das Sagen habe, verzichte Jesu Predigt auffälligerweise auf der73

Vgl. dazu auch die Zusammenfassungen bei ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 2 5 4 -

256. 74

Vgl. die Zusammenstellung der negativ besetzten Attribute bei ZAGER, Begriff (s. Anm. 19), 255. 75

V g l . FREY, E s c h a t o l o g i e I (s. A n m . 1 1 ) , 1 I f .

76

Vgl. F.D.E. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube II, Berlin 7 1960, 416ff.;

v g l . FREY, E s c h a t o l o g i e I ( s . A n m . 1 1 ) , 1 8 f .

Jesus und die Apokalyptik

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artige phantastische Spekulationen und Ausmalungen. In dieser Entgegensetzung kommt die traditionelle Zurückhaltung der protestantischen Theologie gegenüber allem Bildhaften zur Geltung, die ja schon in Martin Luthers Kritik an der Johannesapokalypse eine Rolle spielt, wenn vorausgesetzt wird, die Apostel und Propheten hätten nicht in Bildern und Visionen gesprochen, sondern in dürren und v.a. klaren Worten das Evangelium verkündigt 77 . c) Weltverhältnis: Während die apokalyptische Weltanschauung von einem tiefgreifenden Determinismus, ja einem apokalyptischen ,Fahrplan' geprägt sein soll, wird in der Regel festgehalten, daß für Jesus die Zukunft ,offen' ist. Diese ,Offenheit' konnte in der liberalen Theologie im Sinne des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens und in der Existentialtheologie des 20. Jahrhunderts im Sinne der von Jesus verkündigten Zu-Kunft Gottes interpretiert werden - in beiden Fällen ergab sich ein schroffer Gegensatz zu der Vorstellung von apokalyptisch ,notwendig' eintretenden Ereignissen. Mit dem Aspekt des Determinismus verbindet sich zugleich der des Dualismus als einer Form der Weltwahrnehmung, die jeder neuzeitlich-,modernen' Theologie als ausgesprochen fremdartig und inakzeptabel erscheinen mußte 78 . Während in den apokalyptischen Weltbildern die Welt vom Teufel beherrscht erscheine und damit der Gedanke der göttlichen Allmacht eingeschränkt sei, vertrete Jesus eine viel positiveres, vertrauensvolleres Gottes- und Weltverständnis und darin eine religiös wertvollere und zukunftsweisendere Haltung. Gelegentlich wird auch die Konsequenz einer solchen Haltung für die Ethik betont: Während die Bilder der Apokalyptik ethisch irrelevant seien, stelle die Verkündigung Jesu in die Verantwortung oder die Entscheidung und sei insofern auch ethisch von höherem Wert. d) Abständigkeit: Insgesamt wird die Zugehörigkeit des apokalyptischen Weltbildes zu einer vergangenen und heute nicht mehr nachvollziehbaren 77

Vgl. M. LUTHER, Vorrede auf die Offenbarung Sanct Johannis (1522), in: WA.DB 7, 404. 78 Weite Kreise der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts favorisierten einen dezidierten Monismus. Die für das traditionelle Christentum selbstverständliche Unterscheidung von Diesseits und Jenseits mußte nach Kant nicht nur in erkenntnistheoretischer Perspektive als problematisch erscheinen, sie konnte auch als ein „kulturfeindliches Princip" erscheinen (so D.F. STRAUSS, Der alte und der neue Glaube, Leipzig 1872, 64; s. dazu F.W. GRAF, Gelungene Bürgertheologie? ,Der alte und der neue Glaube' von David Friedrich Strauß, in: U. Köpf [Hg.], Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler, Contubernium 40, Sigmaringen 1994, 227-244 [235f.]). Gegenüber diesem „Dualismus der Transzendenz" (so GRAF, ebd., 235) konnte nur Haltung akzeptabel erscheinen, in der das Diesseits „als das wahre Arbeitsfeld des Menschen, als Inbegriff der Ziele seines Strebens erschien" (STRAUSS, ebd., 74f.). Von solchen Idealen schien die Apokalyptik besonders weit entfernt!

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Vorstellungswelt festgehalten. Apokalyptik gilt als ,Weltanschauung' wohingegen nach einer verbreiteten These der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert der christliche Glaube gerade keine Weltanschauung ist und auch eine solche nicht impliziert. Der relative Verzicht auf bildhafte Ausmalungen (etwa in den aus der Alltagserfahrung genommenen Gleichnissen) läßt die Verkündigung Jesu weniger weltanschauungs-verhaftet und leichter zugänglich und aktualisierbar erscheinen. Auch in diesem Sinne konnte die Verkündigung Jesu in einen diametralen Gegensatz zu der , Weltanschauung' der Apokalyptik treten. Es dürfte deutlich geworden sein, daß sich die schroffe Entgegensetzung Jesu zur (jüdischen und frühchristlichen) Apokalyptik in hohem Maße systematisch-theologischen Interessen verdankt. Es lag im apologetischen Interesse des ,modernen' Glaubensverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Jesus von den vermeintlich spekulativ-weltanschaulichen, dualistischdeterministischen und dem .modernen' Menschen schwer zugänglichen Bildwelten der Apokalyptiker möglichst schroff abzugrenzen. Auf diese Weise konnte - mit einer manchmal deutlich erkennbaren antijüdischen Tendenz - die Universalität des christlichen Glaubens gegenüber einem national-jüdischen Partikularismus, sein Wahrheitsanspruch gegenüber den Phantastereien der Apokalyptiker und seine religiöse und ethische Relevanz für die Gegenwart gegenüber einer zeitgeschichtlich eingeschränkten und abständigen Vorstellungswelt herausgearbeitet werden. Es verwundert kaum, daß in dieser wechselseitigen Entgegensetzung der Apokalyptiker einerseits und Jesu von Nazareth andererseits und im Banne der skizzierten systematischen Interessen das historische Verhältnis zwischen beiden nicht mehr unverkürzt zur Darstellung kommen konnte. Die sprichwörtliche .Ratlosigkeit' der Forschung vor der Apokalyptik mußte sich am deutlichsten in der Frage nach dem ,historischen' Jesus zeigen. Eine Neubestimmung ist hier schon von der Forschungsgeschichte her unumgänglich, und sie muß nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung von beiden Seiten her - in der Beurteilung der Apokalyptik und in der Frage nach dem historischen Jesus - erfolgen.

3. Das .klassische' Bild der Apokalyptik und seine Brechungen: Erträge der neueren Erforschung der frühjüdischen Apokalyptik Die skizzierten klaren Kontrastierungen setzen ein bestimmtes, relativ festgefügtes Bild der Apokalyptik voraus. Dies ist - mit eben den genannten Charakterisierungen von Forschern wie Adolf Hilgenfeld, Emil Schürer, Julius Wellhausen oder Wilhelm Bousset herausgearbeitet und im deut-

39

Jesus und die Apokalyptik

sehen Sprachraum in Handbüchern wie Wilhelm Boussets .Geschichte der jüdischen Religion im späthellenistischen Zeitalter'79 oder Philipp Vielhauers Einleitung in die Apokalyptik in der dritten Auflage von Henneckes ,Neutestamentlichen Apokryphen'80 verbreitet worden. Man wird dieses Bild nach dem heutigen Forschungsstand - insbesondere aufgrund der aus den Qumrantexten gewonnenen Einsichten81 - in mehrfacher Hinsicht differenzieren müssen. Es wird sich zeigen, daß die schroffe Gegenüberstellung Jesu zur Apokalyptik auf der Basis des modifizierten Apokalyptikbildes nicht mehr so leicht gelingt. 3.1. Das , klassische' Bild in der Darstellung Philipp

Vielhauers

Folgt man der klassischen Darstellung Vielhauers, dann sind folgende Stilelemente für die Literatur der (jüdischen) Apokalyptik kennzeichnend: a) Pseudonymität: Literarisch gelten die meisten Texte als pseudonym die einzige kanonische-christliche Apokalypse, die Johannesoffenbarung gilt zumeist als eine Ausnahme von dieser ,Regel' 82 . Das Phänomen der Pseudonymität wird dahingehend ausgewertet, daß die apokalyptischen Autoren „nicht genügend eigene Autorität wie etwa die Schriftpropheten" besaßen, sondern sich diese „von diesen Großen borgen" mußten83. Damit kommt auch hier der Gegensatz zu den älteren Propheten wertend ins Spiel84. 79 W. BOUSSET/H. GRESSMANN, Die Religion des Judentums im späthelienistischen Zeitalter, HNT 21, Tübingen 3 1926 ( 4 1966); vgl. P. VOLZ, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter nach den Quellen der rabbinischen, apokalyptischen und apokryphen Literatur, Tübingen 1934. 80 PH. VIELHAUER, Einleitung, in: E. Hennecke/W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 3 1963, 4 0 7 427; DERS., Apokalyptik des Urchristentums. Einleitung, ebd., 428-454. Insbesondere der Beitrag zur jüdischen Apokalyptik wurde in der letzten Auflage unter der Mitautorschaft von Georg Strecker nur leicht aktualisiert übernommen: Vgl. PH. VIELHAUER/G. STRECKER, Einleitung, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 6 1997, 491-515; DIES., Apokalyptik des Urchristentums. Einleitung, ebd., 516-547. 81 S. dazu ausfuhrlicher J. FREY, Die Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis der Apokalyptik im Frühjudentum und im Urchristentum, in: J. Frey/M. Becker (Hg.), Apokalyptik und Qumran, Einblicke, Paderborn 2006 (im Druck). 82 So VIELHAUER, NTApo 3 II (s. Anm. 80), 439; davon distanziert sich jedoch Strek-

k e r in: VLELHAUER/STRECKER, N T A p o 6 I I ( s . A n m . 8 0 ) , 5 3 l f . ; v g l . a u c h G . STRECKER,

Literaturgeschichte des Neuen Testaments, Göttingen 1992, 274f.; vgl. auch J. FREY, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, mit einem Beitrag zur Apokalypse von Jörg Frey, WUNT 67, Tübingen 1992, 326-429 (425ff.). 83 VIELHAUER, NTApo 3 II (s. Anm. 80), 408 (= NTApo 6 , 494). 84 Mit der fortgeschrittenen Einsicht in das literarische Wachstum der alttestamentlichen Prophetenbücher muß auch eine solche Gegenüberstellung als unangemessen er-

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b) Visionsbericht: Charakteristisch sei die Form des Visionsberichts im Gegensatz dazu sei der Offenbarungsempfang der Propheten „meist durch Auditionen" erfolgt 85 . Im Unterschied zu den Propheten sei die Apokalyptik „Buchweisheit": Auch wenn nicht zu leugnen sei, „daß die Apokalyptiker visionäre Erlebnisse hatten", gelinge es letztlich kaum, „echtes Erlebnis und literarische Arbeit in den Apokalypsen säuberlich zu scheiden" 86 . Auch diese Formulierungen zeigen deutliche Wertungen: Buchweisheit ist weniger wertvoll als ,echte' religiöse Erlebnisse. c) Vaticinium ex eventu: Geschichtsüberblicke in Form von Weissagungen, also als vaticinium ex eventu bilden nach Vielhauer ein weiteres Charakteristikum apokalyptischer Literatur. Diese Form hängt mit der Pseudonymität, der Fiktion der Vorzeitlichkeit zusammen: Der Autor projiziert sich also zurück und schildert vergangene Geschichte, als würde er sie voraussehen. Den Zweck dieser Form interpretiert Vielhauer sehr kritisch: Sie diene den Apokalyptikern dazu, „für ihre eigenen Zukunftsweissagungen Vertrauen zu erwecken" 87 , es handele sich also um eine „pia fraus" 88 , einen frommen Betrug, hinter dem allerdings „die religiöse Vorstellung der Determination des Weltenlaufs durch Gott" stehe. d) Formenmischung: Als viertes Charakteristikum erwähnt Vielhauer die Vielfalt der Formen bzw. die Formenmischung in den apokalyptischen Schriften - auch dies ist in der Perspektive der von Vielhauer vertretenen klassischen Formgeschichte ein Kennzeichen sekundärer, literarischer Entwicklung, das den weiten Abstand von den ursprünglichen prophetischen Formen und den ihnen entsprechenden religiösen Erlebnissen markiert. e) Vorstellungswelt: Neben diesen literarischen Kennzeichen der apokalyptischen Texte präsentiert Vielhauer eine Skizze der apokalyptischen Vorstellungswelt. Diese sei zwar bunt und uneinheitlich, aber es gebe doch gemeinsame Grundzüge. Das Hauptinteresse liege allerdings „nicht auf kosmologischen oder Theodizeeproblemen, sondern auf der Eschatologie", so daß Vielhauer sogar definitorisch sagen kann, die Apokalyptik sei „eine besondere Ausprägung der jüdischen Eschatologie ..., die neben der nationalen, von den Rabbinen vertretenen Eschatologie existierte", mit dieser durch manche Gemeinsamkeiten verbunden, aber von ihr doch „durch ein

scheinen. Hier s c h w i n g t die alte Sicht der Propheten als religiöser . P e r s ö n l i c h k e i t e n ' (etw a in d e n K o m m e n t a r e n Bernhard D u h m s ) n o c h allzu deutlich mit. 85

A u c h d i e s e E n t g e g e n s e t z u n g läßt sich s c h o n auf der B a s i s der alttestamentlichen Propheten - v o n Arnos über Jesaja bis hin zu Sacharja - f u g l i c h in Frage stellen. 86

VIELHAUER, N T A p o 3 II (s. Anm. 80), 4 0 9 ( = N T A p o 6 , 4 9 5 ) .

87

A.a.O., 4 1 0 (= NTApo6, 496). A.a.O., 4 1 1 ( = N T A p o 6 , 4 9 6 ) .

88

Jesus und die

Apokalyptik

41

grundsätzlich anderes Verständnis von Gott, Welt und Mensch getrennt" sei 89 . Fünf Charakteristika dieser Vorstellungswelt werden hervorgehoben: a) Zwei-Äonen-Lehre: Der „wesentlichste Grundzug", das „wesentlichste inhaltliche Merkmal der Apokalyptik"90 sei der Dualismus der zwei Äonen als ein den ganzen Weltenlauf umfassendes dualistisches Zeitschema. Dabei sei der kommende Äon im Unterschied zur nationalen Eschatologie der Rabbinen nicht mit dem glanzvollen irdischen Messiasreich identisch, sondern transzendenter Art, aus dem Jenseits hereinbrechend. ß) Pessimismus und Jenseitshoffnung: Die Jenseitigkeit des kommenden Äons impliziere „eine radikale Abwertung dieses Äons, den sog. apokalyptischen Pessimismus" 91 . Die Schlechtigkeit dieser Weltzeit komme durch die Vorstellung von der Herrschaft Satans oder den Gedanken der zunehmenden physischen oder moralischen Degeneration der Welt zum Ausdruck. Der Abwertung dieses Äons korrespondiere „eine Steigerung der Jenseitssehnsucht und -Spekulation" 92 . y) Universalismus und Individualismus: Damit ist zugleich der universale, weit über den Horizont des jüdischen Volkes hinausreichende Horizont der Apokalyptik gegeben. Von der Schöpfung bis zur Erlösung wird der ganze Kosmos einbezogen. Das Geschick der Menschen ist damit nicht mehr an das Geschick des Volkes gebunden, vielmehr stehe der Mensch als Einzelner vor Gott, und er müsse „als Einzelner seine Gerechtigkeit bewähren" 93 . 8) Determinismus und Naherwartung: Der Determinismus sei „das hervorstechendste Merkmal der apokalyptischen Gedankenwelt" 94 , auch zeitlich sei alles genau determiniert, deswegen lasse sich das Ende (von der Weltschöpfung oder von bestimmten innergeschichtlichen Zeitpunkten an) berechnen oder durch Beobachtung der ,Zeichen der Zeit' bestimmen. Die Geschichte werde in Perioden eingeteilt und vom Ende her so sehr als Einheit und Ganzheit gesehen, „daß alle Bewegungen der Geschichte nivelliert und uninteressant werden und die Periodisierung ... im freien Belieben des einzelnen Apokalyptikers steht" 95 . In den Periodisierungen und

89 A.a.O., 412. Vgl. NTApo 6 (s. Anm. 80), 498, wo der erste Teil des Zitats beibehalten wird, aber die Möglichkeit der Trennung von der nationalen Eschatologie der Rabbinen nunmehr abgelehnt wird (unter Verweis auf MÜLLER, Art. Apokalyptik [s. Anm. 20], 244ff.). 90 A.a.O., 412.413 (= NTApo 6 , 498). 91 A.a.O., 413 (= NTApo 6 , 499). 92 A.a.O., 413 (= NTApo 6 , 499). 93 A.a.O., 414 (= NTApo 6 , 500). 94 A.a.O., 414 (= NTApo 6 , 500). 95 A.a.O., 415 (in NTApo 6 , 501 nur syntaktisch verändert).

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Berechnungen spreche sich die baldige Erwartung des Endes, ja „eschatologische Ungeduld" 96 aus. T|) Uneinheitlichkeit: Abschließend stellt Vielhauer die Uneinheitlichkeit der apokalyptischen Vorstellungswelt - etwa in den Vorstellungen vom Heilsbringer - heraus. Das hier gezeichnete Gesamtbild ist vorwiegend aus Daniel, Henoch und den beiden großen Apokalypsen der späteren Zeit, dem 4. Esra und dem (syrischen) 2. Baruch geschöpft 97 . Die aufgrund der Vermehrung des Quellenmaterials und durch verbesserte Textanalysen möglichen Differenzierungen sind auch in die letzte Bearbeitung des Handbuchartikels durch Georg Strecker kaum eingegangen. Vor allem ist das hier skizzierte , Lehrbuchwissen' über die jüdische Apokalyptik noch tief geprägt von dem kerygmatheologischen Naserümpfen und den antijüdischen Invektiven, die aus der älteren Forschung auf Vielhauer übergegangen sind. Hier begegnen nicht nur Urteile (in denen stets eine negative Wertung impliziert ist), die Apokalyptik repräsentiere ein „geschichtsloses Denken" 98 , ja eine „Entgeschichtlichung der Geschichte" 99 , es ist die Rede vom , frommen Betrug' von Autoren, die aus Mangel an eigener Autorität sich unter jene der großen Gestalten der Geschichte Israels flüchten, von einer literarisch konstruierten ,Buchweisheit', deren Bezug zum ,echten' religiösen Erleben unklar bleibt, von uneinheitlicher Vorstellungswelt, Weltpessimismus, Jenseitsspekulation und willkürlicher Periodisierung. Besonders auffällig ist, daß Apokalyptik ganz vorrangig als Spielart der Eschatologie, als Zukunfts-, ja Naherwartung verstanden wird und somit die Elemente des Äonendualismus und der Geschichtsperiodisierung als inhaltliche Hauptzüge gewertet werden. So ist es auch nicht verwunderlich, daß Vielhauer Jesus in deutlichen Gegensatz zur Apokalyptik stellt100 und erst in der Urgemeinde das „folgenschwere Einströmen apokalyptischer Vorstellungen" 101 konstatiert. 96

A.a.O., 416 (= NTApo 6 , 501). Diese Texte liegen bereits bei den älteren Darstellungen im wesentlichen zugrunde; vgl. E. SCHÜRER, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi II, Leipzig 3 1898, 496-556, oder BOUSSET/GRESSMANN, Religion 3 1926 (s. Anm. 79), 242-286. 98 VIELHAUER, NTApo 3 II (s. Anm. 80), 416 (= NTApo 6 , 502), zit. G. v. RAD, Theologie des Alten Testaments II, München S 1984, 318f. 99 A.a.O., 416 (= NTApo 6 , 502), zit. BULTMANN, Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 6 0 ) , 3 5 . 100 A.a.O., 428, wo er seine kritische Auffassung, daß die Worte vom Menschensohn nicht authentisch jesuanisch seien (DERS., Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: ders. Aufsätze zum Neuen Testament, ThB 31, München 1965, 55-91) aufnimmt und auch für den Begriff der Gottesherrschaft eine deutliche Distanz zur Apokalyptik festhalten will. Jesus ersetze „die gängigen apokalyptischen Vorstellungen vom eschatologischen Heil durch den Gedanken ..., daß Gott König ist und sich zum Herrn 97

Jesus und die 3.2. Wandlungen

in der neueren

Apokalyptik

43

Apokalyptikforschung

Zur M o d i f i k a t i o n d i e s e s , k l a s s i s c h e n ' N e g a t i v b i l d e s der j ü d i s c h e n A p o k a lyptik sind d i e n e u e r e n E n t w i c k l u n g e n der A p o k a l y p t i k f o r s c h u n g einerseits u n d d i e A u s w e i t u n g des Q u e l l e n b e s t a n d e s durch d i e E r s c h l i e ß u n g u n d A n a l y s e der T e x t e v o n Qumran, aber auch w e i t e r e r frühjüdischer u n d anderer T e x t e in Betracht z u z i e h e n 1 0 2 . D a b e i ist z u b e d e n k e n , daß s i c h die E r f o r s c h u n g d i e s e r T e x t e in den v e r g a n g e n e n Jahrzehnten v ö l l i g internationalisiert u n d ihre S c h w e r p u n k t e i n z w i s c h e n i m a n g e l s ä c h s i s c h e n R a u m hat. D i e A p o k a l y p t i k f o r s c h u n g s c h l i e ß t Gelehrte g a n z v e r s c h i e d e n e r relig i ö s e r Orientierung ein. D a h e r k ö n n e n d i e k o n s e r v a t i v e n o d e r , m o d e r n e n ' t h e o l o g i s c h e n Interessen der älteren d e u t s c h e n , v o r w i e g e n d protestantis c h e n F o r s c h u n g i m U m g a n g mit der j ü d i s c h e n A p o k a l y p t i k , d i e das k l a s s i s c h e ' A p o k a l y p t i k b i l d b e s t i m m t e n u n d sich in z a h l r e i c h e n , m e i s t n e g a t i v e n Werturteilen n i e d e r s c h l u g e n , d i e neuere F o r s c h u n g nicht m e h r prägen, auch w e n n s i e in d e m e i n e n oder d e m anderen Beitrag n o c h w a h r z u n e h m e n sind. A u f s c h l u ß r e i c h ist z . B . , daß die in der K e r y g m a t h e o l o g i e sehr b e liebte E n t g e g e n s e t z u n g v o n ,Apokalyptik' u n d ,Eschatologie1103 in der in-

über alles macht" (ebd.) - eine ausgesprochen künstliche Entgegensetzung! Vgl. die Weiterführung: „Die Strenge und Reinheit dieses Begriffes [sc. der Gottesherrschaft] schließen alle Schilderungen des spectaculum mundi und der jenseitigen Herrlichkeit aus" (ebd.). Die Aussagen über die Gottesherrschaft begegnen auch in der Neubearbeitung kaum modifiziert wieder (NTApo 6 , 517), während Georg Strecker die Vielhauer'schen Thesen zum Menschensohn-Begriff mit Recht nicht übernommen hat (ebd., 516f.). 101 VIELHAUER, NTApo 3 II (s. Anm. 80), 429. 102 YGI dazu grundlegend K. KOCH, Einleitung zur Apokalyptik, in: ders., Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur. Ges. Aufsätze, Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 1996, 109-134 (ursprünglich in: K. Koch/J.M. Schmidt [Hg.], Apokalyptik, WdF 365, Darmstadt 1982, 1-29); D. HELLHOLM (Hg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen 1983 ( 2 1989); J.J. COLLINS, The Apocalyptic Imagination, New York 1984; J. VANDERKAM, Enoch and the Growth of an Apocalyptic Tradition, CBQMS 16, Washington D.C. 1984. Zur neueren Apokalyptikforschung s. weiter J J . COLLINS, Genre. Ideology and Social Movements in Jewish Apocalypticism, in: ders./J.H. Charlesworth (Hg.), Mysteries and Revelations. Apocalyptic Studies since the Uppsala Colloquium, JSP 9, Sheffield 1991, 11-32, abgedruckt in DERS., Seers, Sibyls and Sages in Hellenistic-Roman Judaism, SJSJ 54, Leiden 1997, 24-34; vgl. auch die Forschungsberichte bei HOFFMANN, Gesetz (s. Anm. 23), 22-66; A. BEDENBENDER, Der Gott der Welt tritt auf den Sinai, ANTZ 8, Berlin 2000, 32-87. S. zum Folgenden ausfuhrlicher FREY, Bedeutung (s. Anm. 81). 103

Vgl. W. SCHMITHALS, Eschatologie und Apokalyptik, VF 33/1 (1988), 64-82; G. KLEIN, Art. Eschatologie IV: Neues Testament, TRE 10, 1982, 270-299 (270). Zur Einfuhrung dieser Unterscheidung in der rationalistisch geprägten Interpretation von Reuß s. o. Abschnitt 2.1. b). Zur Kritik dieser Antithese s. M. HENGEL, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 302-417 (318-324). Eine wenig überzeugende Apologie dieser Unterscheidung aus systematischer Sicht versucht CHRISTOPHERSEN, Begründung (s. Anm. 23).

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ternationalen Forschung praktisch keine Rolle spielt. Dadurch wird umgekehrt deutlich, wie stark diese Gegenüberstellung von textlich und historisch unangemessenen dogmatischen Werturteilen und entsprechend gestalteten Begriffsbestimmungen geprägt war. a) Ein Meilenstein der Forschung war der berühmte Apokalyptik-Kongreß in Uppsala im Jahr 1979 104 , bei dem der Horizont der Betrachtung weit über die jüdisch-christliche Überlieferung hinaus auf phänomenologische Parallelen in Mesopotamien 105 und im Iran 106 , im ptolemäischen Ägypten 107 , im antiken Griechentum 108 und in der römischen Literatur 109 ausgeweitet wurde. Die Vielfalt der Phänomene in unterschiedlichen Traditions- und Religionskontexten hat die Frage nach einer Definition ,der' Apokalyptik oder einer Bestimmung ihres ,Wesens' beträchtlich erschwert, so daß als ein Fazit des Uppsala-Kongresses die Wendung „contra definitionem pro descriptione"no gelten konnte. Freilich wurde damit die Aufgabe der Bestimmung gemeinsamer Charakteristika apokalyptischer Texte nicht obsolet. Dennoch hat die Weitung des Horizonts und die Berücksichtigung der je unterschiedlichen Wertesysteme apokalyptischer Texte in unterschiedlichen religiösen Kontexten die einseitig an der neuzeitlich-christlichen Problematisierung der eschatologischen Zukunftserwartung und der Abwehr von Endzeitberechnungen und -Spekulationen orientierten Wesensbestimmungen (wie sie sich exemplarisch noch in dem Einführungs-

104

S. die Dokumentation dieses Symposiums: HELLHOLM (Hg.), Apocalypticism (s. Anm. 102), darin: DERS., Introduction (1-6); K. RUDOLPH, Apokalyptik in der Diskussion (771-789). 105 H. RLNGGREN, Akkadian Apocalypses, in: Hellholm (Hg.), Apocalypticism (s. Anm. 102), 379-386; A.K. GRAYSON, Akkadian .Apokalyptic' Literature, AncBD I, 1992, 282. 106 T. OLSSON, The Apocalyptic Activity. The Case of Jamasp Namag, in: Hellholm (Hg.), Apocalypticism (s. Anm. 102), 21-49; S.S. HARTMAN, Datierung der Jungavestischen Apokalyptik, ebd., 61-75; G. WLDENGREN, Leitende Ideen und Quellen der iranischen Apokalyptik, ebd., 77-161; A. HULTGÄRD, Forms and Origins of Iranian Apocalypticism, ebd., 387-411. 107 J. BERGMAN, Introductory Remarks on Apocalypticism in Egypt, in: Hellholm (Hg.), Apocalypticism (s. Anm. 102), 51-60; J.G. GRIFFITHS, Apocalyptic in the Hellenistic Era, ebd., 273-294; J. ASSMANN, Königsdogma und Heilserwartung. Politische und kultische Chaosbeschreibung in ägyptischen Texten, ebd., 345-377. 108 W. BURKERT, Apokalyptik im frühen Griechentum: Impulse und Transformationen, in: Hellholm (Hg.), Apocalypticism (s. Anm. 102), 235-254; H.D. BETZ, The Problem of Apocalyptic Genre in Greek and Hellenistic Literature: The Case of the Oracle of Trophonius, ebd., 577-598. 109 H. CANCIK, Libri fatales. Römische Offenbarungsliteratur und Geschichtstheologie, in: Hellholm (Hg.), Apocalypticism (s. Anm. 102), 549-576. 110 Vgl. HELLHOLM, Introduction (s. Anm. 104), 2; RUDOLPH, Apokalyptik (s. Anm. 104), 776.

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artikel von Philipp Vielhauer und seiner Bearbeitung durch Georg Strecker finden) vom Tisch gefegt. b) Ein zweiter wesentlicher Forschungsimpuls verdankt sich der verstärkten Bemühung um die Bestimmung literarischer Gattungen. John J. Collins hat als Ertrag der ,genre group' der Society of Biblical Literature für die Gattung , Apokalypse' eine inzwischen weithin akzeptierte Definition vorgeschlagen, die eben nicht nur auf die jüdisch-christliche Tradition, sondern auch auf .Offenbarungsliteratur' aus anderen Kontexten anwendbar ist: „.Apocalypse' is a genre of revelatory literature with a narrative framework, in which a revelation is mediated by an otherworldly being to a human recipient, disclosing a transcendent reality which is both temporal, insofar as it envisages eschatological salvation, and spatial, insofar as it involves another, supernatural world." 111

,Apokalypse' ist demnach eine Gattung des Texttyps Offenbarungsliteratur 112 , die sich auf eine transzendente Wirklichkeit bezieht, ohne daß damit apriorisch feststünde, ob diese temporal-,zukünftig' oder spatial-,jenseitig' wäre. Die in der älteren Forschung gegebene Fokussierung auf den Zeitaspekt, den Äonen-Dualismus und die eschatologische Naherwartung, ist damit auch hinsichtlich der Gattungsbestimmung überwunden, insofern diese Phänomene zwar innerhalb von Apokalypsen begegnen können, aber nicht notwendigerweise deren Eigentümlichkeit repräsentieren. c) Allerdings ist zumindest die frühjüdische und frühchristliche Apokalyptik nicht nur ein literarisches Phänomen 113 . Man kann zwar einwenden, daß mit dem Schritt über die literarische Gattung hinaus die dort erreichte Präzision der Bestimmungen verloren geht, denn die apokalyptische , Vorstellungswelt' ist bekanntlich sehr disparat. Aber es ist ebenfalls unstrittig, daß .apokalyptische' Elemente, also die Themen und Motive, die konzentriert in Apokalypsen begegnen, auch in anderen Texten auftreten, die dadurch nicht gattungsmäßig zu Apokalypsen werden, aber eben doch in ei-

111

J. J. COLLINS, Introduction: Towards the Morphology of a Genre, in: ders. (Hg.), Apocalypse: The Morphology of a Genre, Semeia 14 (1979), 1 - 2 0 (9). 112 So auch D. HELLHOLM, Art. Apokalypse I: Form und Gattung, RGG 4 I, 1998, 5 8 5 588 (585). 113 Vgl. COLLINS, Genre (s. Anm. 102), 15, gegen die These von Hartmut Stegemann, der formuliert: „Unter .Apokalyptik' bezeichne ich ausschließlich ein literarisches Phänomen, nämlich die Anfertigung von .Offenbarungsschriften', die Sachverhalte .enthüllen', die sich nicht aus innerweltlichen Gegebenheiten, beispielsweise aus dem vorgegebenen ,Erfahrungswissen' ableiten lassen, sondern die sich dem Autor und dem Leser nur erschließen durch den Rückgriff auf ,himmlisches Offenbarungswissen'" (H. STEGEMANN, Die Bedeutung der Qumranfunde für die Erforschung der Apokalyptik, in: Hellholm [Hg.], Apocalypticism [s. Anm. 102], 4 9 5 - 5 3 0 [498; vgl. auch 528]).

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ner Parallelität oder Wirkungsbeziehung zu Apokalypsen zu sehen sind 114 . Daher hat sich in vielen Forschungsbeiträgen eine dreifache Begriffsverwendung etabliert 115 : * ,Apokalypse' bezeichnet Exemplare einer spezifischen Textgattung, die keineswegs nur und auch nicht immer dort vorliegt, wo der Titel eines Buches so lautet 116 . Apokalypsen können außerdem in Texte anderer Gattungen eingebettet sein und ihrerseits Texte anderer Gattungen enthalten. * .Apokalyptik' ist sehr viel weniger präzise definierbar. Der Terminus kann zum einen als religionsgeschichtliches Phänomen eine Form der Offenbarungsmitteilung bezeichnen, die von anderen Formen wie Prophetie, Mantik oder Weisheit zu unterscheiden ist und bestimmte Offenbarungsmodi wie Traumvisionen, visionäre Ekstasen oder Himmelsreisen innerhalb und außerhalb der literarischen Gattung ,Apokalypse' umfaßt 117 . Der Terminus bezeichnet zum anderen - und dieser Gebrauch überwiegt - eine Bewegung oder geistige Strömung, die durch eine entsprechende Vorstellungswelt bzw. durch die Produktion oder Rezeption entsprechender Offenbarungsliteratur geprägt ist 118 . Freilich läßt sich eine in irgendwelcher Hinsicht einheitliche apokalyptische Strömung weder im antiken Judentum noch im frühen Christentum aufweisen. * ,Apokalyptische Eschatologie' bezeichnet eine Form eschatologischen Denkens, wie es in einigen der ,klassischen' Apokalypsen, darüber hinaus in anderen .apokalyptischen Texten' belegt und von anderen Formen eschatologischen Denkens zu unterscheiden ist.

114

Anders STEGEMANN, Bedeutung (s. Anm. 113), 499: .„Apokalyptisch' sind Gattungen, Denkweisen, Stoffe und Motive nur im Rahmen von Apokalypsen, nicht darüber hinaus. ... Von daher verbietet sich ... jede Ausdehnung des Begriffes .apokalyptisch' über die Apokalypsen hinaus." Vgl. ebd., 528. 115 Vgl. P.D. HANSON, Art. Apocalypticism, IDBSup, 1976, 28-34; DERS., Art. Apocalypses and Apocalypticism, AncBD I, 1992, 279-282; vgl. auch OLSSON, Apocalyptic Activity (s. Anm. 106), 27f.; RUDOLPH, Apokalyptik (s. Anm. 104), 773f. Eine etwas andere Unterscheidung zwischen Apokalypse und Apokalyptik begegnet bereits bei M.E. STONE, Lists of Revealed Things in Apocalyptic Literature, in: F.M. Cross u.a. (Hg.), Magnalia Dei. The Mighty Acts of God, Garden City/N.Y. 1976, 414-452. 116 Manche der ab dem 2. Jahrhundert n.Chr. entstandenen sogenannten Apokalypsen (z.B. die beiden Jakobusapokalypsen aus Nag Hammadi; vgl. M. KRAUSE, Die literarischen Gattungen der Apokalypsen von Nag Hammadi, in: Hellholm [Hg.], Apocalypticism [s. Anm. 102], 621-637 [629-632]) sind anderen Gattungen zuzuordnen. Vgl. zum Überblick über die spätantike jüdische und christliche Apokalyptik G.S. OEGEMA, Zwischen Gericht und Heil. Untersuchungen zur Rezeption der Apokalyptik im frühen Christentum und Judentum, WMANT 82, Neukirchen-Vluyn 1999. 117 D. HELLHOLM, Art. Apokalyptik I: Begriffsdefinition als religionsgeschichtliches Problem, RGG 4 I, 1998, 590f. (590). ll8 V g l . HANSON, Art. Apocalypses (s. Anm. 115), 280; ebd., 281: „Apocalypticism ... must accordingly be used with great caution".

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Analog ließen sich auch andere Verbindungen mit dem Adjektiv apokalyptisch' bilden, insofern eine bestimmte Kosmologie, Mittlervorstellung, Zeitperiodisierung etc. mehr oder weniger deutlich der .apokalyptischen' Vorstellungswelt zugeordnet werden kann 119 . Im Blick auf die Rede von der .apokalyptischen Eschatologie' ist hingegen zu betonen, daß diese Form eschatologischen Denkens weder Gemeingut der jüdischen Apokalypsen noch ein aussagekräftiges Kriterium zur Bestimmung des Wesens der Apokalyptik ist. An dieser Stelle ist die ältere Forschung deutlich zu korrigieren, die - verleitet durch die beiden kanonischen Apokalypsen dem Aspekt der temporalen End- oder Naherwartung eine besonders zentrale Bedeutung zugeschrieben 120 und aus primär sachlich-theologischen Anliegen allzu schematisch zwischen (.echter') Prophetie und Apokalyptik oder zwischen Apokalyptik und (.eigentlicher') Eschatologie unterschieden hat. d) Als eine Charakteristik .apokalyptischer' Literatur in verschiedenen religionsgeschichtlichen Kontexten wird häufig der Sachverhalt genannt, daß es sich hier um Offenbarungsliteratur im Horizont religiöser oder politischer Krisen oder Umbrüche handelt. Diese Erklärung war schon lange im Blick auf das Danielbuch vertreten worden, das im Kontext der Religionsnot der makkabäischen Zeit um 165 seine endgültige Gestalt erhalten hat; sie wurde in analoger Weise für die Johannesapokalypse vertreten, die traditionell als Reaktion auf eine Bedrängnis in der Spätzeit Kaiser Domitians angesehen wurde 121 . Auch Texte wie das 4. Esra-Buch oder auch das ägyptische Töpferorakel lassen sich als literarische ,Krisenbewältigung' verstehen 122 , wenngleich zwischen der zugrundeliegenden Krise und ihrer literarischen Bewältigung stets mit gewissen zeitlichen Verzögerungen zu rechnen ist.

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OLSSON, Apocalyptic Activity (s. Anm. 106), 21t., spricht daher allgemeiner von „apocalyptic ideas". 120 S. die oben Abschnitt 3.1. referierten Charakterisierungen in der Einfuhrung von Ph. Vielhauer. 121 Diese These ist inzwischen allerdings nachhaltig erschüttert, da einerseits die Belege für eine große Verfolgung der christlichen Gemeinde unter Domitian fehlen und in der Apokalypse nur ein einziger tatsächlicher Blutzeuge namentlich erwähnt wird. Weite Teile der neueren Forschung rechnen daher nicht mit einer tatsächlichen Krise der Gemeinde, sondern mit einer vom Autor lediglich wahrgenommenen (oder befürchteten) Krise. S. zum Problem A. YARBRO COLLINS, Crisis and Catharsis. The Power of the Apocalypse, Philadelphia 1984; L.L. THOMPSON, The Book of Revelation. Apocalypse and Empire, New York 1990. 122 S. z.B. H.-J. FABRY, Die frühjüdische Apokalyptik als Reaktion auf Fremdherrschaft. Zur Funktion von 4Q246, in: B. Kollmann/W. Reinbold/A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum. Festschrift Hartmut Stegemann, BZNW 97, Berlin 1999, 84-98.

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Der Sachverhalt ist jedoch keineswegs so einfach, daß man die apokalyptische Hoffnung im Ganzen als eine (bloße) Reaktion auf äußere politische oder religiöse Krisen verstehen dürfte - ganz abgesehen von den negativen Wertungen, die sich gelegentlich, wie im o.g. Zitat Julius Wellhausens 123 , mit einer solchen Interpretation verbanden. Schon das Danielbuch reicht ja in seinen Vorstufen in die Zeit vor der makkabäischen Krise zurück 124 . Die Rezeption des Weltreicheschemas und die entsprechende Periodisierung des Geschichtsverlaufs ist sicher vor dieser Zeit erfolgt 125 . Außerdem ist inzwischen durch die Funde von Qumran deutlich geworden, daß das Danielbuch gar nicht den Einsatzpunkt der frühjüdischen Apokalyptik bildet. Vielmehr zeigen die in Qumran gefundenen aramäischen Fragmente von Teilen des Henochbuches, deren paläographische Datierung vermutlich noch ins 3. Jahrhundert v.Chr. (so 4QEnastr a ) 126 bzw. in die 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr. (4QEn a ar) 127 zurückweist, daß das ,Wächterbuch' 1 Hen 1-36 1 2 8 wohl schon im 3. Jahrhundert entstanden ist, das astronomische Buch evtl. noch etwas früher129. Die ältere Forschung vor den Qumran-Funden hatte das Henochbuch in aller Regel nach Daniel, in das späte 2. oder 1. Jahrhundert v.Chr. datiert130. Diese Auffassung ist

123

S.o. Abschnitt 2.1. c) mit Anm. 48. S. kurz R.G. KRATZ, Art. Apokalyptik II: Altes Testament, RGG 4 I, 1998, 591f.; ausfuhrlich DERS., Translatio imperii, WMANT 63, Neukirchen-Vluyn 1991, 70-76; J.J. COLLINS, Art. Daniel/Danielbuch, RGG 4 II, 1999, 556-559; DERS., Daniel, Hermeneia, 1993, 29ff. 125 VGL d e n überblick bei COLLINS, Daniel (s. Anm. 124), 166ff. Nach FABRY, Die frühjüdische Apokalyptik (s. Anm. 122), 89-91, ist die Wandlung zur apokalyptischen Eschatologie in Dan 2 im Horizont der Machtpolitik des Antiochus III. zu verstehen. 126 Vgl. J.T. MlLIK, The Books of Enoch. Aramaic Fragments from Qumran Cave 4, Oxford 1976, 7.273, der die Handschrift auf das Ende des 3. bzw. den Anfang des 2. Jahrhunderts v.Chr. datiert; s. auch STEGEMANN, Bedeutung (s. Anm. 113), 504; J.C. VANDERKAM, Enoch (s. Anm. 102), 80ff. 127 Vgl. MlLIK, The Books of Enoch (s. Anm. 125), 140; STEGEMANN, Bedeutung (s. Anm. 113), 503f. MlLIK (ebd., 141) nimmt an, daß die Handschrift ihrerseits eine Kopie eines Manuskripts darstellt, das in das 3. Jahrhundert zurückreicht. 128 In der ältesten Handschrift 4QEn a ar sind von diesem Buch bereits die Anfangskapitel 1 Hen 1-5 belegt, die schon die redaktionelle Endgestalt des Wächterbuches repräsentieren dürften, s. dazu G.W.E. NICKELSBURG, 1 Enoch 1, Hermeneia, Minneapolis 2001, 132; L. HARTMAN, Asking for Meaning. A Study of 1 Enoch 1-5, CB.NT 12, Lund 1979, 139-141. 129 Vgl. M. ALBANI, Astronomie und Schöpfungsglaube. Untersuchungen zum Astronomischen Henochbuch, WMANT 68, Neukirchen-Vluyn 1994, 40f.; VANDERKAM, Enoch (s. Anm. 102), 83ff. 130 Vgl. etwa SCHÜRER, Geschichte II3 (s. Anm. 97), 510, der eine „Grundschrift des Buches Henoch" im letzten Drittel des 2. Jahrhunderts v.Chr. ansetzen wollte. 124

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nun zumindest für das astronomische Buch, das Wächterbuch und das ebenfalls in Qumran belegte Gigantenbuch zu korrigieren 131 . Die Rückdatierung hat entscheidende Bedeutung für das Verständnis der Anfänge der Apokalyptik, denn es ist nun deutlich, daß die , apokalyptischen' Themen von urzeitlichem Fall und eschatologischem Gericht, Thronvision, Himmelsreise und Straforten, die das Wächterbuch prägen, schon längst vor der großen Religionskrise unter Antiochus IV., die man bislang zumeist als die Geburtsstunde der .eigentlichen' Apokalyptik angesehen hatte, ausformuliert wurden. Die apokalyptische Literatur des antiken Judentums beginnt also nicht erst mit Daniel, sondern mit den älteren Teilen des Henochbuches, in denen die entsprechenden Themen erstmals literarisch belegbar entfaltet werden. Ob und inwiefern diese Texte (und die vielleicht parallel entstandenen Vorstufen des Danielbuches) ebenfalls auf innere oder äußere Krisen reagieren, bleibt unsicher, da sich der Standort der Tradenten und Verfasser sehr viel weniger präzise bestimmen läßt als bei den ,historischen' Apokalypsen wie Dan 10-12 mit ihrer klar erkennbaren vaticinium-ex-eventu-V orm. Ungeachtet dessen, ob man die Wurzeln der Apokalyptik und die Beweggründe für ihre Herausbildung ganz im Bereich der Henochtraditionen sehen will 132 oder ob man den Bezügen zur älteren Prophetie nach wie vor ein höheres Gewicht einräumt133, bleibt das Fazit, daß die jüdische Apo131 Vgl. auch S. UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch, JSHRZ V/6, Gütersloh 1984, 494; zum Gigantenbuch s. L.T. STUCKENBRUCK, The Book of Giants from Qumran, TSAJ 63, Tübingen 1997. 132 So STEGEMANN, Bedeutung (s. Anm. 113), 505-507, der jeden Konnex zur Prophetie scharf ablehnt; vgl. zur These mesopotamischer Hintergründe sowohl der Henochgestalt als auch der danielischen ,Menschensohn'-Gestalt H.S. KVANVIG, Roots of Apocalyptic. The Mesopotamian Background of the Enoch Figure and of the Son of Man, WMANT 61, Neukirchen-Vluyn 1988. Vgl. in diesem Sinn auch COLLINS, Daniel (s. Anm. 124), 70: „The tradition shows strong Mesopotamian influence which suggests that it originated in the eastern diaspora. In the case of Daniel, ... too, the evidence points to an eastern matrix for the tradition, although the visions were certainly composed in Israel." 133 Vgl. in diesem Sinne O. PLÖGER, Theokratie und Eschatologie, Neukirchen 1959; P.D. HANSON, The Dawn of Apocalyptic. The Historical and Sociological Roots of Jewish Apocalyptic Eschatology, Philadelphia 1979, der die Perspektive apokalyptischer Eschatologie auf Jes 56-66 und damit (bei einer sehr konservativen Datierung) bis ins 6. Jahrhundert v.Chr. zurückführt. Vgl. jedoch die Kritik bei J.J. COLLINS, Art. Apocalypses and Apocalypticism: Early Jewish Apocalypticism, AncBD I, 1992, 282-288 (284), sowie KRATZ, Art. Apokalyptik (s. Anm. 124), 592: „Die Anfange der A. liegen nicht im AT. Ähnlichkeiten in Ez, Jes 40-55, Sach 1-6 oder in spätprophetischen Fortschreibungen wie Jes 24-27, Jes 56-66 und Sach 9-14 beruhen auf der Rezeption des Materials in der jüngeren A." Vgl. die aus dem Vergleich von Sach 9-14 und dem Wächterbuch erwachsenen weiterfuhrenden Überlegungen bei E.J.C. TLGCHELAAR, Prophets of Old and the Day of the End. OTS 35, Leiden 1996, 263-265.

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kalyptik älter ist als die große Religionskrise des antiken Judentums und in ihren Beweggründen und Anliegen nicht ohne weitere Differenzierungen aus ihr erklärt werden kann. Sie ist keine ,bloße' Krisenbewältigung, erst recht nicht nur eine aus Enttäuschung geborene träumerisch-illusionistische Spekulation. Zumal als später apokalyptische Denkformen durch eine Vielzahl von Traditionen weiter verbreitet waren, konnten diese unabhängig von aktuellen politischen oder religiösen Krisensituationen aufgenommen und weitergebildet werden. e) Die Auffindung von Handschriften der Henochtradition, die früher anzusetzen sind als die Endredaktion des Danielbuches, macht noch in einer anderen Hinsicht „eine Neuorientierung notwendig" 134 : Die ältesten, eindeutig .apokalyptischen' Texte des antiken Judentums zeigen, daß es sich bei der jüdischen Apokalyptik nicht in erster Linie um eschatologische Hoffnungen und Spekulationen, nicht primär um Zukunfts- oder gar Naherwartung handelt. Diese Einschätzung, welche die Bewertung und Abwertung der jüdischen Apokalyptik in der älteren Forschung in besonders hohem Maße beeinflußt hat, ist im Blick auf die Anfänge und frühen Motive der jüdischen Apokalyptik definitiv unrichtig - so sehr solche Erwartungen, Periodisierungen und Berechnungen später in apokalyptischen Texten an prominenter Stelle begegnen 135 . Es geht in den Texten der ältesten jüdischen Apokalyptik nicht in erster Linie um Zukunftsspekulation, sondern eher um Orientierung für die eigene Gegenwart - wenngleich für die antiken Autoren zwischen diesen beiden Dimensionen kein Gegensatz bestanden haben dürfte 136 . Im Wächterbuch geht es z.B. primär um die Frage, warum die Welt so ist, wie sie ist, um die Frage nach dem Ursprung des Bösen 137 und seiner Überwindung, nach Gottes Gerechtigkeit und der Gültigkeit seiner Weltordnung - und darin nicht zuletzt um die Probleme der Theodizee. Zu diesem Zweck werden im Rahmen des symbolischen Universums' dieser Texte mythologische Traditionen über einen vorzeitlichen Fall der Engel geboten, vorwissenschaftliches (d.h. weisheitliches)

134

KOCH, Einleitung zur Apokalyptik (s. Anm. 102), 118. Die temporale Eschatologie mit ihren Geschichtsperiodisierungen begegnet erst in den .historischen' Apokalypsen, im Henochbuch der Tiersymbol- und der Wochenapokalypse, parallel dazu dann im Danielbuch, d.h. etwa ab der Makkabäerzeit. J.J. COLLINS, The Place of Apocalypticism in the Religion of Israel, in: ders., Seers (s. Anm. 102), 3957 (51), weist daraufhin, daß damit gegenüber dem Wächterbuch etwas Neues eingeführt wird, wobei allerdings die Grundlagen für eine spätere Geschichtsperiodisierung schon in 1 Hen 10,12 gelegt werden, wenn die Wächter für 70 Generationen gebunden werden. 136 Vgl. zum Folgenden die lucide Darstellung von „Worldview and Religious Thought" des Henochbuchs in NLCKELSBURG, 1 Enoch 1 (s. Anm. 128), 37ff., sowie COLLINS, The Place of Apocalypticism (s. Anm. 135), 47ff. 137 Vgl. J.J. COLLINS, The Origin of Evil in Apocalyptic Literature and the Dead Sea Scrolls, in: ders., Seers (s. Anm. 102), 287-300. 135

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Apokalyptik

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.Himmelswissen' in Form astronomischer, kosmographischer und meteorologischer Erklärungen und - mit ihnen verbunden - bildhafte Vorstellungen über die Beseitigung des Bösen und die Herauffuhrung des Heils. Doch scheint es in all diesen Aussagen weniger um ein spekulatives Ausforschen der Zukunft zu gehen als vielmehr um einen allen Widrigkeiten der Gegenwart zum Trotz an der Weltherrschaft und Weltordnung Gottes festhaltenden Glauben. Die dabei aufgenommenen dualistischen Entgegensetzungen (kosmisch: Gott || Menschheit; spatial: Himmel || Erde; temporal: Heilszeit || Gegenwart) reflektieren die Erfahrung der eigenen Gegenwart als einer von Unrecht und Gewalt geprägten, widersprüchlichen Zeit. Gegen diese Erfahrungen setzt die apokalyptische Wirklichkeitssicht Bilder von der endgültigen Überwindung des Bösen und von der Herauffuhrung der Heilszeit, Bilder von der Auflösung der schmerzlich erfahrenen Dualitäten, die - auch wenn die Erlösung noch zukünftig vorgestellt ist Vergewisserung und Identitätsstärkung in der Gegenwart bedeuten. Die Rezeption dieser apokalyptischen Traditionen und ihre Weiterbildung läßt vermuten, daß diese Form der Wirklichkeitsdeutung und -bewältigung in verschiedenen Kreisen als orientierungsstiftend und tragkräftig erfahren wurde. So sehr man also die Herausbildung einer solchen Literatur auch als eine kreative Reaktion auf die Wandlungen in der Lebenswelt ihrer Trägerkreise verstehen darf, wäre es doch völlig unangemessen, die literarischen Produkte als Zeugnisse einer Degeneration oder gar eines Rückfalls hinter das religiöse Niveau älterer Überlieferungen anzusehen. f) Es ist hier nicht der Ort, die alte Streitfrage zu erörtern, ob die jüdische Apokalyptik sich eher aus der Weisheit 138 oder aus der Prophetie 139 herleiten läßt - ganz abgesehen davon, daß diese Diskussion noch zu sehr von spezifisch theologischen Kategorien über den Geschichtsbezug der alttestamentlichen Traditionen etc. geprägt war. Die älteste Apokalyptik der Henochtradition zeigt sicher primär Anknüpfungen an (mantisch-)weisheitliche Traditionen 140 , während die jüngeren ,historischen' Apokalypsen des 138

S o G . VON R A D , T h e o l o g i e II ( s . A n m . 9 8 ) ,

S

1 9 8 4 , 3 1 6 - 3 3 8 ; DERS., W e i s h e i t i n I s -

rael, München 3 1985, 337-363; s. dazu BEDENBENDER, Gott (s. Anm. 102), 62-68. 139 So P. VON DER OSTEN-SACKEN, Die Apokalyptik in ihrem Verhältnis zu Prophetie und Weisheit, München 1969; s. dazu BEDENBENDER, Gott (s. Anm. 102), 6 8 - 7 0 . 140 Die Herleitung aus der mantischen Weisheit wurde zunächst von H.-P. MÜLLER, Mantische Weisheit und Apokalyptik, in: G.W. Anderson u.a. (Hg.), Congress Volume: Uppsala 1971, VT.S 22, Leiden 1972, 268-293, vertreten; vgl. weiter J.C. VANDERKAM, The Prophetic-Sapiential Origins of Apocalyptic Thought, in: J.D. Martin/Ph.R. Davies (Hg.), A Word in Season. Essays in Honour of William McKane, JSOT.S 42, Sheffield 1986, 163-178, K. KOCH, Die Anfänge der Apokalyptik in Israel und die Rolle des astronomischen Henochbuchs, in: ders., Von der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur, Neukirchen-Vluyn 1996, 3-39.

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Jörg Frey

Danielbuches und in den von ihm beeinflußten Zeugnissen dann auch eine intensivere Rezeption prophetischer Überlieferungen belegen 141 . Für die späteren Zeugnisse der frühjüdischen Apokalyptik ist diese aus der Perspektive der alttestamentlichen Wissenschaft formulierte Alternative ohnehin nicht mehr von Bedeutung. Entscheidend für die Frage nach den möglichen Anknüpfungen der Jesustradition ist jedoch ein anderer Aspekt, der gleichfalls das Verhältnis von Weisheit und Apokalyptik betrifft. Die erst in nach 1991 zugänglich gewordenen Weisheitstexte aus der Bibliothek von Qumran, insbesondere der sogenannte Musar le-Mevin (= Unterweisung für den Verständigen; früher Sapiential Work A; jetzt häufig auch lQ/4QInstruction genannt) und das sogenannte Book of Mysteries (lQ/4QMysteries) 1 4 2 zeigen nämlich eine bislang unbekannte Entwicklung der palästinisch-jüdischen Weisheitstradition auf, die in einem deutlichen Abstand zu den aus Kohelet, Hiob, den Proverbien oder Jesus Sirach bekannten Formen weisheitlicher Reflexion steht 143 . Die weisheitliche Reflexion verbindet sich hier mit apokalyptischen Motiven, z.B. von einem vorzeitlichen Engelfall, einer dualistischen Teilung der Menschheit oder von einem eschatologischen Gericht, ja die Weisheit wird in dieser Tradition insgesamt eine himmlisch vermittelte, offenbarte Weisheit präsentiert144, so daß man cum grano salis von einer Dualisierungu5 oder Apokalyptisierung der Weisheit sprechen kann 146 . 141

142

COLLINS, D a n i e l (s. A n m . 1 2 4 ) , 7 0 f .

Zur Einleitung in diese Texte s. zuletzt A. LANGE, Die Weisheitstexte von Qumran: Eine Einleitung, in: C. Hempel/A. Lange/H. Lichtenberger (Hg.), The Wisdom Texts from Qumran and the Development of Sapiential Thought, BETL 159, Leuven 2002, 3 30. 143 Vgl. D.J. HARRINGTON, TWO Early Jewish Approaches to Wisdom: Sirach and Qumran Sapiential Work A, in: C. Hempel/A. Lange/H. Lichtenberger (Hg.), The Wisdom Texts from Qumran and the Development of Sapiential Thought, BETL 159, Leuven 2002, 263-276. 144 Vgl. grundlegend F. GARCÍA MARTÍNEZ, Wisdom at Qumran: Worldly or Heavenly, in: ders. (Hg.), Wisdom and Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls and in the Biblical Tradition, BETL 168, Leuven 2003, 1 - 1 5 (14). Vgl. auch M.J. GOFF, The Worldly and Heavenly Wisdom of 4QInstruction, StTDJ 50, Leiden u.a. 2003. 145 S. dazu ausfuhrlich J. FREY, Different Patterns of Dualistic Thought in the Qumran Library, in: M. Bernstein/F. Garcia Martinez/J. Kampen (Hg.), Legal Texts and Legal Issues. Proceedings of the Second Meeting of the International Organization of Qumran Studies, Cambridge 1995, Published in Honor of J.M. Baumgarten, StTDJ 23, Leiden 1997, 275-335 (298f.). 146 Vgl. T. ELGVIN, Wisdom and Apocalypticism in the Early Second Century BCE: The Evidence of 4QInstruction, in: L.H. Schiffman/E. Tov/J.C. VanderKam (Hg.), The Dead Sea Scrolls Fifty Years After Their Discovery, Proceedings of the Jerusalem Congress, July 20-25, 1997, Jerusalem 2000, 226-247; DERS., Wisdom With and Without Apocalyptic, in: D. Falk/F. García Martinez/E. Schuller (Hg.), Sapiential, Liturgical and Poetical Texts from Qumran, StTDJ 35, Leiden 2000, 15-38. Zu möglichen Einflüssen

Jesus und die

Apokalypíik

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Diese Entwicklung vollzog sich nicht innerhalb der spezifischen Qumrangemeinschaft, sondern außerhalb ihrer bzw. in Vorläufergruppen, denn die genannten Weisheitstexte sind nach der Überzeugung der meisten Bearbeiter keine gruppenspezifischen Texte der ,essenischen' Gemeinschaft (des yahad), vielmehr repräsentieren sie eine ungefähr gleichzeitig mit Ben Sira anzusetzende, soziologisch aber anders einzuordnende Strömung der palästinisch-jüdischen Weisheit, deren Spuren sich erst jetzt, aus den Texten der Bibliothek von Qumran, erkennen lassen 147 . Dies hat Konsequenzen, auch für die Einordnung der Jesustradition. Hatte man in der Forschung bislang die Weisheit (als Erfahrungsweisheit) in den Proverbien, Jesus Sirach oder dann auch der Sapientia Salomonis als eine dem apokalyptischen Denken diametral gegenüberstehende Strömung angesehen, so daß sich für die Einordnung einzelner Logien der Jesustradition zumeist die Alternative ,weisheitlich oder apokalyptisch' stellte, so ist aufgrund der neu zugänglich gewordenen Texte festzustellen, daß sich diese beiden Bereiche schon längst vor der Zeitenwende überschneiden. Eine völlig unapokalyptische Weisheit läßt sich für den palästinischen Bereich um die Zeitenwende kaum mehr voraussetzen. Die Implikationen dieser Beobachtungen für die Einordnung der Texte aus der Logienquelle und anderen frühen Jesustraditionen sind in der Forschung noch keineswegs hinreichend wahrgenommen 148 . g) Insgesamt ist gerade aufgrund der Qumranfunde festzustellen, daß die Bedeutung der Apokalyptik oder zumindest einzelner apokalyptischer Motive im Judentum um die Zeitenwende größer war, als dies von der älteren Forschung angenommen wurde. Zwar hat die Qumrangemeinschaft vermutlich nicht selbst Texte der Gattung ,Apokalypse' verfaßt 149 , weil in aus der Henochtradition s. weiterführend L.T. STUCKENBRUCK, 4QInstruction and the Possible Influence of Early Enochic Traditions: An Evaluation, in: C. Hempel/A. Lange/ H. Lichtenberger (Hg.), The Wisdom Texts from Qumran and the Development of Sapiential Thought, BETL 159, Leuven 2002, 245-262. 147 S. außerdem o. Anm. 142 genannten Aufsatz von A. LANGE schon DERS., Weisheit und Prädestination. Weisheitliche Urordnung und Prädestination in den Textfunden von Qumran, StTDJ 18, Leiden 1995, bes. 301-306; DERS., In Diskussion mit dem Tempel. Zur Auseinandersetzung zwischen Kohelet und weisheitlichen Kreisen am Jerusalemer Tempel, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, BETL 136, Leuven 1998, 113-159; DERS., Die Endgestalt des protomasoretischen Psalters und die Toraweisheit. Zur Bedeutung der nichtessenischen Weisheitstexte aus Qumran für die Auslegung des protomasoretischen Psalters, in: E. Zenger (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum, HBS 18, Freiburg i. B. 1998, 101-136. 148

Vgl. jedoch D.J. HARRINGTON, Ten Reasons Why the Qumran Wisdom Texts are Important, D S D 4 (1997), 2 4 6 - 2 5 4 (254); J.J. COLLINS, Wisdom, Apocalypticism and Generic Compatibility, in: ders., Seers (s. Anm. 102), 385-404. 149 Dazu FREY, Bedeutung (s. Anm. 81); STEGEMANN, Bedeutung (s. Anm. 113), 520f.; J.J. COLLINS, Apocalypticism and Literary Genre in the Dead Sea Scrolls, in: P.W.

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ihr an die Stelle der divinatorisch bestimmten Traumvisionen und Himmelsreisen eine andere Art der Offenbarungsmitteilung trat: die inspirierte Auslegung der Schrift 150 , wie sie vermutlich durch den .Lehrer der Gerechtigkeit' praktiziert worden war und dann in spezifischen literarischen Formen wie den Pescharim weitergeführt wurde. Daher läßt sich die Qumrangemeinschaft nicht einfach als .apokalyptische Gemeinschaft' charakterisieren 151 , dennoch zeigt die Bibliothek von Qumran in eindrucksvoller Weise die Verbreitung der Henoch- und Danieltraditionen sowie die Rezeption einer Vielzahl sehr unterschiedlicher apokalyptischer Motive, sowohl in den von der Qumrangemeinschaft übernommenen Texten als auch in ihren eigenen literarischen Produkten. Es muß zu denken geben, daß eine Gruppierung, die selbst wohl keine Apokalypsen verfaßt hat, in ihrem Denken so stark von der Rezeption apokalyptischer Motive wie z.B. der Periodisierung der Zeiten, des eschatologischen Kampfes, der Gemeinschaft mit den Engeln etc. bestimmt war 152 . Offenbar sind im Anschluß an die Entwicklungen der Makkabäerzeit apokalyptische Theologumena nicht zuletzt über das noch in den hebräischen Kanon gelangte Danielbuch - in breite Kreise des Judentums der Spätzeit des Zweiten Tempels einge-

Flint/J C. VanderKam (Hg.), The Dead Sea Scrolls After Fifty Years, II, Leiden 1999, 403-430 (421). 150 Vgl. J.J. COLLINS, Was the Dead Sea Sect an Apocalyptic Movement, in: DERS., Seers (s. Anm. 102), 261-286 (279): „With the arrival of the Teacher of Righteousness, the sect had no need to rely on the authority of legendary heroes such as Enoch. The authority accorded to the contemporary figure of the Teacher is probaly a major reason why the sectarians dispensed with the literary form of the apocalypse." S. weiter A. LANGE, The Essene Position on Magic and Divination, in: M.J. Bernstein/F. Garcia Martinez/J. Kampen (Hg.), Legal Texts and Legal Issues. Proceedings of the Second Meeting of the International Organization of Qumran Studies, Cambridge 1995, Published in Honor of J.M. Baumgarten, StTDJ 25, Leiden 1997, 377-435 (v.a. 433-435); weiter DERS., Interpretation als Offenbarung. Zum Verhältnis von Schriftauslegung und Offenbarung in apokalyptischer und nichtapokalyptischer Literatur, in: F. García Martínez (Hg.), Wisdom and Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls and in the Biblical Tradition, BETL 168, Leuven 2003, 17-34. 151

So etwa F.M. CROSS, Die antike Bibliothek von Qumran und die moderne biblische Wissenschaft, Neukirchen-Vluyn 1967, 85f.; vgl. auch M. HENGEL, Judentum und Hellenismus, WUNT 10, Tübingen 1969 ( 3 1988), 319ff. S. zur Sache FREY, Bedeutung (s. Anm. 81). 152 S. dazu FREY, Bedeutung (s. Anm. 81); vgl. weiter F. GARCÍA MARTÍNEZ, Qumran and Apocalyptic. Studies on the Aramaic Texts from Qumran, StTDJ 9, Leiden 1992; DERS., Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls, in: J.J. Collins (Hg.) Encyclopedia of Apocalypticism I: The Origins of Apocalypticism in Judaism and Christianity, New York 2002, 162-192; COLLINS, Dead Sea Sect (s. Anm. 150); DERS, Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls, London 1997; DERS., Apocalypticism and Literary Genre in the Dead Sea Scrolls, in: P.W. Flint/J.C. VanderKam (Hg.), The Dead Sea Scrolls After Fifty Years, II, Leiden 1999, 403-430.

Jesus und die Apokalyptik

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gangen. Sie haben in j e unterschiedlicher Selektion das Denken der essenischen Kreise, aber auch den Pharisäismus geprägt sowie dann natürlich auch die Hoffnungen jener zelotischen Kreise, deren zunehmende Radikalisierung schließlich zur Katastrophe des jüdischen Krieges geführt hat. Die Marginalisierung der Apokalyptik in der älteren Forschung ist aus historischen Gründen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Vielmehr ist die Apokalyptik eine der wesentlichen geistigen Strömungen des Judentums der Zeit .zwischen den Testamenten', und weite Teile des Urchristentums und seiner Traditionen sind ohne den Beitrag des apokalyptischen Denkens historisch nicht zu verstehen. Dies gilt es im Blick auf die Gestalt Jesu von Nazareth nun zu verdeutlichen.

4. Apokalyptische Elemente in der Verkündigung Jesu Meine These ist, daß Jesus von Nazareth - soweit wir das historisch erkennen können - sehr viel stärker an apokalyptische Elemente angeknüpft und diese wesentlich positiver aufgenommen hat, als dies die exegetische Forschung lange Zeit zugestehen wollte. 4.1. Zur gegenwärtigen

Forschungssituation

Diese Sicht der Dinge hatte sich eigentlich schon seit dem Umbruch von der liberalen' Jesusdeutung zum ,eschatologischen' Verständnis der Verkündigung Jesu durchgesetzt. Doch die Erkenntnis, daß Jesu Verkündigung vom Reich Gottes nicht ein immanent-geschichtliches oder gar individuellinnerliches, sondern ein eschatologisch erwartetes Reich bezeichnet, wurde in der theologischen Interpretation bei Schweitzer ebenso wie dann bei Bultmann in signifikanter Weise neutralisiert 153 , und in neuerer Zeit ist der ,klassische' Konsensus der eschatologischen Interpretation des Wirkens und der Verkündigung Jesu insbesondere in der nordamerikanischen Forschung aufs Neue zweifelhaft geworden. Im Hintergrund der neuerlichen Argumentation für einen ,Non-Eschatological Jesus' 1 5 4 stand zuerst die durch Norman Perrin in die nordamerikanische Exegese vermittelte existentiale Gleichnisinterpretation 155 , hinzu kamen vor allem quellenkriti153

S.o. Abschnitt 2.1. d) und e). So der von Marcus Borg verwendete Terminus: M.J. BORG, Jesus in Contemporary Scholarship, Valley Forge 1994, 47-68. Zum Stand der Debatte s. auch D. S. DU Torr, Redefining Jesus: Current Trends in Jesus Research, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q. The Teaching of Jesus and its Earliest Records, JSNT.S 214, Sheffield 2001, 82-124 (110-113). 155 S. abschließend N. PERRIN, Jesus and the Language of the Kingdom, Philadelphia, 1976, bes. 1-15, sowie bereits DERS., Rediscovering the Teaching of Jesus, New York 154

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s e h e Ü b e r l e g u n g e n , e t w a v o n John S. Kloppenborg i m B l i c k a u f d i e redakt i o n e l l e S c h i c h t u n g der L o g i e n q u e l l e 1 5 6 u n d die h i s t o r i s c h e E i n o r d n u n g der darin enthaltenen S t o f f e 1 5 7 s o w i e - bei e i n i g e n A u t o r e n w i e z . B . Helmut Koester u n d John Dominic Crossan - die programmatische Aufwertung außerkanonischer Traditionen 1 5 8 , i n s b e s o n d e r e d e s k o p t i s c h e n T h o m a s E v a n g e l i u m s 1 5 9 , das nun zu e i n e m H a u p t z e u g e n für die früheste Jesusüberl i e f e r u n g avanciert 1 6 0 . S o wird derzeit d i e T h e s e e i n e s v o n allen a p o k a l y p t i s c h e n E l e m e n t e n d e u t l i c h abgerückten, primär w e i s h e i t l i c h e n J e s u s einflußreich v o n Marcus Borg, John Dominic Crossan oder Burton Mack vertreten 1 6 1 , a u ß e r d e m in einer z u m Teil aufklärerisch-popularisierenden W e i 1967, 202ff. (= dt.: DERS., Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Deutung, Göttingen 1972, 232ff.), wo Perrin in Abweichung von seiner früheren stärker forschungsgeschichtlichen Arbeit (DERS., The Kingdom of God in the Teaching of Jesus, London 1963) in Anlehnung an Bultmann die lineare Zeitkonzeption im Verständnis der Eschatologie Jesu in Frage stellt. 156 VGL grundlegend D. LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen-Vluyn 1969; weiter J.S. KLOPPENBORG VERBIN, The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections, Philadelphia 1987; s. zuletzt DERS., Excavating Q. The History and Setting of the Sayings Gospel, Edinburgh 2000; s. zur Geschichte der Forschung J.M. ROBINSON/P. HOFFMANN/J.S. KLOPPENBORG, The Critical Edition of Q, Leuven 2000, xlvii-lxvi. 157 Im Zentrum stehen hier die Worte vom kommenden Menschensohn (dazu waren einflußreich VIELHAUER, Gottesreich (s. Anm. 100) (s. dazu u. Abschnitt 4.4.); H.E. TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959. 158 S. programmatisch J.D. CROSSAN, Four Other Gospels. Shadows on the Contours of the Canon, Minneapolis 1985; DERS., The Cross that Spoke. The Origins of the Passion Narrative, San Francisco 1988; DERS., Historical Jesus (s. Anm. 14); s. auch H. KOESTER, Ancient Christian Gospels. Their History and Development, London/Philadelphia 1990. 159 Vgl. das einflußreiche Werk des Koester-Schülers S.J. PATTERSON, The Gospel of Thomas and Jesus, Sonoma 1993. Im Hintergrund steht die u.a. von H. KOESTER (Introduction: The Gospel According to Thomas, in: B. Layton [Hg.], Nag Hammadi Codex 11,2-7, Vol. I, NHS 20, Leiden 1989, 38-49) und seinen Schülern vertretene Frühdatierung des Thomas-Evangeliums in die Mitte des 1. Jahrhunderts (s. dazu kritisch J. SCHRÖTER/H.-G. BETHGE, Das Evangelium nach Thomas, in: H.-M. Schenke/H.-G. Bethge/U.U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch, 1. Bd.: NHC 1,1 - V.l, Berlin/New York 2001, 151-163). 160 Sowohl in der Ausgabe des Jesus Seminar (R.W. FUNK/R.W. HOOVER and THE JESUS SEMINAR, The Five Gospels. The Search for the Authentic Words of Jesus, New York u.a. 1993) also auch bei CROSSAN, Historical Jesus (s. Anm. 14), 427-450 wird dem koptischen Thomas-Evangelium (und z.T. noch weiteren, erst quellenkritisch hergestellten Texten) die historische Priorität vor den synoptischen Traditionen eingeräumt. Auch bei F. VOUGA, Geschichte des frühen Christentums, UTB 1733, Tübingen/Basel 1994, gilt das Thomas-Evangelium als Zeuge für die Epoche von 30-60 n.Chr. 161

BORG, A T e m p e r a t e C a s e (s. A n m . 14); DERS., J e s u s (s. A n m . 14); CROSSAN,

Historical Jesus (s. Anm. 14); B.L. MACK, The Lost Gospel: The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993; DERS., Q and Cynic-Like Jesus, in: W.E. Arnal/M.

Jesus und die Apokalyptik

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se von den Fellows des sogenannten Jesus Seminar, dessen Methode der Abstimmung über die ,Echtheit' von Jesuslogien mit unterschiedlich gefärbten Kügelchen eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat162. Es ist allerdings deutlich zu erkennen, daß im Hintergrund dieser neueren ,uneschatologischen' bzw. ,unapokalyptischen' Jesusbilder ein dezidiert hermeneutisches Interesse mitschwingt, Jesus nicht als weltverneinenden Endzeitpropheten, sondern als einen für die kulturelle und gesellschaftliche Fragen aufgeschlossenen Verkündiger zu verstehen163. Das dabei angeführte ,Gegenbild' der ,Apokalyptik' ist dabei oft recht grob und von den Einsichten der neueren Apokalyptikforschung kaum berührt. Aufschlußreich formuliert die Ausgabe der ,Five Gospels': „Scholars are agreed that Jesus spoke frequently about God's imperial rule, or, in tional language, about the kingdom of God. Does this phrase refer to God's direct vention in the future, something connected with the end of the world and the last ment, or did Jesus employ the phrase to indicate something already present and of elusive nature? The first of these options is usually termed apocalyptic, a view expressed in the book of Revelation, which is an apocalypse." 164

tradiinterjudgmore fully

Das Zitat zeigt, wie einseitig hier das Kriterium der ,Zukünftigkeit' bzw. der Bezug auf das ,Weltende' (und letzte Gericht) den Terminus Apokalyptik' prägt. Darin liegt eine popularisierte Form der inzwischen veralteten ,Wesensbestimmung' der Apokalyptik vor, die freilich noch in zahlreichen Lehrbuchdarstellungen (wie z.B. dem Artikel Ph. Vielhauers) weitergegeben wird. Schärfer kommentiert Norman T. Wright das Apokalyptikbild der Fellows: „,Apocalyptic' is, more or less ,that which fundamentalists believe about the end of the world'."165 Von der Inanspruchnahme durch einen solchen Bibelfundamentalismus will z.B. das Jesus Seminar den historischen Jesus mit aller Entschlossenheit abrücken166. Das bedeutet Desjardins (Hg.), Whose Historical Jesus? Studies in Christianity and Judaism 7, Waterloo 1997, 25-36. 162 Zum Vorgehen der Fellows s. die Beschreibung in: FUNK/HOOVER et al., The Five Gospels (s. Anm. 160), 34-38. 163 Dies ist deutlich bei BORG, A Temperate Case (s. Anm. 14), 61, der auf die Möglichkeit verweist, Jesus in einen positiveren Bezug zur gegenwärtigen Kultur zu bringen, als dies möglich wäre, wenn man ihn als einen an Geschichte und Gesellschaft uninteressierten Verkündiger des Weltendes sehen müßte. Auch wenn diese Alternative sicher überzogen ist, zeigt sich doch hier deutlich ein applikatives Interesse der Argumentation für den ,non-eschatological Jesus'. Vgl. auch DERS., Jesus (s. Anm. 14), 190-204. 164 FUNK/HOOVER et al., The Five Gospels (s. Anm. 160), 137. 165 N.T. WRIGHT, Five Gospels But No Gospel. Jesus and the Seminar, in: B. Chilton/C.A. Evans (Hg.), Authenticating the Activities of Jesus, NTTS 28,2, Leiden 1999, 83-120(105). 166 Vgl. WRIGHT, Five Gospels (s. Anm. 165), lOlf.: „Jesus must not in any way appear to give sanction ot contemporary apocalyptic preaching, such as that on offer in the fundamentalist movements against whichthe Jesus Seminar is reacting so strongly. Jesus

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jedoch, daß das Interesse an der Applikation bzw. Nicht-Applikation spezifischer Aussagen die historische Wahrnehmung, die zur Geltung gebrachten Kategorien und natürlich auch die Ergebnisse bestimmt. Dies alles ist nachvollziehbar in der Antithese zu manchen religiösen Strömungen, insbesondere in Nordamerika, die sich besonders stark auf die apokalyptischen Aussagen Jesu, z.B. von seiner Parusie oder dem letzten Gericht, als Schriftgrundlage berufen - aber historisch ist ein derart stark interessegeleitetes Vorgehen in jedem Falle problematisch. Darin zeigt sich gerade jener Zirkel, auf den bereits Albert Schweitzer aufmerksam gemacht hatte: daß die rekonstruierten Jesusbilder den religiösen Idealen ihrer Konstrukteure auffällig gleichen 167 , was die historische Plausibilität der Rekonstruktionen natürlich auf schärfste in Frage stellt. Im „resolutely non-apocalyptic Jesus" 168 der neuesten nordamerikanischen Forschung wiederholt sich somit in neuen Gewändern - aber historisch kaum überzeugender - das Bestreben der alten liberalen Jesusforschung, Jesus ,vor der Apokalyptik zu retten'. 4.2. Zur Frage der historischen Plausibilität: Jesus zwischen Johannes dem Täufer und dem frühesten nachösterlichen Bekenntnis Wenn es um Fragen der historischen Plausibilität geht, dann ist der historische Kontext Jesu, seine Einbettung in das zeitgenössische palästinische Judentum und seine erste .Wirkung' in den Aussagen des frühesten nachösterlichen Christentums methodisch mitzubedenken. Erst im Rahmen dieser doppelten Bezüge läßt sich - wie Gerd Theißen formuliert hat - historische Plausibilität im Sinne von Kontext- und Wirkungsplausibilität gewinnen 169 . must not, therefore, have supposed that the end of the world was at hand, or that God was about to judge people, or that the Son of Man ... would shortly ,come on the clouds.' All these things form the scriptural basis for much stock-in-trade fundamentalist preaching; the Seminar therefore wishes to rule them out of court. The older flight from apocalyptic was designet to save orthodox Christianity; the newer one is designet to subvert it." 167 „Der historische Jesus der ,Five Gospels' ist ... der Anwalt der Armen und Diskriminierten, der Schrecken für die Scheinfrommen und die Reichen: das Erbe der .Theologie der Befreiung' wird durch ihn mitverwaltet. ... Der ,rote' Jesus dieses Buches, respektlos und rebellisch gegenüber Frommen und Reichen, dem einfachen Volk verbunden, dessen vulgäre Sprache er übernahm, ist eher selbst ein vorbildlicher ,Fellow', eine Art von geistlichem enfant terrible und troublemaker... In summa: Der .historische' Jesus der ,Fünf Evangelien' ist ... vor allem ein Held unserer Zeit" (O. BETZ, Rez. The Five Gospels, ThLZ 119 [1994], 987-990 [989f.]). 168 So die Bezeichnung bei WRIGHT, Five Gospels (s. Anm. 165), 101 (s. insgesamt ebd., 101-110). 169 S. die Überlegungen bei G. THEIßEN/D. WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Freiburg Schweiz/Göttingen 1997; zum Problem der Kriterien der Rückfrage nach dem histori-

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Wendet man dieses Kriterium auf die Frage nach apokalyptischen Elementen in der Verkündigung Jesu an, dann sind zumindest zwei Kontexte zu bedenken: Zum einen die historisch fast unstrittige Verbindung Jesu von Nazareth mit dem ,Täufer' Johannes, zum anderen die sehr frühe Deutung der österlichen Erscheinungen durch das Bekenntnis zur Auferwekkung Jesu von den Toten und die ebenfalls früh einsetzende Hoffnung auf die Parusie des Erhöhten. Beide Elemente sind bereits im vorpaulinischen Formelgut und dann natürlich bei Paulus selbst belegt und somit literarisch früher anzusetzen als die meisten Traditionen der kanonischen Evangelien (oder auch der Logienquelle und des Thomas-Evangeliums) 170 . Wenn der Ausgangspunkt von Jesu Wirken und Verkündigung so deutlich von apokalyptischen Themen geprägt ist, und wenn seine früheste nachösterliche Rezeption gleichfalls in einem apokalyptischen Horizont erfolgt, dann muß jede Rekonstruktion, die Jesus selbst, sein Wirken und seine Verkündigung, von einem solchen Horizont grundlegend zu distanzieren versucht, in ihrer historischen Plausibilität fragwürdig werden 171 . Es ist hier nicht der Ort, diese Bezüge ausführlich darzustellen und ihre Probleme zu erörtern. Nur wenige Hinweise müssen genügen. a) Eines der sichersten historischen Daten im Leben Jesu ist seine .Taufe' durch den Täufer Johannes (Mk 1,9). Aus späterer christlicher Perspektive wäre eine solche Nachricht praktisch ,unerfindbar', und im Zuge der Evangelienüberlieferung wurden die Berichte über diesen für Jesu Wirksamkeit grundlegenden Akt immer stärker .entschärft' und der weiterentwickelten Christologie angepaßt 172 . Dies bestätigt indirekt die Überlieferung, daß Jesus von Nazareth sich wie andere Juden auch, wohl „nach Ab-

schen Jesus s. meine Überlegungen in FREY, Der historische Jesus (s. Anm. 15), 290293. 170 Vgl. auch E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985: „From John the Baptist to Paul". 171 Dies geschieht aber bei den Fellows des Jesus Seminar, vgl. die sehr erhellende Feststellung bei FUNK/HOOVER et al., The Five Gospels (s. Anm. 160), 137: „The views of John the Baptist and Paul are apocalyptically oriented. The early church aside from Paul shares Paul's view. The only question is whether the set of texts that represent God's rule as present were obfuscated by the pessimistic apocalyptic notions of Jesus' immediate predecessors, contemporaries, and successors." 172 In Lk 3,21f. wird Jesu Taufe erst nach der Notiz über die Inhaftierung des Täufers (3,20) erzählt. Im Taufbericht selbst fehlt der Täufer völlig. In Mt 3,13-17 lehnt der Täufer es ab, Jesus zu taufen, vielmehr müsse Jesus ihn taufen (vgl. noch das Fragment aus dem Ebionäerevangelium nach Epiphanius, Pan. XXX 13,4f.). Im Johannesevangelium ist der Täufer vollends zum reinen Zeugen Jesu stilisiert. Diese gemeinsame Tendenz der Jesusüberlieferung läßt sich aus dem Interesse erklären, den Anschein einer Überordnung oder Überlegenheit des Täufers über Jesus zu vermeiden und umgekehrt ihn als Vorläufer bzw. Zeugen Jesus unterzuordnen.

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legung eines Sündenbekenntnisses"173 dem vom .Täufer' (oder besser ,Eintaucher'174) praktizierten und für ihn kennzeichnenden175 Tauchritus „der Umkehr zur Vergebung der Sünden" (Mk 1,4; Lk 3,3) im Jordan unterzog. Dies setzt voraus, daß Jesus zuvor mit der prophetischen Verkündigung des Johannes bekannt geworden war und ihr, indem er sich dem Tauchbad unterzog, auch öffentlich zustimmte176. Das heißt aber, zwischen dem Täufer und Jesus besteht eine grundlegende Kontinuität (bei gleichzeitigen Differenzen) 177 , die man vielleicht sogar - cum grano salis - als Schülerschaft bezeichnen kann178, so daß sich die Frage stellt, was der irdische Jesus von seinem .Vorläufer' und ,Mentor' übernommen hat. Der Täufer, soweit man sein Profil aus den Quellen historisch rekonstruieren kann179, war sehr eindeutig eine von eschatologischen Vorstellun173

So M. WOLTER, „Gericht" und „Heil" bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin/New York 2002, 355-392 (357). Wo man dies grundsätzlich zu bestreiten versucht, fuhrt eine Christologie Regie, die nicht nur anachronistisch-dogmatisch, sondern auch als tendenziell doketisch einzuordnen ist. 174 So mit Recht WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), 375, der auf die anachronistischen Konnotationen der Begriffsverwendung ,Täufer', .Taufe', .taufen' für Johannes hinweist. 175 So sehr, daß er mit dem ungewöhnlichen Namen ö ßcnmaTTis (der Untertaucher) belegt wurde, den auch Josephus (Ant. XVIII 116) bezeugt, obwohl er die Deutung des Ritus ebenso wie die eschatologischen Züge des Täufers tilgt. Zum Problem H. LICHTENBERGER, The Dead Sea Scrolls and John the Baptist: Reflections on Josephus' Account of John the Baptist, in: D. Dimant/U. Rappaport (Hg.), The Dead Sea Scrolls: Forty Years of Research, Leiden 1992, 340-346. 176 So mit Recht WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), 357. 177 Dies trifft auch dann zu, wenn man damit rechnen muß, daß Logion z.T. in der Überlieferung sekundär angeglichen wurden. Offen bleiben muß, ob Jesus vor oder gar nach seiner Taufe noch länger mit dem Täufer zusammen war oder gar selbst taufte, wie dies Joh 3,25 suggeriert. Hier (und in Joh 4,2) scheinen sich Zustände der späteren christlichen Gemeinde niederzuschlagen, 178 Eine zeitweise Zugehörigkeit zum Umfeld des Täufers - ob es zu seinen Lebzeiten schon feste Jüngerkreise gab, ist fraglich - ist für einige der Jünger Jesu durchaus plausibel und für Jesus selbst nicht auszuschließen (s. dazu J.P. MEIER, A Marginal Jew 2, New York 1994, 123). Freilich lassen es die Quellen nicht zu, den .Werdegang' Jesu in einer Entwicklung, etwa vom Büßer über den Schüler und den Selbst-Täufer hin zum Heiler, nachzeichnen (gegen P.W. HOLLENBACH, The conversion of Jesus: From Jesus the Baptizer to Jesus the Healer, ANRW II 25/1, Berlin/New York 1982, 196-219). Eine etwas mildere Form der Entwicklung vermutet M. EBNER, Jesus - ein Weisheitslehrer?, HBS 15, Freiburg 1998, 421-425, wenn er vermutet, der galiläische Dorfbewohner Jesus sei nach einer Zeit als apokalyptischer Täuferschüler wieder in seine vom weisheitlichen Denken geprägte ,Heimat' zurückgekehrt. 179 S. zum Überblick O. BÖCHER, Art. Johannes der Täufer, TRE 17, 1988, 172-181; S. VON DOBBELER, Das Gericht und das Erbarmen Gottes. Die Botschaft Johannes des Täufers und ihre Rezeption bei den Johannesjüngern im Rahmen der Theologiegeschichte

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Apokalyptik

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gen geprägte, prophetische Gestalt180, die eine nicht unbeträchtliche V o l k s b e w e g u n g auslöste und am E n d e v o n H e r o d e s Antipas w o h l aus politis c h e n G r ü n d e n b e s e i t i g t w u r d e . D i e nur in der L o g i e n t r a d i t i o n ü b e r l i e f e r t e G e r i c h t s p r e d i g t ( M t 3 , 7 - 1 0 . 1 2 par. Lk 3 , 7 - 9 . 1 7 ) , s c h e i n t „ k a u m c h r i s t l i c h b e a r b e i t e t " 1 8 1 z u s e i n . D i e T r a d e n t e n der L o g i e n ü b e r l i e f e r u n g k o n n t e n s i e w o h l in i h r e m S i n n a u f n e h m e n , a b e r w ä r e n d i e W o r t e erst n a c h ö s t e r l i c h f o r m u l i e r t , w ü r d e n s i e s i c h e r a n d e r s l a u t e n . D i e R e d e v o n der T a u f e m i t „ H e i l i g e m G e i s t u n d F e u e r " ( M t 3 , 1 1 ; Lk 3 , 1 6 ) ist in M k 1,8 b e r e i t s abg e k ü r z t u n d e n t s c h ä r f t . I n s o f e r n führt d i e s e P a s s a g e s e h r n a h e an d e n . h i s t o r i s c h e n J o h a n n e s ' h e r a n 1 8 2 . D i e A n r e d e der H ö r e r als

„Schlangen-

brut" u n d d i e R e d e v o m „ k o m m e n d e n Z o r n " ( M t 3 , 7 ; Lk 3 , 7 ) , v o n der an d i e W u r z e l a n g e l e g t e n A x t ( M t 3 , 1 0 ; Lk 3 , 9 ) , v o m W o r f e l n n a c h

dem

D r e s c h e n ( M t 3 , 1 2 ; Lk 3 , 1 7 ) u n d v o m F e u e r g e r i c h t ( M t 3 , 9 . 1 2 ; L k 3 , 7 . 1 7 ) l a s s e n e t w a s v o n d e r S c h ä r f e der G e r i c h t s d r o h u n g d e s T ä u f e r s e r k e n n e n , d e r e n B i l d e r s i c h a u s der ( s p ä t e n ) p r o p h e t i s c h e n u n d a p o k a l y p t i s c h e n Tra-

des Frühjudentums, BBB 70, Bonn 1988; J. ERNST, Johannes der Täufer. Interpretation, Geschichte, Wirkungsgeschichte, BZNW 53, Berlin/New York 1989; R.L. WEBB, John the Baptizer and Prophet. A Socio-Historical Study, JSNT.S 62, Sheffield 1991; E.F. LUPIERI, John the Baptist in New Testament Traditions and History, ANRW II 26.1, Berlin/New York 1992, 430-461; M. TILLY, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten. Die synoptische Täuferüberlieferung und das jüdische Prophetenbild zur Zeit des Täufers, BWANT 137, Stuttgart u.a. 1994; B. CHILTON, John the Purifier, in: ders./ C.A. Evans, Jesus in Context. Temple, purity, and restoration, AGJU 39, Leiden 1994, 203-220; J.E. TAYLOR, The Immerser. John the Baptist within Second Temple Judaism, Grand Rapids 1997. Vgl. weiter die Darstellungen zum historischen Jesus, knapp G. THEIBEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 184ff.; besonders ausfuhrlich MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 19-99. 180 Zum prophetischen Habitus s. TILLY, Johannes der Täufer (s. Anm. 179); WEBB, John the Baptizer (s. Anm. 179). Die Argumente, die BORG, Contemporary Scholarship (s. Anm. 154), 77, anfuhrt, um die Möglichkeit einer nicht-eschatologischen Interpretation des Täufers offenzuhalten, sind nicht überzeugend. Daß Josephus den Täufer unter Tilgung der eschatologischen Züge zeichnet (wie auch die Reihe der essäischen Propheten, deren politisch-eschatologische Züge er durchweg tilgt, s. dazu LICHTENBERGER, The Dead Sea Scrolls [s. Anm. 175]), und die Möglichkeiten, die Sprache des Johannes stärker gesellschaftlich-politisch zu sehen oder das von ihm angekündigte Gericht nicht als das streng genommen .letzte' Gericht, sondern als ein innergeschichtliches anzusehen, mindert weder den bedrängenden Charakter seiner Ankündigungen noch ihre , apokalyptische' Bildwelt. Borgs .Definition', nach der ,eschatologisch' nur genannt werden kann, was im strengen Sinne auf das Ende der Welt bezogen ist, erscheint hier zu eng. 181

So THEIBEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 188. So auch J.D.G. DUNN, Jesus Remembered, Grand Rapids/Cambridge 2003, 363; gegen W. ARNAL, Redactional Fabrication and Group Legitimation. The Baptist's Preaching in Q 3:7-9, 16-17, in: J.S. Kloppenborg (Hg.), Conflict and Invention, Valley Forge 1995, 165-180. 182

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dition speisen 1 8 3 . D a s Gericht über Israel oder seine Führer steht unmittelbar bevor, und die Abrahamskindschaft bietet keine Rettung vor d i e s e m vernichtenden Feuer. D i e Berufung auf die alte H e i l s g e s c h i c h t e hilft nicht mehr. Hier z e i g e n sich deutlich apokalyptische Z ü g e ( w a s nicht aus-, sondern einschließt, daß das drohende Gericht letztlich Heil herauffuhren fuhren soll) 1 8 4 . In d i e s e m Rahmen gehört auch die Erwartung e i n e s S t ä r k e ren' (Mt 3,11; Lk 3,16), der mit Gott selbst oder e i n e m v o n ihm B e v o l l mächtigten identifiziert w e r d e n kann 1 8 5 , und der v o n Johannes offerierte Umkehrritus mit Eintauchen i m ,Grenzfluß' des Jordan, in d e m W a s s e r ersatzweise an die Stelle des .reinigenden' Feuers trat 186 , um so vor d i e s e m z u bewahren. Es läßt sich kaum mit Gründen bestreiten, daß der irdische Jesus v i e l e der skizzierten V o r s t e l l u n g e n mit d e m Täufer geteilt hat 1 8 7 . Z u m i n d e s t „in 183 Vgl. MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 31: „an eschatological prophet tinged with same apocalyptic motifs". Eine eschatologische Reinigung der Herzen durch Gottes ,Heiligen Geist' kennt auch die Zweigeisterlehre aus der Gemeinderegel von Qumran; vgl. 1QS IV 21. 184 Daß hier in der Forschung häufig falsche Alternativen bemüht werden, hat WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), 362f., mit Recht aufgezeigt. Heil ist letztlich bei einem Großteil der alttestamentlichen und auch der apokalyptischen Gerichtsdarstellungen intendiert, s. auch H. MERKLEIN, Gericht und Heil. Zur heilsamen Funktion des Gerichts bei Johannes dem Täufer, Jesus und Paulus, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 60-81; B. JANOWSKI, JHWH der Richter - ein rettender Gott, JBTh 9 (1994), 53-86. 185 Für die letztgenannte Möglichkeit gibt WEBB, John the Baptizer (s. Anm. 179), 254-258.284-288 gute Gründe; s. auch THEMEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 189f. Inwiefern der Täufer selbst eine distinkte Vorstellung des .Kommenden' hatte (wie Mt 11,3; Lk 7,19 nahelegt), läßt sich allerdings kaum mehr klären. 186 BÖCHER, Art. Johannes der Täufer (s. Anm. 179), 172f., weist daraufhin, daß nach Num 31,22f. (vgl. mAZ 5:12) „unreine Geräte, die einer Lustration durch Feuer nicht ausgesetzt werden könnten, ersatzweise mit Wasser gereinigt werden dürfen". 187 VGL. zum Verhältnis zwischen dem Täufer und Jesus außer WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), und MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 116ff., weiter J. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen 1972; J. MURPHY-O'CONNOR, John the Baptist and Jesus. History and Hypotheses, NTS 36 (1990), 359-374; R.L. WEBB, John the Baptist and His Relationship to Jesus, in: B. Chilton/C. A. Evans (Hg.), Studying the historical Jesus. Evaluations of the state of current research, NTTS 19, Leiden u.a. 1994, 179-229; R. URO, John the Baptist and the Jesus Movement: What Does Q Tell Us?, in: R. Piper (Hg.), The gospel behind the gospels. Current Studies on Q, NT.S 75, Leiden u.a. 1995, 231-257; N. WALTER, Johannes und Jesus - zwei eschatologische Propheten. Das Selbstbild Jesu im Spiegel seines Bildes vom Täufer nach Q/Lk 7,24-35, in: U.H.J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen-Vluyn 2002, 135-151; U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazaret. Ein Vergleich, in: ders., Christologie und Apokalyptik, ABG 12, Leipzig 2003, 42-58; D.C. ALLISON, The continuity between John and Jesus, Journal for the study of the historical Jesus 1 (2003), 6-27; L.

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bezug auf den propositionalen Gehalt der Gerichtserwartungen von Johannes und Jesus läßt sich kein Unterschied ausmachen" 188 . Israel und seine Führer stehen unter dem Gericht, das plötzlich kommen (Lk 12,16-20; 13,1-5; auch Lk 10,13-15; 11,31), mitten durch Israel hindurch Scheidung bringen (Lk 17,34f.) und die Verhältnisse zugunsten der Letzten, der Armen, Hungernden und Weinenden, umkehren soll (vgl. Mk 10,31; Lk 14,11; Lk 17,33; aber auch Lk 6,20-22) und vor dem allein die sofortige Umkehr (Lk 13,5) retten kann. Natürlich besteht in Jesu Verkündigung auch eine grundlegende Differenz zum Täufer, die man oft in der Gewichtung von Gerichts- und Heilsbotschaft sehen wollte, die aber vermutlich noch viel grundsätzlicher im Auftreten Jesu selbst und seiner theologischen Qualifikation (und damit im Bezug auf seine ßaaiAeia-Verkündigung) begründet ist 189 . Jedenfalls kann man die erwähnten Logien - die sich noch vermehren ließen - keineswegs alle einer späteren Schicht frühchristlicher Verkündigung zuschreiben, um Jesus von Nazareth auf diese Weise von seinem unmittelbaren Kontext, seinem ,Mentor' Johannes abheben. Vielmehr sind eine Reihe von Zügen der Gerichtsverkündigung Jesu mit der des Täufers parallel. Auch die Verkündigung Jesu ist von einem apokalyptischen Bewußtsein der unmittelbaren Nähe des göttlichen Gerichtshandelns geprägt 190 . b) Eine zweite historische Annäherung an die Gestalt Jesu von Nazareth soll von der anderen Seite her erfolgen: vom urchristlichen Osterglauben und seinen frühen Zeugnissen bei Paulus bzw. in der vorpaulinischen Formeltradition. Hier war der Einsatzpunkt, von dem aus Ernst Käsemann die These aufstellte, die Apokalyptik sei die ,Mutter der christlichen Theologie" 9 1 . Die österlichen Erscheinungen Jesu, wie immer diese religionspsychologisch zu deuten sind 192 , wurden von den Nachfolgern des irdischen Jesus offenbar sehr früh mit Hilfe des Konzepts der Totenauferweckung gedeuSCHENKE, Jesus und Johannes der Täufer, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret - Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 84-105. 188 WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), 368; vgl. die Zusammenstellung ebd., 359f.; auch M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA.NF 23, Münster 1990, 304f. Zu den jesuanischen Gerichtsaussagen s. u. Abschnitt 4.4. b). 189 So WOLTER, a.a.O., 368; vgl. auch H. MERKLEIN, Jesus, Künder des Reiches Gottes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 127-156 (130). 190 Diese Einsicht ist zugleich von Belang für die Diskussion der strittigen Fragen um die Gegenwärtigkeit oder Zukünftigkeit der von Jesus verkündigten Gottesherrschaft und um die Authentizität und den Sinn der Worte vom .kommenden' Menschensohn. Dazu s. u. Abschnitt 4.3. und 4.4. 191 S.o. Anm. 16. 192 Vgl. dazu die Erwägungen bei S. VOLLENWEIDER, Ostern - der denkwürdige Ausgang einer Krisenerfahrung, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 105-123 (111-114).

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tet, und zwar nicht nur als isoliertes Geschehen an einem Einzelnen, sondern im eschatologischen Horizont als Anfang der endzeitlichen Totenauferweckung und damit als Anbruch der Endzeit. Die Modelle, mit denen gelegentlich versucht wurde, die Rede von der Auferweckung Jesu ohne einen solchen eschatologischen und zugleich kollektiven Horizont zu interpretieren, können nicht überzeugen193. Jesu Auferweckung scheint viel eher von Anfang an, schon in der vermutlich ältesten, in Rom 10,9b formelhaft erhaltenen Auferweckungsaussage „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt"194 und in der gleichermaßen alten Gottesprädikation, „der ihn/

193

Die erste Möglichkeit ist der von K. BERGER, Die Auferstehung des Propheten und die Erhöhung des Menschensohnes, StUNT 13, Göttingen 1976, vorgeschlagene Rekurs auf die Motive der Entrückung eines vom eschatologischen Gegenspieler getöteten Propheten, doch ist die textliche Basis dafür mit Apk 11,3-13 (vgl. noch die koptische ApkElia) denkbar schmal (zur Kritik J.M. NÜTZEL, Zum Schicksal der eschatologischen Propheten, BZ 20 [1976], 59-94). Zum Geschehen um Jesus von Nazareth bieten die entsprechenden Texte wenig Analoges, im übrigen wird sich durch dieses Konzept der eschatologische Vorstellungsrahmen gerade nicht verlassen. Das zweite, wesentlich häufiger herangezogene Modell ist das einer unmittelbaren Entrückung von Märtyrern in den Himmel, das gelegentlich hinter 2 Makk 7 gesehen wird (so J. HOLLEMAN, Resurrection and Parousia, NT.S 84, Leiden u.a. 1996, 139ff.; vgl. im Hintergrund U. KELLERMANN, Auferstanden in den Himmel. 2 Makkabäer 7 und die Auferstehung der Märtyrer, SBS 95, Stuttgart 1995). Doch ist die Textbasis auch hier schmal, im 2. Makkabäerbuch scheint ein viel realistisches' Verständnis der (leiblichen) Auferstehung vorzuliegen (2 Makk 7,11; 12,39.43ff), und die anderen bei HOLLEMAN, ebd., 149-155, angeführten Texte (Weish 2-4; Ps.-Philo, LibAnt 32,2f.; 40,4; TestHiob) verwenden die Auferstehungsterminologie gerade nicht. S. zur Kritik auch D. ZELLER, Die Entstehung des Christentums, in: ders. [Hg.], Christentum I, Die Religionen der Menschheit 28, Stuttgart 2002, 60f. Anm. 7). Im Hintergrund der These Hollemans steht m.E. ein Zirkelschluß. Weil die Ereignisse um Jesus dem Konzept der eschatologischen Auferweckung der Toten nicht entsprechen, wird eine andere, nämlich individuelle Ableitung gefordert. Vgl. ebd., 145: „Since the character of Jesus' resurrection differs considerably from that of the eschatological resurrection, the origin of the belief in Jesus' resurrection cannot be traced back to the tradition of the eschatological resurrection. The idea of Jesus' resurrection must be regarded as rooted in a different tradition of resurrection, a tradition speaking about resurrections of individuals, raised soon after their deaths and into heaven, where they received a new ang glorious body." Die durch Jesu Tod und die österlichen Erscheinungen geforderte Deutungsleistung der frühesten Osterzeugen dürfte sich jedoch nicht durch den bloßen Rekurs auf ein mehr oder weniger exakt korrespondierendes, vorgegebenes ,Konzept' erfassen lassen. Vielmehr mußten bestürzende und unerklärliche Ereignisse in neuartigen Weise beschrieben werden. Daß die Ereignisse um Jesus einem vorgegebenen Konzept nicht entsprachen, schließt daher keineswegs aus, daß dieses Konzept herangezogen konnte, um mit seiner Hilfe - aber modifizierend - das Neue in Worte zu fassen. 194

Vgl. 1 Kor 6,14; 15,15; 1 Thess l,9f.; Kol 2,13; Eph 2,5. Die Auferweckungsaussage begegnet daneben auch in dem vermutlich alten .Kontrastschema' der Deutung des Todes Jesu in Apg 2,24.32; 4,10; 13,34 (dort 4,10; 13,27-31).

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Jesus von den Toten auferweckt hat" 195 , als ein Geschehen gedeutet zu sein, das nicht nur individuell einen einzigen Gerechten oder Märtyrer betrifft, sondern zugleich im Zusammenhang der eschatologischen Totenauferweckung und damit als Anbruch der Endzeit zu verstehen ist. Für Paulus ist dies ganz eindeutig, wenn er Christus den „Erstling der Entschlafenen" nennt (1 Kor 15,20) 196 . Doch dieser eschatologische Horizont der Auferweckung Jesu ist nicht erst ein paulinisches Konzept 197 , sondern bereits im vor- bzw. nebenpaulinischen palästinischen Urchristentum, in den ältesten Bekenntnissen zur Auferweckung Jesu vorauszusetzen 198 . Insbesondere die mit der Auferweckungsaussage verbundene Gottesprädikation macht dies deutlich, denn sie ist eine schlichte Umwandlung der geläufigen jüdischen Gottesprädikation, wie sie täglich in der zweiten Benediktion des Achtzehnbittengebets ausgesprochen wurde 199 und die auch im Neuen Testament (Rom 4,17; 2 Kor 1,9) belegt ist 200 . Wenn die frühen (natürlich palästinisch-judenchristlichen) Zeugen also ihre Aussage von der Auferweckung Jesu als Aussage über Gottes Handeln an Jesus und in Aufnahme und Modifikation eines geläufigen Bekenntnisses zu dem die Toten auferweckenden Gott formuliert haben, dann steht außer Zweifel, daß die im palästinischen Judentum verbreitete Vorstellung von der endzeitlichen Auferweckung der Toten im Hintergrund dieser frühen Bekenntnisse steht. Vielleicht läßt sich der ,Erkenntnisprozeß' der frühen Zeugen noch präzisieren: Wenn man davon ausgehen muß, daß die Rede von der ,Auferweckung' Jesu weder durch dessen eigene Voraussagen begründet war 201 195

Vgl. Rom 4,24; 8,11; 2 Kor 4,14; Gal 1,1; Kol 2,12; 1 Petr 1,21; Apg 13,33; 17,31. Die hymnische Überlieferung bezeichnet ihn in demselben Sinne als „Erstgeborenen von den Toten" (Kol 1,18; vgl. auch Apk 1,5). 197 So mit Recht U.B. MÜLLER, Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu. Historische Aspekte und Bedingungen, SBS 172, Stuttgart 1998, 71. 198 Vgl. P. HOFFMANN, Der Glaube an die Auferweckung Jesu in der neutestamentlichen Überlieferung, in: ders., Studien zur Frühgeschichte der Jesus-Bewegung, SBAB 17, Stuttgart 1994, 188-256 (205): „In der Tat wird in der Formel weder eine zukünftige oder gegenwärtige Hoheitsstellung Jesu noch das Verhältnis der Auferweckung Jesu zur allgemeinen Totenauferstehung explizit in den Blick genommen. Diese Einsicht schließt jedoch nicht aus, daß die Formel die apokalyptische Vorstellungskategorie der endzeitlichen Totenauferstehung voraussetzt." 199 „Gepriesen seist du, JHWH, der die Toten lebendig macht!" 200 Vgl. K. WENGST, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT 7, Gütersloh 1972, 43f. 201 In den synoptischen ,Leidens- und Auferstehungsweissagungen' Mk 8,31; 9,31; 10,33f. parr. ist die Rede von der Auferstehung höchstwahrscheinlich erst nachösterlich zugefügt worden. Allein schon das Faktum der Jüngerflucht spricht dagegen, daß die Jüngern des irdischen Jesus eine wie auch immer geartete Hoffnung auf die baldige Auferweckung ihres gekreuzigten Meisters erhoffen konnten. 196

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noch aus einem vorgegebenen Konzept der ,Auferweckung' z.B. des Messias erschlossen werden konnte202, dann kann dies Bekenntnis nur durch die österlichen Erscheinungen, wie sie in 1 Kor 15,5ff. aufgezählt sind, veranlaßt worden sein. Diese hatten für ihre Adressaten einen durchaus irritierenden Charakter203: Solche Widerfahrnisse waren aus ihrer bisherigen Erfahrung nicht ableitbar, sie mußten vielmehr zusammen mit dem Wissen um die eben erfolgte schmähliche Kreuzigung Jesu eine fundamentale ,kognitive Dissonanz' hervorrufen. Wenn diese nun dadurch aufgelöst wurde, daß die Jünger Jesu ihre visionären Widerfahrnisse „sprachlich mit der Deutungskategorie ,Gott hat ihn/Jesus von den Toten auferweckt' versehen" haben204, also mit dem Interpretament der ,Auferweckung von den Toten', dann zeigt dies, daß diese Deutungskategorie den ersten österlichen Zeugen, d.h. wohl den Jüngern des irdischen Jesus in ihrem kulturellen Horizont verfügbar war205. Erst im Rahmen der Vorstellung der traditionellen ,Auferweckung von den Toten' konnten sie, was ihnen widerfahren war, als Indiz der ,Auferweckung' Jesu von den Toten und zugleich als eschatologisches Gotteshandeln interpretieren206. Ein wesentlicher Faktor dürfte dabei sicher auch die Erinnerung an Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft gewesen sein207: Im Horizont der Erwartung der baldigen Aufrichtung der Gottesherrschaft ließ sich die Auferweckung ihres Repräsentanten als endzeitlicher Akt begreifen208, ja „als eschatologische Toten202 Nach M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung - Resurrection, WUNT 135, Tübingen 2001, 119-184 (177), ist „in der jüdischen Messiaserwartung nirgendwo von einer Auferstehung des Messias von den Toten bzw. seiner Einsetzung in die messianische Würde durch die Auferweckung die Rede". 203 In den synoptischen Berichten ist mehrfach von der Furcht der Jünger die Rede, Lk 24,39 weist die Möglichkeit zurück, daß es sich um eine gespenstische Erscheinung gehandelt habe. Dies zeigt, daß ein solcher Gedanke durchaus nicht von der Hand zu weisen war. Die .Osterereignisse' waren alles andere als eindeutig! 204

205

MÜLLER, Entstehung (s. Anm. 197), 70.

Dabei kann zunächst offenbleiben, inwiefern die Auferweckung der Toten selbst Gegenstand der Verkündigung des irdischen Jesus war. Die Perikope der Sadduzäerfrage Mk 12,18-27 legt dies durchaus nahe, s. dazu O. SCHWANKL, Die Sadduzäerfrage (Mk 12,18-27 parr.), BBB 66, Frankfurt a. M. 1987, bes. 556.587. 206 HOFFMANN, Glaube (s. Anm. 198), 224, spricht von einer „schöpferischen Neuinterpretation der apokalyptischen Auferstehungshoffnung, die die innovierende Kraft der Oster-Apokalypsis voraussetzt, indem sie Gottes Handeln an Jesus als Vorwegnahme der endzeitlichen Totenauferweckung begreift". 207 MÜLLER, Entstehung (s. Anm. 197), 71, spricht von dem „Vermögen der Jünger, Jesu originäre Leistung, sein eigenes punktuelles Wirken als Bestandteil der eschatologischen Durchsetzung der Gottesherrschaft zu begreifen". 208 Vgl. a.a.O., 71: „Das bedeutete: Die eschatologische Durchsetzung der Herrschaft Gottes ist durch Jesu Tod nicht tangiert, ja Jesus als Repräsentant der Gottesherrschaft (Lk 11,20) würde beim Freudenmahl der Heilszeit selbst daran teilnehmen (Mk 14,25)."

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auferstehung, die eine Abfolge weiterer Endereignisse nach sich ziehen würde" 209 . Daraus läßt sich zugleich die weitere Dynamik der Ereignisse verstehen, die Rückkehr der Jünger nach Jerusalem, die Erwartung der Endereignisse, etwa der Parusie des Erhöhten in der Heiligen Stadt, und die intensive Geisterfahrung, die ihrerseits wieder einen intensiven Prozeß der Weiterdeutung, v.a. auf dem Hintergrund messianischer Psalmen wie Ps 2 und Ps 110 auslöste. Diesen Vorgängen ist hier nicht weiter nachzugehen. Entscheidend ist vielmehr, daß das Konzept der Auferweckung von den Toten ein apokalyptisches Konzept war. Auch wenn es inzwischen in anderen Strömungen des zeitgenössischen Judentums, insbesondere im Pharisäismus aufgenommen worden war, entstammt es ursprünglich dem Denken der frühjüdischen Apokalyptik 210 , und die Verbreitung des Auferstehungsgedankens im palästinischen (und zum Teil sogar hellenistischen) Judentum seit der Zeit der makkabäischen Märtyrer 211 belegt die intensive Rezeption apokalyptischen Gedankenguts innerhalb des Judentums jener Zeit. Sollte aber, was das jüdische Umfeld Jesu und seiner Jünger prägte und was dann auch der Pharisäer Paulus ganz selbstverständlich voraussetzt, dem irdischen Jesus völlig fremd gewesen sein? Eine solche Annahme würde jede historische Plausibilität sprengen. Vielmehr zeigt die frühe nachösterliche Deutung der Ostererscheinungen mit Hilfe des apokalyptischen Konzepts der Auferweckung von den Toten, daß für den Kreis der Anhänger Jesu und auch für diesen selbst derartige Vorstellungen ganz selbstverständlich vorauszusetzen sind 212 . Daß das Moment des Eschatologischen erst durch die Ostererfahrung eingedrungen sei 213 , ist hingegen nicht glaubhaft, denn diese war für die ersten Zeugen selbst irritierend und deutungsbedürftig.

209

A.a.O., 71. D a n 12,2f.; vgl. Jes 26,19; 1 Hen 90,33; 91,10; 92,3 etc. 211 S. zur Verbreitung der Vorstellung von der (leiblichen) Auferstehung der Toten aus den Gräbern im palästinischen und z.T. auch im hellenistischen Judentum HENGEL, Begräbnis Jesu (s. Anm. 202), 150ff. Vgl. ausfuhrlich E. PUECH, La croyance des Esséniens en la vie future: Immortalité, résurrection, vie éternelle I—II, EtB 21/22, Paris 1993; sowie die älteren Untersuchungen von G. STEMBERGER, Der Leib der Auferstehung, AnBib 56, R o m 1972; G.W.E. NICKELSBURG, Resurrection, Immortality, and Eternal Life in Intertestamental Judaism, HTS 26, Cambridge, Mass. 1972; H.C.C. CAVALLIN, Life After Death. Paul's Argument for the Resurrection of the Dead in 1 Cor 15, Part 1: An Enquiry into the Jewish Background, Lund 1974. 210

212

Man kann j a gerade nicht so argumentieren, daß die futurisch-eschatologischen Worte bzw. das futurisch-eschatologische Verständnis erst durch den urchristlichen Glauben an den Anbruch der Endzeit hervorgebracht wurden, denn dieser Glaube kann sich selbst nur apokalyptischen Konzepten verdanken. 213 So die Annahme bei BORG, Contemporary Scholarship (s. Anm. 154), 89.

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Jörg Frey

Man kann Jesus von seinem Vorläufer und von seinen ersten Zeugen konzeptionell und vorstellungsmäßig nicht weit abrücken, wenn das dabei entstehende Jesusbild nicht jede .Kontext- und Wirkungsplausibilität' 214 verlieren soll. Wo dies geschieht - bei dem inzwischen fast vergessenen Ethelbert Stauffer ebenso wie bei den Fellows des ,Jesus Seminar' 215 - , da erweckt solches nur allzu deutlich den Eindruck, daß darin eine primär dogmatisch motivierte Form des alten Bestrebens vorliegt, wenn schon nicht die Apostel, so doch zumindest Jesus selbst ,vor der Apokalyptik zu retten'. 4.3. Die Zukünftigkeit und Gegenwärtigkeit Gottesherrschaft

der von Jesus

verkündigten

Blickt man von dieser Sichtung des historischen Rahmens auf die Verkündigung Jesu, und dabei zunächst auf den besonders zentralen und strittigen Topos von der Gottesherrschaft, dann müssen die Versuche der älteren liberalen Forschung wie der neueren, an einem ,non-eschatological Jesus' interessierten Ausleger, den Inhalt jener Verkündigung als eine rein gegenwärtige Größe zu fassen und die Aspekte des Zukünftigen interpretativ zu eliminieren oder als spätere Bildungen anzusehen, als ausgesprochen gewaltsam erscheinen. Der in der Forschung eindrücklich durch Werner Georg Kümmel216 herausgestellte Sachverhalt, daß Jesus sehr wahrscheinlich sowohl von der Königsherrschaft Gottes im Sinne einer k o m menden', ,zu erwartenden' als auch von ihr als einer in Jesu Wirken bereits gegenwärtigen' Größe gesprochen hat, läßt sich nicht leichthin auflösen - weder nach der einen noch nach der anderen Seite 217 . Das aber geschieht sowohl bei Crossan 218 als auch in der Ausgabe der ,Five Gospels' 214

Vgl. THEIßEN/WlNTER, Kriterienfrage (s. Anm. 165). Vgl. etwa CROSSAN, Historical Jesus (s. Anm. 14), 237-238, der zu erklären versucht, daß Jesus durch den Schock über den Tod des Täufers zu einer ganz anderen Eschatologie gekommen sei, als sie dieser vertreten hat. 216 Vgl. grundlegend W.G. KÜMMEL, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, Zürich 2 1953. Vgl. weiter H. MERKEL, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult, WUNT 55, Tübingen 1991, 119-161; THEMEN/ MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 221-255; besonders ausfuhrlich MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 237-507. 217 Eine Tendenz zur ,rein'-eschatologischen Deutung zeigt sich bei H. RÄISÄNEN, Exorcisms and the Kingdom. Is Q 11:20 a Saying of the Historical Jesus?, in: ders., Challenges to Biblical Interpretation, BIS 59, Leiden 2001, 15-36, der die Authentizität dieses für Jesu Rede von der Gegenwart (oder dem gegenwärtigen Anbrechen) der Gottesherrschaft fundamentalen Logions in Zweifel zieht. 218 Vgl. CROSSAN, Historical Jesus (s. Anm. 14), 266ff., wo nach dem Kriterium der mehrfachen Bezeugung (das sich in einigen Fällen hinterfragen ließe) 12 Passagen übrigbleiben, die alle von der Gegenwärtigkeit der ßacnXeia reden, wobei ein besonderes Ge215

Jesus und die Apokalyptik

69

des ,Jesus-Seminar', dessen Mitglieder generell allen Aussagen von der kommenden ßaaiXeia die Druckfarbe schwarz (= sicher sekundär) zugeordnet haben, während die Worte von der gegenwärtigen ßaaiXeia in pink (= ziemlich sicher jesuanisch) gedruckt wurden. So einfach ist das, und die Leser ahnen kaum mehr etwas von der Komplexität der Diskussion 219 ! Wo man nach subtileren Begründungen für den „zeitlosen" und damit stets gegenwärtigen Charakter der Gottesherrschaft sucht, wird man häufig darauf verwiesen, daß diese ein „Symbol" sei 2 2 0 und deshalb nicht in einem temporal-futurischen Verständnis erfaßt werden könne. Nun ist im Horizont der neueren sprachwissenschaftlichen Diskussion durchaus zuzugestehen, daß die Rede von der Königsherrschaft Gottes in gewissem Sinne als .Symbol' klassifiziert werden kann. Hier liegt durchgehend uneigentliche, metaphorische Rede vor, weil Gott ja nur in einer uneigentlichen und von menschlichen Herrschaften unterschiedenen Weise ,König' sein kann. Im übrigen zeigen die Belege aus dem biblischen und frühjüdischen Umfeld, daß von der ßaaiXeia Gottes in unterschiedlicher Weise gesprochen werden konnte und daß der Sinngehalt dieses komplexen religiösen Symbols keineswegs völlig fixiert war. Dies bedeutet zugleich, daß der Sinn der Rede jeweils durch den gegebenen Kontext zu bestimmen ist. Doch läßt sich aus dem - sprachwissenschaftlich gesehen - .symbolischen' Charakter der Rede von der ßacriAeia nicht schon entnehmen, daß damit primär eine zeitlose, ja mystische Erfahrung der Gegenwart Gottes ausgesagt sei 221 . Das würde die jeweiligen kontextuellen Verbindungen von vorneherein entwerten. Ihnen muß aber in jedem Falle das Augenmerk gelten. Auf der anderen Seite ist zu beachten, daß die Rede von der ßaaiXeia / ITO^D Gottes im Rahmen des zeitgenössischen Judentums keine völlig unbekannte Größe bezeichnet. Unverständlich bzw. mißverständlich war die Redeweise wohl eher im griechischsprachigen Bereich, weshalb der Terminus dann z.B. im vierten Evangelium (Joh 3,3.5) in den anderen, besser verständlichen Heilsbegriff des ,ewigen Lebens' überführt wird (Joh 3,15.16.36 etc.) 222 . Im (palästinischen) Frühjudentum ist die Rede von der ßaaiXeia / niD'po Gottes bzw. von Gott als ßaaiXeüs / "f 70 entgegen einer immer noch verbreiteten Auffassung 2 2 3 „zu einer zentralen theologischen Kategorie" geworden, „auch wenn dies

wicht den Worten aus dem koptischen Thomas-Evangelium (EvThom 20; 22; 54; 57; 109; 113) zukommt. 219 Vgl. äußerst vereinfachenden und mit zahlreichen falschen Alternativen operierenden erläuternden Exkurs in FUNK/HOOVER et al., The Five Gospels (s. Anm. 160), 136f.; dazu die scharfsichtige Kritik bei WRIGHT, Five Gospels (s. Anm. 165), 104-106. 220 So dezidiert PERRIN, Jesus and the Language of the Kingdom (s. Anm. 155), dessen Entgegensetzung „tensive symbol" und einem „steno symbol" (ebd., 30) allerdings die Verhältnisse zu sehr vereinfacht. Zur Kritik s. D.C. ALLISON, The End of the Ages has Come, Philadelphia 1985, 107-112. S. die differenzierte Diskussion der Metaphorizität in der Rede von der Gottesherrschaft bei J. LIEBENBERG, The Language of the Kingdom and Jesus, BZNW 102, Berlin/New York 2001, bes. 496ff. 221 Vgl. die Paraphrasen bei BORG, Contemporary Scholarship (s. Anm. 154), 87f. Vgl. die Kritik bei RÄISÄNEN, Exorcisms and the Kingdom (s. Anm. 217), 29f. 222 Dazu J. FREY, Die johanneische Eschatologie III: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, WUNT 117, Tübingen 2000, 268. 223 O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Freiburg Schweiz/Göttingen 1984, 437, meint etwa, daß „in den uns erhaltenen Schriften das Thema keine hervorragende Rolle spielt" (freilich läßt

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terminologisch nicht immer durchscheint" 2 2 4 . Sie ist im Danielbuch, in einer Reihe von Qumrantexten, insbesondere den sogenannten Sabbatopferliedern, aber auch in der jüdischen Gebetstradition von zentraler Bedeutung, wobei sich ein breites Spektrum möglicher Konnotationen feststellen läßt. Drei grundlegende Formen der Rede von der ß a o i Xeia lassen sich unterscheiden: Die Königsherrschaft Gottes findet sich zunächst konzentriert in den biblischen Jahwe-Königs-Psalmen 2 2 5 , die noch im Jerusalemer Tempelkult von großer Bedeutung waren 2 2 6 . Im Tempelkult und in liturgischen Texten 2 2 7 wurde die rrD^O Jahwes als himmlische Gegenwart gepriesen. Angesichts der Fremdherrschaft bildete sich zweitens die Hoffnung heraus, daß diese im Himmel schon verwirklichte Herrschaft sich auch auf Erden manifestieren w e r d e 2 2 8 - dies ist der futurische und zun Teil a p o k a l y p t i s c h e ' Zweig der Rede von der Königsherrschaft. Drittens, was oft übersehen wird, nahmen die jüdischen Frommen die Gottesherrschaft im Bekenntnis zu dem einen Gott, in der Rezitation des Shema, auf sich 2 2 9 und erflehten sie - als zukünftige, noch zu erwartende Größe - in zahlreichen synagogalen Gebeten 2 3 0 . „Die begriffliche Klärung der Unterschiede zwischen dem gegenwärtigen und dem künftigen Königtum Gottes" er-

Camponovo die jüdischen Gebete unberücksichtigt); ähnlich A. LINDEMANN, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV: Neues Testament und spätantikes Judentum, T R E 15, 1 9 8 6 , 1 9 6 - 2 1 8 ( 2 0 0 ) . S . z u r K r i t i k M . H E N G E L / A . M . SCHWEMER, V o r w o r t , i n :

dies.

(Hg.), Königsherrschaft (s. Anm. 216), 1 - 1 9 (2). 224 So E. ZENGER, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes II: Altes Testament T R E 15, 1986, 1 7 6 - 1 8 9 ( 1 8 7 , 1 3 - 1 6 ) . 225 p s 47. 93. 96_99 ; weitere Königsaussagen in zahlreichen anderen Psalmen (s. dazu ZENGER, Art. Herrschaft Gottes [s. Anm. 224], 177ff.l86f.; J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen, F R L A N T 141, Göttingen 1987; H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, F R L A N T 148, Göttingen 1989; B. JANOWSKI, Das Königtum Gottes in den Psalmen, ZThK 86 [1989], 389-454). 226 Vgl. m T a m 7:4 und bRHSh 31a. 227 Vgl. zu den Sabbatliedern aus Qumran A.M. SCHWEMER, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft (s. Anm. 216), 4 5 - 1 1 8 . 228 So bereits in den Prophetenbüchern Jes 24,21-23; Sach 14,9.16f., dann besonders im aramäischen Danielbuch Dan 2,44; 7,14.27 (in dem daneben auch die gegenwärtige Königsherrschaft zur Sprache kommt: Dan 2,37; 3,33; 4,31.34; 6,27), sowie nachbiblisch z.B. PsSal 5,18f.; 17,3.21-46; Sib 3,46ff.767; syrBar 73,1; AssMos 10,1-10; TestJud 21f.; TestDan 5,10-13; in den Targumim TJon zu Jes 40,9; 52,7; Mi 4,7; Ob 1; Sach 14,9; rabbinisch MekhY Am 2 (Ex 17,14) und Shi 10 (Ex 15,18); Sof 14:12; 19:7; in Qumran 1QM VI 6; XII 8.15f.; l Q S b III 5; IV 2 4 - 2 6 ; V 21. 229 Vgl. zur Rezitation des Shema mBer 2:2 und 2:5; vgl. dazu TH. LEHNARDT, Der Gott der Welt ist unser König, zur Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes im Shema und seinen Benedictionen, in: M. Hengel/A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft (s. Anm. 216), 2 8 5 - 3 0 7 (288ff.). Nach Jub 50,9 ist auch das Halten des Sabbat ein Bekenntnis zu Gottes Königsherrschaft. 230 Vgl. die elften Benediktion des Achtzehn-Gebets (der sog. Amidah), das Qaddisch, das Musaph-Gebet, das Alenu-Gebet, das Al-hakkol-Gebet und der Seder RabAmram 1 (9a); vgl. die Texte bei BLLLERBECK I, 418f. und L. JACOBS, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes III: Judentum, T R E 15, 1986, 189-196 (190f.). Der Textbestand und das Alter dieser Gebete ist in vielen Fällen gewiß schwer zu bestimmen, aber ein Teil der Belege dürfte im Grundbestand doch auf die Zeit des Zweiten Tempels zurückführbar sein.

Jesus und die

Apokalyptik

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folgte erst später „in den Targumen und der rabbinischen Literatur" 231 . So verwundert es nicht, daß der Sinn der ßaaiXeia-Aussagen Jesu und ihre temporale Orientierung oft nicht völlig klar zu sein scheint. Zwischen der Gegenwärtigkeit der Herrschaft Gottes im Himmel und der Hoffnung auf ihre völlige Durchsetzung auf Erden scheint für Jesus und seine Zeitgenossen eben kein so strikter Gegensatz zu bestehen, wie dies seit der aufklärerischen Kritik der traditionellen Eschatologie 232 erscheinen mußte. Umgekehrt heißt dies aber auch, daß man - gerade angesichts der vielfältigen Bitten um die Heraufführung der Gottesherrschaft in den jüdischen Gebeten - das Moment der Zukünftigkeit nicht einfach eliminieren kann.

a) Die Rede von der zukünftigen Gottesherrschaft findet sich in praktisch allen neutestamentlichen Überlieferungsströmen, in der Logientradition und bei Markus ebenso wie im matthäischen und lukanischen Sondergut 233 , hingegen ist im koptischem Thomas-Evangelium die futurische Auffassung von der ßaaiXeia sehr bewußt umgebogen (aber auch damit historisch vorausgesetzt) 234 . „Angesichts dieser breiten Bezeugung kann man Jesus eine futurische Erwartung kaum absprechen, zumal sein Vorgänger, Johannes der Täufer, sie ebenso vertrat, wie seine Nachfolger, die ersten Christen, in ihr lebten"235. Der erste und vielleicht wichtigste Beleg dafür ist wohl die zweite Vaterunser-Bitte eX9eTw r| ßaaiXeia aou (Mt 6,10; Lk 11,2), die - zusammen mit der ersten Bitte um die Heiligung des Namens - eng dem jüdischen Qaddisch-Gebet korrespondiert236. Diese Bitte, die nur die wenigsten

231 CAMPONOVO, Königtum (s. Anm. 223), 439; vgl. TPsJ und TFrag zu Ex 15,18 sowie MekhY Shi 10 (Ex 15,18) (dazu B. EGO, Gottes Weltherrschaft und die Einzigkeit seines Namens. Eine Untersuchung zur Rezeption er Königsmetapher in der Mekhilta de R. Yishma'el, in: M. Hengel/A.M. Schwemer [Hg.], Königsherrschaft (s. Anm. 216), 257-283 [268ff.], weiter TJon zu Jes 24,23 und zu Sach 14,9 (s. zu den Targumim CAM-

PONOVO, ebd., 4 0 8 f . 4 1 9 . 4 2 7 f f . ) . 232

Diese hat ihren Ansatzpunkt in den Schriften des Reimarus, auf die die Apologetik im 19. Jahrhundert beständig reagierte. Die Alternative gegenwärtig vs. zukünftig wurde weiter verschärft in den Arbeiten von D.F. Strauß und dann in der ,konsequenten Eschatologie', vor allem durch Albert Schweitzer. S. zu den Problemen FREY, Eschatologie I (s. Anm. 11), 10-47. 233 Vgl. aus der Logientradition Lk 6,20; 11,2; 13,28f.; aus Mk z.B. 10,15.23; 14,25; weiter Lk 14,15; Mt 21,31; vgl. auch noch bei 1 Kor 6,9f.; 15,50. 234 Vgl. programmatisch die Korrektur EvThom 51. Zutreffend THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 232: „Auch hier ist eine futurische Eschatologie geschichtlich vorausgesetzt, wird aber durch die gnostische Identifizierung des Gottesreichs mit dem wahren Selbst ersetzt." Vgl. dazu den Beitrag von E.E. POPKES in diesem Band; DERS., Die Umdeutung des Todes Jesu im koptischen Thomasevangelium, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005,513-543. 235 THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 232. 236 Vgl. dazu MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 294ff.

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Exegeten dem irdischen Jesus absprechen wollen 237 , wird deshalb ebenso wie die parallelen Bitten im Qaddisch oder der elften Benediktion des Achtzehngebets 238 als Bitte um die eschatologische Aufrichtung der göttlichen Königsherrschaft (auf Erden) zu verstehen sein, also im Sinne einer eindeutig auf ein zukünftiges Gotteshandeln ausgerichteten, in gewissem Sinne restaurativen Eschatologie 239 . Ein zweites Beispiel dafür ist das Verzichtswort im Mahlbericht Mk 14,25 par. Lk 22,18, in dem Jesus auf „jenen Tag" vorausblickt, an dem er aufs neue „in der Königsherrschaft Gottes" Wein trinken werde. Dieses Logion gilt den meisten Auslegern in seiner Substanz als jesuanisch 240 . Es unterscheidet sich christologisch, soteriologisch und eschatologisch wesentlich von allen Aussagen, die erst im frühen Urchristentum formuliert wurden 241 . Das Logion ist zugleich fest im Kontext des Mahlberichts verankert und in diesem Rahmen zunächst als jesuanische Todesprophetie zu verstehen, darüber hinaus blickt es in einer spezifischen Weise auf den Tag der als Festmahl verstandenen Gottesherrschaft voraus - ohne jedoch die ,Nähe' (oder ,Ferne') dieses Tages zu thematisieren oder gar zu präzisieren. So belegt das Logion klar die von Jesus bis zum Ende seiner Wirksamkeit durchgehaltene eschatologische Perspektive der ßaaiXeia-Verkündigung. Diese findet sich mithin nicht nur in der Logientradition, sondern auch in der markinischen Tradition, sie begegnet im übrigen in unterschiedlichen Textgattungen. Zu dem Beleg in der Gebetsbitte tritt nun ein Beleg in einem prophetischen Ausblick hinzu. Das Logion bringt zum 237 Selbst die Fellows des Jesus-Seminar, die das Vaterunser nicht als ganze Komposition auf den irdischen Jesus zurückfuhren wollen (FUNK/HOOVER et al., The Five Gospels [s. Anm. 160], 149), lassen die zweite Bitte pink drucken, also als sehr wahrscheinlich jesuanisch. Eine nachösterliche Formulierung der Bitte würde eher eine Bitte um Heraufffihrung des Kommens des Herrn erwarten lassen (vgl. 1 Kor 11,26; 16,22). 238 Die Texte sind leicht zugänglich in C.K. BARRETT/C.J. THORNTON (Hg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, UTB 1591, Tübingen 2 1991, Nr. 212.239. 239 Programmatisch spricht SANDERS, Jesus and Judaism (s. Anm. 170), 61ff.91ff., auf der Basis der Tempelreinigung sowie anderer Elemente in Wirken und Verkündigung Jesu (Zwölferkreis, Umkehr, Gerichtserwartung) von „restoration eschatology". 240 S. in diesem Sinne THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 233; MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 302ff.; J. SCHLOSSER, Le règne de Dieu dans les dits de Jésus I—II, ÉtB, Paris 1980,1 389.398 (s. zum ganzen Logion 373-417); anders PERRIN, Rediscovering (s. Anm. 155), 38, ebenso das ,Jesus-Seminar' ( F U N K / H O O V E R et al., The Five Gospels [s. Anm. 160], 117f.), dessen Mehrheit aufgrund der christlichen Elemente im Mahlbericht auch für das Logion V. 25 nicht mit der Authentizität rechnet. Das Argument ist freilich schwach. Gerade in V. 25 fehlen alle christlichen Elemente. Hier haben wohl eher die generellen Vorgaben, die Option für ein ,nichteschatologisches' Verständnis Jesu Regie geführt. 241 MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 305-308. Die paulinische Parallele in paulinischen Mahlbericht 1 Kor 11,26 formuliert dementsprechend anders, nämlich als Hoffnung auf die Parusie Christi.

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Apokalyptik

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einen die Erwartung Jesu zum Ausdruck, daß Gott seine ßaatAeia, die der Inhalt seiner eigenen Verkündigung und der Wirksamkeit war, auch dann heraufführen werde, wenn er selbst zu Tode gebracht wird. Es rechnet aber weiter damit, daß Jesus selbst in dieser neu heraufzuführenden Gottesherrschaft präsent sein und „aufs Neue" den Wein der Heilszeit trinken werde. So transzendiert die Gottesherrschaft die irdischen Verhältnisse, auch den Tod. Motivisch greift die Vorstellung vom Festmahl auf apokalyptische Traditionen (Jes 25,6 u.a.) zurück. Jesu Rede von der ßaoiAeia hat insofern Teil an den Bildern der spätalttestamentlichen und frühjüdisch-apokalyptischen Tradition 242 . Ein Logion, das diese Bildwelt in der jesuanischen ßacriAeia-Vorstellung bestätigt, ist das Logion vom Völkermahl Mt 8,1 lf. par. Lk 13,28f. Da beide Versionen sich in Textfolge und Details signifikant unterscheiden, ist weder die Bestimmung einer für die Logienquelle vorauszusetzenden Textform noch gar die Rekonstruktion einer möglicherweise ursprünglichen Fassung unproblematisch zu bewerkstelligen 243 . Wenn man das Stück nicht aufgrund seiner Verwerfungsaussagen gleich einer späten Schicht der Logienquelle zuschreibt - was methodisch gerade aufgrund des unsicheren Textes fragwürdig wäre - wird man es zumindest mit Hilfe des Kohärenzkriteriums in seiner Substanz der Jesustradition zuordnen müssen 244 . Dies gilt insbesondere dann, wenn die Rede von den aus vier Himmelsrichtungen Kommenden ursprünglich nicht - wie für Matthäus - auf die Heiden im Gegenüber zu Israel zu beziehen ist, sondern an das Motiv der eschatologischen Sammlung des ganzen, die Diaspora einschließenden Zwölfstämmevolkes anknüpft, ein Motiv, das in Jes 25-27, Ps 107 und anderen Kontexten mit dem des eschatologischen Mahls verbunden ist. Dann stünde dieses Logion ursprünglich im Kontext einer gewissermaßen ,restaurativen' Eschatologie 245 , und die polemische Ausschluß-Aussage

242 Es wäre daher eine gravierende Verkürzung, wollte man die Sprache der Gottesherrschaft allein oder primär aus den Gleichnissen Jesu (und den mit dieser Sprachform verbundenen Ambiguitäten) erheben, wie dies im einflußreichen Ansatz von N. Perrin geschieht. 243 MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 309-314, schlägt eine relativ stark an Mt orientierte Fassung vor; ebenso U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus II, EKK 1/2, Zürich u.a. 1990, 13. Andere Exegeten vermuten, daß hier zwei Logien zusammengefügt sind (so z.B. SCHLOSSER, règne II [s. Anm. 240], 603-669). Die Probleme können hier nicht im Detail erörtert werden. 244 Argumente nennt Luz, Matthäus II (s. Anm. 243), 14 Anm. 15; THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 233: „Aus dem Urchristentum kann dies Logion nicht stammen." 245 Zu den Problemen dieses Konzepts s. u. Abschnitt 4.4. d).

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zielte in diesem Fall auf die Jesus abweisenden Volksführer 2 4 6 , nicht auf ganz Israel. Sachlich sind in dem Logion die drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob als Lebendige (vgl. auch Mk 12,27) und als Teilnehmer am eschatologischen Freudenmahl vorgestellt. Damit wird auch hier deutlich, daß die als eschatologische Größe verstandene Gottesherrschaft Zeit und Raum, j a selbst den Tod transzendiert 247 . Eine solche Vorstellung kann nur apokalyptisch genannt werden. Noch eine Reihe anderer Jesuslogien ließen sich nennen, die die grundlegend futurische Orientierung der jesuanischen Rede von der Basileia belegen, darunter z.B. die Einlaßworte wie Mk 9,43ff.; 10,15.23 oder Mt 21,31 f., in denen futurisch von einem ,Eingehen' bzw. ,Nicht-Eingehen' in die ßaaiXeia die Rede ist, oder die drei vermutlich authentischen Seligpreisungen Lk 6,20f. par. Mt 5,3f.6, deren ßaaiXeia-Aussage (Lk 6,20 par. Mt 5,3) zwar präsentisch formuliert ist, aber in der Korrespondenz zu den futurisch formulierten Nachsätzen der anderen beiden Makarismen gleichfalls auf eine zukünftig erwartete und mit der verheißenen Umkehrung der Verhältnisse einhergehende Aufrichtung der ß a a i X e i a zielt. Der Umschlag von der Trauer zum Lachen, vom Hunger zum Gesättigtsein ist noch nicht eingetreten, sondern ist, je konkreter man diese drei Makarismen im Kontext der Verkündigung Jesu und in der unmittelbaren Anrede an ihre Hörer versteht, zunächst ,nur' zugesprochen als ein mit der völligen Durchsetzung der ßacriAeia zu erwartendes Gut. Auch diese Umkehrung der Verhältnisse in der erwarteten Herrschaft Gottes fügt sich in das Denken der frühjüdischen Apokalyptik ein, an der Jesus offenbar - ebenso wie sein ,Mentor' Johannes - Teil hatte. Die Tatsache, daß einige der Worte von der zukünftigen ß a a i X e i a dem irdischen Jesus nicht abgesprochen werden können, hat auch dann Bestand, wenn die Worte vom kommenden Menschensohn nicht authentisch sein sollten 248 . Ein Sonderproblem, das sich mit der futurischen Dimension der ß a a i Xeia in der Verkündigung Jesu stellt, bildet die Frage, ob die Erwartung der Gottesherrschaft für Jesus in irgendeiner Weise terminiert war 249 . Wo man dies verneint, sieht man häufig einen besonders deutlichen Gegensatz 246

Vgl. W.D. DAVIES/D.C. ALLISON, The Gospel According to Saint Matthew II, Edinburgh 1991, 27f.; D.C. ALLISON, Who will Come from East and West?, IBS 11 (1989), 1 5 8 - 1 7 0 ; DERS., The Jesus Tradition in Q, Harrisburg 1997, 1 7 6 - 1 9 1 . 247 MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 317. 248 So mit Recht MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 350: „Jesus' message of future eschatology and a future kingdom does not rise or fall with Jesus' statements about the Son of Man - a point some critics fail to grasp." Meier verweist dabei insbesondere auf BORG, Jesus (s. Anm. 14), 14.20.168. 249 Vgl. die ausführliche Diskussion bei MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 336ff.; auch THEIßEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 234.

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zur Apokalyptik - andererseits sollte man sich auf dem Hintergrund der neueren Forschungen zur Apokalyptik vergegenwärtigen, daß weder das Phänomen der TVczAerwartung noch gar das Phänomen einer Terminierung oder gar Terminberechnung als eigentliche Charakteristika von Apokalyptik gelten können. Solche Elemente können in diesem Rahmen auftreten, aber es gibt auch Formen apokalyptischen Denkens, in denen weder die besondere Nähe noch gar die Terminierung endzeitlicher Ereignisse zum Thema wird. Die Detailprobleme können hier nicht weiter erörtert werden. Festgehalten sei nur, daß die spezifischen ,Terminworte' der Jesustradition wie Mk 9,1; 13,30 und Mt 10,23 hinsichtlich ihrer Authentizität mehr als zweifelhaft sind 250 und eher auf spezifische Phasen in der frühen urchristlichen Mission zurückzugehen scheinen. So sehr also für den irdischen Jesus eine relativ nahe Erwartung der Aufrichtung der ß a a i X e i a vermutet werden kann, läßt sich doch über eine terminliche Festlegung wohl kaum etwas Positives sagen. b) Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft wäre freilich unzureichend verstanden, wollte man nur die futurische Dimension derselben herausarbeiten. Die Logien, in denen bereits von einer - in spezifischer Weise zu verstehenden - Gegenwart der ßacriAeia die Rede ist, lassen sich dem irdischen Jesus ebensowenig absprechen, und in ihnen zeigt sich nach vielen Auslegern gerade das Proprium der Verkündigung Jesu, auch und gerade im Unterschied zum Täufer. Dies impliziert freilich noch keinen Gegensatz zur Apokalyptik. Manche der auf die Gegenwart der ßacjiXeia bezogenen Logien sind schwer zu deuten, so etwa der berühmte , Stürmerspruch' Lk 16,16 par. Mt 11,12 251 , andere reden von der Gegenwart der Heilszeit, ohne den präzisen Terminus der ß a a i X e i a zu verwenden, wie z.B. Jesu Antwort an den Täufer Lk 7,22f. par. Mt l l , 4 - 6 2 5 2 , die Überbietungsworte Mt 11,9; 12,41 und 12,42 (par. Lk 11,31) oder die Seligpreisung der Augenzeugen Lk 10,23f. par. Mt 13,15f., in der die Gegenwart der Heilszeit vorausgesetzt wird 253 , 250 Vgl. in diesem Sinne sowohl MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 347, als auch THEMEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 234. 251 In diesem „ist die Gottesherrschaft in jedem Fall eine gegenwärtige Größe" (THEMEN/MERZ, Der historische Jesus [s. Anm. 179], 235; ebenso MERKEL, Gottesherrschaft [s. Anm. 216], 149). Zur Palette der Auslegungen s. P. SCOTT CAMERON, Violence and the Kingdom. The Interpretation of Matthew 11:12, Frankfurt a. M. u.a. 1984. 252 Zu diesem Text, der eine Reihe von Elementen aus jesajanischen Aussagen über die Heilszeit aufnimmt und darin eine enge Parallele in dem aus Qumran bekannten Text 4Q521 hat, s. FREY, Der historische Jesus (s. Anm. 15), 307f. Zwingende Gründe gegen die substantielle Authentizität des Textes gibt es nicht, da in jedem Falle eine sachliche Kohärenz mit Lk 11,20 besteht. Zur Diskussion s. DAVIES/ALLISON, Matthew II (s. Anm. 246), 244f. 253 Dazu MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 434ff.

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ohne daß Jesu Taten explizit erwähnt werden oder ihm selbst gar eine spezifische christologische Würde zugeschrieben wird 254 . Daneben sind es insbesondere drei Worte, in denen die Gegenwart der ßacnAeia in der Wirksamkeit Jesu zur Sprache kommt. Am eindrücklichsten ist zunächst das Exorzismuswort Lk 11,20 (par. Mt 12,28)255: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft schon zu euch gekommen." Die hier sicher ursprüngliche lukanische Version dokumentiert nicht nur das Vollmachtsbewußtsein Jesu, in dessen exorzistischem Handeln der „Finger Gottes" (vgl. Ex 8,15) machtvoll zur Wirkung kommt, es bindet auch terminologisch die Rede von der ß a a i Xeia Gottes an die exorzistischen Machttaten Jesu, so daß nun auch der Modus der Gegenwart der ßacuXeLa deutlich wird: Gegenwärtig ist diese wesentlich als zukünftig verstandene - Herrschaft da, wo es in Jesu Exorzismen und Heilungen zur Überwindung der Mächte kommt und Gottes Herrschaft über einzelne Menschen konkret Raum gewinnt. Es ist eine durchaus plausible Vermutung, daß das spezifische Profil dieses Gegenwarts-Bewußtseins - auch in der Unterscheidung der Täufer-Verkündigung - einen wesentlichen Grund im exorzistischen Wirken Jesu hat. Von hier aus erschließt sich auch der Sinn des oft mißverstandenen Logions Lk 17,20, demzufolge die Gottesherrschaft „mitten unter" den Adressaten dieses Wortes (evTÖ? i>|ilv) ist. Die alte liberale Exegese hatte dies - verleitet durch Luthers Übersetzung „inwendig in euch" - als Bestätigung ihrer Auffassung von der Innerlichkeit des Gottesreiches interpretiert, und auch die neueren Befürworter einer nicht-apokalyptischen Deutung Jesu machen gerade dieses Wort zum Schlüssel ihrer Interpretation 256 . Freilich sollte das schwierige e^TOS üpitv gerade nicht abstrakt im Sinne einer allgemeinen unsichtbaren Präsenz der Gottesherrschaft verstanden werden, sondern adressatenbezogen im Sinne ihrer machtvollen Gegenwart im Kreise derer, die Jesu Wirksamkeit sehen und hören, die Exorzismen als Manifestation der Macht Gottes erfahren und so die Gottesherrschaft in

254 Dies spricht nachdrücklich für die Authentizität dieses Logions. Vgl. in diesem Sinne MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 438, der auf den Kontrast zu der späteren Situation verweist, in der die selig gepriesen werden müssen, die glauben, ohne zu sehen (vgl. Joh 20,29). 255 Zu diesem Wort s. ausführlich MEIER, A Marginal Jew 2 (s. Anm. 178), 413-423; zur Authentizität des Wortes auch M. LABAHN, Jesu Exorzismen (Q 11,19-20) und die Erkenntnis der Magier (Ex 8,15), in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BETL 158, Leuven 2001, 617-633 (618-626). Einige - freilich kaum überzeugende - Gegenargumente bietet RÄISÄNEN, Exorcisms and the Kingdom (s. Anm. 217).

256YGI

ETWA

CROSSAN, H i s t o r i c a l J e s u s ( s . A n m . 14), 2 8 2 f . ; FUNK/HOOVER et a l . ,

The Five Gospels (s. Anm. 160), 364f., wo das Logion im Kontext der Parallele in EvThom 113 interpretiert wird.

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Jesu Wirksamkeit bereits gegenwärtig wahrnehmen. Nimmt man die exorzistische Tätigkeit Jesu und ihren Hintergrund in der zeitgenössischen Dämonologie wahr, dann wird man weder diese Tätigkeit noch die Rede von der darin gegenwärtig sich manifestierenden Gottesherrschaft als Hinweis auf ein unapokalyptisches Verständnis des Wirkens Jesu deuten können. Vielmehr steht sowohl die Grundvorstellung der sich durchsetzenden ßacnAeia TOC öeoü als auch die mit der exorzistischen Tätigkeit verbundene Dämonologie eindeutig im Horizont der apokalyptischen Vorstellungswelt. Die Verbindung beider, die Rede von der gegenwärtigen Durchsetzung der Gottesherrschaft im Wirken Jesu ist daher eher eine aufs Äußerste gesteigerte Apokalyptik. Besonders deutlich wird dies in dem Logion vom Satanssturz Lk 10,18: „Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel stürzen". In diesem liegt der einzige Visionsbericht Jesu vor, den die synoptischen Evangelien überliefern 257 . Sein Inhalt ist die Entmachtung des ,Satan', der im Alten Testament ja noch ganz am Rande steht und erst in den Traditionen der jüdischen Apokalyptik zum eschatologischen Gegenspieler wird 258 . Die unmittelbarste Parallele zu dem hier nur knapp angedeuteten Geschehen findet sich in mythologischer Ausmalung in Apk 12,7—12259. Im Blick auf dieses Logion kann daher keinerlei Zweifel über die apokalyptischen Hintergründe bestehen 260 , und diese werden keineswegs dadurch aufgehoben, daß der Satan diesem Logion zufolge nun für Jesus selbst als entmachtet zu gelten hat. Es ist vermutlich wenig erfolgversprechend, darüber zu spekulieren, ob diese Vision Jesu als eine zweite ,Berufung' neben seiner Taufe durch Johannes zu gelten hat, wie sie sich zu dieser verhält und ob sie vielleicht der Ursprung des Vollmachts- und Gegenwartsbewußtseins Jesu ist 261 . Es könnte auch sein, daß sich in diesem Wort nur eine in apokalyptische Sprache gefaßte Zusammenfassung dessen findet, was sich in Jesu Exorzismen

257

Darauf weist J.U. KALMS, Der Sturz des Gottesfeindes, WMANT 93, NeukirchenVluyn 2001, 213 hin; vgl. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 10 1995, 113. 258 P.L. DAY, An Adversary in Heaven. Satan in the Hebrew Bible, Atlanta 1988; DIES./C. BREYTENBACH, Art. Satan, in: K. van der Toorn/B. Becking/P.W. van der Horst (Hg.), Dictionary of Deities and Demons in the Bible, Leiden 2 1999, 726-732. 259 Dazu s. ausfuhrlich KALMS, Sturz (s. Anm. 257); zur mythischen Struktur von Apk 12 jetzt auch M. KOCH, Drachenkampf und Sonnenfrau. Zur Funktion des Mythischen in der Johannesapokalypse am Beispiel von Apk 12, WUNT II/184, Tübingen 2004. 260 F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas II, EKK 3/2, Zürich 1996, 49, redet mit recht von einem „apokalyptischen Spruch". Die nächste Parallele in der Jesustradition ist die Beelzebul-Perikope Mt 12,22ff. par. Lk l l , 1 4 f f . 261 So U.B. MÜLLER, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Botschaft Jesu, ZThK 74 (1977), 416-448 (423-427).

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spürbar ereignete 262 . Doch wenn dieses Logion nicht einfach eine lukanisch-redaktionelle Bildung ist, sondern auf die ältere Tradition zurückgeht, dann kann ihr Urheber eigentlich nur Jesus selbst sein 263 , denn die .Erfindung' eines solchen Wortes im Kontext der frühen Mission läßt sich kaum plausibel machen. So verstanden, dokumentiert das Logion ein weitreichendes „apokalyptisches Basiswissen" 264 beim irdischen Jesus und verbindet sich darin mit den Sprüchen aus der Beelzebul-Perikope (Mt 12,22ff. par. Lk ll,14ff.), derzufolge ja in analoger Weise der Starke (d.h. der Teufel bzw. Dämonenfurst) durch den Stärkeren (d.h. Gott und seine sich durchsetzende Herrschaft) überwunden wird, was sich in Jesu Exorzismen dokumentiert (vgl. Lk 11,20). Die Analyse der Logien, die die Gottesherrschaft als gegenwärtig thematisieren, läßt den eigentümlichen Modus dieser Gegenwart deutlich werden. Es ist nicht die jedem Weisen zugängliche unsichtbare Gegenwart, von der z.B. EvThom 113 spricht 265 . Vielmehr ist die Gegenwart der ß a a i Xeia ganz an das Wirken Jesu, seine Machttaten und seine Worte, gebunden 266 . In ihnen bricht sich auf Erden Bahn, was ,im Himmel' schon Wirklichkeit ist. Damit wird die Grundstruktur der frühjüdischen Rede von der Gottesherrschaft aufgenommen und zugleich in entscheidender Weise modifiziert. Ungewöhnlich ist dabei nicht die Simultaneität von Heilsgegenwart und Heilshoffnung - eine solche findet sich unter anderen Vorzeichen z.B. auch in der Gemeinschaft von Qumran 267 , mit dem Unterschied, daß dort die Verwirklichung des Bundes und der Gemeinschaft mit den Engeln in der kultischen Reinheit, der strikten Toraobservanz und der Befolgung

262 So J.A. FITZMYER, The Gospel According to Luke X - X X I V , AncB 28A, New York 1985, 860; auch EBNER, Jesus (s. Anm. 178), 417f.: „Das apokalyptische Wissen wird ... nicht deduktiv-affirmativ, sondern induktiv-argumentativ eingesetzt." Vgl. auch J. NOLLAND, Luke 9:21 - 18:34, WBC 35B, Dallas 1993, 563f. 263 Eine Bildung in der frühen Gemeinde hätte den Satanssturz eher auf die Sendung Jesu oder auf seine Inthronisation bezogen müssen, wie dies auch in den Parallelen Joh 12,31 und Apk 12,7ff. geschieht. 264 So EBNER, Jesus (s. Anm. 178), 417. 265 Dort liegt - im Unterschied zu allen von der Gegenwart der ßaaiXeia bestimmten Worten der synoptischen Tradition - eine klare Umdeutung vor. Es ist historisch daher völlig verfehlt, die uneschatologische Rede von der Gottesherrschaft im EvThom zum Schlüssel für die synoptische Tradition zu machen. 266 So auch WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), 387: „Das spezifische Profil der jesuanischen Verkündigung besteht also nicht lediglich in der Gewißheit, daß das erwartete Heil der Königsherrschaft Gottes bereits in der Gegenwart zugänglich ist, sondern darin, daß es in seinem Wirken zugänglich ist." 267 Vgl. dazu FREY, Bedeutung (s. Anm. 81); grundlegend H.-W. KUHN, Enderwartung und gegenwärtiges Heil. Untersuchungen zu den Gemeindeliedern von Qumran mit einem Anhang über Eschatologie und Gegenwart in der Verkündigung Jesu, StUNT 4, Göttingen 1966.

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des nichtigen' Kalenders gemäß der offenbarten Auslegung der Schriften begründet war, während sie im Wirken Jesu vor allem in seinen Machttaten spürbar wird. Der entscheidende Differenzpunkt, an dem sich Jesu Botschaft nicht nur von der des Täufers unterscheidet, ist mithin sein eigenes Wirken und dessen theologische Qualifikation 268 : Die Austreibung der Dämonen erfolgt ,mit dem Finger Gottes' und ist eben darin eine Manifestation der sich durchsetzenden Herrschaft Gottes. Diese in Jesu Wirken erfahrbare Gegenwart der ßacnXeia läßt sich freilich nur erfassen auf dem Hintergrund der Hoffnungen auf ihre irdische Durchsetzung, der Erwartung einer Heilszeit, wie sie prophetisch angekündigt und im nachbiblischen Judentum, z.B. in Texten wie 4Q521, in vielfaltiger Weise ausgestaltet wurde. Und wenn es zutrifft, daß Jesu Wirken von ihm selbst oder von seinen Jüngern auf das Wirken des vom Geist g e salbten' Verkündigers von Jes 61,1 bezogen wurde 269 , dann liegt darin ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis des Selbstanspruchs Jesu und seiner späteren Rezeption in der urchristlichen Christologie 270 . Die Tatsache, daß Jesu Worte von der Gegenwart der ßacriAeia grundlegend auf die futurische Erwartung, auf deren Aufrichtung zurückbezogen sind, widerrät allen Versuchen, in diesen Gegenwartsaussagen eine grundsätzliche Distanznahme von den Traditionen der frühjüdischen Apokalyptik zu sehen. Dies könnte nur dann gelingen, wenn man in unangemessener Weise das Wesen der Apokalyptik in der Zukunftsspekulation sehen wollte. Aber das läßt sich auf dem heutigen Stand der Apokalyptikforschung nicht mehr begründen. Jesu Worte setzen vielmehr ein beträchtliches Maß an apokalyptischen Traditionen voraus, und die Vorstellung des sich in seinen Taten und Worten manifestierenden heilvollen Gotteshandelns und der sich in seinen Exorzismen Bahn brechenden eschatologischen Gottesherrschaft läßt sich sachgemäßer als auf ihn selbst konzentrierte und insofern gesteigerte Form apokalyptischen Denkens verstehen. 4.4. Apokalyptische Elemente in anderen Motiven der Verkündigung Jesu Was an dem zentralen Motiv der ßaaiXeia aufgezeigt wurde, läßt sich anhand anderer Einzelmotive der Verkündigung Jesu bestätigen. Die Probleme dieser Textkomplexe lassen sich hier nicht in extenso erörtern. Aber es soll deutlich werden, daß sich die älteste Jesustradition nicht ohne weiteres von den Sprachbildern und Vorstellungen abtrennen läßt, die aus den Texten und Traditionen der jüdischen Apokalyptik zum Gemeingut breiterer 268

WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), 386. Anklänge an Jes 61,1 begegnen sowohl in den Makarismen Lk 6,20f. par. Mt 5,3f.6 als auch in der Antwort an den Täufer Lk 7,22f. Vgl. dazu D.C. ALLISON, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, Minneapolis 1988, 66f. 270 S . dazu FREY, Der historische Jesus (s. Anm. 15), 314-316. 269

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K r e i s e d e s p a l ä s t i n i s c h e n Judentums j e n e r Zeit g e w o r d e n sind. D e r irdis c h e Jesus hat teil an d i e s e n V o r s t e l l u n g e n - w i e der Täufer, w i e s e i n e Jünger und w i e d i e früheste Urchristenheit. a) B e g i n n e n w i r mit d e m Terminus, der in d e n E v a n g e l i e n praktisch a u s s c h l i e ß l i c h i m M u n d e Jesu 2 7 1 b e g e g n e t u n d außerhalb der E v a n g e l i e n fast v ö l l i g g e m i e d e n wird, d e m rätselhaften und h e f t i g umstrittenen B e g r i f f „der M e n s c h e n s o h n " (o U I Ö S TOÜ d v ö p u i T o u ) . W e n n Jesus d i e s e Sprachform, d.h. i m A r a m ä i s c h e n w o h l d i e status-determinatus-Form xtÖD ~o, verw e n d e t hat, dann ist auch d i e s ein deutlicher R e k u r s auf a p o k a l y p t i s c h konnotierte Sprachtraditionen. Dies wird freilich von den Vertretern eines ,nicht-eschatologischen' bzw. ,nicht-apokalyptischen' Verständnisses Jesu heftig bestritten. Sowohl bei Crossan als auch in der Evangelien-Ausgabe des ,Jesus-Seminar' gelten die Menschensohnworte als sekundäre, den .unapokalyptischen' Jesus ,apokalyptisierende' Entwicklung 272 . Forschungsgeschichtlich ist diesbezüglich daran zu erinnern, daß Rudolf Bultmann, der Jesus als eschatologischen Propheten verstand, aus den drei von ihm geprägten Kategorien von Menschensohn-Logien - den Worten vom gegenwärtig wirkenden, vom zukünftigen und vom leidenden Menschensohn - gerade die Worte vom zukünftig wirkenden, mit eschatologischer Gerichtsvollmacht ausgestatteten Menschensohn als ursprünglich wertete. Einflußreich für die weitere Diskussion war jedoch der Versuch seines Schülers Philipp Vielhauer, auch diese Gruppe von Menschensohn-Worten als Produkt der nachösterlichen Gemeinde zu werten 273 . Diese Folgerung zieht er aus seiner Beobachtung, daß der Menschensohn weder in den synoptischen Worten noch in der jüdischen Tradition unmittelbar mit dem Motiv der ßauiXeia verbunden sei. Doch ist dies philologisch und historisch „nicht wirklich zwingend" 274 . Sein radikal-kritisches Urteil 275 nötigt Vielhauer

271 Ausnahmen sind Joh 12,34 und Apg 7,56 sowie die sprachlich an Dan 7,13 orientierten, d.h. indeterminierten Belege Apk 1,14 und 14,14. 272 In FUNK/HOOVER et al., The Five Gospels (s. Anm. 160), wird der Terminus durch die interpretierende Übersetzung „the son of Adam" zudem verfremdet. 273 VIELHAUER, Gottesreich (s. Anm. 100); DERS., Jesus und der Menschensohn. Zur Diskussion mit Heinz Eduard Tödt und Eduard Schweizer, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, ThB 31, München 1965, 92-140. Vielhauers Ansatz wurde für die amerikanische Diskussion wirkungsvoll von Norman Perrin aufgenommen, zunächst in einer Reihe von Artikeln, die in N. PERRIN., A Modern Pilgrimage in New Testament Christology, Philadelphia 1974, abgedruckt sind, außerdem in DERS., Rediscovering the Teaching of

Jesus (s. A n m . 155), 1 5 4 - 2 0 4 . S. zur Diskussion A. YARBRO COLLINS, T h e Origin of the

Designation of Jesus as „Son of Man", in: dies., Cosmology and Eschatology in Jewish and Christian Apocalypticism, JSJ.S 50, Leiden 1996, 139-158. 274 So J. SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge der Christologie, BThS 47, 85 Anm. 186. Vgl. DERS., Erinnerung an Jesu Worte, WM ANT 76, Neukirchen-Vluyn 1997, 454f. Sprachlich trifft Vielhauers These schon fiir Dan 7 nicht zu. Dort begegnen beide Motive (Dan 7,13f.27), und das Argument, der „wie ein Menschensohn" Auftretende sei in Dan 7 keine individuelle Gestalt, sondern ein Symbol für das eschatologische Reich (VLELHAUER, Gottesreich [s. Anm. 100], 82) beseitigt das Problem nicht. Zumindest im Zuge der später eindeutig individuellen Rezeption der Menschensohngestalt in 1 Hen 37-71

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schließlich zur Annahme, daß die futurischen Worte allesamt von urchristlichen Propheten gebildet worden seien und insofern nicht nur die nachösterliche Apokalyptisierung der Jesustradition, sondern auch die .Objektivierung' eines Elements der Verkündigung Jesu und damit einen - für die .orthodoxe' Existentialzheologie - problematischen Schritt hin zu einer expliziten Christologie dokumentierten 276 . Historisch bleibt dabei allerdings völlig unklar, wie die Jünger Jesu aufgrund der Ostererfahrung plötzlich zu der Vorstellung vom erhöhten Menschensohn greifen konnten 277 , wenn diese von Jesus vorher nie verwendet worden sein soll und auch als Erwartung „für das Judentum des zweiten Tempels nicht nachgewiesen werden kann" 278 . Die kritische .Reinigung' der Jesustradition vom Menschensohnbegriff führt somit historisch nur in neue Probleme. Hinter dem Ansatz Vielhauers stehen allzu offenkundig dogmatische Interessen. Grundlegend ist das oben skizzierte 279 negative Bild der Apokalyptik und die dogmatisch geprägte Unterscheidung zwischen .Eschatologie' und .Apokalyptik'. Vielhauer will mit seiner Argumentation den eschatologischen Charakter der Verkündigung Jesu von allen „apokalyptischen und nationalen Zukunftserwartungen" 2 8 0 abrücken, und eine Reihe von Exegeten haben sich ihm - von analogen Interessen geleitet - bereitwillig angeschlossen. Ein solches Unterfangen scheint allerdings wenig aussichtsreich, wenn schon die Rede von der ßaaiXeia in ihrem Bildmaterial und ihrem Vorstellungskontext nicht aus dem Umfeld der frühjüdischen Apokalyptik herausgelöst werden kann 281 . Insgesamt erscheint somit der Versuch, dem irdischen Jesus jede Rede vom Menschensohn abzusprechen, als ein primär dogmatisch motiviertes Unterfangen, als ein erneuter Versuch, Jesus .vor der Apokalyptik zu retten'. Insofern neuere Arbeiten zur Redaktionsgeschichte der Logienquelle 282 unter Berufung auf Vielhauers Argumentation die Worte von der Gerichtsvoll-

und 4 Esra 13 mußte man auch in Dan 7 beide Motive verbunden sehen. Vgl. zur Kritik YARBRO COLLINS, Origin (s. Anm. 273), 142 Anm. 8. Im übrigen ist festzuhalten, daß sich die Hoffnung auf die endzeitliche Aufrichtung bzw. Durchsetzung der Herrschaft Gottes mit ganz unterschiedlichen Gestalten (wie etwa Elia, dem Messias, Melchisedek in llQMelch; Michael in Dan oder 1QM) verbinden konnte. 275 „Kein Menschensohnwort ist authentisch; Jesus hat den Menschensohn nicht verkündigt" (VIELHAUER, Jesus und der Menschensohn [s. Anm. 273], 133). 276 VIELHAUER, Gottesreich (s. Anm. 100), 90. .Objektivierung' ist - in den Kategorien der existentialen Interpretation gedacht - natürlich ein sachlich völlig unangemessener Vorgang. 277 Vielhauer geht hier „zu Unrecht davon aus, daß der Menschensohn eine fest umrissene Größe innerhalb der eschatologischen Erwartung des Judentums gewesen sei" (SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge [s. Anm. 274], 85 Anm. 186). Vgl. auch die Kritik bei THEIBEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 477. 278 SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte (s. Anm. 274), 452. 279 S.o. Abschnitt 2.2. 280 VIELHAUER, Gottesreich (s. Anm. 100), 87. 281 VIELHAUER, Gottesreich (s. Anm. 100), 87, meinte, auch der Begriff der „Königsherrschaft Gottes" sei „ebenso allgemein verständlich wie von apokalyptischen und nationalen Zukunftserwartungen unbelastet". 282 Vgl. insbesondere KLOPPENBORG VERBIN, Formation (s. Anm. 156). Vgl. auch H. KOESTER, GNOMOI DIAPHOROI, in: ders./J.M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des Frühchristentums, 129 Anm. 66, mit dem Verweis auf Vielhauer und Perrin. Zur Kritik s. SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte (s. Anm. 274), 452.

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macht des Menschensohns einer späten Schicht derselben zuordnen, partizipieren sie ganz abgesehen von der methodologischen Problematik ihres Vorgehens - an den Unsicherheiten dieses Ansatzes 283 .

Gegenüber den skizzierten Versuchen, Jesus die Rede vom Menschensohn gänzlich abzusprechen, haben Gerd Theißen und Annette Merz zutreffend daraufhingewiesen, daß „das Kriterium der Wirkungsplausibilität ... aufgrund der Mehrfachbezeugung eindeutig für die Authentizität des Ausdrucks" spricht 284 , zumal sich die Verwendung des Terminus weder aus der Alltagssprache noch aus der Ostererfahrung erklären läßt. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob alle drei Klassen von Menschensohnworten auf den irdischen Jesus zurückgehen können 285 oder ob diese Klassifikation vielleicht insgesamt unangemessene Kriterien an die Logien heranträgt286. Es kann auch nicht ausfuhrlich erörtert werden, ob Jesus mit der Rede vom kommenden Menschensohn wirklich - wie viele Exegeten meinen - eine von ihm selbst unterschiedene Gestalt bezeichnet hat 287 oder ob der Terminus, der ja auch in einem Spruch wie Lk 12,8 engstens mit der Person des irdischen Jesus verbunden ist, doch als ein rätselhaft-verhüllender Ausdruck seines eigenen Vollmachtsanspruchs zu verstehen ist 288 . Gerade in dieser bleibenden Undeutlichkeit hat Lk 12,8 hohen Anspruch auf Authentizität, denn wäre ein solches Wort nachösterlich formuliert worden, dann wäre die für die nachösterliche Gemeinde unstrittige Identifikation Jesu mit dem Menschensohn wohl deutlicher zur Sprache gebracht worden 289 . Aber auch ohne eine derartig klare Formulierung bietet Lk 12,8 283 284

S. dazu die Kritik bei SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte (s. Anm. 274), 452f. THEIBEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 476; ebd., 477-479; vgl. auch

YARBRO COLLINS, O r i g i n ( s . A n m . 2 7 3 ) . 285

So dezidiert C. COLPE, Art. o viös TOO dv9puTToO, ThWNT 8, 1969, 403^181. In diesem Sinne auch V. HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus, Neukirchen-Vluyn 1990; M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 1-80 (67f.). 286 Zur Kritik s. G. VERMES, Jesus the Jew, Philadelphia 1973, 177-186, der eine Kategorisierung nach der Nähe oder Ferne zu Dan 7,13 vorschlägt. 287 So im Anschluß an Bultmann z.B. G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart u.a. 141988, 200-202; F. HAHN, Christologische Hoheitstitel, FRLANT 83/UTB 1873, Göttingen s 1995, 23-32; YARBRO COLLINS, Origin (s. Anm. 273), 154. 288 So THEIBEN/MERZ, Der historische Jesus (s. Anm. 179), 479: „Er erwartete mit dem Einbruch der Gottesherrschaft jene Rolle einzunehmen, die er dem Menschensohn zuschrieb." HENGEL, Jesus der Messias Israels (s. Anm. 285), 68, spricht vom „Messias designatus". SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte (s. Anm. 274), 457, resümiert, „daß Jesus selbst damit bereits einen hohen Anspruch angemeldet hatte", der nachösterlich „in bezug auf seine Funktion als endzeitlicher Richter sowie zur Deutung seines Leidensgeschicks ausgebaut werden konnte". 289 D i e Parallele in Mt 10,32 löst diese Spannung durch die doppelte Verwendung der 1. Person auf. Zur Authentizität des Logions s. J.M. MCDERMOTT, Luke 12,8-9: Stone of

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eine einzigartige Verknüpfung zwischen dem Verhalten der Menschen zum irdischen Jesus und dem Zeugnis des himmlischen Menschensohns vor dem Forum eines zukünftigen Gerichts. Wenn aber die Rede vom Menschensohn in diesem Logion nicht einfach auf eine von Jesus unterschiedene Person zielt, dann hat der irdische Jesus mit der Rede vom Menschensohn - in diesem Logion und in anderen „seinen besonderen Sendungsanspruch zur Geltung gebracht, der im Zusammenhang seiner ßaaiXeia-Verkündigung zu interpretieren ist" 290 . Sowohl die sprachlichen Parallelen zu dieser Verwendung - von Dan 7 über 1 Hen 37-71 bis 4 Esr 13 - als auch der Sachgehalt der synoptischen Menschensohn-Worte weisen darauf hin, daß sich mit dieser Bezeichnung die Vorstellung einer besonderen, eschatologisch relevanten Vollmacht verbindet, in welcher der Menschensohn zu einem späteren Zeitpunkt entweder als Gerichtszeuge (Lk 12,8) oder als bevollmächtigter Richter (Mk 14,61f.) agieren wird. Die hier ausgesprochene Funktion des Menschensohns im Rahmen eines Gerichtsakts „vor" (e|iTTpoa0ev) den „Engeln Gottes" greift in mehrfacher Hinsicht auf die in Dan 7 vorgegebene Szenerie zurück 291 . Dies gilt auch dann, wenn der in Dan 7,13 „wie ein Menschensohn" Erscheinende noch nicht so als individuelle Heilsgestalt zu verstehen sein sollte, wie dies dann in späteren Texten der Fall ist. Für den hier vorliegenden Argumentationszusammenhang ist allein relevant, daß sich im Gebrauch des Menschensohn-Terminus und in den mit ihm verbundenen Motiven eine Rezeption apokalyptischer Topoi durch den irdischen Jesus spiegelt. b) Damit ist ein weiteres Feld der Rezeption apokalyptischer Topoi berührt, das bereits im Zusammenhang der Frage nach Jesu Verhältnis zum Täufer thematisiert wurde: die Vorstellungen vom eschatologischen Gericht. So fremdartig und unangemessen diese dem modernen oder postmodernen Leser erscheinen mögen, wird man doch gerade sie in ihrem historischen Kontext wahrnehmen müssen und sich davor hüten, das Bild des historischen Jesus nach dem theologischen Wunschbild der eigenen Gegenwart zu formen. Zu bedenken ist dabei, daß die Vorstellung des göttlichen Gerichts im Kontext der alttestamentlichen und frühjüdischen Tradition stets im Rahmen des heilvollen Handelns Gottes, der Aufrichtung und Durchsetzung von Gerechtigkeit stand 292 und angesichts des in der Welt

Scandal, RB 84 (1977), 523-537; R. PESCH, Über die Autorität Jesu, in: R. Schnackenburg (Hg.), Die Kirche des Anfangs, Festschrift Heinz Schürmann, Leipzig 1977, 25-55. 290 SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge (s. Anm. 274), 85. 291

V g l . DAVIES/ALLISON, M a t t h e w II (s. A n m . 2 4 6 ) , 2 1 4 f .

292

V g l . JANOWSKI, J H W H d e r R i c h t e r (s. A n m . 184); MERKLEIN, G e r i c h t u n d H e i l (s.

Anm. 184).

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w a h r g e n o m m e n e n U n r e c h t s e i n n o t w e n d i g e s Implikat oder gar e i n e V o r a u s s e t z u n g der u n i v e r s a l e n A u f r i c h t u n g der Gottesherrschaft ist. Zutreffend hatte bereits Rudolf Bultmann festgestellt, daß Jesus das „apokalyptische Zukunftsbild" übernommen habe 2 9 3 . Dieses Urteil bestätigt sich, sofern man nicht gewaltsam die Jesustradtion von derartigen dem neuzeitlichen Denken mißverständlichen oder sperrigen Elementen zu .reinigen' versucht. Wo man in diesem Interesse mit Überlegungen zur Schichtung der Materialien der Logienquelle argumentiert 294 , ist zu bedenken, daß diese Modelle - angefangen von der vorauszusetzenden Textgestalt bis hin zu den Textaufteilungen im Detail - äußert hypothetisch und stark von inhaltlichen Kriterien bestimmt sind, so daß es kaum angeht, unter Hinweis auf derartige literarkritische Hypothesen alle Gerichtsaussagen der synoptischen Tradition der späteren urchristlichen Verkündigung .anzulasten', in der die Verkündiger auf die Ablehnung ihrer Botschaft durch die Androhung des Gerichts geantwortet hätten. Es wäre viel zu einfach, die komplexe Symbolwelt der eschatologischen Aussagen durch eine derart schlichte .Bedürfnisorientierung' erklären zu wollen. Gerade wenn die literarische Einordnung der entsprechenden Logien alles andere als sicher ist, erscheint es methodisch nach wie vor gerechtfertigt, für jedes einzelne Logion die Authentizitätskriterien der Mehrfachbezeugung, der Kontextund Wirkungsplausibilität etc. zur Geltung zu bringen. S a c h l i c h findet s i c h die Gerichtspredigt Jesu in allen Ü b e r l i e f e r u n g s s c h i c h t e n der s y n o p t i s c h e n Tradition 2 9 5 , und w e n n m a n eine Z u s a m m e n schau der d i v e r s e n E i n z e l l o g i e n unternimmt, dann ergibt sich „ein erstaunlich klares u n d k o n s i s t e n t e s B i l d der Gerichtspredigt Jesu" 2 9 6 . Grundleg e n d e V o r a u s s e t z u n g ist dabei - e b e n s o w i e b e i m T ä u f e r - d i e G e r i c h t s v e r f a l l e n h e i t aller, w e s h a l b z u g l e i c h für alle d i e U m k e h r u n b e d i n g t n o t w e n d i g ist (Lk 13,5). D i e D i f f e r e n z zur B o t s c h a f t des Täufers hängt dann v o r all e m mit der Q u a l i f i k a t i o n des A u f t r e t e n s Jesu und s e i n e r Zeit als b e s o n d e rer H e i l s z e i t z u s a m m e n , s o daß d i e A b l e h n u n g s e i n e s W i r k e n s z u m Hauptanlaß der G e r i c h t s a n k ü n d i g u n g wird. B e i s p i e l e dafür finden sich e t w a in d e m D o p p e l l o g i o n über die S ü d k ö n i g i n und d i e N i n i v i t e n ( M t 1 2 , 4 1 f . par. Lk 11,31 f.), n a c h d e m i m Gericht d i e s e d u c h . U m k e h r ' b z w . . W e i s h e i t s s u c h e ' a u s g e w i e s e n e n N i c h t j u d e n als Z e u g e n g e g e n d i e Generation der Z e i t g e n o s s e n Jesu a u f s t e h e n s o l l e n , de293

BULTMANN, Theologie (s. Anm. 61), 4f. Die vorgetragenen Modelle sind im übrigen sehr divergent. Während LÜHRMANN, Redaktion (s. Anm. 156), 97f., noch eine weisheitliche Schicht der Logienquelle in der Nähe der Endfassung ansiedelte, vertritt J.S. KLOPPENBORG, The Composition of Q, Claremont 1987, 102-170, eine apokalyptische Prägung der Redaktion und verlegt daher die Gerichtsworte überwiegend in die Spätphase von Q. Vgl. auch P. HOFFMANN, Q und der Menschensohn, in: ders., Tradition und Situation. Studien zur Jesusüberlieferung in der Logienquelle und den synoptischen Evangelien, NTA 28, Münster 1995, 243-278, der die Redaktion der Logienquelle in die Nähe des Jüdischen Kriegs rückt. 295 REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 188), 293f. 296 A.a.O., 295. Eine andere Rekonstruktion bietet W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen, BZNW 82, Berlin/ New York 1996. 294

Jesus und die Apokalyptik

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ren Schuld eben darin besteht, daß sie die einzigartige Situation des Heils in ihrer eigenen Gegenwart nicht erkannt haben 297 . Analog spricht das Drohwort gegen die galiläischen Orte (Mt 11,21-24 par. Lk 10,13-15) von den heidnischen Städten Tyros und Sidon, denen es „im Gericht erträglicher gehen" werde als Chorazin und Bethsaida oder auch Kafarnaum 298 . Diese Hervorhebung der Orte des unmittelbaren Wirkens des irdischen Jesus spricht entschieden gegen eine Entstehung des Logions in einem späteren Stadium der christlichen Mission, da „die spätere Gemeinde ... an diesen nahe beieinanderliegenden, ganz unbedeutenden galiläischen Dörfern kein Interesse mehr" hatte und ein späterer christlicher Prophet das „unscharfe ,siehe, hier ist mehr als' christologisch exakter definiert" hätte 299 . Das Gericht, von dem hier die Rede ist, versammelt offenbar in universaler Weite alle Menschen, Juden und Nichtjuden, die gegenwärtige Generation und längst vergangene Generationen vor dem Forum des göttlichen Weltenrichters. Es transzendiert das irdische Leben, wie ja auch die Patriarchen als Teilhaber am Festmahl in der Gottesherrschaft vorgestellt werden (Mt 8,1 lf. par. Lk 13,28f.). Auch Details der frühjüdischen Ausgestaltung der Gerichtsvorstellungen werden übernommen: Im Weheruf über Kafarnaum spricht Jesus von der - griechisch als ,Hades' wiedergegebenen - Hölle, die hier keineswegs ,nur' als Totenreich 300 , sondern (wie in 1 Hen 103,7f. oder PsSal 14,9; 15,10 etc.) „der eschatologische Strafort" ist 301 . Die verweigerte Umkehr führt gemäß Jesu Wort über die vom Turm bei Schiloach Erschlagenen (Lk 13,5) ins Verderben (aTToXetoOe), die Nichtteilhabe am eschatologischen Freudenmahl der ßaaiXeia wird mit dem Ausgestoßensein (eKßX.Ti0TiaovTai e£w), dem eschatologischen Verderben identifiziert. Einige der Logien nehmen zudem biblische oder nachbiblische Traditionen auf, wie etwa von der Weisheit Salomos und der ,Königin des Südens', vom Freudenmahl (Jes 25,6), von der eschatologischen Strafe (Jes 66,24) 302 oder der großen Flut (Lk 17,26f. par. Mt 24,3739). Solche Schriftbezüge sind nicht apriorisch als Indiz für eine sekundä297

Zu diesem Logion s. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 188), 183-206. Dazu s. a.a.O., 207-215. 299 M. HENGEL, Jesus als messianischer Lehrer der Weisheit und die Anfänge der Christologie, in: ders./A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 81-131 (86). 300 So J. GNILKA, Das Matthäusevangelium I, HThK 1/1, Freiburg 1986, 429. 301 REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 188), 213. Der Gegensatz dazu ist der „Himmel" - wobei in dem Logion vermutlich eine Anspielung auf den Sturz des Gottesfeindes Jes 298

14,13-15 vorliegt. 302 Dazu s. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 188), 222-225; J. SCHLOSSER, Die Vollendung des Heils in der Sicht Jesu, in: H.-J. Klauck (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung. Zukunftsbilder im Neuen Testament, QD 150, Freiburg i. B. 1994, 54-84 (81-83).

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re, ,schriftgelehrte' Komposition zu werten 303 . Vielmehr ist gerade bei Rekursen, auf ein geprägtes Motivfeld wie das des eschatologischen Gerichts auch für den irdischen Jesus ein ursprünglicher Rekurs auf biblische und nachbiblische Traditionen nur wahrscheinlich. Zutreffend ist gewiß die Beobachtung, daß die Worte Jesu weniger als manche Texte der frühjüdischen Apokalyptik an der phantasievollen Ausmalung des Gerichts und der zukünftigen Welt interessiert sind, aber solche Ausmalungen sind auch „für die frühjüdische Literatur der Zeit vor Jesus durchaus nicht typisch" 304 , insofern ist es unangemessen, mit Hilfe dieser Beobachtung einen Gegensatz Jesu zu ,der Apokalyptik' zu konstruieren. Vielmehr ist Jesu Gerichtspredigt grundlegend in der apokalyptischen Eschatologie verwurzelt, sie hat teil an ihren bildhaften Vorstellungen und zugleich an ihrer Vielfalt und Variationsbreite. Wesentlicher ist wohl die Frage nach der Funktion der Gerichtspredigt im Rahmen der Verkündigung Jesu. Die Rede vom Gericht ist in Jesu Worten offenkundig nicht vom Interesse an Vergeltung geprägt, sie ist auch nicht allein eine Reaktion auf die Ablehnung der Heilsbotschaft, vielmehr ist sie sachlich grundlegend bereits mit dem Ruf zur Umkehr verbunden. Das Gericht erscheint zwar in vielen Logien als Folge der Abweisung des Heils, aber es ist zugleich - und wohl primär - Voraussetzung für die endgültige Durchsetzung der Gottesherrschaft. Davon zeugen jene Worte, die im Sinne apokalyptischer Traditionen mit der Durchsetzung der Gottesherrschaft zugleich eine ,Umkehrung' der Verhältnisse auf Erden voraussetzen wie z.B. die Worte von den Ersten und Letzten (Mk 10,31) oder die Seligpreisung der Armen, Weinenden und Hungernden (Lk 6,20-22). Man sollte dabei wohl annehmen, daß die Ankündigung eines solchen Recht schaffenden Handelns Gottes für viele der Hörer Jesu und für seine Anhänger keine bedrohliche, sondern eine tröstliche Vorstellung war, die sie die Erfahrung von Unrecht und Gesetzlosigkeit besser ertragen und sie trotz allem - in der Hoffnung auf Gottes Heil festhalten ließ 305 . Damit steht diese Verkündigung durchaus in einer gewissen Analogie zu den frühen Stadien der jüdischen Apokalyptik, wie sie jetzt im Wächterbuch erkennbar sind. c) Im Zuge der Darstellung der Gerichtsvorstellungen wurde bereits darauf hingewiesen, daß das vom irdischen Jesus angekündigte Gericht offenbar die Begrenzungen des irdischen Lebens transzendiert. Dies gilt desto mehr für die Vorstellung von der Gottesherrschaft. Wenn die Niniviten und 303

Der von jeder Schriftgelehrsamkeit oder auch nur Schriftkenntnis abgerückte historische Jesus der älteren Forschung ist ein - nicht zuletzt antijüdisches - Konstrukt. 304

305

REISER, Gerichtspredigt (s. A n m . 188), 3 1 2 .

Vgl. ALLISON, Jesus of Nazareth (s. Anm. 269), 135; auch WOLTER, „Gericht" und „Heil" (s. Anm. 173), 370ff.

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Apokalyptik

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die Königin des Südens dereinst aufstehen werden, wenn Abraham, Isaak und Jakob beim eschatologischen Festmahl zu Tische sitzen werden, wenn Jesus sich selbst in seinem Verzichtswort Mk 14,25 als Teilhaber an diesem künftigen Festmahl versteht, dann ist damit die Überwindung des Todes in der kommenden Gottesherrschaft impliziert. So unsicher es auch ist, ob die Auferweckung der Toten ein expliziter Gegenstand der Verkündigung Jesu war, und so strittig die Perikope der Sadduzäerfrage Mk 12,18-27 auch sein mag, so sehr implizieren doch Aussagen wie diejenigen über die Teilhabe der Patriarchen am eschatologischen Heil ebenso wie der Abschluß der Sadduzäerfrage-Perikope (Mk 12,27), daß Jesus derartige Vorstellungen geteilt haben dürfte. Auch darin steht er durchaus im Kontext der apokalyptischen Vorstellungen, und die Tatsache, daß die frühesten Zeugen der Osterereignisse die Erscheinungen dann sehr schnell mit dem Paradigma der Auferweckung der Toten als Auferweckung Jesu von den Toten deuten konnten, bietet eine weitere Bestätigung für diese These. d) Ein letzter Aspekt ist wesentlich, weil mit den apokalyptischen Traditionen in der Verkündigung Jesu auch ein Element des Diesseitigen in der eschatologischen Erwartung festgehalten wird. Man sollte dies zwar nicht verabsolutieren 306 , da die Aussagen vom eschatologischen Festmahl und von der Völkerwallfahrt natürlich auch nicht in platter ,Innerweltlichkeit' zu verstehen sind, sondern eine geprägte Symbol- oder Bildersprache aufnehmen 307 , und daneben andere Logien, wie etwa die Seligpreisung für die Verfolgten (Lk 6,22f. par. Mt 5,11 f.), von einem nicht näher konkretisierten himmlischen Lohn ([IICTGOS) sprechen oder z.B. Mk 12,25 durch den Hinweise auf das Sein der Engel „die Diskontinuität und Andersheit des neuen Lebens" festhält 308 . Gegenüber einer allzu starken (und ,christlich' motivierten) Betonung der Jenseitigkeit der jesuanischen Heilsvorstellungen hat Ed P. Sanders mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß Jesu eschatologische Verkündigung zumindest in einigen ihrer Aspekte im Horizont einer zeitgenössischen „restoration eschatology", d.h. der jüdischen Hoffnung auf eine ,Re-

306 Dieser Gefahr scheint im Blick auf Lk 13,28f. REISER, Gerichtspredigt (s. Anm. 188), 224, zu erliegen, wenn er die Eschatologie der Apokalyptik als „durchweg diesseitig orientiert" bezeichnet. Die an einer neuzeitlichen Ontologie orientierten Kategorien diesseitig/jenseitig sind zur Einordnung der apokalyptischen Vorstellungen kaum hinreichend. Im übrigen gibt es neben der irdisch orientierten Eschatologie in Lk 13,28f., die das Motiv der Sammlung der Diaspora (oder der Völkerwallfahrt) und des eschatologischen Mahls auf dem Zion aufnimmt, andere Aussagen, die die irdischen Verhältnisse sehr viel weniger aufrechterhalten sehen (vgl. Mk 12,18-27). Zur Kritik an Reiser s. SCHLOSSER, Vollendung (s. Anm. 302), 60f. 307 308

So mit Recht SCHLOSSER, Vollendung (s. Anm. 302), 66. SCHWANKE, Die Sadduzäerfrage (s. Anm. 205), 381.

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Stauration' des Gottesvolkes, zu verstehen ist 309 . Eine solche Restauration war z.B. im Abschluß des Prophetenkanons Mal 3,24 mit der Gestalt des Elia verbunden, und im Wirken Johannes des Täufers war eben diese Perspektive der eschatologischen Erneuerung Israels wiederaufgenommen worden. Jesus hatte sich durch seine Taufe in die Reihe der Umkehrenden aus Israel gestellt. Daß Jesu eigenes Wirken ebenfalls auf eine eschatologische Wiederherstellung Israels zielte, macht insbesondere die als Zeichenhandlung zu verstehende Einsetzung der Zwölf deutlich 310 . Diese fungierten zur Zeit des irdischen Jesus als Repräsentanten des endzeitlichen Israel, und zwar einschließlich der .verlorenen' Stämme. Das heißt, der Anspruch Jesu beschränkte sich im Unterschied etwa zur Verkündigung des Täufers nicht darauf, einen ,Rest' Israels zu sammeln und die übrigen dem Vernichtungsgericht preiszugeben, vielmehr zielt er dezidiert auf Israel in seiner Gesamtheit, d.h. auf eine eschatologische Größe. Eine so verstandene ,Restauration' geht freilich weit über den äußerlich-politischen Sinn dieses Terminus, über die Hoffnung auf die Befreiung von der Fremdherrschaft und die nationale Wiederherstellung um den Tempel, hinaus, sie konnte nur gedacht werden als ein von Gott gewährter Neubeginn, als die von ihm wunderbar heraufgeführte Königsherrschaft. Eine Spur des irdisch-restaurativen Denkens bietet das Logion Mt 19,28, das - wenn man es auf Jesus zurückfuhren darf 3 1 1 - den Zwölfen „bei der Wiedergeburt", d.h. in der eschatologischen Heilszeit" eine eschatologische Gerichtsfunktion über die Stämme Israels zuspricht. Die nächste neutestamentliche Parallele zu diesem Logion findet sich in der Aussage über die Mit-Herrschaft der auferstandenen Märtyrer mit Christus in Apk 20,4-6 3 1 2 , d.h. in apokalyptischem Kontext.

Im Zentrum der Argumentation Sanders' steht freilich Jesu Stellung zum Tempel, d.h. seine Logien über die anstehende Zerstörung des Tempels (Mk 13,lf.; vgl. 14,57f.; Mt 26,60f.; Joh 2,18-20; Apg 6,14) und die soge309

Grundlegend SANDERS, Jesus and Judaism (s. Anm. 170), 61-121. Die von Sanders angeführten Texte weisen freilich kaum auf eine ganz einheitliche Vorstellung hin, sondern zeigen eine große Variationsbreite. 310 Zur Historizität des Zwölferkreises s. J.P. MEIER, The Circle of the Twelve: Did it exist during Jesus' Public Ministry?, JBL 116 (1997), 635-672, sowie DERS., A Marginal Jew 3, ABRL, New York u.a. 2001, 125-197; zuvor bereits B. RIGAUX, Die „ Z w ö l f in Geschichte und Kerygma, in: H. Ristow/K. Matthiae (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960, 468^186; W. TRILLING, Zur Entstehung des Zwölferkreises, in: R. Schnackenburg (Hg.), Die Kirche des Anfangs, FS H. Schürmann, Leipzig 1977, 201-222; M. TRAUTMANN, Zeichenhafte Handlungen Jesu, fzb 37, Würzburg 1980, 167-233; W. HORBURY, The Twelve and the Phylarchs, NTS 32 (1986), 503-527. 311 Vgl. dazu SANDERS, Jesus and Judaism (s. Anm. 170), 103f. 312 Vgl. noch Dan 7,9.22. S. zum Verständnis des Motivs im Rahmen von Apk 20,4-6 J. FREY, Das apokalyptische Millennium, in: Millennium. Deutungen zum christlichen Mythos der Jahrtausendwende. Mit Beitr. von Ch. Bochinger etc., KT 171, Gütersloh 1999, 10-72 (20-25).

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nannte ,Tempelreinigung' (Mk 11,15-19 parr.) 313 . Diese beiden Perikopen deutet Sanders als eine Zeichenhandlung Jesu, und ihre zugehörige Deutung im Kontext der zeitgenössisch-jüdischen Erwartung eines neuen Tempels. Die Schwierigkeit dieser Position liegt freilich darin, daß aus den synoptischen Worten Jesu die Erwartung eines neuen Tempels nicht zu entnehmen ist. Jesus hat zwar wohl „das Ende des bestehenden, aber nicht seine Ersetzung durch einen eschatologischen Tempel angekündigt" 314 . So recht Sanders mit der Forderung hat, Jesus im Kontext des zeitgenössischen Judentums und seiner Hoffnungen zu verstehen und ihn nicht vorschnell zu ,christianisieren', so wenig vermag seine konkrete Lösung den synoptischen Texten wirklich gerecht zu werden. Elemente ,restaurativer' Eschatologie finden sich weniger im Zusammenhang mit dem Tempel, allein das Logion von der Gerichtsvollmacht der Zwölf über die zwölf Stämme Israels läßt sich in diesem Zusammenhang deuten - aber auch dieses Logion geht weit über eine national-politische Perspektive hinaus und nimmt ein Motiv auf, dessen nächste Parallelen in der Apokalyptik liegen, in Dan 7,9.22 und Apk 20,4-6. 4.5. Fazit Die hier erörterten Elemente der Jesusüberlieferung zeigen, wie stark die Verkündigung und das Wirken des irdischen Jesus von Vorstellungen und Motiven beeinflußt waren, die im Rahmen der frühjüdischen Apokalyptik herausgebildet worden und aus ihr teilweise in weitere Kreise des palästinischen Judentums um die Zeitenwende eingedrungen waren. Nicht nur die Erwartung der baldigen Durchsetzung der Gottesherrschaft, sondern auch die Überzeugung, daß diese im Himmel bereits durchgesetzt ist (Lk 10,18), und der Selbstanspruch des irdischen Jesus, daß sie sich auf Erden in Jesu eigenem exorzistischen Wirken manifestiert, ist apokalyptisch zu nennen, so daß sich in der Tat die ganze Vorstellung der von Jesus verkündigten ßacuXeia und nicht nur ihr ,futurischer' Anteil als apokalyptisch geprägt erweist. Diese eschatologische Grundauffassung bildet den Rahmen auch für die eher weisheitlichen Aussprüche Jesu 315 . In das skizzierte Gefüge paßt auch die Verwendung des rätselhaften, aber eben doch an die Sprachtradition von Dan 7 anschließenden Terminus ,der Menschensohn', den Jesus sehr wahrscheinlich zum Ausdruck seiner eschatologischen Vollmacht verwendet hat, ebenso die vielfältigen Vorstellungen vom eschatologischen Gericht, dazu die im Hintergrund seiner 313

SANDERS, Jesus and Judaism (s. Anm. 170), 61ff., sowie kritisch zu Sanders' Methode und zu seiner Interpretation der Tempelreinigung CH. METZDORF, Die Tempelaktion Jesu, WUNT 11/168, Tübingen 2003, 201-221. 314 So mit Recht SCHLOSSER, Vollendung (s. Anm. 302), 65. 315 Zum Verhältnis beider s. auch EBNER, Jesus (s. Anm. 178), 422f.

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Exorzismen zu erkennende Dämonologie und die damit verbundene Vorstellung von einem eschatologischen Kampf, die Rede von Gegenspielern wie Satan oder Beelzebul, aber auch die die Erwartung eines eschatologischen Freudenmahls auf dem Zion unter Einschluß der gerechten Patriarchen und - nach Mk 14,25 - Jesu selbst und die - in solchen zumindest angedeutete - Vorstellung von der Auferweckung der Toten. Jesus teilt insofern wesentliche Elemente der Vorstellungswelt des Täufers ebenso wie eines Großteils seiner Zeitgenossen, Anhänger und frühen nachösterlichen Zeugen. Es wäre historisch außerordentlich verwunderlich, wenn dem nicht so wäre. Es läßt sich theologisch nachvollziehen, warum die neutestamentliche Wissenschaft mit einer solchen Verbissenheit versucht hat und zum Teil heute noch versucht, Jesus zur Apokalyptik in Distanz zu bringen, ihn ,vor der Apokalyptik zu retten'. Historisch ist ein solches Unterfangen praktisch aussichtslos. Es gibt keinen historischen Grund, jene ,weltbildhaften' Züge wie die Erwartung einer künftigen Durchsetzung der Gottesherrschaft oder eines noch ausstehenden göttlichen Gerichts oder die Vorstellungen von eschatologischen Gegenspielern, Dämonen und einem bevorstehenden (oder schon begonnenen) eschatologischen Kampf vom irdischen Jesus fernzuhalten 316 . Jesus hat diese Vorstellungen geteilt, und sie bilden einen nicht zu unterschätzenden Bestandteil seiner Verkündigung. Gewiß hat er - anders als der Täufer - den Akzent auf die ,positive', heilvolle Verkündigung der Basileia gelegt, aber auch diese kann sich nach dem von Jesus geteilten kulturellen Grundwissen auf Erden nur in Kämpfen und durch das Gericht hindurch Bahn brechen, wie umgekehrt die Akte des göttlichen Richtens nach alttestamentlich-frühjüdischer Überzeugung primär Akte der endgültigen Heraufführung des Heils, also Teil eines eschatologischen Heilsgeschehens sind. Wie steht es also mit den Thesen vom ,non-eschatolgoical Jesus'? Historisch plausibel sind sie nicht. Vor allem bleibt es in all diesen Konstruktionen ungeklärt, wie es von der eindeutig eschatologischen Verkündigung Johannes des Täufers über Jesus zum gleichermaßen eindeutig eschatologischen Kerygma der frühen Urchristenheit gekommen ist, wenn nicht auch bei Jesus selbst der Rahmen einer solchen Erwartung vorauszusetzen ist317. Wenn man Jesus also nicht ungerechtfertigterweise sowohl von seinem frühjüdischen Umfeld und von seiner frühesten nachösterlichen Wirkung abrücken will, wird man eben doch von einem grundsätzlich eschatolo-

316

So auch ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht (s. Anm. 296), 314f. So auch die Kritik bei D. DU Torr, Redefining Jesus (s. Anm. 154), 113 Anm. 123; s. weiter D.C. ALLISON, A Plea for Thoroughgoing Eschatology, JBL 113 (1994) 6 5 1 668. 317

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gischen Rahmen seiner Verkündigung und seines Handelns und von einer in hohem Maße apokalyptischen Prägung ausgehen müssen.

5. Hermeneutische Schlußerwägungen Das Unterfangen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten', ist historisch und religionsgeschichtlich hoffnungslos. Es ist im 19. Jahrhundert aus der theologischen Apologetik geboren und dann immer wieder - mit unterschiedlichen Begründungen - wiederbelebt worden. Da im frühen Urchristentum die apokalyptischen Züge evident sind, mußte man dann die ,Reapokalyptisierung' oder gar ,Rejudaisierung' den frühen (juden)christlichen Verkündigern anlasten. Aber sind solche Operationen hermeneutisch notwendig? Muß man Jesus ,vor der Apokalyptik retten', um die Wahrheit des Evangeliums von dem erwiesenen Irrtum hinsichtlich der Naherwartung seiner Parusie und vor den als unangemessen erkannten spekulativen Ausmalungen von Gericht und Heil zur schützen? Angesichts der schlechterdings zentralen Stellung der Gestalt Jesu von Nazareth für die weitere christliche Verkündigung stellen sich die Fragen nach der Verbindlichkeit der ,weltbildhaften' Züge der neutestamentlichen Verkündigung zuallererst anhand seiner Person und Botschaft. Deshalb erweist sich die Apokalyptik hier, im Bezug auf den irdischen Jesus, am deutlichsten als Herausforderung für die neutestamentliche Wissenschaft - sofern sich diese nicht lediglich als Religionswissenschaft versteht, sondern als Disziplin im Rahmen der christlichen Theologie zugleich die Frage nach dem Geltungsanspruch der von ihr behandelten Texte mit zu bedenken versucht. Die hier aufbrechenden hermeneutischen Fragen können im vorliegenden Rahmen nicht mehr erörtert werden. Nur wenige Hinweise müssen genügen: 1. Die Forschungsgeschichte 318 hat gezeigt, wie stark die ältere Apokalyptikforschung ihrerseits von dem Bestreben der theologischen Interpreten geprägt war, die bizarre Vorstellungswelt der apokalyptischen Schriften von der religiösen Botschaft der großen Propheten einerseits und Jesu bzw. der Apostel andererseits abzurücken. Die Ratlosigkeit' und das verbreitete Unverständnis gegenüber der Apokalyptik rührte auch daher, daß man sie zumeist an einem fremden Maßstab gemessen hat und damit den Texten und ihren eigenen Anliegen nur unzureichend gerecht werden konnte. Zur Geltung zu bringen ist daher zunächst, daß die neuere Apokalyptikforschung sehr viel differenzierter und präziser das Anliegen und die theologische Leistung der apokalyptischen Texte erhoben hat, als dies in den

318

S.o. Abschnitt 2.

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älteren Darstellungen der jüdischen Eschatologie oder den immer noch einflußreichen Handbuchartikeln geschieht. 2. Die Leistung der apokalyptischen Texte und der in ihnen vorgetragenen Vorstellungen wird insbesondere dann deutlich, wenn man sie hermeneutisch als symbolische Sinnwelten begreift, die für ihre Trägerkreise eine durchaus wesentliche Funktion zur Bewältigung ihrer eigenen Gegenwart, ihrer Welterfahrung und vor allem auch der Erfahrung von Fremdherrschaft, Unrecht und Gewalt hatten. Gegen solche Erfahrungen setzt die apokalyptische Wirklichkeitssicht z.B. im Wächterbuch (1 Hen 1-36), aber auch in der Johannesapokalypse eine durchaus kunstvolle ,Gegenwelt': Bilder von der Überwindung des Bösen und von der Heraufführung der Heilszeit, von der im Himmel bereits präsenten Gottesherrschaft und von der deshalb auch auf Erden zu erwartenden Erlösung bieten Hilfen zur Wirklichkeitsdeutung und -bewältigung, zur Identitätsstärkung und -vergewisserung. Die Tatsache, daß diese symbolischen Welten und ihre Bestandteile weitertradiert wurden und auch in anderen Kreisen und deren Texten Verbreitung fanden, läßt darauf schließen, daß sie immer wieder als tragkräftig erfahren wurden. Dieser religiöse Wert der apokalyptischen Bildwelten läßt sich im Horizont von Methodenkonzepten wie der Mythosund Metapherntheorie oder auch der Wissenssoziologie heute sehr viel angemessener Weise zur Darstellung bringen, als dies der älteren Forschung mit ihren beherrschenden liberal-theologischen oder kerygmatheologischen Werturteilen möglich war. 3. Der allgemeinsprachliche Begriff des ,Apokalyptischen' ist weithin negativ geprägt. Viele Zeitgenossen verstehen darunter in erster Linie Visionen vom Weltuntergang und (säkularisiert) ,endzeitlichen' Katastrophen. Dies gründet nicht zuletzt in der Wirkungsgeschichte der neutestamentlichen Apokalypse, die - anders als in der Alten Kirche und auch noch weithin bei den Reformatoren 319 - in der Neuzeit immer weniger als ein Buch der Hoffnung und immer stärker als ein Buch von (kommenden) Katastrophen angesehen wurde 320 . Daß dies die Intention der Johannesapoka319

V g l . noch die Aussage von Martin Luther am Ende seiner Vorrede von 1530 (WA.DB 7, 420): „wir hie sehen jnn diesem buche, das Christus, durch und über alle plagen ..., dennoch bey und mit seinen heiligen ist und endlich obligt". Vgl. zur ambivalenten Stellung Luthers zur Apokalypse ausführlich H.-U. HOFMANN, Luther und die Johannes-Apokalypse, BGBE 24, Tübingen 1982. 320 Vgl. weiter FREY, Johannes und die Apokalypse (s. Anm. 121); zum Umprägung des Apokalypsebegriffs in der Neuzeit s. M. BACHMANN, Die apokalyptischen Reiter und der Apokalypsebegriff: Dürer, Luther und die Folgen, in: W. Vögele/R. Schenk (Hg.), Apokalypse. Vortragsreihe zum Ende des Jahrtausends, Loccumer Protokolle 31/99, Loccum 2000, 209-225.

Jesus und die Apokalyptik

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lypse nicht in angemessener Weise wiedergibt, ist evident 321 . Aber auch für die apokalyptischen' Elemente in anderen neutestamentlichen Texten gilt es, die biblisch-theologische Einsicht geltend zu machen, daß die leitende Perspektive dieser Texte die Aussicht auf das endgültige Heil und die Überwindung von Unrecht, Leid und Tod ist, und daß auch die Vorstellungen von einem göttlichen Gericht letztlich im Dienste der Aufrichtung von Gerechtigkeit stehen und daher keineswegs leichthin eliminiert werden können - weder in der Verkündigung Jesu noch in anderen urchristlichen Traditionszusammenhängen. 4. Systematisch-theologisch wäre weiter zu fragen, ob nicht die Weltwahrnehmung der Apokalyptiker durchaus eine Reihe von Elementen enthält, die dem neuzeitlichen Denken zwar weithin fremd erscheinen, aber nicht leichthin von der Hand zu weisen sind. Natürlich lassen sich Berechnungen des Endes leicht als irrige Spekulationen erweisen, und Hoffnungen auf eine bessere Zukunft und eine .himmlische' Welt können negativ als weitflüchtige Deformation des Glaubens kritisiert werden. Zu bedenken bleibt aber z.B., ob die in der Apokalyptik entwickelte Sicht der vom Bösen zutiefst ,korrumpierten' Welt und die daraus folgenden Vorstellungen der Erlösung als einer ,neuen Schöpfung' nicht den Erfahrungen von Unrecht, Leid und Tod eher zu begegnen vermögen als andere, anthropologisch und hamartiologisch optimistischere' Entwürfe. Die Frage, was denn ,wahr' ist an der Apokalyptik 322 , wäre sehr viel tiefgründiger zu erörtern, als dies in der schnellen Abweisung spekulativer Endzeitberechnungen geschieht 323 . 5. Eine letzte hermeneutische Einsicht entspringt der textpragmatischen Forschung und betrifft die in der Exegese mittlerweile deutlicher gesehene Rezipientenorientierung der neutestamentlichen Texte. Daß es historisch und theologisch unangemessen ist, biblische Texte als dicta probantia für überzeitliche' und ,allgemeingültige' Lehren zu verwenden, ist in der kritischen Exegese der Neuzeit immer wieder - gegen den Schriftgebrauch der älteren Theologie - festgehalten worden. Aber die Versuche, die ,weltbildhaften' Elemente aus der Verkündigung Jesu kritisch zu eliminieren, spiegeln ein durchaus analoges Anliegen, als Verkündigung Jesu ein für ,den' modernen (oder postmodernen) Menschen akzeptables und applikables Bild zu rekonstruieren (das freilich entsprechend 321

Vgl. ausfuhrlich J. FREY, Die Bildersprache der Johannesapokalypse, ZThK 98

(2001), 161-185. 322

So SLEGERT, Apokalyptik (s. Anm. 2), 50 (s.o. Abschnitt 1.). Vgl. dazu ausführlicher KÖRTNER, Weltangst (s. Anm. 54), sowie den Beitrag von Ulrich Körtner in diesem Band. 323

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der leitenden Grundorientierung sehr unterschiedlich ausfallen kann). Demgegenüber ist immer wieder zu betonen, daß Jesu Worte keine zeitlosen' Wahrheiten verkündigen, deren propositionaler Gehalt dann als verbindliche Lehre zu gebrauchen wäre. Auch wenn die Adressatenorientierung der Worte des irdischen Jesus durch den Prozeß der Überlieferung, Modifikation und und Sammlung häufig verdunkelt ist, wird man stets damit rechnen müssen, daß der Zuspruch des Heils an die Armen, Hungernden und Weinenden (Lk 6,20f.) ebenso wie die Drohungen gegen die Generation seiner Zeitgenossen oder die galiläischen Orte seines Wirkens in einer konkreten Situation und einem spezifischen Adressatenbezug formuliert wurden. Der Zuspruch ist ebenso konkret wie die Drohung, und es bedarf einer nicht unbeträchtlichen hermeneutischen Reflexion, wenn man aus solchen ursprünglich präzise adressierten Worten erheben will, was denn - im Rahmen der Verkündigung späterer Generationen - Gültigkeit beanspruchen kann. Ein Teil dieser Reflexion und Modifikation läßt sich innerhalb der Evangelientradition verfolgen 324 . So sehr die angesprochene Adressatenorientierung auch auch in der Interpretation der nachösterlichen neutestamentlichen Zeugnisse wie z.B. der Paulusbriefe zu beachten ist, stellt sich hier im Rahmen der Jesusüberlieferung das Sonderproblem, inwiefern die Worte des Irdischen überhaupt im Rahmen der - auf Kreuz und Auferstehung basierenden - christlichen Theologie Verbindlichkeit beanspruchen können. Wenn man - aus historischen und theologischen Gründen - eine Kontinuität zwischen der vorösterlichen Situation und der nachösterlichen Verkündigung nicht völlig leugnen will 325 , dann wird man sich auch den apokalyptischen Elementen in der Verkündigung Jesu stellen müssen und nach ihrem Beitrag zur ,Wahrheit des Evangeliums' im Ganzen zu fragen haben. Insofern bleibt die Apokalyptik eine Herausforderung für die neutestamentliche Wissenschaft, gerade dann, wenn diese sich als theologische Disziplin versteht.

324

Ein Paradigma ist hier sicher die Modifikation der ursprünglich in Lk 6,20 überlieferten Seligpreisung der Armen in Mt 5,3. Programmatisch erfolgt die Reflexion des Auftretens und Wirkens Jesu aus nachösterlicher Perspektive im vierten Evangelium, dort durch das hermeneutische Mittel der Rede vom .erinnernden' Geist-Parakleten. Hier wird theologisch reflektiert, welchen Platz die Traditionen vom irdischen Jesus im Rahmen der nachösterlichen Verkündigung haben können. S. zum Problem J. FREY, Das Johannesevangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition, in: Johannesevangelium - Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen, hg. v. Thomas Söding, Q D 203, Freiburg/Basel/Wien 2003, 6 0 - 1 1 8 . 325

Zum Problem s. FREY, Der historische Jesus (s. Anm. 15).

Markus 13 re-visited von E V E - M A R I E BECKER

1. Einführung - Zum Forschungsstand Seit fast z w a n z i g Jahren, nämlich seit E. Brandenburgers Arbeit z u Markus 13 v o n 1984 1 , ist zumindest im deutschsprachigen B e r e i c h k e i n e weitere Monographie oder umfangreichere Arbeit zur markinischen A p o k a l y p s e erschienen 2 . D i e g e g e n w ä r t i g e Forschungssituation ist also ganz anders als diejenige, die J. Gnilka 1969 in der B i b l i s c h e n Zeitschrift so skizzierte: „Es zeugt für die Reichhaltigkeit der literarischen Produktion in der E x e g e s e unserer Tage, daß i m Verlauf v o n nur drei Jahren g l e i c h drei u m f a n g reiche M o n o g r a p h i e n z u M k 13 erscheinen" 3 . D i e e x e g e t i s c h e Forschung zu Markus 13 war bis zur Arbeit Brandenburgers e i n s c h l i e ß l i c h mit der literarkritischen und traditionskritischen b z w . traditionsgeschichtlichen A n a l y s e der sog. synoptischen A p o k a l y p s e

1

E. BRANDENBURGER, Markus 13 und die Apokalyptik, FRLANT 134, Göttingen

1984. 2 An neuesten Aufsätzen zu Teilabschnitten von Mk 13 können z.B. genannt werden: B.J. PLTRE, Blessing the Barren and Warning the Fecund. Jesus' Message for Women concerning Pregnancy and Childbirth, JSNT 81 (2001), 59-80; T.W. MARTIN, „Watch during the Watches (Mark 13:35)", JBL 120 (2001), 185-201; H. DETERING, The Synoptic Apocalypse (Mark 13 par). A document from the Time of Bar Kochbar, Journ High Crit 7 (2000), 161-210; M.M. MITCHELL, A Tale of two Apocalypses, CThMi 25 (1998), 200-209. Übergreifenden Fragestellungen zu Mk 13 widmen sich in jüngster Zeit P. MÜLLER, Zeitvorstellungen in Markus 13, NT 40 (1998), 209-230 und F. HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einfuhrung, BThSt 36, Neukirchen-Vluyn 1998, 115 ff. 3

J. GNILKA, M a r k u s 13 in der Diskussion, B Z 13 (1969), 1 2 9 - 1 3 4 (129) - gemeint

sind: L. HARTMAN, Prophecy Interpreted. The Formation of Some Jewish Apocalyptic Texts and the Eschatological Discourse Mark 13 par., CB.NT 1, Lund 1966; J. LAMBRECHT, Die Redaktion der Markus-Apokalypse. Literarische Analyse und Strukturuntersuchung, AnBib 28, Rom 1967; R. PESCH, Naherwartungen. Tradition und Redaktion in Markus 13, KBANT, Düsseldorf 1968.

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befaßt 4 : Die literarkritische Analyse deckt Inkohäsionen 5 in der vorliegenden Textgestalt auf. Die Inkohäsionen lassen darauf schließen, daß der Evangelist Markus eine ihm vorliegende literarische Vorlage bzw. Quelle redaktionell bearbeitet hat. Doch auch die dem Evangelisten vorliegende Quelle ist nicht aus ,einem Guß', sondern stammt aus verschiedenen Traditionsbereichen. Bei diesem Befund setzt die traditionskritische und traditionsgeschichtliche Analyse an. Sie sucht nach der traditionsgeschichtlichen Verortung möglich einzelner Traditionsstücke, die vielleicht bereits vormarkinisch zu einer Quelle zusammengefügt wurden. Im Zuge der literarischen Dekomposition und der historischen Rekonstruktion von Mk 13 wird also erstens eine zusammenhängende literarische Vorlage der synoptischen Apokalypse in ihren Wachstumsstufen wahrscheinlich gemacht. Umstritten ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob es sich bei der literarischen Vorlage von Mk 13 ursprünglich um eine jüdische Apokalypse gehandelt habe, ob diese Apokalypse in Form eines Flugblattes kursiert sei und auf welche Zeitumstände Bezug genommen werde, d.h. wie diese literarische Vorlage zu datieren sei. Zweitens können neben der apokalyptischen Vorlage weitere Traditionsbereiche wahrgenommen und in der Geschichte der synoptischen Tradition verortet werden. Die von dieser kontrovers diskutierten literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Analyse bestimmte Forschungslage zu Mk 13 ist seit Brandenburgers Arbeit nicht wesentlich in Bewegung gekommen. Brandenburger selbst stellt seinem Referat der bestimmenden Forschungspositionen 6 eine kritische Einschätzung voran, die die exegetischen Probleme der Analyse von Mk 13 artikuliert: „Hat man den Wust an Rekonstruktionsversuchen gesichtet, drängt sich der Eindruck auf, daß es an Phantasie und Hypothesenfreudigkeit nicht mangelt" 7 . Brandenburger rekonstruiert vorwiegend auf der Basis der traditionskritischen Analyse neben der vormarkinischen Quelle von Mk 13 verschiedenartige Traditionsstoffe aus der mündlichen Überlieferung und die redaktionelle Leistung des Evangelisten und kommt dabei zu einer detaillierten traditionsgeschichtlichen Differen-

4 Zur Forschungsgeschichte bis E. Brandenburger vgl. DERS., Markus 13 (s. Anm. 1), 2 I f f . Zur Forschungsgeschichte seit Brandenburger vgl. K.D. DYER, The Prophecy on the Mount. Mark 13 and the Gathering o f the N e w Community, Bern u.a. 1998. Dyer gliedert seine forschungsgeschichtliche Obersicht nach methodischen Zugängen. 5 Auch im Bereich der Synoptiker-Exegese sollte im Rahmen der Literarkritik der Begriff der Kohärenz/Inkohärenz durch den Begriff der Kohäsion/Inkohäsion ersetzt werden, vgl. dazu E.-M. BECKER, Was ist Kohärenz? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, ZNW 94 (2003), 9 7 - 1 2 1 . 6 Vgl. BRANDENBURGER, Markus 13 (s. Anm. 1), 22ff. 7

BRANDENBURGER, M a r k u s 13 ( s . A n m . 1), 2 2 .

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zierung des Gesamttextes 8 . Er versteht den vorliegenden Endtext als a p o kalyptisches Schulgespräch' 9 . Die zwischen 1984 und 2003 publizierten oder in neuer Auflage erschienenen Kommentare zum MkEv von Gnilka (1978/ 5 1999), C.S. Mann (1986), D. Lührmann (1987) und J. Marcus (Bd.l, 2000) bieten keine (oder noch keine) wirklich eigenständigen Impulse zur Erforschung von Mk 1310. Gnilka analysiert einen zusammenhängenden Text der vormarkinischen Quelle und weist diese einem judenchristlichen Milieu zu 11 . Lührmann rechnet zwar damit, daß Mk verschiedene Traditionen benutzt hat, beschränkt sich aber im wesentlichen auf redaktionskritische Beobachtungen12. Mann stellt hauptsächlich in einer synoptischen Übersicht die Anklänge der Apokalypse an die atl. Prophetie zusammen 13 , Marcus deutet bisher nur an „that the eschatological discourse in chapter 13 has crystallized around a pre-Markan core" 14 . Die 1998 erschienene Monographie von K.D. Dyer kommentiert die in der Forschungsgeschichte erprobten Ansätze zur historischen Dekomposition von Mk 13 und konzentriert sich darauf, das Geschichtsverständnis des Evangelisten in Mk 13 herauszuarbeiten 15 . Der vorliegende Aufsatz soll dazu dienen, die Diskussion über Markus 13 aufzunehmen. Auf der Basis der genannten Arbeiten werde ich die Forschungsergebnisse zu Mk 13 sichten. Aufgrund eigener Textbeobachtungen versuche ich, neue Perspektiven zur Analyse der frühesten uns überlieferten synoptischen Apokalypse aufzuzeigen. Dabei werde ich den Endtext von Mk 13 narratologisch und kompositionskritisch sowie motivgeschichtlich untersuchen und zugleich historische Erwägungen anstellen, die den geschichtlichen Ort des Evangelisten zu lokalisieren suchen. Auf diese Weise soll schließlich auch ein Beitrag zur Charakterisierung der hinter Mk 13 stehenden geschichtlichen Ereignisse geleistet werden.

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Vgl. dazu bes. die Übersicht bei BRANDENBURGER, Markus 13 (s. A n m . l ) , 166f. Vgl. BRANDENBURGER, Markus 13 (s. Anm. 1), 114 u.ö. 10 Der Mangel an Impulsen zur Erforschung von Mk 13 steht auch damit in Zusammenhang, daß in einigen Reihen (z.B. KEK und ThHK) die neuen Auflagen der MarkusKommentare noch nicht erschienen sind. 11 Vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband, KEK II/2, Neukirchen-Vluyn S 1999, bes. 21 l f . 12 Vgl. D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium, H N T 3, Tübingen 1987, bes. 225f. 13 Vgl. C.S. MANN, Mark, AncB 27, N e w York etc. 1986, 500ff. 14 J. MARCUS, Mark 1 - 8 , AncB 27, N e w York etc. 2000, 57. 15 Vgl. DYER, Prophecy (s. Anm. 4), bes. 275ff. 9

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2. Übersetzung und Gliederung 1 Übersetzung Und als er aus dem Tempel ging, sagt einer seiner Jünger zu ihm: „Lehrer, sieh - was für Steine und was für Bauten!" Und Jesus sagte zu ihm: „Siehst du diese große Bauten? Kein Stein wird hier auf dem andern bleiben, der nicht niedergerissen wird." Und als er auf dem Ölberg gegenüber dem Tempel saß, fragten ihn allein Petrus und Jakobus und Johannes und Andreas: „Sage uns, wann wird dies sein, und was wird das Zeichen sein, daß dies alles in Erfüllung gehen wird?" Jesus aber fing an, zu ihnen zu reden: „Paßt auf, daß niemand euch verfuhrt. Viele werden in meinem Namen kommen und sagen: ,Ich bin es' und werden viele verfuhren. Wenn ihr aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hört, erschreckt nicht. Es muß geschehen, aber es ist noch nicht das Ende. Es wird sich nämlich ein Volk gegen ein Volk erheben und eine Herrschaft gegen eine Herrschaft, es werden Erdbeben an verschiedenen Orten sein, es werden Hungersnöte sein. Dies ist der Anfang der Wehen. Paßt aber auf euch selbst auf. Sie werden euch den Gerichten übergeben, und in den Synagogen werdet ihr geschlagen, und vor Statthalter und Könige werdet ihr treten, um vor ihnen meinetwegen Zeugnis (abzulegen). Denn zuerst muß unter allen Völkern das Evangelium gepredigt werden. Und wenn sie euch führen und übergeben, sorgt euch nicht im voraus, was ihr sagen sollt, sondern was auch immer euch in jener Stunde gegeben wird, das sagt. Nicht nämlich seid ihr es, die reden, sondern der heilige Geist. Und ein Bruder wird den Bruder dem Tod ausliefern und ein Vater den Sohn, und Kinder werden sich gegen die Eltern erheben und werden sie töten lassen. Und ihre werdet von allen gehaßt werden wegen meines Namens. Wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet werden. Wenn ihr aber das Greuelbild der Verwüstung dort, wo es nicht stehen darf, seht - wer es liest, der soll aufmerken - , dann sollen die, die in Judäa sind, auf die Berge fliehen,

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derjenige auf dem Dach soll nicht hinuntersteigen und soll nicht hineingehen, um etwas aus seinem Haus zu holen, und derjenige auf dem Feld soll sich nicht nach hinten umwenden, um seinen Mantel zu holen. Wehe aber denen, die schwanger sind, und denen, die in jenen Tagen stillen. Bittet aber, daß es nicht während des Winters geschieht. Jene Tage nämlich werden eine so große Bedrängnis sein, wie sie nicht gewesen ist vom Anfang der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, bis jetzt und auch nicht wieder sein wird. Und wenn der Herr die Tage nicht verkürzt, würde kein Fleisch gerettet. Aber für die Auserwählten, die er auserwählt hat, hat er die Tage verkürzt. Und wenn dann jemand zu euch sagt: ,Sieh, hier (ist) der Christus, sieh, da', glaubt es nicht. Es werden sich nämlich Pseudo-Christusse und Pseudo-Propheten erheben und Zeichen und Wunder tun, um - falls möglich - die Auserwählten zu verführen. Ihr aber paßt auf. Ich habe euch alles vorher gesagt! Aber in jenen Tagen nach jener Bedrängnis wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht seinen Schein geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte im Himmel werden erschüttert werden. Und dann werden sie den Menschensohn auf den Wolken kommen sehen mit viel Kraft und Herrlichkeit. Und dann wird er die Engel senden und zusammenbringen [seine] Erwählten aus den vier Windrichtungen vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels. Vom Feigenbaum lernt das Gleichnis: Wenn seine Zweige schon frisch werden und Blätter hervorbringen, erkennt ihr, daß der Sommer nahe ist. So auch ihr: Wenn ihr dies alles geschehen seht, erkennt ihr, daß er nahe vor der Tür ist. Amen, ich sage euch: Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte werden nicht vergehen. Über jenen Tag oder (jene) Stunde weiß niemand (etwas) - auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn - außer dem Vater.

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Paßt auf, seid wachsam! Ihr wißt nämlich nicht, wann der Zeitpunkt da ist. Wie ein Mensch, der auf Reisen ist - er verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und er befahl dem Türhüter, daß er wachsam sei. Wacht also. Ihr wißt nämlich nicht, wann der Herr des Hauses kommt ob am Abend oder um Mitternacht oder frühmorgens - , daß er nicht, wenn er plötzlich kommt, euch schlafend findet. Was ich euch sage, sage ich allen: Seid wachsam!"

2.2 Erster Vorschlag zur Gliederung des Textes16 A.) 13,1—5a

Eröffnungsszene mit einer zweifachen dialogischen Struktur

B.) 13,5b-37 Apokalyptische Rede Jesu - monologisch 13,5b-23 13,5b—8 13,9-13 13,14-23 13,24-27

13,28-37 13,28-32 13,33-37

Warnung vor Verführern und Anfang der Wehen Ausharren bis ans Ende Die letzte und größte Drangsal Die Ankunft des Menschensohnes und die Sammlung der Aus erwählten

Wann kommt das Ende? Aufruf zur Wachsamkeit an Jünger und Gemeinde

3. Analyse der Endgestalt von Mk 13 auf der Basis der synchronen Analyse Zunächst teile ich einige Beobachtungen zur synchronen Analyse der vorliegenden Textgestalt von Mk 13 mit. Dabei werde ich auf Ergebnisse der Forschungsgeschichte zurückgreifen, aber auch eigene Textbeobachtungen anstellen.

16 Nach GNILKA, Evangelium (s. Anm. 11), 179ff. Die Gliederung erfolgt im wesentlichen aufgrund sprachlich-syntaktischer und semantischer Beobachtungen.

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3.1 Die literarische Gesamtstruktur der Perikope in ihrem Kontext Mk 13 ist die längste zusammenhängende Rede Jesu im MkEv, die sich in Hinsicht auf ihren Umfang höchstens mit Mk 4,1-34 vergleichen läßt17. Mk 4 und Mk 13 haben zudem thematische Gemeinsamkeiten. In beiden Texten erfolgt ein „Vorgriff auf die Zeit nach Jesu Tod": „In der Gleichnisrede schildert Jesus Entstehung und innere Gefährdung der Kirche (4,13-32). In der apokalyptischen Rede spricht er über die äußere Gefährdung der Gemeinde durch Kriege, Katastrophen und Verfolgungen" 18 . Im Vergleich mit Mk 4 werden jedoch in erster Linie die Besonderheiten und Eigenheiten von Mk 13 deutlich: In Mk 4,1 wird zunächst eine öffentliche Lehrsituation vorgestellt, die in V. 10 in eine private Auslegung der Gleichnisse vor einem erweiterten Jüngerkreis wechselt. Mk 13 hingegen ist ab V. 5b durchgängig explizit als „esoterische Rede Jesu an die vier Vertrauten" gestaltet 19 . Die vier Jünger: Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas treten kombiniert außer in 13,3 nur noch in 1,29 auf. Andreas, der Bruder Petri, wird über diese beiden Belege hinaus lediglich noch einmal zusammen mit Petrus bei ihrer Berufung genannt (1,16) und hat sonst im Gesamtevangelium keine größere Bedeutung 20 .

Kombination der Jünger als Akteure

Beleg im MkEv

(Simon) Petrus (allein)

8,29ff.; 9,5; 10,28; 11,21; 14,29.37.54.66ff.

Johannes (allein)

9,38

(Simon) Petrus und Andreas

1,16

Jakobus und Johannes

1,19; 10,35.41

(Simon) Petrus, Jakobus und Johannes

5,37; 9,2; 14,33

(Simon) Petrus, Johannes, Jakobus, Arldreas

1,29; 13,3

Tabelle 1:

Auftreten der vier in Mk 13,3 gernannten Jünger im Makrokontext des Gesamtevangeliums.

Vgl. dazu auch z.B. GNILKA, Evangelium (s. Anm. 11), 179f. G. THEIßEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Freiburg/Göttingen 2 1992, 133. 19 P. VIELHAUER, Apokalypsen und Verwandtes, in: Apokalyptik, hg. v. K. Koch/J. M. Schmidt, WdF 365, Darmstadt 1982, 403^139 (428). Vgl. bereits W. GRUNDMANN, Das Evangelium nach Markus, ThHK 2, Berlin 10 1989, 347: „Die jüdische Apokalyptik ist Geheimliteratur". 20 Vgl. auch J. ROLOFF, Art. Andreas, RGG 4 1 (1998), 472. 17

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In Mk 13,3 treten also die vier Jünger zusammen auf, die Jesus zuerst berufen hatte (l,16ff.) und die bei der zweiten Krankenheilung (l,29ff.) zugegen waren 21 . Mk 13,5bff. unterscheidet sich vom Gleichnisredenkomplex in Mk 4 , 1 34 vor allem dadurch, daß die apokalyptische Rede nicht durch Überleitungsformeln oder Zwischenfragen unterbrochen wird (vgl. aber Mk 4,1-2. 10-1 la.l3a.21a.26a.30a.33-34). Während das Gleichniskapitel 4 durch die Unterbrechungen und redaktionellen Überleitungen einen gewachsenen Überlieferungskomplex widerspiegelt, finden sich in Mk 13 keine evidenten Hinweise für eine literarkritische Scheidung von Quellen und Überlieferungseinheiten 22 . Mk 13,5-37 deutet also auf „kompositorische Geschlossenheit" hin. Es läßt sich als ,eschatologische Mahnrede' bezeichnen 23 . Der Eindruck der kompositorischen Geschlossenheit verstärkt sich dadurch, daß Mk 13 deutlich vom Kontext abgegrenzt ist: Im Anschluß an die Lehr- und Streitgespräche im Tempel (11,27-12,44) verläßt Jesus den Tempel (13,1) und beginnt am Ölberg (13,3) mit seiner Rede. 13,37 schließt mit der wörtlichen Rede Jesu. In 14,1 erfolgt durch Zeitangaben sowie durch Personen-, Szenen- und Themenwechsel eine deutliche Zäsur zum vorhergehenden Redeabschnitt. 3.2 Erzählstrukturen

in Mk 13

Mk 13 läßt sich unter narrativem Aspekt in zwei Erzähleinheiten (13,1—5a und 13,[5a.]5bff.) untergliedern, die sich in V. 5a überschneiden. (A.) In 13,1—5a liegt eine Eröffnungsszene mit zweifachem Dialog vor: Ein nicht näher genannter Jünger ( e i s TÖJU P.A0R)TWY auToü) wendet sich mit einer deiktischen Aussage an Jesus (V. 1). Jesus antwortet zunächst mit einer Frage, dann mit einem apokalyptischen Logion (V. 2). V. 1.2 erzählen den Ortswechsel: Jesus geht vom Tempel ( l l , 2 7 f f . ; 12,35ff.) zum Ölberg (13,3ff.). In 13,4 nehmen vier Jünger (Petrus, Jakobs, Johannes, Andreas) offenbar die apokalyptische Aussage Jesu in V. 2 zum Anlaß, nach dem Zeitpunkt (TTOTe TaÜTCt e c F T a i ...) der angekündigten Ereignisse zu fragen. V. 3.4.5a dienen dazu, die in V. 5bff. folgende monologische Rede Jesu am Ölberg einzuleiten. (B.) Mk 13,(5a.)5b-37 umfaßt ohne narrative Unterbrechung 2 4 und im Zusammenhang die apokalyptische Rede Jesu. V. 5a hat eine doppelte 21

D i e Vierzahl könnte mit dem Charakter der Endzeitoffenbarung in Zusammenhang stehen, der durch die ,vier Winde' in V. 27 wiederaufgenommen wird. 22 Vgl. auch LÜHRMANN, Markusevangelium (s. Anm. 12), 215. 23 GNILKA, Evangelium (s. Anm. 11), 179f. 24 Nur in V. 3 0 kommt es durch das Amen-Wort auf der Ebene der Rede Jesu selbst zu einer Unterbrechung. Diese Beobachtung wird im Zusammenhang der Interpretation von V. 14 wieder aufgenommen, s.u.

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Funktion: Er schließt die erste Erzähleinheit mit der Einleitung der Antwort Jesu sinnvoll ab, und er leitet die zweite Erzähleinheit ein, d.h. nimmt hier die Funktion eines verbum dicendi ein. Die zweite Erzähleinheit, die monologische Rede Jesu (13,5ff.), läßt sich erzähltheoretisch als ,direkte' bzw. ,zitierte Figurenrede' im dramatischen Modus' bezeichnen 25 . Kennzeichen dieser Redeform ist, daß die „Distanz zum erzählten Geschehen ... vollkommen reduziert und jede Vermittlungsinstanz ausgeschaltet zu sein" scheint 26 . Dennoch beginnt die Rede selbst nicht unvermittelt, sondern wird mit einem verbum dicendi eingeleitet (V. 5 a). Betrachtet man die Rede Jesu unabhängig von der Redeeinleitung in V. 5a, so handelte es sich um eine , autonome direkte Figurenrede' 27 , bei der der Leser durch Zunahme der Distanzüberwindung noch unmittelbarer mit dem erzählten Geschehen konfrontiert wird. Die erste Erzähleinheit, die den zweifachen Dialog beinhaltet (V. l-5a), ist in jedem Fall dem Typus der direkten bzw. zitierten Figurenrede zuzuordnen, weil die Aussagen des Jüngers/der Jünger und die Antworten Jesu mit redeeinleitenden Teilsätzen ( Ä e y e i . a Ü T t o ... eli\€v a i i T t p ... e u r i p u T a a i J T Ö v ... r j p £ a T O Xeyeiv a i i T o t s ) eröffnet werden. Beide Erzähleinheiten sind - unabhängig von der Bewertung von V. 5a - im dramatischen Modus und als direkte Figurenrede gestaltet. Die Gleichnisrede in Mk 4 hingegen stellt eine Synthese aus direkter und indirekter Figurenrede dar und ist somit teilweise dem dramatischen und teilweise dem narrativen Erzählmodus zuzuordnen 28 : Elemente einer direkten Figurenrede im dramatischen Modus finden sich - jeweils mit narrativer Einleitung (verbum dicendi) - in sechs Sequenzen, nämlich in Mk 4,3-9, 4,1 lb—12, 4,13b-20, 4,21b-25, 4,26b-29 und 4,30b-32. Nach der zweiten Sequenz (4,12) sind die narrativen Überleitungen (Kai Xeyei a i i T o t ? . . . K a i eXeyev OLVTOIS ... K a i eXeyev) erzähltechnisch überflüssig, da auf der Ebene der Handlung die Rede Jesu nicht unterbrochen wird. Wenn Markus die Gleichnisrede durch die narrativen Überleitungen dennoch unterbricht, sequenziert er sie in einzelne Redeeinheiten und verringert damit die Unmittelbarkeit der Rede Jesu. Elemente der indirekten bzw. erzählten Figurenrede liegen in Mk 4 in V. la.2a, in V. 10 und in V. 33f. vor: „Im Gegensatz zur zitierten Figurenrede tritt im Fall der erzählten Figurenrede die Mittelbarkeit der Erzählung und damit eine mehr oder weniger große Distanz zum Erzählten in den Vordergrund. Der Extremfall der Erzählung von Worten im narrativen 25

4

V g l . M . MARTINEZ/M. SCHEFFEL, Einführung in die Erzähltheorie, 2 0 0 3 , 51. 26 MARTINEZ/SCHEFFEL, Einfuhrung (s. ANM. 2 5 ) , 51. 27 V g l . n o c h e i n m a l MARTINEZ/SCHEFFEL, E i n f ü h r u n g (s. A n m . 2 5 ) , 51. 28 V g l . MARTINEZ/SCHEFFEL, Einfuhrung (s. Anm. 2 5 ) , 51 f.

München

104

Eve-Marie

Becker

Modus liegt im Fall einer Raffung vor, die den sprachlichen Akt erwähnt, ohne seinen Inhalt zu spezifizieren" 29 . Der Vergleich der Gleichnisrede in Mk 4 mit der apokalyptischen Rede in Mk 13 auf der Basis der Erzähltheorie ergibt, daß Markus die Dialoge in Kap. 4 als erzählte Rede im narrativen Modus gestaltet. Die Rede(n) Jesu gibt Markus zwar weitgehend im dramatischen Modus wieder, durch die permanente Einfügung narrativer Überleitungen jedoch vermeidet er den Eindruck einer zusammenhängenden Rede und verringert die unmittelbare Konfrontation des Lesers mit der Rede Jesu. In Mk 13 hingegen gestaltet Markus nicht nur die Rede Jesu, sondern auch die vorausgehenden Dialoge mit den Jüngern im dramatischen Modus, so daß der Leser auch mit den Anfragen der Jünger unmittelbar konfrontiert wird. Dadurch, daß Markus in 13,5bff. auf narrative Überleitungen verzichtet, erscheint die apokalyptische Rede Jesu als zusammenhängende Rede und erweckt sogar den Eindruck einer autonomen direkten Figurenrede. Diese Beobachtung ist für die Beschreibung des Charakters von Vers 13,5bff. elementar, weil sie die Geschlossenheit und die Unmittelbarkeit der Rede auch in literarischer Hinsicht herausstellt. 3.3 Die Komposition

von Mk 13

Die Betrachtung der literarischen Gesamtstruktur und der Erzählstrukturen von Mk 13 zeigt, daß zumindest Mk 13,5b-37 eine in sich geschlossene Komposition darstellt. Diese Beobachtung ermöglicht zwei Folgerungen: Entweder hat Markus auf der Basis einzelner Traditionen die vorliegende Rede selbständig komponiert - ähnlich wie Matthäus z.B. die Bergpredigt komponiert - , oder Markus hat eine ihm bereits vorliegende Quelle, die die Rede Jesu als gewachsenen Traditionskomplex enthielt, benutzt und bestenfalls redaktionell bearbeitet. Der Frage nach einer möglichen Quellenbenutzung werde ich an anderer Stelle nachgehen 30 . Im Rahmen dieses Aufsatzes werde ich mich auf motivgeschichtliche und auf historische Beobachtungen zu Mk 13 beschränken, die auf der Basis der vorliegenden Komposition insbesondere den geschichtlichen Ort des Verfassers des Markus-Evangeliums erheben. Zunächst frage ich nach den in Mk 13 enthaltenen Traditionselementen und literarischen Einzelformen. Anschließend stelle ich Beobachtungen zum semantischen Inventar von Mk 13, zu seiner motivgeschichtlichen Herkunft und zu seinen zeitgeschichtlichen Bezügen an.

29

MARTINEZ/SCHEFFEL, Einführung (s. Anm. 25), 51. Vgl. dazu meine Habilitationsschrift: Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006. 30

105

Markus 13 re-visited

4. Ansätze zur historischen Dekomposition von Mk 13 4.1 Forschungsstand: Traditionskritik

Literarische Einzelformen und Ansätze zur

Wir sahen bereits, daß die apokalyptische Rede Jesu in Mk 13 insgesamt kompositorische Geschlossenheit aufweist. Trotz der Geschlossenheit der Gesamtkomposition lassen sich in Mk 13 in Hinsicht auf die literarischen Formen und in Hinsicht auf die traditionellen Prägungen des Überlieferungsgutes Hinweise darauf finden, daß in Mk 13 unterschiedliche Traditionen und Überlieferungseinheiten verarbeitet sind. Im Gesamttext begegnen verschiedene literarische Einzelformen bzw. Textsorten, die sich dem Forminventar der synoptischen Tradition zuweisen lassen31. Es handelt sich bei diesen Einzelformen um Herrenlogien, Gleichnisse und apokalyptische Vorausankündigungen. Herrenlogion/Apophthegma

V. lf. 32

Prophetische Worte/Apokalyptische Vorausankündigungen

V. 30

Gleichnisse Tabelle 2:

^ ^

Literarische Einzelformen in Mk 13,1-37

In dieser Perspektive erscheint die apokalyptische Rede Jesu nicht als literarischer Zusammenhang, sondern als Komposition einzelner, literarisch unterschiedlich geformter Traditionselemente. Die Differenzierung literarischer Einzelformen im Gesamttext von Mk 13 kann um Ansätze zur traditions- und überlieferungskritischen Differenzierung der apokalyptischen Rede (13,5-37) ergänzt werden. In Mk 13,5bff. finden sich erstens Stücke, „die die Situation der christlichen Gemeinde widerspiegeln" (V. 5f.9.11.13.21-23) - R. Bultmann bezeichnet sie als „christliche Zusätze" (V. 5f.9-ll.13a.23) 3 3 . Zweitens liegen jüdisch-apokalyptische Aussagen bzw. eine „schemahaft gegliederte Beschreibung der Eschata" 34 (V. 7f. 12.14-20.24-27) vor. Drittens begegnen

31

Vgl. dazu auch im Einzelnen BRANDENBURGER, Markus 13 (s. Anm. 1), 13. Vgl. zur Traditionsgeschichte des Tempelwortes und zu seiner Beziehung zu Mk 14,58: K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament, FRLANT 184, Göttingen 1999, 76ff. 33 R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition. Mit einem Nachwort von GerdTheißen, Göttingen 101995, 129. 34 So BRANDENBURGER, Markus 13 (s. Anm. 1), 13. 32

106

Eve-Marie

Becker

Aussagen, die auf den Evangelisten selbst und seine Zeit zurückzugehen scheinen (V. 10, evtl. V. 6)35. Jüdisch-apokalyptische Aussagen

13,7f.l2.14-20.24-27

Christliche Zusätze

13,5f.9.11.13.21-23

Redaktionelle Äußerungen

13,6.10

Tabelle 3:

Traditionskritische Differenzierungen in Mk 1 3 , 5 - 3 7

Die Ansätze zur Traditionskritik werden im Folgenden motivgeschichtlich und historisch vertieft. 4.2 (Historische) Semantik und Motivverbindungen

in Mk 13 passim

In der synoptischen Apokalypse bei Mk begegnen Lexeme und Motivverbindungen, deren nähere Betrachtung und Herkunftsbestimmung für die historische Analyse des Gesamttextes aufschlußreich sind. 4.2.1 Topographie In Mk 13 ist - ähnlich wie in Mt 24, aber im Unterschied zu Lk 21 36 - die Rede Jesu mit dem Topos des ,Berges' verbunden 37 . Der Berg wird in 13,3 topographisch näher bestimmt ist als t ö öpo? t u v eAaiwv (13,3). Diese Wendung begegnet als Ortsangabe außerdem in Mk 11,1 und 14,2638: Vom t ö öpog tcov eXaißy aus beginnt Jesus mit seinem Wirken in Jerusalem (11,1), und der wiederholte Gang zum Ölberg leitet die Gefangennahme in Gethsemane ein (14,26). Der Ölberg bildet in der markinischen Darstellung den zentralen topographischen Fluchtpunkt, von dem das Wirken Jesu in Jerusalem ausgeht und in den die Passionsgeschichte mündet. Die apokalyptische Rede stellt dabei den Höhe- und Wendepunkt der Jerusalemer Tätigkeit Jesu dar.

35

VIELHAUER, Apokalypsen (s. Anm. 19), 428. Während Mt analog wie Mk auf die Wiedergabe des Tempel Wortes (Mk 13,2/Mt 24,2) die Szene am Ölberg folgen läßt (Mk 13,2/Mt 24,3), bezieht sich im lukanischen Aufriß nicht nur das Tempelwort (Lk 21,6), sondern auch die darauf folgende apokalyptische Rede Jesu (Lk 21,7ff.) auf den Tempel. 37 Sonst im MkEv in B e z u g auf Jesus in 3,13; 6,46; 9,2.9. Vgl. auch ähnlich das im MtEv begegnende Motiv der Rede Jesu auf einem Berg (Mt 5,1 oder 28,16). 38 Vgl. auch die Parallelen zu Mk 13,3 in Mt 24,3, Mk 11,1 in Mt 21,1 und Mk 14,26 in Mt 26,30. Lk hingegen lokalisiert zwar parallel zu Mk 11,1 den Einzug in Jerusalem in Nähe des Ölberges (... TÖ ö p o s TÖ KaXou(ievov 'EXaLÜf ..., Lk 19,29 und 19,37) und greift auch in 22,39 auf die topographische Angabe von Mk 14,26 zurück, die apokalyptische Rede Jesu hingegen wird nicht am Ölberg lokalisiert (21,7ff.). 36

Markus 13

4.2.2

re-visited

107

Daniel-Rezeption

In Mk 13 findet sich ein umfangreiches Motivinventar, das auf die Rezeption des Daniel-Buches zurückgeführt werden kann. K. Koch hat neuerdings u.a. die Danielrezeption im MkEv untersucht. Ausgehend von dieser Untersuchung und darüber hinaus lassen sich mehrere Motive und Motivverbindungen als Rückverweise auf das Daniel-Buch nennen 39 . Die Verbindung der Ankündigung der Tempelzerstörung mit den Endzeitereignissen (Mk 13,2 und 13,5bff.) erklärt Koch als Rezeption von Dan 9,27 (LXX: a w r e X e i a v Kcupwv ... in Verbindung mit ß8eXuy|ia T&V epri^cüCTecüv)40. Es läßt sich jedoch auch eine weitere Motivverbindung herstellen: In Mk 13,7 begegnet die Wendung 8el yevecrGcu (außerdem in Mk 13,10.14), die auf Dan 2,29 (LXX) rückverweist: Daniel leitet hier die Deutung der Endereignisse ( e n ' e a x d r a v t w v r u i e p w v ) , die notwendigerweise geschehen müssen (8ei yeveaOai), ein. Die Ereignisfolge in Dan 2 kulminiert darin, daß das Abfallen eines Steins aus einem Berg ohne menschliches Zutun vorgestellt wird (Dan 2,45 LXX: e£ öpovs Ti|iT|0f]V(xi Xi0ov ävev xei-P^v). Dieser Vorgang bringt in jenen letzten Tagen ( ¿ t t ' e a y a T u v t w v r||i.epXTj; Fehlen von TTaXai in 1 Klem 23,3; Hinzufugen von ù in 1 Klem 23,4) lesen wir anstelle

v o n r i v e t s S e r | ( i é p a v è £ TRÉPAS u p o a 5 e x 6 | i e v o i o t i ô è v TOÛTOV ÈWPDKA|XEV ( 2 K l e m

11,2) in 1 Klem 23,3: Kai îSoù, yeyripdKaiiev , Kal oùSèv r|(iîv TOUTUV auvßeßriKey; weiters hat 1 Klem 23,4 den zusätzlichen Text (gegenüber 2 Klem 11,3): e i T a c(>i>XXov, eÎTa a v 0 o s Kai; andererseits fehlt 2 Klem 11,4 (oÜTtos Kai ô Xaös [iou aKaTaoraaias Kai 0Xii]jeis ÊAXEV' ë-rreiTa ¿7:0X^6X01 TÙ d y a ö d ) . 16 J.B. LIGHTFOOT, The Apostolic Fathers, I, 2. S. Clement of Rome, Hildesheim/ N e w York 1973 (Nachdruck der Aufl. 1890), 235; A. JAUBERT, Clement de Rome. Épître

200

Wilhelm Pratscher

man hier lieber keine Vermutungen anstellen 17 . Jedenfalls versteht 2 Klem in der Einleitung das Zitat als TTpo()>r|TiKÖs Xoyos 18 , d.h. er schreibt der apokryphen Schrift, aus der das Zitat stammt, kanonischen Rang zu 19 . Der Kontext des Zitats ist 1 Klem 23 recht nahe dem von 2 Klem 11: denen, die aTTXfj Siavoia zum barmherzigen Vater kommen, werden seine XapiTes erhalten. Also findet sich auch hier ein paränetischer Kontext, der das Verhalten der Adressaten mit Gottes zukünftigem Tun verbindet. Auch hier werden Zweifel an der Verwirklichung dieses göttlichen Tuns durch das Zitat auszuräumen versucht. Zweifel an Gottes endzeitlichem Handeln finden wir weiters 2 Petr з,3f.: „In den letzten Tagen werden Spötter voller Spott auftreten, die ... ihren eigenen Leidenschaften erliegen, und sagen: ,Wo ist die Verheißung seiner Parusie? Denn seit die Väter entschlafen sind, bleibt alles so wie seit Beginn der Schöpfung'". Hier liegt der terminus technicus TTapoucria vor, ebenso der Topos vom Auftreten von Irrlehrern in den letzten Zeiten. Die apokalyptische Situation ist terminologisch und inhaltlich stärker angesprochen als in den beiden Klemensbriefen. Die Differenzen zu deren Texten sind doch recht groß, so daß eine gemeinsame jüdische Vorlage jedenfalls nicht wahrscheinlich ist20. 2 Petr 3,3f. formuliert das Problem jedenfalls sehr klar: die „Bestreitung der Zuverlässigkeit der Parusie" 21 . Das Problem der Parusieverzögerung gehört in den größeren Kontext des Zweifels am Eintreten der Verheißungen Gottes, wie er schon bei späteren Propheten Israels und in manchen Psalmen artikuliert wird: Um Rettung des Einzelnen oder des Volkes geht es z.B. Ps 42,11; 79,10; 115,2 и.ö., wenn Spötter oder Heiden nach der Anwesenheit Gottes fragen. Hes 12,21 ff. sieht sich mit der gängigen Redensart konfrontiert: „Die Tage ziehen sich hin, mit allen Visionen ist es nichts." Hab 2,3 hält die Frist der Offenbarung vor Augen, die zum Ende dränge und nicht trüge: „Wenn sie verzieht, so warte drauf! Denn sie kommt gewiß und bleibt nicht aus." Letztere Stelle hat nicht nur in Qumran eine wichtige Wirkungsgeschichte (lQpHab VII 7ff.: „Seine Deutung ist, daß die letzte Zeit sich in die Länge aux Corinthiens, SC 167, Paris 1971, 141 Anm. 4; E. ÖFFNER, Der zweite Klemensbrief. Moralerziehung und Moralismus in der ältesten christlichen Moralpredigt, Diss ErlangenNürnberg 1976, 63. 17 M.R. LINDEMANN, Clemensbriefe (s. Anm. 10) 233. 18 Das Syntagma findet sich 2 Petr 1,19 und meint dort offenbar „die Gesamheit der Ypacjjfi" (H. PAULSEN, Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief, KEK 12,2, Göttingen 1992, 120). 19 Daß eine Schrift dahinter steht, setzt auch die Zitateinleitung mit y p a ^ f j 1 Klem 23,3 voraus. 20 Gegen R. BAUCKHAM, Jude, 2 Peter, WBC 50, Waco 1983, 283f. m.R. PAULSEN, Petrusbrief (s. Anm. 18), 152f. 21 PAULSEN, Petrusbrief (s. Anm. 18), 149.

Die Parusieerwartung

im 2.

Klemensbrief

201

zieht und zwar mehr als alles, was die Propheten gesagt haben ... alle Zeiten Gottes treffen ein nach ihrer Ordnung" 22 ), sondern auch in der jüdischen Tradition (vgl. nur syrBar 14,1) sowie im frühen Christentum (Hebr 10,35ff.) 23 . Die Gewißheit der Parusie dürfte in der paränetisch orientierten Eschatologie mancher frühchristlicher Kreise (wie die futurische Eschatologie insgesamt) von Anfang an zum Problem geworden sein. So dürften die Gegner des Paulus 1 Kor 15,12 mit ihrer Parole avaaraais veicpwv OIJK e'dTLV die futurisch konzipierte apokalyptische Auferstehungshoffnung abgelehnt haben 24 - und damit natürlich auch die Parusieerwartung. Gleiches wird auch auf die 2 Tim 2,18 zurückgewiesenen Gegner zutreffen. Paulus wie der Verfasser der Pastoralbriefe halten trotz aller (in unterschiedlichem Maß akzentuierten) präsentischen Eschatologie an den apokalyptischen Zukunftshoffnungen fest. Die Parusieerwartung muß (und wird) auch im Rahmen individualeschatologischer Vorstellungen gegeben sein: das Vorausgehen in die himmlischen Wohnungen (Joh 14,2f.; vgl. 17,24) und das elvai a w XpiaT(5 bzw. Kupiip (1 Thess 4,17; 5,10; Phil 1,23; 2 Kor 13,4; vgl. Kol 2,13 u.ö.) setzen keine apokalyptisch-kosmologische Eschatologie voraus, auch wenn sie damit verbunden werden können (und werden). Geschah das bei Johannes offenbar auf einer späteren Traditionsstufe, so kann Paulus auch im apokalyptischen Kontext vom a w XpicrTw - Sein sprechen (1 Thess 4,14ff. u.ö.). Ebenso deutlich ist der eschatologische Vorbehalt auch Kol 3,4 formuliert: O T O V o XpiaTÖ? ctxafepwörj, ... rore Kai üp.els ctuv auTu cj>cu'epü)0fi(je(70e kv 8o£i]. Die Ungewißheit der Erfüllung der Verheißungen Gottes (und damit der Parusie) wird im Zitat 2 Klem 11,2 Leuten zugeschrieben, die deswegen als 8L4>UXOL gelten, was mit 8iord£ovT€S' TT) KapSia 25 erläutert wird: in22 J. MAIER, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer I, UTB 1862, München/Basel 1995, 161. 23 Vgl. dazu A. STROBEL, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem aufgrund der spätjüdisch-urchristlichen Geschichte von Habakuk 2,2ff, NT.S 2, Leiden/Köln 1961. 24 Zumeist wird diese Ablehnung (analog zu 2 Tim 2,18) im Sinne einer spiritualisierenden Hereinnahme der Auferstehung in die Gegenwart verstanden (z.B. R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, UTB 630, Tübingen 1984 9 , 172; weitere Literatur bei W. SCHRÄGE, Der erste Brief an die Korinther, IV, EKK 7,4, Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 2001, 114 Anm. 524). Nach Schräge (115) sei 2 Tim 2,18 zwar in seiner Tendenz durchaus mit der korinthischen Losung verwandt, doch liege es näher, daß mit V. 12 die Vorstellung der Auferstehung überhaupt verworfen werde. Schräge dürfte damit Recht haben, eine gewichtige sachliche Differenz zur üblichen Lösung ergibt sich dabei allerdings nicht. 25 Die Zusammenstellung von 8ii|ji>xos und 8icrTd£eLi> auch 1 Klem 11,2; 23,3. 8II|JUXOS = zwei Seelen habend, unentschlossen, zweifelnd (BAUER-ALAND 403), SiCTTdCeiy: zweifeln bei sich (BAUER-ALAND 396).

202

Wilhelm Pratscher

nere Gespaltenheit. Beide Bestimmungen werden im Kontext vom Verfasser des 2 Klem aufgegriffen: V. 1 redet von der K a 0 a p a K a p S i a , V. 5 er-

läutert 8ii|juxeLU durch eX-rriaavTes ÜTroneveiv. Der Verfasser distanziert also die vage, zweifelnde Einstellung zur christlichen Zukunftshoffnung und fordert das ungeteilte, bestimmte Festhalten. Begründet ist die schwankende Haltung im Zitat in der seit langem bestehenden 26 und Tag für Tag neu erfahrenen Inkongruenz von Botschaft und Realität. Die Argumentation erfolgt zum einen durch einen Verweis auf einen Baum, genauer einen Weinstock: Vom Abfallen der Blätter über das Wachsen des ersten Triebs und die unreife Frucht bis hin zur reifen Traube wird der Wachstumsprozeß nachgezeichnet 27 . Die Gegner werden als dvör]T0i apostrophiert. Der Term „bezeichnet einen törichten Mangel an Begreifen, nicht natürliche Beschränktheit"28. Mangelnde Einsicht in das Heilsgeschehen führt zu einer krassen Fehlinterpretation der Erfahrung des bisherigen Ausbleibens der Parusie. Dabei könnte schon ein Blick in die Natur die Folgerichtigkeit des einmal begonnenen göttlichen Handelns aufzeigen (vgl. Mk 4,26ff.). Diese Entgegnung ist durchaus „argumentativ"29; sie bewegt sich im Bereich der natürlichen Theologie: ein Tatbestand der Natur „beweist" die zukünftigen Geschehnisse. So sicher wie in der Natur ein Schritt auf den anderen folgt, so sicher werde auch das Heilsgeschehen ablaufen. Das nicht zu erkennen, sei Torheit30. V. 5 zieht mit (ootc die paränetische Schlußfolgerung in der Betonung des hoffnungsvollen Wartens auf den Lohn. Mit den Stichwörtern |xlct0ös 26 ndXai wird durch ¿Tri T&V TraTepuv r^idiv erläutert. Die traTepes sind die früheren christlichen Generationen; wie weit man dabei zurückdenken soll, bleibt unklar. Das Unbehagen ist jedenfalls alt und wird täglich größer. 27 1 Klem 23,4 ist umfassender: nach dem ersten Trieb ist vom Blatt und den Blüten die Rede. Daß deshalb diese Version jünger ist, läßt sich kaum sagen. 28 H. SCHLIER, Der Brief an die Galater, KEK 7, Göttingen 5 1971, 118f. mit Verweis auf Herodot 1,87; 8,24; Prov 15,21; Lk 24,25; Rom 1,14 u.ö. 29 Gegen Lohmann, Drohung (s. Anm 2), 114. 30 1 Klem 23 läuft die Argumentation in derselben Weise ab: an den überschwenglichen Gaben sei nicht zu zweifeln. Schnell werde Gottes Wille erfüllt werden (V. 2.5). In der folgenden Argumentation für die Auferstehung wird mit dem Tag-Nacht-Wechsel ebenso argumentiert wie mit dem Wachsen der Saat (24,lff.). Noch umfassender ist die Argumentation 2 Petr 3,5ff.: V. 5-7 argumentiert mit dem seit der Schöpfung gültigen Wort Gottes, auf das hin die Zerstörung durch Wasser in der Sintflut erfolgte, dem die zukünftige Zerstörung durch Feuer entspricht, d.h. der Vf. argumentiert hier (schöpfungstheologisch) mit der Vergänglichkeit des Kosmos. V. 8 argumentiert mit dem Zeitbegriff. Gott hat andere Zeitmaßstäbe als Menschen. V. 9 argumentiert paränetisch: Die Verzögerung dient dazu, Möglichkeit für die Umkehr zu geben. (Darüber hinaus betont V. 10 die Plötzlichkeit der Parusie und schildert Einzelheiten. V. 11-13 schließlich fordern zu einem entsprechenden Lebenswandel auf, der die Parusie sogar beschleunigen könne. Hier geht es nicht mehr um die Gewißheit der Parusie, sondern um Einzelheiten ihres Kommens).

Die Parusieerwartung

im 2. Klemensbrief

203

(V. 5) und dvTLfiiCTÖia (V. 6) greift der Verfasser ihm sehr wichtige Termini auf, um das eschatologische Heilsgut zu bezeichnen 31 . Damit ist das zukünftige Sein anders formuliert; die Parusiethematik bleibt freilich erhalten. Charakteristisch ist aber nun die Fortsetzung V. 6, die in der Argumentation für die Gewißheit dieser Zukunft einen neuen Aspekt nennt, die Treue Gottes: „Treu ist der, der verheißen hat, jedem die Gegenleistung für sein Tun zu entrichten." Das Stichwort TTLCTTO? für Gottes Verhalten 32 kommt nur hier in 2 Klem vor 33 . Der theologische Topos der Bundestreue Gottes wird nicht näher ausgeführt. Immerhin wird er genannt. Zur Argumentation im Rahmen der natürlichen Theologie in V. 3 tritt hier die bundestheologische. Allerdings geschieht das in dem für den Verfasser typischen Leistungsdenken. Das rechte menschliche Verhalten wird durch Gott honoriert. Und da diese Honorierung eine eschatologische ist, wird die Treue Gottes hier als Argumentationsmittel für die Gewißheit der Erfüllung der eschatologischen Verheißungen und damit für die Parusie verwendet. Die Gewißheit des Kommens der Parusie setzt auch 9,1 mit der Abweisung der gegnerischen Bestreitung von Gericht und leiblicher Auferstehung voraus: niemand solle sagen, dieses Fleisch werde nicht auferstehen und gerichtet werden. Der Verfasser polemisiert hier möglicherweise gegen eine spiritualisierende Deutung der Auferstehung, wie sie 2 Tim 2,18; PolPhil 7,1; Irenäus, Haer. I 23 u.ö. vorkommt. Gegenüber einer Mißachtung des physisch-leiblichen Seins wird dieses nun auch futurisch-eschatologisch verankert. Während aber z.B. Paulus 1 Kor 15,35ff. die Kontinuität des christlichen Seins am Begriff awjia festmacht 34 , tut dies 2 Klem am Begriff crdp£ 35 . Als Argumente werden die Inkarnation Jesu und die im irdisch-vorfindlichen Bereich erfolgte Berufung der Christen genannt (9,4f.). Eine Begründung der Gewißheit der Parusie liegt mit dem Verweis auf die sarkische Auferstehung für den Verfasser insofern vor, als er in der a d p £ das Kontinuum zwischen gegenwärtiger und futurisch-eschatologi-

31 MICT9ÖS 3 , 3 ; 9 , 5 ; 1 1 , 5 ; 1 5 , 1 ; 2 0 , 4 (Gott oder Christus als Geber); 1,5; 1 9 , 1 (der Mensch als Geber); DVTI(na8ia 11,6 (Gott als Geber); 1,3.5; 9,7; 15,2 (der Mensch als Geber). 32 8,5 meint es menschliches Tun. 33 nicFTÖs für Gott oder Christus ist traditionell, vgl. nur Dtn 7,9; Jes 49,7; Philo, Leg. All. 3,204; 1 Thess 5,24; 1 Kor 1,9; 2 Kor 1,18; 1 Joh 1,9 u.ö. Bei den Apostolischen Vätern: 1 Klem 27,1; 60,1; IgnTrall 13,3. 34 Paulus differenziert zwischen dem oü\ia i|;uxlk6i/ und iT^eu(iaTLKÖy (1 Kor

15,44). 35 2dpi meint „die Identität des Menschen über seinen Tod hinaus" (LINDEMANN, Clemensbriefe [s. Anm. 10] 225); daß der Term „fast gleichbedeutend mit aY eyM^ Nx^eie)42 und gibt seinen Fragen Ausdruck. Schon in prophetischen Berichten beschreiben Wüste und Berg den klassischen Ort für eine Theophanie 43 . Der betrübte Zustand des Sehers wird in allen erhaltenen Berichten mit Ximetv beschrieben 44 . Diese Trauer gehört gelegentlich auch zu der Vorbereitung einer apokalyptischen Offenbarung 45 . Auf die Fragen des Sehers nach dem Ursprung des Offenbarers „öffnen sich die Himmel" (¿.Hrmye oytun, BG 20,20; NHC II 31), die „Schöpfung" (ktlctls) 4 6 „erstrahlt in einem besonderen Licht" (^ycu ^n^cüNT Thpq p o y o e m 2N o y o m ) 4 7 u n d „der ganze Kosmos erzittert" ( v f c u m i k o c m o c [ThpHcj ki]h) 4 8 Offene Himmel, Lichterscheinung und Erdbeben sind Begleiterscheinungen einer göttlichen Offenbarung, die in besonderem Maß in apokalyptischen Texten auftreten, aber nicht nur dort 49 . Nun wird Johannes die Offenbarung der Gestalt Christi zuteil in einer Vielzahl von Erscheinungsformen (jiopcj)!])50. Diese Erscheinung spricht Johannes Mut zu und offenbart, daß er der Vater, die Mutter und der Sohn ist und gekommen ist, um Johannes über den vollkommenen Menschen zu belehren 51 . Hiermit ist sowohl die Offenbarergestalt als auch das Thema der Offenbarung dargelegt. Auch wenn die Vision von verschiedenen Gestalten ein apokalyptisches Motiv ist, ist der Inhalt der Offenbarung eindeutig gnostisch: die Herkunft des wahren Menschen. Die Rahmenhandlung nimmt den Faden wieder auf am Ende des zweiten Hauptteils 52 . Der Offenbarer kündigt an, er werde wieder zum „vollkommenen Äon" (TeXeios cuwv) aufsteigen 53 . Er gibt dem Zebedaiden

42

BG 20,5f. Ähnlich auch in NHC II 1,19. In NHC III 1,17 ist der Text unvollständig und der Verweis auf die Wüste fehlt. 43 Vgl. 1 Kön 19. 44 NHC II 1,20; III 1,18; BG 20,6. Wenn sich aus dem Koptischen ein griechischer Begriff herleiten läßt, der auf das Original zurückgeführt werden kann, dann wird dieser Begriff hier zitiert. 45 Z.B. Dan 10,2. 46 Der Begriff läßt sich NHC II 1,32 entnehmen, in BG erscheint das Fremdwort nicht. 47 BG 20,20f.; in NHC II 1,32 ist die Formulierung ähnlich, aber der Text ist stärker rekonstruiert. 48 BG 21,lf.; ähnlich in NHC II 1,33, dort auch wieder stark rekonstruiert. 49 Wie in Mt 3,16; Lk 3,21; Apk 4,1; Apg 7,56; Joh 1,51; Apk 19,11; vgl. W. VAN UNNIK, Die „geöffneten Himmel" in der Offenbarungsvision des Apokryphons des Johannes, in Apophoreta (FS Haenchen), Berlin 1964, 269-280 (270). 50 BG 21,3-13; NHC II 2,1-9; III 2,16-19. 51 BG 21,14-22,16; NHC II 2,9-25. 52 BG 75,14-77,6; NHC II 31,26-32,10; III 39,14-40,10. 53 BG 75,14f.; NHC II 31,26; III 39,14.

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den Auftrag, die Offenbarungen aufzuschreiben 54 und fugt noch einen Fluch hinzu für diejenigen, die die Offenbarungen an Johannes „für ein Geschenk eintauschen" 55 . Johannes verkündigt die Offenbarung seinen Mitjüngern (|i.a0TiTris)56. Damit handelt er eigentlich seinem Auftrag zuwider: der Befehl war, zu schreiben, nicht zu reden. Aber in der Einleitung hatte der Offenbarer ihn schon beauftragt, die Offenbarung denen, „die des gleichen Geistes sind" (¿iioirveuna, BG 21,13), mitzuteilen 57 . Darüber hinaus ist der Auftrag, zu schreiben, in dem Buch, das im Johannes-Apokryphon vorliegt, ausgeführt. In dem Auftrag, zu schreiben, wird ein weiteres Motiv deutlich: das des Offenbarungsbuches, das sich schon in der Prophetie 58 wie dann auch in der Apokalyptik 59 findet. Dieses Motiv ist insofern verstärkt, als das Johannes-Apokryphon selbst in Anspruch nimmt, nicht nur von diesem Buch zu berichten, sondern dieses Buch zu sein. Die Rahmenhandlung führt das klassische apokalyptische Motiv des Offenbarers und des offenbarten Buches ein. Der Inhalt der Offenbarung ist jedoch eindeutig gnostisch geprägt. Von großer Bedeutung ist darüber hinaus, daß die Situation, in der die Offenbarung geschieht, mit der Figur des Arimanias als massiver Glaubenszweifel gekennzeichnet ist. In dieser Verunsicherung ähnelt die Ausgangssituation des Johannes-Apokryphons dem Grundgefühl, das der Apokalyptik zugeschrieben wird. 3.2 Apokalyptische Motive im 1. Teil, dem philosophischen (BG 22,16-44,18; NHC II 2,25-13,13; 1114,8-18,25)

Traktat

Die Offenbarung, die Johannes zuteil wird, erstreckt sich auf vier Ebenen der Weltentstehung: „obere Theogonie", die Entstehung der göttlichen Hypostasen, „obere Kosmogonie", die Ausbildung der Äonen, „untere Theogonie", die Entstehung Yaldebaoths, und „untere Kosmogonie", Yaldebaoths Kopie der himmlischen Welt 60 . Der eine einzige Gott bringt durch seine Gedanken fünf Äonen hervor, die ihm dienen: zuerst wird „sein Denken" (evvoia) 61 real in Form der Vorsehung (Trpövoia) 62 , der „Barbelo" (TB^PBHAO))63, auch „erster Mensch" (ncpopn nptoHe)64 und Jungfräulicher

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

BG 75,16-20; NHC II 31,28-31; III 39,15-18. BG 76,9-14; NHC II 34-37. BG 76,18-77,4; NHC II 32,4-6; III 7 - 9 . BG 21,12-16; NHC III 2,22-24. Z.B. J e r 3 6 . Z.B. Apk 1,11. Vgl. WALDSTEIN, Apokryphon (s. Anm. 23), 96. BG 27,5; NHC II 4,27; III 7,12. BG 27,10f.; NHC II 4,32; III 7,16f. BG 27,14; NHC II 4,36; III 7,19. NHC II 5,7; ähnlich auch in BC 27,19f.; NHC III 7,23f.

Apokalyptische

Motive im

Johannes-Apokryphon

247

Geist" (TrapGeviKÖv vvev\ia)65 genannt 66 . Aus Barbelo entwickeln sich, immer mit Zustimmung des Vaters, eine Fünfheit und Zehnheit von Äonen 67 . Diese gehören noch zu dem Bereich des Vaters und üben den liturgischen Dienst aus. Aus dem Vater und Barbelo entsteht der Sohn, der eingeborene (ji-oyoyevris) und „selbstgezeugte" (ai>ToyevTis)68. Dieser Sohn wird mit seiner „Christheit gesalbt". Hier hat der koptische Text aller Varianten N 2 P M 2 N T H N T ^ P C 6 9 in verschiedenen Schreibweisen, ein Wortspiel auf das griechische XpidTos/xpiiaTÖs (Christus/Güte). Auch der Sohn gehört noch zum Bereich des Vaters, genauso wie der „Verstand" (voüs), der dem Sohn zu Diensten geschaffen wird, der Wille, dem das Wort folgt, durch den das Universum geschaffen wird, und das Leben 70 . Es ist deutlich, daß hier das Schöpferwort von Gen 1 ausgelegt wird, dem natürlich Gottes Wille zuvorkommt. Hier findet sich eine gnostische Aufgliederung der Logostheologie, wie sie in platonischer und weisheitlicher Auslegung der Schöpfungsgeschichte in jüdischer Tradition z.B. bei Philo (Op. 15-35) und vor dem christlichen Hintergrund im Johannesprolog (Joh 1,1-18) dargestellt wurde 71 . Es ist deutlich, daß die Darstellung nicht dem entspricht, was in platonischen Schulen der Zeit gelehrt worden sein mag. Die Art, in der das Johannes-Apokryphon den Piatonismus aufgreift, jedoch „vulgärplatonisch" zu bezeichnen 72 , wird dem Anliegen der Schrift nicht gerecht. Es ist eher eine Betonung der mythischen Aspekte platonischer Philosophie. In der Darstellung des Johannes-Apokryphons folgen weitere vier Mächte, die unmittelbar von der philosophischen in die mythologische Ebene wechseln, denn die Mächte Einsicht ( T M N T P M N 2 H T ) , Gnade ( T * ^ P I C ) , Wahrnehmung (Tec-e-Hcic) und Klugkeit ( T f p o N h c e i c ) werden je einem Äon, das durch je einen Lichtengel ( M T G A O C ) bestimmt wird, zugeordnet (Armozel, Oriael, Daveithai, Eleleth) 73 . Diesen Äonen sind wieder je drei Unter-Äonen zugeteilt, z.B. Vollkommenheit, Friede usw. Die Engel muten in diesen von abstrakten Begriffen strotzenden Listen seltsam an, aber 65 BG 27,21; NHC III 7,24. In NHC II 5,7 wird der Geist sogar M S T O Y ^ B , „heiliger Geist" und „Muttervater" (iriTpoTraTiop genannt. 66 BG 27,4-28,4; NHC II 4,26-5,10; III 7,9-8,5. 67 BG 28,4-29,18; NHC II 5,11-6,10; III 8,5-9,10. 68 BG 30,1-31,4; NHC II 6,10-33; III 9,12-10,9. 69 BG 30,15; NHC II 6,23; III 9,24. 70 BG 31,5-32,19; NHC II 6,33-7,29; III 10,9-11,14. 71 Vgl. J. LEONHARDT-BALZER, Der Logos und die Schöpfung: Streiflichter bei Philo (Op. 20-25) und im Johannesprolog (Joh 1,1-18), in: J. Frey/U. Schnelle, Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, Tübingen 2004, 295-319. 72

MARKSCHIES, G n o s i s (s. A n m . 7 ) , 4 9 .

73

NHC II 7,30-9,12.

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sie tragen dazu bei, den Charakter dieser Offenbarung zu ,beleuchten'. Nicht nur der philosophische Gott, der sich verströmt und dabei aufgliedert, wird beschrieben. Gleichzeitig wird dieser Emanationsprozeß der Vorstellung vom himmlischen Thronraum und der Verehrung der Engel angeglichen, ein klassisches Motiv, das in der Prophetie 74 wie auch in der Apokalyptik 75 zur Untermalung der Wahrheit einer Vision benützt wird. Hier dient die Beschreibung jedoch nicht der Autorisierung der Offenbarung, sondern sie ist die Offenbarung. Diese Thronraumvorstellung verbindet sich mit einer Interpretation der Äonen als verschiedene Himmelssphären, wie sie auch im Zusammenhang verschiedener apokalyptischer Visionen auftreten, z.B. auch bei Paulus in dem Bericht über seine Entrückung (2 Kor 12,1-5). Es ist deutlich, daß das Johannes-Apokryphon verschiedene apokalyptische Vorstellungen kombiniert. Interpretiert man die Äonen darüber hinaus nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich, als verschiedene Weltalter, die jeweils ihren eigenen Charakter haben, dann tritt hier sogar eine apokalyptische Deutung der Weltgeschichte auf. So schlägt Onuki vor, die dreimalige Ankunft der Pronoia in der Langversion auf das vierte Äon zu beziehen 76 . Das hieße jedoch, daß die große Rede der Pronoia in irgendeiner Form auch in den Kurzversionen enthalten gewesen sein müßte 77 . Es ist nicht erkennbar, warum eine solche bedeutende Passage in der Kurzversion weggelassen worden sein könnte. Aber selbst wenn man diesen direkten Bezug für die Kurzversionen schwer belegen kann, ist eine zeitliche Deutung der Äonen auch ohne den Kontext der Gesamtschrift nicht auszuschließen 78 . Die Verschränkung von räumlicher und zeitlicher Deutung der Äonen klingt insbesondere in der Weise an, in der die verschiedenen Lichtengel über die Äonen gesetzt werden. Die Zusammenarbeit von Verstand, Willen und Geist mit dem Sohn, dem „Autogenes" ( n ^ y i o r e t i e c ) läßt den wahren, perfekten Mensch, „Adam" ( \ A \ H , BG 34,18-35,5) 7 9 entstehen. Dieser wahre Mensch ist zusammen mit dem Autogenes, dem Christus, über 74

Z.B. J e s 6 . Z.B. 1 Hen 14,9-21; 39,12-40,10. 76 NHC II 30,11-31,25 und NHC IV 47,1-49,6. Vgl. ONUKI, Wiederkehr (s. Anm. 24), 112-118. Er bezieht sich kritisch auf einen Ansatz, der die 4 Äonen den vier Ankünften der Pronoia parallel stellt, z.B. bei H.-M. SCHENKE, Das sethianische System nach Nag-Hammadi-Handschriften, in: P. Nagel, Studia Coptica, Berlin 1974, 165-173 (167f.); C. COLPE, Gnosis II (Gnostizismus), RAC 11 (1981), 537-569 (633). 75

77

V g l . ONUKI, W i e d e r k e h r (s. A n m . 2 4 ) , 115.

78

Zu der Vieldeutigkeit des Äonenbegriffs gerade auch in seinem zeitlichen und besonders in eschatologischem Verständnis in verschiedenen gnostischen Apokalypsen, v g l . MACRAE, A p o c a l y p t i c E s c h a t o l o g y (s. A n m . 15), 3 2 2 - 3 2 4 . 79 In NHC III 13,4 heißt er eindeutig die griechische Version des Namens, in NHC II 8,34-35 m r e p \ Ä^AAMÄ.N, wohl eine Erweiterung.

Apokalyptische

Motive im

Johannes-Apokryphon

249

den ersten Äon gesetzt. Adam verherrlicht im ersten Äon die Urdreiheit von Vater, Mutter und Sohn. Sein Sohn Seth ist über den zweiten Äon gesetzt, zusammen mit Orioel. Der Dritte wird von dem „Same des Seth" (MnecnepMa. N C I T & ) über Davethai und „den Seelen der Heiligen" ( N N 6 + Y ? C H N N 6 [ T O Y ] ^ B , BG 36,4f.) angeführt. Im Anschluß an Gen 5 wird hier das Menschengeschlecht von Seth hergeleitet. Der Vierte Äon unter Eleleth enthält die Seelen derjenigen, „die Reue zeigen" (p.eTavoelv) 8 0 . Hier gehen die Versionen auseinander: Die Kurzversionen stellen fest, die Menschen hätten zwar zuerst das „Pleroma" (^Xripufia, NHC III 14 4)81 erkannt aber nicht sofort Reue gezeigt. Die Langversion (NHC II 9,18-23) ändert das in die, die zuerst das Pleroma nicht erkannt haben, später dann aber Reue zeigen. Einig sind sie, daß ihre Reue ihnen den Weg in den vierten Äon ermöglicht. Es ist das vorherige Vergehen das unterschiedlich beschrieben wird: die (wohl ältere) Kurzversion nimmt mutwillige Ablehnung der Wahrheit an. Die Langversion geht von einer unbeabsichtigten Unkenntnis aus. Es scheint, daß die Bearbeiter der Langversion für ein so mutwilliges Verhalten kein Verständnis mehr hatten, und daher auch keine Rettung dafür vorsahen. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung dienen alle Äonen noch der Verherrlichung des einen Gottes in seiner Mannigfaltigkeit. Das Böse nimmt seinen Lauf, sobald die Sophia ohne Zustimmung des Vaters oder des Geistes einen eigenen Gedanken hervorbringen will: es entsteht ein Monster in Form einer Schlange mit Löwenkopf, das sie Yaldebaoth nennt 82 . Hier tritt ein weiteres klassisch-apokalyptisches Motiv auf: das Monster, das das Ende herbeiführt. In diesem Fall ist Yaldebaoth der ,Anfang des Endes'. Sophia versteckt ihn, aber er hat Macht genug von ihr bekommen, um selbst Mächte (e^oucrica), Engel und Äonen zu schaffen 8 3 . Die Namen der dämonischen Mächte Yaldebaoths spielen immer wieder auf den jüdischen Gott mit seinen verschiedenen Namen an, z.B. Yaoth, Adonaios, Sabaoth, Yobel 84 , aber auch andere biblische Namen wie Kain und Belias 85 , der in der Langversion sogar Herrscher der Unterwelt genannt wird 86 . Spätestens durch die Gleichstellung von Gottesnamen mit Belial wird diese Gruppe eindeutig als böse qualifiziert. Zusätzlich zu seinen Mächten setzt Yaldebaoth sieben Könige über j e einen Abschnitt des Himmels ein. Er erreicht jedoch immer nur ein fehlerhafte Kopie der Äonen und ihrer Lichtherr80

BG 36,12; NHC II 9,21; III 13,6. BG 36,9 umschreibt den Begriff mit einem koptischen Ausdruck: „sie erkannten seine Vollkommenheit" (MT^YCOYCUN noyxuw). 82 BG 36,16-38,1; NHC II 9,25-10,11; III 14,9-15,12. 83 BG 38,1-41,12; NHC II 10,11-11,4; III 15,12-17,20. 84 BG 40,5-8. 85 BG 40,13-18; NHC II 10,34-11,3; III 16,25-17,5. 86 NHC II 11,2-4. 81

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scher, da Yaldebaoth nur mit dem von seiner Mutter gestohlenen Licht arbeiten kann und es ins Gegenteil verkehrt. Auch die Herrscher erschaffen sich Mächte und insgesamt 365 Engel, die in ihrer Anzahl den Tagen des Jahres entsprechen und somit astrologische Bezüge eröffnen. Yaldebaoth und seine Wesen zeichnen sich durch ihre Tiergestalten aus: z.B. Athoth mit Schlangengesicht, Eloaiou mit Eselsgesicht, Astaphaios mit Hyänengesicht, Sabaoth mit Schlangengesicht usw. 87 . Hier vermischen sich Einflüsse des ägyptischen Pantheons mit den Monstertraditionen apokalyptischer Vorstellungen. Insgesamt spiegeln sie damit nur die Vielgesichtigkeit Yaldebaoths wieder, der jedes Gesicht annehmen kann 88 . Mit dieser Vielzahl an Gesichtern ist er grundsätzlich nicht zuverlässig, und darüber hinaus das Gegenteil des einen, unwandelbaren, ewigen, wahren und guten Gottes. Wie bei den Äonen sind verschiedene Abstrakta wie Vorsehung, Göttlichkeit, Herrschaft, Eifersucht und Weisheit mit den Mächten Yaldebaoths verbunden 89 . Damit zeigt sich, daß er versucht, die wahre und gute Schöpfung nachzuahmen ohne wirkliche Einsicht in sie zu haben. Der erste Hauptteil des Johannes-Apokryphons schließt mit einem Zitat aus der Bibel (Ex 20,5; 34,14; Joel 2,27; Jes 45,5; Dtn 5,9; 32,39): Yaldebaoth behauptet von sich gegenüber seinem versammelten Hofstaat, ein „eifersüchtiger Gott" und der einzige Gott zu sein 90 . Hier wird das Schema aufgenommen und ins Negative verkehrt. Die Argumentation ergibt, daß ein Gott, der von sich behauptet, er sei eifersüchtig und gleichzeitig, es gäbe keinen anderen, eigentlich weiß, daß es andere (bessere) gibt. Für den Gnostiker ist das der klassische Beweis, daß sich der Gott des Alten Testaments seiner Unzulänglichkeit bewußt war 91 . Es hat sich gezeigt, daß nicht nur der zweite Teil ein kritischer Midrasch zu Gen 1-7 ist, sondern daß schon der erste Teil immer wieder biblische Motive aufnimmt und abwandelt. Apokalyptische Motive zeigen sich in den astrologischen Bezügen der Engel Yaldebaoths und in seiner Monsterwelt, besonders jedoch in den Anklängen an die „Thronraumvisionen" und in den Äonenunterteilungen mit ihrer Geschichtsdeutung, die sich in dem Kontext des philosophischen Teils jedoch immer noch auf die 87

BG 41,12-42,10; NHC II 11,4-11,35; III 17,17-18,8. BG 42,10-43,5; NHC II 11,35-12,10; III 18,9-22. Ein auffallendes Detail zeigt hier die Bedeutung der Christologie für die koptischen Übersetzer, insbesondere von BG: in NHC II 12,6 und II 18,17 wird von Yaldebaoth behauptet, er sei „Herr" ( x o e i c ) über die Engelwesen geworden. In BG 42,19 wurde er „Christus" ( * c ) über sie. Hier liegt eindeutig ein Mißverständnis der Doppelbedeutung von x o e i c vor, das oft auch im Sinn von KÜpios für Christus verwendet wurde. 89 BG 43,6-44,9; NHC II 12,10-13,5. 90 BG 44,10-18; NHC II 13,5-13. 91 BG 44,17-18; NHC II 13,12-13. 88

Apokalyptische

Motive im

Johannes-Apokryphon

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Zeit vor der Schöpfung bezieht. Daß in der Äonenunterteilung jedoch nicht nur eine abstrakte Struktur vor der Schöpfung ausgedrückt wird, sondern ein Modell, an dem sich auch die Geschichte ausrichtet, zeigt sich an der Beschreibung der Seelen im vierten Äon, die gerade noch Reue gezeigt haben. Dies ist ein Hinweis auf Menschen, die sich im irdischen Leben vergangen haben. Im zweiten Teil wendet sich dann der Blickwinkel explizit der materiellen Welt zu. 3.3 Apokalyptische Motive im 2. Teil, dem kritischen (BG 44,19-64,13; 70,5-75,15; NHC II 13,13-25,16; 11121,1-32,22; 36,16-39,14)

Midrasch 27,33-30,11;

Der zweite Teil wendet die in der Gnosis häufig angewandte Methode der „korrektiven Auslegung" der Bibel an92. Hier wird dem Alten Testament weder jede Berechtigung abgesprochen, noch wird es direkt „im Gegensinn" ausgelegt, aber die Schrift wird auch nicht kritiklos übernommen, sondern auf den negativen Schöpfergott hin gesehen. Die Kritik am Bibeltext wird methodisch durch Zwischenfragen des „Ich-Erzählers" an den Offenbarer expliziert. Die Auslegung beginnt mit der Interpretation des Geistes aus Gen 1,2, der sich über den Wassern hin- und herbewegt 93 . Der Offenbarer deutet den Geist in kritischer Ablehnung der Genesisdarstellung auf die Sophia, wird aber sofort durch eine Frage des „Ich-Erzählers", im gegenwärtigen Kontext der Zebedaide Johannes, nach der Art der Bewegung unterbrochen. Die Bewegung der Sophia wird als Reue gedeutet (^eTavoeiv) 94 . Die Sophia wird aufgrund ihrer Reue wieder in den Bereich der ersten Äonen aufgenommen. Sie erreicht jedoch noch nicht sofort ihren eigenen Äon, sondern vorerst nur den neunten, bis sie ihren Fehler rückgängig gemacht hat95. Der Metropator offenbart durch eine Stimme, die den Äon des ersten Herrschers Yaldebaoth erschüttert, und eine Spiegelung im Wasser die Existenz des Menschen und des Menschensohnes (ntimpe MnpcuMe)96. Darauf folgt in Auslegung der Gottesrede aus Gen 1,26-27 die Erschaffung des irdischen Menschen durch Yaldebaoth und seine Mächte und Engel nach dem Bild, das sie zuvor gesehen hatten97. Auch hier gibt es in der Art 92 Vgl. P. NAGEL, Die Auslegung der Paradieserzählung in der Gnosis, in: K.-W. Tröger, Altes Testament - Frühjudentum - Gnosis. Neue Studien zu „Gnosis und Bibel", Gütersloh 1980, 4 9 - 7 0 (51-55). 93 BG 44,19-45,5; NHC II 13,13-17. 94 BG 45,6-46,15; NHC II 13,17-14,1; III 2 1 , l f . 95 BG 46,15—47,13; NHC II 14,1-13; III 21,2-15. 96 BG 47,14-48,9; NHC II 14,13-34; III 21,16-22,3. 97 BG 48,9-50,14; NHC II 15,1-19,12; III 22,3-23,14.

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der Aufnahme von Gen 1,27 deutliche Anklänge an Philos Auslegung. In Op. 25 argumentiert Philo in Auslegung des KCIÖ' E I K Ö Y A Geoü der LXX, daß der Mensch nicht als Bild Gottes, sondern, nach dem Abbild Gottes, nach dem Abbild, das Gott gemacht hat, geschaffen wurde. Bei Philo ist dieses Urbild des Menschen der Logos, hier im Johannes-Apokryphon das „Bild" (eiKuv), das sie zuvor gesehen hatten 98 . Es zeigt sich, daß das Johannes-Apokryphon auf eine jüdische exegetische Tradition aus Alexandria zurückgreift, und diese in im Rahmen ihrer gnostischen Hermeneutik umdeutet. Dieser nach dem von Gott gegebenen Vorbild geschaffene Mensch wird wieder Adam genannt". Jede der Mächte übernimmt eine „Seele" eines Teils des Körpers („Knochenseele", „Haarseele usw.) 100 . An dieser Stelle schiebt die Langversion eine genaue Beschreibung ein 101 , welcher der 365 „Engel" für welchen Körperteil verantwortlich ist, die sich wahrscheinlich an ägyptische Archontenlehre und hellenistische Astrologie anlehnt und sich auf ein gewisses „Buch des Zoroaster" stützt, das bis heute verschollen ist 102 . Weder Yaldebaoth noch seine Engel können jedoch den Körper zum Leben erwecken. Mit Hilfe der Fürbitte der Sophia, wird der Vater dazu bewegt, „den Autogenes mit den vier Lichtern" ( N N I \ Y T O R E : H H C MH 103 n e q T O O Y Noyo'i'N, BG 50,9) zu senden . Die Langversion vereinfacht die Passage, indem sie nur die fünf „Lichter" («crnip) erwähnt (NHC II 19,19). In jedem Fall ist an das Eingreifen von Engelwesen gedacht. Im gegenwärtigen Kontext sind es die Engel, die zu den vier perfekten Äonen gehören, sich aber als Yaldebaoths Engel ausgeben. Diese verleiten Yaldebaoth dazu, daß er den Menschen durch seinen Atem, der den Geist seiner Mutter überträgt, lebendig macht und damit den von seiner Mutter geraubten Geist an den Menschen abgibt 104 . Hier wird der zweite Schöpfungsbericht aufgenommen (Gen 2,7). Der Mensch wird lebendig, und die Langversion erwähnt sogar, daß „er leuchtete" (¿.ytu ¿.qp o y o e r n , NHC II 19,33). Die Mächte werden eifersüchtig, weil sie erkennen, daß dieser 98 BG 4 9 , 1 - 6 ; N H C II 15,7-10; II 2 2 , 1 1 - 1 3 . Wieder gibt es eine interessante Variante zwischen der Kurz- und der Langversion: N H C III 22,1 l f . und BG 49,3 schreiben nur „nach dem Bild" (GBOA. 2N OIKOHI), „das sie gesehen hatten". N H C II 15,9f. präzisiert diese Aussage, indem er das Urbild als TUTTOS charakterisiert, nach dem „in seiner psychischen Form" ( 2 p \ i 2Fi T e q t Y * l K H ) das Abbild als „Hypostase" ( N o y 2 Y n o c T ^ c i c ) geschaffen wurde. 99 100 101 102 103 104

BG 4 9 , 6 - 9 ; N H C II 15,11-13; III 2 2 , 1 5 - 1 8 . BG 4 9 , 9 - 5 0 , 1 4 ; N H C II 15,13-19,12; III 2 2 , 1 8 - 2 3 , 1 4 . N H C II 15,29-19,10. NHC II 1 9 , 8 - 1 0 ; Vgl. QUACK, Dekane (s. Anm. 37), 9 7 - 1 2 2 . BG 5 0 , 1 5 - 5 1 , 1 2 ; N H C II 19,13-21; III 2 3 , 1 4 - 2 4 , 4 . BG 5 1 , 1 2 - 5 2 , 1 ; N H C II 19,21-33; III 2 4 , 4 - 1 4 .

Apokalyptische

Motive im

Johannes-Apokryphon

253

Mensch weiser ist als sie oder Yaldebaoth und sie verbannen ihn in die tiefsten Gebiete der Materie 105 . Damit überschneidet sich das rettende Handeln des wahren Gottes mit einer Verschlechterung der Lage der Welt durch die gottfeindlichen Mächte. Diese Gegenbewegung zwischen Gottes Handeln und der innerweltlichen Situation findet sich gleichermaßen als Grundmotiv apokalyptischer Endzeitbeschreibungen 106 . Der Wechsel zwischen Eingreifen der Himmelswesen und Reaktion der Archonten zieht sich durch die gesamte Urgeschichte. Metropator verbirgt die Epinoia, die auch Zoe genannt wird, im Menschen, damit sie ihn über seinen himmlischen Ursprung aufklärt 107 . Als sich zeigt, daß der Mensch erneut den Archonten überlegen ist, bringen sie ihn in das Reich des Todes und machen ihm einen Körper aus den Elementen, der ihn mit allen Leidenschaften an die Materie binden soll. Sie können aber nicht verhindern, daß das Denken (evvoia) 1 0 8 „des Lichts" 109 seinen Verstand auch weiterhin belebt 110 . Daher soll der Baum des Lebens (vgl. Gen 2,17) ihm den Tod durch die Leidenschaften bringen 111 . Der Baum der Erkenntnis ist dem Menschen verwehrt, damit er nicht erkennt, woher er kommt und wie er dahin zurückkehren kann. Denn der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist die Epinoia, die den Menschen in seiner fleischlichen Nacktheit offenbart 112 . An dieser Stelle der Auslegung von Gen 2 - 3 macht eine weitere Zwischenfrage des Zebedaiden die Polemik gegen die Genesiserzählung deutlich: sie bestätigt, daß es wirklich der Offenbarer Christus ( n x o e i c 1 1 3 , entspricht K u p i o s , oder x p i - O T Ö s " 4 ) war, der die Menschen von dem Baum der Erkenntnis essen lehrte, während die Schlange nur zu den Leidenschaften verführte. Deswegen läßt der Protarchon den Menschen in ein tiefes Vergessen fallen (der tiefe Schlaf bei der Erschaffung der Frau in Gen 2,21), um seine Erkenntnisfähigkeit zu schwächen 115 .

105

BG 5 2 , 2 - 1 7 ; N H C II 19,34-20,9; III 2 4 , 1 4 - 2 4 . V g l . die sieben Siegel in Apk 5 , 1 - 8 , 5 ; die sieben Posaunen Apk 8 , 6 - 1 1 , 1 9 ; die Feindschaft des Drachen in Apk 12; die Schalen in Apk 15,5-16,21. 107 B G 5 2 , 1 7 - 5 4 , 9 ; N H C II 2 0 , 9 - 3 1 ; III 2 4 , 2 5 - 2 6 , 3 . 108 BG 55,15f.; N H C III 27,2; in N H C III 21,15 ist es die „Nachsehung" (errivoLa). 109 B G 55,15f.: das Denken „des ersten Lichts" R n e i i p o i o c n o y d i i i ; N H C III 27,2: „des präexistenten Lichts": finenpooNTOC Noy[oei]N; in N H C III 21,15: „des Lichts": HnoyoeiN. 110 BG 5 4 , 9 - 5 5 , 1 8 ; N H C II 2 0 , 3 2 - 2 1 , 1 6 ; III 2 6 , 5 - 2 7 , 4 . 111 BG 5 5 , 1 9 - 5 7 , 7 ; N H C II 2 1 , 1 6 - 2 2 , 2 ; III 2 7 , 4 - 2 8 , 6 . 112 B G 5 7 , 8 - 5 8 , 1 0 ; N H C II 2 2 , 3 - 1 8 ; III 2 8 , 6 - 2 5 . 113 N H C II 22,10; III 28,18. 114 B G 58,2. 1I5 B G 5 8 , 8 - 5 9 , 5 ; N H C II 2 2 , 1 8 - 2 8 ; III 2 8 , 2 5 - 2 9 , 1 1 . 106

254

Jutta

Leonhardt-Balzer

Daraufhin versteckt sich die Epinoia in dem Menschen. Der Protarchon versucht sie zu fassen und erschafft die Frau Eva aus Adams Rippe (vgl. Gen 2,21 f.), wodurch die Epinoia, die Spiegelung des Lichts, auch genannt „Zoe", freigesetzt wird und Adam aus seiner Trance befreit 116 . Der Name Zoe nimmt das hebräische Wort für „Leben" (mn) auf, das dem Namen Eva zugrunde liegt (vgl. Gen 3,20). Mann und Frau erkennen die Epinoia und werden von der Epinoia über die Erkenntnis des Lichts belehrt 117 . Yaldebaoth verflucht die Menschen und vertreibt sie aus dem Paradies (vgl. Gen 3,17-19). Sie wiederum wagen nicht, seine Unkenntnis zu enthüllen 118 . Damit ist der Fall der Menschen nicht beendet. In Umdeutung von Gen 4,1 f. wird beschrieben, daß Yaldebaoth die Frau begehrt (aus der die Pronoia sicherheitshalber die Zoe, das Leben, entfernt hat) und mit ihr zwei Söhne, Eloim, den ungerechten, und Yave, den gerechten, zeugt. Diese werden Kain und Abel genannt, von denen alle von Yaldebaoth beeinflußten Menschen abstammen 119 . Hier erscheint der „gefälschte Geist" (uveü|ict (XVTI FII|iov) erstmals als Ursache sexueller Neigungen 120 . Gerade in diesen sexuellen Neigungen des Protarchon ist der Einfluß der Henochtradition deutlich 121 . Deutlicher jedoch werden diese Bezüge in der späteren Auslegung von Gen 6,1-4 (s.u., S. 257), in der die Entstehung des „gefälschten Geistes" beschrieben wird. Eine weitere Ähnlichkeit dieses „gefälschten Geistes" besteht zu dem „Geist der Lüge" (Vi»n n n ) in 1QS III 13-IV 1, der von den Menschen Besitz ergreift, die verloren sind und der dem „Geist der Wahrheit" (noxn n n ) gegenübergestellt wird. In diesem Text wird die eindeutige Erwartung ausgesprochen, daß das Gericht Gottes diesen Geist überwinden wird. Wie in 1QS wird dem „gefälschten Geist" im Johannes-Apokryphon der wahre Geist im Menschen gegenübergestellt. Im Gegensatz zu Yaldebaoth zeugt Adam Seth (vgl. Gen 4,25) als Ebenbild des Menschensohnes mit dem (wahren) Geist (uyeOna) 122 der Sophia, der dem Samen (auepiia) 1 2 3 der Sophia die Erinnerung an ihre Herkunft zurückgibt, die ihnen von Yaldebaoth genommen wurde. Die Schilderung schließt die zukünftige Erwartung ein, daß der Geist diejenigen, die zu ihm gehören, wieder mit den

116

BG BG 118 BG 119 BG 120 BG 117

121

59,6-60,1; NHC II 22,28-23,7; III 29,12-30,3. 59,3-61,7; NHC II 23,8-35; III 29,3-30,21. 61,8-62,2; NHC II 23,35-24,8; III 30,23-31,6. 62,3-63,13; NHC II 24,8-34; III 31,6-32,6. 63,9; NHC III 32,3.

ATTRIDGE, A p o c a l y p s e s ( s . A n m . 1 7 ) , 1 9 3 , m i t B e z u g n a h m e a u f STROUMSA u n d

V ANDERKAM. 122 123

BG 63,18; NHC II 25,3; III 32,10. BG 64,5; NHC II 25,10; III 32,16.

Apokalyptische

Motive im

Johannes-Apokryphon

255

Äonen vereinen kann und die Sophia wiederherstellt 124 . Hier zeigt sich wieder eine Hoffnung, die durch die Vereinigung einer einzelnen Seele mit dem Pleroma nicht eingelöst werden kann. Die Wiederherstellung der Sophia ist eindeutig eine eschatologische Zukunftserwartung. An dieser Stelle ist der katechetische Dialog eingefügt. Er bricht jedoch mit der letzten Frage nach der Herkunft des „gefälschten Geistes" ab, deren Antwort in der Wiederaufnahme des Midrasch bei dem Fall der Engel (Gen 6,1-4) erfolgt. Zuvor schließt sich jedoch der Midrasch zur Sintflut an. In der Schilderung der Flut selbst finden sich keine apokalyptischen Anspielungen. Der Protarchon begeht Ehebruch mit der Sophia, um den Menschen an der Erkenntnis zu hindern, woraus alle Laster entstehen 125 . Aus Ärger über alles Schlechte, das er hervorgebracht hat, will er die Menschen in einer Flut vernichten. Die Vorsehung (Pronoia) verhindert jedoch die Zerstörung, indem sich Noah mit der Menschheit in einer Lichtwolke verbirgt 126 . Yaldebaoths Entschluß, die Welt zu vernichten, ist nur von kurzer Dauer und in Auslegung von Gen 6,1-4 wird beschrieben, wie er seine Engel zu den Menschenfrauen sendet, um in Imitation des Geistes, der Adam lebendig gemacht hat, den „gefälschten Geist" (duTi|ii|ioi; TTueü|ia) in ihnen zu schaffen, der sie in der Schöpfung versklavt 127 . An dieser Stelle zeigt sich eine deutliche Ähnlichkeit zu der Aufnahme von Gen 6,1^1 im Wächterbuch des äthiopischen Henoch (6-11 und 15)128. Folgende Ähnlichkeiten des Wächterbuchs (1 Henoch 6-16) aus dem 3. Jahrhundert v.Chr. mit der Beschreibung des Engelfalls im Johannes-Apokryphon sind von VanderKam festgestellt worden: Die Engel steigen herab, paaren sich mit den Menschentöchtern und erzeugen Nachkommen. Sie bringen den Menschen Dinge, die sie vorher noch nicht hatten und verändern die Lage der Menschen 129 . Die Unterschiede zwischen den beiden Schilderungen liegen darin, daß die Engel im Johannes-Apokryphon nicht von alleine handeln, sondern von Yaldebaoth geschickt werden. Die Frauen werden auch nicht beschuldigt, die Engel verfuhrt zu haben, sondern die Engel geben sich als ihre Männer aus. Die Engel lehren sie keine Künste sondern bringen die Bindung an die Materie. Und schließlich ist das Ergebnis der 124

B G 63,12-64,13; NHC II 24,35-25,16; III 32,6-32,22. BG 71,5-72,12; NHC II 27,33-28,32; III 36,18-37,13. 126 B G 72,12-73,18; NHC II 28,32-29,15; III 37,14-38,10. 127 B G 73,18-75,10; NHC II 29,16-30,11; III 38,10-39,11. 128 Vgl. B.A. PEARSON, 1 Enoch in the Apocryphon of John, in: T. Fornberg/D. Hellholm, Texts and Contexts. Biblical Texts in their Textual and Situational Contexts (FS Hartmann), Oslo 1995, 355-367. 129 J.C. VANDERKAM, 1 Enoch, Enochic Motifs and Early Christian Literature, in: ders./W. Adler, The Jewish Apocalyptic Heritage in Early Christianity, CRINT III 4, Van Gorkum, Assen 1996, 33-101 (71f.). 125

256

Jutta

Leonhardt-Balzer

Paarung nicht eine Generation von Riesen sondern eine Menschheit in Dunkelheit 130 . Alle diese Unterschiede lassen sich als Anpassungen an die gnostische Grundthese erklären. Das Detail, daß sich die bösen Engel in die Partner der Menschentöchter verwandeln 131 , findet sich zwar nicht im Wächterbuch, sondern in TestRuben 6,6f.; bei Philo (Quaest. in Gen. 1, 92); und bei Ps-Clem Horn. 8,12f. 132 . Es ist deutlich, daß an dieser Stelle im Johannes-Apokryphon eine gnostische Überarbeitung dieses weit verbreiteten Mythos 133 erscheint. Zusammenfassend gibt es im zweiten Hauptteil wenige konkrete apokalyptische Motive. In der Beschreibung Yaldebaoths und seines „gefälschten Geistes" bleibt jedoch der kosmische Gegensatz, der sich durch die gesamte Schöpfung und Weltgeschichte zieht, bestehen zwischen ihnen als dem bösen Prinzip und dem guten Prinzip in Form von Gott und seiner Pronoia 134 . Darüber hinaus wird der Dialog der Rahmenhandlung an einigen Stellen wieder aufgenommen. Wenn über ihn die Kritik am Genesistext formuliert wird, überträgt sich der Offenbarungscharakter aus der Rahmenhandlung gerade auch auf die Kritik am Bibeltext. Der kritische Midrasch läßt zwar inhaltlich wenig apokalyptisches Denken aufkommen, steht aber gerade in seinem korrigierenden Traditionsbezug jüdischer Apokalyptik nahe. Das zeigt sich insbesondere in den Ausführungen zu dem „gefälschten Geist", der dem Geist der Lüge aus 1QS III 13-IV 1 ähnelt, und in der Beschreibung des Engelfalls mit ihren Bezügen zu literarischen apokalyptischen Traditionen wie der Henochtradition. Damit zeigen sich deutlicher als in den anderen Teilen konkrete literarische Bezüge zur Apokalyptik. 3.4 Apokalyptische Motive im katechetischen Dialog (BG 64,14-70,5; NHCII 25,16-27,33; 11132,22-36,17) Der katechetische Dialog ist in die Erörterung der Erleuchtung durch die Sophia eingefügt. Er hebt sich formal deutlich von dem kritischen Midrasch ab, auch wenn die letzte Frage nach dem Ursprung des „gefälschten Geistes" erst ihre Antwort in der Wiederaufnahme des Midraschs findet. Dieser Zusammenhang zwischen dem Dialog und dem Midrasch in bezug auf den „gefälschten Geist" mag der Grund für die Einfügung des katechetischen Dialogs an dieser Stelle sein. In dem Dialog stellt Johannes sieben 130

VANDERKAM, 1 E n o c h (s. A n m . 129), 72.

131

BG 74,1 lf.; NHC II 29,26-28; III 38,21f. vgl. VANDERKAM, 1 Enoch (s. Anm. 129), 72. 133 Zu dem Vorkommen des Wächterfalls von Syrien, Palästina, und Ägypten über Nordafrika bis nach Rom und Gallien im 2. Jahrhundert n.Chr., s. VANDERKAM, 1 Enoch (s. Anm. 1 2 9 ) , 87f. 134 Vgl. ATTRIDGE, Apocalypses (s. Anm. 17), 193. 132

Apokalyptische

Motive im

Johannes-Apokryphon

257

Fragen über die Rettung der Seele. Sie sind ohne Schriftbezug und werden von dem Offenbarer relativ kurz beantwortet. Auf die Frage, ob alle Menschen gerettet werden, antwortet der Offenbarer 135 , daß nur die gerettet werden, die den Geist des Lebens haben, da sie sich von den Begierden und der Materie unabhängig machen und das ewige Leben erlangen 136 . Die zweite Frage erörtert, ob Menschen ohne diese Werke gerettet werden. Hier heißt es, daß die, auf die der Geist herabkommt, sicher diese Werke vorweisen. Die anderen Menschen jedoch werden von dem „gefälschten Geist" (ÖVTL|J.IH.OV T T V E Ü ^ A ) 1 3 7 in die Irre gefuhrt 138 . Die dritte Frage behandelt das Schicksal dieser Menschen. Wenn die Seele stärker ist als der „gefälschte Geist", dann wird sie gerettet und steigt zu den Äonen auf 139 . Die vierte Frage richtet sich auf diejenigen, die nichts über ihren Ursprung wissen. Sie sind Repräsentanten des „gefälschten Geistes" und ist den Mächten des Protarchon unterworfen 140 . Auf die fünfte Frage, wie eine Seele auf den richtigen Weg kommt, heißt es, sie müsse jemandem folgen, in dem der Geist des Lebens ist 141 . Die sechste Frage befaßt sich mit den abgefallenen Seelen. Sie sind rettungslos verloren. Die Seelen werden an dem Ort der „Engel der Armut" (n^rr e x o c NTMNT2HKS)'4^ aufbewahrt für den Tag, an dem die Lästerer des Geistes gepeinigt werden. Auf sie wartet dann ewige Strafe 143 . Das ist die einzige Stelle, an der etwas wie eine eschatologische Gerichtsvorstellung aufblitzt. Sie darf im Gesamtkontext als Ausnahme gesehen werden, da sie aus der Logik des Gedankensystems herausfällt, die eher davon ausgeht, daß alles, was mit Materie zu tun hat und vom „gefälschten Geist" beherrscht wird, vergeht. Die Gerichtsvorstellung an dieser Stelle hat auch keinerlei Konsequenzen für den Gesamtansatz der Schrift. Die Strafvorstellung ist eindeutig erklärbar als Aufnahme literarischer Vorbilder, insbesondere der Strafe der abgefallenen Engel im Wächterbuch aus der äthiopischen Henochtradition (10,4-15), die auch in der anschließenden Erklärung des Ursprungs des „gefälschten Geistes" anklingt 144 .

135 Der Offenbarer wird in BG 64,14 mit xpicrrös, in NHC II 25,16 mit aorrr)p und in NHC III 32,23 mit n x o e i c , Herr, angeredet. Es ist deutlich, das Christus gemeint ist. 136 BG 64,14-66,12; NHC II 25,16-26,7; III 32,22-33,23. 137 BG 66,15f.; NHC II 26,20; III 34,16. 138 B G 65,13-67,18; NHC II 26,7-22; III 33,23-34,18. 139 BG 67,18-68,12; NHC II 26,22-31; III 34,18-35,2. 140 B G 68,13-69,13; NHC II 26,32-27,11; III 35,2-18. 141 BG 69,14-70,8; NHC II 27,11-21; III 35,19-36,4. 142 BG 70,12f.; NHC II 27,25f.; III 36,8f. 143 BG 70,8-71,2; NHC II 27,21-30; III 36,4-15. 144 S.o. 3.3, S. 254f.; vgl. auch PEARSON, 1 Enoch (s. Anm. 128), 364.

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Die siebte Frage beschäftigt sich mit dem Ursprung des „gefälschten Geistes". Sie wird durch die Wiederaufnahme des Midrasch bei dem Fall der Engel (Gen 6,1-5) beantwortet (s.o. 3.2) 145 . Die Tatsache, daß sich beide Teile, der katechetische Dialog wie auch der kritische Midrasch in der Erklärung des „gefälschten Geistes" auf Gen 6,1-4 und das Wächterbuch berufen, deutet nicht nur auf den literarischen Anknüpfungspunkt für die Einfügung des katechetischen Dialogs an dieser Stelle hin, sondern zeigen auch, welche Bedeutung die Geschichte des Engelfalls aus dem äth. Henochbuch für die, für den Einschub verantwortlichen, redaktionellen Trägerkreise besaß. Der katechetische Dialog kleidet eine Lehrunterweisung in Dialogform. Rein formal nimmt er so die Offenbarungsmotive der Rahmenhandlung auf, verbindet damit aber eher philosophisch-ethische Erörterungen als apokalyptische Visionen. Deutlich ist die Einteilung der Menschen in zwei Gruppen, die einen, die durch den Geist und die Erkenntnis gerettet werden und die Menschen mit dem „gefälschten Geist", die verloren gehen. Dabei gibt es laut Frage 3 eine gewisse Zwischengruppe, die dem gefälschten Geist unterworfen sind, aber sich von ihm freimachen können 146 . Die Einteilung der Menschen in die Samen der Sophia und die Nachfahren Yaldebaoths zieht sich durch die gesamte Schrift, und auch die Gruppe der Menschen, die erst nach einer Weile ihren Irrtum bereuen sind schon in der Beschreibung des vierten Äons erwähnt worden 147 . Die Einteilung in Menschen mit gutem und bösem Geist und solchen, die sich noch zum Guten verändern, erinnert an die Zwei-Geisterlehre aus Qumran, die neben den ,reinen' Menschenklassen auch den Kampf der beiden Geister im Inneren des Menschen kennt 148 . Hier wie dort stellt die Einteilung eine theoretische Erklärung der praktischen Erfahrung dar, daß sich die Menschen unterschiedlich zu der „Wahrheit" verhalten. Die Erwartung drastischer Strafen für die Apostaten entstammt eindeutig aus dem Wächterbuch des äthiopischen Henochbuches. Dieser Rückgriff auf die Tradition könnte die für das Johannes-Apokryphon ungewöhnliche eschatologische Erwartung erklären. Die Tatsache jedoch, daß sie nicht weggelassen oder im Sinne des gnostischen Weltbildes umgedeutet wurde, könnte darüber hinaus ein Fenster zu der Lebenswelt der Trägerkreise der Schrift öffnen, innerhalb derer das Problem des Abfallens von der Erkenntnis Leidenschaften weckte und solche Rachephantasien schürte 149 .

145

BG 71,3-5; NHC II 27,31-33; III 36,15-17. WALDSTEIN, Relation (s. Anm. 31). 147 B G 36,7-15; NHC II 9,18-24; III 14,1-9. 148 S.o. S. 254. Vgl. ATTRIDGE, Apocalypses (s. Anm. 17), 193. 149 In diesem Zusammenhang, und nur aus dieser klar definierten Perspektive kann man mit PEARSON, 1 Enoch (s. Anm. 128), 364, folgern, daß Eschatologie, „an integral 146

Apokalyptische

Motive im

Johannes-Apokryphon

259

In dem Bezug auf das äthiopische Henochbuch zeigt sich ein deutlicher literarischer Anklang an eine bedeutende Traditionslinie jüdischer Apokalyptik. Wenn man Attridges Einteilung der Gnosis in eine valentinianische, die sich von jüdischen Traditionen fernhielt und eine sethianische, die sich - wenn auch kritisch - auf jüdische Traditionen bezogen haben soll, folgen kann 150 , ist gerade dies wieder ein Hinweis auf die Zugehörigkeit zur sethianischen Gnosis 151 . In diesem Fall lassen sich dort weitere Beispiele für „eschatological motifs as metaphors for events on salvation history or [...] as timeless symbols for ,eschatological' events in the life of the enlightened reader" 152 finden: So beschreibt EvÄg 74,17-19 die Erwartung eschatologischer Strafen, ApocAdam 75,17-76,6 die einer eschatologischen Verzückung und TrimProt 43,4-44,27 Zerstörungen der Endzeit 153 . Über die bildliche Deutung der apokalyptischen Motive hinaus ist es aber auch deutlich, daß das Johannes-Apokryphon unter den gnostischen Texten nicht allein steht in dieser Beibehaltung einer gewissen End- und Gerichtserwartung. 3.5 Apokalyptische

Motive in der Rede der Pronoia (NHC II

30,11-31,25)

Am Schluß des zweiten Hauptteils, nach der Erläuterung zum „gefälschten Geist", wird in der Kurzversion von einer Erscheinung des Metropators in der Form des Samens der Sophia und dem Aufstiegs des Offenbarers zum Metropator berichtet, bevor der Seher in der Rückkehr zur Rahmenhandlung den Auftrag bekommt, die Worte aufzuschreiben 154 . Hier fügt die Langversion eine Rede der Pronoia ein, in der sie beschreibt, wie sie aus

part of the Gnostic worldview" ist. Von dem philosophischen Ansatz der Gnosis her zielt jede eschatologische Erwartung nur auf die Wiederherstellung des Urzustandes vor dem Fall der Sophia. 150 ATTRIDGE, Apocalypses (s. Anm. 17), 178f. 151 Wie oben festgestellt (s. 2.1), ist es nicht sicher, daß sich das Johannes-Apokryphon so nahtlos in die „Sethianische Gnosis" einfügt. Man denke an den Nonsens, den Attridge bei seiner Unterteilung zwischen „ascent and descent-orientated Sethians" über das Johannes-Apokryphon mit seinem Interesse an beiden Aspekten sagen müßte, ATTRIDGE, Apocalypses (s. Anm. 17), 198f., und dessen Inkonsistenz er selbst erkennt. Vielleicht liegt das daran, daß die von Turner übernommene Einteilung der „Sethianischen Gnosis" in abstiegsorientierte und apokalyptikinteressierte gegenüber aufstiegsorientierten Barbelo-Sethianern so nicht paßt? Dennoch scheint besonders im Umgang mit der jüdischen Tradition eine gewisse Verwandtschaft zu einer nicht so eng definierten sethianischen Gnosis wahrscheinlich zu sein. 152

153 154

ATTRIDGE, A p o c a l y p s e s ( s . A n m . 1 7 ) , 1 9 4 .

Vgl. ATTRIDGE, Apocalypses (s. Anm. 17), 193-195. B G 75,10-15; NHC III 39,11-14.

260

Jutta

Leonhardt-Balzer

dem Licht dreimal in die Finsternis, in das Gefängnis 155 , eintritt und wieder zurückkehrt. Die Pronoia kämpft „gegen die Engel der Armut und Dämonen des Chao s " ( © B O A 2 1 T O O T O Y N N ^ r r e A O C N T M N T 2 H K S MN N A M M C U N N T 6 156

N ^ O C ) ,

die den Menschen im „Hades" festhalten . Zweimal wird berichtet, wie die Grundfesten des „Chaos" (xaos) 1 5 7 ins Wanken kommen und die Pronoia sich zurückziehen muß, beim zweiten Mal, damit die Menschen nicht vor der Zeit vernichtet werden 158 . Schon im matthäischen Kreuzigungsbericht (Mt 27,52) werden Erdbeben zusammen mit der sich öffnenden Gräbern und dem Auferstehen der Toten als apokalyptische Vorboten des Endes geschildert. Dieselbe Vorstellung findet sich hier in dem Eintritt der Pronoia in das Gefängnis der Materie. Bei ihrem dritten Kommen erleuchtet sie das gesamte Gefängnis und weckt den Hörer aus dem Schlaf 159 . Die Bezeichnung der Pronoia, mit der sie die Menschen anredet ist: „der, der hört" (neT?CTOTH) 160 . Dieser Ausdruck erinnert an den Abschlußruf der Sendschreiben in der Johannesapokalypse: „wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt" (o 161 eXiäv ov\ri/-CA und e 8 o s . Mit den Wohnungen hängen auch die Verben y a i t o , o i K e w , jxeyco usw. zusammen 4 8 . Diese Ausdrücke sagen alle eindeutig, daß das Leben nach dem Tod nahe der Häuser und Paläste der Götter oder gerade in ihren Wohnungen vorstellbar war. 4.4 Zusammenleben

mit den Göttern

Die Vorstellung von himmlischen Wohnungen gab den antiken Griechen die Hoffnung, näher zu den Göttern zu kommen oder sogar mit ihnen zusammenzuleben. Für dieses Zusammenleben benützten sie dieselben Ausdrücke wie für die himmlische oder olympische Behausung. Diese Gemeinschaft bezeichneten sie hauptsächlich mit Verben, und zwar mit vai(n, OLKew, ^levü) und i d w . D a s postmortale Leben bei den Göttern war selbstverständlich beeindruckend und die antiken Griechen stellten es sich ganz plastisch vor. Zuerst wollten sie so gut wie die Götter leben: gut essen, trinken und die Freuden des Lebens genießen (wie auf der Erde). Dann die K o i v w i a mit den Göttern halten und ihr c r i i v ö p o v o s (Beiherrscher, Teilnehmer), n . e T o x o s (Teilhaber), TTapeSpos (Genosse), a w e ö p o s (Beisitzer), ¿ n i c m o s (Tischgenosse) oder 4>LXOS (Freund) sein 49 . Der Glaube der Griechen wollte sich dadurch Hoffnung geben, daß die Gemeinschaft mit den Göttern nicht nur Unsterblichkeit, sondern auch ein angenehmes Leben sichert.

46

Vgl. z.B. Homer, II. ll,75ff.; 18,370; 12,22. Hesiod, Theog. 40-44; 63; 783; 804;

963. 47

PEEK, G r a b g e d i c h t e ( s . A n m . 8 ) , n ° 2 0 7 = DERS., V e r s i n s c h r i f t e n ( s . A n m . 8 ) , n °

1 7 2 9 ; W . R . P A T O N / E . L . HICKS, T h e I n s c r i p t i o n s o f C o s , O x f o r d 1 8 9 1 , n ° 2 1 8 .

Ebenso

haben auch die Musen auf dem Helikon ihre 8cóp.UTa. 47

PEEK, G r a b g e d i c h t e ( s . A n m . 8 ) , n° 2 2 = DERS., V e r s i n s c h r i f t e n ( s . A n m . 8 ) , n ° 4 8 ;

IG XII7 n° 447; KAIBEL, Epigrammata (s. Anm. 8), n° 222. 48

V g l . z . B . PEEK, V e r s i n s c h r i f t e n ( s . A n m . 8 ) , n ° 1 5 9 5 = I G X I V n ° 2 0 4 0 ; DERS.,

Grabgedichte (s. Anm. 8), n° 351; KAIBEL, Epigrammata (s. Anm. 8), n° 570; J. GEFFCKEN, Griechische Epigramme, KGLT 3, Heidelberg 1916, n° 361, und PERES, Grabinschriften (s. Anm. 2), 141ff. 49 Vgl. PERES, Grabinschriften (s. Anm. 2), 217ff.

278

Imre

4.5 Gotteskindschaft,

Gottähnlichkeit,

Peres

Vergöttlichung

Der höchste Punkt der positiven griechischen Eschatologie ist gewiß die Vorstellung der Gotteskindschaft und die Sehnsucht nach Gottähnlichkeit bzw. nach Vergöttlichung. Dieses Ziel konnte erreicht werden durch Frömmigkeit, den Tod im Krieg für die Heimat oder hohe Ehre innerhalb der Gesellschaft. Die einfachen Leute haben es sich etwas simpler gedacht: Ein guter, treuer Mensch gewesen zu sein und die entsprechenden ethischen Handlungen gesetzt zu haben, konnte die Person zu den Göttern bringen, so daß er oder sie, den Göttern ähnlich, bei ihnen sein würde. So sind die Verstorbenen auf den Grabstelen durch ihre Verwandten als n a t S e s 0ewy oder aOauaTcov TeKva bezeichnet worden. Die sprachlichen Formulierungen kennen auch die Gottähnlichkeit (o>s 0 e ö s ) , die HalbgottWürde ( r | [ X L 0 e o s ) oder die Vergöttlichung (0eös, p . a K a p , 8ai|j.ü)V, 0 e l o v ) . Über allem herrschte auf dem Olymp der Vater der Götter - Zeus, wie das auch eine Grabinschrift betont: Aaifioves d 0 d v a T O L TTOXXOL KCIT' ' O X . U | J . TTIOV e 8 p r ) V , | äWa 0 e ö ? TOUTCOV ecrTi TRCTTRIP o J I E Y A S = Unsterbliche Gottheiten gibt es viele an des Olympos Sitzen, doch ihrer aller Vater ist der große Gott50. Diese Art der positiven Eschatologie im antiken Griechentum hat sich gerade im 1. und 2. Jahrhundert n.Chr. sehr verstärkt. Sie zeigt, wie sehr die große Krise in Kultur, Religion und Gesellschaft die Menschen deprimierte und die Sehnsucht förderte, zumindest nach dem Tod ein besseres, immerwährendes Leben zu erreichen.

5. Übereinstimmungen und mögliche Rezeption im NT Die griechische positive Eschatologie fuhrt uns zum Neuen Testament, wo sich ähnliche Konzepte bei mehreren Autoren finden 51 . Das können wir sowohl in den Grundzügen der neutestamentlichen Eschatologie wie auch in kleineren Details sehen. 5.1 Die

Grundzüge

Neben negativen Komponenten des Lebens im Jenseits wie z.B. Aussagen über die Gräßlichkeit der Verdammnis (Mt 18,9-10) ist die neutestamentliche Eschatologie im Prinzip positiv und nach oben orientiert. Sie baut auf der Verkündigung eines zukünftigen ewigen Lebens im Paradies oder im Himmel (2 Kor 12,1 ff.) auf und spricht darüber in unterschiedlicher 50

P E E K , G r a b g e d i c h t e ( s . A n m . 8 ) , n ° 4 6 5 = DERS., V e r s i n s c h r i f t e n ( s . A n m . 8 ) , n °

1 9 7 8 ; IG I X , 1 , n° 8 8 2 / 3 ; KAIBEL, Epigrammata (s. A n m . 8), n° 2 6 1 . Ü b e r s e t z u n g v o n PEEK. 51

Wie z.B. Lk, Joh, die Paulus- und Pastoralbriefe, Hebr, 1 - 2 Pt oder auch Apk.

Positive griechische

Eschatologie

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Weise und mithilfe von Metaphern. Die Autoren wollen durch vielversprechende Verheißungen eine Sehnsucht nach diesem glückseligen, himmlischen Leben auslösen. Die neutestamentlichen Schriften tragen sowohl den individuellen (Lk 23,43) wie den kollektiven (Apk 14,1 ff.) Charakter der positiven Eschatologie. Sie beschäftigen sich mit der Hoffnung einzelner Personen und mit dem Schicksal der ganzen Welt, der Menschheit oder der Gemeinschaft der Gläubigen. Die Bewegung zum Himmel wird als Entrückung definiert (1 Thess 4,16-17). Das Zentrum des zukünftigen glückseligen Lebens ist die Koinonia untereinander, mit Jesus und dem himmlischen Vater (Joh 14,2f.). Als Eintrittskriterium zählt die entsprechende Frömmigkeit (Glaube), womit die Voraussetzungen des religiös-ethischen irdischen Lebens Hand in Hand gehen (Früchte des Geistes). Das letzte Wort über die Position im Jenseits wird beim (jüngsten) Gericht aus dem Mund des Richters gesprochen werden (2 Kor 5,10). 5.2 Im Detail Übereinstimmungen zwischen der positiven griechischen und der neutestamentlichen Eschatologie können in Bildern, Worten und Analogien bestehen. Eine knappe Auswahl macht dies deutlich 52 : der Tod als Schlaf (uTTV0s/K0i(id0|j.ai: 1 Thess 4,13), die Nacktheit der Seele (yu|ivös: 2 Kor 5,3), die Entführung (aTroct>ep(o: Lk 16,22), die Entrückung (apTrd£w: 1 Thess 4,15-17), der Ort der Seligkeit (TOTTOS: Joh 14,2), die Wohnung (oLKia: Joh 14,2), die himmlische Stadt (TTÖXLS: Phil 3,20), die göttliche Natur (cfiuais: 2 Petr 1,4), die Gotteskindschaft (TCKVOV: 1 Joh 3,2), das Licht (cj>